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DIETER NOLL

Die Abenteuer des Werner Holt

Pflichtliteratur für alle Gymnasien


(Erweiterte Oberschulen)
in der DDR

Noll, der zunächst Reportagen und Erzählungen schrieb, gelang mit dem
zweibändigen Entwicklungsroman Die Abenteuer des Werner Holt ein bedeutendes
Werk der „Ankunftsliteratur". Er durchbrach damit das bis dahin gültige literarische
Muster, den Übergang vom Nationalsozialismus zum Aufbau der DDR in der Figur
eines antifaschistischen Widerstandskämpfers zu idealisieren, der sich bruchlos zum
sozialistischen Vorbild weiterentwickelt. Mit der Figur des Werner Holt versucht Noll,
den widersprüchlichen Erfahrungs- und Erkenntnisprozeß einzufangen, die Um- und
Irrwege, die ein Parteigänger des Nationalsozialismus geht, ehe er im Sozialismus
eine neue Perspektive für sich findet.
DIETER NOLL

Die Abenteuer des


Werner Holt
Roman
einer Jugend

VOLK UND WISSEN


VOLKSEIGENER VERLAG
BERLIN 1971

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Lizenzausgabe für die Schulen der
Deutschen Demokratischen Republik
mit Genehmigung des Aufbau-Verlages Berlin und Weimar
Kein Verkauf über den Buchhandel
Lizenz Nr. 203 • 1000/70 (UN)
ES 11 C 7/8 C
Einband: Erich Rohde
Typographische Gestaltung: Aufbau-Verlag
Gesetzt aus Weiß-Antiqua
Satz: VEB Offizin Andersen Nexö in Leipzig III/18/38
Druck: Karl-Marx-Werk Pößneck V/15/30
Bestell-Nr. 10 1058-1 • Preis: 7,–

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VORSPIEL

Der Wecker rasselte. Werner Holt schreckte aus dem Schlaf,


sprang aus dem Bett und stand ein wenig taumelig im Zimmer.
Er fühlte sich nicht erfrischt, sondern matt und benommen. Sein
Kopf schmerzte. In einer Stunde begann der Schulunterricht.
Durch die weitgeöffneten Fenster flutete Sonnenlicht. Der Mai
des Jahres 1943 endete mit heißen, trockenen Tagen, mit
prachtvollem Badewetter. Der Fluß, der bei der kleinen Stadt
reißend durch die Berge brach, lockte mit seinen grünen Ufern
weit mehr als das ziegelrote Schulhaus und seine muffigen
Räume.
Mathematik, Geschichte, Botanik und Zoologie, dachte Holt,
und dann zwei Stunden bei Maaß, Studienrat Maaß, Latein und
Englisch. Die Übersetzung aus dem Livius muß ich bei Wiese
abschreiben, in der großen Pause. Wenn ich bei Zickel
drankomm, meck-meck, dann gibt’s ein Fiasko... Allmählich
wich der dumpfe Schmerz, der hinter der Stirn saß. Er erinnerte
sich jetzt, erregend und beängstigend geträumt zu haben, von
der Marie Krüger und ihrem zigeunerhaft bunten Rock, und
dann von einer Schlägerei mit Wolzow.
Ich bin krank, dachte er, als ihn bei der dritten Kniebeuge vor
dem offenen Fenster ein Schwindelgefühl ergriff, ich geh nicht
in die Schule, mir ist elend, ich bleib im Bett. Nein! Das ist
unmöglich. Wenn ich heut fehle, dann hab ich verspielt, dann
heißt es, ich hab Angst vor Wolzow. Bei diesem Gedanken
wurde ihm noch elender. Es hatte gestern mit Wolzow Krach
gegeben, es hatte vorgestern, es hatte jeden Tag Krach
gegeben; und heute war die Prügelei fällig. Er fürchtete
niemanden in der Klasse, aber gegen Wolzow hatte er keine

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Chance: und damit war er erledigt. Denn ein unbesiegter Held
war, von Homer bis heute, so gewaltig wie sein Mundwerk, aber
ein besiegtes Großmaul war nur noch lächerlich.
Es ist ein Jammer, dachte Holt, als er sich unlustig und
frierend mit kaltem Wasser wusch und dabei in den Spiegel
starrte; es ist ein großer Jammer: Wolzow und ich, wir würden
die ganze Schule beherrschen, wenn wir Freunde wären, denn
die älteren Jahrgänge sind beim Militär, wir sind die oberste
Klasse.
Er trocknete sich ab. Er befühlte Wangen und Oberlippe: der
Bart ließ sich Zeit, das war Holts Kummer. Er rasierte sich nur
aus Prestigegründen. Mit sechzehneinhalb noch fast ohne
Bart... eine Schande! Kein Wunder, daß er sich mit so einer
glatten Haut nicht an die Marie Krüger herantraute, wenn sie
dann und wann wie eine Katze in der Badeanstalt herumstrich.
Immerhin: als er ihr kürzlich begegnet war, da – er besann sich
genau – hatte sie ihn mit einem verwirrenden Blick
angeschaut... Außerdem: kratzte es am Kinn nicht doch schon
ganz ordentlich?
Einsfünfundsiebzig groß, siebenundsechzig Kilo schwer,
schmal, doch muskulös, aber neben Wolzow, der
einsachtundachtzig maß und fast neunzig Kilo wog, eben doch
beinahe knabenhaft. Dunkeläugig, dunkelhaarig sah er sich im
Spiegel, und das Haar war sehr widerborstig und ringelte sich
gern in die Höhe. Er kämmte sich, er kleidete sich an. Der
Kopfschmerz war vergangen, nur ein dumpfer Druck wollte
nicht von der Stirn weichen. Auch machte das Schlingen
Beschwerden, und der Mund war trocken.
Wolzow galt seit eh und je als der größte Flegel der Schule,
zweimal Consilium, das drittemal nur durch Intervention seines
Generalsonkels dem Hinauswurf entgangen. – Und ich Idiot
komm neu in die Klasse und lauf ihm den Rang ab, statt seine
Freundschaft zu suchen! Das war ein Freund, Gilbert Wolzow,
ein Freund wie Hagen von Tronje, Winnetou oder Roller!
Er war fertig, er stopfte ein paar Bücher in die Aktentasche,
dann lief er die Treppen hinab.

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Das Haus gehörte den Schwestern Eulalia und Veronika
Dengelmann, eigentlich deren Mutter, einer
fünfundachtzigjährigen Greisin, die wegen Altersschwachsinn
entmündigt worden war. Die beiden Schwestern,
zweiundfünfzig und sechsundvierzig Jahre alt, unterhielten eine
Pension, „Kost und Logis für alleinstehende Herren“. Holt wurde
verwöhnt, da seine Mutter großzügig zahlte; er war zeitlebens
verwöhnt worden. Seit zwei Monaten lebte er in der Pension
und tyrannisierte die Schwestern.
Er trat in das Wohnzimmer im Erdgeschoß und rief nach dem
Kaffee. Veronika Dengelmann, die jüngere der Schwestern, das
Gesicht dick mit Fett eingerieben und die Haare voller
Lockenwickel, setzte die Tasse und den Teller mit Broten vor
ihn hin. „Guten Morgen.“
Holt antwortete nicht. Er dachte: Ich bin krank. Gleich wird sie
wieder anfangen: Beeilen Sie sich... Das Schlucken schmerzte,
die Kehle war wund. Fräulein Dengelmann sagte: „Beeilen Sie
sich! Es fällt wieder auf uns zurück, wenn Sie zu spät
kommen...“
Holt schob den Teller mit den Broten von sich. Durch die Tür
trat Eulalia, in einen verwaschenen Schlafrock gewickelt. Sie
hat ein Gesicht wie ein Schaf, dachte er, und Veronika sieht
aus wie der Vollmond.
„Sehen Sie zu, daß Sie fortkommen“, sagte nun auch Eulalia,
„es ist gleich sieben...“ Er warf ihr einen bösen Blick zu. Wenn
Wolzow mich verdroschen hat, dachte er, muß ich etwas so
Verrücktes anstellen, daß mein Ansehen wiederhergestellt wird.
Bei Maaß, beim Ordinarius! Ich habe alle Lehrer hereingelegt,
Zickel, meck-meck, Schöner, Gruber, alle... Mag Zemtzki
sticheln: Bei Maaß traust du dich nicht... Bei Maaß traut sich
keiner, nicht mal Wolzow. Aber ich bin gerissen, ich fange auch
Maaß, und das wird mich zum Helden des Tages machen. Ich
werde bei Maaß die Sprache verlieren, und wenn er mich
bestrafen will, zieh ich ein ärztliches Attest aus der Tasche, daß
ich seit gestern taubstumm bin; aber woher nehm ich das
Attest? Oder ich werde bei einer Antwort den Mund nicht mehr
schließen und bloß noch lallen können, Maulsperre,
Kieferklemme, da wird die Klasse toben vor Freude, und wenn

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Maaß vor Wut einem Schlaganfall nah ist, gibt mir jemand die
vereinbarte Ohrfeige, und dann ist alles wieder in Ordnung; da
soll er mir erst mal was beweisen! Das ist eine gute Idee!
Oder... ob man ihn mit seinen wahnsinnigen Schachtelsätzen
reinlegen kann?
Er saß unbeweglich am Tisch. Ein herrlicher Tag! Ich möchte
ein Segelboot haben! Man könnte... Sein Blick fiel durch das
Fenster auf die gebeugte Gestalt der alten Dengelmann; die
Greisin tappte durch die Beete und riß die jungen
Kohlrabipflanzen aus dem Boden, eine nach der anderen...
„Fast jeden Tag kommen Sie zu spät zur Schule“, schimpfte
Veronika Dengelmann, „gestern traf ich Herrn Benedict...“
Benedict? Das war der Turnlehrer, und er war harmlos... Und
jetzt reißt die Alte tatsächlich auch noch die Salatpflanzen aus!
„Passen Sie auf Ihren Grünkram auf“, sagte Holt, „die Alte ist im
Garten!“ – „Ogottogott!“ Türen schlugen. Im Garten erhob sich
Gezeter.
Holt verließ das Haus. Langsam ging er die Bahngeleise
entlang; er ließ sich Zeit, er kam sowieso zu spät zum
Unterricht, und Ausreden gab es genug. Meistens mußten die
geschlossenen Bahnschranken herhalten.
„Holt!“ rief es hinter ihm. „Warte!“
Das ist Rutscher, der verdirbt mir den Schulweg. Fritz
Rutscher war der Sohn eines vor zwei Jahren verstorbenen
Studienrates. „Schon sieben durch“, keuchte er, „...müssen uns
beeilen!“ Er war vom schnellen Lauf so außer Atem, daß er das
Stottern vergaß.
„Hast du Angst?“ sagte Holt mürrisch. „Zu zwein“, stammelte
Rutscher, ein semmelblonder Junge, „zu zwein findt man
bessere Ausreden!“ Sie überquerten die Bahngeleise. Nun
führte die Bismarckallee, breit und von Linden gesäumt, hinab
in die kleine Stadt. Links und rechts standen Villen.
Hier wohnen Barnims, dachte Holt. Er blickte neugierig auf ein
großes, geklinkertes Haus. Oberst Barnim hatte zwei Töchter.
Gerda, fünfzehnjährig, besuchte die Mädchen-Oberschule; Holt
traf sie manchmal auf dem Schulweg, ein mageres,
sommersprossiges Mädchen. Sie soll noch eine Schwester
haben, Uta Barnim, die ist neunzehn, Abitur mit Auszeichnung,

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und voriges Jahr war sie Gebietsmeisterin im Tennis; ich hab
sie noch nie gesehen, aber alle sagen, sie ist das schönste
Mädchen in der Stadt. Und hier wohnt der Peter Wiese, gleich
nebenan. Der ist natürlich längst in der Schule, der Wiese-
Peter, ein richtiger Miesepeter, der Primus, der alles weiß und
lateinische Reden halten kann, aber nie einen Jux mitmacht. Er
spielt wunderbar Klavier.
Schon oft war Holt, unter irgendeinem Vorwand, im Hause des
Amtsrichters Wiese erschienen und hatte schließlich gesagt:
„Spiel doch mal was, du...“ Dann setzte sich der kränkliche und
schwache Peter an den Flügel. Holt konnte stundenlang
zuhören, unbeweglich in einem Sessel.
Vor Holts Augen drehten sich feurige Kreise, es rauschte in
seinen Ohren... Er rang nach Atem. „Was hast du?“ rief
Rutscher. Ein Kälteschauer lief über Holt hin, dann wurde ihm
heiß. Sollte er wirklich krank sein? Alles war ganz nahe
herangerückt, wie durch ein Vergrößerungsglas anzusehen,
und Rutschers Stimme hatte ein Echo...
„Was sagen wir dem Schöner?“ fragte Rutscher. – „Am
Bahnübergang war ‘n Verkehrsunfall. Da ist ein Radfahrer mit
einem Lieferwagen zusammengestoßen.“ – Rutscher staunte:
„Hast du das g-g-gesehn?“ – „Das sagen wir! Wir mußten der
Polizei alles zu Protokoll geben.“ – „Großartig!“ Rutschers
Phantasie entzündete sich. „Ich werd sagen, der Radfahrer hat
ganz f-f-furchtbar geblutet!“ – „Hör auf“, sagte Holt. „Und laß
mich reden, verstanden?“

Holt blieb in der Tür stehen und überschaute den


Klassenraum. Schöner, der Mathematiklehrer, stand an der
Tafel und malte sie wie üblich voll Zahlen. Er war ein Mann von
achtundsechzig Jahren, der, wie fast alle Lehrer der Schule,
schon einmal pensioniert gewesen und nun wieder zum
Unterricht herangezogen worden war. Er ließ die Schüler in
Ruhe und rechnete selbst; seine Unterrichtsstunden verliefen
still; niemand, außer Peter Wiese, arbeitete mit. Holt sah, daß
der dicke Christian Vetter, Sohn eines Schreibwarenhändlers,
hinten in der Ecke am Fenster mit irgendwem Karten spielte.

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Gilbert Wolzow, wegen seiner Körpergröße quer in der Bank,
saß über einem dicken Buch und las.
Holt brachte seine Entschuldigung in einem frechen und
provozierenden Ton vor, der sie von vornherein unglaubhaft
machte... Der blutende Radfahrer wurde mit Geschrei begrüßt,
aber es klang ein wenig lustlos. Nur Fritz Zemtzki, ein
Bürschlein mit brandrotem Haar, quäkte mit heller
Kinderstimme: „O Gott, der arme, arme Radfahrer!“, aber auch
das fand keine Resonanz. Es war wieder still; in der Ecke warf
Vetter seine Trümpfe auf den Tisch.
Schöner trug Holts Verspätung ins Klassenbuch ein. Rutscher
war unbemerkt auf seinen Platz geschlichen. Die Eintragung
hatte keine Bedeutung, denn Schöner schrieb mit Bleistift, und
seine Eintragungen wurden wieder ausradiert, jeder Tadel und
auch die Schulaufgaben. Aber als Holt in der Pause mit einem
Radiergummi aufs Katheder stieg, rief Wolzow mit rauher,
wüster Stimme: „Na, da hast du Schiß, daß der Maaß was
erfährt!“
Holt klappte das Klassenbuch zu. Mochte die Eintragung
stehenbleiben! „Ich und Schiß?“ sagte er. „Vor Maaß haben
andere Leute Schiß, auch wenn sie sonst mit der Schnauze
vornan sind!“ – „Meinst du mich?“ fragte Wolzow drohend und
legte den Kopf auf die Seite... Aber da schrillte schon, vom
Korridor her, der Warnungspfiff, und Knack marschierte ins
Zimmer, dreißigjährig, wegen eines Herzfehlers
wehrdienstuntauglich, Studienassessor Knack. „Heil Hitler,
Kameraden!“
Die Klasse antwortete: „Heil Hitler!“ – „...Kamerad Knack“, rief
Holt hinterher, denn er wollte es Wolzow zeigen. In der Klasse
gab es unterdrücktes, beifälliges Gelächter. Wolzow biß sich
auf die Lippe. Zum zweiten Male an diesem Morgen wurde Holt
ins Klassenbuch eingetragen, getadelt wegen „unarischer
Frechheit“, wie Knack mit seiner schnarrenden Kommando
stimme bekanntgab. Dann begann der Geschichtsunterricht.
Dies ist Wolzows Stunde, dachte Holt.
Gilbert Wolzow war ein paar Monate über sechzehn Jahre alt.
Sein Vater, der Oberst Wolzow, stand als
Regimentskommandeur an der Ostfront. Wenn man Wolzows

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Erzählungen glauben durfte, so waren die Wolzows ein
preußisches Offiziersgeschlecht, das seit zweihundert Jahren
ausnahmslos Offiziere hervorgebracht hatte; der Bruder des
Obersten Wolzow war Generalmajor. Auch Gilbert wollte
Offizier werden, und er bereitete sich von Kind an darauf vor.
Er war der ungekrönte König der Klasse, ja der Schule, der die
Cliquen und Schülergruppen mit Gewalt zusammenhielt und
niemals, bis Holt in die Klasse eingetreten war, Widerspruch
geduldet hatte. Er war zugleich der „frechste und faulste
Schüler der Anstalt“, wie Maaß, der Klassenlehrer, des öfteren
sagte, denn er stand in den meisten Fächern so jammervoll
schlecht, daß seine Versetzung in die nächste Klasse diesmal
gefährdet schien. Aber in allem, was mit Krieg, Kriegswesen,
Kriegsgeschichte, mit Waffentechnik und Kriegsgerät zu tun
hatte, war er ein Phänomen. Er hatte frühzeitig begonnen, die
kriegswissenschaftliche Bibliothek seines Vaters zu lesen, und
sein erstaunlich gutes Gedächtnis hatte eine Fülle von
Einzelheiten behalten, über die er nach Belieben verfügte;
entfiel ihm doch einmal ein Schlachtendatum, der Name eines
Feldherrn, so schlug er in dem dicken Taschenbuch nach, das
er immer mit sich herumschleppte... Jetzt saß er zurückgelehnt
in seiner Bank, das Gesicht mit den grauen Augen und der
Adlernase emporgehoben zu Knack.
Knack und Wolzow führten während des
Geschichtsunterrichts endlose Debatten. Knack charakterisierte
seine Geschichtsauffassung des öfteren als „rassisch-völkisch“.
Wolzow stand neben seiner Bank und erklärte: „Geschichte,
das ist Krieg. Von 1469 vor bis 1930 nach Christi Geburt hat es
nur zweihundertvierundsechzig Jahre Frieden, aber
dreitausendeinhundertfünfunddreißig Jahre Krieg gegeben...“ –
„Vergessen Sie nicht das rassische Moment“, ergänzte Knack,
„die wertmäßigen Unterschiede der Völker, die rassischen
Triebkräfte...“
Holt saß stumm auf seinem Platz und hörte Knack mit der
ewig gleichen, schnarrenden Stimme sagen: „Das Reich
gründet sich bewußt auf uralte mythische Vorstellungen und
Kräfte des Volkes...“ Er döste vor sich hin, der Kopf schmerzte,
und der Hals war wie zugeschnürt... Neben ihm saß Sepp

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Gomulka, Sohn eines Rechtsanwaltes, ein braunhaariger,
kluger Junge, der sich meist zurückhielt und sich nur
manchmal, im Übermut, an den Ausschreitungen der Klasse
gegen die alten Lehrer beteiligte. Er war ein Einzelgänger, trieb
sich mit seinem Kleinkalibergewehr in den Wäldern umher und
schoß Eichelhäher, statt sich den Schulaufgaben zu widmen.
Während Knack redete und redete, schnitzte Gomulka mit
einem Messer an seiner Bank und sammelte die Späne in einer
Tüte aus Löschpapier... Auf dem Platz vor Holt saß der zarte,
ewig kränkelnde Peter Wiese, der diesen Sommer zu seiner
Kräftigung täglich zwei Stunden in der Badeanstalt zu
verbringen und Sport zu treiben hatte, eine Maßnahme, unter
der er litt. Holt schrieb auf einen Zettel: „Gib mir deine
Lateinübersetzung!“ Er wollte für den Weigerungsfall eine
Drohung hinzusetzen, unterließ es aber und schob den Zettel
zu Wiese. Wiese las und nickte.
Aber in der großen Pause fand Holt keine Gelegenheit, die
Übersetzung abzuschreiben, obwohl eine fehlende
Hausaufgabe bei Studienrat Maaß schlimme Folgen haben
konnte. Die Schüler begaben sich ins Biologiezimmer. Der
bevorstehende Unterricht bei Doktor Zickel, genannt Meck-
meck, riß sie aus ihrer Lethargie. Christian Vetter, blond, mit
rundem Kindergesicht und blanken Schweinsäuglein, wegen
seiner Körperfülle seit eh und je gehänselt und verspottet,
probierte ein paar quiekende und grunzende Geräusche aus.
Wolzow und Holt standen mit gleichgültigen Gesichtern
beieinander. Gomulka wetzte sein Messer an der Gasleitung
des Experimentiertisches, und Kirsch, Tischlersohn, von Knack
als Vertreter des „bodenständigen Handwerks“ gefeiert, futterte
Brot auf Brot in sich hinein, wodurch er zu wachsen hoffte, denn
er war nur einssechzig groß. Nadler, ein stämmiger blonder
Junge, wurde von seinen Freunden Schönfeldt, Grubert und
anderen umlagert, die in der Nachrichten-HJ seine
Untergebenen waren. Hingegen war Wolzows Laufbahn als HJ-
Führer nach verheißungsvollem Start schon vor zwei Jahren
geendet, nachdem er seinen Stammführer mit den Worten
stehengelassen hatte: „Von so einem militärischen Rindvieh
nehm ich doch keine Befehle entgegen!“

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Zemtzki piepste plötzlich: „Gilbert, das mußt du zugeben: den
Knack hat der Werner prima veralbert!“ – „Scher dich vor die
Tür und paß auf!“ befahl Wolzow. Dann sagte er zu Holt: „Glaub
bloß nicht, es war was Besonderes.“ Er blickte sich suchend
um. Dann trat er zur Tafel. Dort stand ein Skelett, das Doktor
Zickel im Unterricht brauchte, neben dem großen Aquarium.
Wolzow, in Breeches und Stiefeln, den Brustkorb von einem
verwaschenen HJ-Hemd umspannt, holte ein Stück Holzkohle
aus der Hosentasche und begann, den Totenschädel zu
beschmutzen. Peter Wiese erblaßte. Er fürchtete Wolzow, den
er „miles gloriosus“, ruhmredigen Kriegsmann, nannte; Holt
freilich hatte gloriosus kurzerhand mit „prahlerisch“ übersetzt.
Jetzt malte sich Angst in Wieses Gesicht, denn er, der Primus,
wurde als erster nach dem Täter befragt, und da er niemals
einen Lehrer belog, beim Verrat aber erbarmungslos Prügel
bezog, geriet er jedesmal in Gewissensnot, aus der ihn andere
mit der Lüge erlösen mußten, Wiese könne nichts wissen, er sei
nicht im Zimmer gewesen...
Wolzow sah Holt ins Gesicht und fragte: „Wie findest du das?“
Holt ging wortlos zur Tafel, nahm den Schädel vom Skelett und
warf ihn in das große Aquarium. Wasser und Schlingpflanzen
schwappten auf den Boden.
Die Klasse tobte. Dann wurde es still. Man blickte gespannt
auf Wolzow. Wolzow verlor die Beherrschung. „Warte!“ schrie
er, leicht nach vorn geneigt. „Wenn du wirklich soviel Mut hast,
dann komm heute um vier zum Rabenfelsen, damit ich dir
endlich...!“ – „Du bist wohl am Ende?“ höhnte Holt. „Was
Beßres als Prügel fällt dir wohl nicht ein?“ – „Jetzt dreh ich ein
Ding“, schrie Wolzow, „von dem die ganze Stadt sprechen soll!“
Zemtzki steckte den Kopf zur Tür herein. „Gilbert... nicht! Nein!
Du... fliegst, wenn sie dich erwischen!“ – „Seht den großen
Wolzow!“ spottete Holt. „Er will sich prügeln, aber er hat Schiß
vor den Paukern!“
Wolzow starrte auf das Aquarium, wo der verunstaltete
Totenschädel durch die Ranken der Wasserpest grinste und die
roten Leiber sechs tropischer Zierfische im grünen Wasser hin
und her glitten. „Sepp“, befahl Wolzow, „schaff mir das
Katzenvieh vom Hausmeister her!“

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„Gilbert“, sagte Gomulka, „laß das... Maaß wirft dich raus!“
Aber jemand rief schon Zemtzki auf dem Korridor zu: „Du sollst
dem Wolzow die Katze bringen!“
Zemtzki brachte die Katze, ein getigertes, wildes Biest, das
argwöhnisch äugte, nervös durch die lärmenden Stimmen der
Jungen. Wolzow nahm sie mit einem Griff seiner Rechten am
Fell; sie legte sich flach gegen seine Brust, die Schwanzspitze
krümmte sich leise. Wolzow streichelte sie. „Ruhig, Miezchen!
Gleich gibt’s was Schönes...“ Er tauchte den nackten linken
Arm ins Aquarium. „... was Schönes zu fressen... was
Markenfreies... eine Sonderzuteilung!“ Dann warf er den ersten
Fisch auf den Boden... Die Katze war mit einem Satz
abgesprungen und verschwand mit dem zappelnden Salmler
unter einer Bank. Stumm und atemlos sah die Klasse zu, wie
Wolzow Prachtschmerlen und Barben aus dem Aquarium
fischte. Die Katze begann laut zu schnurren. Sie fraß, daß es
knirschte, und ihre Augen funkelten. Dann schlich sie davon,
leckte sich das Maul, noch immer schnurrend, und von Doktor
Zickels. Fischen blieben nur ein paar glänzende Schuppen auf
dem Fußboden zurück.
„So!“ sagte Wolzow. Das Schweigen war wie eine Huldigung,
die er gelassen entgegennahm. „So, mein Lieber! Wer hat hier
Schiß vor den Paukern?“ Er ging zu seinem Platz, setzte sich
und nahm sein Buch vor. Er war blaß. Er rief: „Vergiß nicht,
heut um vier!“ Aber Holt dachte nur dies: Er fliegt, und ich hab
ihn dazu getrieben...
Zemtzki pfiff.
Doktor Zickel war ein verkümmertes Männlein mit dem Habitus
eines zwölfjährigen Jungen, dem man den Kopf eines Greises
aufgesetzt hat. Er trat vor die Klasse, in Knickerbockers, grüner
Joppe und weißem Hemdchen mit geöffnetem Bubikragen. Mit
einer heiseren Knabenstimme rief er den Hitlergruß. Seine
Rede war voller Eigenarten: er pflegte öfters „ni wahr“ zu sagen
und gab, zwischen die Worte eingestreut, ein seltsames
Geräusch von sich, eine Mischung aus Hüsteln und Räuspern,
die wie „kh-kh“ klang. Er sagte: „Wo is... ni wahr... das
Klassenbuch... kh-kh...?“ Aus einer Ecke kam ein gedämpftes
„Meck-meck“, was ihn nervös machte, ohne daß er darauf

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eingegangen wäre... Er war viel Kummer gewohnt. Sein Blick
fiel auf das kopflose Skelett, und die magere Brust hob sich in
erregten Atemzügen. „Das is... kh-kh... das is enne Lumperei is
das, ni wahr...“ Er schaute wild in die Klasse, dann sah er aufs
Aquarium, und er wankte.
„Wer... wer is es gewesen?“
„Herr Lehrer!“ rief der kleine Zemtzki. „Ich bin es nicht
gewesen, aber ich bin es nicht allein nicht gewesen, die
anderen sind es auch alle nicht gewesen!“
Zickel war außer sich. Er trat ans Aquarium, und er schrie, mit
einer Wut, die seinen schmächtigen Körper erzittern ließ:
„Wer... kh-kh... hat den Schädel... ihr feigen Gesellen... kh-kh...
wer hat den Schädel von dem armen Skelett, ni wahr, das is
doch auch emal e Mensch gewesen... wer hat’n ins
Aquarium...?“ Aber jetzt erst erkannte er das ganze Ausmaß
dessen, was man ihm angetan hatte, und sekundenlang
brachte sein bebender Mund nichts als ein spuckendes „Kh...
kh-kh...“ hervor.
„Wolzow! Haben Sie... die Fische...?“ „Lassen Sie mich doch
mit Ihren kindischen Verdächtigungen in Ruhe“, knurrte
Wolzow, ohne aufzustehen... Und nun log die Klasse mit einer
Ausdauer, an der Zickels Wut verpuffte. Verzweifelt begann er
eine Untersuchung, aber da seinem Zorn jede physische
Grundlage fehlte, die langwierige und ermüdende Befragung
der Schüler zu überdauern, log man immer dreister und
verhöhnte ihn, und Zickel ermattete, dem Weinen nahe.
„Fische?“ sagte Holt, als er an der Reihe war, mühsam, mit
schwerer Zunge, er hatte kaum noch die Kraft aufzustehen.
„Die Fische sind weg? Vielleicht... hat der Totenkopf sie
gefressen!“ Das Gejohl der Klasse erreichte kaum sein Ohr.
„Elender Bube... kh! Los, Vetter, wo sind die schönen roten
Fische?“
„Rote Fische?“ sagte Vetter. „Warn das denn Fische? Ich
dachte immer, das sind Tomaten!“
„Herr Lehrer“, rief Zemtzki, und er stocherte mit dem
Zeigefinger in der Luft herum, „ich hab die roten Fische
gesehen! Gestern warn sie noch da! Heißa! Aber sechs, nein,
so viele warn das nicht!“

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„Wie viele... kh-kh... haben Sie gesehn?“ fragte Zickel mit
neuer Hoffnung.
„Na, so null bis eins“, antwortete Zemtzki, und er sah dem
Lehrer mit großen blauen Augen unschuldsvoll ins Gesicht.
Die Untersuchung verlief ergebnislos. Studienrat Maaß setzte
sie fort. Holt nahm nicht teil an dem Durcheinander, das in der
Pause herrschte. Er saß zusammengesunken auf seinem Platz
im Klassenzimmer, der Schweiß brach auf seiner Stirn hervor,
und der Kopf schmerzte... „Du hast ein ganz rotes Gesicht“,
sagte Gomulka teilnahmsvoll, „wie gesprenkelt, bist du krank?“
Holt schüttelte den Kopf.
Die Katze brachte alles ans Licht; sie hatte in der Wohnung
des Hausmeisters die unverdauten Fische wieder
ausgebrochen. Ein Lehrer hatte den Ruf gehört: „Du sollst dem
Wolzow die Katze bringen...“ Wolzow war überführt. Er stand
neben seiner Bank und log beharrlich, er wisse von nichts, man
möge ihn in Ruhe lassen, er sei es nicht gewesen.
Maaß hockte dick und massig hinter dem Katheder. Das
Sonnenlicht, das durch die Fenster fiel, spiegelte sich auf seiner
Glatze, die von schlohweißem Haar umrahmt war. Das runde
und feiste Gesicht grinste triumphierend, die Augen hinter der
hellen Hornbrille waren kalt und mitleidlos auf Wolzow gerichtet.
„Sie sind erledigt, Wolzow“, sagte er, mit einem begeisterten
Zittern in der Stimme, „auch ohne Geständnis erledigt.“ Er
schielte über die Ränder der Hornbrille hinweg auf sein Opfer.
Es war sein Steckenpferd, verworrene Schachtelsätze zu
konstruieren, die er mit strenger Logik zu Ende sprach; er hielt
die Klasse mit diesen Sätzen in Spannung, er vollendete auch
den schwierigsten Satz und heimste das ehrfürchtige Aufatmen
der Schüler als Beifall ein. „Unsere Anstalt“, begann er, „die
einmal vom strengen Geist des Lerneifers und Gehorsams
regiert, durch Sie jedoch wie durch einen Bazillus vergiftet
wurde, mit Anarchie und Disziplinlosigkeit, was kein zweites Mal
Ihr Onkel wird sanktionieren können...“, er legte eine Pause ein,
um die Spannung zu steigern, und dann vollendete er: „... wird
nun endlich und endgültig von Ihnen befreit werden. Ich
beglückwünsche mich zu diesem Erfolg.“ Alle Augen waren auf
Wolzow gerichtet. Wolzow sah bewegungslos vor sich hin; nur

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Holt, zurückgelehnt und zusammengesunken, blickte auf Maaß.
Er dachte: Wolzow wird nicht relegiert werden! Wolzow ist ab
heute mein Freund.
„Nehmen Sie Ihre Tasche, Wolzow, und verlassen Sie auf der
Stelle das Schulhaus. Sie sind relegiert. Der Brief des Direktors
folgt Ihnen auf dem Fuß.“
„Moment“, sagte Holt.
Er erhob sich. Er fühlte Wolzows Blick auf sich gerichtet. Er
lehnte sich rücklings gegen die Bank. „Der Brief des Direktors“,
sagte er, und seine Stimme krächzte, „folgt Wolzow nicht auf
dem Fuß. Wolzow ist es nicht gewesen... Man hat sich...
verhört... Wolzow soll mir die Katze bringen, wurde gerufen...“
Er mußte seine Worte sehr langsam formen, denn die
geschwollene Zunge versagte den Dienst, „leb bin es
gewesen“, sagte er. Peter Wiese, das Gesicht auf Holt
gerichtet, erstarrte in Staunen und Bewunderung... „lch bin es
gewesen... Wiese wird es bezeugen...“ Wiese erhob sich, wie
unter einem Zwang, und zum erstenmal in seinem Leben belog
er einen Lehrer, als er mit tief auf die Brust gesunkenem Kopfe
sagte: „Ja... Holt war es... ich bezeuge es.“
Holt hörte nur noch das Rauschen des Blutes in seinen Ohren.
Vier Stunden Karzer? Egal! Blauer Brief an meine Mutter? Sie
wird bloß lachen... Und jetzt sieht er ins Klassenbuch... Die
Eintragungen? Wenn er wüßte, wie egal mir das alles ist!
„Sieh mal an“, sagte Maaß, wütend vor Enttäuschung.
„Zwanzig Minuten zu spät gekommen ist das elende Früchtchen
außerdem...“ Er wurde ironisch, das war der Ausdruck höchsten
und gefährlichsten Zornes. „Hatte Ihre Wirtin, ich glaube mich
zu erinnern, daß sie Dengelmann heißt, Eusebia Dengelmann,
doch halt, nein, Eulalia war wohl der Name, ein wohlklingender
Name, der aus dem Griechischen stammt...“ Er schaute
bewegungslos durch die Gläser der Hornbrille auf die Schüler,
die atemlos an seinem Munde hingen, und vollendete: „...
wieder einmal Nasenbluten?“
Holt blinzelte. Er sah auf einmal alle Gestalten und
Gegenstände in verschwommenen Umrissen; in seinen Ohren
hallte als vielfaches Echo das letzte Wort: Nasenbluten...
Nasenbluten... Wohltuende Müdigkeit überkam ihn,

16
Gleichgültigkeit. Man müßte ein Segelboot haben, dachte er,
jetzt, wo Gilbert mein Freund ist, und nun ist’s geschafft:
Wolzow gerettet, und er wird mir’s danken!
„Reden Sie!“
Ach so. Ich muß ja noch den Maaß veralbern! dachte Holt. Er
wird ungeduldig? Ich will dir schon antworten! Deine
Schachtelsätze imponieren mir nicht, das kann ich schon lange!
„Mitnichten“, sagte er. Sein Gesicht war rot, nur von den
Nasenflügeln über die Mundwinkel bis zum Kinn war ein
blasses Dreieck ausgespart. Eine Bewegung lief durch die
Klasse, und Maaß, bei dem altertümlichen Wort „mitnichten“,
furchte die Stirn. „Mitnichten hat die Nase meiner Wirtin, deren
Name Eulalia... Eulalia, wie Sie die Güte, sich zu erinnern,
hatten, lautet, geblutet, aber...“, das Aber schrie er hinaus, denn
Maaß hatte den Mund schon geöffnet, um Holt zu
unterbrechen, „aber mich... hatte morgens die Polizei... da ein
Fahrrad, das ein Mann, der eine graue Jacke... die vielfach
geflickt war, trug... fuhr... mit einem Auto, das auf der Straße...
die über die Geleise, die vom Bahnhof, der unmittelbar bei
meiner Wohnung... liegt... kommen... führt... entlangkam...
zusammenstieß... gebeten...“
Er hielt inne. Auch das war geschafft! Wie durch Nebel sah er
die Augen seiner Mitschüler auf sich gerichtet, und Maaß lehnte
nach vorn über dem Pult, und sein Unterkiefer war
heruntergeklappt...
„... meine Beobachtungen als Zeuge zu Protokoll zu geben“,
vollendete Holt. Dann fiel er seitwärts zu Boden.
Peter Wiese lief zum Hausmeister, Rutscher stotterte: „Er war
schon morgens auf dem W-w-weg so komisch!“ Maaß beugte
sich über Holt und sagte: „Das ist... Scharlach...!“ Wolzow
schob ihn beiseite. Bald fuhr der Krankenwagen vor.

Der Juni ging ins Land. Holt lag in der Infektionsabteilung des
städtischen Krankenhauses. Wolzow kletterte jeden Tag über

17
die Mauer und schlich durch den Garten unter das Fenster.
Sein Pfiff wehte ins Krankenzimmer.
Die ersten Tage lag Holt fast ohne Bewußtsein im Fieber,
dann genas er rasch und überwand Mattigkeit und Schwäche.
Als er wieder bei Kräften war, empfand er den langen
Aufenthalt im Krankenhaus wie eine Freiheitsstrafe. Seine
Mutter, von den Schwestern Dengelmann herbeigerufen, hatte
unterdessen bei allen Ärzten vorgesprochen, hatte Trinkgelder
an Schwestern und Pfleger verteilt und war wieder abgereist,
ohne ihren Sohn gesehen zu haben, und er war nicht einmal
böse darüber.
Aber Wolzows Besuche machten ihn froh. Wolzow brachte
Nachricht von der Außenwelt. Die Schule war nach Holts
Erkrankung für zwei Wochen geschlossen worden, was Holt bei
den Schülern aller Klassen populär gemacht hatte wie die
Revolte gegen Maaß. Er war der Held des Tages. Wolzow
neidete es ihm nicht länger und war bereit, seinen Ruhm zu
teilen. Als das Fieber gewichen war, sprang Holt, wenn im
Garten der Pfiff ertönte, ans Fenster. „Wie geht’s?“ fragte
Wolzow.
„Eigentlich bin ich gesund... Ich soll mich schälen und muß
immerfort ganz heiß baden.“ – „Hau ran!“ sagte Wolzow...
Gestern hatte der Unterricht wieder begonnen, da kein weiterer
Krankheitsfall vorgekommen war. „Zum Kotzen langweilig“,
meinte Wolzow. „Wenn du rauskommst, dann ist irgendwas
fällig...“ – „Ich überleg schon... was Abenteuerliches!“ –
„Abenteuer ist Quatsch“, erklärte Wolzow bestimmt. „Karl May
und so was, das ist alles Schwindel. Bloß der Krieg ist richtig.“ –
„Weißt du was Neues vom Flak-Einsatz?“ – „Noch dieses Jahr,
vielleicht schon im Herbst.“
Diese Perspektive nahm Holt vollends die Lust am
Schulunterricht. Er überlegte: Wenn ich Glück hab, ist die
Schule für mich vorbei... „Ich bekomm zwei Wochen
Schonung“, sagte er, „dann sind große Ferien... Bloß gut! Wenn
ich an Maaß denke...“
„Maaß ist ein Satan“, sagte Wolzow. Er stand breitbeinig in
einem Blumenbeet, die Hände in den Taschen vergraben, und
unter seinen Stiefeln knickten Rosen und Nelken... „Weißt du,

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was Maaß gesagt hat? Dein Scharlach wäre ein ganz
raffinierter Trick, daß er dich nicht bestrafen kann. Da ist
Gomulka aufgestanden und hat gesagt: ,So ein Trick will
gekonnt sein, Herr Studienrat!’ Maaß hat ihn gleich zwei
Stunden eingesperrt.“
Ein andermal brachte Wolzow den kleinen Peter Wiese mit
und hievte ihn über die Mauer. Wiese riß sich dabei ein Dreieck
in die Hose. „Wenn du gesund bist, spiel ich dir vor, was du
willst.“ Tags darauf gab er Bücher für Holt ab.
Holt hatte schon immer viel gelesen, und in diesen Tagen, da
er im Bett lag und ungeduldig seiner Entlassung entgegensah,
las er wahllos, was man ihm aus der Anstaltsbibliothek brachte.
Da waren viele seiner Lieblingsbücher dabei, die er nun zum
zweiten oder dritten Male durchschmökerte: Stevenson und
Jack London, Karl May und die Indianerbücher von Fritz
Steuben, Gagerns „Grenzerbuch“, eine Feldpostausgabe
„Auswahl aus Nietzsches Werken“, Hanns Johsts „Ave Eva“
und natürlich Kriegsbücher, immer wieder Kriegsbücher, von
den Taten des U-Boot-Fahrers Weddigen bis „Sieben vor
Verdun“, und dann Ernst Jünger, „Das Wäldchen 125“, „Feuer
und Blut“ und „In Stahlgewittern“... Beumelburg, Zöberlein,
Ettighoffer und was es noch alles gab... Nun las er, was Peter
Wiese gebracht hatte: Novellen von Storni und einen Band
„Märchen der Romantik“.
Er lag unbeweglich in seinem Bett und sann über die
Gestalten nach, die er leibhaftig vor sich sah: Elisabeth, das
Puppenspieler-Lisei und die dunkle Renate vom Hof... So ein
Mädchen müßte man kennenlernen, dachte er beklommen.
Wolzow verabscheute Mädchen und fand Liebe unmännlich;
Holt aber hatte das Unvereinbare stets zu vereinbaren gewußt:
die Heldengestalten aus der Nibelungensage oder aus König
Laurins Mantel verwob er mit Indianerhäuptlingen,
Westmännern und den feldgrauen Gestalten der Kriegsbücher
zu einem idealen Heldentypus, in dessen abenteuerlichem
Leben für das Grauen der Märchendrachen ebenso Raum war
wie für die Anmut Stormscher Mädchenfiguren oder den
Gerechtigkeitsfanatismus Karl Moors... Nun las er bei Novalis
von einem Liebespaar, in einer Felsenhöhle, bei Blitz und

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Donner, welches „der erste Kuß auf ewig
zusammenschmelzte“... Der erste Kuß... wie mag das sein?
Er war als Einzelkind aufgewachsen, frühreif, einmal kindisch
und ausgelassen, dann wieder ernst, in sich gekehrt. Die frühen
Regungen des Geschlechts stürzten ihn in Sehnsüchte und
Träume; die Mädchen übten eine immer stärkere
Anziehungskraft auf ihn aus, und wo er kein Geheimnis finden
konnte, dort schuf er sich eins, indem er das Natürliche mit
jenem mythischen Schleier verhüllte, der in zahllosen Büchern
die Begriffe von Leben und Liebe verdunkelte, bei Hanns Johst
zum Beispiel: die Frau steht im Blutdienst der Schöpfung.., Vom
ewigen Evangelium der Frauen, vom verrätselten Mythos des
Geschlechts las er und grübelte... Die Antwort mußte das
Leben geben. Er war ungeduldig, voll Sehnsucht nach
Abenteuern und Bewährung.
Seine Eltern waren seit Jahren geschieden; er war bei der
Mutter geblieben, der vermögenden Frau aus einer
Industriellenfamilie; er war ihr mehr und mehr entglitten,
obgleich sie ihn verwöhnt und versucht hatte, ihn für sich zu
gewinnen. Er war ihr schließlich mitten im Krieg davongelaufen,
in Hamburg aufgegriffen und wieder zurückgebracht worden,
und endlich, ein Jahr später, hatte sie seinen Wünschen
nachgegeben und ihn aus dem Haus gelassen, hierher, in die
kleine Stadt, die ihr von irgendwem als idyllisch und heilsam
empfohlen worden war und die weitab von den Industriezentren
lag, über denen sich das Unwetter der Bombardements immer
dichter zusammenzog.
Hier war Ruhe. Ringsum waren die Berge von Wäldern
bedeckt, eine dünnbesiedelte Landschaft breitete sich weit aus.
Hier fühlte Holt sich wohl. Er war in Leverkusen und Bamberg
aufgewachsen. Seine Bindung an Vater und Mutter, die er
durch Jungvolk und Hitler-Jugend von Kindheit an gelernt hatte
geringzuschätzen, war endgültig zerrissen und hatte sich in
Sehnsucht verwandelt, nach einem Freunde und nach dem
anderen Geschlecht. Der Freund schien nun endlich gefunden.
Wolzow, so überlegte Holt, durfte von alldem nichts wissen:
von den Leidenschaften auf Haderslevhuus, von Elisabeth,
Undine und dem ersten Kuß in der Felsenhöhle. Wolzow pfiff

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unter dem Fenster, Wolzow hatte andere Sorgen: „Du mußt
jetzt schnellstens kriegerische Tugenden entwickeln!“
In den ersten Julitagen wurde Holt entlassen. Er rechnete:
Zehn Tage Erholungsurlaub, am Achtzehnten beginnen die
großen Ferien, da ist das Schuljahr für mich so gut wie zu
Ende, überdies häuften sich die Gerüchte vom baldigen Flak-
Einsatz. Vielleicht hab ich’s endgültig geschafft, dachte er, bloß
Schluß mit der Schule!
Die freien Tage verbrachte er meist im Flußbad, aber er
durchstreifte auch die Umgebung der Stadt. Eines Morgens ließ
er sich Brote einpacken, schnitt sich einen derben Stock und
wanderte in die Berge. Die letzten Dörfer blieben hinter ihm
zurück. Er tauchte in die Laubwälder. Am Nachmittag stand er
mehrere Wegstunden von der Stadt entfernt auf einer
hochaufragenden Bergkuppe und schaute über das Land. In
einer Schleife des Flusses zog sich ein Hochplateau nach
Nordwesten hin, von Erosionstälern zerklüftet, von
Felsschluchten, in denen Bäche talwärts zum Fluß stürzten.
Durch das Hochplateau waren vereinzelte jüngere Kuppen
vulkanischen Ursprungs gebrochen und stiegen auf mehrere
hundert Meter an. Er blickte über den dunkelgrünen Teppich
der Laub- und Mischwälder hinweg. Der Fluß glänzte im
Sonnenlicht, und fern stieg das Gebirge wellig, in grünen
Hügeln, zur Ebene ab. Kein Dorf ringsum, kein Weg, kein Haus!
– Hier ist es herrlich, dachte er. Ohne Kompaß find ich nicht
heim. Hier müßte man leben wie Karl Moor mit seiner Bande!
Der Berg, den er bestiegen hatte, war wie von einer riesigen
Axt abgehackt. Am Fuß der Kuppe fand er, auf dem Abstieg,
die Höhle. Ein Steinbruch fiel nach Süden tief in eine Schlucht
ab. Im Norden hatte die Erosion das Gestein freigelegt. Holt sah
ein Tal mit bewaldetem Hang, unwegsam und felsig. Am
Steinbruch im Süden, unter der Gipfelkuppe, entwich ein Tier,
ein Fuchs vielleicht, in die Büsche, und als er ihm nachspürte
und das Buschwerk teilte, fand er einen Felsspalt hinter dichtem
Brombeergestrüpp. Er raffte eine Handvoll Reisig auf und kroch
unter niedergebrochenen Gesteinsbrocken hindurch, in den
Felsen hinein. Es mußte ein uralter Bergwerksstollen sein.
Schon nach wenigen Metern konnte er aufrecht gehen, und

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dann erweiterte sich der Gang. Von den Wänden rieselte
Wasser. Er brannte das Reisigbund an und sah den Rauch in
die Felsen hineinziehen. Dann stand er in einer großen, etwa
drei Meter hohen und trockenen Höhle. Durch einen breiten,
schachtartigen Felsspalt fiel helles Tageslicht.
Entdeckerfreude packte Holt. Nichts deutete darauf hin, daß
seit langer Zeit ein Mensch hier eingedrungen war. Der Boden
war felsig, und die Wände gefügt aus weichem Gestein. Der
Schacht, der nach oben ins Freie führte, mußte in den Stein-
brach der Gipfelkuppe münden.
Als er die Höhle endlich verließ, sah er draußen den Tag zur
Neige gehen, und er beschloß, hier zu übernachten. Ringsum
reiften Walderdbeeren, eine üppige Abendmahlzeit. Die
Gegend war wildreich. Auf dem Felsabsatz vor dem
Höhleneingang wuchs dichtes und hohes Gras, Er bereitete
sich ein Lager aus Moospolstern und Laub. Dann stieg er noch
einmal zum Gipfel empor. Es wurde Nacht. Tief zu seinen
Füßen glänzte das phosphoreszierende Band des Flusses.
Vor der Höhle entzündete er ein kleines Feuer, ließ einen
trockenen Wurzelkloben glühen und streckte sich auf seinem
Lager aus. Er starrte in die Glut. Fledermäuse umflatterten ihn.
Über ihm stand das Siebengestirn. Er träumte von einem
abenteuerlichen Leben, hier in den Bergen, ohne Schule, ohne
Maaß. Er träumte vom Sänger und der Prinzessin, von einer
verborgenen Felsenhöhle, wo unter Donner und Blitz der erste
Kuß das Paar auf ewig zusammenschmelzte. Am Morgen
wanderte er noch vor Sonnenaufgang in die Stadt zurück.

Die Schwestern Dengelmann setzten Holt, als er am Vormittag


daheim anlangte, ein Frühstück vor, das ihn mißtrauisch
stimmte: Eier, Schinkenbrote, Mohnkuchen. Und das, obwohl
sie angeblich nicht wissen, wie sie mich ernähren sollen, dachte
er. Schieben die etwa heimlich? Die wollen doch was von mir!
Er hatte recht. Unter vielen Versprechungen kam es ans Licht:
Holt sollte ab September einen zehnjährigen Jungen zu sich ins
Zimmer nehmen, da er ja doch ohnehin bald einrücke... Der
Vater, ein Herr Wenzel, habe eine Gastwirtschaft, Hühner und
Schweine...

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„Einen zehnjährigen Rotzbengel?“ sagte Holt zu Eulalia, und
Veronika schüttelte mißbilligend den Kopf, daß die
Lockenwickel rasselten. „Können Sie nicht warten, bis ich bei
der Flak bin?“ Herr Wenzel schlachte jedes Jahr drei Schweine,
erklärte Veronika. Holt warf die Tür hinter sich zu und ging. Im
Grunde interessierte ihn das nicht; bis zum 1. September
rechnete er fest mit der Einberufung. Er beschloß, baden zu
gehen. Das heiße Wetter hielt an.
Er schlenderte über den Marktplatz. Vor dem Cafe blieb er
stehen. Er hatte Lust, Billard zu spielen; Billard war große
Mode. Aber allein machte es wenig Spaß. Als er weiterging, sah
er einen flammend roten Rock, von weitem, auf der
gegenüberliegenden Seite des Marktplatzes.
Die Marie Krüger! Sein Herz begann zu klopfen. Wenn ich
ganz langsam durch die Lauben am Rathaus geh, überlegte er,
treff ich genau an der Talgasse mit ihr zusammen...
Sie war nur noch wenige Meter von ihm entfernt, und beide
bogen gleichzeitig in die abschüssige Straße ein, die hinab zum
Fluß führte.
„Guten Tag“, sagte er. Sie nickte überrascht und ergriff
zögernd seine Hand. „Na?“ sagte er, und noch einmal: „Na?...
Gehn Sie auch baden?“ Wie rede ich sie an, Herrgott?
Er merkte nicht, daß seine Befangenheit sie belustigte; er sah
nur, daß sie lächelte, und ihr Lächeln tilgte in ihm alle Furcht. Er
ging neben ihr her. Sie fragte: „Sie schwänzen wohl Schule?“
„Ich hatte Scharlach und hab Schonung.“ Er bedauerte, daß
ihn seine Klassenkameraden jetzt nicht sehen konnten, an der
Seite dieses Mädchens. Ihre Eltern lebten nicht mehr, so hieß
es. Sie bewohnte irgendwo ein Zimmer. Sie war siebzehn Jahre
alt, schlank, zigeunerhaft, hübsch und schlampig. Die großen,
dunklen Augen standen ein wenig schräg in dem schmalen
Gesicht. Von der rechten Augenbraue zog sich eine
halbkreisförmige Narbe über die gebräunte Stirn. Das lockige
braune Haar, das immer unordentlich war, raffte sie mit
leuchtend bunten Bändern zusammen, überhaupt bevorzugte
sie eine bunte, absonderliche Kleidung, flammend rote Röcke,
knallgelbe Mieder, grüne Halstücher. Die Mädchen aus der
Oberschule verachteten sie, die Jungen schauten ihr heimlich

23
nach. Sie stand außerhalb der Gesellschaft, und die
Gesellschaft der Kleinbürger hatte feste Schranken. Es gab
keine Industrie am Ort. Die Oberschüler sahen seit je auf die
Mittelschüler herab, und diese wieder dünkten sich besser als
die Lehrlinge und Hausmädchen. Der gemeinsame strenge
Dienst in HJ und BDM hatte daran nichts geändert. Es gehörte
viel Selbstbewußtsein und auch Mut dazu, am hellichten Tag
mit Marie Krüger durch die Straßen zu gehen. Auch Holt fand
sie etwas anrüchig, denn er war in strengem Kastengeist
erzogen, aber die Anziehungskraft, die von ihr ausging, wirkte
auf ihn so stark, daß sie alle Bedenken tilgte.
„Sie sind noch nicht lange hier?“ fragte sie freundlich. „Die
anderen Oberschüler sind so affig und eingebildet.“
Die haben bloß Schiß, dich anzusprechen, dachte Holt. Er
entgegnete: „Am vornehmsten tun die vom Bann, nicht wahr?“
Sie überquerten den Mühlgraben und betraten die Anlagen am
Fluß.
Sie sah ihn von der Seite an. „Sind Sie nicht HJ-Führer?“
„Ich? Nein. Ich war Führer beim Jungvolk. Aber ich fall zu sehr
auf. Jetzt bin ich Individualist. Die HJ macht mir nicht mehr viel
Spaß. Früher, ja. Aber jetzt bin ich viel lieber allein. Nach den
Ferien geht’s sowieso zur Flak.“
Sie antwortete nicht.
Ein kurzer, toter Flußarm mit dem irreführenden Namen
Mühlgraben bildete mit dem Fluß eine Halbinsel, die man,
Parkinsel nannte; sie zog sich oberhalb der Stadt einige
Kilometer weit am rechten Ufer des Flusses hin. Inmitten von
Parkanlagen hatte hier der Ruderklub „Wiking“ sein
Vereinshaus, nebenan lagen die Tennisplätze, die Eisbahn und
die Badeanstalt. Weiter flußaufwärts endete der Park, und die
Halbinsel ging in den „Schwarzbrunn“ über, eine mehrere
Quadratkilometer große, unwegsame und wilde
Sumpflandschaft, ein Labyrinth verlandender toter oder mit dem
Fluß verbundener Flußarme und schilfgesäumter Tümpel, eine
morastige Niederung, die vom festen Ufer her nur im Sommer
bei niedrigem Wasserstand zugänglich war. Die Badeanstalt
war ein großes Gelände mit einer Liegewiese, deren Böschung
zum Wasser abfiel, wo das Floß verankert war, das auf leeren

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Öltanks schwamm, mit Bassins für Nichtschwimmer und
Sprungturm. Am Ufer neben der Liegewiese zogen sich
mehrere Reihen hölzerner Umkleidekabinen hin, die wegen der
jährlichen Hochwasser wie Pfahlbauten auf hohen
Balkenfundamenten ruhten.
Holt, der von seiner Mutter ein reichliches Taschengeld bezog,
hatte eine der teuren Jahreskabinen gemietet. Ungeduldig
kleidete er sich um, fand das Mädchen am Ufer und setzte sich
dort ins Gras. Zu dieser Tageszeit war die Badeanstalt
menschenleer. Auf dem Floß im Schatten des Sprungturmes
saß nur der alte Bademeister und angelte.
Sie lag lang ausgestreckt im Gras. Sie trug einen roten,
zweiteiligen Badeanzug. Ihr Körper war gleichmäßig
braungebrannt, nur an der Brust, wo sich der Badeanzug ein
wenig verschoben hatte, wurde ein Streifen weißer Haut
sichtbar. Sie hatte die Arme unter dem Kopf verschränkt und
hielt die Augen geschlossen. Holt hockte neben ihr. Er
betrachtete sie. Der Anblick der schwarzen gekräuselten Haare
in den Achselhöhlen, der entspannten schlanken Glieder
beunruhigte ihn... Er fand diesen braunen Leib, der sich im
Gleichmaß der Atemzüge hob und senkte, seltsam
zerbrechlich, er sah lange auf ihr Gesicht, auf ihren Mund, er
dachte: Es schaut keiner her... ob sie sich wehrt, wenn ich sie
küsse? Mag sie sich wehren... ich bin viel stärker!
„Wie alt sind Sie?“ fragte sie.
„Siebzehn“, log Holt, und er legte sich neben sie ins Gras.
Nun, da er sie nicht mehr sah, fiel ihm das Reden leichter. „Als
ich Scharlach hatte“, sagte er, „da hab ich mal von Ihnen
geträumt...“ Er hörte sie lachen, das machte ihn unsicher. „Ich
geh ins Wasser“, sagte er schnell, „kommen Sie mit?“
„Ich hab keine Badehaube. Ich verderb mir bloß die Haare...
Es gibt keine zu kaufen. Ich gäb wer weiß was dafür.“
Er dachte nach. „Ich besorg Ihnen eine. Darf ich mir dann was
wünschen?“ Sie stützte sich auf die Ellenbogen und blickte zu
ihm hin. Er brachte es fertig, ihr in die Augen zu sehen. „Ich
bring Ihnen eine Badekappe, und Sie... zum Lohn... Sie müssen
sich von mir küssen lassen...“

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Sie streckte sich wieder aus. Er drängte: „Ja oder nein?“ Sie
antwortete: „Nachher sagen Sie: Die läßt sich wegen einer
lumpigen Bademütze küssen...“ Er stand auf. „Da will ich
verdammt sein, wenn ich so was auch nur denk! Ohne
Badehaube lassen Sie sich doch erst recht nicht...“ – „Fort!“ rief
sie lachend. „Los, geh ins Wasser, du!“ Er lief die Böschung
hinab, es war eine Flucht vor ihrem Du, vor ihrem
unausgesprochenen Ja. Die Planken des Floßes dröhnten, er
sprang aus dem Anlauf kopfüber in den Fluß. Als er auftauchte,
sah er sie im Gras sitzen, und als er den Arm aus dem Wasser
hob, winkte sie.
Er schwamm zum anderen Ufer, kletterte auf den Damm und
schaute noch einmal zurück. Das Mädchen war verschwunden.
Er ging über die Wiesen zu einem dichten Weidengebüsch,
dem vereinbarten Treffpunkt mit Wolzow.
Er warf sich auf den weichen Boden und blickte in den
wolkenlosen Sommerhimmel.

Er erwachte, als Wolzows greller Pfiff vom Ufer herwehte.


Wolzow setzte sich zu Holt. Er hatte in seinem Paddelboot
Zigaretten und Streichhölzer mitgebracht. Holt fragte: „Was
gibt’s Neues in der Penne?“ – „Maaß hat die Lateinarbeit
zurückgegeben. Hab eine glatte Fünf. Ich bleib wahrscheinlich
sitzen.“ – „Wäre dir das gleichgültig?“ Wolzow hob die
Schultern. „Sitzenbleiben oder nicht, darauf kommt’s doch gar
nicht mehr an... Wir rücken bald ein. Später werd ich mal im
Ostraum siedeln, in der Ukraine oder so. Als Offizier unter
Wehrbauern brauch ich kein Latein.“ Stimmt, dachte Holt. Beim
Militär fragt kein Mensch mehr nach Zeugnissen... „Was Neues
von der Flak?“ – „Nein... Aber der Reichsjugendführer hat zum
Ernteeinsatz aufgerufen.“ – „Das paßt mir gar nicht“, sagte Holt
mürrisch. „Die solln uns in Ruh lassen. Wenn wir bloß bald zur
Flak kämen! Ich will mich endlich richtig einsetzen. Ich hab eine
wahnsinnige Wut auf diese Luftpiraten.“
Wolzow blinzelte faul in die Sonne. „Der Krieg geht ja erst
richtig los“, sagte er. „Ich hab keine Angst mehr, daß wir zu spät
kommen. Weißt du schon, daß die Amerikaner auf Sizilien
gelandet sind?“ Holt war überrascht. „Nein... Ich hab ewig

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keinen Wehrmachtsbericht gehört.“ – „Jedenfalls ist das ein
Fortschritt“, behauptete Wolzow. „Wie willst du den Gegner
schlagen, wenn er sich nicht zum Kampf stellt? Wenn ich
Feldherr wär, ich würde Entscheidungsschlachten suchen,
wenn es die Lage nur einigermaßen erlaubt. Weißt du, wer
mein Ideal ist? Ich hab neulich von Marius gelesen. Mensch,
das war ein Kerl!“ Er richtete sich auf. „Wir können uns, glaub
ich, ab August freiwillig melden. Kommst du mit zu den
Schnellen Truppen? Panzer sind die tollste Waffe.“ – „Ich komm
mit“, sagte Holt. „Panzer ist gut. Ich stell mir das herrlich vor,
wenn man ins Feuer reinbraust, und ringsum trommeln die
Granaten, und dann das Duell Panzer gegen Panzer... Du hast
recht! Es gibt kein Abenteuer, nur den Krieg. Früher gab’s
Seeräuber, Banditen wie Karl Moor, die für Gerechtigkeit ihr
Leben gaben.“
Eine Stunde lang lagen sie in der Sonne. „Das schönste ist
natürlich Truppenführung“, begann Wolzow von neuem. „Da
stehst du am Kartentisch, die Mütze auf dem Kopf, und klopfst
ganz lässig mit dem Rotstift auf die Karte. Hier... ein Stoß wird
so angesetzt, und einer so... Dann gibst du Befehle. Dein Wort
entscheidet die Schlacht.“

In der Badeanstalt herrschte Hochbetrieb. Die Marie Krüger,


von ein paar Männern umgeben, saß auf der Wiese; Holt sah
es von weitem mit einem brennenden Gefühl der Eifersucht. Sie
banden das Boot fest und kletterten auf das Floß, von jüngeren
Schülern respektvoll gegrüßt. Beim Sprungturm hatte sich ein
Kreis von Jungen und Mädchen versammelt. Holt hörte die
helle, freche Stimme Zemtzkis. Rutscher stotterte ihnen ein „A-
a-ave Cäsar!“ entgegen. Sie waren alle beisammen, Wiese,
Vetter, Gomulka, auch Nadler mit ein paar seiner
Untergebenen, Schenke, Hampel, Kieback und wie sie alle
hießen... Dazu ein paar Mädchen: Rutschers Schwester Ilse,
die schlanke Doris Wilke, „Putzi“ genannt, und Friedel Küchler,
die strohblonde Mädelgruppenführerin, Tochter des Landrats.
Sie rief: „Heil Hitler!“ Holt setzte sich auf die Planken und
beobachtete die Mädchen. Doris Wilke errötete bei Wolzows
Anblick, sie war in den großen, finsteren Burschen verliebt, aber

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Wolzow merkte es nicht oder wollte es nicht merken. Es ging in
Gegenwart der Mädchen recht förmlich zu. Nur Wolzow
benahm sich nicht anders als sonst. „Ihr Mädel werdet immer
zackiger, zum Piepen ist das“, sagte er zu Friedel Küchler,
während er sich niedersetzte. „Ich seh euch noch als richtige
Mannweiber.“ – „Solche Flintenweiber“, sagte Vetter, „haste die
neulich in der Wochenschau gesehn?“ Friedel Küchler wies
Wolzow zurecht: „Das ist ganz falsch!“ Sie konnte wohltönend
reden, sie hatte sogar schon einmal bei einer Morgenfeier der
Hitler-Jugend im Rundfunk gesprochen. „Sieh dir mal ,Glaube
und Schönheit’ an, ihr gemessenes Schreiten hinter den
Wimpeln, oder den heroisch ernsten Aufmarsch zu Spiel und
Tanz... Niemand wird aus dem lebensfrohen Getümmel eine
Vermännlichung fürchten... Unsere Mädel werden biologisch
bessere und sittlich keine schlechteren Mütter sein als die
Mütter früherer Generationen.“ – „Alles Quatsch“, sagte Wolzow
ungerührt. „Du redest doch immer von den Germanen! Bei den
Germanen hatten die Weiber das Maul zu halten und Kinder zu
kriegen!“
Holt fühlte sich nicht recht wohl in diesem Kreis. Er fand diese
gleichaltrigen Mädchen, Schülerinnen der Mädchenoberschule,
albern, so hübsch sie anzusehen waren in ihren knappen
Badeanzügen. Jemand sprach ihn an: „Wir hörten gerade
deinen berühmten Schachtelsatz.“ Peter Wiese hatte den Satz
rekonstruiert und aufgeschrieben. „Der Maaß“, sagte Gomulka,
„verwindet das nie! Er hat keine Freude mehr an
Schachtelsätzen!“ – „Dafür ist er noch gemeiner geworden“,
schimpfte Vetter, der dick und rosig auf den Brettern saß. „Zu
mir hat er gestern gesagt: ,Woher stammt eigentlich Ihre
Blödheit? Vom Vater nicht, den kenne ich, wahrscheinlich
haben Sie eine saudumme Mutter!’ Muß ich mir so was gefallen
lassen?“ – „Ei, seht doch mal, wer da kommt!“ piepste Zemtzki.
Alle wandten die Köpfe, über das Floß ging Marie Krüger, mit
wildem Haar, am Sprungturm vorbei. Zemtzki sagte, so daß sie
es hören mußte: „Die ist eine stadtbekannte...“ – „Halt den
Mund!“ rief Holt. Zemtzki verstummte.
Das Mädchen war an der Treppe stehengeblieben und sah zu
ihm hin, dann ging sie rasch davon. Friedel Küchler sagte spitz:

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„Die nimmst du in Schutz? Bist du etwa in die verliebt?“ Holt
war turmhoch überlegen. Er stand auf. „Komm, Gilbert... Mir
gefällt’s nicht mehr. Die dumme Pute will stänkern.“
Sie gingen über die Treppe ans Ufer.

Die Wolzowsche Villa lag über den alten, baufälligen


Fachwerkhäusern auf einem Hügel. Ein großer, verwilderter
Garten umgab das Haus; von der Mauer blickte man auf die
roten Schindeldächer und in die engen Gassen der Altstadt
hinab.
Das Haus war verwahrlost. In der dunklen Halle hingen ein
paar verstaubte Ahnenbilder an den Wänden. In dem offenen
Kamin häufte sich Unrat und Asche. Die Fenster, seit langem
nicht mehr geputzt, ließen trübes Licht in den großen Raum.
Eine Treppe mit geschnitztem Geländer führte in das
Obergeschoß. Hier bewohnte Frau Wolzow mit ihrem Sohn ein
paar Zimmer. Das Erdgeschoß blieb leer und verfiel.
Wolzows Zimmer glich einer Rumpelkammer. An den Wänden
hingen Armbrüste, exotische Waffen, Bogen und gefiederte
Pfeile, indianische Streitäxte, Blasrohre und ein Paar
altertümliche Duellpistolen. Vor dem Fenster stand ein großer
Eichentisch, von Retorten und Flaschen, Gläsern und
verrosteten Büchsen bedeckt. Ein Totenschädel lag herum, aus
dem Beinhaus des Kirchhofs gestohlen, ein ramponiertes,
ausgestopftes Rebhuhn, das als Zielscheibe diente, Papiere
und Bücher. Auf einem Haufen Unrat in der Ecke lagen obenauf
zwei Schläger, ein krummer Türkensäbel, ein Tellereisen und
ein verschmutzter Schaftstiefel. Eine Fechtmaske und allerhand
Kleidungsstücke waren auf dem Boden verstreut, und das
eiserne Feldbett bedeckte ein zottiges braunes Bärenfell.
Holt saß auf dem Fell, die Füße auf einen herangeschobenen
Stuhl gelegt. Er fühlte sich wohl hier. Wolzow experimentierte
an dem großen Eichentisch; unter einer Retorte brannte eine
Spiritusflamme. Draußen sank die Dämmerung. „Wenn das
klappt mit der Salpetersäure, dann mach ich Dynamit.“ – „Was
willst du mit Dynamit?“ – „Bomben bauen, richtige Bomben,
nicht solche Knalldinger aus Schwarzpulver!“

29
Was will er mit Bomben? dachte Holt... Dem Maaß eine unters
Katheder legen? Er lachte. Aus der Retorte stiegen beizende
Dämpfe. Wolzow öffnete das Fenster. Das Geläut der
Kirchenglocken erfüllte den Raum... Wolzow baut Bomben, und
die Glocken läuten dazu!
„Stell dir vor“, sagte Wolzow, „du legst eine Dynamitbombe an
die Penne, Mensch, da bleibt kein Stein auf dem anderen!“ Es
war eine Vorstellung, die ihn begeisterte. „Dem Maaß eine
Bombe an den Arsch binden...“
Holt rauchte und sah sich die Bücher an, die herumlagen,
kriegswissenschaftliche und -geschichtliche Werke, Verdy du
Vernois: „Studien über Truppenführung“, Rüstow: „Geschichte
der Infanterie“, Prinz Kraft zu Hohenlohe: „Militärische Briefe
über Artillerie“, und nun sah Holt auch das dicke Taschenbuch
liegen. Er nahm den flexiblen Lederband zur Hand und
studierte den Titel: „Lutz von Wulfingen, Generalleutnant und
Lehrer an der Königlich Preußischen Kriegsakademie,
,Taschenbuch der Kriegsgeschichte in Stichworten mit
strategischen und taktischen Anmerkungen und einem
chronologischen Verzeichnis aller Schlachten, Gefechte und
Scharmützel der Weltgeschichte samt der daran beteiligten
Truppen und ihrer Führer’, mit 212 Skizzen versehen und völlig
neu bearbeitet von Otto Graf Ottern zu Ottbach, Major a D.,
zweite Auflage 1911.“ Holt durchblätterte die dünnen Seiten,
„Taginae“ war rot unterstrichen, „Stümperei Totilas, Narses
ganz groß“ stand am Rand; und hier bei „Miltiades bei
Marathon“ las Holt von Wolzows Hand: „Eine Cannae vor
Cannae?“
Er legte das Buch aus der Hand. Was er jetzt unter dem Wust
hervorzog, war Goethes „Faust“. „Liest du den ,Faust’?“ fragte
er erstaunt. Wolzow antwortete: „Ich hab gehört, da soll ein
Soldat mitspielen, ich hab mir das angesehn: militärisch ist es
uninteressant.“ Er löschte den Spiritusbrenner und schob die
Retorte zur Seite. Es war dunkel im Zimmer, er schaltete Licht
ein. Holt hatte das Buch aufgeschlagen und las: „Zueignung“...
Er überflog die Verse und las noch einmal: „,.. was ich besitze,
seh ich wie im Weiten, und was verschwand, wird mir zu
Wirklichkeiten...“ Das ist wunderbar... Er fragte unvermittelt:

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„Denkst du eigentlich gern an die Zeit, als du ein Kind warst?“ –
„Wozu?“ sagte Wolzow. „Nein. Du? Warum lebst du eigentlich
nicht bei deinen Eltern?“
„Meine Eltern sind geschieden“, antwortete Holt unlustig.
„Mein Vater ist weggegangen, und bei meiner Mutter, na, ich
hab’s nicht ausgehalten, ich weiß auch nicht, warum. Sie ist
so... steif, gar nicht wie eine Mutter. Großzügig war sie ja, in
allem, wir hatten da eine Sportschule, sie hat mir einen Trainer
für Jiu-Jitsu bezahlt und alles mögliche... Aber sonst... Und
meine Tante aus Hamburg ist noch schlimmer, wie ein
Eisklumpen, die hat nun dauernd bei uns gesessen, mir hat
diese Weiberwirtschaft einfach nicht gepaßt. Dauernd gab’s
Krach.“ – „Und warum bist du nicht bei deinem Vater?“ – „Er hat
kein Sorgerecht, und Mutter läßt mich von der Polizei wegholen,
wenn ich hingeh. Mein Vater ist Bakteriologe, weißt du, so wie
Robert Koch... Er war Hochschulprofessor und dann in der
Industrie. Er hat immer nur seine Arbeit im Kopf, das heißt, zu
mir war er ja ganz nett... Aber Mutter sagt, er ist ein
Menschenfeind und ganz weltfremd.“ Er schwieg, es gab noch
mehr zu sagen, aber eigentlich ging das niemanden etwas an,
auch Wolzow nicht. „Und schließlich hat mich meine Mutter
fortgelassen, jetzt bin ich eben hier.“ – „Ein Glück“, entgegnete
Wolzow, „sonst wär ich jetzt relegiert.“ Daß Holt ihn erst so weit
getrieben hatte, übersah er. „Übrigens“, brummte er, „das wollte
ich dir noch sagen: Daß du mich rausgerissen hast, ich vergeß
dir das nie! Wenn du mich jemals um etwas bittest“, sagte er mit
einer mürrischen Feierlichkeit, „so erinner mich an diese
Stunde, und ich will ein Lump genannt werden, wenn ich nicht
alles für dich tu...“ Holt sagte schnell: „Wenn wir zusammen in
den Krieg kommen, dann wollen wir zusammenhalten wie...
Hagen und Volker. Es ist gut, wenn man im Krieg einen Freund
hat.“ Wolzow knurrte etwas Unverständliches. Er nahm den
Krummsäbel und hieb auf den Totenschädel, der krachend in
Stücke sprang. Dann warf er den Säbel in die Ecke. „Zwei alte
Krieger wie uns, die trennt nur der Tod!“

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3

Die Badehaube bereitete Holt Kopfzerbrechen genug.


Schließlich erinnerte er sich, daß Veronika Dengelmann
angeblich noch vor zwei Jahren regelmäßig geschwommen
sei... Am anderen Morgen, beim Frühstück, fingen die
Schwestern wieder von Herrn Wenzel an. Holt erwiderte auf alle
Bitten hinterhältig: „Nein. Sie würden mir ja auch keinen
Gefallen tun.“ – „Aber natürlich! Jeden Gefallen würden wir...“ –
„So? Dann geben Sie mir Ihre Badehaube.“
„Meine Badehaube?“ Sie kam sich veralbert vor. Er stand
schon auf. Sie rief: „Gewiß... Gewiß doch!“ Wie schön das
geklappt hat, dachte er. Eh dieser Knabe einzieht, bin ich bei
der Flak.
Veronika brachte die Kappe. „Was wollen Sie bloß damit?“ –
„Also meinetwegen, schreiben Sie Ihrem Herrn Wenzel, ich bin
einverstanden.“ Eulalia atmete auf. Aber Veronika fand keine
Ruhe: „Was wollen Sie um Gottes willen mit meiner
Badehaube?“ – „Eine Geranie werd ich hineinpflanzen“, sagte
Holt. Er lief zur Badeanstalt.
Er saß in seiner Kabine und wartete, krank vor Aufregung, bis
er die Marie Krüger im Badeanzug über die Liegewiese gehen
sah. Er versteckte die Badekappe hinter dem Rücken. Sie gab
ihm freundlich die Hand. „Heut müssen Sie mit mir
schwimmen“, sagte er und hielt ihr die Badehaube hin.
Sie nahm ihm zerstreut die bunte Mütze aus der Hand. Dann
stopfte sie das Haar unter den Gummi und sagte endlich: „Ich
muß mich im Spiegel sehn.“ Er folgte ihr über die Wiese.
Schweigend ging sie voran, die hölzerne Treppe hinauf und
dann den Gang zwischen den Kabinenreihen entlang. Sie
bückte sich nach dem Schlüssel, der irgendwo versteckt war,
und stieß die Tür weit auf. Dann trat sie in den kleinen Raum.
Holt lehnte sich an den Türpfosten.
Sie stand vor dem Spiegel und setzte die Mütze auf, wortlos,
mit flinken Bewegungen, setzte sie wieder ab und hockte sich
quer auf die kleine Bank, hob die Füße auf den Sitz, zog die
Beine dicht an den Körper und schlang die Anne um die Knie.
Sie sah ihn an, seitlich an die Kabinenwand gelehnt,
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zusammengerollt wie eine Katze. Zwischen den engen Wänden
herrschte ein dämmriges Halbdunkel; ein Lichtstrahl zauberte
ein paar spitze Lichter in ihre Pupillen.
Holt hatte Angst. Aber der Gedanke, er könne sich lächerlich
machen, trieb ihn doch den einen Schritt zu ihr hin. Er beugte
sich hinab und küßte sie flüchtig auf die Lippen, die sie ihm
entgegenhob. Dann richtete er sich auf, enttäuscht: die Bücher,
die Träume hatten gelogen!
Sie lachte. Ihre Zähne blitzten. Sie stand auf und trat ganz
dicht an ihn heran; sie schlang beide Arme um seinen Hals und
küßte ihn. Er erwachte, er faßte mit beiden Händen ihre
Schultern. Sie löste sich von ihm und trat einen Schritt zurück,
aber er zog sie aufs neue an sich; er zwang ihr rasch die Arme
auf den Rücken, er strich über ihre Schulter, ihren nackten Arm,
er suchte ihre Brust. „Du tust mir weh“, sagte sie leise...
Erst als auf dem Gang Schritte laut wurden, gab er sie frei. Die
Schritte verloren sich. Sie trat aus der Kabine.
Er ging an ihrer Seite zum Ufer zurück, dann schwamm er mit
ruhigen Stößen in den Fluß hinaus. Erst weit draußen, als er
sich auf den Rücken warf, sah er, daß sie ihm folgte.
Am anderen Ufer liefen sie stromaufwärts, zu einem Wäldchen
von Erlen und Weiden. Hier wucherte zwischen hohem
Riedgras der Löwenzahn. Von einem Tümpel stieg schreiend
ein Schwärm Wildenten auf. Sie lagen lange Zeit in der Sonne.
„Ich habe in letzter Zeit viel an dich gedacht“, sagte er. „Wir
beide bleiben immer beisammen!“
„Ach du...“, sagte sie gedehnt, „schlag dir so was aus dem
Sinn. Außerdem geh ich in ein paar Tagen zum Arbeitsdienst.“
Sie richtete sich auf. „Vielleicht meinst du’s wirklich so“, sagte
sie sanfter, „aber... das werd ich mir nie einbilden, daß so einer
wie du’s ernst meint...“
Bei diesen Worten fiel ihm eine Episode aus seiner Kindheit
ein.
Sie hatten in Leverkusen eine Villa am Rande der Stadt
bewohnt. Im Kellergeschoß hauste die Portiersfamilie. Holt war
vier oder fünf Jahre alt, und einmal entlief er der ewigen
Aufsicht des Kindermädchens und spielte mit der gleichaltrigen
Tochter des Portiers, die ihn schließlich mit zu sich in die

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Kellerwohnung nahm. Er saß in der dunklen Küche am Tisch
und spielte im Kreis der Familie „Schwarzer Peter“, bis ihn das
verärgerte Kindermädchen fand. Oben mußte er baden und die
Wäsche wechseln. Die Episode wäre wohl kaum in seinem
Gedächtnis haftengeblieben, aber am Abend ließ ihn ein Zufall
mit anhören, wie seine Mutter voll Sorge zu seinem Vater sagte:
„Wo hat er das her... diesen Hang zum Niederen?“
Bei dieser Erinnerung überkam ihn die Lust, die ganze Welt
herauszufordern. „Und... wenn ich dich in unseren Kreis
einführe, gleich heut? Wenn ich dich meinen Freunden vorstell?
Soll einer ein Wort gegen dich sagen! Gilbert und ich, wir
prügeln jeden windelweich!“
Sie lächelte flüchtig. „Jeden?... Kennst du den Meißner?“
Meißner war seit seinem Notabitur hauptamtlicher HJ-Führer,
neunzehnjährig, einer der wenigen seines Jahrgangs, der nicht
schon seit langem im Wehrdienst stand, ein enger Freund des
Bannführers, SS-Freiwilliger und Führer des HJ-
Streifendienstes. „In ein paar Wochen wird er zur SS
einrücken“, antwortete Holt, verwundert über den
Gedankensprung, den ihre Frage verraten hatte. Sie sah ihn
aus halbgeschlossenen Augen an. „Und... kennst du die Ruth
Wagner?“ Er erinnerte sich schwach. Da hatte es vor Wochen
ein Gerücht gegeben, ein unklares Gerücht von einem tödlichen
Unfall. „Was ist mit ihr?“
Sie redete leise, den Kopf gesenkt, aber die dunklen Augen
unverwandt auf ihn gerichtet. „Sie war Verkäuferin. Der Meißner
hat sich an sie rangemacht. Das dumme Ding hat sich in ihn
verliebt und hat sich alles gefallen lassen, obwohl so einer es
mit uns ja gar nicht ernst meint... Aber er hat ihr sonstwas
vorgeredet und daß es noch Geheimnis bleiben muß. Dann hat
er sie plötzlich abschieben wollen, da war sie schon in anderen
Umständen. Er hat gesagt, es ist Schluß. Er hat ihr Geld
gegeben, daß sie’s wegbringen lassen kann, aber wenn sie
erzählt, daß er’s gewesen ist, dann passiert was. Da ist sie zu
mir gekommen. Sie war ganz verzweifelt. Und denselben
Abend ist sie in den Schnellzug gestiegen. Am anderen Tag ist
ihr Vater bei mir gewesen, ob ich weiß, warum sie weggefahren
ist. Ich hab natürlich von nichts gewußt. Dann haben sie die

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Ruth gefunden, sie hat sich aus dem fahrenden Zug gestürzt,
grad als der Gegenzug kam. Es heißt, es war ein Unglücksfall.
Dann hat der Vater einen Brief von ihr bekommen, den sie
unterwegs aufgegeben hat, und er ist zum Bann gelaufen und
hat Krach gemacht. Sie haben ihn dort festgehalten, und
unterdessen ist der Meißner ganz aufgeregt zu Kretschmar
gelaufen, was der Chef vom SD ist. Ruths Vater ist nicht wieder
nach Hause gekommen, und niemand weiß, wo er jetzt ist.“
Er sah vor sich hin.
Sie neigte sich zur Seite, sie brachte den Mund dicht an sein
Ohr. „Siehst du, deshalb bin ich mißtrauisch bei einem wie dir.“
Sie sprang auf. „Aber mach dir nichts draus, bald bin ich nicht
mehr hier.“
Er war auf einmal allein. Er glaubte kein Wort, und er glaubte
doch alles. Er war entsetzt und zugleich traurig, er fühlte eine
Erbitterung in sich, die in Zorn umschlug, in Zorn gegen
Meißner. Er lag noch lange im Gras und dachte nach. Dann
beschloß er, mit Wolzow zu reden.

„Ich muß dir was erzählen“, sagte Holt, als Wolzow ihm
öffnete. Dann horchte er auf. Durch die Wände drang ein
seltsamer Laut, langgezogen wie das Heulen eines Hundes.
„Meine Mutter“, sagte Wolzow. „Seit zwei Jahren immer
dasselbe Theater, seit mein Vater an der Ostfront steht... Und
so was nennt sich Offiziersfrau! Sie war schon mal im
Irrenhaus, aber denkst du, sie haben ihr das Gejammer
abgewöhnt?“ Er bot Zigaretten an. „Hör nicht drauf, du
gewöhnst dich dran. Erzähl.“
„Kennst du die Ruth Wagner?“ - „Hm“, machte Wolzow. „Eine
undurchsichtige Geschichte.“ Er zeigte sich wenig interessiert.
Holt erzählte. Er fragte anschließend: „Glaubst du das?“
„Warum denn nicht? Voriges Jahr ist auch so was passiert. Da
sind ein paar Kerle vom Bann eingerückt, die haben Abschied
gefeiert. Als sie besoffen waren, haben sie das erste beste
Mädel von der Straße hochgelockt, haben sie nackt
ausgezogen und dann der Reihe nach... na, verstehst schon.
Das haben sie Äquatortaufe genannt, weil sie Marinefreiwillige
waren, ganz originell, was? Das Mädel war erst fünfzehn. Der

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Vater wollte Krach schlagen, aber der Bannführer hat seine
Leute gedeckt. Wenn er nicht Ruhe gibt, haben sie dem Vater
gesagt, dann ist seine u.-k.-Stellung hin... Da hat dieser Zivilist
aus Angst vor der Front gekuscht, und so wurde die ganze
Sache totgeschwiegen. Das mit dem Meißner kann schon
stimmen.“
„Und... wie stehst du dazu?“ rief Holt.
„Das geht mich nichts an“, erwiderte Wolzow mürrisch. Aber
Holt ließ nicht nach. „Geht dich nichts an? Mich auch nicht.
Aber unsereins ist ja schließlich nicht irgendwer! Ist dir’s wirklich
egal, was dieser Meißner angerichtet hat?“ – „Reg dich nicht
auf“, meinte Wolzow beschwichtigend. Aber Holt rief: „Haben
wir eine Ehre im Leibe? Ja? Dann muß man... zur Polizei
gehn...“
Wolzow tippte mit dem Finger an die Stirn. „Polizei? Die
werden sagen, das ist Hetze gegen die Partei.“
Holt saß eine Weile erschrocken auf dem Bett. Dann sagte er
trotzig: „Aber es geht um... Gerechtigkeit! Wir müssen auf
eigene Faust Gerechtigkeit üben, wie Karl Moor: ,Mein
Handwerk ist Wiedervergeltung.’ Wir werden die Ruth Wagner
an Meißner rächen.“ – „Das Weibsbild ist mir egal“, erwiderte
Wolzow. Er ging plötzlich im Zimmer auf und ab. „Der
Meißner...“, sagte er dann, „das sind zwar alte Geschichten,
aber immerhin: der hat mir damals meine Karriere als HJ-
Führer versaut, da darf ich gar nicht dran denken... Also gut, ich
überleg mir das.“

Holt nahm die letzten Tage vor den Ferien wieder am


Unterricht teil. Die Mitschüler begrüßten ihn jubelnd, aber
Wolzow fehlte. Das vergällte Holt den Tag. Er war überdies
unruhig, weil es ihm nicht gelungen war, die Marie Krüger noch
einmal wiederzusehen. Auf dem Stundenplan stand heute:
Mathematik, Physik, Biologie und zwei Stunden
Leibesübungen. Glaser hielt auf dem Korridor Wache. Zemtzki
rief: „Ich bin bei Benedict mit dem Vorsprach dran!“ Benedict
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verlangte vor jeder Turnstunde eine Art Losung, die mit den
Worten zu enden hatte: „Darum... Sport frei!“ Zemtzki piepste:
„Wenn ich ,Darum’ gesagt hab und das linke Auge zukneif,
dann brüllt ihr alle: ,... eßt Pellkartoffeln!’ Wie probieren!“ Er
stand auf dem Podium und rief: „Trotz guter Kartoffelernte bleibt
Sparsamkeit oberstes Gebot! Darum...“ – „... eßt Pellkartoffeln!“
Holt hatte gleich nach seinem Eintritt in die Klasse Wilhelm
Busch zitiert: „Es ist ein Brauch von alters her, wer Sorgen hat,
hat auch Likör, darum... Sport frei!“ Seither war die einstmals
ernstgemeinte Sitte zu einer Quelle ständigen Unfugs
geworden.
Mathematik bei Schöner: Der dicke Vetter holte seine
Spielkarten hervor, mischte und teilte aus.
Die nächste Stunde war interessanter: Physik bei Gruber. Man
begab sich ins Physikzimmer.
Gruber stand am Experimentiertisch und baute eine
Influenzmaschine auf. Man brüllte ihm den Hitlergruß entgegen,
denn das kleine, kugelrunde Männlein, weit über sechzig Jahre
alt, war schwerhörig, fast taub. Er kleidete sich stets in grünes
Loden und beteuerte immer wieder: „Ich höre famos! Ich höre
fabelhaft und ziehe die Konsequenz!“ Er beobachtete die
Gesichter seiner Schüler argwöhnisch und strafte, wenn er
jemanden auch nur die Lippen bewegen sah. Man hatte folglich
gelernt, mit geschlossenem Mund die erschütterndsten Laute
hervorzubringen.
Der Unterricht begann vor einer Kulisse von Urgeräuschen.
Holt hatte keinen Spaß daran. Er las, das Buch unter der Bank
versteckt. „Holt, nach vorn!“ befahl Gruber. Er sprach sehr leise.
Holt überhörte die Aufforderung, aber die Mitschüler heulten:
„Holt... nach vorn!“
Er erhob sich und sagte: „Ich hab sechs Wochen gefehlt!“
Gruber verstand falsch. „Nein, Ihre Aufzeichnungen brauchen
Sie nicht mitzubringen.“ Holt wiederholte: „Ich hab gefehlt!“ –
„Nun ja, eben deshalb“, beharrte Gruber. Und da geschah es,
daß Holt zurückbrüllte: „Ich habe aber keine Lust.“ Dann setzte
er sich und zeigte ein abweisendes, gleichgültiges Gesicht.
Die Klasse jubelte, verstummte aber, als Gruber den Mund zur
Antwort öffnete. Der kleine Lehrer in seinem grünen Loden rang

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nach Luft, dann rief er empört: „Ich hörte es famos! Keine Lust!
Ich strafe es durch einen Tadel, ich protokolliere es im
Klassenbuch.“ Gruber schraubte den Füllhalter auf. Da erhob
sich Zemtzki und rief mehrmals hastig: „Herr Lehrer... Herr
Lehrer! Ich! Ich!“ Er lief nach vorn zu Gruber, der ihm bereitwillig
das Ohr hinhielt. „Sie dürfen ihn nicht bestrafen! Bitte, er war
krank! Er hatte Gehirnscharlach! Der Arzt hat gesagt, noch
lange Zeit setzt ihm der Verstand aus... Bitte... er kann nichts
dafür!“ Gruber stand unschlüssig. Aus der Klasse kam das
Echo: „Ja! Er spinnt! Er kann nichts dafür!“ – „Er ist zeitweilig
blöd“, flehte Zemtzki, „Sie dürfen ihn nicht bestrafen!“
Holt war damit nicht einverstanden und erhob sich. „Das ist
nicht wahr! Ich bin völlig normal!“ Aber gerade diese
Bemerkung schien Gruber vom Gegenteil zu überzeugen; auch
mochte ihm ein kranker Schüler sympathischer als ein
aufsässiger sein. Also schraubte er den Füllhalter wieder zu.
„Mit Rücksicht auf Ihren Gesundheitszustand sehe ich von der
Protokollierung des Tadels ab.“ Er fügte hinzu: „Schonen Sie Ihr
Gehirn!“, was ihm stürmischen Beifall eintrug.
Holt hatte keine Freude an Zemtzkis Streich. Wie mir das alles
zum Halse heraushängt! dachte er. Der Gedanke an Wolzow
ließ ihn nicht zur Ruhe kommen.

Vor dem Portal der hohen Gartenmauer parkten ein paar


Kraftwagen. Sollte Wolzows Vater auf Urlaub gekommen sein?
Er betrachtete neugierig die Militärfahrzeuge, zwei offene
Kübelwagen mit aufmontierten Maschinengewehren, mehrere
Motorradgespanne und eine große Limousine. Soldaten
hockten in den Fahrzeugen, mit Helmen, Karabinern, viel
Gepäck und dreckverkrusteten Stiefeln, Sie sahen müde und
überanstrengt aus, als hätten sie eine strapaziöse Fahrt hinter
sich.
In der Halle standen ein paar Koffer herum. In einem Sessel
schnarchte ein Unteroffizier, die schmutzigen Stiefel auf dem
Teppich. Wolzows Zimmer war leer. Holt rief durch die
Korridore, setzte sich auf das Bett und wartete.

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Wolzows Augen waren klein vor Müdigkeit. „Mein Vater ist
gefallen. Onkel Hans ist heute nacht gekommen, direkt aus
Rußland, durch Ungarn. Er ist nach Berlin kommandiert...
Laß nur“, fügte er hinzu, „ist ja alles egal. Soldat ist Soldat.
Bloß meine Mutter... Onkel Hans bringt sie in die Nervenklinik.
So was will Offiziersfrau sein! Komm! Ich stell dich Onkel Hans
vor.“
Er schob Holt in ein großes, düsteres Zimmer. Auf der Couch
am Fenster lag die hagere Gestalt des Generalmajors Wolzow.
Er trug keinen Waffenrock, hatte die Ärmel hochgekrempelt,
und seine Stiefel lagen auf dem Teppich. Auf einem Rauchtisch
standen mehrere Rotwein- und Kognakflaschen, dazwischen
Zigarettenpackungen, eine halbgeleerte Zigarrenkiste. Der
General richtete sich ein wenig auf. „Aha!“ sagte er. Dann ließ
er sich wieder auf die Couch fallen. Wolzow bot Holt einen Stuhl
an, schenkte Kognak ein und erzählte: „Vater hat noch die
Offensive im Kursker Bogen mitgemacht, hast ja im
Wehrmachtsbericht gehört, daß da was los war...“ – „Hab
gelesen“, sagte Holt, ein wenig befangen in der Nähe des
Generals, „jetzt greifen die Russen bei Orel an, es wird eine
riesige Materialschlacht.“ Der General richtete sich auf und
nahm ein Kognakglas in die Hand. „Gilberts Freund? Freut
mich. Auf Philipps Gedächtnis! Also Prost!“ Er trank, er hatte
leise gesprochen, mit einer hellen und ätzenden Stimme; jetzt
sagte er, während er sich wieder auf die Couch fallen ließ:
„Knoth!“ Wolzow riß die Tür auf und schrie: „Unteroffizier
Knoth!“ Holt atmete hastig, der Kognak brannte in seiner Kehle.
Schritte polterten die Treppe hoch, eine Gestalt in Feldgrau
rief an der Tür: „Herr General?“ Es war der Unteroffizier, der in
der Halle geschlafen hatte. „Spritfrage regeln“, sagte der
General, die linke Hand flach auf der Stirn. Dann stützte er sich
auf die Ellenbogen. „Ich kann mich nicht erinnern, wo Schreyer
hingekommen ist.“
Wolzow flüsterte: „Sie haben heut nacht gesoffen wie die
Stinte!“
„Der Herr Oberleutnant ist heute morgen zu seiner Frau
vorausgefahren“, sagte der Unteroffizier. – „Richtig!“ sagte der

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General. „Ich erinnere mich... Wenzke muß mich jetzt schnell
noch wo hinfahren. Weiterfahrt sechzehn Uhr, Ab!“
Der Unteroffizier polterte die Treppe hinab. Unter dem
geöffneten Fenster wurde Motorengeräusch laut und entfernte
sich. Nebenan schlug eine Tür. Wieder klang das klagende
Geheul durchs Haus. „Richtig!“ sagte der General abermals. Er
erhob sich ächzend, fuhr in den blauen Luftwaffenrock und ließ
sich von den Jungen die Stiefel anziehen. „Ich bringe jetzt
Sibylle weg. Elektroschocks sollen das einzige sein.“ Wolzow
schnob durch die Nase. „Bei der hilft nichts mehr. Die sollten sie
am besten gleich drinbehalten.“ Der General murmelte etwas
vor sich hin. Er war so groß wie sein Neffe, hatte die gleiche
Adlernase und die gleichen grauen Augen unter buschigen
Brauen. Er stand fertig angekleidet im Zimmer und preßte beide
Handflächen gegen die Schläfen. „Verdammter Kognak!
Verdammtes Gesaufe!“ Er sah seinen Neffen nachdenklich an
und fragte plötzlich: „Sorgen?“
„Mit der Schule“, sagte Wolzow. „Ich bleib vielleicht sitzen.“ –
„Dumm oder faul?“ fragte der General. „Natürlich faul“,
entgegnete Wolzow. „Wir rücken noch dieses Jahr ein... Erst
mal zur Flak.“ Der General begann zu lachen, nahm die
Flasche und füllte die Gläser. „Prost! Mach dir nichts draus!“
Draußen klappten Türen, und die ätzende Stimme wurde vom
Klagegeheul Frau Wolzows übertönt. Wolzow schenkte Rotwein
ein.
Betäubt und angeregt lief Holt nach Hause. Am Himmel zogen
Wolken auf. Als es dunkelte, flammte hinter den Bergen fernes
Wetterleuchten. Holt stand am Fenster. Er dachte an den
Augenblick in der Badekabine.

Am anderen Morgen fehlte Wolzow noch immer. Maaß verlas


eine Anordnung: „Die Klassen III bis VI werden für drei Wochen
zur Erntehilfe eingesetzt. Abreise am 21. Juli... gez. Knopf,
Bannführer, Mietzsch, Oberstudiendirektor.“ – „Schon drei Tage
nach Ferienbeginn!“ murrte Gomulka.
Nach Schulschluß fand Holt die Wolzowsche Villa
verschlossen. Enttäuscht machte er sich auf den Heimweg. Aus
dem Fenster des Wieseschen Hauses schaute der blasse Peter

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und rief ihn herein. In dem großen, hellen Salon stand der
Flügel. Peter Wiese sprach leise und nachdenklich. Er setzte
sich bald an den Flügel und spielte.
Wieses Spiel stimmte Holt meist ein wenig melancholisch.
„Man muß etwas Formenlehre beherrschen...“, erklärte Wiese.
„Die Sätze zeigen dann ihre Architektur. Ohne Formenkenntnis
gibt es kein richtiges Musikverständnis.“ Er schlug ein paar
Takte an. „Beethoven, Sonate Opus zwei Nummer eins, ein
Schulbeispiel! Der Hauptsatz: viertaktiger Vordersatz, und
jetzt... vier Takte Nachsatz. Ich wiederhole noch mal. Dritter und
vierter Takt sind die Wiederholung der Takte eins und zwei in
der Dominante.“ Er spielte. „Siebenter und achter Takt...
Kadenz, ein Halbschluß... damit ist der Hauptsatz beendet...“
Wiese erklärte den ersten Satz Takt für Takt. „Überleitung.
Seitensatz.“ Er spielte. „Schlußgruppe. Das Ganze bis hierher
nennt man auch Exposition. Und nun folgt die Durchführung.“
Das Nacheinander der Töne wurde durchsichtig. „Ist jedes
Musikstück so streng aufgebaut?“ fragte Holt. Wiese holte weit
aus. „Die Form zerfällt... Nur wenige Prinzipien werden noch
beibehalten, zum Beispiel Achttaktigkeit...“ – „Was ist eigentlich
das Schwerste auf dem Klavier?“ fragte Holt.
Wiese überlegte. „Klavierauszüge von Richard Strauss... Aber
es ist nicht schlimm, wenn man danebengreift, Strauss klingt
sowieso immer ein bißchen falsch.“ Er kramte lange in den
Noten. Holt horchte auf.
Das hab ich noch nie gehört, dachte er. Wiese rief stockend,
während er sich abmühte: „In der Partitur klingt es natürlich
ganz anders... Hier, das soll ein Glockenspiel sein... oder
Triangel.“ Kling-ling-ling, klimperte er im Diskant. Die Flut der
Töne, dissonant und erregend, dann wieder harmonisch,
verwirrte Holt. „Überreichung der silbernen Rose“, rief Peter
Wiese, „da mußt du dir zwei Frauenstimmen vorstellen...“
Ich hab viel erlebt in den letzten Wochen, dachte Holt. Noch
kurze Zeit, dann ist alles vorbei, der Sommer, die Stunden hier
bei Wiese, die Nachmittage am Fluß. Dann beginnt das große,
das abenteuerliche Leben, der Krieg, die von gewaltigen
Schicksalsmächten geforderte Bewährungsprobe! „Spiel
weiter“, bat er, „mir gefällt das...“ Keiner weiß, wo wir

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hingeraten, dachte er. Hier ist ja nirgendwo Flak, vielleicht
werden wir an einem Brennpunkt eingesetzt! Das ruhige Leben
ist eine Schande in dieser Zeit! Da hab ich die letzten beiden
Jahre mit meiner Mutter in Bamberg gesessen, auch dort waren
Bombennächte nur eine Sage; dann und wann Alarm, was ist
das, wo andere, kaum ältere, schon an der Kanone stehen?
„Selbsthilfe gegen Feuer und Tod“, hatte er gestern in der
Zeitung gelesen, und „Ein Wort zum Luftkrieg“ von
Reichsminister Doktor Goebbels.
Denn es ist die Pflicht eines jeden, mutig, ruhig und vorbereitet
zu sein, hatte da gestanden... Weil die Wirklichkeit des
Bombenkrieges jeden Brief, jeden Bericht und jedes
Vorstellungsvermögen übersteigt... Ein brennendes Haus, ein
verschütteter Keller darf keine neue und überraschende, nur
eine hundertmal durchdachte und längst erwartete Lage
schaffen... Durch die hohe Glaswand des Wintergartens fiel
mildes Sonnenlicht. Wiese spielte: Kling-ling-ling... Keller,
Fluchtwege ins Freie, Mauerdurchbrüche, wassergetränkte
Decken, Gasmaske, Kerzen und Streichhölzer, im Keller
Trinkwasser und reichlich Mundvorrat, derbe Kleider,
Phosphorspritzer, Mut und Fähigkeit zur Selbsthilfe. Nicht
verzagen! Zähne zusammenbeißen!
„Die Sänger-Arie“, sagte Wiese und sang mit kindlicher
Altstimme: „Di ri-go-o-riiii...“ Gewiß, der Luftterror nimmt in
diesen Wochen immer mehr zu. Aber der Doktor Goebbels
sagt: Was die Engländer durchgestanden haben und wofür sie
mancher von uns bewunderte, das müssen wir jetzt
durchstehen! Wie sich für die Briten auf dem Gebiet des
Luftkrieges das Blatt gewendet hat, so wird es sich wieder für
uns wenden. Die Engländer haben zwei Jahre darauf gewartet,
unsere Wartezeit wird nur einen geringen Bruchteil der
englischen Wartezeit ausmachen. Es soll niemand glauben,
daß der Führer dem Wüten des feindlichen Terrors untätig
zuschaue. Wenn wir über unsere Maßnahmen dagegen nicht
reden, so ist das nur der Beweis... Ja, dachte Holt, der beste
Beweis!... dafür, daß wir um so mehr daran arbeiten. Die Zeit ist
groß und erhaben und beschwört die Erinnerung an die besten
Jahre des friderizianischen Zeitalters herauf. Friedrich stand

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manchmal mit seinem jungen preußischen Staat vor Gefahren,
mit denen wir die, welche wir heute zu überwinden haben, gar
nicht vergleichen dürfen! Er ist damit fertig geworden.
Und wir, dachte Holt, Kerle wie Wolzow und ich... es wäre
gelacht!
Peter Wiese, spielte. Dann, eines Tages der Endsieg! dachte
Holt. Blumen, Jubel, Glockengeläut. Kling-ling-ling, läutete das
Klavier. Als Holt sich verabschiedete, sagte Wiese leise: „Ihr
geht ja nun bald... Ich werde wohl hierbleiben, untauglich...“
Holt sah durch den Wintergarten ins Freie. Armer Kerl, dachte
er.
Am Abend war Wolzow wieder da, und Holt blieb bei ihm in
der leeren Villa. Sie saßen zusammen in der Halle, vor dem
schwelenden Kaminfeuer. „Es werden ganz neue Flak-Waffen
vorbereitet. Hoffentlich kommen wir noch richtig zum Schuß!“
sagte Wolzow.

Stenographie bei Hessinger, dann Zeugnisverteilung durch


Studienrat Maaß, da herrschte in der Klasse schon
Ferienstimmung. Man verabschiedete sich vom alten Schuljahr
mit Rüpeleien. Hessinger, ein gutmütiger alter Mann, hatte arg
zu leiden; er war wehrlos, und man quälte ihn. „Ich weiß nicht“,
sagte Holt in der Pause, „aber es war zu viel, es war gemein.“
Gomulka betrachtete ihn nachdenklich. „Hast recht.“ – „Warum
läßt er sich’s gefallen?“ rief Vetter. „Halt ‘s Maul“, sagte
Wolzow.
Da geschah etwas Außergewöhnliches. Der dicke, blonde
Vetter, wegen seiner Leibesfülle stets verspottet, rebellierte
gegen Wolzow. „Jetzt geht dir der Arsch vorm Sitzenbleiben,
ha?“ Es war eine Sensation.
Aber Wolzow nahm Vetter gar nicht ernst. „Du? Na, ich halt’s
deiner Blödheit zugut.“ Er grinste. „Da hat der Maaß nämlich
ganz recht, wenn er fragt, ob du die Blödheit von deiner Mutter
hast. Denn das viele Fett hast du von deinem Vater.“

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Zemtzki stand hinter Vetter und stichelte leise: „Das darfst du
nicht auf dir sitzenlassen!“ Vetter stammelte mit hochrotem
Kopf: „Das... das... solche Beleidigung, also... heute um sechs
am Rabenfelsen!“
Wolzow war überrascht. „Du willst dich mit mir schlagen?“ –
„Du hast meine Sippe beleidigt“, behauptete Vetter. „Ich
bestimm die Bedingungen. Ich schick dir den Fritz, der ist mein
Sekundant.“ Zemtzki nickte eifrig. Gomulka drängte sich nach
vorn. „Ich bin Unparteiischer.“ Nun redeten alle auf Vetter ein.
„Laß das, er haut dich zusammen!“ Vetter war den Tränen
nahe. „Aber meine Sippe... die Ehre meiner Sippe...“ Vor der
Tür pfiff der Posten.
Maaß trug die Zeugnishefte unter dem Arm. Er schielte über
den Rand der Brille hinweg. Auch Wolzow wurde versetzt; seine
sehr guten Noten in Turnen und Geschichte hatten ihn gerettet,
aber sonst war sein Zeugnis jammervoll. Draußen blinzelte er in
die Sonne. „Heut sind ein paar Kisten gekommen, von meinem
Vater, der Nachlaß. Wir packen das gleich aus.“
Es war ein drückend heißer Nachmittag. Wolzow und Holt
hatten sich bis auf die Badehose ausgezogen und kauten mit
vollem Munde. In der Küche war seit Wochen kein Geschirr
abgewaschen worden, verdreckte Teller und Töpfe füllten das
Spülbecken. Auf dem Tisch häuften sich Tüten und
Speisereste, Rotweinflaschen dazwischen, volle und leere.
Wolzow holte Werkzeug, klemmte sich eine Rotweinflasche
unter den Arm und schob Holt in die Halle. Dort standen drei
große Kisten und ein paar Koffer auf dem Teppich. Wolzow riß
die Vorhänge auf, durch die Fenster flutete Licht, die
Staubteilchen tanzten. „Nimm erst mal ’n Schluck Rotspon.“
Der Rotwein schmeckte, Holt trank aus der Flasche, mehrere
große Schlucke. Wolzow warf Kistenbretter in den Kamin, dann
packte er Röcke und Hosen aus. Das schlechte Zeugnis geht
ihm wirklich nicht unter die Haut, dachte Holt. Sein eignes war
gerade noch erträglich ausgefallen, aber Maaß hatte ihm
„moralische Unreife und übersteigertes Geltungsbedürfnis“
bescheinigt. Bei der Flak interessiert das niemanden, dachte er.
„Hier!“ sagte Wolzow. „Na bitte!“ Er zog einen Offiziersdolch
mit einem Griff von Elfenbein aus der Scheide. „Prachtvoll,

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was? Aber der Kamin stinkt.“ Holt riß ein Fenster auf. Die
zweite Kiste war mit Schachteln, Etuis und Packtaschen gefüllt.
Eine Aktentasche enthielt Papiere, dicke Stapel Landkarten, in
Wachstuch gebundene Hefte, deren Seiten mit einer flüchtigen
Handschrift bedeckt waren, ein Kästchen mit Orden und
Ehrenzeichen und anderen Kram. „Ich bin der Erbe. Wenn
meine Alte so weitermacht, laß ich sie entmündigen.“ Wolzow
rief: „Sieh her!“ Da waren zwei, nein, drei Pistolentaschen.
Wolzow öffnete die erste und entnahm ihr eine schwere
Schußwaffe. „Mensch...“, flüsterte Holt begeistert, „eine Null-
acht!“ – „Si vis pacem, para bellum...“, sagte Wolzow, „daher
der Name Parabellum.“ Er riß das Magazin heraus und öffnete
den Verschluß, eine Patrone kullerte über den Teppich. „Und
hier... eine siebenfünfundsechziger Walther. Die kenn ich noch
nicht.“ Er schob Holt die dritte Tasche hin. Holt zog eine kleine
Selbstladepistole aus dem Futteral. Er schloß die Hand um den
Griff und zog den Schlitten zurück; eine glänzende Patrone
sprang heraus. Mit leisem metallischem Geräusch glitt das
Schloß wieder nach vorn. Jetzt den Finger krumm gemacht...
Herr bin ich über Leben und Tod!
„Belgischer Browning“, sagte er, „Kaliber sechsfünfunddreißig.
Neben den beiden Kanonen fast ‘n Spielzeug, aber herrlich!“ -
„Wenn sie dir gefällt“, sagte Wolzow, der die Walther wieder
zusammensetzte, „kannst du sie behalten.“ Er lief auf sein
Zimmer, holte das ausgestopfte Rebhuhn und stellte es auf den
Kaminsims vor die glänzenden Klinker.
Es klingelte. Draußen standen Gomulka und Zemtzki. Holt
führte sie in die Halle. Wolzow stieß das Magazin in den
Handgriff der Walther. „Kommt rein!“ Er hob die Pistole, zielte
auf das Rebhuhn und drückte ab. In der Halle krachte der
Schuß wie eine Handgranate. Das Geschoß prallte vom
Kaminsims ab und zerschmetterte eine große Vase, die keinen
Meter neben Gomulka auf einem Tischchen stand.
Pulvergeruch breitete sich aus. Gomulka, dem die Scherben
der Vase um den Kopf flogen, verzog keine Miene. „Mein
Tirolerstutzen hätte den Klinker zerschlagen“, sagte er. Wolzow
sicherte die Pistole und legte sie vor sich auf den Rauchtisch.
„Du hast Nerven, alle Achtung! Du hast überhaupt allerhand

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kriegerische Tugenden!“ – „Verrückt“, piepste Zemtzki, „knallt
mit Kanonen rum, bis es mal ins Auge geht!“
Wolzow holte eine Rotweinflasche. „Setzt euch!“ Die Flasche
ging reihum. Dann begann Zemtzki: „Vetter ist vor
versammelter Klasse beleidigt worden. Für seine Eltern kann er
nichts, sagt er. Sie prügeln ihn jeden Tag, aber die Ehre seiner
Sippe steht über allem. Gut, was? Ich hab gesagt, wenn er sich
nicht mit dir schlägt, gilt er überall als Feigling.“ – „Der soll Ruhe
geben“, sagte Holt. – „Er hat sich was Neues ausgedacht, wo er
bessere Chancen hat als im Boxen. Er will sich mit
Fahrtenmessern stechen.“ Wolzow lachte. „Das hat er bei Karl
May geklaut!“ – „Dreschen will er sich nicht“, meinte Zemtzki,
„weil ihn sein Vater gestern erst mit ‘m Ochsenziemer verhauen
hat. Aber er will die Ehre seiner Sippe mit deinem Blut
abwaschen.“
Gomulka lächelte.
„Gilbert nimmt die Forderung an“, meinte Holt. „Meinetwegen
sechs Uhr am Rabenfelsen. Sag dem Vetter folgendes: Gilbert
ist das in der Erregung rausgerutscht. Das muß genügen.
Messerstecherei ist ein bißchen übertrieben.“ Aber Wolzow rief:
„Nachher denkt er, ich hab Angst!“
„Vetter wird von allen gehänselt“, sagte Gomulka
nachdenklich. „Zu Hause ist er der Prügelknabe, ihr habt keine
Ahnung, was dort manchmal los ist! Er ist richtig verbittert, und
die Erklärung lehnt er ab, das weiß ich jetzt schon.“
„Mir macht es nichts aus“, sagte Wolzow gleichmütig. „Jetzt
raus mit euch, ich hab keine Zeit.“
Sie packten die letzte Kiste aus, und die Halle füllte sich mit
Ausrüstungsgegenständen. Ein Koffer enthielt Pistolenmunition
aller Kaliber, und schließlich packte Wolzow Zigarren aus,
fünfundzwanzig Kisten vielleicht, duftende Zigarren. Er
entdeckte die Brieftasche seines Vaters. Sie enthielt etwas
mehr als dreihundert Mark.
Er spielte wieder mit der Walther, nachdenklich, den Kopf auf
die Seite gelegt. „Ich hab mir die Sache mit dem Meißner durch
den Kopf gehen lassen. Daß ich heute im Dienst vor jedem
Scharführer strammstehen muß, das verdanke ich ihm.
Eigentlich war da längst eine Abreibung fällig. Ich mach also

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mit. Aber es muß bald sein, denn in acht Tagen rückt er ein. Ich
hab Stammführer Wurm getroffen, der führt mit dem Barth
unser Erntekommando. Kann ja heiter werden! Also, der
Meißner rückt ein.“ – „Wenn wir zurückkommen“, sagte Holt
nachdenklich, „ist er über alle Berge.“ – „Hast du etwa die
Absicht, drei Wochen im Ernteeinsatz zu bleiben?“ – „Wie
meinst du das?“ – „Durchbrennen!“ – „Wohin?“ fragte Holt. –
„Das ist es eben... Aber auf jeden Fall hau ich hier ab... bis zur
Einberufung.“
Holt überlegte. „Du kommst nicht weit. Früher war das
anders.“ Aber nun stieg vor seinen Augen die wilde Landschaft
der Berge empor, uferlose Wälder... die Höhle! „Ich wüßte was“,
sagte er, heiser vor Erregung. „Ein Versteck...“ Und er erzählte.
„Komm mit hoch“, sagte Wolzow. In seinem Zimmer kramte er
Landkarten hervor, Meßtischblätter der Umgebung. „Der
Vostrauer Berg kann’s nicht gewesen sein, den kenn ich
genau... Zeig mal, wo du langgegangen bist.“ Holt studierte die
Karte. „Hier... durch die beiden Dörfer... Dann bin ich nach
Norden, dann ging’s um einen sehr langen Berg herum
westnordwestlich, dann wieder nach Norden...“ – „Da bist du
viel weiter weg gewesen, als du glaubst! Der Vostrauer Berg
liegt ganz woanders. Du bist wahrscheinlich um den Breiten
Berg und weiter... Steinbrüche gibt’s da hinten viele... Hier muß
das gewesen sein... Neben dem Kahlenberg... noch hinter der
Bruchspitze... Das sind von hier dreißig Kilometer...“ – „Ich bin
auf dem Rückweg hart marschiert und doch etwa sieben
Stunden unterwegs gewesen...“
Wolzow saß auf dem Bett und paffte eine Zigarre. „Vor paar
Jahren war ich mal dort... Eine verdammt einsame Gegend!
Keine Dörfer, nur Wald... In den Bergen hat’s ganz früher
Bergwerke gegeben. Wenn jemand von der Höhle wüßte, hätte
ich’s bestimmt gehört!“ Er ging nachdenklich im Zimmer auf und
ab. „Jetzt haben wir Juli. August, September... Da müssen wir
‘n Haufen Kram mitschleppen!“
Holt lehnte am Fenster. Nun verschlug es ihm doch die
Sprache. Aber dann sah er Wälder, Wolken, Berge... nächtliche
Lagerfeuer, Sternenhimmel... Freiheit, Ungebundenheit...
großes berauschendes Abenteuer!

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Wolzow studierte wieder die Karte. „Man kann den Weg
mächtig abkürzen, wenn man flußaufwärts fährt, mit einem Boot
durch den Schwarzbrunn... Das war auch fürs Gepäck günstig,
man könnte einen Kahn den Fluß hochtreideln... Wir sehn uns
die Höhle gleich mal an, ja?“
„Bis Dienstag“, sagte Holt nun, und für ihn war das Abenteuer
beschlossene Sache, „können wir alles vorbereiten. Dann
fahren wir zum Ernteeinsatz. Das ist tatsächlich die beste Art,
hier zu verschwinden. Nach drei Tagen kommen wir heimlich
zurück, verprügeln den Meißner, und anschließend geht’s los.“
Es war alles ganz einfach.
Aber Wolzow meinte: „Die Sache mit Meißner will gut überlegt
sein; du weißt ja, Überfall auf einen HJ-Führer, das kann uns
übel bekommen.“ – „Er muß aber wissen, warum wir ihn
verdreschen“, sagte Holt. „Vorsicht“, entgegnete Wolzow, „das
macht’s noch gefährlicher!“ – „Und dein Onkel?“ fragte Holt.
„Kann der uns notfalls nicht beistehn?“ – „Wo denkst du hin!“
rief Wolzow. „Onkel Hans ist seit dreißig in der Partei, als
deutscher Offizier würde er so was nicht dulden. Nein, wir
müssen uns schon selber helfen.“ – „Wenn wir was in die
Hände bekämen“, meinte Holt, „was Schriftliches, ein
Geständnis, das ihn unmöglich macht, falls er nicht den Mund
hält!“ Wolzow überlegte wieder. „Gute Idee“, sagte er dann, „ich
laß mir’s durch den Kopf gehen.“
Sie bereiteten sich auf die Verabredung am Rabenfelsen und
zugleich auf den anschließenden Nachtmarsch zur Höhle vor.
Sie packten die Pistolen ein, Munition, Taschenlampen, die
Karte, einen Laib Brot und zwei Büchsen Fleisch. Jeder hängte
eine zusammengerollte Zeltbahn um.

Der Rabenfelsen lag nahe der Stadt, hinter der Bismarckhöhe.


Sie liefen zwischen Lauben und Gärten entlang. „Wir brauchen
Gewehre“, sagte Wolzow. „Mit der Pistole kann man keinen
Hasen schießen, schon gar kein Wildschwein... Eine
Kleinkaliberbüchse muß her, mindestens... Meine ist kaputt. Der
Sepp hat eine! Außerdem hat er einen Tirolerstutzen, Kaliber elf
Millimeter... oder noch größer. Die Kugeln muß er aus Blei
gießen, mit einer Kugelform, die Patronen lädt er mit

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Schwarzpulver. Es macht einen fürchterlichen Gestank und
knallt wie eine mittelalterliche Feldschlange. Aber auf hundert
Meter legst du damit jedes Wild um.“ – „Den Sepp sollten wir
mitnehmen“, sagte Holt. „Er hat die Schule genauso satt wie
wir.“
Der Rabenfelsen bestand aus bizarr aufeinandergetürmten
Basaltbrocken. Die Sonne warf seinen Schatten bis an den
nahen Waldrand.
Gomulka begrüßte sie. Vetter hielt sich mit Zemtzki abseits.
„Halt dich zu uns, Sepp, wenn der Zauber vorbei ist“, sagte
Wolzow.
Zemtzki teilte feierlich mit, daß Vetter jede Versöhnung
ablehne. „Er will kämpfen.“
Gomulka hatte auf der Wiese einen Kreis abgesteckt. Wolzow
zog das Hemd über den Kopf, zog auch die Breeches und die
Stiefel aus und stand schließlich barfuß, in der Badehose, im
Gras. „Wollt ihr wirklich?“ fragte Gomulka, plötzlich ganz ernst.
Wolzow trat schon in den Kreis. Auch Vetter trug nur die
Turnhose. Holt fuhr ihn an: „Du bist ein Rindvieh, Mensch, du
bist selbst schuld, wenn dir...“ – „Wenn du mich beschimpfst,
mußt auch du mit mir kämpfen“, unterbrach ihn Vetter. Er
klapperte mit den Zähnen. Als er gleichfalls in den Kreis trat,
schielte er argwöhnisch auf Wolzow, der gelassen wartete,
einen halben Kopf größer als Vetter, Arme, Brust und Schultern
mit Muskeln bepackt. Vetters Körper war schwammig, rosig, ein
wenig gedunsen.
Gomulka hielt Vetter ein HJ-Fahrtenmesser hin. Auch Wolzow
erhielt einen Dolch. „Stellt euch in den Kreis, Gesichter
abgewandt!“ – „Und wer trägt Vetters Leiche nach Hause?“
fragte Zemtzki. „Ich bin doch als Sekundant nicht etwa
verpflichtet, ihn auch noch...“ – „Still!“ rief Gomulka. „Wenn ich
sage ,Los’, dreht ihr euch um und kämpft, ohne weiteres
Kommando. Wer den Kreis verläßt, hat verloren. Sonst bis zur
Kampfunfähigkeit. Das Kommando lautet „Achtung... fertig...
los!’ Das Kommando gilt: Achtung... fertig...“ – „Ich kämpfe
nämlich für meine Sippe!“ rief Vetter verzweifelt. Er war blaß,
und seine Knie zitterten. „Halt den Mund“, sagte Wolzow,

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„Sepp, gib endlich das Zeichen!“ Holt sah, daß Wolzow wütend
war. „Los!“ rief Gomulka.
Beide drehten sich um und gingen langsam aufeinander zu,
Wolzow ruhig und entspannt, aber Vetter watschelte
unbeholfen daher, fuchtelte mit dem Dolch in der Luft herum
und sagte vor Aufregung immerfort: „Los... los... los...“ Auf
einmal warf Wolzow das Messer weg, Vetter erschrak und stieß
mit dem Dolch nach ihm, Wolzow wich mit einem schnellen
Schritt zur Seite und gab Vetter eine so gewaltige Ohrfeige, daß
der dicke Junge rücklings zu Boden fiel, über Wolzows Arm
rann Blut. Das alles dauerte nur eine Sekunde.
„Vetter liegt außerhalb des Kreises, der Kampf ist beendet,
Wolzow ist Sieger“, erklärte Gomulka. Holt besah sich die
Schnittwunde. „Ein Kratzer, nicht der Rede wert.“
Vetter saß im Gras und heulte. „Alle verspotten mich“, sagte er
schluchzend. „Ich kann doch nicht dafür, daß ich so dick bin...
Ich bin kein Feigling!“ rief er. „Meine eigene Sippe verhaut mich
immer, und keiner will mein Freund sein! Aber ich mach das
nicht mehr mit! Ich geh in die weite Welt...“ Holt klopfte ihm auf
die Schulter. „Hör auf zu heulen! Wenn du durchbrennen
willst...“ Er sah auf Wolzow. Wolzow grinste und nickte. „Komm
mit uns. Wir machen den Laden hier dicht.“ – „Wenn du ein
einziges Wort verrätst“, drohte Wolzow, „knall ich dich einfach
ab!“ Er stieß Zemtzki in den Rücken. „Das gilt auch für dich!“
Vetter trocknete sich die Tränen ab. Er stammelte:
„Wirklich?... Wirklich?“ Wolzow verteilte Zigarren. Die Sonne
stand tief über den Bergen, der riesige Schatten des Felsens
hüllte die Jungen ein.
Holt erzählte von Wolzows Plan und von der Höhle. Wolzow
setzte hinzu: „Wir brauchen deine Gewehre, Sepp... Wir
schießen Wild. Dort gibt es genug Hasen und Rehe. Die
Hunnen haben auch bloß Fleisch gegessen.“
Zemtzki und Vetter saßen mit offenem Mund dabei; aber
Gomulka dachte lange nach. „Wir fliegen alle von der Penne,
das ist euch klar?“ – „Niemand fliegt!“ rief Wolzow. „Wir sind
verschwunden! Wenn wir einrücken, sind wir eben wieder da.
Ich wette, daß dann keiner mehr an Rausschmeißen denkt! Wir
werden doch alle bei der Flak gebraucht!“ – „Das ist richtig“,

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sagte Gomulka.. „Und dort hinten finden sie uns nicht, da müßte
die Polizei mit ein paar hundert Mann die Wälder
durchkämmen...“
„Also... Also... Gilbert!“ rief Vetter plötzlich außer sich. „Wenn
ihr mich mitspielen laßt... ich schwör dir ewige Gefolgschaft!“
Sein Gesicht, das von der Ohrfeige geschwollen war, strahlte.
Holt sagte: „Wir müssen alle schwören!“ Dann standen sie im
Kreis, mit erhobenen Schwurfingern. „Wir wollen treue
Kameraden und Freunde sein und zusammenhalten, was auch
kommt, jetzt und im Krieg. Der Wolzow soll unser Führer sein,
und wir wollen ihn nie im Stich lassen.“ – „Wer so einen Eid
bricht, ist ein Lump!“ sagte Vetter. Holt sah stumm auf Wolzow,
auf das harte Profil mit der Adlernase.
„Wißt ihr, warum das hier Rabenfelsen heißt?“ fragte
Gomulka, als sie aufbrachen. „Hier soll mal einer einen Pakt mit
dem Teufel geschlossen haben, und der Teufel ist ihm in
Gestalt eines schwarzen Raben erschienen.“
Niemand schloß sich vom Nachtmarsch zur Höhle aus.

Tags darauf ging Holt über die Liegewiese zu seiner Kabine,


zwischen den vielen Menschen hindurch, die den heißen
Nachmittag am Wasser verbrachten. Er wusch sich im Fluß den
Staub der langen Wanderung vom Körper, dann schlenderte er
über das Floß.
Beim Sprungturm saß Peter Wiese mit einem großen, blonden
Burschen. Holt blieb überrascht stehen: Wiese und Hartmuth
Meißner? Wiese winkte, Holt dachte: So ein Zufall! Er grüßte
katzenfreundlich und sah sich Meißner an, interessiert und
abschätzend. Er hatte ihn bisher nur flüchtig gesehen. Ein
großer, kräftiger Bursche mit muskulösem, trainiertem Körper,
sehr braun gebrannt. Ein eckiges Gesicht und kalte, farblose
Augen. Das Haar war fast weiß. Wiese stellte sie einander vor.
„Schon gut!“ sagte Holt. „Wer kennt den Hartmuth Meißner
nicht?“

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Meißner wandte ihm langsam das Gesicht zu. „Was soll das
heißen?“ fragte er. Holt lächelte. Es war ein Nervenkitzel. „Na,
eben dies und das.“ – „Du bist rotzfrech“, meinte Meißner, aber
Holt unterbrach ihn rasch: „Sollst dauernd Weibergeschichten
haben. So was spricht sich rum.“ – „Hast du da was Bestimmtes
gehört?“ – „Kann man’s wissen?“ fragte Holt zurück. Er hielt
Meißners Blick stand, er tat ganz harmlos, aber er fühlte dabei
Haß in sich aufsteigen. Warte nur, bald stehen wir uns anders
gegenüber!
Er legte sich lang auf die sonnenheißen Bretter. „Hast ja
recht“, sagte er. „Wenn man bald einrückt, da nimmt man eben
noch mit, was sich bietet.“ – „Für so einen Standpunkt bist du
noch ein wenig grün“, erwiderte Meißner. – „Was sind schon die
paar Jahre, die du älter bist als ich! Wir haben alle die gleiche
Philosophie.“ – „Und die wäre?“ – „Leben und leben lassen“,
sagte Holt.
Meißner, der schläfrig in der Sonne saß, wachte auf. „Das
klingt mir ‘n bißchen liberal.“ – „Gar nicht“, widersprach Holt.
„Keiner weiß, ob er wiederkommt, und da will sich halt jeder
vom Speck noch ein ordentliches Stück abschneiden.“ Meißner
schwieg. Dann sagte er mit geschlossenen Augen, den Kopf
rücklings an die Balken des Sprungturmes gelegt: „Daß ihr alle
den Geist unserer Zeit nicht begreifen könnt! Ein Stück vom
Speck abschneiden... Was ist das für ein jüdischer Standpunkt!
Es geht um das Reich, und ob der einzelne auf seine Kosten
kommt, ist völlig bedeutungslos. Wer heute darauf ausgeht,
sein Leben zu genießen, der verrät Deutschland! Und das
Reich als Ganzes, mein Lieber, das kommt schon auf seine
Kosten! Es wächst und erstarkt...“ – „Vielleicht hast du recht,
aber ich brauch keinen Unterricht, ich hatte zwei Jahre lang das
beste Fähnlein im Stamm! Aber daß man sein Leben nicht
genießen darf, das sag mal nicht so laut!“ – „Ich habe nicht von
der Masse, sondern von uns Führernaturen gesprochen“,
erläuterte Meißner. – „Mit den Führernaturen allein kannst du
aber keinen Krieg führen.“ Meißner verzichtete auf eine
Erwiderung. Er saß noch eine Weile in der Sonne, dann ließ er
Holt und Wiese allein.

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„Was sitzt du mit... dem zusammen?“ fragte Holt, und Wiese
entgegnete, beinahe entschuldigend: „Er hat sich zu mir
gesetzt...“ – „Was meinst du...?“ fragte Holt. „Ob ich mit ihm
fertig würde?“ – „Er ist älter... aber ich glaub schon“, antwortete
Wiese, etwas erstaunt, und da Holt nichts weiter sagte, begann
er schließlich: „Du hast ihn richtig veralbert! Ich denke
manchmal, du könntest der beste Schüler in der Klasse sein,
wenn du nur wolltest! Warum lernst du nicht?“
„Lernen ist nichts für Männer. Ich will endlich in den Krieg.“ Er
dachte nicht daran, daß seine Worte Peter Wiese kränken
mußten.
„Da erfährt ein reicher Mann eines Tages“, sagte Wiese
nachdenklich, „daß er Schwindsucht hat. Die Ärzte sagen:
Keine Rettung, noch ein Jahr! Alle Ärzte sagen ihm dasselbe.
Da denkt er: Gut. Und nun bringt er sein Vermögen durch, bis
auf den letzten Pfennig. Als das Jahr herum ist, da ist ein
Wunder geschehn. Er ist gesund. Und steht vor dem Nichts.“
Ein dummes Beispiel, dachte Holt ärgerlich, ein echtes
Miesepeter-Beispiel! Was interessiert mich das Nachher? Jetzt
ist Krieg! Er zwang sich zu einer freundlichen Antwort. „Ich
versteh dich“, brummte er.
„Und das Komische ist“, sagte Wiese leise, „daß ich dich
beneide! Ich gäb was drum“, fuhr er dann fort, und es klang
unglücklich, „wenn ich dein Freund sein könnte. Aber da muß
man wohl sein wie der Wolzow. Ich war immer der Schwächste,
ich hab immer gedacht: Meine Waffe ist der Geist... Aber
eigentlich bist du auch klüger als ich.“
Komisch, dachte auch Holt. Er sagte: „Ich hab bei Nietzsche
gelesen: ,Unser Glaube an andere verrät, worin wir gerne an
uns selber glauben möchten... Unsere Sehnsucht nach einem
Freunde ist unser Verräter...’“
„Ja... so ist das... Ich möcht auch raufen und prügeln können,
frech sein, aber... ich bin vom Ernteeinsatz zurückgestellt, und
mit der Flak wird es auch nichts...“ – „Wir können ja trotzdem
Freunde sein“, antwortete Holt, ein wenig gerührt. Er
überlegte... Nein, kommt nicht in Frage. Aber... „Kannst du
schweigen, Peter?“ – „Ja, für dich hab ich sogar schon
gelogen!“ Holt hielt Wiese die Hand hin. „Ich hab Vertrauen zu

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dir. Wolzow, ich und noch wer, wir haun ab... Bis zur
Einberufung verschwinden wir. Aber du und ich, wir werden uns
ab und zu treffen. Auch Gilbert darf es nicht wissen. Du sagst
mir, was los ist in der Stadt und wie man über unser
Verschwinden denkt.“
„Komm mit zu mir“, sagte Wiese später, mit einem Blick auf
die Armbanduhr. Holt wunderte sich, daß Wiese bei dieser
Hitze einen schwarzen Anzug, Schlips und Kragen trug. Als er
den Grund erfuhr, bei Wieses in der Diele, war es zu spät, sich
zurückzuziehen. Wieses Schwester hatte Geburtstag. „Bleib!“
bat Peter. „Ich werde nachher vorspielen!“
Holt kam sich lächerlich vor, in kurzer Lederhose und buntem
Sporthemd; sein Haar, noch immer feucht vom Baden, stand zu
Berge. In dem großen Raum waren die Glastüren zum
Wintergarten und zur Veranda geöffnet, man blickte in den
Garten hinaus. Um den Teetisch saßen Gäste. Holt war sehr
befangen und sah nur das Bunt der Kleider und dazwischen
eine schwarze Panzeruniform. Duft von Parfüm drang auf ihn
ein, der Geruch von Zigaretten und Blumen. Wieses Schwester
Helga sah ihrem Bruder ähnlich; denn auch sie war klein und
zierlich, und das dunkelblonde Haar fiel in ein kränkliches
blasses Gesicht. Sie wurde neunzehn Jahre alt.
Wiese stellte Holt vor. Holt murmelte ein paar
Gratulationsworte und stand trotzig auf dem bunten Teppich.
Die Unsicherheit schärfte seine Sinne, nichts entging ihm: Frau
Wiese, in ihrem Sessel, tauschte einen Blick mit dem blonden
Mädchen, das neben dem Panzerleutnant saß, und der Mund
des blonden Mädchens zuckte belustigt.
Namen wurden genannt. Uta Barnim, Leutnant Kiefer, ihr
Verlobter, und so fort. Man bot Holt Platz an, links neben ihm
saß Frau Wiese, der Teetisch trennte ihn von Uta Barnim.
Helga Wiese schenkte Tee ein. Holt verlor alle Befangenheit.
„Wenn ich geahnt hätte, daß hier Geburtstag ist“, sagte er, „ich
hätte noch schnell ein paar Blumen geklaut... besorgt, mein
ich.“ Das Lachen störte ihn nicht. Er sagte: „Blumen kaufen
kann schließlich jeder! Geklaute sind viel wertvoller.“ Frau
Wiese sagte: „Wir nehmen den guten Willen für die Tat.“

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Mittelpunkt war Uta Barnim, die älteste Tochter des Obersten
Barnim, an dessen Haus Holt allmorgendlich vorbeiging. Wie
sie groß und aufrecht an der Verandatür saß, im Licht der
Nachmittagssonne, so hatte er in seiner Phantasie Kriemhild
gesehen, in Agnes Miegels „Nibelungen“, oder auch Hildegard,
die Grafentochter, im „Nest der Zaunkönige“... Er blickte rasch
auf den Panzerleutnant, der ihn sonst vielleicht vor allen
anderen interessiert hätte. Die anderen Mädchen sah er nicht,
neben ihr, neben Uta.
Peter Wiese saß am Flügel und blätterte in den Noten. Er
spielte eine Haydn-Sonate und dann seine Lieblingsstücke,
verträumte und schwermütige Kompositionen von Schumann.
Immer wieder sah Holt verstohlen auf Uta. Der dritte Satz,
Allegro moderato? Alle räuspern sich, wie komisch! Ob sie
vielleicht an mich denkt, jetzt, wie ich an sie? Ob man es fühlt,
wenn die Gedanken einander begegnen? Ob es bei ihr anders
wäre als an jenem Vormittag in der Kabine?
Man applaudierte. Der Leutnant flüsterte Uta Barnim ein paar
Worte zu. Fatzke! dachte Holt. „Ja, danke.“ Er nahm noch Tee.
Eigentlich sollte ich gehn, dachte er, aber er blieb. Peter Wiese
klappte den Flügel zu.
„Du hast dich in letzter Zeit vervollkommnet“, sagte Frau
Wiese sanft. „Aber es wäre uns lieber, wenn du weniger üben
und fleißiger trainieren würdest.“ Die Freude in Peter Wieses
Gesicht erlosch. „Es ist uns sehr unangenehm, daß du auch
dieses Jahr für den Ernteeinsatz untauglich bist“, fuhr Frau
Wiese noch sanfter fort. „Herr Holt, vielleicht können Sie Peter
ein bißchen mitreißen, Sie sind sehr sportlich, ich habe von
Ihren Streichen gehört, aber Sie verbringen doch wenigstens
Ihre Freizeit durchweg an der Luft.“ – „Na, wissen Sie, gnädige
Frau“, sagte Holt, „das hat sich auf mein Zeugnis nicht günstig
ausgewirkt.“ Man lächelte. „In den Zeiten, in denen nicht der
Geist, sondern die Faust entscheidet“, sagte Leutnant Kiefer mit
heller Stimme und erhobenem Kinn, „da ist das Einpumpen
sogenannter Weisheit völlig überflüssig. Der Führer verlangt,
den jungen Leib zu stählen und hart zu machen, auf daß ihn
das Leben nicht zu weich finden möge.“ Uta, neben ihm, sah
durch die offene Verandatür ins Freie, als höre sie nicht zu.

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Frau Wiese ließ die „jungen Leute“ allein. Sie gab Holt die
Hand. „Ein Junge wie Sie wäre ein Freund für Peter. Mein Mann
wünscht, daß Peter unter allen Umständen wehrdiensttauglich
wird. Sie müssen ihn nur richtig im Wasser untertauchen und
umherhetzen mit Ihren Freunden, das tut ihm gut!“ Sie verließ
bald den Raum. „Man soll den Bock nicht zum Gärtner
machen“, sagte Holt vergnügt. „Ich bin moralisch unreif, das
hab ich schriftlich im Zeugnis.“ Uta, vielleicht zum erstenmal,
sah ihn an.
Der Leutnant ging mit Wieses Schwester in den Garten
hinaus, zwischen den Rosenstöcken entlang, und fragte über
die Schulter nach dem Namen des Klassenlehrers. „Na ja,
Maaß kennt man doch!“ Holt lief auf einmal allein an der Seite
Utas. Sie war nur wenig kleiner als er. Sie fragte: „Wie kommen
Sie zu einer so verheerenden Beurteilung?“ Die Frage war der
blanke Spott. „Alles halb so wild“, antwortete Holt. Ihr Spott
ärgerte ihn und machte ihn unsicher. „Die Lehrer wissen nichts
von uns. Die wahren Gedanken errät ja keiner.“ – „Sind die
wahren Gedanken so fürchterlich?“ fragte sie, noch deutlicher
spottend. Er fühlte sich herausgefordert. „Ach wo, gar nicht!
Meistens sogar recht... harmlos. Bloß vorhin, als Peter spielte,
da war ich froh, daß niemand Gedanken lesen kann.“
Sie setzte die Worte blitzblank nebeneinander, wie gebastelt,
und es war nun kein Spott mehr, sondern nur noch Belustigung.
„Jetzt bin ich buchstäblich verpflichtet zu fragen: Woran dachten
Sie?“
„An Sie“, sagte er heftig und schaute auf den kiesbestreuten
Boden. Ihr Schweigen ermutigte ihn. „Sie sind das schönste
Mädchen in der Stadt.“ Erst ein paar Schritte weiter antwortete
sie: „Das Zeugnis, das Ihnen Ihr Lehrer ausstellte, ist
lückenhaft. Sie können auch liebenswürdig sein.“
Die Gäste standen bei einem Aprikosenbaum. „Wer klettert
hinauf und pflückt für die Damen Aprikosen?“ schnarrte der
Leutnant und warf einen aufmunternden Blick auf Holt und
Wiese. Holt trat auf den Rasen, packte den Stamm und rüttelte.
Er hob die größten und schönsten Aprikosen auf und brachte
sie Uta. Sie dankte mit keinem Wort, aber sie sah ihn eine
Sekunde lang nachdenklich an. Sie brach eine der überreifen

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Früchte auf, warf den Kern zu Boden und reichte ihm eine der
Hälften. Dann ließ sie ihn stehen, nahm den Leutnant am Arm
und verschwand mit ihm im Haus.

Holt packte bei den Schwestern Dengelmann seine Sachen


zusammen, erzählte etwas von Ernteeinsatz, anschließender
Ferienreise und daß er sich irgendwann wieder einfinden
werde... Dann lief er mit prallem Rucksack zu Wolzow.
Den Abend verbrachten sie in der Halle vor dem Kamin. Holt
verschwieg seine Vereinbarung mit Wiese, aber er erzählte,
daß er Uta Barnim kennengelernt habe. Wolzow fragte
grinsend: „Na, und die Krüger?“ – „Das ist doch etwas anderes!“
sagte Holt unwillig.
„Mein Aufmarschplan für die Sache mit Meißner ist fertig“,
erklärte Wolzow. „Wir machen das am Freitag.“ Sie mußten
also spätestens Donnerstag abend den Ernteeinsatz
abbrechen. Holt war einverstanden. Als Ort fand Wolzow den
einsamen Rabenfelsen am besten geeignet. Ein fingierter Brief
sollte Meißner hinlocken. Wie Wolzow herausgebracht hatte,
machte Meißner zur Zeit einem rothaarigen Mädchen namens
Suse den Hof. Sie war bei einem Photographen beschäftigt
und, wie jeder wußte, verlobt.
Holt entwarf ein paar Zeilen, die er Wolzow vorlas: „Lieber
Herr Meißner, ich muß Sie unbedingt sprechen, ehe Sie
einrücken, und Sie dürfen mir diese Bitte nicht abschlagen. Man
darf mich nicht mit Ihnen sehen, wie Sie verstehen werden;
kommen Sie also Freitag abend einundzwanzig Uhr zum
Rabenfelsen, aber kommen Sie bitte bestimmt! Ihre Suse.“ –
„Na, liebe Suse, da hör ich’s aber im Stroh rascheln“, sagte
Wolzow. – „Unsinn. Daß man sie nicht mit ihm sehen darf,
bezieht er auf ihren Verlobten.“ – „Gut. Ihre Handschrift wird er
nicht kennen, er hat bei ihr bisher auf Granit gebissen.“ –
„Woher weißt du das alles?“ Wolzow antwortete: „Ich hab
meine Quellen. Jeder Feldherr hat seine Geheimagenten.“

57
Holt schrieb den Text auf rosa Briefpapier, Wolzow begoß den
Umschlag mit Parfüm. Holt malte deutsche Sütterlinschrift,
eckig, geziert, leicht nach hinten geneigt. Holt entwarf auch den
Revers, den Meißner unterschreiben sollte. „Ich erkläre, daß ich
mit Ruth Wagner ein heimliches Liebesverhältnis gehabt und
sie in schwangerem Zustand durch Drohungen eingeschüchtert
und fortgejagt habe...“ – „Schwangerer Zustand ist gut!“
unterbrach Wolzow. Holt las weiter: „Sie hat daraufhin durch
meine Schuld Selbstmord verübt. Unterschrift.“ Er ließ das
Papier sinken. „Ich glaube, das unterschreibt er nie!“ – „Er
unterschreibt. Laß mich nur machen.“
Ein Gefühl von Angst beschlich Holt. Worauf laß ich mich ein?
Aber Wolzow steckte den Schein so gleichmütig in die
Brieftasche, daß Holts Sorge schwand.
Am Morgen brachte Gomulka die beiden Gewehre. Zu dem
schweren, altertümlichen Stutzen gehörte eine große Tasche
mit Zubehör: Kugelform, Gießkelle, leere Patronenhülsen,
Zündhütchen, zwei Lederbeutel voll Schwarzpulver, ein kleiner,
mit der Hand zu betreibender Blasebalg. „Ich brauch noch
Salpeter und Schwefel, habt ihr Geld?“ Wolzow trug in der
Jacke die Scheine, die er im Gepäck seines Vaters gefunden
hatte. „Blei fehlt?“ fragte er. „Da reiß ich hier irgendwo ein
Wasserrohr raus, kommt in der Bruchbude gar nicht drauf an!“
Er riß das Wasserrohr im Bad neben seinem Zimmer ab und
verkeilte den Zufluß mit einem Holzpfropfen.
Am Nachmittag brachten auch Vetter und Zemtzki ihr Gepäck.
In der Halle häuften sich Rucksäcke, Ballen und Pakete. In der
Küche am Gasherd goß Gomulka Kugeln, dicke, fast dreißig
Gramm schwere Rundgeschosse, und Holt lernte, die
Zündhütchen in die Patronenböden einzusetzen, die Hülsen mit
Schwarzpulver zu füllen und dann die Geschosse mit einem
Holzscheit in die Hülsen zu treiben. Es sei mit zwanzig Prozent
Versagern zu rechnen, erklärte Gomulka, ein erträgliches Maß.
Gegen Abend waren sie reisefertig. Sie biwakierten auf dem
Teppich in der Halle. Morgens fünf Uhr packten sie die
Rucksäcke. Auf dem Weg zum Bahnhof warf Holt den fingierten
Brief in den Kasten.

58
Vor dem Bahnhof versammelten sich die Schüler, in den
Uniformen der HJ und des Jungvolks.
Der Pfiff einer Trillerpfeife schrillte. „Achtung! In Linie...
angetreten, marsch, marsch!“ Das war Otto Barth. Sie stellten
sich am linken Flügel in Reih und Glied.
Otto Barth, an der Schulter die grün-weiße Führerschnur,
stand vor der Front, groß und stark, mit einem verpickelten,
vom Schreien geröteten Gesicht. Er war siebzehn Jahre alt und,
wie Herbert Wurm, der Stammführer, seiner Funktion wegen
vom Flakeinsatz befreit. Wolzow verzieh ihnen das nicht und
spielte, wenn der Bannführer nicht in der Nähe war, den
Aufsässigen.
„Der Bannführer!“ piepste Zemtzki. Tatsächlich trat Bannführer
Knopf langsam vor die Front.
Barth meldete Wurm, Wurm meldete dem Bannführer. Der
Bannführer redete etwas von Einsatz, Pflicht und Verpflichtung.
Als Holt sich in den reservierten Wagen zwängte, waren alle
Abteile besetzt, aber Wolzow scheuchte ein paar Quartaner von
ihren Plätzen. Vetter teilte Skatkarten aus. Wolzow holte eine
Kiste Zigarren aus dem Rucksack. Sie bissen die Spitzen ab
und spuckten sie auf den Boden, dann füllte sich das Abteil mit
Dunst. Die Quartaner standen ehrfurchtsvoll dabei. Wolzow
sagte: „Wenn alles klappt, sind wir in vier Wochen bei der Flak.
Jetzt lassen wir uns von Wurm und Barth nichts mehr sagen.“ –
„Stammführer könnten wir nämlich schon lange sein“,
entgegnete Holt.
Nach einer halben Stunde inspizierten Wurm und Barth den
Wagen. Wurm war ein großer, magerer Bursche mit einem
eiförmigen Gesicht und schwarzem, mit Pomade am Kopf
festgeklebtem Haar. Er ließ stets den Unterkiefer herabhängen,
und der offene Mund gab seinem Gesicht einen Ausdruck
unbeschreiblicher Dummheit. Jetzt sagte er verdattert: „Ja ist
denn das die Möglichkeit! Die Herren rauchen Zigarren!“
Wolzow hielt ihm die Kiste hin. „Willst du auch eine?“ Wurm
schlug mit der Hand nach der Kiste, die Zigarren kullerten auf
dem Boden umher. Wolzow stand auf und legte die Spielkarten
weg. „Dafür bekommst du jetzt ein paar in die Fresse,
Stammführer!“ Wurm wich zurück, Barth rief: „Gib Ruhe,

59
Wolzow, sonst mach ich Meldung an den Bann!“ – „Aber die
Zigarren hebt er auf“, beharrte Wolzow. „Schluß!“ rief Barth. Er
befahl den Quartanern: „Los, hebt die Dinger auf!“ Wolzow
setzte sich wieder. Vetter knallte die erste Karte auf den
Klapptisch. Nebenan erzählte jemand: „Der Führer hat sich mit
dem Duce getroffen, in einer Stadt in Oberitalien, ich denke,
das hat was zu bedeuten, vielleicht wird jetzt auf Sizilien die
Falle zugemacht.“
Nach fünfstündiger Bahnfahrt, auf einer kleinen ländlichen
Station, trieb Barths Trillerpfeife die Jungen aus dem Zug.

Die Chaussee war staubig, die Sonne brannte, die


Marschkolonne sang: „Die blauen Dragoner, sie ra-hei-ten...“
Links und rechts säumten Getreidefelder die Straße, auf denen
der Roggen in Puppen stand.
Nach zweistündigem Marsch erreichten sie ein großes Dorf.
Auf dem Anger vor dem Wirtshaus teilte Barth die Kolonne in
einzelne Gruppen. Wurm stand mit offenem Mund dabei. Sie
kampierten in der Dorfschule.
„Verpflegung gibt es erst ab morgen“, berichtete Vetter. „Halb
fünf treten wir auf ‘m Dorfplatz an. Ordnungsübungen! Abends
will Barth Kameradschaftsabend machen.“ Das Programm
wurde verworfen. Zemtzkis und Vetters Bedenken wurden von
Wolzow getilgt. Als unten die Trillerpfeife schrillte, als alles
aufbrach, warf Holt die Tür zu, riß von der Wandtafel das Bord
ab, brach es über dem Knie in zwei Hälften und keilte eines der
Bretter unter die Türklinke. Dann legten sie sich schlafen.
Abends gegen acht wurden sie wach. „Und jetzt gehen wir ins
Wirtshaus“, befahl Wolzow.
In der dunklen, muffigen Schankstube saßen ein paar Bauern
beim Bier. Hinter der Theke stand ein dunkeläugiges Mädchen
von vielleicht zwanzig Jahren.
Wolzow rief mit seiner rauhen Stimme: „Sagen Sie mal,
Fräulein, wird das „n bißchen voller?“ – „Nach dem Füttern“,
antwortete sie. Holt dachte: Sie ist hübsch... Vetter teilte schon
wieder Karten aus. In der Ecke erhob sich ein Bauer, Holt
schob ihm einen Stuhl hin. „Zigarre?“ fragte Wolzow. „Fräulein,
ein Bier!“ Bald saßen mehrere Männer bei ihnen, rauchten

60
Zigarren und tranken das Bier, das Wolzow spendierte. Der
Schankraum füllte sich mit Menschen. Jemand klimperte auf
dem verstimmten Klavier. Die Deckenlampe brannte trüb, die
Luft war grau von Zigarrenrauch.
Holt ließ keinen Blick von dem Mädchen, das die Biergläser
durch den Raum trug. Manchmal, wenn sie einen seiner Blicke
auffing, lächelte sie oder zog unmerklich die dunklen
Augenbrauen hoch. Zemtzki, Gomulka und Vetter spielten
unterdessen Skat. Die Bauern, die um sie herumsaßen,
schauten in die Karten und stritten nach jedem Spiel.
Wolzow führte das Wort. Er hatte rasch nacheinander fünf
Glas Bier getrunken. Er zeigte seinen Bizeps und ließ sich
schließlich auf einen Zweikampf im Fingerhäkeln mit dem
Schmiedegesellen ein, der nur ein Auge hatte und wie ein
Freibeuter dreinschaute. Die Bauern erklärten den Kampf für
unentschieden. Wolzow gab keine Ruhe. Ein fingerstarker
Feuerhaken wurde gebracht, Wolzow bog ihn mit einem Ruck
zusammen, der Schmiedegeselle bog ihn grinsend wieder
gerade. Schließlich standen sie einander mitten in der
Schankstube gegenüber. Die erhobenen Hände gegenseitig
ineinander-gefaltet, versuchte einer den anderen in die Knie zu
zwingen. Beide keuchten, aber keiner erzielte einen Vorteil. Die
Bauern spendeten Beifall.
Zemtzki, Vetter und Gomulka warfen ihre Karten auf den
Tisch, als ginge sie das Durcheinander ringsum nichts an.
Wolzow legte den Arm um die Schulter des
Schmiedegesellen. „Ein Faß Freibier!“ schrie er. Daraufhin
erhob sich Lärm.
Holt sah, wie ihm das Schankmädchen mit den Augen winkte.
Er erhob sich. Ein Gang führte hinaus auf den Hof. Er stand ihr
im Halbdunkel des Korridors gegenüber. „Hat Ihr Freund genug
Geld bei sich?“ fragte sie. „Es kostet sechzig Mark!“ – „Ich glaub
schon“, sagte Holt. Ein Geruch von Schweiß, Haar und Erde
ging von dem Mädchen aus. „Was schaust denn so?“ sagte sie
und lächelte. Er faßte nach ihren Armen und fühlte einen
Augenblick lang ihre warme Haut. Aber sie wich zur Seite. „Ich
hab zu tun!“ Er sah, als sie verschwand, wie sie ihm mit
blitzenden Zähnen zulachte.

61
Er tastete sich den dunklen Korridor entlang. Zur Linken führte
eine Holztreppe steil nach oben. Dann stand er draußen auf
dem Hof. Er lehnte sich gegen eine Stalltür. Am Himmel
standen Sterne. Er atmete tief, er schämte sich plötzlich, aber
an seinen Fingerspitzen, wie ein Kitzel, hing noch die
Empfindung ihrer Haut.
Die Schankstube, mit ihrem Trubel, dem Geplärre des Radios,
dem beißenden Tabakdunst und den lärmenden Stimmen
widerte ihn auf einmal an. Wolzow stand, von Bauern umringt,
an der Theke. Als Wurm und Barth durch die Tür traten, knallte
Zemtzki gerade das Herz-As auf den Tisch. Er saß mit dem
Blick zur Tür, sah die beiden Führer und piepste erschrocken:
„Verdammt, jetzt holen sie uns zum Dienst.“
Wurm und Barth blieben an der Tür stehen und redeten lange
aufeinander ein. Dann traten sie zögernd an den Tisch heran.
Wurm bückte sich ein wenig und sagte gedämpft: „Ihr verlaßt
sofort das Lokal und kommt zum Dienst, oder es gibt eine
Meldung an den Bann!“
Holt sah das Mädchen mit hochgezogenen Brauen zu ihnen
herüberblicken... Das Stimmengewirr ließ nach. Wolzow stand
beim Tisch. Die Bauern blickten gespannt. „Laßt uns in Ruhe“,
sagte Wolzow mit schwerer Zunge.
„Mensch, Wolzow“, schnarrte Barth, „diese Drückebergerei...“
Wolzow fiel ihm ins Wort: „Wer ist hier ‘n Drückeberger? Wer
gehört längst zur Flak?“ Barths Gesicht lief rot an. Wolzow
wandte sich ab und ging wieder zur Theke. Das
Stimmengeräusch setzte in unverminderter Stärke ein.
Irgendwer klimperte auf dem Klavier. Zemtzki hatte sich von
seinem Schrecken erholt und teilte Karten aus. Wurm beugte
sich abermals über den Tisch und sagte im Befehlston: „Los!
Macht, daß ihr rauskommt.“
„Achtzehn!“ sagte Vetter schwitzend und sah sich
hilfesuchend nach Wolzow um. Gomulka sagte: „Ich halte.“
Wurm versuchte es anders. „Laßt euch doch von dem Wolzow
nicht aufwiegeln! Wenn ihr so weitermacht, gibt’s Jugendarrest!“
„Zwanzig“, sagte Vetter. Gomulka sagte: „Hab ich!“ – „Wir
geben eine Meldung an den Bann. Wenn ihr gehorcht, laß ich

62
euch aus!“ – „Vierundzwanzig“, sagte Vetter. Gomulka sagte:
„Na ja doch, schon lange!“
Holt fühlte die Augen des Mädchens auf sich gerichtet, schob
den Stuhl zurück und sagte: „Wir bleiben!“ Wurm wechselte
einen Blick mit Barth. Holt zog den Kopf zwischen die
Schultern... Da wurde er sanft, doch unwiderstehlich zur Seite
gezogen.
„Fang du nicht an!“ sagte das Schankmädchen hastig. Er sah
ihre Augen, die dunkelgrau waren, und auf ihren Lippen
standen ein paar winzige Speicheltröpfchen. Sie warf einen
Blick zur Theke, denn dort rief man nach ihr. Sie flüsterte, nahe
an seinem Gesicht: „Nach zwölf... über den Korridor die Treppe
hoch, links die letzte Tür... warte dort... wenn du jetzt Ruhe
gibst!“ Er sah sie bei der Theke, verwundert, verwirrt, er dachte:
Das muß alles ein Irrtum sein...
„Passe!“ krähte Vetter, durch Holts und Wolzows Widerstand
ermutigt. Gomulka sagte: „Grand! Schneider. Ich hab
Vorderhand.“ Wurm rückte sein Koppel zurecht. „Gut. Ihr habt’s
euch selbst zuzuschreiben. Komm, Otto!“ – „Raus mit dem
Onkel“, sagte Gomulka und warf einen Buben auf den Tisch.
Hinter Wurm und Barth schloß sich die Tür.
Es schlug Mitternacht. Holt sagte zu Gomulka: „Ich geh
voraus.“ Er trat durch die Tür auf die Dorf Straße.
Die Silhouetten der Gehöfte verschwammen in der Nacht.
Weit entfernt kläffte ein Hund. Der Lärm aus dem Wirtshaus
klang gedämpft und unwirklich ins Freie. Holt zog fröstelnd die
Schultern zusammen.
Die Treppe hoch, links das letzte Zimmer... Er war ganz ruhig.
Die Träume lügen. Das Leben ist ganz anders. Worauf soll ich
warten? Er ging ein paar Schritte in die Nacht hinaus, der Lärm
versank schon hinter ihm, nun war es still ringsum. Aus der
Schenke traten Bauern. Er lief um das Haus und durchs Tor auf
den Hof. Er fand den dunklen Korridor seltsam vertraut, als
habe er sich von Kindheit an hier bewegt, auch die Treppe war
er schon hundertmal emporgestiegen... Nun einige Türen aus
rohen Brettern, das ist wie daheim auf dem Dachboden, wo
man heimlich in Kisten herumstöberte, voller Angst vor
Entdeckung... Er zog die Tür hinter sich ins Schloß und sah sich

63
in der kleinen Kammer um. Er tappte am Bett vorbei und
verharrte bewegungslos am geöffneten Fenster, bis sich die
Stimmen seiner Freunde in der Ferne verloren.
Eigentlich war ich immer allein, auch daheim, bei Mutter.
Eigentlich habe ich immer Sehnsucht gehabt, nach irgendwem,
nach irgendwas. Angst und Sehnsucht. Komm! Auf einmal bist
du da, aufgelöst in Dunkelheit.
Sie zog ihn vom Fenster fort, dann schlug sie das Federbett
zurück. Ihre Kleider raschelten. Er handelte willenlos, als sei er
nicht voll bei Bewußtsein, und erst, als ein verknoteter
Schnürsenkel seine Ungeduld hemmte, setzte dröhnend der
Herzschlag ein und dauerte fort, bis er neben ihr lag und ihren
Körper an seinem fühlte.

Der Morgen stieg über die Dächer der Bauernhäuser. In der


Schule blieb Holt eine Stunde Schlaf, ehe die Trillerpfeife
Barths ihn weckte.
Er hielt den Kopf unter die Wasserleitung. Dann arbeiteten sie
auf dem Feld.
Sie beluden Erntewagen, zwei Tage lang. Die Arme und
Schultern schmerzten. Am dritten hatte Wolzow genug. Er
erklärte: „Das ist eine viel zu unkriegerische Arbeit für mich!
Kommt ihr mit baden?“ Sie gingen nicht mehr aufs Feld zurück.
Sie packten am Nachmittag unbemerkt ihre Rucksäcke und
marschierten zur Bahnstation, Holt warf einen Blick zurück, auf
das Dorf, auf das Wirtshaus. Während der Fahrt saß er
schweigend am Fenster. Er hörte nicht, daß Wolzow Fragen an
ihn richtete.
Er grübelte, ob die Wirklichkeit gehalten habe, was einstmals
Traum und Phantasie versprachen... Er wußte nicht einmal
ihren Namen. Er dachte an die Marie Krüger. Er dachte an Uta.
Als sie anderentags in der Wolzowschen Villa das Gepäck zu
großen Ballen zusammenschnürten, als Holt an den Abend, an
Meißner dachte, und an die Nacht, die Flucht in die Berge,
wurde die Unruhe in ihm so stark, daß er nach kurzem
Nachdenken sagte: „Ich muß noch mal fort.“ – „Wo willst du
denn hin?“ fragte Wolzow verwundert. – „Zu Barnims.“ Wolzow
blickte unzufrieden drein. „Egal Weibergeschichten“, sagte er.

64
„Na los, hau ab, aber laß dich nicht sehen!“ Holt wusch sich in
der Küche die Hände, reinigte die Fingernägel mit dem
Fahrtenmesser und kämmte sich.
Als er bei Barnims klingelte, wäre er am liebsten wieder
umgekehrt. Man ließ ihn in der Diele warten. Als er Uta sah,
vergaß er alles „Sie kam wie eine Göttin“, dachte er. Das hatte
der Cavaradossi gesungen, in der einzigen Oper, die Holt
gesehen hatte. „Sieh mal einer an“, sagte sie, und ihr Lächeln
zog ihn vollends in ihren Bann. „Ich denke, man ist zum
Ernteeinsatz?“
„Ich bin abgehaun. Jetzt geh ich... lange fort. Vorher wollte ich
Sie gern sprechen.“
„Wie ich Sie kenne, ist es etwas Todernstes. Also kommen
Sie.“ Er folgte ihr über die Treppe ins Obergeschoß. Dort
öffnete sie eine Tür und ließ ihn eintreten. Das Zimmer war voll
Sonnenlicht. Den Fußboden bedeckte ein grobgewirkter
Teppich. Vor einer Bettcouch stand ein Teetisch, von
Polsterhockern umstellt. Und Blumen gab es, überall, am
Fenster, an der Balkontür, auf dem Teetisch, Rosen, Nelken,
üppige Gehänge von Brunnenkresse, wilde Wicken, die sich an
den Gardinen hinab bis auf den Teppich rankten, und eine
wuchernde Tradescantia. Auf dem Balkon stand ein Liegestuhl,
daneben ein kleiner Tisch mit Rauchutensilien. „Holen Sie sich
einen Sessel“, sagte sie und ließ sich schon im Liegestuhl
nieder, die Hände unter dem Kopf verschränkt. Holt trug einen
der Hocker hinaus und setzte sich neben sie. Sie hielt ihm
wortlos ein Messingkästchen mit Zigaretten hin. Er rauchte.
„Hat Ihr Besuch noch einen anderen Grund, oder sind Sie nur
gekommen, um mich anzustarren?“ fragte sie. Ihr Spott machte
ihn mutlos. Er brummte etwas von „... ganz allein in der Stadt...“
und „... sonst keinen Menschen...“ Sie sagte: „Also erzählen
Sie! Warum leben Sie nicht bei Ihren Eltern?“
„Ich wollte nicht länger bei meiner Mutter bleiben. Und mein
Vater...“
„Wollen Sie nicht davon sprechen?“
„Doch“, sagte er. „Aber nur zu Ihnen. Er arbeitet als
Lebensmittelprüfer in einem städtischen Amt. Eigentlich ist er
Arzt.“

65
Sie blickte interessiert zu ihm hin. „Und welchen Umständen
verdankt er diese offensichtliche Degradierung?“
„Ich weiß das nicht so genau“, sagte Holt langsam, und wie
stets bei der Frage nach seinem Vater befiel ihn Unsicherheit
und Scham. „Er war lange in den Tropen, dann in Hamburg an
der Universität Professor und zugleich am Institut für
Tropenkrankheiten. Meine Mutter stammt aus der Industrie, und
als er sie geheiratet hatte, ging er nach Leverkusen. Er forschte
nach Krankheitserregern oder so. Aber dann sollte er eine
andere Arbeit übernehmen, etwas... Kriegswichtiges. Da hat er
sich geweigert und mußte gehen. Er fand dann auch nichts
anderes. Meine Mutter ließ sich von ihm scheiden, ich glaube,
deswegen... Es heißt, er ist politisch unzuverlässig. Er ist wohl
furchtbar starrsinnig. Lieber hungert er.“
„Jedenfalls“, sagte Uta, „scheint Ihr Vater ein Mann von
Charakter zu sein.“ Diese Worte überraschten Holt so sehr, daß
er verwirrt „Ja... aber...“ sagte, doch sie unterbrach ihn. „Warum
leben Sie nicht bei ihm?“
„Das Vormundschaftsgericht hat es verboten. Ich will auch
nicht. Ich will frei sein! Deswegen bin ich auch von meiner
Mutter fort. Es war sowieso kein Zuhause, auch früher nicht.
Mein Vater hatte immer nur seine Arbeit im Sinn. Und meine
Mutter war viel jünger als er, hatte dauernd Gäste, ging dauernd
fort. Ich bin schon mal durchgebrannt, aber die Polizei hat mich
zurückgebracht. Im Frühjahr hat Mutter mich endlich
fortgelassen. Erst sollte ich zu meinem Onkel nach Hamburg, er
ist dort im Aufsichtsrat einer großen Tabakfabrik. Doch dann hat
mich Mutter hierher in Pension gegeben. Sie schickt jeden
Monat Geld, sie hat ja genug, sie hat Vermögen.“ Er schwieg,
er fragte sich: Wozu erzähl ich ihr das alles?
„Und nun suchen Sie bei mir gewissermaßen Nestwärme,
mütterliche Geborgenheit?“
„Warum verspotten Sie mich?“ sagte er. „Wenn ich Ihnen
lästig bin, geh ich. Vielleicht haben Sie einen Menschen, dem
Sie sich anvertrauen können, aber...“ – „Nicht doch, warum
gleich so gekränkt? Sie sind ein merkwürdiger Mensch!“ meinte
sie. „Nach Peter Wieses Bericht hielt ich Sie für einen Stromer.

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Ein Gefühlsleben, wie Sie’s da offenbaren, paßt schlecht zu
diesem Bilde.“
„Der Wiese kennt mich ja gar nicht“, sagte Holt verächtlich.
Dann erst begriff er, was sie gesagt hatte: Nach Wieses
Bericht... So hat sie ihn also ausgefragt! „Daß man die Lehrer
ärgert und immer angibt“, fuhr er fort, „das ist ja nur das eine...“
– „Und die andere Seele in Ihrer Brust, die sitzt dann und wann
bei Peter und läßt sich vorspielen, die (Überreichung der
silbernen Rose’, obwohl’s. im Klavierauszug ganz scheußlich
klingt!“ Sie lachte. „Es freut mich, daß Sie vor mir nicht angeben
wollen. Also bitte. Vertrauen Sie sich mir ruhig an. Aber an den
Spott werden Sie sich gewöhnen müssen. Ich glaube, er kann
Ihnen nicht schaden.“ Sie erhob sich aus dem Liegestuhl und
trat zur Balkonbrüstung. Mit dem Rücken an das Holz des
Geländers gelehnt, sprach sie weiter: „Wenn Sie aber meinen,
daß es mir anders geht als Ihnen...“ Sie schwieg. Dann setzte
sie, wie belustigt, hinzu: „So irrt sich der.“ Der Wind blies ihr das
Haar ins Gesicht. „Wenn das Taschengeld nicht ausreicht, dann
kann ich mich natürlich Mama ‚anvertrauen’, wie Sie so schön
sagten...“ Sie konnte das Spotten nicht lassen. „Aber was ist
das? Belanglosigkeiten. Warten Sie.“ Sie holte ein Buch aus
dem Zimmer und setzte sich wieder in den Liegestuhl. „,... denn
im Grunde und gerade in den tiefsten und wichtigsten Dingen’„,
las sie, „,sind wir namenlos allein’...“ Er konnte auf dem
Buchrücken den Titel erkennen: Rilke, „Briefe“.
In den tiefsten und wichtigsten Dingen, wiederholte er in
Gedanken, und: namenlos allein... Warum? „Man braucht aber
doch jemanden, zu dem man Vertrauen haben kann! Wir haben
was vor. Vielleicht brauch ich bald einen Menschen. Würden
Sie mir helfen, wenn ich mal Hilfe nötig hab?“
„Ihr Vertrauen hat etwas überwältigendes“, meinte sie, schon
wieder spottlustig. „Also gut. Versuchen Sie’s. Ich will sehn, was
ich tun kann.“

Am späten Nachmittag saß Holt dann schweigend vor dem


Kamin. Wolzows Fragen tat er mit einer Handbewegung ab.
Vetter spielte mit Zemtzki und Gomulka Skat. Nun, da das
Abenteuer unmittelbar bevorstand, kämpfte Holt mit einer

67
unbeherrschbaren Aufregung. Wolzow winkte ihm mit den
Augen. Auf seinem Zimmer fragte Holt: „Gilbert, wird alles gut
gehen?“
„Paß jetzt auf.“ Wolzow nahm die Walther-Pistole aus dem
Schubfach und reichte sie Holt. „Du hältst ihn in Schach. Sollte
er abhauen, dann schießt du rücksichtslos hinterher. Ich nehm
die Parabellum. Wirst du die Nerven haben?“
Holt krampfte die Faust um die Pistole.
„Er darf nicht türmen“, fuhr Wolzow fort. „Du hältst ihn also in
Schach, bis er unterschrieben hat. Dann kannst du die Kanone
wegstecken. Daß er unterschreibt, dafür sorge ich. Der Rest ist
dann auch meine Sache. So, jetzt komm. Sei nicht aufgeregt,
da kann gar nichts schiefgehn.“ Holt legte sich seine Worte
zurecht: Einen schönen Gruß von Ruth Wagner... Er sagte sich
unaufhörlich: Es ist für die Gerechtigkeit... für Gerechtigkeit!
Wolzows Stimme, unten in der Halle, hatte einen scharfen
Kommandoton. Er ließ die Uhren vergleichen, es war neunzehn
Uhr und achtundzwanzig Minuten. „Sepp! Acht Uhr bringst du
den Angelkahn an die Parkinsel, oben, beim Schwarzbrunn,
und vergiß nicht die Treidelleine. Wenn’s dunkelt, schleppt ihr
das Gepäck zum Kahn, hinten durch die Gärten. Inzwischen
sind wir wieder hier. Frag nicht. Alles klar? Komm, Werner.“
Sie umgingen den Rabenfelsen und näherten sich ihm von
Norden. Der Wald reichte bis an den Fuß der
aufeinandergetürmten Basaltbrocken. Ein schmaler, von
hüfthohen Farnwedeln bewachsener Platz schloß sich
unmittelbar an die steil abfallende Felswand. Hierher schien
niemals die Sonne. Der Boden war feucht und modrig. Wolzow
verbarg sich am Waldrand.
Unter dem Felsen war Dämmerung. „Er kommt!“ rief Wolzow
nach langem Warten. Holt drückte sich in eine der
schattengefüllten Felsspalten. „Er kommt am Waldrand
entlang“, hörte er, „versteck dich, wir nehmen ihn zwischen
uns!“ Dann verschwand Wolzow im Wald. Holt stand
unbeweglich, an den Fels geschmiegt, die Rechte in der
Hosentasche um den Griff der Pistole geschlossen. Wenn er
flieht... sofort schießen! Es ist für die Gerechtigkeit.

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Es dauerte eine Ewigkeit, bis am Waldrand Schritte laut
wurden. Holt sah die hochgewachsene Gestalt Meißners im
Gebüsch, und dahinter schlich Wolzow durchs Unterholz.
Meißner war nur noch wenige Schritte von Holt entfernt. Er
blieb stehen und wandte den Kopf erst nach rechts, dann nach
links. „Hallo!“ Dann sah er auf die Armbanduhr. Holt trat aus der
Felsspalte. Meißner blickte auf, erkannte Holt und sagte
überrascht: „Nanu!“ Holt ging langsam um Meißner herum, bis
er ihn zwischen sich und der Felswand hatte. Die Erregung
schnürte ihm die Kehle zu. Auf einmal war auch Wolzow da.
Meißner, um Holt im Auge zu behalten, hatte sich um seine
eigene Achse gedreht. Als er Wolzow sah, sagte er noch
einmal: „Nanu... Da sind die Herren ja beide!“
„Hast wohl die Suse erwartet?“ fragte Wolzow und grinste.
Schritt für Schritt ging Holt auf Meißner zu, die Pistole noch
immer in der Tasche. Wolzow hielt sich, scheinbar unbeteiligt,
ein paar Schritte abseits. Holt stand nun unmittelbar vor
Meißner. Er sagte: „Die Suse kommt nicht. Bist uns auf den
Leim gegangen. Den Brief hab ich geschrieben.“ Meißner
sagte, mit einer Stimme, die vor Wut zitterte: „Ach... So ist das!
Anders habt ihr euch wohl nicht getraut?“ Holt zog die Pistole
aus der Tasche, richtete sie auf Meißner und sagte: „Einen
schönen Gruß von der Ruth Wagner!“
Meißner wich langsam zurück. Holt folgte ihm. Meißner blickte
starr auf die Waffe. Seine Stimme war auf einmal brüchig. „Was
wollt ihr?“
„Nur eine Kleinigkeit“, sagte Holt.
„Achtung!“ schrie Wolzow gellend. Holt trat instinktiv einen
Schritt zur Seite, wie ein Schatten flog Meißner an ihm vorbei,
der Schuß knallte durch die Dämmerung, und über das Bein,
das Wolzow ihm stellte, schlug Meißner in die Farnwedel.
Wolzow kniete schon auf seinem Rücken. Meißner bäumte sich
auf, aber Wolzow hielt ihn nieder und schlug ihm zwei-, dreimal
die Faust ins Gesicht, das zur Seite gewendet auf dem feuchten
Boden lag.
„Ich werde dir helfen!“ sagte Wolzow. „Werner, bind ihm die
Füße!“ Holt zog den Gürtel aus der Lederhose und band
Meißners Beine. Sie drehten ihm beide Arme auf den Rücken

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und schnürten ihm auch die Ellenbogen zusammen. Dann
schleiften sie ihn durch den Farn zur Felswand, wo sie ihn
aufrecht, ans Gestein gelehnt, hinsetzten.
Es war dunkel. Wolzow leuchtete ihm mit der Taschenlampe
ins Gesicht. Die Unterlippe war aufgeplatzt und dick
geschwollen.
„Was wollt ihr?“ fragte Meißner mühsam. Wolzow zog den
Schein aus der Tasche und las: „... ,heimliches Liebesverhältnis
gehabt und sie in schwangerem Zustand durch Drohungen
eingeschüchtert und fortgejagt’...“ Während Wolzow las, hob
Meißner den Kopf. Sein Gesicht zeigte Schrecken, Furcht und
Wut.
„So. Das wirst du erst einmal unterschreiben“, forderte
Wolzow.
„Und... wenn ich nicht unterschreib?“
„Du wirst unterschreiben. Du weißt, es gibt da eine Menge
netter Sachen, wenn einer nicht will.“
Schweigen.
„Und wenn ich doch nicht unterschreib?“
Wolzow antwortete nicht. Er nahm eine Zigarette, reichte auch
Holt die Schachtel, aber Holt schüttelte den Kopf. „Dann
bringen wir dich ‘n Stück in den Wald und knallen dich ab.“ Das
klang so gleichgültig, daß Holts Hände zu zittern begannen. „Du
hast fünf Minuten Bedenkzeit. Komm, Werner!“
Sie entfernten sich. Am Waldrand flüsterte Holt: „Und wenn er
sich weigert?“ – „Er wird unterschreiben, verlaß dich drauf! Er
hat nicht die Nerven.“
„Und wenn er doch nicht... wollen wir ihn wirklich... ?“
„Was bleibt uns denn anderes übrig?“ Wolzow war immer
noch gleichgültig. „Wir können ihn doch nicht laufenlassen! Wir
haben gar keine Wahl! Überfall auf ‘n HJ-Führer, bewaffnet!
Noch dazu, wo er jetzt weiß, daß wir die Geschichte mit der
Wagner kennen. Wenn wir ihn umlegen, dann fingier ich ‘n
Selbstmord, da haben wir eine Chance, daß man uns nicht
erwischt. Aber wenn er uns anzeigt, geht’s uns dreckig. Komm
jetzt, die fünf Minuten sind um.“
Holt ging an Wolzows Seite zum Felsen zurück. Mord.
Kaltblütiger Mord! dachte er.

70
„Na? Hast du dir’s überlegt?“
„Ich unterschreib nicht“, sagte Meißner.
Wolzow schlug ihm die Faust ins Gesicht. Meißner schrie:
„Verbrecher! Banditen!“ Wolzow rief wütend: „Willst du wohl das
Maul halten!“, faßte ihn unter den Achseln und stemmte ihn
hoch. Dann schlug er abermals zu und ein drittes Mal. Meißner
sank zusammen und stöhnte: „Und wenn ihr mich totschlagt!“
„Sieh seine Taschen durch“, sagte Wolzow kalt, „man darf
unseren Brief nicht bei ihm finden!“ Holt griff in die linke, dann in
die rechte Brusttasche, fand den Brief und steckte ihn ein. „Bind
ihm die Beine los“, befahl Wolzow. Sie faßten ihn links und
rechts an den Armen. Er sträubte sich. Sie schleiften ihn tiefer
in den Wald. Mit einem Fußtritt hackte Wolzow ihm beide Beine
unter dem Körper weg. Meißner stürzte zu Boden.
„Jetzt ist Schluß!“ Wolzow setzte ihm die Mündung der
Armeepistole auf die Stirn. Da begann Meißner zu schreien:
„Aufhören! Nimm den Revolver weg!“ Er kreischte langgezogen:
„Aufhören! Hilfe!“
Wolzow preßte die Mündung der Waffe fester gegen seine
Stirn. „Willst du unterschreiben?“ Meißner schrie: „Ja doch... Ja!
Nimm die Pistole weg!“
Sie richteten ihn auf und banden ihn los. Wolzow leuchtete mit
der Taschenlampe, in der anderen Hand hielt er die Pistole.
Meißner unterschrieb. „Setz noch das Datum hin“, befahl
Wolzow, „heut ist der 24. Juli 43. Den Tag sollst du dir merken!“
Er steckte die Pistole weg und schob den unterschriebenen
Schein sorgfältig in die Brieftasche. „Steh schon auf, Mensch!
Es kann losgehen. Jetzt begleichen wir zwei unsere Rechnung.“
Holt sah, wie Wolzow auf den großen, blonden Burschen
losschlug, der sich nur kurze Zeit zur Wehr setzte und bald
wieder hinfiel. Wolzow trat ihn mit Füßen. Schließlich beugte er
sich über die bewegungslose Gestalt, drehte sie auf den
Rücken und leuchtete in das entstellte Gesicht. Meißner, in
tiefer Bewußtlosigkeit, röchelte schwer.
„Los, Werner, jetzt weg!“
Der Himmel hatte sich bewölkt. Der Wald war nachtdunkel.
Sie gingen eilig. „Hättest du ihn wirklich erschossen?“ fragte
Holt. „Ja, was denkst denn du?“ antwortete Wolzow erstaunt.

71
Dann, in der Wolzowschen Villa, die dunkel und menschenleer
in der Nacht stand, saß Holt, den Kopf in die Hände gestützt.
Einer lag jetzt zerschlagen und blutend im Walde. Ich bin viel
zu weich. Ich muß härter werden! Mir graut vor Wolzow. Er hat,
was mir noch fehlt: diese „Mörderkaltblütigkeit mit gutem
Gewissen“, von der ich gelesen hab. Wie will ich den Krieg
bestehn? Ich muß härter werden.
Draußen schlug die Tür. Wolzow nahm sein Gepäck auf. Sie
gingen langsam durch die Gassen zum Fluß hinab. Wolzow
schleppte eine Aktentasche voll Bücher mit. Er sprach von
seinen Plänen. „Wir werden die Zeit gut ausnützen.
Nachtorientierungsmärsche, viel Sport, viel Scheibenschießen.
Wir müssen unser militärisches Wissen erweitern. Wir müssen
unsere kriegerischen Tugenden festigen.“ – „Ja, Gilbert“, sagte
Holt.

Holt und Gomulka schössen sich seit Tagen mit den


Gewehren ein. Zemtzki hatte die Vormittagswache. Der Posten
konnte vom Gipfel aus viele Kilometer weit das Gelände
überblicken. Vetter, auf einem Klappstühlchen vor der Höhle,
pfiff sich eins. Er putzte Pilze. In der Höhle, deren Eingang
erweitert worden war, hing ein Kessel mit Wasser über dem
Feuer. Gestern hatte Wolzow einen Hasen in der Schlinge
gefangen. Vetter, der Küchenbulle, wie Wolzow ihn nannte,
konnte den Hasen nicht braten. Vetter hatte Sorgen. Das Fett
war aufgebraucht, auch das Brot, mit dem letzten Pfund
Roggenmehl kochte er heute Pilzsuppe. Holt und Gomulka
schössen unten, in der Schlucht, auf eine kopfgroße,
sandgefüllte Blechbüchse. „Es hat keinen Zweck, auf die Jagd
zu gehen, ihr vergrämt bloß das Wild“, hatte Wolzow gesagt.
„Schießt euch erst ein.“ Gomulka ließ den Stutzen donnern,
stehend freihändig, er verschwand bei jedem Schuß in einer
stinkenden Qualmwolke. „Treffer!“ sagte Holt, das Fernglas an
den Augen. Gomulka lud und schoß, auf fünfundsiebzig Meter.
„Treffer“, sagte Holt, „du triffst jetzt von drei Schuß zweimal,
72
mehr wird’s nicht.“ – „Auf was Lebendiges schießt sich’s
besser“, sagte Gomulka und setzte den Stutzen ab, „das ist
eine alte Weisheit Jetzt du noch mal.“ Sie gingen auf etwa
dreißig Meter an die Büchse heran. Holt schoß links. Das
Kleinkalibergewehr peitschte, hell und dünn neben dem
schweren Stutzen. „Gut, gut“, sagte Gomulka, „ich denke, wir
sind soweit.“ Sie hängten die Gewehre auf den Rücken und
stiegen aus der Schlucht wieder zur Höhe des Kreideplateaus
auf.
Vor der Höhle stand Wolzow, in der Badehose. Holt und
Gomulka begannen, die Gewehre zu reinigen. „Bloß Pilzsuppe!“
sagte Vetter. „Wenn ihr heute nichts ranschafft, wird ab morgen
gefastet.“ Wolzow hatte im Bach gebadet, auf seiner Haut
standen funkelnde Wassertröpfchen. „Schießt, was euch vor die
Gewehre kommt! Man kann auch Krähen essen, in der Suppe.
Ich geh heut abend mit Zemtzki los und grab ein paar
Rucksäcke Kartoffeln aus. Ich werde mir auch mal die Dörfer
ansehen.“ Er traf, während er sich ankleidete, immer neue
Anordnungen. „Pilze ranschaffen und trocknen. Drüben, hinter
der Schlucht, gibt’s bald Blaubeeren, Christian, merk dir das!“
Vetter redete Wolzow mit „Chef“ an und gehorchte ihm
sklavisch. „Und dann“, fuhr Wolzow fort, „sollten wir doch im
Fluß angeln.“ - „Ist gefährlich“, sagte Gomulka. „Dort unten sieht
uns bestimmt jemand!“ – „Wenigstens Nachtangeln auslegen“,
sagte Holt, der an seine Verabredung mit Wiese dachte. „Laßt
mich das machen. Den Fluß übernehm ich.“ Vetter stimmte
wieder sein Klagelied an. Er brauche Fett. „Kocht ihr mal was
ohne Fett!... Man müßte eine richtige Sau organisieren“, sagte
er träumerisch.
Sie löffelten die Pilzsuppe. Vetter trug ein Kochgeschirr zu
Zemtzki auf den Gipfel. Holt und Gomulka bereiteten sich auf
den ersten Pirschgang vor. „Ihr seht aus wie Robinson“, sagte
Wolzow und grinste. „Wenn’s nach der Ausrüstung ginge,
müßtet ihr ein Mammut schießen.“ Er rief ihnen hinterher:
„Weidmanns Heil!“
Sie stiegen den steilen Trampelpfad hinab und folgten dem
Lauf der Schlucht, bis sich ein Tal vor ihnen öffnete. Sie
wanderten, die Gewehre schußfertig unter dem Arm, nach

73
Osten, durch den dichten und verwilderten Wald. Gebüsch und
Unterholz hemmten ihre Schritte. Ein Eichelhäher stimmte
gellendes Warngeschrei an. Holt hob die Büchse. „Ob man
Eichelhäher essen kann?“ flüsterte er. – „Ja. Aber laß, du
verjagst vielleicht was Größeres!“ – „Das Geschrei vertreibt
sowieso alles Wild. Polizei des Waldes.“ Der Vogel war auf den
Zweigen einer Eiche niedergegangen, das bunte Gefieder
leuchtete durch das Laubwerk. Ausatmen, Druckpunkt, Ziel
aufsitzen lassen! Der Schuß brach. In einer Wolke stiebender
Federn fiel der Vogel zu Boden. Holt lud. „Die erste Beute!“ Er
verstaute den Eichelhäher im Rucksack. Sie wanderten weiter.
Als sich der Abend senkte, tat sich eine große Lichtung vor
ihnen auf. Ein Bach plätscherte zu Tal. Sie rasteten und
lagerten sich am Waldrand.
Ein kühler Wind strich über sie hin.
„Denkst du manchmal an zu Hause?“ flüsterte Holt. „Nein,
nie“, sagte Gomulka. „Und du? Denkst du an die Stadt?“ Holt
schüttelte den Kopf. – „Und... denkst du noch an den... Gasthof,
dort, beim Ernteeinsatz?“ Holt sah angestrengt zur Seite. Die
Frage überraschte ihn. „Manchmal“, flüsterte er nach langer
Pause. Dann erstarrte er. Nicht weit von ihnen entfernt saß ein
Hase im Gras der Lichtung, machte Männchen, mit spielenden
Ohren, und äugte... Langsam, ganz vorsichtig brachte Holt das
Gewehr in Anschlag. Er mußte sich zur Ruhe zwingen, er zielte
sorgfältig. Gomulka hielt den Stutzen schußbereit an der
Wange, um zu feuern, wenn Holt fehlte. Dämmerlicht, nicht zu
tief abkommen! Der Kopf mit den langen Ohren stand zitternd
auf der Visierlinie. Als der Schuß peitschte, sprang der Hase
hoch und blieb liegen. Im gleichen Augenblick aber brach,
greifbar nahe, ein großes Tier aus dem Gebüsch und flüchtete
in langen, federnden Sätzen über die Lichtung. „Schieß!“ schrie
Holt. Da donnerte schon der Stutzen. Gomulka verschwand in
einer stinkenden Rauchwolke. Das Echo rollte durch den Wald.
Gomulka war aufgesprungen. Er stand vornübergeneigt und
schob in fieberhafter Eile eine neue Patrone in den Lauf. Aber
das große flüchtende Tier verschwand jenseits der Lichtung im
Wald. „Los! Lauf doch!“ rief Holt. „Ein Reh war das, oder gar ein
Hirsch!“ Sie hetzten über die Lichtung, setzten im Sprung über

74
den Bach. Am Waldrand rief Gomulka triumphierend: „Hier!“
Eine große versickernde Blutlache, eine breite Blutspur, die
plötzlich endete. „Dort, das Gebüsch!“ Sie teilten mit beiden
Armen die Zweige. Da brach es schon wieder aus den
Sträuchern, ein Schatten taumelte davon, zum Greifen nahe.
Aus dem Gebüsch, wo das angeschossene Wild gelegen hatte,
führte die dunkle Blutspur weiter. Gomulka hielt Holt in jähem
Schreck am Arm fest: „Dort!“
Etwa dreißig Meter vor ihnen, zwischen den Büschen, von der
Dämmerung verhüllt, richtete sich das Tier noch einmal
mühsam auf die Vorderläufe und wandte ihnen den Kopf mit
dem mächtigen Geweih zu. Gomulka kniete, das Gewehr im
Anschlag. Es dünkte Holt eine Ewigkeit, bis der Schuß knallte
und das Echo sich in den Wipfeln verfing. Der beißende
Geschmack des verbrannten Schwarzpulvers füllte Holt Mund
und Nase. Der Hirsch sank zusammen. Gomulka ließ den
Stutzen fallen, sprang auf und begann ein Jubelgeschrei.
„Still! Wenn jetzt jemand kommt!“ Sie standen unbeweglich
und horchten. Kein Laut regte sich. „Wer soll denn hier
kommen? Die Männer sind im Krieg, und die Weiber haben
Angst im Wald.“ Er hob den Stutzen auf und schob eine
Patrone in den Lauf. Dann standen sie bei dem verendeten
Wild. Der Hirsch hatte im Todeskampf mit dem starken Geweih
den Boden zerwühlt und lag nun auf der Seite. Gomulka zählte
die Enden. „Zwölf“, sagte er, „also ein guter, ein jagdbarer
Hirsch... Und weidgerecht erlegt... Er hätte uns auch verludern
können, wo wir keinen Hund haben!“ Das erste Geschoß war
hinter dem Schulterblatt in die Flanke gedrungen. Das zweite
hatte den Hals dicht unterhalb des Kopfes durchschlagen. „Ich
hab’s vorhin gleich gewußt, daß ich gut abgekommen bin“,
sagte Gomulka zufrieden, „er ist mir richtig in die Kugel
hineingesprungen...“ Holt lief zurück und holte den Hasen.
Dann schleppten sie den Hirsch tiefer in den Wald zwischen
das Eichengebüsch. „Das sind gute zwei Zentner, ein schönes
Gewicht!“ – „Der Jäger sagt niemals ,schönes Gewicht’ beim
Hirsch“, verbesserte Gomulka. „Es heißt gut, prächtig oder brav,
auch beim Geweih. Und wer sich gegen die
Weidmannssprache vergeht, wird zur Strafe über einen

75
jagdbaren Hirsch gelegt und erhält drei Pfunde mit dem Blatt.“ -
„Was, wie?“ fragte Holt. - „Drei Schläge mit dem Weidmesser.
Dazu sagt der Oberjägermeister beim ersten Pfund: Jo ho, das
ist für meinen gnädigen Fürsten und Herrn!’ Beim zweiten: Jo
ho, das ist für Ritter, Leute und Knecht!’ Und beim dritten: ,Jo
ho, das ist das edle Jägerrecht!’“
Holt lachte. Aber sie konnten sich nicht entschließen, die
Beute zu zerteilen. „Hast du schon mal ‘n Hirsch aus der Decke
geschlagen? Das schaffen wir nicht. Wir müssen ihn
wegschleppen.“ Sie vergruben das Blut am Waldrand und im
Gebüsch, fällten eine junge Tanne und zogen den Stamm
durch die zusammengebundenen Läufe. „So geht es“, meinte
Gomulka. „Im Krieg werden wir manchmal noch schwerer
schleppen“, sagte Holt.
Gomulka entzündete ein kleines Feuer. Sie brieten den
Eichelhäher über der offenen Flamme, und da er kaum größer
als eine Taube war, spießten sie auch den Hasen auf einen
Stecken und ließen ihn über der Glut schmoren.
Es war Nacht. Holt breitete seine Zeltbahn aus und legte sich
nieder, den Kopf gegen den Hirsch gelehnt. Gomulka hockte
ihm zur Seite und versorgte das Feuer. Die Flamme zischte,
wenn das Fett in die Glut tropfte. Zwischen den Wipfeln der
Bäume stand Stern an Stern.
Holt schaute in den Himmel, wie vor ein paar Tagen, am
Fenster einer fremden und dunklen Kammer, in jener Nacht.
Eigentlich hab ich sie längst vergessen. Und wenn ich
zurückdenk, dann seh ich ein anderes Gesicht... „Du hast da
vorhin was gefragt“, sagte er. „Ich hab es gar nicht gewollt, dort
im Gasthof. Ich wollte es; aber ich wollte es nicht so! Und doch
hätte ich mich mein Lebtag einen Feigling genannt. Ich weiß bis
heut noch nicht, ob ich mich schämen muß.“
Gomulka stocherte mit einem Ast in der Glut. „Ich hab früher
gedacht, es könnte wie in den Büchern sein“, fuhr Holt fort.
„Alles aus Liebe und so. Wie bei Novalis. Kennst du das? Sie ist
eine Königstochter, die Schönste im Land, und er ist ein ganz
armer Hund, ein Dichter, der mit seinem Vater im Wald lebt; der
Vater ist kolossal gelehrt, so ‘n halber Weiser. Die beiden lieben
sich heimlich. Eines Tages gehn sie spazieren, und da kommt

76
ein Unwetter, und sie müssen in eine Höhle flüchten, wo’s dann
auch prompt passiert, aus Liebe natürlich. Aber sie traut sich
nicht mehr zum König ins Schloß und bleibt bei dem weisen
Mann und seinem Sohn. Der König läßt das ganze Land
absuchen, umsonst. Nach einem Jahr bringt sie der junge Mann
dann nach Hause, da hat sie ‘n Baby, und der Dichter hat aus
der Geschichte ein Lied gemacht und singt es dem König vor.
Der ist ganz unbeschreiblich gerührt, und er verzeiht ihnen. Ich
finde so was schön. Aber die Wirklichkeit ist ganz anders.“
„Gib mal das Salz her“, sagte Gomulka. „Hast du solche
Gedanken öfter?“ Er nahm den Hasen vom Feuer, teilte ihn und
reichte Holt einen Fetzen des dampfenden Fleisches. „Ich bin
gespannt“, sagte Holt, während er mit den Zähnen das Fleisch
von den Knochen riß, „ob es im Leben mit allen... Idealen so ist
wie mit Novalis und der Wirklichkeit. Liebe, das hat mich immer
ganz feierlich gestimmt. Aber es ist gar nicht feierlich, es ist...
ganz anders. Mir ist auch immer so erhaben zumut, wenn ich
die Morgenfeiern der HJ im Radio hör, am Sonntag. Neulich
hab ich von den jungen Kriegsfreiwilligen gehört, von diesem
berauschenden Hochgefühl der Hingabe, wenn man sein Leben
fürs Vaterland opfert... Oder in diesem Büchlein ,Die Stimme
der Ahnen’ von Sörensen, das uns der Knack neulich
mitgebracht hat; Ekke hieß der Freiwillige, von dem da erzählt
wird. Es hat sich mir wörtlich eingeprägt, wie er geschildert wird:
,halbaufrecht emporgeworfen die Handgranate mit einem
Jauchzen in das Maschinengewehrnest schleudernd. Und im
Schwung noch von der Kugel getroffen und niedersinken mit
dem letzten Gedanken:... das Beste für Deutschland...’“
„Schmeiß den Dreck ins Feuer“, sagte Gomulka, „keine
Knochen rumliegen lassen! Die Asche graben wir nachher ein...
Und da denkst du nun, es könnte damit auch so sein wie mit
der Liebe? Wolzow meint, der Krieg ist ganz unpoetisch.
Wissenschaftlich trocken, wie Chemie, sagt er.“ – „Aber wenn
man sich dann durchgerungen hat, zur Todesbereitschaft und
so, wie es bei Beumelburg im ‚Frontsoldat’ steht, kennst du’s?,
dann soll ja erst die wirkliche und echte Begeisterung kommen.“
„Ich denke, in einem Jahr wissen wir’s“, sagte Gomulka. Sie
streckten sich zum Schlafen aus, Kopf an Kopf. „Es gibt vieles,

77
worüber man mit keinem reden kann“, meinte Holt leise. „Ich
dachte früher mal, der Vater wäre dazu da, daß man alles mit
ihm besprechen kann.“ – „Die Alten“, sagte Gomulka, „wissen
nicht, was sie wollen! Erst so, dann so.“

Noch nach Tagen fragte Vetter: „Wie habt ihr das bloß
gemacht?“ – „Eben abgedrückt und heimgeschleppt“, sagte
Gomulka.
Täglich gab es drei Fleischmahlzeiten. Wolzow holte jeden
zweiten Tag Kartoffeln. Tagsüber saß er vor der Höhle,
studierte seine Lehrbücher der Strategie und brütete über
einem Plan, von dem er noch nichts verlauten ließ.
Er war einige Male bei einem weit entfernten Dorf gewesen, in
dessen Nähe er aus einem Acker halbreife Kartoffeln ausgrub.
Die Felder am Wald wurden oft von Schwarzwild heimgesucht,
aber der Vorschlag, dort auf ein Wildschwein zu lauern, wurde
verworfen. Der Schuß mußte im Dorf gehört werden.
Wolzow hatte einen anderen Plan. „Los! Wir halten Kriegsrat.“
Irgendwo, einsam im Wald, lag ein einzelnes, kleines Gehöft,
berichtete Wolzow. „Sie haben einen Hund, einen ziemlich
großen Köter, den muß man abschießen. Dann kann man in
Ruhe ein Schwein aus dem Koben holen!“ Holt erschrak nun
doch. Aber Vetter rief: „Eine Sau? Eine richtige, gemästete
Sau?“ – „Den Hund abschießen, gut“, sagte Holt. „Aber da hast
du zwei Minuten später die Hausbewohner auf dem Hals!“ – „Es
wohnen ja bloß zwei alte Leute dort“, entgegnete Wolzow. „Es
muß ein Forsthaus sein. Die Leute halten zwei Kühe und ein
paar Schweine. Drei von uns stechen die Sau ab und schleifen
sie weg, zwei Mann halten unterdessen die Alten in Schach.
Man kann es auch am Tage machen, wenn die beiden aufs
Feld gefahren sind. Sie haben einen Weizenacker, ziemlich weit
weg. Ich arbeite es bis in kleinste aus.“
Holt hörte sich das schweigend an. Der Plan lockte, denn er
war abenteuerlich. Immerhin: Einbruch, Raub, bewaffneter
Raub sogar... Er sagte sachlich: „Darauf steht Zuchthaus!“
Zemtzki schaute Holt erschrocken an.
„Pfeif auf Zuchthaus! Erst müssen sie uns haben!“ sagte
Wolzow.

78
„Requirieren... beim Bauern requirieren“, sagte Vetter eifrig,
„das ist im Krieg so Sitte! Mein Vater hat mal erzählt, daß die
Wehrmacht in der Ukraine... in so einem Dorf... aus sämtlichen
Gehöften das Vieh rausgeholt hat, nicht bloß eine Sau, und das
wurde dann verladen. Die Leute mußten sich das gefallen
lassen. Und wo sie nicht mitgemacht haben, da wurde alles an
die Wand gestellt.“ – „Da siehst du ja, wie man so was macht!“
sagte Wolzow. „Es ist eine gute Nervenprobe für später. Man
muß alles, was vorkommen kann, schon mal durchexerziert
haben.“
Holt wurde ein Gefühl der Sorge nicht los. Aber Wolzow die
Gefolgschaft aufzukündigen kam nicht in Frage. „Ich mach
natürlich mit“, sagte er. Dabei überlegte er schon, wie man den
Folgen begegnen könne. Er machte sich nichts vor: er hatte
Angst. „Ich setz mich mal einen Tag lang mit dem Fernglas auf
eine Kiefer“, hörte er Wolzow sagen, „und spionier alles aus.
Die Operation wird erstklassig vorbereitet.“
Holt traf sich mit Peter Wiese. Er verließ das Lager unter dem
Vorwand, am Fluß Nachtangeln zu legen.
Wiese brachte allerhand Neuigkeiten. Das Verschwinden der
fünf Jungen war noch nicht bemerkt worden. In der Stadt
glaubte man sie beim Ernteeinsatz, und Wurm mochte seine
Meldung noch nicht an den Bann geschickt haben. „Der
Meißner“, erzählte Wiese unter anderem, „liegt im Krankenhaus
und konnte nicht einrücken. Er ist beim Klettern am
Rabenfelsen abgestürzt. Aber man munkelt, daß ihn der
Verlobte von der rothaarigen Suse so verdroschen hat, weil er
immer hinter ihr her war.“ Holt verzog das Gesicht, er fühlte sich
erleichtert.
„Der Duce ist zurückgetreten“, erzählte Wiese nun. „Er hat
Badoglio zu seinem Nachfolger ernannt. In einem Aufruf hat
Badoglio erklärt, daß der Krieg weitergeht. Im Rundfunk hat es
geheißen, das deutsche Volk nimmt diese Erklärung zur
Kenntnis.“ – „Komisch“, sagte Holt befremdet, „verstehst du
das?“ Peter Wiese hob die Schultern. Später sagte er: „Sie
haben eine Woche lang ununterbrochen Hamburg bombardiert,
jede Nacht.“ Holt dachte flüchtig an seine Verwandtschaft und
hörte Wieses Stimme: „Es soll grauenhaft sein... der

79
Phosphor... furchtbare Wunden. Körper zu schwarzen Strünken
verbrannt...“
Er nächtigte am Fluß. Er dachte: Vielleicht werden wir an
einem solchen Brennpunkt des Luftkrieges eingesetzt... Am
Morgen holte er die Nachtangeln ein und trat mit ein paar
kleinen Aalen den Rückmarsch an.

Das Leben war anstrengend. Jeder Tropfen Wasser wollte in


einer halsbrecherischen Klettertour vom Bach heraufgeholt
sein. Holt und Gomulka durchstreiften die Wälder. Sie
erbeuteten Hasen und Wildhühner. Bei den ausgedehnten
Pirschgängen freundeten sie sich mehr und mehr miteinander
an.
Wolzow hatte einen Tag lang das Forsthaus belauert, und nun
saß er vor der Höhle und dachte über einen Feldzugsplan nach.
Wenn Holt das bevorstehende Abenteuer einfiel, vertiefte sich
seine Sorge. Aber er sprach zu keinem davon, auch nicht zu
Gomulka, während er mit ihm im Walde am Feuer nächtigte. Er
überlegte hin und her. Wenn Wolzows Plan mißlang oder wenn
sie hinterher gefaßt wurden, dann konnte sie keiner, auch nicht
Wolzows Onkel mit seinen weitreichenden Verbindungen, vor
Strafe bewahren. Es galt also, einer solchen Strafe
vorzubeugen. So reifte der Gedanke heran, bei Wolzows Onkel
rechtzeitig und vorerst heimlich Rückendeckung zu suchen.
Er traf sich wieder mit Wiese. Nun wurden sie in der Stadt
vermißt. Die Polizei, erzählte Wiese, habe bei einigen
Mitschülern angefragt, ob sie etwas von einem
Urlaubsreiseplan der fünf wüßten. Offenbar forschte man erst
bei den Verwandten der Jungen nach, denn den
Erkundigungen der Polizei, so meinte Wiese, fehle der richtige
Nachdruck... Der Rechtsanwalt Gomulka, zum Beispiel,
vermutete Sepp bei seinem Bruder, der als Zahnarzt in Dresden
lebte und zur Zeit irgendwo in einem Wochenendhaus den
Sommer verbrachte. Holt kehrte diesmal ziemlich beruhigt zum
Lager zurück.
Am Abend saßen sie am Feuer und unterhielten sich. Vetter
schwätzte: „Früher gab es eine richtige Seeräuberrepublik im
Atlantik. Ich hab mal davon gelesen, die hießen Fli-bus-tier. Das

80
wär was für mich gewesen. Da hätte meine Sippe mal
versuchen sollen, mich immerfort zu hauen!“
Holt erhob sich. Er hörte nicht auf Vetters Gerede. Seit er hier
in den Bergen hauste, war die Erinnerung an Uta Barnim nicht
verblaßt. Jetzt war sie so stark, daß er Block und Füllfederhalter
aus dem Rucksack kramte und im Schein des Feuers einen
Brief an sie schrieb, verworrene, ungestüme Zeilen. Als er sich
wieder mit Wiese traf, gab er ihm den verschlossenen
Umschlag. Dann wartete er ungeduldig auf das nächste
Zusammentreffen am Fluß. Und da Wolzow nun eifrig den
Einbruch ins Forsthaus vorbereitete, verdichtete sich Holts
Gedanke, mit Utas Unterstützung Wolzows Onkel zu Hilfe zu
rufen.
Am Fluß, bei dem verabredeten Treffpunkt, badete er in einem
verschilften Wasserarm. Dann warf er die Angelschnüre aus
und fing ein paar Barsche. Er trug eine Handvoll Kartoffeln bei
sich, entzündete ein winziges Feuer und legte sie rings um die
Flammen. An einem Holzstecken hielt er unterdessen einen der
Barsche über die Glut. Als er gegessen hatte, legte er für die
Nacht die großen Aalhaken. Erwartungsvoll saß er am Feuer,
rauchte eine Zigarre und blickte über den Teich, der still und
bewegungslos in der Abendsonne lag. Endlich kam Wiese.
Er reichte Holt eine Zeitung. Holt überflog hastig die Notiz.
„Fünf Oberschüler zwischen sechzehn und siebzehn Jahren...
Verschwinden erst sehr spät bemerkt... Ernteeinsatz der HJ...
Wie der Leiter des Kommandos angab, schon nach wenigen
Tagen desertiert... Kreiskriminalamt vermutet einen
organisierten Ausbruch aus der elterlichen Erziehungsgewalt...
und verfolgt eine bestimmte Spur...“
„Eine bestimmte Spur...“, sagte Holt nachdenklich, während er
die Zeitung einsteckte. „Mein Vater hat mit dem Jugendrichter
gesprochen“, berichtete Wiese. „Sie wissen gar nichts.“ Holt
atmete auf. „Hast du den Brief eingeworfen?“
„Ja. Vorgestern war Uta bei meiner Schwester. Sie haben von
euch gesprochen. Von dem Brief hat sie kein Wort gesagt. Daß
ihr hier in den Bergen steckt, daran denkt niemand. Uta hat
gesagt: Die Polizei sollte ruhig abwarten, bis ihr wiederkommt.“

81
„Ob sie sich hier mit mir treffen würde?“ fragte Holt. Wiese
überlegte. „Ich glaube, ja. Sie spricht gut von dir.“
Holt bemühte sich, ein gleichgültiges Gesicht zu ziehen. „Ich
muß sie dringend sprechen. Bring sie das nächste Mal mit. Am
Sonntag abend. Geh erst am Nachmittag hin, vorsichtshalber,
dann hat sie keine Gelegenheit mehr, uns zu verpfeifen.“
Als er wieder allein war, sah er nach den Nachtangeln, legte
sich nieder und schlief sofort ein. Nachts fiel Regen. Holt zog
sich die Zeltbahn über den Kopf und schlief weiter. Im Lager
erfuhr er, daß Wolzow wieder das Forsthaus beobachtete.
Gomulka sagte: „Morgen geht’s los.“
Es war am späten Nachmittag, als Wolzow den Kriegsrat
einberief. „Der Hund ist...“ Er machte die Gebärde des
Halsabschneidens. Er hatte sich am Waldrand verborgen und
gewartet, bis der Alte aufs Feld fuhr. Der Hund, ein stämmiger
Boxer, lief hinter dem Wagen her. „Er muß mich gewittert
haben, auf einmal kam er durchs Gebüsch. Ich bin getürmt,
immer tiefer in den Wald, der Hund hinterher. Da hab ich ihn in
einen Knüppel beißen lassen und mit dem Fahrtenmesser
abgefangen.“ Er erzählte es ganz ruhig. Dann schilderte er
ausführlich seinen Plan. Der Hof mit seinen Gebäuden bildete
ein Rechteck. Wohnhaus und Stall mit Schuppen standen
einander gegenüber. In einer Mauer befand sich das Hoftor.
Hinter dem Stall, in einem umzäunten Freigehege, liefen
tagsüber die Schweine herum.
„Wir erledigen es am Tag“, sagte Wolzow. „Die Alten fahren
früh gegen sieben auf den Weizenacker und kommen erst
gegen Mittag zurück. So lange ist der Hof unbewacht. Werner,
du und ich, wir passen auf, daß wir nicht überrascht werden.
Der Sepp macht mit Fritz und Christian die Sau fertig und
transportiert sie ab.“ Wie Wolzow es sagte, war das ganz
einfach.
„Sollen wir das Schwein etwa schlachten, oder kann ich den
Stutzen nehmen?“ fragte Gomulka. – „Nimm den Stutzen. Such
dir nicht das größte aus. Und dann die Beine zusammenbinden,
wie ihr das mit dem Hirsch gemacht habt. Wenn das Schwein
im Wald ist, schickt Sepp einen Mann zurück, und wir kommen
nach.“

82
Am anderen Morgen reinigten Holt und Wolzow die Pistolen.
Gomulka pflegte seinen Stutzen. Vetter und Zemtzki schlugen
sich einen Pfahl zurecht. Tief in der Nacht brachen sie auf.
Beim Morgengrauen kamen sie ans Ziel, verbargen sich im
Gebüsch, bis sie den mit zwei Kühen bespannten Erntewagen
davonfahren sahen. „Hoffentlich haben sie nicht ‘n neuen Köter,
und er beißt mich in ‘n Arsch!“ sagte Vetter. „Ich klettere als
erster über die Mauer und öffne das Tor“, bestimmte Wolzow.
Sie warteten noch eine Stunde. Dann schwärzten sie sich die
Gesichter mit zerstoßener Holzkohle. Wolzow ging voran. Sie
warteten vor dem Hoftor.
„Hund haben sie keinen!“ flüsterte Wolzow. „Sonst hätte er
schon Laut gegeben!“ Er sprang das Tor an wie eine
Eskaladierwand. Da sieht man mal, wozu die Schinderei auf der
Hindernisbahn gut war, dachte Holt. Eine Gans schrie. Das Tor
flog auf. Wolzow rief etwas Unverständliches und deutete nach
rechts. Vielstimmiges, entnervendes Gänsegeschrei antwortete.
Holt stand hinter dem aufgebrochenen Tor; als er sich
umwandte, sah er drei Gestalten über den Hof rennen, zu den
Ställen hin. Wolzow umkreiste das Gehöft. Das Lärmen der
Gänse und auch ein schrilles Quieken aus dem Schweinestall
drangen an Holts Ohr. Da donnerte der Tirolerstutzen, und Holt
atmete auf. Er merkte, daß er schweißnaß war. Noch immer
lärmten die Gänse. Endlich rief Wolzow: „Werner... komm!“ Holt
sprang aus dem Hoftor. Draußen stand Wolzow und half ihm
die Torflügel schließen. Dann kam Vetter gelaufen und rief:
„Eine Prachtsau haben wir, eine prima Sau!“
Die Aufregung entlud sich in krampfhaftem Lachen... Im Wald
stießen sie auf Zemtzki und Gomulka, die mit der Beute
warteten. Das Schwein war in ein paar zusammengeknöpfte
Zeltbahnen gewickelt; aus dem grauen Bündel schauten nur die
zusammengebundenen Schweinsfüße. Sie nahmen den Stamm
auf die Schultern. Zu viert schleppten sie die Last zum Lager.
Zemtzki hatte sich das Schweineschwänzchen als Trophäe an
die Mütze gesteckt.

Neblige, trübe und kühle Tage folgten, über den Bergen hing
die Wolkendecke grau und dicht. Es regnete stundenlang.

83
Vetter briet ununterbrochen Fleisch. Eine tiefe, sauber
ausgewaschene Felsmulde in der Höhle war mit Fett
ausgegossen. Endlich brauchten Holt und Gomulka nicht mehr
täglich auf die Jagd zu gehen.
Draußen goß es in Strömen. Holt saß am Feuer, der Rauch
zog durch den Schacht ins Freie.
„Hast du die leere Hülse liegenlassen?“ fragte Wolzow
plötzlich. Holt dachte: Aha! Er grübelt also auch über die Folgen
nach! „Nein. Ich bin doch kein Anfänger“, antwortete Gomulka.
„Jedenfalls haben wir für die nächste Zeit ausreichend zu
essen“, sagte Wolzow und steckte sich eine Zigarre an, „da
schieben wir hier eine ruhige Kugel.“
„Wenn sie diese... Geschichte mit der Sau nur nicht mit uns
fünf in Verbindung bringen“, sagte Holt. Er zögerte einen
Augenblick, ehe er fortfuhr: „Denn im Kreisblatt hat folgendes
gestanden.“ Er zog die Zeitung aus der Tasche und las die
Notiz vor. Dann sagte er: „Nun vermuten sie uns bestimmt hier
irgendwo in den Wäldern.“
„Die Wälder sind groß“, sagte Wolzow. Dann erst stutzte er.
„Verdammt, wo hast du das her?“ – „Von Wiese.“ – „Von
Wiese?“ Wolzow sah Holt überrascht ins Gesicht. Gomulka hielt
im Gewehrreinigen inne und legte den Stutzen neben sich auf
den Boden. Holt sagte: „Ich treff mich manchmal mit ihm am
Fluß.“
Wolzow dachte lange nach. „Eigentlich gar nicht so schlecht“,
knurrte er schließlich. Daß er die Heimlichkeit so ruhig hinnahm,
wunderte Holt. Er sagte rasch und wie beiläufig: „Und morgen...
treff ich mich mit Uta Barnim.“ Wolzow legte den Kopf zur Seite
und überlegte wieder. „Red mal weiter. Du hast doch was vor.“
„Ich will sie fragen, ob sie zu deinem Onkel fährt. Sie müßte
ihm am besten alles sagen.“
Wolzow kaute an seiner Unterlippe. Er überlegte lange. „Onkel
Hans wird furchtbar fluchen, aber es ist eine brauchbare Idee...
Ob ich ihm schreib?“ – „Du wirst doch kein schriftliches
Geständnis abgeben!“ rief Gomulka. Wolzow stand auf. „Ich
überschlaf’s noch.“
Als Gomulka sich neben Holt zum Schlafen niederlegte, sagte
er: „Hast du’s gesehen? Gilbert hat richtig aufgeatmet!“

84
Am Sonntagmorgen frühstückte Wolzow ein kopfgroßes Stück
Fleisch. Er biß mit seinen starken Zähnen auf die Knochen, daß
es knirschte. „Dann geh mal“, sagte er. „Hoffentlich verpfeift sie
uns nicht.“ Holt blickte zum Himmel. Endlich riß die
Wolkendecke auseinander. Er machte sich auf den Weg.
Noch sorgfältiger als sonst suchte er das Sumpfgelände rings
um den Treffpunkt ab, die Schilffelder und Weidenbüsche. Er
schleppte die Zeltbahn voll Reisig aus dem nahen Wald in sein
Versteck. Am Feuer aß er ein Stück Schweinefleisch, das ihm
Vetter mitgegeben hatte. Langsam wurde es Abend.
Er ließ das Feuer niederbrennen und legte einen Kloben auf,
der nur langsam verglühte. Dann wartete er am Waldrand. Als
er Uta kommen sah, auf dem schmalen Rasenpfad zwischen
Wald und Niederung, wurde ihm bewußt, wie aufgeregt er war.
Er trat aus dem Gebüsch, und sie begann zu lachen. „Sie
spielen also tatsächlich noch Indianer!“
Holt ärgerte sich. „Hau mal ‘n bißchen ab, Peter“, sagte er.
„Warte beim Eichenholz, ja?“ Wiese ging gehorsam den Weg
zurück. „Wir müssen uns verstecken.“ Er drang in das
Weidengebüsch ein und hielt für sie das Geäst zur Seite.
Zwischen den Sträuchern war es dämmrig. Die glühenden
Holzkohlen leuchteten. Er legte seine Decke auf den Boden.
Sie setzte sich ans Feuer und sah ihm belustigt zu, wie er eine
Zigarre aus der Kartentasche kramte und große Rauchwolken
ausstieß. Sie begann wieder zu lachen.
„Im Wald Indianer spielen!“ Er fühlte, wie er errötete, und
sagte: „Wir haben eben dieses langweilige zivile Leben satt!
Verstehen Sie das nicht?“ – „Eigentlich hätte ich Sie für
vernünftiger gehalten“, erwiderte sie.
„Wir haben einen Hirsch geschossen“, erzählte er, und er
setzte, auf einmal recht kleinlaut, hinzu: „Dann haben wir was
Schreckliches angerichtet... Wir haben aus einem Gehöft ein
Schwein geraubt.“
Sie erschrak. „Was reden Sie!“
Er versuchte, sich zu rechtfertigen, aber der Trotz überzeugte
nicht einmal ihn selbst. „Mit dem Kompaß durch den Wald.
Wozu haben wir das gelernt? Und Schießen; oder die
Eskaladierwand, an der sie mich schon im Jungvolk gedrillt

85
haben... Das haben wir hier alles mal durchprobiert.“ Er schaute
mißtrauisch auf Uta.
Sie sah ihn nachdenklich an. „Bitte...“, sagte er leise, beinahe
kläglich, „fahren Sie nach Berlin zu Generalmajor Wolzow.
Wenn Sie alles erzählen, hilft er uns, daß wir nicht eingesperrt
werden.“
„Eigentlich“, entgegnete sie, „sollten Sie Ihre Untaten allein
ausbaden.“ Das Wort „Untaten“ war wieder der blanke Spott.
„Was haben die denn davon, wenn sie uns einsperren?“ meinte
Holt. „Die solln uns endlich in den Krieg lassen. Da ist das doch
alles erlaubt.“ Sie schüttelte den Kopf. „Erzählen Sie mir alles.
Die ganze Geschichte, von Anfang an.“ Holt erzählte. Sie sagte,
als er fertig war: „Gut. Ich fahre. Aber...“ – „Was aber?“ –
„Nichts.“ Sie erhob sich. Er ging neben ihr her, den schmalen
Pfad zwischen Sumpf und Wald entlang; er schob die Hand
unter ihren Oberarm. Sie duldete es. „Ich bin Ihnen so
dankbar...“, begann er stockend. Sie spottete:
„Sentimentalitäten stehen dem Bandenräuber schlecht an!“ –
„Ich denk immerfort an Sie...“, sagte er beharrlich, „Tag und
Nacht denk ich an Sie...“ – „Und wenn Sie mit Ihrem
Räuberdasein in den Bergen eins erreicht haben“, erwiderte
sie, „so dies, daß ich gleichfalls öfter an Sie denken muß.“ Er
zog ihren Oberarm fester gegen seine Brust. „Sie haben mich
ganz durcheinandergebracht...“ – „Was Peter sicherlich sehr
interessieren wird“, sagte sie lachend. Tatsächlich, da saß
Wiese am Waldrand. Kühl und distanziert sagte sie: „Nächsten
Samstag, am gleichen Platz.“

„Ich glaube, es ist bald Schluß mit dem Leben hier“, sagte
Gomulka. „Eigentlich schade, nicht?“ Holt gab keine Antwort. Er
war eine Nacht lang allein durch den Wald gestreift, von einer
neuerlichen, quälenden Unruhe erfüllt. Sein Interesse am
Lagerleben, an Jagd und Fischfang war erloschen. Ich hätte
jeden Tag Uta besuchen können, dachte er... Er gab sich
uferlosen Tagträumen hin, wenn er faul in der Sonne lag. Er
liebte es, früh aufzustehen.
Am Samstagmorgen lief er vor Sonnenaufgang aus der Höhle,
kletterte durch die Felsen und legte sich in den eiskalten Bach.

86
Dann brach er auf. Er verbarg sich am Fluß im Weidengehölz
und schlief bis zum Abend.
Er las in Utas Gesicht, daß sie Erfolg gehabt hatte.
Sie ließen Wiese warten und liefen am Waldrand entlang.
„General Wolzow hat getobt“, erzählte sie. „Dann hat er wohl
eingesehen, daß er seinen einzigen Neffen nicht im Gefängnis
enden lassen kann. Er will mit dem Oberstaatsanwalt
telefonieren und dieser Tage herkommen. Nächste Woche
sollen Sie sich der Polizei stellen.“ – „Das ist ja nun keine sehr
angenehme Lösung“, sagte Holt mißmutig. „General Wolzow“,
entgegnete Uta streng, „hat gesagt: Wenn Sie sich nicht seiner
Anweisung fügen, verliert er das Interesse an seinem Neffen
und macht keinen Finger mehr krumm.“ Sie faßte Holt am Arm.
„überreden Sie die anderen! Der General sorgt bestimmt dafür,
daß Ihnen nichts geschieht. Aber nun machen Sie endlich
Schluß mit dieser... versetzten Romantik. ,Und noch etwas
Wichtiges.“ Sie sprach leise und eindringlich. „Sie dürfen den
Überfall auf den Hof nicht zugeben! ,Das sind die Jungen nicht
gewesen!’ hat der General gesagt, denn eine solche Affäre
könne auch er nicht geradebiegen. Sie müssen leugnen und
leugnen, falls man es Ihnen überhaupt zur Last legen sollte.“
Dies alles interessierte Holt schon gar nicht mehr. Das
Abenteuer war Vergangenheit. Die Gegenwart war Uta. Die
Zukunft war der Krieg.
Er schaute zur Seite. In den letzten Wochen war viel
geschehen. Ein verzauberter Augenblick, eine ländliche Nacht,
und der Schleier war endgültig zerrissen. Sie ging neben ihm,
ihre Schönheit war keine Aureole mehr, die sie unnahbar
machte. War sie nicht aus Fleisch und Blut wie er? Er faßte ihre
Hand, und sie ließ es geschehen. „Schönen Dank auch...“,
sagte er, unbeholfen. „Hoffentlich... haben Sie nun keine gar zu
schlechte Meinung von mir!“
Sie warf einen flüchtigen Blick auf ihn. Er sagte: „Damals, bei
Wieses... Ich dachte, man darf Sie nur von ferne bewundern...
Sie dürfen es mir nicht übelnehmen, wenn ich...“
„Still!“ rief sie. „Was fällt Ihnen ein?“ Und sie entzog ihm ihre
Hand.

87
Am Wege saß Peter Wiese, erhob sich und putzte ein wenig
Erde von seiner Kleidung. „Vergessen Sie nicht: am
kommenden Donnerstag“, sagte sie. Schon war sie um die
Biegung des Weges verschwunden.
Holt sah ihr erschrocken nach.

Reumütige Rückkehr in die Stadt, freiwillige Auslieferung bei


der Polizei... ein bißchen kläglich, dieses Ende, was?“ sagte
Gomulka. Auch Holt hatte sich alles anders vorgestellt
Wolzow hatte nur eine Sorge: „Wenn sie das Gepäck
durchsuchen, sind die Pistolen hin!“ Er begoß sie schließlich mit
Waffenöl, wickelte sie in eine Zeltbahn und versteckte das
Paket im Steinbruch. Vetter schlang seit einer Woche nichts als
gebratenes Fleisch in sich hinein. „Kein Knöchelchen laß ich
übrig“, schwur er. Gomulka erhob sich und nahm den Stutzen.
„Kommst du mit?“ In der Schlucht verschossen sie die letzte
Munition. Sie waren sichere Schützen geworden. In der letzten
Nacht saßen sie am Feuer. Wolzow, Vetter und Zemtzki
schliefen. „Abschiedsstimmung“, sagte Gomulka. „Da geht aber
bißchen mehr zu Ende als bloß das Abenteuer“, erwiderte Holt.
„Die Schulzeit, ein ganzer Lebensabschnitt.“ Gegen drei Uhr
weckten sie Wolzow und die anderen, löschten das Feuer und
trugen das Gepäck zum Fluß. Am frühen Nachmittag stießen
sie den beladenen Kahn vom Ufer ab. Gomulka saß im Heck
und steuerte. Sie trieben mit der Strömung.
Sie legten bei der Badeanstalt an. Die Rückkehr söhnte mit
dem kläglichen Ende des Abenteuers aus. Die Leute liefen
zusammen. Da kamen sie, verdreckt, bartstoppelig, bewaffnet
und beladen, polizeilich gesucht, gewissermaßen mit einem
Steckbrief bedacht. Nur Vetter zitterte, vor der Rache seiner
Sippe. Das Gepäck verstauten sie in Holts und Wolzows
Badekabinen, dann drängten sie sich durch die Menge und
meldeten sich bei der Polizei.
Sie wurden in eine große Zelle gesperrt. Vergitterte Fenster,
sechs Holzpritschen, ein Kübel. Vetter teilte Karten aus.
88
Am anderen Tag wurden sie dem Richter vorgeführt. „Den
kenn ich“, flüsterte Gomulka, „das ist der Jugendrichter!“ Groß
und dick saß er hinter einem mächtigen Schreibtisch,
kahlköpfig, fetten Gesichts, und musterte die fünf Jungen durch
die randlose Brille, wohl eine Minute lang.
„Pfui Teufel!“ sagte er. „Das Vaterland kämpft, blutet, leidet.
Fünf junge Menschen desertieren! Treiben sich rum! Pfui
Teufel! Fahnenflucht vorm Ernteeinsatz! Herumtreiberei!
Wilddiebstahl! Jagdfrevel! Tierquälerei!... Zemtzki!“ schrie er,
mit einem Blick in die vor ihm liegende Akte. „Gestehen Sie!
Wer hat das alles angestiftet?“
„Bitte...“, sagte Zemtzki flehend, und seine blauen Augen
blickten unschuldsvoll. „Ich gestehe alles. Ich bin es gewesen!
Aber ich bin es nicht allein gewesen, die anderen sind es auch
alle gewesen!“
„Pfui Teufel!“ sagte der Richter abermals und schüttelte den
kahlen Kopf. „Wolzow! Was haben Sie sich dabei gedacht? Ihre
Mutter liegt im Krankenhaus! Ihr Vater ist für Führer und Reich
gefallen! Ihr Onkel steht in vorderster Front! Und das
Früchtchen treibt sich herum und wildert! Pfui Teufel! Und kein
bißchen Reue! Unverschämter Blick, freches Gesicht,
aufsässiges Gehabe!“ Er neigte den Kopf tief über das
Aktenstück und begann vorzulesen, ganz schnell: „Die
Jugendlichen Gomulka, Sepp, geboren am 15. Juni 1927, Holt,
Werner, geboren am 11. Januar 1927, Vetter, Christian,
geboren am 30. April 1927, Wolzow, Gilbert, geboren am 23.
März 1927, Zemtzki, Fritz, geboren am 1. Juni 1927, alle hier
ansässig, werden auf dem Wege der Strafverfügung gemäß
Paragraph 328 StPO wegen unerlaubter Entfernung vom
Ernteeinsatz der Hitler-Jugend, Herumtreiberei, Jagdfrevel laut
Paragraph 292 StGB Abs. 1 und 2, Bildung bewaffneter Banden
laut Paragraph 127 Abs. 1 und 2 StGB und wegen ständigen
Vergehens gegen das Gesetz zum Schutz der Jugend mit acht
Tagen Jugendarrest bestraft. Die Täter sind geständig.
Strafmildernd wurde in Betracht gezogen, daß sie in verspäteter
Einsicht der Verwerflichkeit ihres Tuns sich selbst dem Gericht
gestellt haben. Gegen diese Strafverfügung kann Beschwerde
beim Kreisgericht eingelegt werden, auch kann durch

89
schriftlichen Antrag die Entscheidung des Amtsgerichtes
angerufen werden, das dann die Hauptverhandlung ansetzen
wird.“
Er klappte den Deckel zu und sagte: „Sie treten die Haftstrafe
sofort an.“
Später sagte Gomulka: „Warum macht er so ein Theater?
Meint er, das imponiert mir?“ Vetter teilte schon wieder Karten
aus. Wolzow legte sich auf die Pritsche und las in seinem
Taschenbuch.
Am Nachmittag wurde die Zelle geöffnet, und General Wolzow
trat ein. Er winkte mit der Hand, und der Aufseher schloß hinter
ihm die Tür. „Gilbert“, sagte er scharf, „es ist das letztemal, daß
ich deinetwegen als Bittsteller herumgeh! Ich mache keinen
Finger mehr krumm! Verstanden?“ Wolzow erhob sich von
seiner Pritsche, die anderen standen stumm und betreten,
eingeschüchtert durch all das Gold und die Orden an der
Generalsuniform... „Habe dafür gesorgt, daß ihr arbeiten
werdet“, sagte der General versöhnlicher. „Holzhacken,
Schlackeladen.“
Am anderen Tag wurden sie auf den Hof geführt. Sie
zersägten mannstarke Kiefernstämme und spalteten Brennholz.
Während der Arbeit hörten sie von schweren Luftangriffen auf
Berlin. Die Deutschen an Rhein und Ruhr seien das Beispiel,
dem es nachzueifern gelte.

Eine Woche später wurden sie entlassen. Es war ein


schwüler, regenfeuchter Spätsommertag. Die Schwestern
Dengelmann empfingen Holt mit Gezeter und Vorwürfen. Holt
ging auf sein Zimmer. Die Tage der Haft hatten ein Gefühl der
Leere und des Katzenjammers in ihm zurückgelassen. Auf dem
Tisch lagen ein paar Briefe, von seiner Mutter, dazwischen ein
grauer Umschlag, gestempelt: „Frei durch Ablösung Reich“. Er
riß den Umschlag auf. „Sie werden im Rahmen... Dienst als
Luftwaffenhelfer... Schulklasse... haben sich am 14.
September... Großkampfbahn...“
Endlich! Er riß die Tür auf und brüllte durchs Haus: „Es geht
los! Montag geht’s los!“

90
Er lief zu Wolzow. Auf dem Weg dachte er an Uta. Er blieb vor
der Barnimschen Villa stehen. Aber dann fiel ihm ein, wie Uta
grußlos gegangen war, und er lief weiter. Wolzow öffnete, eine
Rotweinflasche in der Hand. Er sagte: „Eben ist es durch den
Rundfunk gekommen, daß Italien am 3. September heimlich
kapituliert hat. Verrätergesindel!“
Holt ließ den Brief sinken. Er erschrak so sehr, daß der Brief in
seiner Hand zitterte.
„Dabei hatten die doch gar keinen Grund“, sagte Wolzow.
„Wenn man mit Großdeutschland verbündet ist, braucht man
doch nicht zu kapitulieren!“ Er drückte Holt die Rotweinflasche
in die Hand. „Prost!“ Dann erzählte er: „In Italien muß allerhand
los sein. Der Duce ist entführt worden, sie haben eine neue
faschistische Nationalregierung ausgerufen, und wir
übernehmen jetzt allein den Schutz der europäischen Küsten...
Komm.“ Er schloß das Haus ab. „Jetzt gehen wir aufs
Wehrbezirkskommando und melden uns freiwillig! Dann zu
Sepp und Christian. Die Einberufung muß gefeiert werden.“
Sie trafen Vetter auf dem Markt, mit Augen, die vom Weinen
gerötet waren. „Mein Alter hat mich ganz furchtbar gehaun“,
sagte er, während ihn noch der Bock stieß, „aber aus Rache
habe ich meiner Sippe sämtliche Raucherkarten geklaut! Hier,
da hol ich mir jetzt ,Attika-Auslese’ oder ,Nil’...“ Sie begleiteten
ihn in einen Tabakladen. Eine Frau, die nach ihnen das
Geschäft betrat, schimpfte ungeduldig: „Beeilen Sie sich doch!
Ich muß nach Hause! Der Führer spricht!“
Die Formalität auf dem Wehrbezirkskommando war rasch
erledigt. Holt, durch die Nachrichten aus Italien deprimiert,
beschloß, nun doch Uta zu besuchen.

Am Nachmittag stand er lange unschlüssig und mutlos vor


dem Haus. Dann klingelte er. Er wurde ins Obergeschoß
geführt. Uta lag in ihrem Zimmer auf der Couch und las. Als
Holt eintrat, blickte sie flüchtig von ihrem Buch auf. „Ach... Die
Strafe schon verbüßt?“
Der frostige Empfang enttäuschte ihn. „Ich wollte... ich
möchte...“ Er sagte hilflos: „Um Verzeihung bitten möcht ich
Sie.“ Er lehnte sich gegen diese Demütigung auf. „Ich war...

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ungehörig, ich dachte...“ Die Auflehnung erlosch, er war bereit,
sich noch tiefer zu demütigen, aber sie lächelte so spöttisch wie
noch nie. „Was reden Sie da? Ungehörig benommen? Nicht
daß ich wüßte.“ Sie erhob sich, das Buch fiel zu Boden. Sie trat
ans Fenster und sah gelangweilt hinaus. „Sie sollten sich nicht
so schrecklich wichtig nehmen, mein Junge.“
Auf einmal stieg Wut in ihm hoch. Er deutete eine Verbeugung
an, dann stand er draußen vor der Tür und sah nicht mehr ihr
erstauntes Gesicht. Als er unten durch die Diele ging, hörte er
sie oben rufen: „So warten Sie doch!“, aber er verließ das Haus.
Nur fort!
In der Halle der Wolzowschen Villa fand er die halbe Klasse
versammelt. „Der wilde Jäger!“ schrie Rutscher, als er Holt
eintreten sah. „Sepp hat grad von dem Hirsch erzählt!“
Holt sah sich um. Er begriff, daß man hier die Einberufung
feierte, mit Schnaps... Das kam ihm recht. Sein Zorn über Uta
war längst verraucht, er war nun todunglücklich.
Alles brüllte durcheinander. „Der Gilbert ist in die Schule
gegangen, und zum Hausmeister hat er gesagt, aus ‘m
Heizungskeller kommt Qualm! Da ist der in ‘n Keller gelaufen,
und Gilbert hat den Schlüssel genommen und ist in ‘n
Chemieraum.“ – „Ich! Ich!“ rief Zemtzki. „Ich war dabei! Der
Gilbert hat die Spritflasche an einem Bindfaden auf ‘n Hof
runtergelassen, und ich bin damit über die Mauer!“ – „Und ich“,
erzählte Wolzow, „bin wieder zum Hausmeister und hab gesagt,
da müßte ich mich wohl getäuscht haben, wenn aus dem
Heizungskeller kein Qualm kam, aber vielleicht kam Qualm aus
dem Keller unter der Turnhalle... Da ist der Kerl gleich wieder
losgetrabt, und ich hab den Schlüssel wieder an ‘n Haken
gehängt und bin ganz gemütlich abgehaun!“ – „Wir haben prima
Likör gemacht, mit fünfzig Prozent!“ sagte Vetter schwerfällig.
Holt setzte die Flasche an die Lippen. Das lauwarme klebrige
Getränk brannte in der Kehle. Er nahm einen zweiten Schluck,
einen dritten... Langsam wurde ihm brennend heiß, es wurde
ringsum weit und hell... Wolzow schleppte Rotweinflaschen
heran. „Trink, Werner!“ Holt trank, alle tranken. Kummer und
Zorn lösten sich. Zum Teufel mit Uta! Jemand brüllte:
„Kameraden! Es geht los!“ Holt trank aus der Rotweinflasche,

92
das Leben war wieder leicht. „Nieder mit Badoglio!“ schrie
jemand. „Wir werden den F-f-führer nie im Stich lassen!“ –
„Niemals“, brüllte Holt, alle brüllten: „Niemaaaals!“ Wolzows
dröhnende Stimme: „Ein Wahrzeichen nur gilt: das Vaterland zu
retten!“ Das ist die Ilias, dachte Holt noch, und ganz fern und
schwach dämmerte die Erkenntnis: Ich bin betrunken... Dann
ging alles durcheinander: Stimmenlärm, Geschrei, Gelächter,
zum Teufel mit Uta... Die Bilder überstürzen sich... die Halle in
Wolzows Villa, eine Straße, Marktplatz, und Wolzow trägt einen
langen, dünnen Kaktus im Knopfloch, einen Kaktus, das ist zum
Totlachen... Zemtzki hat plötzlich einen Zylinder auf, wo hat er
den Zylinder her?... Was grinsen denn die vielen Leute?... Um
Gottes willen, der Bannführer. Und natürlich brüllt er: Schert
euch nach Hause!... Wer faßt mich da am Arm? Wiese? Der
ewige Miesepeter, Drückeberger... Was ist los? Betrunken? Na
ja doch, ich komm ja schon!

Holt erlebte den traurigen Zustand zum erstenmal, und er lag


am nächsten Tag wie betäubt in seinem Bett. Der Kopf
schmerzte. Im Magen war ein übles, rebellisches Gefühl. Er
fand sich nicht zurecht. Die Sonne schien von links ins Zimmer,
also war es früher Nachmittag. Fräulein Dengelmann, Veronika,
die Jüngere, den Kopf voll Lockenwickel, stand am Bett und
brachte Tee. Sie zeterte: „So eine Schande... Mit sechzehn
Jahren stockbetrunken! Und das ganze Stiegenhaus haben Sie
vollgebrochen!“ – „Raus!“ sagte Holt schwach. „Ich bin krank...“
– „Verkatert sind Sie!“ sagte Veronika schadenfroh. „Sie solln
rausgehn!“ rief Holt. Dann war er allein und kostete den heißen
Pfefferminztee. Bruchstücke der Erinnerung fügten sich
zusammen. Was haben wir da bloß angerichtet!
Er stand auf. Wie bin ich ins Bett gekommen? Vor dem
offenen Fenster machte er seine Kniebeugen; es klopfte.
Peter Wiese trat ein. „Wie geht’s dir?“ fragte er.
„Danke...“, brummte Holt. „Mensch... Was ist gestern bloß
passiert?“ – „Ihr wart alle betrunken“, sagte Wiese mit leisem
Vorwurf. „Auf dem Marktplatz seid ihr dem Bannführer in die
Arme gelaufen. Er hat die Polizei holen lassen. Ich kam zufällig

93
vorbei und hab dich grad noch wegbringen können, in dem
Durcheinander hat’s keiner gemerkt.“
„Hab ich mich zu dir recht unverschämt benommen?“ fragte
Holt kleinlaut. „Es geht.“ Wiese lächelte schwach. „Das übliche.
Drückeberger, Leisetreter, Miesepeter.“
„Tut mir aber wirklich leid“, sagte Holt. – „Schon gut.“ Wiese
langte in die Brusttasche. „Uta Barnim hat mich gebeten, dir
einen Brief zu bringen.“
Holt trat zum Fenster und drehte Wiese den Rücken zu.
„Lieber Werner“, stand da in einer energischen Handschrift, „ich
habe Sie gestern nicht kränken wollen, aber es war nicht recht,
daß Sie gleich davongelaufen sind. Nun habe ich von Ihrer
Einberufung gehört. Wenn Sie an Ihrem letzten Wochenende
als Zivilist nichts Besseres vorhaben, so sind Sie herzlich
eingeladen, am Samstag mit mir zu unserem Landhaus
hinauszufahren. Das Wetter verspricht warm zu bleiben. Auch
dort sind die Wälder nicht ohne Schönheit, wenngleich es leider
keine Höhle gibt...“ Er lachte, ihr Spott machte ihn glücklich.
„Kommen Sie also Samstag nicht später als zwölf und lassen
Sie mich durch Peter Ihre Antwort wissen.“
„Was soll ich ihr sagen?“, fragte Wiese. „Ich komm“,
entgegnete Holt.
Wiese ging. Holt überlegte: Blumen muß ich ihr bringen!
Rosen, Astern, Nelken, das hat sie alles selbst. Er erinnerte
sich an Doktor Zickels Orchideenhaus in der Schulgärtnerei. Ich
muß einbrechen, dachte er... Aber als er eine Stunde später
über den Zaun spähte, sah er ein halbes Dutzend Menschen
beschäftigt, und nachts, als er es abermals versuchte, lief eine
große Dogge in der Gärtnerei umher. Dann muß ich eben den
Hund vergiften, dachte er, aber die Orchideen muß ich haben!
Er versuchte es am Sonnabend früh wieder, und tatsächlich
fand er die Treibhäuser unbewacht.
Er hatte schon seine Sachen zusammengepackt, denn die
Schule hatte ihm für den Montagmorgen eine Einladung zur
„feierlichen Verabschiedung der Klasse VII zum
Luftwaffendienst...“ geschickt.

94
Die Schulgärtnerei lag weit draußen. Holt setzte über den
Zaun. Er eilte gebückt zwischen den hohen Spargelbeeten
hindurch zum Orchideenhaus.
Schwüler Duft umfing ihn. Von der Decke hingen Bastkörbe,
aus denen bizarre Gebilde hervorwucherten; auf fauligen
Baumstämmen leuchteten Blüten, auch zwischen Moosen und
Farnwedeln... Er zog das Messer aus der Hose und schnitt sich
die schönsten Blüten ab, langstielige schneeweiße Sterne mit
zartroten Innenblättern: „Paphiopedilum villosum, Our King“, las
er auf dem Schild. Er verließ das Treibhaus und gelangte
unangefochten aus der Gärtnerei.

10

Vor der Barnimschen Villa hielt ein offener Jagdwagen; der


Kutscher hängte den beiden braunen Pferden Futtersäcke um.
Holt klingelte ungeduldig; er nahm zwei Treppenstufen auf
einmal. Uta stand vor dem Spiegel. Er hielt ihr wortlos die
Orchideen hin.
„So etwas Schönes hab ich noch nie gesehn“, sagte sie und
drehte ihm rasch wieder den Rücken zu. Sie kämmte sich. Er
sah ihr zu, wie sie das schwere Haar um den Kopf wand und
feststeckte.
Sie verließen das Haus. Der alte, gebrechliche Kutscher
kletterte wortlos auf den Bock und trieb die Pferde an; der
Wagen rollte die Allee entlang und bog hinter den letzten
Häusern in einen Feldweg ein, rollte weiter durch abgeerntete
Äcker, bergan und bergab, und dann eine Stunde lang durch
Mischwald. Ufa erzählte. Als ihr Vater zur hiesigen Garnison
kommandiert worden sei, habe er ein Haus in der Stadt und
weit draußen ein Wochenendhaus gemietet. Pferde und
Wagen, dieser und ein Dogcart, stünden bei einem Bauern im
nahen Dorf. Zu Hause sei sie im Schwarzwald.
Das Haus lag am Waldrand, ein zweigeschossiges Holzhaus
auf einem Sockel von Natursteinen. Ringsum stand der
verwilderte Wald. Holt folgte Uta in die Diele, dort führte ihn
eine mürrische alte Frau ins Obergeschoß und wies ihm ein
95
Zimmer an, das nur mit eisernem Bett, Waschtoilette und
Schrank eingerichtet war. Eichen und Kiefern streckten ihre
Äste bis an das geöffnete Fenster. Die Frau öffnete die Tür
einen Spalt und winkte.
Aus dem gegenüberliegenden Zimmer trat Uta. In der Diele
saßen sie einander am Eßtisch gegenüber. Die Frau trug
Pellkartoffeln auf und eine Schüssel mit saurer Sahne. Das
Rauschen des Windes in den Baumwipfeln drang durch die
geöffnete Tür, die zu ebener Erde in den Wald hinausführte.
Sie verließen das Haus. Im Tal zwischen Feldern lag das Dorf.
Ein milder Spätsommerabend sank herab. Spinngewebe
glänzte auf Farnwedeln und Schlehdorn, durch die Luft
schwebten die Fäden des Altweibersommers.
Uta ging einen halben Schritt voraus. Am Waldrand setzte sie
sich ins Gras. Brombeersträucher und Haselbüsche ließen den
Blick nur nach Westen hin frei; über den Bergen spielte der
Himmel mit allen Farben. Von der Lichtung her strich mit dem
Wind der Geruch von Heu über sie hin. Er legte den Arm um
ihre Schulter, sie ließ sich rücklings ins Gras sinken. Später saß
er neben ihr und sah das Farbenspiel am Horizont verlöschen.
Sie hielt die Augen geschlossen. Es dunkelte Sie fröstelte. Als
sie das Haus erreichten, war es Nacht.
In der Diele stand ein Abendessen bereit. Uta brachte einen
Korb frischer Tomaten. Beim Essen sagte sie übergangslos:
„Was du von deinem Vater erzählt hast, interessiert mich. Er hat
sich also lieber maßregeln lassen, statt an einer kriegswichtigen
Arbeit mitzuwirken?“
Er sah sie verwundert an. Ihre Stimme klang fremd und
sachlich. „Solche Charaktere hätte es mehr geben müssen.“
„Das versteh ich nicht“, sagte er.
Um ihre Mundwinkel bebte es wieder wie Spott. „Was
brauchst du nach Stalingrad noch, um aufzuwachen?“
Er machte eine unwillige Kopfbewegung. Er zwang sich zur
Ruhe. Dann sagte er wieder: „Ich versteh dich nicht... Und...
Deutschland?“ Er rief: „Was wird aus Deutschland?“
Sie sah ihn lange an. „Vergiß, was ich sagte.“ Sie schob den
Teller von sich. „Vergiß es. Du mußt in den Krieg. Er kann noch
lang dauern.“ Sie sah durch ihn hindurch. „Die Wahrheit ist für

96
euch zu schwer: es ist ja doch alles umsonst.“ Ihr Blick faßte ihn
verwirrend und streng. „Du mußt dieses Wochenende
vergessen.“ Sie zögerte. „Es kann sein, daß ich bald heirate.
Also bitte. Vergiß alles.“ Aber hingestoßen und liegengelassen
zu werden, dagegen lehnte er sich auf: „Ich muß in den Krieg.
Du zerrst mir den Boden unter den Füßen weg... Dann...“
Sie faßte, in eigenartiger Geste, mit der linken Hand an den
Hals und horchte hinter dem abgebrochenen Satz her.
„Dann laß mich heut nacht zu dir“, sagte er.
Sie erhob sich so ungestüm, daß auf dem Tisch Geschirr
zusammenstieß.
Er hörte im Obergeschoß eine Tür schlagen. Er saß verstört
und frierend. Dann schloß er die Fenster und löschte das Licht.
Es war totenstill im Haus. Er stand bewegungslos in seinem
Zimmer.
Er kämpfte um einen Entschluß.
Er trat hinaus auf den Flur. Noch einmal blieb er sekundenlang
stehen, vor der gegenüberliegenden Tür. Dann drückte er die
Klinke nieder. Die Tür gab nach.
Durch das geöffnete Fenster fiel schwaches Licht. Sie schlang
beide Arme um seinen Nacken und zog ihn zu sich in die
Dunkelheit. Aber er sah ihr Gesicht unter sich, die
weitgeöffneten Augen. Das Zucken ihrer Mundwinkel verriet,
daß er ihr Schmerz bereitete. Lust und Schmerz.
Er blieb bei ihr, bis es hell wurde. Der heraufdämmernde Tag
war nichts anderes als ein Lichtfleck zwischen zwei Nächten. Er
nahm zum erstenmal mit vollem Bewußtsein den Anblick
lebendiger Schönheit in sich auf, und sie verbarg sich nicht vor
ihm.
Doch ein anderes Bild, so unvermittelt, daß er sekundenlang
erstarrt neben ihr lag, schlug in seine Gedanken hinein:
Phosphor. Furchtbare Wunden. Körper zu schwarzen Strünken
verbrannt.
Er vergrub das Gesicht in ihrem Arm. Später hörte er sie
sprechen: „Ich hab mich gegen dich gewehrt. Aber es soll so
sein. Es ist Krieg. Wir wissen nicht, was kommt.“

97
Auf den ersten Stuhlreihen in der Aula hatten die Schüler der
Klasse VII Platz genommen, in HJ-Uniform. Holt saß in der
dritten Reihe, hinter Wolzow, unter einem der spitzbogigen
Fenster. Er war zu spät gekommen. Der Oberstudiendirektor
hatte seine Rede schon begonnen. Holt hörte nicht zu. Wir
sehen uns noch am Bahnhof! Er war aus dem Dogcart
gesprungen und losgerannt. Wir sehen uns noch. Der Traum
dauerte eine Stunde fort. Er sah noch einmal, wie der Gaul mit
dem zweirädrigen Wagen durch die Felder stob. Mit
geschlossenen Augen horchte er weiter zurück: Hab ich’s nun
einmal getan, so will ich’s auch ganz tun!
Man applaudierte. Nun dröhnten die Schritte benagelter
Sohlen übers Parkett. Bannführer Knopf stieg auf das
Rednerpult. „Kameraden!“ Zemtzki, der eingeschlafen war, fuhr
erschrocken hoch. Knopf hatte eine scharfe Kommandostimme.
„In ernster Stunde ruft der Führer seine Jugend zum Einsatz...
an der Ostfront ein tödlich angeschlagener Feind gigantische
Anstrengungen unternimmt, den eisernen Würgegriff
loszuwerden...“ Vetter schneuzte sich laut, aber Wolzow fuhr
auf ihn los: „Hör auf! Jetzt hat Disziplin zu herrschen!“ – „...wie
der Führer vor wenigen Tagen in seiner herrlichen Rede
sagte... der Luftkrieg... technische und organisatorische
Voraussetzungen sind im Entstehen, die Terrorangriffe
endgültig zu brechen und auch zu vergelten! Bis dahin,
Kameraden, ist es euch vergönnt, den deutschen Luftraum zu
schützen!“ Der Bannführer klirrte vom Podium herab und
drückte jedem einzelnen die Hand.
Am Ausgang standen die Lehrer beisammen. Doktor Zickel
spuckte: „Kh-kh... kh! Ni wahr, wenn ich das so seh, das sin
doch noch Kinder, nie wahr, kh... kh... daß die schon in ‘n Krieg
solln, e Jammer is es!“
Auf der Straße liefen Eltern und Verwandte zum Bahnhof
voraus. „Nichts in der Welt bringt mich je wieder in ein
Schulhaus!“ sagte Wolzow. Der scharfe Pfiff einer Trillerpfeife
gellte über den Platz. „Achtung! In Linie...
angetretenmarschmarsch!“ Das war Otto Barth. Und am
Bahnhof wartete Uta.

98
Holt marschierte in der Kolonne, singend: „Wir werden
weitermarschieren, wenn alles in Scherben fällt...“ Es war nicht
weit bis zum Bahnhof. Der Zug lief ein. Endlich konnte sich Holt
absondern. Er suchte. Weit abseits von der Menge stand sie
vor der dunklen Ligusterhecke, die Vorplatz und Bahngelände
schied.
Er sagte: „Ich hab’s nicht abwarten können, daß es losgeht.
Jetzt möcht ich bei dir bleiben.“ – „Das würde dir bald langweilig
werden, wenn’s immer so bliebe“, antwortete sie, aber sie sah
an ihm vorbei.
Die Lok pfiff, der Zug ruckte an. Ihr Händedruck ließ eine
kleine Pappschachtel in seiner Rechten zurück. Er riß sich los.
Über die Hecke, über die Gleise sprang er zum anfahrenden
Zug. Gomulka zog ihn in den Wagen.
Jemand brüllte den Gang entlang: „Sondermeldung! Die
Fallschirmjäger haben den Duce befreit!“ Holt nahm diese
Worte wahr, ohne sie zu verstehen.
Im Schneckentempo kroch der Zug durch die Berge. Holt blieb
auf dem Gang. Neben ihm, steif und unbeweglich, stand
Gomulka.
Holt öffnete die kleine Schachtel. Auf schwarzem Samt lag ein
Kettchen, ein ziseliertes goldenes Kreuz. Er las mühsam die
winzige Gravierung, die Jahreszahl 1692, und altertümliche
Schriftzeichen: „Die Lieb ist unser Gott, es lebet alls durch
Liebe. Wie selig war ein Mensch, der stets in ihr verbliebe.“
Dies war als einziges von ihr geblieben. Und Erinnerung.
Vor dem Fenster zog das Gebirge vorbei; tief unten
schimmerte das Band des Flusses. Mit wachsender
Geschwindigkeit rollte der Zug zu Tale. Holt riß die Abteiltür auf
und drückte sich in eine Ecke. Im Einschlafen hörte er Vetter
sagen: „Jetzt sind wir frei wie diese Fli-bus-tier!“

99
ERSTES BUCH

Die Stadt war bestürzend fremd. Die Kulisse der Berge fehlte;
nur Hügel zogen sich am Horizont hin. Betreten, unlustig und
niedergedrückt sammelte sich die Klasse vor dem Bahnhof,
einem nüchternen Backsteinbau, über dessen flachem Dach
die Nachmittagssonne stand.
Im Einberufungsbefehl hieß es: „Schwere Heimatflakbatterie
107/III, Großkampfbahn.“ Das klang geheimnisvoll. Wolzow
fragte einen Passanten. Großkampfbahn? Es war außerhalb
der Stadt, sehr weit draußen, ein Sportstadion. „Da siehst du’s“,
sagte Holt zu Gomulka. „Was habe ich mir nicht alles darunter
vorgestellt! Und nun ist es ein Fußballplatz.“ Warum kümmert
sich keiner um uns? dachte er. Noch nie hatte er seine
Heimatlosigkeit so deutlich empfunden wie nach dem Abschied
von Uta. Wolzow erklärte: „Unaufgefordert tu ich keinen Schritt.
Die wissen ja, daß wir kommen!“ Um ihn scharten sich Holt,
Gomulka, Vetter und Zemtzki, auch Rutscher, Weber, Branzner,
Kirsch, Glaser, Gutsche, Kattner, Moebius, Schachner und
Thiele. Die anderen, Nadlers Gefolgschaft, Schenke,
Schönfeldt, Schulz, Götze, Grubert, Hampel, Kieback, Klein,
Kuhlmann, Ebert, Kunert und Schlemm, erklärten wie auf
Verabredung, es sei besser, zur Batterie hinauszumarschieren.
Nadler, die grüne Führerschnur an der Uniform, ließ antreten,
und die kleine Kolonne verschwand um die Ecke.
„Laß sie doch gehn, die Speichellecker, die verdammten!“
sagte Wolzow mit einer wegwerfenden Handbewegung. Er
überlegte. Dann ging er in eine Telefonzelle.

100
Holt saß bei seinem Glas Bier und hörte nicht auf das
Gespräch der anderen. Der Abschied war noch nicht
verwunden. Keiner wußte, was kam... Schon war der Bruch da.
Nur Wolzows Faust hatte die Klasse zusammengehalten. Was
hier an den Tischen saß, das waren auch bloß Statisten, die
vorläufig Wolzows Macht vertrauten und doch sofort ins andere
Lager überlaufen würden, wenn es der Vorteil verlangte. Auf
Gomulka ist Verlaß, dachte Holt. Der wird sich nie von mir und
Gilbert lossagen. Auch Vetter nicht, der hängt an Gilbert wie ein
Hund. Und Zemtzki? Wer weiß?
Wolzow setzte sich zu Holt. „Das war geschafft. In einer
halben Stunde ist ein Lastwagen hier.“ Er erzählte. Da sei ein
Mädchen am Telefon gewesen, er habe es sehr wichtig
gemacht, mit „Transportleitung und so“. „Sie hat mich ,Herr
Leutnant’ angeredet.“ – Angeredet? Hoffentlich geht’s gut aus!
„Da wern die ändern aber giften!“ rief Vetter.
Gomulka spielte nachdenklich mit einem Bierdeckel. „Wir
müssen uns vorsehen, sonst ziehn wir den kürzeren! Zu Hause
konnten wir notfalls sagen: Laßt uns in Ruh, in vier Wochen
geht’s zur Flak... Aber hier...?“
Wolzow knallte das Bierglas auf den Tisch. „Ich werde ein
erstklassiger Soldat, das steht fest.“
Draußen warf die Sonne nun schon lange Schatten über den
Platz. Ein graugestrichener Lastwagen klapperte um die Ecke.
Aus dem Führerhaus sprang ein Soldat, am Kragen die roten
Spiegel der Flakartillerie, auf dem Ärmel einen Gefreitenwinkel.
„Ich soll hier ‘n Leutnant Wolzow und siebenundzwanzig Mann
abholen.“
Wolzow tat erstaunt. „Da muß sich das Fräulein verhört
haben!“ Der Gefreite schaute mißtrauisch. „Los... rauf!“ Sie
warfen das Gepäck auf den Wagen. Wolzow und Holt stiegen
vorn ein. Zu dritt saßen sie auf der harten Sitzbank.
Die Stadt zeigte enge, winklige Gassen, kopfsteingepflastert,
und der Wagen rumpelte und holperte, ehe er die lange
Chaussee zwischen Lauben und Schrebergärten hinausrollte.
Der Gefreite saß stumm und mürrisch hinter dem Lenkrad.
Wolzow kramte eine Handvoll Zigarren hervor. Der Gefreite
schob sie gleichmütig in die Brusttasche. Nun taute er auf.

101
„Wie ist’s da draußen?“ fragte Wolzow. „Schieben ‘ne ruhige
Kugel“, antwortete der Gefreite, der höchstens neunzehn Jahre
alt war. „Ist ja nischt los hier!“
Der Wagen hatte eine Anhöhe erklommen. Das Gelände lag
weit und offen vor ihnen. Verdrossen marschierte Nadler mit
seinen Leuten den Weg entlang. „Fahr weiter!“ befahl Wolzow.
Der Gefreite gab Gas. Enttäuschtes Geschrei blieb hinter ihnen
zurück. „Verdammte Radfahrer“, sagte Wolzow. Der Gefreite
antwortete nicht.
Weit vor ihnen, auf der Anhöhe zwischen Wiesen und Äckern,
zeichnete sich das Oval des Sportstadions ab und ein
vielstöckiges, hohes Tribünengebäude.
Auf dem flachen Dach waren ein paar winzige graue Gestalten
erkennbar und ein großes, von einer Plane überdecktes Gerät.
„Sieht aus wie ‘n Horchgerät, nicht?“ sagte Holt.
„Horchgerät?“ Wolzow schnob durch die Nase. „Quatsch!
Erstens heißt das Ringrichtungshörer, zweitens benutzt so ‘n
Ding heut keine Sau mehr. Das ist ein Funkmeßgerät.“ – „Fu-
MG sagen wir“, meinte der Gefreite. Der Wagen bog von der
Chaussee in einen breiten, mit Schlacke bestreuten Fahrweg.
Sie näherten sich dem Stadion.
Hier, auf der Anhöhe, schien noch hell und gleißend die
Abendsonne und blendete Holt. Genauso hatte das Licht die
Landschaft überflutet, als er mit Uta durch den Wald gegangen
war... Vor vierundzwanzig Stunden!
„Wir sind gleich da“, sagte der Gefreite.
Holt sah ein paar Baracken. Jenseits des Stadions, auf dem
blanken Acker, erhoben sich im Kreis um eine größere
Erdaufschüttung sechs graue Hügel. Der Gefreite hielt vor einer
der Baracken. „Raus!“ Sie sahen dem davonklappernden
Wagen nach. Niemand kümmerte sich um sie.
„Wird schon stimmen!“ sagte Wolzow. Er trat als erster durch
die Barackentür. Ein schmaler Korridor und zwei einander
gegenüberliegende Türen, zwei große Stuben, mit
Doppelbetten und Spinden eingerichtet, unbewohnt, verdreckt
und unordentlich. „Schlimmstenfalls müssen wir umziehen.
Aber rumstehen demoralisiert.“ Wolzow beschlagnahmte die
Stube, die nach Süden lag.

102
Holt hatte sich ein Bett am Fenster gesichert, oben, weitab
von der Tür, durch ein paar Spinde gegen Sicht gedeckt.
Wolzow belegte das Bett daneben, Gomulka begnügte sich mit
der unteren Lagerstatt. Der Unrat, der überall in Haufen
herumlag, deprimierte Holt Aber Wolzow nahm das Heft in die
Hand. „Los, erst mal weg mit der Sauerei! Ich will mal sehn, ob
ich einen Besen organisieren kann!“
Es war mäuschenstill in der Stube, aber Wolzow konnte nicht
sehen, daß da ein stämmiger Mann von vielleicht
fünfunddreißig Jahren breitbeinig in der Tür stand, das Käppi
schief auf dem Kopf, die blaue Uniform voller Silber. Die Jungen
glotzten ihn mit aufgerissenen Augen an. Holt versuchte,
Wolzow ein Zeichen zu geben, aber hinter den Spinden brüllte
es ungehemmt weiter: „Saustall! Da müssen ja Hottentotten drin
gehaust haben!“ Dann erst sah Wolzow, daß jemand in die
Stube getreten war.
„Gar nicht schlecht“, sagte der Fremde. „Hottentotten ist
wirklich nicht schlecht!“ Er trat zwischen die Spinde, sein Blick
ging über die Jungen hinweg und blieb an Kirsch hängen.
„Name?“
Kirsch würgte das Brot hinunter, an dem er kaute, versuchte
den Stern auf den silbergeränderten Schulterklappen zu deuten
und antwortete: „Kirsch, Herr Feldwebel!“
„Schade. Bei uns heißt der Feldwebel Wachtmeister. Also
noch mal: Ihr Name?“
„Kirsch, Herr Wachtmeister!“
„Jammerschade! Taucher? Frauenarzt? Kalfaktor?“
Wolzow wagte zu grinsen, und er grinste dem Vorgesetzten
mitten ins Gesicht. Der zog ein wenig die Brauen hoch. Kirsch
schrie, zum drittenmal: „Luftwaffenhelfer Kirsch, Herr
Wachtmeister!“
„Herrlich!“ Der Vorgesetzte strahlte. Holt beobachtete ihn
unablässig. „Richtig! Sie sind gut! Sie merk ich mir! Aber eine
Eins gibt das nicht, weil’s erst beim drittenmal geklappt hat.
Eine Zwei sollen Sie haben!“ Er zog ein Notizbuch aus dem
Waffenrock und notierte. Dann wandte er sich Wolzow zu.
„Name?“ – „Luftwaffenhelfer Wolzow, Herr Wachtmeister!“

103
– „Beruf des Vaters, Wolzow?“ – „Oberst, Herr Wachtmeister!
Er ist...“
„Au!“ rief der Wachmeister. „Das durfte nicht kommen, das will
ich lieber nicht gehört haben! Sagen Sie schnell den Beruf Ihres
Onkels, vielleicht paßt er besser!“ – „Generalmajor, Herr
Wachtmeister!“ – „Grauenhaft!“
Holt überlegte, was daran wohl so grauenhaft sein könne, und
hörte den Wachtmeister betrübt sagen: „Jetzt muß ich Ihnen
Nicht genügend geben. Wissen Sie, warum?“ – „Nein, Herr
Wachtmeister!“
„Diese Burschen“ – er deutete auf die umstehenden Jungen
– „behaupten sonst, ich ziehe Sie vor, weil Sie einen Onkel bei
der Generalität haben!“ Er schrieb wieder in sein Notizbuch.
„Ich bedaure Sie, Wolzow! Sie werden’s bei mir sehr schwer
haben!“ Dann schob er das Notizbuch zwischen zwei Knöpfe
seines Waffenrockes und schaute von einem zum anderen. „Ich
bin Gottesknecht. Wachtmeister Gottesknecht.
Ausbildungsleiter...“ Das Gesicht blieb ernst und ungerührt. „Die
mich kennen“, fuhr er fort, „die sagen, ich sei wirklich Gottes
Knecht, aber wer hier groß angibt, der wird meinen, ich sei des
Teufels.“
Er schlenderte durch die Stube. „Ich brülle nie, aber ich
verteile pausenlos Zensuren, von Eins bis Sechs, wie in der
Schule. Wer fünfmal Eins hintereinander schafft, der bekommt
Extraausgang. Kommt sehr selten vor.“ Er blieb vor Holt stehen,
musterte ihn und fragte: „Ihr Name?“
„Luftwaffenhelfer Holt, Herr Wachtmeister!“ Gottesknecht zog
das Buch und notierte. „Beruf des Vaters?“–
„Lebensmittelprüfer, Herr Wachtmeister“, sagte Holt vorsichtig.
– „Enorm! Da müssen Sie mal den Harzer Käse hinschicken,
den’s hier gibt, darin soll Gips sein und... sonstwas, damit er
besser stinkt.“
Holt lachte los, Gomulka und Wolzow lachten gleichfalls, die
anderen zogen verlegene Gesichter. Der Wachtmeister strahlte.
„Wahrhaftig! Sie lachen über meinen Witz,! Das bringt Ihnen
Sehr gut!“ Er fragte Gomulka nach dem Namen und notierte.
„Bei mir darf gelacht werden. Aber wer falsch lacht, bekommt

104
Mangelhaft. Wer gar nicht lacht, bekommt pausenlos Nicht
genügend wegen Feigheit!... Gomulka, Beruf des Vaters?“
Gomulka sagte nach kurzem Zögern: „Gerichtsmitarbeiter,
Herr Wachtmeister!“ – „Richter?“ fragte Gottesknecht
mißtrauisch. „Nein, Herr Wachtmeister, Rechtsanwalt!“ – „Da
haben Sie aber Glück! Die Söhne der hohen Obrigkeit haben
bei mir nichts zu lachen!“ Er ging zur Tür. „Zwei Mann
mitkommen. Besen holen, Decken holen. Revierreinigen, dann
Feierabend.“ Rutscher und Branzner folgten ihm.
Holt sagte zu Gomulka: „Sag bloß... Was hältst du von dem?“
– „Alles Theater, alles Mache“, antwortete Wolzow. „Der ist
ganz anders! Der ist eiskalt!“

Die Stube war sauber aufgeräumt, als endlich Nadler mit


seinen Leuten in den Korridor polterte. Er zog ein verbittertes,
gekränktes Gesicht und trug keine Führerschnur mehr. Wolzow
wies ihm die gegenüberliegende Stube an. „Das war ganz
unkameradschaftlich, daß ihr uns nicht mitgenommen habt“,
klagte Nadler. „Wer sich von der Hauptmacht absondert, hat
immer mit bösen Folgen zu rechnen“, erklärte Wolzow. Der
semmelblonde Kattner knallte Nadler die Tür vor der Nase zu.
„Die Heinis“, erzählte Rutscher, „sind Gottesknecht in die Arme
gerannt. Er hat ihnen allen Mangelhaft gegeben, weil sie später
gekommen sind a-a-als wir! Der Nadler hat Nicht genügend,
weil ein Luftwaffenhelfer keine F-f-führerschnur tragen darf.“
Holt winkte Gomulka nach draußen. Vor der Baracke sah er
sich vorsichtig um. Die Sonne war am Versinken und stand als
große, blutrote Scheibe in einer Dunstschicht über den Hügeln.
Unmittelbar vor der Baracke lief der breite, schlackebestreute
Weg entlang, an vier oder fünf weiteren Baracken vorbei, hinter
denen sich das Stadion erhob. Rechts davon, im Norden, lag
die Feuerstellung.
Vom Wege führten Lattenroste zu den Geschützständen. Vor
einem der grauen Erdwälle blieben Holt und Gomulka stehen.
Die Erde war etwa zwei Meter hoch aufgeschüttet, der Eingang
sauber mit Brettern verschalt, im Zickzack durch den Wall
geschnitten.

105
Holt ging voran. Die Wände des Geschützstandes waren mit
Balken abgesteift, der Boden mit Schlacke bestreut. Schwarz
gähnte der Eingang eines Unterstandes. Die Kanone war mit
einer erdfarbenen Persenning zugedeckt, und nur das schlanke
Rohr und die Holme der Kreuzlafette schauten darunter hervor.
An der Kanone stand ein großer hagerer Bursche, der nicht viel
älter als Holt sein mochte, gekleidet in eine schmucklose
graublaue Uniform ohne Spiegel und Schulterklappen. Am
rechten Ohr trug er einen großen, mit dickem Gummiwulst
abgedichteten Kopfhörer, um den Hals ein Kehlkopfmikrophon,
dessen Schalter mit einer Klemme vorn an der Feldbluse
befestigt war. Der Bursche ging einer unverständlichen Tätigkeit
nach. Er lockerte die Plane, steckte ein Kabel in einen Kontakt,
hob einen zweiten Kopfhörer an das freie Ohr, lauschte
angestrengt, legte den Kopfhörer weg, und während er schon
am Kehlkopfmikrophon schaltete, sagte er: „Anton... Zünder
gut!“ Dann stieg er über einen Holm, hob an einer anderen
Stelle die Plane hoch, und das unverständliche Spiel
wiederholte sich. „Anton... Seite gut!“ Er nahm die blaue
Schimütze ab, riß die Hörgarnitur und das Kehlkopfmikrophon
herunter und hängte beides in den Unterstand. Dann sagte er,
mit einem Blick auf Holt und Gomulka: „Na?“
„Wir sind heut angekommen. Ich heiße Holt.“ – „Oberhelfer
Berger.“ Der Fremde deutete eine Verbeugung an. „Schon
länger dabei?“ fragte Holt. – „Halbes Jahr.“ – Holt kramte
Zigaretten hervor. Sie rauchten. „Was hast du denn eben
gemacht?“ fragte Gomulka. – „Na, halt Leitungsprobe. Ewiger
Mist. Jeden Tag dreimal, früh, mittags, abends.“ – „Und sonst?“
fragte Holt. „Wie ist es sonst?“ – „Hier ist nichts los“, sagte
Berger. „Ruhige Tour. Vormittags Schulunterricht, nachmittags
Dienst.“ – „Und schießen? Schießt ihr manchmal?“ –
„Schießen? Hierher hat sich höchstens mal ‘n Aufklärer verirrt.
Geschossen haben wir bloß in der Ausbildung, auf ‘n Luftsack!“
„Miese Aussicht“, sagte Holt. Aber da verzog Berger den
Mund. „Ihr werdet die Schnauze noch früh genug voll kriegen“,
sagte er. „Ihr bleibt doch nicht hier!“
Holt wechselte einen Blick mit Gomulka. „Erzähl mal. Wo
kommen wir denn hin?“

106
„Ihr werdet hier ausgebildet, weil in dieser Gegend Ruhe
herrscht“, sagte Berger. „Ihr seid Batterie 107/III, wir sind
329/XII, mit uns habt ihr gar nichts zu tun. Eure Untergruppe
liegt woanders.“ – „Wo?“ fragten Holt und Gomulka gleichzeitig.
„Bisher in Hamburg. Dort ist eure Batterie angegriffen worden.
Elf Tote, sechzehn Schwerverletzte.“
Tote? Schwerverletzte? Holt sagte: „Vielleicht sind das bloß
Gerüchte!“ – „Da sind doch Leute hier, die euch ausbilden, ein
Wachtmeister und drei Obergefreite. Frag sie doch!“ Holt
versuchte, sich Mut zuzusprechen. „Hamburg ist ja nun dran
gewesen. Da wird sich nicht mehr viel abspielen!“
„Eben, eben!“ sagte Berger, sog an seiner Zigarette und
blickte spöttisch. „Deshalb werden die Batterien aufgefüllt und
im Ruhrgebiet eingesetzt.“ Holt bemerkte, daß seine Hand, in
der er die Zigarette hielt, zu zittern begann. „Dort ist was los“,
hörte er. „Köln und Essen hatten ja die ersten Nachtangriffe mit
tausend Bombern... Da ist das ruhige Leben hier schon was
wert“, meinte Berger noch, aber Holt sagte schnell: „Bange
machen gilt nicht!“ und: „Erst mal abwarten!“ und: „Wer weiß,
was kommt!“ Berger lächelte. Gomulka fragte: „Wie kann denn
eine Batterie solche Verluste haben?“ – „Na, halt ‘n
Bombenteppich drüber... Da kannst du dir nachher deine
Knochen zusammensuchen!“ – „Nachts? War das ‘n dummer
Zufall?“ – „Zufall?“ rief Berger. „Gezielt war das! Meinst du, die
da oben sind blind? Wenn die Spritzen losdonnern, mit ihren
Mündungsbremsen, das siehst du bis zum Mond!“ Er trat den
Zigarettenstummel aus. „Warte noch“, sagte Holt. „Werden wir
alle am Geschütz ausgebildet? Oder kommen auch welche
ans... Fu-MG?“ – „Funkmeßgerät, Kommandohilfsgerät, E-
Messer“, sagte Berger, „Flakfernrohr, Flug-Malsi, Telefon... die
Robusteren für die Geschützstaffel, zur Meßstaffel die besten
Mathematiker,’ da werdet ihr eingeteilt, wie sie’s brauchen. Es
ist überall derselbe Mist. Ich zieh ‘s Geschütz vor.“ Er deutete
auf die kastellartige Erhebung in der Mitte der Feuerstellung.
„Auf der B 2“ – er sagte „Beh-zwo“ –, „da krebst immer der Chef
rum, und wenn was nicht klappt, heißt’s gleich Häschen-hüpf.
Man sieht dort ja mehr, aber am Geschütz ist man schön unter

107
sich. Ruhige Kugel, sanfte Tour, wenn der Geschützführer
spurt.“
Es wurde Nacht. Ein Flugzeug mit bunten Positionslichtern
brummte über sie hinweg. Berger verabschiedete sich bei den
Baracken am Stadion. Holt und Gomulka gingen den Fahrweg
entlang.
Gottesknecht stand in der Dämmerung, unbeweglich. Er
schaute, den Kopf ins Genick gelegt, nach dem Flugzeug, das
über der Stadt kreiste. Sie mußten an ihm vorbeigehen.
„Herkommen!“ – „Das gibt Mangelhaft!“ flüsterte Gomulka...
„Herr Wachtmeister?“ – „Kleinen Abendspaziergang gemacht?“
– „Mal die Lage gepeilt, Herr Wachtmeister!“ – „Na, und was
Neues gehört? Von wegen... Einsatz und so?“
„Jawohl, Herr Wachtmeister!“ Wozu lügen? dachte Holt.
„Erzählen Sie mal! Da bin ich doch gespannt, was Sie
zusammengehorcht haben!“
„Von Hamburg, Herr Wachtmeister“, antwortete Holt, „daß es...
ein tüchtiges Debakel gegeben hat... Und vom Ruhrgebiet.“
„Da haben Sie doch tatsächlich alles herausbekommen!
Debakel ist übrigens glänzend gesagt... Sie kenn ich doch
schon“, wandte er sich an Holt. „Sie heißen Holt, und Sie...
warten Sie mal... Ihr Vater war Rechtsgelehrter, das hab ich mir
gemerkt, aber der Name...“ – „Luftwaffenhelfer Gomulka, Herr
Wachtmeister“, brüllte Gomulka.
„Warum schreien Sie denn so? Ist Ihnen nicht gut? Wer wird
denn an einem so friedlichen Abend derartig brüllen?“
Gottesknecht holte eine Zigarette hervor, und Holt reichte ihm
nach kurzem Zögern Feuer.
„Passen Sie auf“, sagte Gottesknecht. „Ich geb Ihnen einen
guten Rat. Lernen Sie unterscheiden, das ist beim preußischen
Kommiß das wichtigste! Vor versammelter Mannschaft muß
nun mal auch bei mir alles ruck, zuck! gehn, im Dienst ist das
nötig, sonst sähe eine militärische Einheit aus wie eine Horde
Papuas...“ Holt und Gomulka lachten. „Sehen Sie! Aber am
Abend, wenn ich Sie privat anrede, und es schaut nicht gerade
ein General zu, dann zeigen Sie, daß Sie gute Manieren haben,
Kinderstube, Knigge, na, Sie verstehen schon.“
„Wir werden uns das merken, Herr Wachtmeister!“ sagte Holt.

108
„Großartig! Ich geb Ihnen jetzt Note Eins, weil Sie so findige
Burschen sind!“ Gottesknecht zog das Notizbuch. Aber da
geschah etwas Merkwürdiges, und Holt beobachtete es mit
Verwunderung. Gottesknecht hielt das Notizbuch eine Weile
sinnend in der Hand, dann steckte er es langsam wieder
zwischen die Knöpfe seines Waffenrockes. Er blickte
unbeweglich vor sich hin, ruckte mit den Schultern, als sei ihm
der Rock zu eng, bewegte den Kopf, als drücke ihn der Kragen,
und in seinem Gesicht ging eine seltsame Verwandlung vor: er
wechselte die Miene, die Haltung, ja auch die Stimme, als lege
er eine Maske ab. Er trat dicht vor sie hin, ein nun gar nicht
mehr junger Mann, sehr müde, mit gefurchtem Gesicht und
einem Ausdruck tiefer Sorge in den Augen.
„Was Sie erfahren haben“, sagte er leise, „das dürfen Sie nicht
wissen. Versprechen Sie mir: kein Wort zu den anderen! Wenn
es Gerüchte gibt... treten Sie dagegen auf. Sie müssen das
verstehn. Ich werde den Leuten von der anderen Batterie
verbieten, mit Ihnen zu sprechen. Sie sind zu jung. Es darf nicht
sein, daß Ihre Moral untergraben ist, noch ehe es losgeht.
Haben Sie mich verstanden?“
„Wir sagen nichts... Bestimmt! Sie können sich auf uns
verlassen!“
„In Ordnung“, sagte Gottesknecht. „Gehen Sie gleich ins Bett.
Es wird sehr anstrengend. Ich soll Sie hinbiegen, so rasch es
geht. Der Tommy wartet nicht. Er wirft jede Nacht Bomben. Die
Batterie soll rasch wieder einsatzfähig werden. Sparen Sie mit
Ihren Kräften, Sie werden genug Kraft brauchen! Gute Nacht...
Haben Sie noch was, wollen Sie noch was?“
„Ich weiß nicht, ob wir darum bitten dürfen... Wir möchten
beide gern zur Geschützstaffel!“ – „Bewilligt.“ Gottesknecht ging
unvermittelt davon, langsam, die Hände auf dem Rücken, den
Kopf auf die Brust geneigt.
Holt sah ihm nach. Die Dunkelheit ringsum war
undurchdringlich. Er hörte Utas Stimme: Es ist ja doch alles
umsonst. Ihn fröstelte.

109
Holt stand angekleidet im Freien. Er liebte die Morgenstunde,
die kurze Spanne Zeit vom fahlen Dämmerlicht bis zum
Erwachen des Tages, wenn die ersten Drosseln schlugen und
an den Gräsern funkelnd der Tau hing. Er dachte an Uta.
Am vergangenen Abend hatte er einen Brief schreiben wollen,
aber er war todmüde auf seinen Strohsack gesunken. Das frühe
Morgenlicht hatte ihn geweckt. Zehn Kniebeugen, wie üblich,
dann draußen am Wasserhahn gewaschen, angekleidet und
Gomulka und Wolzow wachgerüttelt. Nun, da in der Baracke
eine Klingel rasselte, trat Gomulka zu Holt. „Herrlich, so früh am
Morgen! Drin raufen sie um die Waschschüsseln!“
Holt pfiff ein Lied vor sich hin. „Und die Morgenfrühe, das ist
unsere Zeit.“ Er dachte den Text mit. Auf einmal verstummte er.
„Warum pfeifst du nicht weiter?“ fragte Gomulka und zitierte den
zweiten Vers: „... ,Neue Lande, neue Lande wollen wir uns
gewinnen’... Ich hab zwar seit vorgestern keinen
Wehrmachtbericht gehört...“ – „Die Russen haben das ganze
Donezbecken zurückerobert.“ – „Und Sizilien ist endgültig hin“,
brummte Gomulka.
„Da ist der italienische Verrat dran schuld“, sagte Holt.
Gomulka schwieg und scharrte mit einem Fuß in dem
schwarzen Boden. Holt fühlte sich unbehaglich, und dieses
Gefühl verstärkte sich, als Gomulka sagte: „Wenn man über
die... Kapitulation Italiens nachdenkt, dann... ich weiß nicht, es
ist ein böses Zeichen.“ – „Man muß auch mal Rückschläge
hinnehmen können“, erwiderte Holt. „Der Führer hat gesagt,
ohne Italien sind wir stärker.“ Gomulka nickte, stumm,
nachdenklich.
Holt dachte: Ich darf mich von diesen pessimistischen
Stimmungen nicht beherrschen lassen, ich muß mich
zusammennehmen.

Sieben Uhr steckte ein Obergefreiter den Kopf durch die Tür.
„Raustreten, a bisserl schnell, wann i bitten darf!“ Draußen rief
er: „Antreten, der Groß nach, kruzitürken! I bin der Obergfreite
Schmüdling, i bitt mir aus, daß i als Ausbülder mit Herr
angsprochen wer... was gibt’s da zu feixen? Schaun S’ net so,
110
der Dritte im zwoaten Glied!“ – „Ich hab nicht gelacht!“ rief
Nadler beleidigt. Schmiedling schrie: „I bitt mir halt Düszüplün
aus!“ Das Wort bereitete ihm Schwierigkeiten. „Herhörn! I les
jetzt die Namen vor von denen, wo hier mit Beisein müssen,
und wann i so an Namen vorglesen hab, so ruft sich derjenige,
dem sein Nam i vorglesen hab, der ruft hier!, verstehen S’?“ –
„Jawohl, Herr Obergefreiter!“ brüllte Holt wie die anderen. Der
Obergefreite las die Namen vor, von Ebert bis Zemtzki. „So! Da
fehlt sich nix, und alles hat sei Ordnung. Jetzt wem S’ erst amol
eingkleidt!“
In der Kammer musterte ein übellauniger Unteroffizier Holt mit
einem kurzen Blick, warf ihm drei lange graue Unterhosen in die
Arme, Unterhemden, Wäschestücke von kratzigem, hartem
Gewebe, eine Turnhose, drei Paar wollene Socken.
„Schuhgröße?“ Schon flogen ihm ein Paar hohe schwarze
Schnürschuh zu und ein Paar Gamaschen aus Segeltuch.
„Raus!“ Im nächsten Raum gab es Drillichzeug, eine blaugraue
Luftwaffenuniform ohne Spiegel und Schulterklappen, einen
blaugrauen zweireihigen Mantel, Schimütze, Stahlhelm, Koppel
mit Schloß, Kochgeschirr, Butterdose aus gelbem Kunststoff,
eine Garnitur blaugewürfelter Bettwäsche. „Raus! Worauf
warten Sie noch?“
Draußen maulte Wolzow: „Keine Ausgehuniform?“
Schmiedling fuhr ihn an: „Meinen S’, Sie bekommen Ausgang,
jetzt wo Sie währenddem S’ in der Ausbildung sind?“ Er pflegte
manchen Satz anders zu beenden, als er ihn begonnen hatte.
„Worauf warten S’ denn?“ Er rief ihnen nach: „Ziehen S’ Ihnen
das Drüllüch wird zur Ausbüldung getragen, wann i bitten darf!“
„Der ist halb so wild“, sagte Wolzow. „Ein Obergefreiter ist bei
der Wehrmacht gar nichts. Bei uns denkt er, er kann angeben.“
– „Ich glaub, er ist ganz gemütlich“, meinte Holt. Da brüllte es
schon wieder: „Raustreten!“
Zwei weitere Obergefreite stellten sich an den rechten Flügel.
Als Gottesknecht bei den Baracken auftauchte, verdoppelte
sich Schmiedlings Eifer, und sein faltiges Gesicht verzerrte sich
vor Anstrengung. „Ausbüldungskmando... stüllgstann! Zur
Meldung an den Herrn Wachtmeister die Augen... links!“ Er
grüßte und meldete. „Danke, lassen Sie rühren!“ Gottesknecht

111
zeigte die Würde eines Generals. „In diesem denkwürdigen
Augenblick beginnt Ihre Ausbildung. Lange soll sie nicht
dauern, vier Wochen, höchstens sechs. Der Dienst wird
anstrengend, von früh sieben bis abends acht, eine Stunde
Mittag. Die Nachtruhe von zehn bis sechs wird eisern
eingehalten, sonst steig ich Ihnen aufs Dach. Preisskat und so
weiter gibt’s nicht, haben Sie mich verstanden?... Richtig, das
wissen Sie noch nicht.. Wenn ich ,verstanden’ sage, dann ist
das nur Gerede, ich hab schließlich meine Redensarten. Sag
ich aber: ,Haben Sie mich verstanden?’, dann erwarte ich eine
Antwort! Haben Sie das verstanden?“
„Jawohl, Herr Wachtmeister!“
„Na also! Zweimal wöchentlich drei Stunden Nachtexerzieren.
Ihre Ausbildung besteht fast ausschließlich in Geschütz- und
Geräteexerzieren, gefechtsmäßig, mit allem Drum und Dran.
Außerdem muß ich Ihnen ‘n bißchen Flakschießlehre
einbleuen, da können Sie mal zeigen, daß Sie intelligente
Menschen sind! Was sonst noch ist, Unterschied zwischen
Vorgesetzten und gewöhnlichen Menschen, Gaskram,
Spionageabwehr und all das Zeug, das erledigen wir mit der
linken Hand. Ordnungsübungen heute und morgen zwei
Stunden, das muß genügen; wenn das Antreten nicht klappt,
holen wir es sonntagnachmittags nach. Ein bißchen Bewegung
wird Ihnen guttun. Sie, ja, der Dicke mit den Schweinsäuglein,
wie heißen Sie?“
„Luftwaffenhelfer Vetter, Herr Wachtmeister!“
„Entzückend!“ rief Gottesknecht. „Herrlich, einfach
unbezahlbar! Fett wie ein Schweinchen aus der Herde des
Epikur und heißt Vetter! Dafür gibt’s Sehr gut!“ Er zog das
Notizbuch, und während er notierte, sagte er: „Hoffentlich
werden Sie uns nicht noch fetter, Vetter, fetter können wir Sie
bei der Flak nicht gebrauchen!“ Er quittierte das Gelächter mit
einem Kopfnicken. „Weiter im Text. Wenn Sie heimschreiben
wollen: Absender hiesige Ortsanschrift, Großkampfbahn, Porto
brauchen Sie keins, ist Feldpost. Schreiben Sie nichts über den
Dienst, ich hab das Recht, Briefe zu öffnen, und mach
Stichproben. Verpflegung wird abends nach Dienstschluß in der
Küche geholt. Mittags wird in der Kantine gegessen.“ Er winkte

112
die Obergefreiten zu sich. „Wir brauchen achtzehn Mann für die
Geschütze, den Rest fürs Feuerleitgerät.“
In die Reihen der Jungen kam Bewegung. Schmiedling brüllte:
„Wem S’ wohl glei...!“ - „Schmiedling!“ fiel ihm Gottesknecht ins
Wort, und obwohl er die Stimme dämpfte, konnten es die
Jungen hören. „Sie haben keine Rekruten vor sich, sondern
Luftwaffenhelfer, wie oft soll ich Ihnen das noch sagen?“ Holt
stieß Gomulka an, und Gomulka nickte unmerklich.
Der Wachtmeister sonderte die Kleinsten und Schwächsten
aus, auch Zemtzki war darunter, und blickte auf die Uhr. „Bis
zwölf Uhr Geschütz- und Geräteexerzieren, nach dem Essen
zwei Stunden Ordnungsübungen, da verdaut sich’s besser.“ Er
winkte den Jungen, die fürs Feuerleitgerät bestimmt waren, und
zog mit ihnen und einem Obergefreiten davon. Wolzow, Holt,
Gomulka und Vetter achteten darauf, daß sie nicht getrennt
wurden. Rutscher, Weber, Branzner, Kirsch und Kattner
gesellten sich zu ihnen. In zwei Gruppen zu neun Mann zogen
sie in Richtung Feuerstellung davon.

Neun Mann und ein Obergefreiter waren eine Bedienung.


Schmiedling ließ sie im Geschützstand antreten, ließ das
Geschütz abdecken und begann.
Was mag er im Zivilberuf sein? dachte Holt. Menschen wie
Schmiedling waren ihm fremd. Vielleicht hat er einen Hof im
Gebirge, dort braucht so ein Bergbauer kaum ein Wort zu
sprechen beim Pflügen und Säen, und nun muß er Unterricht
geben... Er wär wohl lieber auf seinem Hof geblieben, er ist ja
ganz außer sich vor Aufregung. Aber es ist Krieg, und er muß
tun, was man verlangt.
Schmiedling ließ einen der Munitionsbunker öffnen, man folgte
mit Feuereifer. Alles war neu, alles war interessant. Eine
Kanone, eine richtige Kanone, das war doch etwas anderes als
die Schule mit ihren unregelmäßigen Verben und dem
mathematischen Formelkram!
„Ist das scharfe Munition?“ fragte Vetter mit einem
ehrfürchtigen Blick auf die handtellergroßen Patronenböden,
die glänzend aus den Körben hervorsahen. Schmiedling
antwortete nicht. Er zeigte den Mannschaftsbunker, er zeigte

113
die Holztafeln mit den Zahlen von eins bis zwölf, die ringsum im
Geschützstand angebracht waren und die Richtungen
markierten, zwölf Norden, sechs Süden, drei Osten, neun
Westen. Wenn das Kommando laute: „Fliegeralarm, Flugzeug
neun!“, dann müsse das Rohr auch schon nach Richtung neun
weisen. Er kratzte sich den Hinterkopf, nahm das Käppi ab, um
sich den Schweiß von der Stirn zu wischen, und befahl fünf
Minuten Pause, die man im Mannschaftsbunker verbrachte.
Der Unterstand, den Holt gebückt durch einen schmalen
Eingang betrat, nahm die volle Breite des Geschützstandes ein.
An den Wänden entlang waren Holzbänke aufgestellt. Holt sah
einen Verbandkasten, an eisernen Haken die Hörgarnituren der
Richtkanoniere und des Geschützführers, einen Kasten mit
Werkzeug und Putzlappen und in einer Ecke einen schweren
stählernen Vorschlaghammer. Wolzow, Holt und Gomulka
rauchten. „Man muß es dem Schmiedling leicht machen“, sagte
Holt, „er ist ein guter Kerl...“ – „Aber wenn das nicht etwas
flotter geht“, sagte Wolzow, „dann mach ich den Unterricht
weiter.“ Schmiedling steckte den Kopf in den Bunker und rief:
„Für Ihnen is Rauchen verboten!“ Holt hielt ihm die Schachtel
hin; tatsächlich, Schmiedling bediente sich...
Dann quälte er sich weiter ab. „Jetzt wird dös schwierig! Dös is
a Flakgeschütz, net wahr. Aber dös Gschütz is ka Gschütz net,
verstehen S’?“ Wolzow entwirrte den Knoten, und Schmiedling
war begeistert. „Wenn S’ so gnau Bscheid wissen, dann könn S’
dös erklärn, und i spar mir ‘s viele Gered!“ Geschütz, das sei
ein Sammelbegriff für schwere Feuerwaffen, Geschütze im
engeren Sinne seien schwere Feuerwaffen für indirekten
Beschuß mit großem Abschußwinkel, so etwa hatte Wolzow
erklärt. Dies hier sei eine Kanone, flachfeuernd, mit langem
Rohr und hoher Mündungsgeschwindigkeit des Geschosses.
Daß es sich bei der Flak um eine Steilfeuerwaffe handle, könne
nur ein Idiot aus der großen Rohrerhöhung schließen, befinde
sich doch das Ziel in der Luft!
Schmiedling nickte zufrieden und fuhr fort. Flak acht-fünf-acht-
acht heiße die Kanone. Sie sei in den zwanziger Jahren von
Krupp gebaut und nach Rußland geliefert worden. Merkwürdig,
dachte Holt, die Bolschewiken sind unsere Todfeinde, das sagt

114
doch jeder, und da lieferte ihnen Krupp Kanonen?... Das
Kaliber habe damals 7,62 Zentimeter betragen, der Russe aber
habe den Kanonen ein neues Rohr vom Kaliber 8,5 Zentimeter
gegeben, und da dieses Rohr für die Lafette ein wenig zu
großkalibrig sei, habe man es mit einer Mündungsbremse
versehen. „Was dös is, dös erfahren S’ nachher.“ 1941 seien
die Kanonen erbeutet und von 8,5 auf das übliche Kaliber von
8,8 Zentimetern aufgebohrt worden. Daher der Name „Flak
8,5/8,8“,- genannt „Russenspritze“. „Aber wann a Bsüchtgung
is, da muß dera richtge Nam gsagt wern!“
Für diese Erklärung brauchte Schmiedling eine halbe Stunde.
„Wann Bsüchtgung ist“, sagte er, „dann müssen S’ dös halt auf
Anhieb von Ihnen verlangt, net wahr!“ Er sprach oft und im Ton
tiefer Sorge von der Besichtigung.
Den weiteren Unterricht übernahm Wolzow, dem es viel zu
langsam voranging. „Falls ich was falsch mache, können Sie
mich ja verbessern“, sagte er. Schmiedling fand kaum etwas zu
korrigieren, als Wolzow loslegte: Kreuzlafette, Fahrgestell,
Unter- und Oberlafette, Justierspindeln, Sockel.
„Sie sin a fixer Kopf!“ lobte Schmiedling, während Wolzow die
Verankerung der Lafette im Boden und die Funktion der
Justierspindeln erklärte. Wolzow ging zum Richtmechanismus
über. Er setzte sich auf den stählernen Sessel der
Seitenrichtmaschine, der an der rechten Seite der Oberlafette
angebracht war, stemmte die Füße auf die Fußraste, drehte am
Handrad und fuhr mit der Kanone im Kreise herum wie mit
einem Karussell. Jeder wollte es nachmachen, aber
Schmiedling scheuchte sie wieder hinters Geschütz.
Wolzow erläuterte, als habe er niemals im Leben etwas
anderes getan, die Rohrrücklaufbremse, auf der das Rohr
ruhte, den Luftvorholer, der das Rohr nach dem Schuß wieder
in die normale Stellung zu bringen habe und mit
„Bremsflüssigkeit braun“ gefüllt sei. Er stellte sich links an die
Höhenrichtmaschine, drehte das Rohr steil in die Höhe und
wieder hinab, und dann war die Zünderstellmaschine dran. So
ging es fort. Das Tempo mochte Schmiedling unheimlich sein,
denn er ließ immerfort wiederholen.

115
„Gell, dös wissen S’ net, wie die Mündungsbremsn
funktioniert?“ fragte Schmiedling schließlich. Wolzow sagte:
„Das ist doch ganz einfach.“ Da stand plötzlich Gottesknecht im
Geschützstand; wer weiß, wie lange er schon zugehört hatte.
Schmiedling brüllte: „Achtung!“ Gottesknecht winkte ab. „Soso,
Wolzow. Das ist also ganz einfach? Lassen Sie hören. Aber
wenn Sie es nicht genau wissen, gibt es Nicht genügend.“
Wolzow sah den Wachtmeister mit zusammengekniffenen
Augen und schräggelegtem Kopf an. „Herr Wachtmeister, kann
ich vorher noch was anderes sagen?“ – „Da bin ich aber
gespannt“, meinte Gottesknecht. Wolzow blinzelte mit den
Augen. Sein Kopf schob sich langsam vor. „Ich hab das niemals
gelernt. Die vorgeschriebenen Worte kenn ich nicht. Wenn Sie
gerecht sind, dürfen Sie nur achtgeben, ob meine Erklärung
sachlich richtig ist.“ Auf Schmiedlings Stirn standen
Schweißtropfen.
„Wenn ich gerecht bin, darf ich...“, wiederholte Gottesknecht
träumerisch. Dann sagte er: „Fangen Sie an.“
„Die Mündungsbremse“, begann Wolzow konzentriert, in
einem Tonfall, als habe er ein Gedicht aufzusagen, „die
Mündungsbremse ist an der Rohrmündung angeschraubt und
wird beim Abschuß vom Geschoß durchlaufen. Während der
Geschoßboden die vordere Öffnung der Mündungsbremse
zeitweilig verschließt, sind die hinter dem Geschoß
herstürmenden Pulvergase, in ihrem Bestreben, sich
auszudehnen...“
Jetzt verheddert er sich, dachte Holt.
„... gezwungen, durch seitlich in der Mündungsbremse
angebrachte Öffnungen auszutreten. Diese Öffnungen sind in
einem Winkel in die Mündungsbremse eingeschnitten, der, in
Schußrichtung gesehen, nach hinten weist. Das heißt“, sagte
Wolzow nun siegessicher, „die Pulvergase verlassen die
Mündungsbremse schräg nach hinten und erteilen so dem Rohr
einen nach vorn gerichteten Impuls, welcher einen Teil des
Rückstoßes auffängt.“
Schmiedling atmete tief und erleichtert auf. Gottesknecht sah
Wolzow an, Wolzow gab den Blick zurück.

116
„Aufs Haar richtig“, sagte Gottesknecht. Er zog das Notizbuch.
„Note Eins... Aber Sie haben meinen Gerechtigkeitssinn
herausgefordert, Wolzow, und so kann ich’s nun doch nicht auf
sich beruhen lassen, daß sich ein Luftwaffenhelfer zum
Leutnant macht, um einen Wagen zur Bahn zu bekommen.“
Wolzows Gesicht wurde blaß.
„Sie werden sich also jeden Abend pünktlich einundzwanzig
Uhr melden, um mir die Schuhe zu putzen. Sie werden
zugeben, daß die Strafe gerecht ist.“
Schweigen.
Dann Wolzow: „Herr Wachtmeister, Sie werden zugeben, daß
Sie nicht befugt sind, persönliche Dienstleistungen als Strafe zu
verhängen. Ich bitte um eine Bestrafung, die den
militärrechtlichen Vorschriften entspricht.“
Das geht schief, dachte Holt.
„Wolzow“, sagte Gottesknecht, „ich hätte Lust, Ihnen noch
eine Eins zu geben für soviel Mut. Aber das kann kein Mut sein.
Das ist Unkenntnis! Sie wissen nicht, was Sie sich antun!“ Und
nun mit anderer, mit beiläufiger, üblicher Stimme: „Sie melden
sich nach Dienstschluß bei mir zur Bestrafung.“
„Jawohl, Herr Wachtmeister!“
Gottesknecht sagte nur noch freundlich: „Weitermachen!“,
dann verließ er den Geschützstand. Kaum war er außer
Sichtweite, atmete Schmiedling so hörbar auf, daß Holt dachte:
Warum hat er solche Angst? Er hat als Ausbilder doch nichts zu
fürchten.
„A böse Sach, Wolzow, die was S’ Ihnen sich da eben
einbrockt ham!“
„Ach scheiß...“, sagte Wolzow mit einer wegwerfenden
Handbewegung.

Granatpatron-Munition, Sprengringe, Zünder... Zeitzünder S


30, maximale Laufzeit dreißig Sekunden... in den Patronen
Diglykolröhrenpulver... das war der Rest des heutigen
Pensums.
Dann trafen sich die Jungen vom Geschütz und Feuerleitgerät
in der Kantine, der früheren Gaststätte des Stadions, wo die
Oberhelfer der anderen Batterie noch beim Essen saßen. Auf

117
den rohen Holzplatten häuften sich Kartoffelschalen,
dazwischen lagen Zigarettenstummel und Knochenreste.
Wolzow fegte mit einer Handbewegung den Unrat vom Tisch,
ein paar Oberhelfern auf die Knie. Den Protest erstickte er mit
der Drohung: „Halt ‘s Maul, sonst kracht’s!“
Es gab Pellkartoffeln und eine dünne Soße, in der ein paar
Fleischstücke schwammen. „Mies, saumies!“ maulte Vetter.
Zemtzki, Schenke und Grubert, die am Feuerleitgerät
ausgebildet wurden, saßen in der Nähe und warfen mit
unverständlichen Begriffen um sich, Höhenvorhalt, Grundstufe,
Gebrauchsstufe... Sie taten ungeheuer wichtig. Zemtzki
erzählte: „Ich bin am E-Messer... Die Meßoptik vergrößert
vierundzwanzigfach!“ – „Quatsch nicht rum, wen interessiert
das schon?“ sagte Wolzow. „Wer etwas auf sich hält, der geht
ans Geschütz!“
Am Nebentisch wurde immer noch von einem „Handstreich“ in
Italien erzählt, von einem Telefongespräch zwischen Hitler und
Mussolini, schließlich von neuen Luftangriffen. „Essen erneut
bombardiert! Sie haben starke Verluste und Verwüstungen
gemeldet.“
Holt löffelte mechanisch die Kartoffeln in sich hinein. Der
Gedanke: Verwüstungen, Essen, Ruhrgebiet verließ ihn auch
später nicht, als er auf seinem Bett lag und Gomulka am Tisch
über dem Schreibblock saß. Ich muß heut abend bestimmt an
Uta schreiben, dachte er. Der Gedanke an Uta tilgte nicht die
heimliche Angst. Im Gegenteil. Alles umsonst... hörte er wieder.
Und was wird aus Deutschland?
Er war froh, als Schmiedlings Stimme in die Stube drang:
„Raustreten!“ Nach zwei Stunden Ordnungsübungen wurde im
Geschützstand das Pensum so lange wiederholt, bis Holt die
Worte Lafette, Mündungsbremse und Zeitzünder nicht mehr
hören konnte. Es müsse im Schlaf sitzen, behauptete
Schmiedling. Müsse unabhängig von Verstand und Gedächtnis
in Fleisch und Blut übergehen, sagte auch Wolzow am Abend.
„Der Verstand kann aussetzen, das Gedächtnis kann dich im
Stich lassen, dann muß das trotzdem alles noch dasein,
unwillkürlich, wie eine Reflexbewegung.“

118
Er zog los zu Gottesknecht, um seine Strafe
entgegenzunehmen. Er war schlau genug, sich vorher von
Schmiedling beraten zu lassen. „Dös ist a Rapport! Da ziehen
S’ den Dienstanzug an, und dann setzen S’ Ihnen an Stahlhelm
setzen S’ Ihnen dann auf!“ Der Zusammenstoß zwischen
Wolzow und dem Wachtmeister hatte sich unterdessen
herumgesprochen. Nadler beobachtete eine Weile schweigend,
wie Wolzow Koppel und Schuhe blank putzte, und höhnte:
„Wenn der Gottesknecht befiehlt, dann spurt der Wolzow!“
Vetter schmiß ihm einen Schnürschuh ins Kreuz. Nadler
flüchtete.
Holt nahm den Briefblock vor. Er kam über die Anrede nicht
hinaus, und auch diese war schon ein Problem. Wolzow kam
zurück, gelassen wie üblich, aber insgeheim kochte er vor Wut.
„Drei Monate Ausgangssperre! So ein gemeines Schwein!“
Später erzählte er Einzelheiten. „Er war richtig enttäuscht, weil
ich im vorschriftsmäßigen Anzug kam. Hat er mir eine Eins
gegeben, der falsche Hund, für tadellosen Anzug, und
anschließend drei Monate Ausgehverbot.“
Gomulka lachte. „Und dann hat er noch nachgeschlagen, ob
die Strafe auch wirklich den Vorschriften entspricht. So ein
Aas!“
Holt wurde immer wieder von seinem Brief abgelenkt. „Ich hätt
ihm halt vierzehn Tage lang die Schuhe geputzt, da wär Ruh
gewesen“, sagte Branzner, ein magerer Junge mit schwarzem
Haar, krummer Nase und großem, hüpfendem Adamsapfel.
Gomulka meinte: „Ich glaube, Gottesknecht ist nicht übel. Wenn
wir erst im Einsatz sind...“
Im Einsatz! Schon wieder das Stichwort, das Holt um seine
Ruhe brachte. Er ertappte sich dabei, wie er sich nach der
Geborgenheit der Kleinstadt sehnte, und schalt sich
wankelmütig. Auf dem Briefbogen stand noch immer nichts als
die Anrede „Liebe Uta“... Ich will in den Krieg, hab ich gesagt,
und nun verläßt mich der Mut!
Er schrieb endlich einen sachlichen Bericht über den ersten
Tag, soweit er glaubte, davon berichten zu dürfen.
Der Abschied, ist das wirklich erst gestern gewesen? Es liegt
so weit zurück! Vorbei, für immer. Alles andere ist Illusion. Ich

119
bin fast drei Jahre jünger als sie. Sie ist verlobt. Aber nun, da er
schrieb, betrog er sich selbst. Es durfte nicht vorbei sein! „Laß
mich nicht im Stich“, schrieb er. „Uns steht vielleicht sehr
Schweres bevor. Laß mich nicht allein.“

„Der Seitenrichtkreis“, sagte Schmiedling, „hat vierasechzg


Hundert Teilstrich!“
Gomulka und Branzner, eifrig bei der Sache, in der Schule
gute Mathematiker, rechneten den Richtkreis in Bogengrade um
und brachten so ein wenig Abwechslung in die Hirne, die vom
Drill ermüdet waren. Jeder redete, wie es ihm gefiel.
„An der Höhenrichtmaschin stellen wir Grad ein“, lehrte
Schmiedling, „und a jeds Grad hat vier Strich!“
An der Zünderstellmaschine hieß es „Grad vom Kreuz“;
dreißig Sekunden Zünderlaufzeit entsprachen
dreihundertsechzig Grad, die Gomulka in Sekunden und
Flugstrecken umzurechnen versuchte. „Schade... dazu braucht
man wohl Differentialrechnung!“
Schmiedling hatte noch nie so gelehrige Rekruten erlebt. „Die
Granate... was die Anfangsgeschwindikeit is, die is am größten!
Dös heißt die Vaunull! Dös Spritzen hat a Vaunull von
achthundertsechzig...“ – „Meter pro Sekunde“, ergänzte
Wolzow. Schmiedling war nicht gesonnen, sich das
Durcheinander länger bieten zu lassen. Er scheuchte die
Bedienung in Reih und Glied und ließ wiederholen:
Seitenrichtkreis, Höhenrichtbogen und Zünderstellmaschine. Es
dauerte Tage, bis sie das Geschütz bedienen lernten.
Sie unterhielten sich immer wieder über diese Form des Drills.
Wolzow sagte: „Es gibt Situationen, wo das Denken versagt. Da
muß alles automatisch in den Gliedern sitzen. Die
Ausbildungsmethoden sind für alles mögliche Kroppzeug,
Müllkutscher, Straßenkehrer... Die sind so blöd, daß sie das nie
kapieren würden, deshalb wird es bis zum Kotzen gepaukt!“ Er
berief sich auf die Autorität eines Obersten. „Mein Vater hat
immer gesagt, die militärischen Ausbildungsvorschriften sind so
beschaffen, daß es auch das größte Rindvieh noch kapiert!“

120
Die Jungen, die am Feuerleitgerät ausgebildet wurden,
spielten sich mächtig auf. „Mit uns macht der Wachtmeister den
ganzen Tag Flakschießlehre, es ist hochinteressant!“
Gomulka, als er einmal mit Holt allein vor der Barackentür
stand, sagte: „Die Sache hat noch eine Kehrseite. Drill versüßt
uns den Einsatz.“ – „Du hast recht. Wenn ich anfangs an den
Einsatz dachte, war mir ziemlich komisch... Heute wollte
Schmiedling zum fünfzigstenmal wissen, welchen Seitenwert
Richtung sieben hat. Da hab ich gedacht: Mag’s im Ruhrgebiet
noch so schlimm werden... jedenfalls ist dann dieser sture Mist
vorbei!“
„Das wollen sie erreichen.“ Gomulka nickte. „Hier ist das recht
harmlos“, fuhr er fort, „ich staune, wie anständig sie mit uns
umgehn. Die Rekruten in der Kaserne, die werden derartig
geschliffen, daß ihnen die Front wie ‘s Paradies erscheint... Wer
schon mal draußen war, läßt sich allerdings lieber schleifen“,
setzte er hinzu. Holt lachte. „Die große Wende wird schon
kommen!“
„Fragt sich bloß, wie!“
„Aber Sepp!“ sagte Holt vorwurfsvoll. „So kann man nicht
reden!“
„Ich rede nur zu dir so“, erwiderte Gomulka. „Ich überleg
manchmal, ob wir nicht alle... die Augen zumachen, was den
Krieg angeht!“
„Solche Gespräche“, sagte Holt, „... und solche Gedanken...
das untergräbt die Moral, Sepp!“

Die Kanoniere hießen K 1 bis K 9 und wurden vom


Geschützführer befehligt. Jeder hatte seinen Platz und seine
Aufgabe. Der Geschützführer war durch eine Telefonleitung mit
der Befehlsstelle verbunden, von dort erhielt er alle
Anordnungen, einschließlich des Feuerbefehls. Die
Feuerglocke gab dem K 3, dem Ladekanonier, das Signal zum
Laden und Feuern. „Dös heißt net Schuß, sondern Gruppe“,
erklärte Schmiedling und wiederholte zehnmal, daß dem
Geschützführer absolut und bedingungslos zu gehorchen sei!
Oft komme es vor, daß ein Luftwaffenhelfer die Funktion des

121
Geschützführers übernehme; dann schulde man ihm den
gleichen Gehorsam.
Die neun Kanoniere mußten ihre Aufgaben erst einmal in
Form von neun Sprüchen erlernen, und jeder mußte jedes
Sprüchlein auswendig wissen. K 1 war Höhen- und K 2
Seitenrichtkanonier. K 6 bediente die Zünderstellmaschine. K 3
war der Ladekanonier, nächst dem Geschützführer der
angesehenste Mann. K 4, K 5, K 7, K 8 und K 9 nannten sich
Munitionskanoniere, und sie genossen das geringste Ansehen.
Das alles, verlangte Schmiedling immer wieder, müsse man im
Schlaf beherrschen.
„Weißt du was?“ sagte Wolzow eines Abends zu Holt. „Von
wegen ,im Schlaf beherrschen’! Wir probieren das mal!“
Gomulka, der nachts halb zwei wach Wurde, weckte Holt, und
gemeinsam holten sie Wolzow aus dem Bett. „Wen nehmen
wir?“ – „Den Branzner, das Rindvieh“, brummte Wolzow. Zu
dritt umstanden sie Branzners Bett. Wolzows Taschenlampe
leuchtete. Die Nachthemden reichten nur bis an die Knie,
verwaschen und immer wieder geflickt. Holt sah auf Wolzow,
dem das Hemd viel zu eng war. über dem mächtigen Brustkorb
spannte es sich zum Zerreißen, unten schauten die stachlig
behaarten Beine hervor.
„Los!“ Gomulka und Holt faßten Branzner links und rechts an
den Armen, rissen ihn hoch, und Wolzow leuchtete ihm ins
Gesicht und brüllte: „Los! K 2!“
„K 2 stellt laufend... laufend...“, stammelte Branzner
erschrocken und schlaftrunken, dann kam er zu sich, und nun
ging es wie am Schnürchen: „K 2 stellt laufend mit Hilfe der
Seitenrichtmaschine die vom Kommandohilfsgerät
durchgegebenen Seitenrichtwerte am Seitenteilkreis ein und
beobachtet den Umdrehungsanzeiger!“ So, das war geschafft,
und Branzner fügte hinzu: „Mensch, ihr spinnt wohl... mitten in
der Nacht!“
„Schnauze! K 6, los!“ Aber da weigerte sich Branzner. Sie
sahen sich nach einem neuen Opfer um, das nicht von
Wolzows Gebrüll erwacht war. „Los, den Rutscher, der stottert
so schön!“ Das Spiel, unter schadenfroher Anteilnahme der
anderen, wiederholte sich. Rutscher hing ihnen sekundenlang

122
verschlafen in den Armen, aber Wolzow knuffte ihn in die
Rippen und brüllte: „Los, du Heini, K 6, wird’s bald?“
„K 6... stellt... laufend die vom Ko-Ko-Kommandohilfsgerät
durchgegebenen Zünderlaufzeiten auf der Zünderstellmaschine
ein und be-betätigt die Schwungma-ma-masse!“ stotterte
Rutscher.
„Tatsächlich!“ rief Wolzow. „Es klappt im Schlaf!“
Da wurde die Tür aufgestoßen, Licht flammte auf, und in der
Tür stand Gottesknecht, in einem roten Bademantel,
barhäuptig, an den Füßen Pantoffeln. Er sagte böse: „Hab ich
Sie erwischt! Nachtruhe eisern einhalten, hab ich ausdrücklich
befohlen! Und Sie? Rumtoben, nachts halb zwei!“ Gomulka
faßte sich zuerst und wollte melden, aber Gottesknecht sagte:
„Quatsch, Meldung im Nachthemd, nächstens melden Sie noch
auf der Latrine!“ Jemand lachte, aber Gottesknecht rief: „Ruhe!“
Er wandte sich an Holt: „Was ist hier los? Aber ehrlich: wen
wollten Sie verdreschen, und warum?“ – „Herr Wachtmeister“,
antwortete Holt, „wir wollten niemanden verdreschen! Wir
haben nur mal ausprobiert, ob die Sprüche der Kanoniere
wirklich aus dem Schlaf klappen, wie das der Obergefreite
Schmiedling immer verlangt.“ Gottesknecht blickte eine Weile
auf Holt, dabei entspannte sich sein Gesicht. „Na und? Geht’s?“
„Jawohl, Herr Wachtmeister. Der Branzner hat den K 2 und
der Rutscher den K 6 aus dem Schlaf aufgesagt, ohne
Überlegung.“
„Sie haben Humor!“ sagte Gottesknecht. „Los, in die Betten!“
Sein Blick haftete an Wolzow. „Kommen Sie her! Holt und
Gomulka haben sich Schuhe angezogen, die kann ich ins Bett
schicken, aber Sie, barfuß auf dem dreckigen Fußboden...“ –
„Herr Wachtmeister“, sagte Wolzow, „egal haben Sie’s mit mir!“
Gottesknecht, eine steile Falte auf der Stirn, rief: „Wolzow, jetzt
reicht mir’s!“ Er stemmte die Hände in die Hüften, seine Stimme
war wieder ganz ruhig: „Ich hätte Sie die Füße waschen lassen
und dann ins Bett geschickt. Aber jetzt... los, ziehen Sie Drillich
an, kommen Sie raus, aber schnell, jetzt sollen Sie mal sehn,
wie das ist, wenn ich’s mit einem ,egal habe’!“
Holt und Gomulka krochen gehorsam ins Bett. Gottesknecht
löschte das Licht. Im Dunkeln zog sich Wolzow murrend an. Im

123
Einschlafen hörte Holt ihn fluchend zurückkommen und zu Bett
gehen.

Am anderen Tag wußte auch Schmiedling davon. „Dös kenn i


bei unserm Wachtmeister gar net, daß der a jemand schleifa
tuat, in der Nacht scho gar net!“ Er zeigte ehrliches Mitgefühl.
In den Pausen der Ausbildung unterhielt er sich immer
aufgeschlossener mit den Jungen und erzählte auch von sich
selbst. So erfuhr Holt, daß Schmiedling Landarbeiter auf einem
großen Gut war und daheim eine Frau mit vier Kindern auf ihn
wartete. Als einziger Soldat der Batterie war er k. v.,
kriegsverwendungsfähig, also seit langem reif für die Front. Er
behauptete, sich nur in der Heimat halten zu können, weil der
Major, „was unser Kmandeur is“, ihm gewogen sei. Das könne
sich sofort ändern, die Sympathie sei schnell verscherzt. Daher
müsse seine Bedienung die beste sein, dürfte bei der
Besichtigung niemals auffallen und habe beim Schießen immer
die besten Resultate zu erzielen. Holt hörte nachdenklich, was
Schmiedling da erzählte.
„Wenn einer nicht spurt“, sagte er schließlich, „bekommt er’s
mit uns zu tun!“ Schmiedling nickte dankbar. Heimat sei eben
Heimat, selbst im Ruhrgebiet.
Holt und Gomulka wechselten einen Blick. Bisher hatte es
Gerüchte gegeben von einem Einsatz in Berlin, aber Holt und
Gomulka waren dagegen aufgetreten. Nun plauderte
Schmiedling alles aus. Die Wirkung war dementsprechend. Die
Jungen schauten betreten vor sich hin. „Teifi, dös is mir halt
rausgerutscht. Dös dürfen S’ gar net wissen!“
In der Mittagspause wußten es alle.

Holt wartete ungeduldig auf Post von Uta. Ich bin ihr
gleichgültig, dachte er, sie denkt nicht mehr an mich. Als bei der
Postverteilung endlich sein Name aufgerufen wurde, bekam er
nur ein Päckchen von seiner Mutter. Sie schickte ihm die
erbetenen Zigaretten. Warum schrieb Uta nicht?
124
Zu seiner Mutter wünschte er sich nicht zurück. Aber er dachte
häufiger als früher an seinen Vater, den er fast vier Jahre lang
nicht mehr gesehen hatte. Utas Worte: „Jedenfalls scheint er
ein Mann von Charakter zu sein“ hatten auf Holt nachhaltig
gewirkt. Vielleicht hatte er gar keinen Grund, sich seines Vaters
zu schämen. Aber die Entfremdung wurde durch diesen
Gedanken nicht geringer.
Wieder verteilte der Wachtmeister beim Mittagessen Post.
Holt erhielt als letzter einen Brief. Er wagte kaum, den
Umschlag zu öffnen. In der Stube legte er sich auf sein Bett und
las. In der kleinen Stadt ging das Leben weiter, als habe es die
Jungen der Klasse VII niemals gegeben. Die Worte, die Holt
ungeduldig überflog, waren blank und spöttisch wie immer.
Aber zum Schluß wurden sie ernst. „Glaube nicht“, schrieb Uta,
„daß dieser Sommer spurlos an mir vorübergegangen ist, aber
reden wir nicht davon. Das Wasser zwischen uns
Königskindern ist tief. Aber solange Du daran Freude hast,
kannst Du mit einer gewissen Anhänglichkeit meinerseits
rechnen; es wird Dich, wie ich Dich kenne, zu ungeheuren
patriotischen Taten anspornen.“
Er setzte sich am gleichen Abend hin und schrieb, verliebt und
überschwenglich.
Sie wechselten nun regelmäßig Briefe. Auf seine Verliebtheit
antwortete sie mit Spott und Ironie. Nie schrieb sie mehr als
zwei Seiten, aber auch nie weniger. Er bewahrte den
Briefpacken sorgfältig auf; das Kreuz trug er stets in der
Brusttasche.

Wolzow erklärte eines Tages: „Das einzig Wahre ist Laden!“


Scharf zu laden war für Luftwaffenhelfer verboten. „Dös is a z’
schwere Arbeit für a solche Jungs!“ sagte Schmiedling. Die
Patronen wogen etwa dreißig Pfund und mußten auch bei
siebzig oder achtzig Grad Rohrerhöhung in drei Sekunden
geladen und abgefeuert sein. Aber Wolzow setzte es durch,
daß er sich den riesigen, aus fingerdickem Leder genähten
Ladehandschuh auf die rechte Hand ziehen und vorführen
durfte, was Holt als wohlformuliertes Sprüchlein zum
hundertstenmal in den Geschützstand brüllte: „K 3 faßt bei

125
Ertönen der Feuerglocke eine in der Zünderstellmaschine
ladefertig gemachte Patrone mit der rechten Hand am
Patronenboden, mit der linken Hand am Schwerpunkt des
Geschosses und führt sie mit der geballten rechten Faust ins
Rohr ein. Unter gleichzeitiger Linksdrehung des Oberkörpers
zieht er mit der rechten Hand ab.“
Das Feuerleitgerät gab nun beim Gefechtsexerzieren
Richtwerte an die Kanonen. Eine uralte Klemm-Schulmaschine
brummte als Ziel über der Stadt herum.
Sie fühlten sich bald als erprobte Flaksoldaten. „Wir alten
Krieger“, sagte Wolzow immer häufiger im Gespräch. Was sie
an den Geschützen gelernt hatten, das war in Fleisch und Blut
übergegangen. Täglich lernten sie Neues. Es gab starres und
bewegliches Sperrfeuer. Nahfeuer mit besonderer Munition, die
durch gelbe Ringe auf den Patronenböden gekennzeichnet war.
Mitten im gefechtsmäßigen Exerzieren mußten sie den
Verschlußkeil ausbauen, weil angeblich der Schlagbolzen
gebrochen war, was in der Praxis kaum jemals vorkam; aber
Schmiedling bevorzugte gebrochene Schlagbolzen, weil dies
eine beliebte Aufgabe bei der Besichtigung sei... Er stand
dabei, die Uhr in der Hand, und stoppte die Zeit. Gleicher
Beliebtheit erfreuten sich Versager, welche hundert Meter weit
aus der Stellung getragen werden mußten, was die Bedienung
in Deckung abzuwarten hatte...
Das Geschütz- und Munitionsreinigen war erträglich.
Schmiedling hockte dabei und erzählte. Er zeigte Bilder seiner
Frau und seiner vier Kinder. Man lobte, wie „kräftig“ die Kleinen
seien. Dieses Stichwort hatte Schmiedling selbst gegeben. Er
hatte Holt das Bild seiner Frau gezeigt, ein kleines, vom vielen
Herumreichen abgenutztes Photo. „Sehen S’ Ihnen die amol
an, net wahr, dös is’ a kräftige Frau, wie S’ fei ka beßre net
wern findn!“ Warum hebt er so hervor, daß sie kräftig ist?
dachte Holt. Darauf kommt es bei einer Frau doch nicht an!
„Wissen S’, die schafft am sölbigen Hof, als Großmagd, da wo i
als Schweizer gearbeit hab... Dös is a Glück, wenn a Frau so
anpacken kann! Dös haut hin!“ Er sagte noch mehrfach: „Dös
haut hin... Die beiden Buabn arbeitn a scho mit, die treiben dös
Vieh auf d’ Alm, net wahr!“

126
Wieder sah Holt mit einem nachdenklichen Blick auf den
Obergefreiten.
Aber die Stunden am Geschütz, da man beieinandersaß, eine
Patrone mit „Fliegerfett blau“ einrieb und dabei plauderte, waren
selten. Müde, wie zerschlagen, fielen die Jungen abends ins
Bett und rappelten sich ein paar Stunden später wieder auf,
wenn die Glocke zur Nachtübung rief, und Gottesknecht setzte
das nächtliche Gefechtsexerzieren stets ohne vorherige
Benachrichtigung an.
Schmiedling zeigte am Geschütz einen unerschöpflichen
Einfallsreichtum. „Das kann er sich gar nicht alles ausdenken!“
sagte Gomulka. „Das muß wohl alles vorkommen.“ Mitten im
nächtlichen Exerzieren ließ Schmiedling das Funkmeßgerät
ausfallen: Düppel-Störung! „Dös is, wann die daheroben so a
Silberpapierzeugs runterschütten, was die Stanniolstreifen sin,
da kann dös Fu-MG net messen!“ Er befahl eine neue Art des
Sperrfeuers, Barrikadenfeuer, der Befehl lautete: „Barrikade –
marsch!“, und bei fest eingestellten Richtwerten mußten die
Ladekanoniere laden und feuern, immerfort laden und feuern...
„Jetzt is d’ Munition am Gschütz zu Ende is die, holen S’
Patronen von der Zwotausstattung ran, aber dalli!“ Sie liefen,
Exerzierpatronen im Arm, durch die Nacht, vom Geschützstand
zu den weit entfernten Bunkern der Zweitausstattung und
zurück, eine Stunde lang, hin und her, bis sie vor Anstrengung
keuchten und ihnen die Knie zitterten. Dabei pfiff Schmiedling
auch noch auf seiner Trillerpfeife, und sie mußten sich mit der
Patrone im Arm hinwerfen – aber wehe, wenn dabei die
Patrone den Erdboden berührte! –, denn jeder Pfiff bedeutete
eine Bombe.
Bei einer solchen Gefechtsübung kam der dicke Vetter zu dem
Spitznamen „Leiche“. Schmiedling ließ einen der fingierten
Tiefangriffe mit Nahfeuer abwehren; beim Nahfeuer hatten die
Richtkanoniere das Ziel übers Rohr direkt anzuvisieren. („Wobei
jeder Schuß ‘n Kilometer danebenhaut“, sagte Wolzow.) Alles
klappte, hundertmal geübt; doch da tauchte die alte Klemm
plötzlich tief, ganz tief im Süden über dem Stadion auf, knatterte
über die Stellung hinweg, und Schmiedling brüllte: „Tiefangriff
Richtung sechs! Volle Deckung!“ Auch das war schon

127
hundertmal geübt worden. Aber heute passierte Vetter ein
Mißgeschick. Er warf sich nicht der anfliegenden Maschine
entgegen in die Deckung des hohen Erdwalles, sondern hopste
eine Weile unentschlossen im Geschützstand herum und
suchte dann auf der entgegengesetzten, auf der falschen Seite
Deckung, während die Klemm über ihre Köpfe hinwegbrauste.
Schmiedling wurde zornig. Er scheuchte die anderen wieder
ans Geschütz, Vetter aber rief er zu: „Vetter, werden S’ wohl
liegenbleiben! Sie san tot! Tot san Sie! Sie depperte Leich, Sie
depperte!“
Holt sagte später zu Gomulka: „Es ist ein unheimlicher
Spitzname...“ Aber es blieb dabei, und auch Gottesknecht rief:
„Vetter, Sie Leiche, Sie sollen ja lebensmüde sein!“
Überhaupt: Gottesknecht! Er wußte alles, er sah und hörte
alles und tauchte stets im unpassendsten Augenblick auf. An
den „Gastagen“, da man von früh bis abends mit aufgesetzter
Gasmaske herumlaufen mußte, wurde Gottesknecht zur Plage.
Man hatte ihnen französische Beutemasken gegeben, deren
großer und schwerer Filter in einer umgehängten Tasche
getragen wurde und durch einen Gummischlauch mit der
Maske verbunden war. Die Jungen schafften sich Erleichterung,
indem sie die Filter lockerschraubten, um mehr Luft zu
bekommen. Aber dann war plötzlich Gottesknecht da, faßte in
die Umhängetasche, und es hagelte Nicht genügend.

Während des harten Dienstes verfolgten die Jungen mit


besonderer Spannung die Nachrichten über den Luftkrieg. Tag
und Nacht flogen die Bomber über die Grenzen, mindestens
nachts die „Störflugzeuge“, unter denen sich niemand etwas
Genaues vorstellen konnte. Immer häufiger wurde das
„rheinisch-westfälische Gebiet“ als Angriffsziel genannt. „Das
sind wir“, sagte Holt zu Gomulka. Es war nun schon Oktober.
„Hast du gehört? Gestern nacht wieder mehrere Städte,
besonders Bochum.“ Wolzow las aus der Zeitung vor, eine
Luftschlacht über Bremen habe die Angriffe im ganzen nicht
verhindern können.
Holt dachte an seine Verwandtschaft in Bremen. Der
Stiefbruder seiner Mutter war dort Generaldirektor einer Werft.

128
Die Hamburger Verwandten hatten die Angriffe unbeschadet
überstanden.
Schon wenige Tage später hörte man von einer siegreichen
Luftschlacht über Schweinfurt. „,Die deutsche Luftabwehr hat
am 14. Oktober wiederum ihre ständig wachsende Stärke
bewiesen und den feindlichen Angriffsverbänden gezeigt, daß
ihrer Vernichtungswut Grenzen gesetzt sind’“, las Wolzow vor.
Die Nachricht verbreitete Optimismus. „,Wir registrieren
nüchtern einen Markstein in der Entwicklung des großen
Luftkampfes...’, und hier: ,Die Piloten abgeschossener
Maschinen haben völlig demoralisiert von der »Flakhölle«
gesprochen!’„ Vor diesen Nachrichten verblaßten die
Meldungen von den Fronten. Wen interessierte schon die
„Ausdehnung der Schlacht im Osten“? – „Ich denke, wir werden
gerade zur großen Wende des Luftkrieges zurechtkommen“,
sagte Holt, „wenn bloß erst die Ausbildung ein Ende hätte!“
Schmiedling malte täglich die Folgen einer fehlgeschlagenen
Besichtigung aus. Das Ausbildungsprogramm war erfüllt, es
gab nichts Neues mehr.
Die Batterie, an deren Geschützen sie ausgebildet wurden,
hatte in der vergangenen Zeit ein paarmal Alarm gehabt.
„Gefechtsschaltung“ war die erste Alarmstufe; kamen die
Bomber näher, wurde „Feuerbereitschaft“ befohlen, aber das
war in den fünf Wochen nicht vorgekommen. Der Alarm der
Batterie 329 hatte die Jungen von der 107/III bisher nicht
betroffen.
Eines Tages waren sie, wie üblich, zum Unterricht in der
Kantine versammelt, und Gottesknecht ritt sein Steckenpferd
Flakschießlehre. Der etwas schwerfällige Hampel hatte gerade
das dritte Nicht genügend einstecken müssen, als die
Alarmklingel losschrillte. Da packte Gottesknecht seine
Dienstvorschriften ein und sagte: „Wissen Sie was? Heute
machen wir mit.“ Es fuhr ihnen in die Glieder.
Die Batterie, am Tage nur mit vier Geschützen feuerbereit,
wurde des Nachts durch Arbeiter und Angestellte aus der Stadt,
durch sogenannte Flakwehrmänner, verstärkt, so daß alle
sechs Geschütze besetzt werden konnten. Heute nun rannten

129
die Jungen an die beiden Geschütze. Gottesknecht zog mit
seinen acht Mann auf die Befehlsstelle.
Schmiedlings Bedienung war aufgeregt, am aufgeregtesten
aber war Schmiedling selbst. „Machen S’ mir ka Schand net, i
bitt Sie!“ Wohl zehnmal versicherte er: „Wenn’s was geben
sollt... Dös Schießen is fei net schlimm is dös net!“ Da sie noch
keine Gehörschützer empfangen hatten, verteilte er Watte.
Als Ladekanonier war ihnen ein Obergefreiter, der
„Schreibstubenhengst“, zugeteilt worden. Wolzow nahm ihm
den Ladehandschuh weg, Schmiedling, an der
Geschützführerleitung, sagte: „Benehmen S’ Ihnen net so frech!
Da muß i erst an Antrag auf Sondererlaubnis muß erst amol
eingreicht wern, eh Sie scharf laden dürfen!“ –
„Gefechtsschaltung aufgehoben“, brüllt jemand von der B 2.
Am nächsten Morgen, beim Appell, rief Gottesknecht: „Ich hab
eine Überraschung! Unser Dienstplan sieht vier Stunden
Gefechtsexerzieren vor, geht Punkt zehn Uhr los, mit
Zieldarstellung. Da fliegt ein ganz toller Bomber für uns; zeigen
Sie mal, was Sie gelernt haben! Grinsen Sie nicht, Holt! Warum
grinsen Sie?!“ – „Herr Wachtmeister, der tolle Bomber wird
wieder die alte Klemm sein, die fällt uns bestimmt mal auf den
Kopf!“ – „Mangelhaft!“ rief Gottesknecht. „Heute fliegt
tatsächlich eine Ju 88, weil es das letztemal ist!“
Es geht los, dachte Holt, es ist soweit! Und er sah auf Wolzow,
der Ruhe und Gelassenheit ausstrahlte. Gottesknecht fuhr fort:
„Ich schau mir während des Exerzierens die
Geschützbedienungen an, mit allen Schikanen. Wenn es
klappt...“ Er zögerte, dann fuhr er ganz sachlich fort: „... dann
tragen Sie anschließend sämtliche Klamotten auf die Kammer.
Unsere Batterie hat im Raum Essen, Wattenscheid und
Gelsenkirchen Stellung bezogen, ideale Gegend! Wir fahren
heut nacht.“
Alle wußten es, aber da Gottesknecht es aussprach, traf es
doch wie ein Hieb. Gottesknecht rief: „Heiliger Antonius! Was
ziehen Sie denn für Gesichter! Was denken Sie, wie schön das
dort wird! Ich versprech Ihnen eine ganz ruhige Tour, wenn
nicht grad geschossen wird oder wenn Sie nicht grad
Schulunterricht haben, das geht dort nämlich weiter, oder wenn

130
nicht grad Munition abgeladen wird oder wenn nicht grad
Bombentrichter zugeschaufelt werden müssen oder wenn nicht
grad was anderes ist. - Ruhe im Glied! Wolzow, quatschen Sie
nicht. Sie wollen Offizierssohn sein? Der Schandfleck der
Batterie sind Sie!“
„Herr Wachtmeister“, sagte Wolzow, „den ,Schandfleck’ laß ich
mir nicht gefallen, das ist...“
„Wolzow! Treten Sie vor! Nach links weg, marsch, marsch...
hinlegen... auf... hinlegen!“ Er wandte sich zum rechten Flügel.
„Schmiedling, machen Sie weiter, los, schleifen Sie Ihren
Liebling mal ‘n bißchen, so ein frecher Kerl, zehn Minuten, aber
mit allem Drum und Dran!“ Und zu Wolzow, der bewegungslos
auf dem Boden lag: „Gaaaas! So ist’s schön, jawohl, nein, Sie
hier nicht, bloß der Wolzow, damit sich ihm das Ende der
Ausbildung einprägt!“
Wolzow hatte die Gasmaske übers Gesicht gestreift.
Gottesknecht rief: „Schmiedling, sehen Sie nach, ob die Maske
dicht ist, der Wolzow ist raffiniert! Herrgott, Schmiedling, wie
machen Sie denn das? Da drückt man einfach den Schlauch
zusammen, wenn er dann nach fünf Minuten noch lebt, sitzt die
Maske nicht dicht!“
Die Jungen lachten. Der Wachtmeister sagte: „Ist das nicht
schön, daß wir alle so prachtvolle Laune haben? – Holt! Warum
lachen Sie nicht mit?“
„Herr Wachtmeister, der Wolzow ist mein Freund, da können
Sie nicht erwarten, daß ich mich amüsier, wenn er geschliffen
wird!“
„Herrlich muß das sein, so ‘n treuer Freund!“ rief
Gottesknecht. „Wie sagten Sie? Das kann ich nicht erwarten?
Haben Sie eine Ahnung, was ich alles kann! Holt, los, Gaaaas!“
Holt riß die Gasmaske heraus und setzte sie auf. „Schmiedling,
nehmen Sie Kastors Pollux gleich mit! Verstehen Sie nicht?
Den Holt sollen Sie auch ein bißchen schleifen!“ Und er rief:
„Geteiltes Leid, Wolzow, ist halbes Leid. Wie bin ich zu Ihnen?“
Holt und Wolzow keuchten über den Acker. Nach einer
Viertelstunde schickte Schmiedling sie in die Baracke. „Teifi,
war dös wieder amol nöti?“

131
In der Stube war der bevorstehende Einsatz alleiniges
Gesprächsthema. So stark sich ein jeder auch gebärdete: die
Aufregung grenzte an Angst. Wolzow sagte: „Ob dir was
geschieht oder nicht, das steht fest, da kannst du gar nichts
machen! Soll dir was passieren, dann passiert’s so oder so, ob
du bei der Flak im Ruhrgebiet bist oder an der Ostfront.“ –
„Allah ist groß“, sagte Gomulka, „alles steht im Buche des
Lebens verzeichnet! Deine Schicksalsergebenheit hat was für
sich.“ – „Mein Vater hätte dir vielleicht Geschichten erzählen
können“, rief Wolzow, „aus zwei Kriegen, von Leuten, die
geglaubt haben, sie können ihrem Schicksal entgehen!“
Es komme, wie’s kommen muß, dachte Holt.
Kurz vor zehn rief Schmiedling sie an die Geschütze.
Gottesknecht war eine halbe Stunde bei Schmiedlings Kanone
zu Gast. Er fand nichts auszusetzen. Noch einmal wurde das
Programm durchexerziert. Holt, so hatte es sich eingebürgert,
war K 2, Gomulka richtete die Höhe, Vetter hockte an der
Zünderstellmaschine. Wolzow war K 3. Gottesknecht sah, wie
spielerisch leicht Wolzow auch bei maximaler Rohrerhöhung die
schwere Patrone ins Rohr schob. „Na, Schmiedling, da haben
Sie eine brauchbare Bedienung ausgebildet!“ Schmiedling gab
das Lob weiter: „Ihr seid’s fixe Kerle! Wir müssen
zsammenbleibn!“
In den HJ-Uniformen, in denen sie angekommen waren, lagen
sie auf den blanken Strohsäcken herum und schrieben eifrig
Briefe. Gegen Abend holten sie Verpflegung, dann stand schon
Gottesknecht in der Tür. „Meine Herren, wenn ich Sie höflichst
bitten darf... Der Wagen ist vorgefahren! Nehmen Sie
tränenreichen Abschied.“
Ein großer dreiachsiger LKW jagte durch die Nacht. Auf den
heißen, trockenen Sommer war der Oktober gefolgt,
wolkenverhangen, oft regnerisch und kühl. Bei Regen und
triefender Nässe hatten sie am Geschütz gehockt, dann wieder
waren strahlende Herbsttage heraufgedämmert, warm und
wolkenlos. Diese Nacht aber war dunkel, kalt und sternenlos.
Mit abgeblendeten Scheinwerfern raste der Wagen westwärts.

132
4

Der Wagen hielt in der Dämmerung auf einer Anhöhe. Es war


morgens gegen fünf. Die Luft, von weißem Nebel gesättigt,
schmeckte nach Ruß und Rauch. Klamm die Anzüge, die
Glieder steif vor Kälte, so standen sie herum. Undeutlich im
Nebel erkannte Holt mehrere dicht nebeneinanderstehende
Baracken. Er fror und fand sich nicht zurecht.
Ein Obergefreiter tauchte aus dem Nebel, um die linke Achsel
die gelbe Schnur des UvD. „Servus, Fritz!“ rief Schmiedling
erfreut. „Dös is unser Waffenmeister, der Obergfreite Macht!“ –
„Leise“, sagte Macht, ein Mann von fünfunddreißig Jahren,
klein, dick und blond, „leise! Dort drüben schläft der Chef!“ Er
wandte sich an die Jungen: „Sie werden eingekleidet.“ – „War
was los heut nacht?“ fragte Schmiedling. „Hier war Ruhe“,
antwortete Macht, „aber im Norden hat’s Zunder gegeben.“ –
„Und sonst?“ – „Jede Nacht“, sagte der Waffenmeister, „und
fast jeden Tag.“ Und zu den Jungen: „Mitkommen!“
In einer der Baracken war die Kammer untergebracht. Durch
Fensterläden schimmerte Licht. Irgendwo in der Nähe erhob
sich wütendes Hundegebell. Eine dröhnende Stimme rief: „Halt
‘s Maul, Mensch!“ - „Das ist der Chef!“ flüsterte Macht. „Seid
bloß still!“
Sie erhielten Uniformen, eine Ausgehmontur mit einreihigem,
auf Taille gearbeitetem Mantel, und auch ein Blechbüchschen
mit Gehörschützern. Obergefreiter Schnitzler, der
Kammerunteroffizier, war ein dünner, behender Mann mit
raschem Mundwerk. „Meckern Sie nicht! Wenn was nicht paßt,
tauschen Sie’s um!“ Mit Kleidern bepackt, verließen sie die
Kammer und zogen sich in einer leerstehenden Baracke um.
Die Wohnbaracke A, Anton genannt, stand etwa fünfzig Meter
von der Kammer entfernt. Holt war bald fertig. Er ging ein paar
Schritte den Fahrweg entlang, blieb stehen und sah sich um.
Es tagte. Bald mußte die Sonne aufgehen. Der Morgenwind
trieb den Nebelvorhang zur Seite, der Blick auf die Stellung
wurde frei. Holt prägte sich die Lage der Batterie fest ein. Ein
kahler Höhenrücken, der Boden schmutziggrau, die Äcker
mager und steinig. Im Osten stand Wald, dürre, kahle Stämme,
133
die trostlos an die üppigen, unwegsamen Wälder in den Bergen
erinnerten. Vier weit auseinanderliegende Wohnbaracken
bildeten ein großes Rechteck, dessen Seiten von West nach
Ost etwa hundertfünfzig, von Süd nach Nord nicht mehr als
fünfundsiebzig Meter messen mochten. Holt sah im Morgenlicht
links von sich Anton, rechts Berta, und dort stand noch ein
gemauertes Häuschen, an dem das Wort „Kantine“ zu lesen
war. Zwischen Anton und Berta lag der Barackenhaufen von
Kammer, Schreibstube, Küche und Chefunterkunft. Nach links,
zu Anton, führte ein Lattenrost, nach rechts, zu Berta und der
Kantine, ein breiter Fahrweg, der hier nach Süden bog, talwärts
ein Eisenbahngleis schnitt und dann auf eine Straße mündete.
Jenseits der Straße zog sich ein Kanal von Osten nach Westen;
dort hing noch weißer, undurchsichtiger Nebel. Im Norden von
Berta, am Westhang der Anhöhe, sah Holt Baracke Cäsar, und
im Norden von Anton konnte er Baracke Dora erkennen, davor
einen großen, einsamen Baum. Inmitten dieses Rechtecks lag
die Feuerstellung, die hohe Erdaufschüttung der B 2, umgeben
von den sechs Geschützständen. Hinter der B 2 war das
Funkmeßgerät eingegraben. Im Westen der Feuerstellung
wölbten sich in einer Reihe von Nord nach Süd die vier großen
Munitionsbunker der Zweitausstattung aus dem Acker.
Ringsum, im Tal, sah Holt sich von dem Panorama eines
gewaltigen Industriegebietes umgeben, überall Schlote,
Riesenschornsteine, die grauen Qualm ausspien, wieder und
wieder Schlote, Hochöfen, die rote Flammen brennender
Gichtgase in den Himmel warfen, Lufterhitzer, Kokereien,
riesige Hallen der Stahlwerke am Horizont, dazwischen
Fördertürme mit kreisenden Seilscheiben, Riesenretorten der
Raffinerien, Abraum- und Kohlenhalden wie die heimischen
Berge, und dies alles von Dunst und Rauch überlagert, von
Qualmwolken, die träge mit dem Winde davonwehten, durch ein
Gewirr von Bahnanlagen verbunden und ringsum
eingeschlossen von einem endlosen Häusermeer: Essen im
Süden und Westen, Gelsenkirchen im Norden und Nordosten,
Wattenscheid im Osten. Die Städte liefen ineinander, und
Häuser, Industriewerke, Schlote, Hallen und Gleise nahmen
kein Ende, so weit der Blick reichte.

134
Das ist nun auch mir anvertraut, dachte Holt. Ein Gefühl des
Stolzes bewegte ihn. Aber in seinem Rücken schrie eine derbe
Stimme: „Stehn Sie hier nicht rum!“ Ein Unteroffizier trat vor ihn
hin, ein dreißigjähriger Mann, das Käppi tief in die Stirn
gedrückt. „Name!“ Und dann: „Worauf warten Sie, Holt? Haun
Sie ab, Sie Spund, in zehn Minuten ist Morgenappell!“

Die Batterie trat auf dem breiten Weg an, der am Rande der
Feuerstellung von der Schreibstube zur Kantine führte. Am
rechten Flügel stand das Batteriekommando, ein Unteroffizier
und zehn Obergefreite. Die achtundzwanzig Neuen, wie sie von
den anderen genannt wurden, standen müde und übernächtig
im Glied. Holt sah sich die Oberhelfer an, die schon länger zur
Batterie gehörten, und er dachte respektvoll: Die haben
Hamburg mitgemacht! -
Das Antreten ging nicht ganz reibungslos vor sich. Wolzow
geriet mit einem der Oberhelfer aneinander, der ihn einfach zur
Seite schieben wollte. „Benimm dich!“ sagte Wolzow
schließlich. „Du hältst deine Fresse, Neuer!“ - „Mensch!“ rief
Wolzow. „Spiel dich nicht auf, sonst kracht’s!“ - „Ruhe im Glied!“
brüllte der Unteroffizier, Engel mit Namen. „Wollt ihr wohl die
Schnauze halten?“ Von hinten raunte es: „Laß ihn, Günsche,
machen wir andermal!“
Das gibt Ärger, dachte Holt. Er sah Wolzow verächtlich den
Mund verziehen. Hinten murmelte jemand: „Der Neue soll sich
wundern!“
Engel meldete dem Wachtmeister. Gottesknecht, vor der
Front, musterte schweigend die angetretenen Jungen. Dann
stürzte aus der Chefunterkunft, bei der Schreibstubenbaracke,
mit tollem Gebell ein brauner Setter, raste zu der angetretenen
Batterie, umkreiste sie kläffend und lief zur Schreibstube
zurück, aus der in diesem Augenblick der Batteriechef,
Hauptmann Kutschera, trat.
„Batterie... stillstann!“ schrie Gottesknecht. Er kann also auch
schreien, dachte Holt... „Zur Meldung an den Herrn Hauptmann
Augen... rechts!“ Gruß und Meldung: „Batterie mit zwei
Unteroffizieren, zehn Mann und achtundzwanzig
Luftwaffenhelfern angetreten.“

135
Der Hauptmann legte mit nachlässiger Bewegung die Hand an
den Mützenschirm, trat näher und rief mit einer ungeheuren
Stimme: „Morn, Batterie!“, und: „Morn, Herr Hauptmann!“ scholl
es im Chor zurück. „Lassen Sie rühren“, sagte Kutschera. Auch
wenn er nur leise sprach, dröhnte seine Stimme weit über den
Platz. Gottesknecht kommandierte: „Batterie... rührt euch!“
Dann blieb er links hinter dem Chef stehen. Kutschera schaute
eine Weile gelassen die Front auf und ab.
Holt betrachtete den Gewaltigen: Das war ein riesiger, an die
zwei Meter großer Mann, fünfzigjährig, eine furchteinflößende
Gestalt. Der graue, weite Fahrermantel reichte bis zu den
Knöcheln und wies keine Rangabzeichen auf. Nur an der
Schirmmütze trug er die silberne Paspel der Offiziere. Die
Mütze saß schief auf dem langen Schädel, der aus dem
Fahrermantel bleich emporwuchs, und überschattete das
Pferdegesicht, das schmal und derb konturiert war; alles in
diesem Gesicht zog sich in die Länge, die fleischige Nase, der
breitlippige Mund. Die Augen, tief im Schatten des
Mützenschirms, blickten kalt und drohend. Der Setter lag ihm zu
Füßen, den Kopf auf die Vorderpfoten gelegt.
„Hört mal her“, sagte der Hauptmann. Er öffnete kaum den
Mund, aber seine Stimme war dröhnend und durchdringend. Er
hatte die Hände in den Manteltaschen vergraben. „Jetzt wird
eingeteilt. Wenn das länger als eine halbe Stunde dauert,
passiert was. Punkt acht...“ – er nahm die Linke aus der
Manteltasche und blickte auf die Armbanduhr – „melde ich die
Batterie einsatzbereit. Wird höchste Zeit; hier ist bißchen was
los. Das kotzt mich an, wenn die Schweine da oben rumkurven,
und ich kann ihnen keins draufgeben.“ Er erklärte den
Kampfauftrag: „Schutz der umliegenden Industrieanlagen und
Wohnviertel.“ Dann verstummte er unvermittelt; er wollte sich
abwenden, und der Hund sprang schon auf die Füße. Aber
Kutschera hielt mitten in der Bewegung inne und dröhnte: „Ein
Wort an die Neuen! Wenn sich einer beim ersten Gefecht die
Hosen vollscheißt, das ist mir egal. Aber wehe, einer macht
schlapp! Wenn die Brüder nicht spurn, dann sollen ihnen die
Oberhelfer das beibiegen. Selbsterziehung ist noch immer das
solideste.“

136
Ein Freibrief, dachte Holt und schielte verstohlen zur Seite; er
sah die Oberhelfer grinsen und Blicke wechseln... Die Stimme
des Hauptmanns riß ihn aus seinen Gedanken: „Noch was!
Heut nachmittag Batterieexerzieren mit Zieldarstellung. Da
schau ich mir die Neuen an. Vielleicht kommen ein paar Amis
vorbei, das ist immer noch das solideste... Ach was!“ sagte er
plötzlich und wandte sich ab. Der Hund sprang bellend hoch.
„Sei still, Mensch!“ Der Hauptmann verschwand in Richtung
Schreibstube.
Gottesknecht teilte ein. Schmiedling schrie: „Wolzow! Holt!
Gomulka! Die anderen, los, kommen S’ her!“ Sie blieben
beisammen und wurden Stammbedienung am Geschütz Anton,
dazu noch Weber, Kirsch, Branzner und Kattner, die nachts als
Richtkanoniere zum Geschütz Berta gehörten. „Dös haut hin!“
sagte Schmiedling erfreut, als er seine Bedienung wieder
beisammen hatte. Gottesknecht teilte ihnen noch einen
Oberhelfer als stellvertretenden Geschützführer zu. Er hieß
Günter Ziesche und war ein gedrungener blonder Junge von
siebzehn Jahren, etwas dicklich, mit weibischen Zügen,
unreiner Gesichtshaut und einer großen Warze an der linken
Schläfe.
Auch in der Unterkunft, in die sie bedienungsweise
eingewiesen wurden, blieben sie beieinander, und Ziesche zog
als Stubenältester zu ihnen. Sie richteten sich eine der zwei
kleinen Stuben in Baracke Dora ein, sechs Mann, Ziesche,
Wolzow, Holt und Gomulka, Vetter und Rutscher. In der
gegenüberliegenden Stube nahm die Bedienung von Geschütz
Cäsar Quartier; und die dritte, große, am Ende des Korridors,
war für Flakwehrmänner reserviert.
„Baracke Dora liegt am günstigsten“, sagte Wolzow, „schön
weit weg, hier kommt nicht dauernd der UvD hin!“ Ziesche
erklärte, daß nur wenige der Oberhelfer in Hamburg
dabeigewesen seien, zwölf Mann, die Bedienung des
Funkmeßgerätes und zwei Entfernungsmesser, von denen sich
Hauptmann Kutschera nicht hatte trennen wollen; die anderen
waren in Hamburg geblieben. Etwa fünfzig Oberhelfer
stammten aus den umliegenden Städten. Sie waren aus
anderen Batterien herausgezogen und vor acht Tagen in die

137
107 gesteckt worden. Denn die Batterie hatte erst vor einer
Woche hier Stellung bezogen.
„Eine üble Schinderei“, erzählte Ziesche, während sie sich in
der kleinen Stube einrichteten. „Wir haben den ganzen Tag
gebaut und geschippt, dann aufmunitioniert. Die Hauptarbeit
haben Russen gemacht, aus einem Lager, die mußten scharf
ran, die Posten haben sie mit Knüppeln angetrieben.“ – „Mit
Knüppeln?“ fragte Holt. „Gibt’s das?“
„Du lebst wohl auf dem Mond!“ sagte Ziesche. „Warum soll’s
das nicht geben?“ – „Hast du schon mal was von Völkerrecht
gehört?“ fragte Gomulka.
„Quatsch doch nicht! In diesem Krieg geht es um Sein oder
Nichtsein, da spielen rechtliche Erwägungen keine Rolle! Die
Russen sind sowieso bloß Tiere!“
Es war nichts Neues, Holt hatte es hundertmal gehört.

Die Klingel schrillte, einmal, zweimal, dreimal...


„Gefechtsschaltung!“ rief Ziesche. „Los, Stahlhelm, Gasmaske,
Gehörschützer! Fenster auf, sonst sind die Scheiben hin!... Laßt
euch Zeit, Feuerbereitschaft klingelt nur zweimal!“
Sie liefen schon den Lattenrost entlang. Als Holt den
Geschützstand betrat, sah er ein paar Luftwaffenhelfer mitten in
der Feuerstellung das Müo auslegen, ein riesiges, aus weißen
Tüchern gebildetes Quadrat mit einem Kreuz darin, das allen
deutschen Flugzeugen Landebefehl gab. Im Geschützstand
löste Schmiedling die Plane, die Jungen zerrten sie herunter
und falteten sie zusammen. Schmiedling legte das
Kehlkopfmikrophon um den Hals und schnallte den Kopfhörer
am Ohr fest. Der kleine Weber hockte schon an der
Seitenrichtmaschine, Gomulka war K 1 und polierte den
blanken Höhenrichtbogen, und Vetter, ein wenig bleich, saß an
der Zünderstellmaschine.
Schmiedling schaltete am Kehlkopfmikrophon herum. „Anton...
Verständgung is guat!...“ Er schaltete wieder. „Die machen
Leitungsprob mit ‘m Fu-MG!“ Weber meldete: „Seite gut!“
Gomulka folgte: „Höhe gut“, und auch Vetter meldete
vorschriftsmäßig: „Zünder gut!“ Wolzow grinste, haute ihm auf

138
die Schulter und sagte: „Na, ,Leiche’, ruhig Blut!“ Er zog sich
den Ladehandschuh an.
Holt stand abseits in einer Ecke. Gut, spiel ich eben
Munitionskanonier. Hat seinen Vorteil: man sieht mehr. Habe
ich Angst? fragte er sich plötzlich.
Er schaute in den Himmel. Im Westen stand eine niedrige,
geschlossene Wolkendecke, aber über ihnen war strahlendes
Blau. Eine Viertelstunde, dachte er, dann ist alles zugewölkt,
Schmiedling horchte in den Kopfhörer, dann rief er: „Noch mal
Leitungsprob, mit ‘m Kommandohülfsgerät!“ Die Richtkanoniere
meldeten.
Auf einmal brüllte von der B 2 die Stimme Unteroffizier Engels:
„Feuerbereitschaft!“ Im gleichen Augenblick heulten ringsum, in
diesem ineinandergeflochtenen Netz der Städte, die Sirenen
los: auf – ab, auf – ab, laut und entnervend. Ziesche saß auf
einem Holm der Lafette. „Gleich Vollalarm? Dann wird’s was!“
Holt sah den Hauptmann barhäuptig, den Stahlhelm in der
Hand, in den Fahrermantel gehüllt und von seinem Hund
gefolgt, zur B 2 gehen, dabei brüllte er mit seiner Löwenstimme:
„Wollt ihr vielleicht das Müo einziehen, ihr Banditen?!“ Ein paar
Luftwaffenhelfer liefen über den Acker und rafften die weißen
Tücher zusammen.
„Los, machen S’ die Munibunker auf!“ befahl Schmiedling. Holt
wuchtete eine der schweren Holzplatten hoch, legte sie auf den
Boden und zog ein paar Patronen halb aus den Körben, so daß
sie sich gut fassen ließen. Er war aufgeregt und sprach sich
unaufhörlich selbst Mut zu. „Still!“ schrie Schmiedling. „A
Luftlagmeldung!“ Er horchte so angestrengt, daß sich sein
Gesicht verzog. „Da sein a paar schwere Kampfverbänd über
Südholland im Anflug auf d’ Reichsgrenzn!“ – „Südholland?
Dann kommen sie hierher“, sagte Ziesche.
Der Obergefreite Macht, mit der gelben Schnur des UvD,
betrat den Geschützstand, er rauchte Pfeife, an seinem Arm
baumelte der Stahlhelm. „Machst K 3, Fritz?“ rief Schmiedling
erfreut. Dann befahl er: „Wolzow, geben S’ den Ladehandschuh
her!“ Wolzow protestierte: „Sie haben gesagt, ich darf laden!“
Schmiedling lief krebsrot an. „Wern S’ wohl pariern!“ Wolzow

139
zog murrend den Ladehandschuh aus und warf ihn dem UvD
hin, der ihn verblüfft auffing.
Schmiedling war sehr aufgeregt. Seit Feuerbereitschaft
befohlen worden war, sagte er immer wieder: „Machen S’ mir ka
Schand net... I bitt Sie!“ Und plötzlich: „I hab’s im Gefühl, heut
gibt’s was!“ Dann wieder rief er: „Dös Schießen is net schlimm!
Dös kracht aweng, net wahr... Stellen S’ Ihnen bloß net unters
Rohr, dort is die Druckwell am schlimmsten!“
Schmiedlings Unruhe übertrug sich auf Holt, der erhöht auf
dem Verschlußbrett eines Munitionsbunkers stand, von wo er
über den Erdwall des Geschützstandes hinweg auf die B 2
sehen konnte. Der Hauptmann ragte riesenhaft und barhäuptig
über die Brustwehr und suchte mit einem Fernglas den Himmel
ab.
„Lufttag!“ rief Schmiedling. „Die Kampfverbänd fliegn ‘s
Ruhrgebiet an! Glei geht’s los!“ Auf der B 2 begann wildes
Hundegebell, was in der Meßstaffel fieberhafte Unruhe
auslöste. „Der Blitz vom Hauptmann“, sagte der UvD, der neben
Ziesche auf dem Holm hockte, „der riecht das Schießen!“ Er
zog sich den Ladehandschuh an. Auf der B 2 setzte Kutschera
das Glas ab und schnauzte seinen Hund an: „Sei still, Mensch,
sonst fliegst du raus!“ Das Bellen verstummte.
Auf einmal, unwirklich fern, war ein feines Summen zu hören.
Holt spürte seinen Herzschlag bis in die Schläfen. Die
Wolkenbank stand noch immer im Westen. Von der B 2 dröhnte
die Stimme des Hauptmanns über die Stellung: „Rohre
Richtung neun!“ Das Geschütz schwenkte nach Westen. Holt
beobachtete unverwandt die Befehlsstelle, dort rief eine helle
Jungenstimme: „Motorengeräusch in neun!“ – „Mensch!“ brüllte
Kutschera. „Die Flugmelder, diese Idioten, die pennen wohl?!“
„Zünder hat Werte!“ schrie Vetter, kreidebleich vor Schreck.
Die Schwungmasse der Zünderstellmaschine heulte los wie
eine Sirene. Holt stülpte mechanisch den Stahlhelm auf den
Kopf, riß eine Patrone aus dem Korb, trug sie zu Wolzow, der
sie in den Zünderstelltopf einsetzte und Holt dabei zunickte...
wie gut das tat! Schmiedling schrie: „Schießen mit
Funkmeßgerät!“ Schon meldete Weber: „Seite eingestellt!“

140
Gomulka folgte: „Höhe eingestellt!“ – „Zünder!“ schrie
Schmiedling. „Was is denn mit ‘m Zünder?“
Holt sah und erlebte dies alles wie von fern, denn Angst hatte
ihn gefaßt. Angst vor dem ersten Schuß, Angst vor Bomben,
Angst vor allem, und sie hüllte ihn ein wie der Nebel am
Morgen. Das Geschützrohr schwenkte ganz langsam nach
Norden, Holt, eine Patrone im Arm, stand hinter Wolzow, das
Summen am Himmel wurde stärker, nun begann ein Dröhnen
und Donnern wie ein schweres Gewitter. Der UvD, breitbeinig
hinter dem Geschütz, sagte: „Das sind die Batterien in
Mühlheim!“ Und da kam endlich Vetters Stimme: „Zünder im
Bereich! Zünder eingestellt!“ - „Anton feuerbereit!“ schrie
Schmiedling ins Kehlkopfmikrophon.
Schließlich klappte es wie beim Exerzieren. Holt hörte auf der
B 2 die Stimme Kutscheras: „Feuer frei!“ Dann kam schon
Schmiedling mit dem Ankündigungskommando:
„Gruppenfeuer...“ Holts Herzschlag setzte aus. „Gruppe!“
krächzte Schmiedling, die Feuerglocke rasselte, Macht riß die
Patrone aus der Zünderstellmaschine und schob sie ins Rohr,
der Verschlußkeil fuhr hoch, die ledergepanzerte Hand faßte
den Abzugshebel... Mund auf! dachte Holt noch, dann fuhr ihm
ein Blitz in die Augen, wie ein Schlag traf ihn die Schallwelle,
ein furchtbares, ohrenzerreißendes Krachen, Staub und Qualm
überall, und wie im Traum sah Holt das Rohr zurückfahren und
die rauchende Kartusche ausspeien. Das Bersten und
Schmettern verstummte nicht. Plötzlich war alle Angst
weggewischt. Holt dachte: Das sind die Nachbarbatterien! Fern
in der Wolkenbank hing das durchdringende Surren der
Flugzeugmotoren und vermischte sich mit dem Bersten der
Flakgranaten.
„Gruppe!“ schrie Schmiedling. Holt reichte Wolzow eine
Patrone, Wolzow nahm sie und grinste, und kaum war der
Schuß gefallen, rief Schmiedling: „Feuerpause!“
Holt reckte den Kopf nach der B 2. Dort setzte in diesem
Augenblick chaotischer Lärm ein. „Pulk in neun!“ schrie jemand.
Holt blickte zum Himmel. Da! Ein Schwärm winziger Punkte,
silberglänzend in der Sonne, schwebte aus der Wolkenbank
heraus in den blauen Himmel, und ringsherum, wie

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hingezaubert, standen die Sprengwolken der Flakgranaten. Sie
fliegen an uns vorbei! dachte Holt erlöst. Dann ging alles ganz
schnell: „Ziel aufgefaßt!“ gellte es auf der B 2, und wieder
Kutscheras Stimme: „Feuer frei!“ – „Schießen mit
Kmandohülfsgerät!“ rief Schmiedling, und Macht sagte: „Jetzt
wird optisch geschossen, jetzt kriegen sie Pfeffer!“ –
„Gruppenfeuer!“ rief Schmiedling. „Gruppe!“ Mund auf! dachte
Holt wieder. Er sah Vetter an der Kurbel drehen wie einen
Leierkastenmann, sah, daß sich das Gesicht des UvD beim
Abschuß verzerrte wie im Veitstanz, und sah auch, daß
Schmiedling nun seelenruhig war. „Gruppe!“ Holt lief nach einer
Patrone zum Bunker. Schmiedling hat ja nur Angst gehabt, wir
könnten versagen!
„Feuerpause!“ Schmiedling sagte: „Die im Norden ham s’
besser im Zünderbereich!“ Und freudestrahlend: „Jungs, Kerle
san S’, dös is guat!... Flugzeug neun!“ rief er erschrocken.
Weber riß das Geschütz nach Westen zurück. Vorbeiflug von
links nach rechts, schießen mit Kommandohilfsgerät, wie in der
Ausbildung, dachte Holt, nur daß es zwischendurch kracht... Er
zählte die leeren Kartuschen, elf, zwölf Stück, man schob sie
mit den Füßen in die Ecken des Geschützstandes. Und immer
wieder: „Gruppe!“ Ein neuer Pulk zog im Norden an ihnen
vorbei. Wozu hab ich Angst gehabt? dachte Holt, und er grinste
zu Wolzow hin, und Wolzow grinste zurück.
„Feuerpause!“ Das Rohr schwenkte zurück nach Norden,
fünfundvierzig Grad erhöht. Das Summen der Flugzeugmotoren
wurde schwach und schwächer. Im Norden grollte schwerer
Geschützdonner. „Jetzt gibt’s Zunder in Recklinghausen!“ sagte
Macht. Ziesche, der während des Schießens tatenlos bei
Schmiedling gestanden hatte, meinte: „Wenn nicht noch eine
neue Welle kommt, sind sie hier durch!“ Schmiedling meldete
den Munitionsverbrauch an die B 2, einundzwanzig Schuß. Er
steckte sich eine Zigarette an. „Wann die Brüder zruckkimma,
denselbigen Weg, da muß dös wieder so klappen!“
Sie warfen die leeren Hülsen aus dem Geschützstand.
Schmiedling horchte in seinen Kopfhörer. „Anton verstandn!...
Die Feuerbereitschaft is aufghobn!“ Holt sah Kutschera, von

142
seinem Hund gefolgt, die B 2 verlassen und in Richtung
Schreibstube verschwinden.
Die Luftwaffenhelfer schleppten fluchend neue Munitionskörbe
an die Geschütze. Ein Korb mit den Patronen wog fast einen
Zentner. Wolzow meinte: „Das Schießen ist großartig!“ Sie
warteten am Geschütz. Schmiedling erhielt eine
Luftlagemeldung: „Die Verband, net wahr, die fliegn wohl nach
Berlin, net wahr, da kommen s’ vielleicht gar net hier zruck!“ –
„Von Berlin fliegen sie bei gutem Wetter meist über die Kieler
Bucht nach England ab“, sagte Ziesche. Wolzow fragte: „Wenn
die noch mal vorbeikommen, lassen Sie mich dann laden?“ – „I
frag ‘n Chef“, antwortete Schmiedling, „i hab jetzt a Zutraun zu
Ihnen.“
Aber die Bomberpulks flogen über Norddeutschland aus.

Holt, Wolzow und Ziesche gingen Tage später über den


Lattenrost durch die Feuerstellung. Da verließen drei Oberhelfer
die B 2, als hätten sie dort gewartet, drei große, derbe
Burschen. Einer war neulich beim Antreten Günsche genannt
worden; die anderen beiden, dachte Holt, indem er die drei
argwöhnisch musterte, mochten Zwillingsbrüder sein, so ähnlich
sahen sie einander. Ziesche bog rasch nach links ab und ging
wortlos seiner Wege. Holt und Wolzow blieben stehen.
„Hör mal, Neuer...“, sagte Günsche in norddeutschem Dialekt;
er war nur wenig kleiner als Wolzow, der ihn sofort unterbrach:
„Neuer? Ich heiß Wolzow, das wirst du dir ja wohl noch merken
können!“ Herrlich frech! dachte Holt. Bloß nicht einschüchtern
lassen! Günsche zog die Brauen hoch, seine Augen funkelten.
Die Zwillingsbrüder hinter ihm, zwei kräftige Burschen, pusteten
sich mächtig auf und nahmen die Hände aus den Taschen.
Günsche sagte drohend: „Wenn du noch mal den großen
Rand riskierst, dann bist du dran mit Selbsterziehung!“ Holt sah,
daß Wolzow sich duckte, und sagte schnell: „Laßt uns in Ruhe,
ihr Hamburger!“ Günsche fuhr ihn an: „Du hältst die Fresse, du
Spund, sonst...“ – „Sonst?“ schrie Wolzow, und dann ging alles
sehr schnell. Holt erhielt einen Schlag ins Gesicht, aber schon
warf er den langen Günsche im Kopfschwung auf den
Lattenrost; er sah noch, wie sich Wolzow auf die

143
Zwillingsbrüder stürzte, und dann tobte kläffend der Setter um
sie herum, und gleich war auch der Hauptmann da. Die
ungeheure Stimme brüllte: „Mensch, was ist denn hier los, was
erlauben sich denn die Kerle?“
Holt ließ den verdutzten Günsche los, der sich aufrappelte.
Auch Wolzow stand stramm vor dem Hauptmann. Einem der
Zwillingsbrüder lief aus der Nase dickes, dunkelrotes Blut über
den Mund und auf die Uniform; der andere krümmte sich auf
dem Acker und schnappte nach Luft. Hat ihm Gilbert eins auf
den Magen gegeben, dachte Holt.
„An den Baum binden und auspeitschen!“ dröhnte Kutscheras
Stimme. „Die Neuen verprügeln die Alten, wo gibt’s denn so
was!“ Seine Sympathie lag eindeutig bei den Hamburgern.
Plötzlich stand Gottesknecht an seiner Seite, und Kutschera
drehte ihm unwillig den Kopf zu. Wenn er uns jetzt in den
Rücken fällt, dachte Holt, dann hat Gilbert recht, dann ist
Gottesknecht ein Aas. Aber Gottesknecht sagte, leise, wie es
seine Art war: „Verzeihung, Herr Hauptmann, ich hab’s von der
B 2 angesehen. Die Neuen trifft diesmal weniger Schuld.
Günsche hat den ersten Schlag geführt.“
„So!“ sagte Kutschera unzufrieden, und einen Augenblick lang
sah es so aus, als wolle er den Wachtmeister zurechtweisen.
Aber dann sagte er: „Da misch ich mich nicht ein... Günsche!“
schrie er, und zu den Zwillingen: „Pingels, ihr Arschlöcher!
Mensch, wenn ihr euch so blöd anstellt, dann laßt euch halt von
den Spunden verdreschen!“ Riesenhaft, von seinem Hund
gefolgt, stiefelte er davon. Gottesknecht sagte: „Jetzt ist Ruhe,
meine Herren, sonst mach ich mit und bestraf euch alle
zusammen!“
Günsche, als auch Gottesknecht verschwunden war, zischte:
„Das kommt euch teuer zu stehn!“ Wolzow sagte: „Halt die
Fresse...“ Auf einmal schrie er, nach vorn geneigt, mit geballten
Fäusten, und Holt hatte Wolzow noch nie so in Wut gesehen:
„Ihr sollt mich kennenlernen! Ich schlag euch reif fürs
Krankenhaus!“ – „Schluß!“ sagte Holt und zog Wolzow davon.

In der Stube räumten Holt und Wolzow ihre Spinde ein. „Wenn
sie uns nicht in Frieden lassen, knöpf ich sie mir einzeln vor“,

144
drohte Wolzow. Ziesche, leicht ironisch, meinte: „Nimm dir nicht
zuviel vor. Unter den Hamburgern sind starke Kerle!“‘ – „Du
willst auch was?“ Wolzow musterte Ziesche. Holt sagte: „Du bist
vorhin einfach davongerannt! Sind wir zusammen an einem
Geschütz? Leben wir zusammen auf einer Bude?“ – „Ich bin
Oberhelfer, ich Verderb mir’ s nicht mit meinen Kameraden.“ –
„Oberhelfer wird nach einem halben Jahr jeder!“ entgegnete
Holt.
Wolzow knallte seinen Spind zu. „Ich hab’s beim
Wachtmeister verschissen, wieso, weiß ich nicht. Ich hab’s
womöglich auch beim Chef verschissen. Jetzt ist mir alles egal!
Ich nehm’s mit der ganzen Batterie auf. Laß sie draußen
antreten, deine Herren Oberhelfer, meinetwegen können sie
alle auf einmal kommen... Meinst du“, schrie er Ziesche an, „ich
mach mir was draus, wenn zur Abwechslung ich mal die Fresse
voll kriege? Da müssen sie mich totschlagen, oder aber es
heißt danach: Auge um Auge, Zahn um Zahn, solang ich noch
einen Finger rühren kann.“ – „Soll ich’s ausrichten?“ fragte
Ziesche. – „Wenn du dich nicht schnell auf unsere Seite
stellst...“, drohte Holt. Vetter rief im Hintergrund: „Du
Pickelhering, Mensch, dich reiben wir zu Mus!“
„Tun Sie das nicht!“ sagte Gottesknecht, der plötzlich in der
offenen Tür stand. „Herrn Oberhelfers Mütterchen weint sich
sonst die Augen aus.“ Todsicher hat er schon lange auf dem
Flur gestanden und gehorcht, dachte Holt... Wozu sind wir in
einer so entlegenen Baracke? Man muß ein Warnsystem
einrichten!
Gottesknecht blickte sich in der Stube um. Endlich rief Ziesche
„Achtung!“ und meldete. Gottesknecht schnüffelte mit
erhobener Nase. „Die Herren haben geraucht! Pfui, das ist
verboten!“ Dann trat er vor einen offenen Spind, es war
Ziesches Spind, faßte mit spitzen Fingern ein Buch, zog es
heraus und schaute nach dem Titel. „Flex...“, sagte er, „,Der
Wanderer zwischen beiden Welten’, aha! Wer liest denn da so
kerndeutsche Bücher?“
„Ich, Herr Wachtmeister!“
„Soso! Ich hab übrigens auch was zu lesen für Sie, von meiner
Frau, die wäscht sich immer mit Seesand-Mandelkleie, schaun

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Sie sich mal den Prospekt an, vielleicht geht davon Ihre Akne
weg!“ Die Jungen lachten, Ziesche errötete unaufhaltsam.
„Wolzow, Holt... mitkommen!“ sagte Gottesknecht. Er ging vor
ihnen den Lattenrost entlang. „So. Da wolln wir mal... Nach
Norden weg, marsch, marsch!“
Eine Sekunde verständnislosen Zögerns, dann liefen Holt und
Wolzow den Hang hinab. „Achtung!“ Sie standen wie die
Bäume, Front zu Gottesknecht, der sich breitbeinig auf dem
Lattenrost aufgepflanzt hatte. „Hinlegen!“ Sie warfen sich auf
den Acker. „So, jetzt wird schön flott zu mir hergerobbt!“ Sie
krochen den steilen Hang empor. „Auf!“ befahl Gottesknecht.
Er sah ihnen in die Augen, er war nicht böse. „Der Wolzow hat
noch immer Wut! Schade!“ Und beinahe besorgt: „Ich hab doch
recht, Wolzow, nicht wahr? Sie sind wütend!“
„Jawohl, Herr Wachtmeister!“
„Sehen Sie! Ich seh das an den Augen, das hab ich von einem
Schäfer, der erkannte auch alles an der Pupille,
Schwangerschaften, Bauchgrimmen, Hodenbrüche... Wir
machen also noch ‘n bißchen weiter, bis Wolzow keine Wut
mehr hat, eher kann ich mich mit ihm ja nicht ruhig unterhalten.
Holt, Sie leisten ihm Gesellschaft, damit er sich nicht so einsam
fühlt. Sie haben doch Lust, mitzumachen?“ fragte er, und
wieder klang seine Stimme ehrlich besorgt. „Jawohl, Herr
Wachtmeister!“ – „Fabelhaft! Sehen Sie, Wolzow, das ist
Freundschaft! Sie laufen jetzt den Hang runter, bis zur
Chaussee, hundertzwanzig Meter, alles genau vermessen!
Dann kommen Sie den Hang wieder hoch, Häschen-hüpf,
kennen Sie das?“ – „Jawohl, Herr Wachtmeister!“ – „Enorm!
Aber ordentlich tief runter, die Arme im Vorhalt, schön in die
Kniebeuge!... Gesundheitlich geht’s Ihnen doch gut?“ –
„Jawohl, Herr Wachtmeister!“ – „Na also. Wolzow, Sie werden
das den ganzen Nachmittag machen müssen, Sie werden ja
immer wütender! Traben Sie erst mal los!“
Sie liefen im Laufschritt den Hang hinab. „Gilbert, der will was!
Reg dich nicht auf!“ – „Er soll mir den Buckel runterrutschen!“
gab Wolzow zurück.
Sie hüpften den Hang empor. Holts Oberschenkel begannen
zu schmerzen, die Muskeln verkrampften sich, die Knie zitterten

146
haltlos. Wolzow war Holt voraus. Der Hang stieg steil an; Holt
wurde der Atem knapp. Das kommt vom Rauchen, ging es ihm
durch den Sinn. Er kämpfte gegen den Wunsch an, sich
hinzuwerfen und auszuruhen. Mit empfindungslosen Beinen
und schmerzendem Rücken, atemlos und erschöpft, langte er
beim Lattenrost an.
„Na, wie war’s?“ fragte Gottesknecht. Er rauchte eine
Zigarette, die Mütze ins Genick geschoben, offenbar bester
Laune. „Nicht wahr, Wolzow, das ist eine Viecherei?“ – „Es
strengt ganz schön an“, sagte Holt, „man ist zuwenig trainiert!“ –
„So? Da müssen wir das öfter machen, an mir soll’s nicht
liegen!“ Er wandte sich an Wolzow. „Na, haben Sie noch Wut?“
Wolzow antwortete nicht. Gottesknecht schmunzelte. „Herr
Wachtmeister“, sagte Wolzow. „Ich melde, daß ich vom
Häschen-hüpf die Schnauze voll hab!“
Gottesknecht rief: „Die Schnauze voll! Holt, haben Sie’s
gehört? Wolzow, das ist ein Wort, dafür gibt’s Sehr gut, da
haben Sie mir eine Riesenfreude gemacht!“ Er zog sein
Notizbuch. „Herr Wachtmeister!“ sagte Wolzow. „Das Sehr gut
nützt mir nichts, ich hab noch Ausgehverbot!“ – „Gehabt!“ sagte
Gottesknecht. „Ab heute dürfen Sie ausgehn, weil Sie mir diese
Riesenfreude gemacht haben! Daß Sie heute das erstemal
beim Militär die Schnauze voll hatten, das muß außerdem
gefeiert werden, da lad ich Sie am Sonnabend in der Kantine
zum Bier ein, Sie auch, Holt, weil Sie diesem Kastor ein so
getreuer Pollux sind. Wissen Sie was, Wolzow? Ich mach
meinen Frieden mit Ihnen, jetzt haben Sie eine ganz große
Nummer bei mir! Wissen Sie, warum ich so einen Zahn auf Sie
gehabt habe?“ – „Kann mir’ s schon denken“, knurrte Wolzow,
ganz unmilitärisch, „wegen Onkel Hans!“
„Diese Offizierssöhnchen“, sagte Gottesknecht, „die hab ich
gerne! Da war mal einer, Vater Major, sofort ging’s los, ich war
noch Unteroffizier. Dauernd hat er sich bei seinem Vater
beschwert, und der Alte hat sich hinter unseren Chef geklemmt,
so daß ich pausenlos Genickschläge bekam. Seither hab ich
ein Mißtrauen, das werden Sie verstehen. Wolzow, bei Ihnen
hab ich gedacht, er wird mir das ganze OKL auf den Hals
hetzen. Nein! Hat er nicht gemacht! So dumm ist er nicht, hab

147
ich gedacht, daß er die Generalität in einem Brief aufhetzt, der
durch meine Hände geht. Da bin ich vor acht Tagen extra mit
dem Auto hinter der Frau von der Kantine hergefahren, der Sie
den frankierten Brief mitgegeben haben. Jetzt hab ich ihn
erwischt, dachte ich. Ja, Essig! ,Ist prima hier’, stand drin. Ich
war richtig enttäuscht!“ Wolzow und Holt lachten. „Warum
haben Sie den Brief eigentlich nicht mit der Feldpost
geschickt?“ – „Weil ich was zum Rauchen brauchte“, sagte
Wolzow, „und weil Sie die Post immer drei Tage auf der
Schreibstube herumliegen lassen!“ – „Ihre nicht mehr“, sagte
Gottesknecht, „die geht jetzt mit Eilkurier ab! Ihre auch, Holt!“ Er
schmunzelte: „Muß ja ein tolles Mädchen sein, Ihre Uta!“
„Herr Wachtmeister...“ Holt fühlte, wie er rot wurde. „Ich bitte
Sie... Dieser Briefwechsel ist wirklich privat!“ – „Ist übrigens ein
Brief da“, sagte Gottesknecht. Er langte in die Brusttasche und
drückte Holt einen der schmalen, festen Umschläge in die
Hand. „Wie bin ich zu Ihnen? Suchen Sie sich mal einen
Vorgesetzten, der den Postillon d’amour spielt.“
Plötzlich wurde er ernst. „Der Schmiedling beantragt, daß Sie
scharf laden dürfen, Wolzow, und der Chef hat ja gesagt, aber
er schaut sich das beim nächsten Alarm selber an. Damit Sie
Bescheid wissen!“ – „In Ordnung, Herr Wachtmeister.“ –
„Und nun zur Sache“, meinte Gottesknecht nachdenklich. „Sie
machen mir ‘s Leben schwer, Wolzow! Sie haben sich die Alten,
die Oberhelfer, zu Feinden gemacht, die werden Sie furchtbar
verhauen! Der Chef liebt das. Er nennt das Selbsterziehung.“ –
„Herr Wachtmeister“, sagte Wolzow überlegen, „ich will nicht
angeben, aber da ist keiner, vor dem ich Angst hab.“ – „Aber es
werden ein Dutzend kommen!“ – „Ich hab auch meine Freunde.
Holt kann Jiu-Jitsu, und wenn Gomulka mal die Ruhe verliert,
da drischt er ganz schön dazwischen!“
„Sehen Sie“, sagte Gottesknecht, „das ist es, wovor ich Angst
habe! Nicht, daß Sie mal den Hintern voll kriegen, da hätte ich
sogar eine irrsinnige Freude dran! Aber Parteikämpfe, wie im
alten Rom... Saalschlachten, Verletzte womöglich... Oder Sie
schlagen gar einen tot, Wolzow! Und alles auf Kosten der
Feuerbereitschaft! Bisher war’s ganz harmlos, aber hier fallen
auch Bomben! Da muß eine Batterie in Schwung sein.“ – „Herr

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Wachtmeister, wir haben nicht angefangen!“ sagte Holt. – „Ich
weiß...“ – „Die solln uns in Ruhe lassen“, rief Wolzow. „Wir
schießen nicht schlechter als die Alten. Ich hab nichts gegen
die, aber man soll uns in Ruh lassen und anerkennen.“ – „Ich
war in Berta bei den Hamburgern“, sagte Gottesknecht. „ ,Der
Wolzow bekommt eine Abreibung, der Holt gleich mit’, sagen
die. Ich hab’s verboten, aber was nützt das? Der Chef hat
nichts dagegen!“ – „Dann muß alles seinen Gang nehmen, Herr
Wachtmeister!“
„Einen Weg gibt’s“, sagte Gottesknecht sinnend, und er sah
Wolzow fest an, „und das ganze Theater fällt aus wegen Nebel.
Wenn der Chef es den Hamburgern verbietet! Jemand muß den
Chef von oben... verstehen Sie? Wolzow, ich laß Sie in der
Schreibstube ganz allein mit Ihrem Onkel telefonieren!“
„Ein General hat andre Sorgen, Herr Wachtmeister!“
„Schade“, sagte Gottesknecht. Er rückte das Koppel zurecht.
„Geben Sie Bescheid, das Batterieexerzieren fällt aus.
Geschützreinigen, dann ist dienstfrei. Mahlzeit.“
Sie verständigten Gomulka und gingen vorsichtshalber am
Abend zur Leitungsprobe zu dritt durch die Stellung. Aus einem
alten Lattenrost rissen sie ein paar Holzprügel und hielten sie
griffbereit in der Stube. Ziesche sah die Vorbereitungen
stillschweigend an. „Wenn du für die Hamburger spionierst“,
sagte Holt, „dann...“ Vetter hatte eine Idee. „Dann stecken wir
dich jede Nacht ins Löschwasserfaß!“ Ziesche schwieg.

Holt holte sich aus der Schreibstube seine Erkennungsmarke


und brachte auch für Wolzow Post mit. Nun hatte er Zeit, Utas
Brief zu lesen.
„Mein Onkel ist zum Generalleutnant befördert worden“, rief
Wolzow. „Das nenne ich eine Offizierskarriere!“ Ziesche war
überrascht. „General? Deswegen die große Klappe!“ – „Nur
keinen Neid!“ brummte Wolzow gutgelaunt.
Holt lag auf seinem Bett. Sie sei recht einsam, schrieb Uta.
Dann und wann gehe sie zu Wieses, das sei der einzige
gesellige Verkehr. Mit Interesse verfolge man alle Nachrichten
über das Leben bei der Flak. Warum schreibt sie so sachlich?
dachte Holt. Warum geht sie nicht ein bißchen aus sich heraus?

149
Endlich ein paar herzliche Worte: Seine Briefe empfange sie mit
Freude, er möge bleiben, wie er sei, ihr Leben verlaufe sehr
eintönig grau, er bringe ein wenig Helligkeit hinein... Er lag
unbeweglich und träumte... Als er erwachte, war es abends
gegen neun. Gomulka fegte. Zehn Uhr war Zapfenstreich.
Vetter, Rutscher und Wolzow spielten Skat. Wolzow sagte über
die Schulter: „Verpenntes Luder! Deine Kaltverpflegung ist im
Spind.“
Laut Vorschrift waren die Spinde verschlossen zu halten, ein
offener Spind bedeutete „Verleitung zum Kameradendiebstahl“.
Hier nahm man das nicht so genau.
Holt wollte noch an Uta schreiben, aber da gellte schon die
Alarmklingel. Sie waren nur sechs Luftwaffenhelfer am
Geschütz, Kirsch, Branzner, Kattner und Weber gehörten
nachts zu Berta. Als Ersatz waren ihnen fünf Flakwehrmänner
als Munitionskanoniere zugeteilt. Die unausgeschlafenen,
abgearbeiteten Männer setzten sich in den Mannschaftsbunker
und rauchten.
Holt saß als K 2 an der Seitenrichtmaschine. Ziesche legte die
Geschützführerleitung an. Schmiedling langte nach dem
Ladehandschuh, doch Wolzow protestierte. In diesem
Augenblick wurde Feuerbereitschaft befohlen, und in den
Städten heulten die Sirenen... Ziesche erhielt die erste
Luftlagemeldung: Starke Kampfverbände über Holland im
Anflug auf den Raum Köln–Essen... Hier fallen Bomben! dachte
Holt mit Gottesknechts Worten. Er zog den derben Mantel fest
um seinen Körper.
„Die Verbände drehen nach Osten ab“, meldete Ziesche bald
darauf. Aber da kläffte auf der B 2 schon der Setter, der
Hauptmann schimpfte durch die Nacht. Sekunden später
dröhnte wieder das entnervende Motorengeräusch durch die
Luft. „Schießen mit Funkmeßgerät!“ rief Ziesche. Aber die
Zünderwerte blieben weit über Bereich. Eine halbe Stunde lang
zogen die Bomberschwärme im Norden vorüber. Am Horizont
stachen die Lichtkegel der Scheinwerfer in den Himmel. Und
fern donnerte schweres Flakfeuer.
„Münster!“ erklärte Ziesche. „Dort stehen aktive Batterien,
auch 12,8-Zentimeter- und 15-Zentimeter-Eisenbahn-Flak!“ Drei

150
Viertel elf wurde die Feuerbereitschaft aufgehoben. In den
Städten heulten die Sirenen Vorentwarnung.
Holt blickte über die Erdumwallung hinweg durch die Nacht,
über der B 2 lag blasser Lichtschein. Die Gestalt des
Hauptmanns huschte wie ein Gespenst am Geschützstand
vorbei. Scheinwerfer suchten den Himmel ab und ließen die
Wolkendecke aufleuchten. „Die Kampfverbände werfen im
Raum Hannover–Braunschweig Bomben“, meldete Ziesche.
„Hau ab, du Pennbruder“, schimpfte Wolzow. „Rutscher, los,
mach K 7, der Flakwehrmann pennt mir noch ein!“
Holt blickte auf die Armbanduhr. Das Zifferblatt leuchtete
schwach. Kurz vor Mitternacht. Ins Bett! dachte er, aber
Ziesche rief: „Anton verstanden! Es ist wieder
Feuerbereitschaft!“ Holt probierte an der Seitenrichtmaschine
noch einmal das winzige Lämpchen, das den Richtkreis
beleuchtete. Die Sirenen gaben aufs neue Alarm.
„Rohre Richtung drei!“ rief Ziesche. Schmiedling fragte:
„Wolzow, haben S’ den Ladehandschuh?“ – „Die
Kampfverbände haben ihre Ziele in Mitteldeutschland verfehlt
und fliegen den Raum Köln–Essen von Osten an“, meldete
Ziesche. Er schnauzte die Flakwehrmänner an: „Munition
bereithalten!... Still! Luftlage!“ Er horchte. Tiefschwarze Nacht
ringsum, leise tuckerte der Motor, der die Akkumulatoren des
Funkmeßgerätes mit Strom versorgte. „Anton verstanden!...
Schneller Verband fliegt Dortmund an, gefolgt von
Bomberverbänden.“ Schmiedling erklärte: „So a schneller
Verband, dös sein Lightnings sein dös, oder Mosquitos,
Pfadfinder nennen wir dös, weil damit diejenigen vorausfliegn
und die Ziel markieren mit die Christbäum!“
In diesem Augenblick flammte im Westen der Himmel brandrot
auf. Die Lohe schlug bis zu den Wolken empor. „Das ist das
Stahlwerk, die stechen ab!“ rief Ziesche. Jetzt einen Ofen
abstechen, dachte Holt, wo die Bomber anfliegen!
Wolzow redete auf Rutscher ein: „Hör zu... Wehe, ich find
keine Patrone im Stelltopf! Ziesche! Sorg dafür, daß Munition
rankommt!“ – „Der schnelle Verband hat Dortmund passiert!“
rief Ziesche. „Bomber suchen Ausweichziele!“ Die Dortmunder
Batterien, erzählte Schmiedling, schössen nicht auf Pfadfinder.

151
„Kutschera schießt, wo’s was z’ schießn gibt... Sehen S’...“,
redete er drauflos, „da sin die Bomber den Dreck net
losgeworn, da kommen s’ jetzt zu uns!“ Ziesche verkündete:
„Der Batteriechef spendiert zwei Flaschen Schnaps für die
Bedienung, die alle Gruppen mitschießt.“ – „Wolzow!“ rief
Schmiedling. „Geben S’ lieber doch den Handschuh her!“ Holt
hörte es in seinem Kopfhörer knistern und knacken. Ziesche
brüllte: „Flugzeug drei! Schießen mit Funkmeßgerät!“ Eine
klare, ruhige Stimme sprach in Holts Kopfhörer: „Fünfzehn-null-
null, fünfzehn-null-null, fünfzehn-zehn...“ Eine kleine Drehung
am Handrad, und Holt rief: „Seite eingestellt!“ Ziesches „Anton
feuerbereit!“ hörte er noch und „Gruppenfeuer... Gruppe!“, dann
schmetterte schon der Schuß, ein greller Blitz zerriß die Nacht,
Holt wurde von seinem Sitz emporgehoben und fiel schwer
darauf nieder... „Gruppe!“ Die Feuerglocke schlug, der Schuß
brach, und im Kopfhörer sagte die klar artikulierte Stimme:
„Seite steht bei fünfzehn-zehn!“ – „Wechselpunkt!“ brüllte
Ziesche. Holt fuhr mit dem Geschütz um hundertachtzig Grad
herum. „Seite steht bei siebenundvierzig-zehn...“ – „Gehendes
Ziel... Gruppe!“ Wieder krachte es, und als schweren Donner
hörte Holt die Abschüsse der anderen fünf Kanonen...
Es war totenstill. Das Feuer anderer Batterien zählte nicht
neben dem Inferno der eigenen Abschüsse. „Feuerpause!“
Ziesche murrte: „Unfug, auf Mosquitos zu schießen! Die sind ja
viel zu schnell!“ Wolzow tobte im Geschützstand herum: „Ich
trete dir in den Arsch, wenn das nicht besser klappt mit der
Munition!“ – „Ruhe!“ schrie Ziesche. „Da! Da!“ Holt erstarrte.
Im Westen bebte die Nacht von schwerem Flakfeuer. Die
Dunkelheit wich, es wurde blendend hell. Die Wolkendecke im
Westen gleißte wie Silber, und strahlend regnete Licht herab...
das war herrlich, das nahm den Atem, das drückte nieder in
wilder Angst... „Leuchtzeichen! Jetzt geht’s los!“ Vetters
Stimme, von der Zünderstellmaschine her: „Werner, Gilbert, o
Gott!“ Schmiedling stöhnte: „Jesus... Maria... Ihr Apostel, alle
Heilgen... beschützt die armen Menschen!“ – „Das gilt
Oberhausen!“ schrie Ziesche. Oberhausen, das wußte Holt auf
einmal seltsam deutlich, lag kaum fünfzehn Kilometer entfernt...

152
Der Hauptmann, im Lichtschein, stand plötzlich barhäuptig im
Geschützstand, in den weiten Fahrermantel gehüllt. Er stieß
Wolzow mit der Faust in die Rippen, und Wolzows Gesicht
verzerrte sich zu einem Grinsen. Der Hauptmann bellte: „Gleich
geht’s los! Schmiedling, halten Sie sich bereit, Mensch, wenn
der Wolzow schlappmacht!“ Dann ging er. Schmiedling rief: „Die
zwoa Flaschen, Wolzow, die san uns sicher!“
Das Flakfeuer im Westen war verstummt. Jetzt brach
Geschützdonner nahe im Osten los. „Bochum schießt! Die
Bomber sind da!“ Schon zitterte der Himmel im Motorenlärm.
„Flugzeug drei! Schießen mit Funkmeßgerät, direkter Anflug!“
Wieder, beruhigend und klar, die Stimme in Holts Kopfhörer:
„Seite steht bei sechzehn-achtzig!“ Holt meldete: „Eingestellt!“
Da war auch Gomulkas Stimme, wer weiß wie lang nicht mehr
vernommen. Und wieder: „Gruppenfeuer...“ – Gruppe! dachte
Holt und öffnete den Mund, aber statt dessen sagte es im
Kopfhörer bedauernd: „Düppel-Störung... Funkmeßgerät Ziel
verloren... Feierabend!“ – „Funkmeßgerät fällt aus!“ schrie
Ziesche. „Starres Sperrfeuer, Seite sechzehn-achtzig, Höhe
fünfundfünfzig, Zünder zwohundertzehn!“ – „Eingestellt!“ schrie
es, und dann Ziesches unkenntliche Stimme:
„Barrikadenfeuer... Barrikade... marsch!“ Da zuckte der Blitz in
die Augen, es krachte und schmetterte unaufhörlich, und
zwischen den Abschüssen heulte Wolzow: „Munition her! –
Barrikade halt! Seite achtundvierzig-sechzig!“ Holt riß das
Geschütz wieder um hundertachtzig Grad herum, „Barrikade...
marsch!“ Es knisterte im Kopfhörer. „Machen wir halt weiter, ‘s
geht wieder! Seite steht bei achtundvierzig-zwanzig!“ – „Seite
hat Werte, Seite eingestellt!“ Ist das meine Stimme? Schießen
mit Funkmeßgerät, Gruppe! Mund auf, und wieder das
unerträgliche Schmettern der Abschüsse, von Wolzow
durchheult: „Munition her!“
Wie lange mochte das alles gedauert haben? Zielwechsel und
Wechselpunkt und zwischendurch Barrikadenfeuer, weil die
Stanniolstreifen vom Himmel regneten und das Funkmeßgerät
immer wieder ausfiel... Stunden, Jahre, eine Ewigkeit? Jetzt war
Grabesstille. Im Westen, wo der märchenhafte Glanz der
Leuchtzeichen am Himmel gehangen hatte, schlugen nun

153
blutigrot die Brände zur Wolkendecke empor. „Vorbei!“ sagte
irgendwer. Und Ziesche ganz heiser: „Oberhausen... – das
brennt und brennt!“
Von der B 2 wehte der Ruf durch die Nacht: „Feuerbereitschaft
aufgehoben!“ Holt taumelte vom Richtsitz hoch. Er stolperte
über die leeren Hülsen, die überall umherlagen. Er war fast
taub. Nun riß er den Kopfhörer herunter und nahm den
Gehörschützer aus dem Ohr. Sein Gesicht war naß. Hab ich
geweint? Der gewaltige, unheimliche Brand im Westen erhellte
schwach den Geschützstand. Holt starrte in das ferne
Flammenmeer. Da sind jetzt Menschen, mitten im Feuer,
dachte er. Aber keine Vorstellung verband sich mit diesem
Gedanken... Gomulkas Gesicht war fremd und gealtert. Ziesche
rief: „Munitionsverbrauch!“ – „Wer soll denn die Kartuschen
zählen, jetzt in der Nacht?“ sagte Wolzow. Ziesche schrie
ungeduldig: „Zählt doch die leeren Körbe in den Bunkern!“
Schmiedling saß auf einem Holm und kümmerte sich um
nichts, rauchte und sagte zu Holt: „Da hab i halt ‘s Große Los
gzogen, mit der Bedienung!“
„Munitionsverbrauch!“ schrie Ziesche wieder. „Diese
Flakwehrmänner, faul wie die Pest!“ schimpfte Wolzow. Endlich
kam die Meldung: „Vierunddreißig leere Körbe!“ Das waren
hundertzwei Schuß. Ziesche gab eine letzte Luftlagemeldung:
„Alle Verbände im Abflug über Holland. Gefechtsschaltung
aufgehoben.“ Die Luftwaffenhelfer durften ins Bett.
Batteriekommando und Flakwehrmänner schleppten
Munitionskörbe an die Kanonen und beseitigten die Schäden,
die der Luftdruck der Abschüsse an Geschützständen und
Baracken angerichtet hatte.
Holt ging mit Gomulka durch die brandrote Nacht. „Ehrlich,
Sepp... Hattest du Angst?“ Gomulka zögerte mit der Antwort.
„Ja, ich hatte Angst...“ – „Es ist wohl auch keine Schande“,
sagte Holt. „Man muß nur damit fertig werden.“

„Herhören! Was sich heut nacht an Frieda abgespielt hat, das


genügt fürs Kriegsgericht!“ Kutschera stand vor der
angetretenen Batterie, die Hände in den Manteltaschen.
„Macht, wozu sind Sie Waffenmeister, wenn die Spritze bei dem

154
bißchen Schießen auseinanderfällt?“ Er brüllte immer, aber jetzt
war seine Stimme ungeheuer: „Wenn die Kanone nicht besser
in Schwung kommt, sperr ich die ganze Bedienung ein!“ Der
Hund erhob sich auf die Vorderpfoten und knurrte. Kutschera
trat mit dem Stiefel nach ihm. „Du hältst ‘s Maul, Mensch... Die
andern Geschütze waren gut. Bei Anton ging’s rund, da war die
Tollwut ausgebrochen?“ Die Oberhelfer flüsterten miteinander.
„Der Wolzow ist ein Gauner!“ dröhnte Kutscheras Stimme. Und
zu Gottesknecht: „Geben Sie ihm Extraausgang.“ Ein paar
Sekunden stand er unschlüssig vor der Batterie. „Ach,
Quatsch!“ sagte er, drehte sich um, und der Morgennebel
verschluckte ihn.
Auf dem Fahrweg warteten die Munitionswagen. Die Jungen
schleppten bis zum Mittagessen Patronenkörbe zu den
Bunkern der Zweitausstattung. Den Nachmittag verschliefen
sie.
Tag und Nacht trieb sie die Glocke ans Geschütz. Dies war ihr
Leben, für lange Zeit.

lm November brachten die Nächte klirrenden Frost. Der zähe


Nebel, der morgens über der Stellung hing, wich oft bis zum
späten Mittag nicht. Täglich zogen die Bomberpulks über den
Himmel. Die ständigen Alarme, die Nächte am Geschütz und
das Feuer, mit dem Hauptmann Kutschera jede Maschine
bedachte, waren den achtundzwanzig Jungen schnell zur
Gewohnheit geworden. Am Mittag des 5. November waren
Essen, Gelsenkirchen und Münster schwer bombardiert
worden, und die Bomben, die den umliegenden Industriewerken
galten, fielen bis dicht an die Feuerstellung.
Eine Woche später lag Holt des Nachmittags auf seinem Bett.
Wolzow las in seinen strategischen Lehrbüchern, die anderen
spielten Skat. Ziesche las aus der Zeitung vor. „,Es gibt
höchstens einzelne Verbrecher in Deutschland, die durch einen
Sieg der Alliierten etwas gewinnen wollen, und mit diesen
Verbrechern werden wir fertig!’... Was das ist?“ sagte er auf
155
Gomulkas Frage. „Ja, schläfst du denn? Die Führerrede vom 9.
November!“ Er las weiter: „Hier, zum Luftkrieg! ,... die Herren
mögen es glauben oder nicht, aber die Stunde der Vergeltung
wird kommen!’ – ,... die Männer sind aufgesprungen, haben die
Arme zum Gruß erhoben und riefen mit feuchtblanken Augen
stolz und beglückt Heil um Heil ihrem geliebten Führer zu...’“ –
„Lies lieber mal den Wehrmachtsbericht“, sagte Gomulka
ungerührt, „über den Fall von Kiew kann man nämlich auch
feuchtblanke Augen bekommen!“ Ziesche warf ihm einen bösen
Blick zu und las mit seiner heiseren, etwas hohen Stimme:
„,Sonnenschein kann jeder vertragen, aber wenn es wettert und
stürmt, dann zeigen sich erst die harten Charaktere, und dann
erkennt man auch den Schwächling...’ „ Holt war so müde, daß
er nur noch Satzfetzen vernahm: „,... am Ende steht der Sieg...
niemals verzagen... von hier hinausgehen mit der fanatischen
Zuversicht... fanatischen Glauben... daß es gar nichts anderes
geben kann als unseren Sieg!’“ Die Alarmglocke schrillte. Vetter
riß fluchend die Fenster auf.
Am frühen Abend, wie üblich, kam Zemtzki nach Baracke
Dora zu Besuch. Er war rasch zum stellvertretenden
Gefechtsschreiber avanciert, und da er des Nachts die
Ringleitung abhörte, die alle Batterien der Untergruppe
miteinander verband, war er immer gut informiert. „Ich hab’s
eben von der Untergruppe“, sagte er. „Die Handley Page
Halifax, die Dienstag nacht runtergekommen ist, die ist den
Jägern zugesprochen worden!“ Vetter rief empört: „Den
Jägern? So was!“
Während der letzten Zeit waren drei viermotorige Bomber in
der näheren Umgebung abgestürzt. Jedesmal hatte es einen
wüsten Streit zwischen den Batterien gegeben, doch Kutschera
verzichtete darauf, Abschüsse für seine Batterie zu
beanspruchen. Schmiedling erklärte es so: „Was unser
Kmandeur is, der Major Behling, der kann unseren Chef net
leiden.“ Der Streit der Batterien erreichte in der Regel nur, daß
die in der Nähe stationierten Jagdverbände ihre Ansprüche
anmeldeten und den Abschuß zugesprochen bekamen.

156
Heute regte sich Wolzow auf. Er liebäugelte, wie alle, mit dem
Flakschießabzeichen, das den schweren Batterien nach etwa
sechs Abschüssen verliehen wurde.
„Es ist eine Gemeinheit!“ piepste Zemtzki. Dann räusperte er
sich und gab seiner Stimme einen möglichst tiefen Klang, denn
Gottesknecht hatte ihm einmal „wegen unmilitärisch hoher
Stimme“ Nicht genügend gegeben. „Ich war Dienstag nacht
Flugmelder! Die Jäger waren seit einer Stunde abgeflogen, als
die Halifax runterkam!“ – „Eine himmelschreiende Sauerei ist
das!“ schimpfte Wolzow. Er zog sich aus und ging zu Bett. Laut
Dienstplan wurde morgens halb sieben geweckt, aber je nach
Dauer des nächtlichen Alarms durften sie länger schlafen. Meist
holte sie der LvD, Luftwaffenhelfer vom Dienst, ein Oberhelfer,
der dem UvD assistierte, gegen halb acht aus den Betten. Acht
Uhr begann der Schulunterricht. Bis dahin mußten Betten
gebaut und die Stuben aufgeräumt werden, sonst warf der UvD
alles durcheinander.
Der Schulunterricht war eine Farce. Fast täglich wurde er vom
Alarm gestört. Fünf Tage in der Woche fanden sich Lehrer einer
Gelsenkirchener Oberschule morgens in der Batterie ein und
unterrichteten jeden Tag drei Stunden lang ein anderes Fach.
Dienstags war der sogenannte „Schultag“. Alle Luftwaffenhelfer
der Batterie gingen zum Chemie- und Physikunterricht nach
Gelsenkirchen; die Batterie war unterdessen nicht feuerbereit.
Wenn die Lehrer in den Wohnbaracken unterrichteten, quälte
man sich über die drei Stunden hinweg und wartete auf das
Klingelzeichen zur Gefechtsschaltung.
Den ersten „Schultag“„ hingegen hatten dje Jungen aus Holts
Klasse in der Gelsenkirchener Schule verbracht, aber nur aus
Unkenntnis der Gebräuche. Die Oberhelfer fuhren zwar auch in
die Stadt, schickten jedoch nur ein paar Mann in die Schule.
Auch Holts Klasse betrachtete den Dienstagvormittag nun als
Feiertag. Man saß von neun bis eins im Cafe, wo man
Orangeade zu sich nahm und mit den Freundinnen verabredet
war, mit den Schülerinnen der Essener, Gelsenkirchener und
Wattenscheider Mädchenschulen. Kutschera ließ an den
Schultagen eine Anwesenheitsliste führen, die er von Zeit zu
Zeit kontrollierte, und Branzner, der selbst nie den Unterricht

157
versäumte, entschuldigte Holt und seine Freunde mit tausend
Ausreden, von „krank“ bis „unabkömmlich“. Sehr beliebt waren
völlig unsinnige Entschuldigungen: „Holt muß heute den
Rohrmantel waschen“, „Wolzow und Gomulka fehlen wegen zu
hoher Gebrauchsstufe“.
Man hatte ein kleines Cafe in Gelsenkirchen ausfindig
gemacht, „Cafe Italia“, an der Rotthausener Straße, nach Essen
hinaus. Ringsum lag alles in Trümmern. Das Cafe hatte bisher
alle Bombennächte überlebt. Es gab, zu Wolzows Freude,
sogar ein Billard. Man nahm auch Verbindung mit einer
Mädchen-Oberschule auf. Unter den siebzehnjährigen
Schülerinnen – die jüngeren Jahrgänge waren evakuiert –
gehörte es zum guten Ton, mit einem Luftwaffenhelfer
befreundet zu sein. Sogar Vetter fand Anschluß und ließ
zweideutige Spötteleien über sich ergehen, denn das Mädchen,
das ihn auserkoren hatte, war dürr wie ein Haselstecken. Auch
Wolzow saß eines Tages mit einer üppigen Blondine
zusammen und verkündete am Abend in der Stube laut, daß er
sich mit ihr verabredet habe und daß sich dann allerhand
abspielen werde. Aber die Freude dauerte nicht lange. „Alles
aus!“ sagte er zu Holt. „Ich hab ihr bloß mal ‘n bißchen unter die
Bluse gewollt, da hat sie sich angestellt wie sonstwas!“ Er zog
sich wieder zu seinen strategischen Lehrbüchern zurück. Am
folgenden Dienstag ging er sogar in die Schule und brachte
dadurch Branzner in Verlegenheit, der ihn schon „wegen
Beobachtung des Rohrrücklaufs“ entschuldigt hatte.

Doktor Klage, der Mathematiklehrer aus Essen, war etwa


fünfunddreißig Jahre alt, ein ruhiger und ernster Mensch, der
sich Mühe gab, die Jungen trotz der ungünstigen Umstände im
Unterricht voranzubringen. Er hatte sich durch seine bestimmte,
dabei ausgesucht höfliche Art, mit den Jungen umzugehen,
beinahe etwas wie Anerkennung verschafft und war der einzige
unter den Lehrern, der seinen wöchentlichen Besuch in der
Batterie nicht als leere Formalität auffaßte. Holt bewunderte
insgeheim die Geduld, mit der sich Klage auch den
zurückgebliebenen und den aufsässigen Schülern wie Wolzow
und Vetter widmete. Zur Zeit schrieb der Lehrplan

158
Trigonometrie vor, und Doktor Klage brachte es tatsächlich
fertig, in Holt, zum erstenmal seit Jahren, ein Interesse am
Unterrichtsstoff wachzurufen.
Aber Wolzow fand nur Schimpfwörter für den schon
grauhaarigen Mann, der als leidend galt, wobei freilich niemand
genau über die Natur dieses Leidens Bescheid wußte; es
sollten Nierensteine sein, wurde gemunkelt. An manchem Tage
saß Doktor Klage mit eingefallener, bleicher Gesichtshaut hinter
seinem Tisch, von Koliken geplagt, und die Schmerzen ließen
glänzende Schweißtropfen auf seine Stirn treten. „Alles
Theater, alles Verstellung“, sagte Wolzow, „der Bursche drückt
sich vor der Front!“ Er haßte Klage, mit dem er schon in den
ersten Tagen Streit gehabt hatte. Damals hatte er an der Tafel
eine Aufgabe lösen sollen, war aber auf seinem Platz sitzen
geblieben, als gehe ihn der Unterricht nichts an. Doktor Klage,
dem Wolzows rüde Art noch nicht bekannt war, stand dicht
neben Wolzows Bank und wiederholte: „Wolzow, bitte gehen
Sie...“ – „Lassen Sie mich in Ruhe!“ schrie Wolzow und sprang
so wild von seinem Sitz auf, daß der Lehrer mit einer
unwillkürlichen Bewegung der Abwehr zurückwich; bei dieser
Bewegung aber stieß er versehentlich Wolzow vor die Brust.
„Prügeln wollen Sie mich!“ schrie Wolzow. „Sie wollen mich
prügeln...?“ Holt, der hinter ihm saß, faßte ihn am Koppel.
„Gilbert, gib Ruh!“ – „Prügeln, wo gibt’s denn so was!“ krähte
Vetter in seiner Ecke. Wolzow, durch Holts Einmischung etwas
zur Besinnung gebracht, verließ die Baracke mit den Worten:
„Als der beste Ladekanonier der Batterie hab ich’s doch nicht
nötig, mich von dem prügeln zu lassen!“
Doktor Klage beschwerte sich bei Kutschera. Kutschera fiel
den Lehrern in solchen Fällen regelmäßig mit seiner Redensart
in den Rücken: „Schießen ist wichtiger als Latein!“ Diesmal
verhörte er, lediglich um der Form zu genügen, einen Zeugen,
wobei er sich ausgerechnet Vetter herausgriff, und rief beim
Nachmittagsappell: „Mal herhören! Der Wolzow hat sich mit ‘m
Lehrer geprügelt! Wo gibt’s denn so was!“ Und dann: „Ich hab
einen ausgefragt, der erzählt’s so rum, aber der lügt! Der Doktor
Klage erzählt’s andersrum, aber der lügt auch! Wenn beide
Seiten lügen, seh ich keinen Grund, mich einzumischen!“

159
Sprach’s, pfiff seinem Hund und zog sich in seine Behausung
zurück. Wolzow triumphierte: „Der Chef hat diesen
Drückeberger durchschaut.“
Anfang Dezember wurde Klage Flakwehrmann in der 107.
Batterie. Es war eine kalte und sternklare Nacht. Ziesche hatte
Nachturlaub, Rutscher lag mit Mandelentzündung im Revier. Da
aber mehrere Luftwaffenhelfer erkrankt waren, wurden nur fünf
Geschütze besetzt. Und plötzlich erschien Doktor Klage bei
Geschütz Anton und sagte: „Guten Abend.“ Es verschlug ihnen
allen die Sprache. Klage mochte wieder seine Kolik haben,
denn er sah krank und erschöpft aus.
Wolzow überwand seine Verblüffung, zog sich den
Ladehandschuh aus und sagte gedehnt: „Na, dann wolln wir
mal.“ Er wandte sich an Schmiedling: „Hab mir ‘n Ellbogen
verknackst!“ Er übernahm die Funktion des Geschützführers.
Sie schossen ein paar Gruppen auf einen Verband schneller
Kampfflugzeuge. In der Feuerpause drückte sich Vetter an
Wolzow heran und hetzte: „Der Klage sitzt die ganze Zeit im
Bunker!“ – „Sehr schön!“ sagte Wolzow befriedigt. Er schrie:
„Wo ist Flakwehrmann Klage?“ Klage tauchte, die Hände auf
den Leib gepreßt, aus dem Mannschaftsbunker. „Sie haben
sich gedrückt! Los, räumen Sie die Kartuschen weg!“ –
„Wolzow“, sagte der Lehrer, „ich...“ – „Das ist der
Geschützführer“, rief Vetter, „da wird pariert!“ Wolzow brüllte:
„Zehnmal um den Geschützstand! Marsch, marsch!“ Holt fand
keine Zeit mehr, sich einzumischen, denn Klage murmelte
etwas Unverständliches und ging zur B 2.
Aber bei Kutschera fand er kein Recht. Der Hauptmann hatte
eben vom Major eine Anfrage bekommen, worauf die
Hundertsieben eigentlich bei Feuerverbot schieße, da seien,
verdammt noch mal, Jäger am Feind! Kutschera hatte also üble
Laune und fuhr den Lehrer an: „Verrückt! Befehl verweigern...
wo gibt’s denn so was! Beschweren Sie sich morgen auf dem
Dienstweg!“
Das Funkmeßgerät faßte einen anfliegenden Verband.
„Zemtzki“, brüllte Kutschera, „melden Sie der Untergruppe, wir
haben nischt verstanden! Gottesknecht, los, Feuer frei!“

160
Klage lief, als er wieder in den Geschützstand trat, unter die
Rohrmündung und mitten in den ersten Schuß hinein; die.
Druckwelle warf den geblendeten Mann in eine Ecke.
„Er hat sich schon wieder gedrückt“, stellte Wolzow fest, und
nun jagte er seinen Mathematiklehrer um den Geschützstand,
von Machtrausch besessen. Holt und Gomulka schleppten
Patronen. Als sie merkten, was sich an der Kanone abspielte,
war es zu spät.
Doktor Klage ging am nächsten Tag zum Kommandeur und
ließ sich in eine andere Batterie versetzen.
Holt dachte über diesen Vorfall nach. Er erinnerte sich an
manches Gespräch mit Peter Wiese. „Eigentlich“, so sagte er
zu Gomulka, „sollten die Lehrer unsere Erzieher sein...“
Gomulka schwieg. Dann sagte er: „Weißt du, der Wolzow...“ Er
verstummte, mit zusammengepreßtem Mund.

An dem gespannten Verhältnis zwischen Wolzow und den


Oberhelfern hatte sich nichts geändert. Aber es blieb vorerst bei
Drohungen, über die Wolzow spottete: „Die trauen sich nicht!“
Da gab es einen neuen Streitfall.
Jeder Luftwaffenhelfer hatte innerhalb eines Jahres Anspruch
auf einen vierzehntägigen Erholungsurlaub, den sogenannten
„großen Urlaub“. Darüber hinaus gab es regelmäßig Tag- oder
Nachturlaub für diejenigen, die am Einsatzort zu Hause waren.
Der Tagurlaub reichte von mittags zwei, der Nachturlaub von
abends sechs bis morgens sieben. Die Neuen erhielten
Ausgang von abends oder von mittags bis Mitternacht.
Um diesen Ausgang gab es Streit. Wilde aus Hamburg, ein
enger Freund Günsches, führte die Ausgangslisten. Holt fand
rasch heraus, daß die Hamburger vor allem sich selbst mit
Ausgang versorgten. Daraufhin nahm Wolzow die Sache in die
Hand. Als Ziesche Nachturlaub hatte, wurde beraten. Vetter
sagte: „Wir sollten keinen Stunk machen! Wenn wir erst die
Alten sind, dann sind wir immer mit Ausgang dran!“ Gomulka
protestierte. „Wenn ich mal die Listen führe, dann muß es
gerecht zugehen!“ Holt unterstützte ihn. Sie beschlossen, den
Oberhelfer Wilde hereinzulegen. Drei Wochen lang führten sie
Buch, bis der Beweis vollständig war. In drei Wochen hatte

161
Günsche dreimal Ausgang. Holt einmal, Pingel-Otto viermal,
Kirsch zweimal. Am Abend schrieben die neun Mann vom
Geschütz Anton Beschwerden. Kollektive Beschwerden galten
als Meuterei; die Beschwerden durften nicht einmal gesammelt
abgegeben werden. Also schrieb jeder seinen Text, und dann
erschienen sie, anderthalb Stunden lang, einer nach dem
anderen, auf der Schreibstube und übergaben ihre Briefe dem
verblüfften UvD. Der Wortlaut war fast der gleiche, das
Beweismaterial war identisch. Auf dem vorgeschriebenen
Dienstweg gerieten die Beschwerden an Gottesknecht. Er
besuchte sie noch am selben Abend in der Stube. Zum Schein
machte er Spindappell, warf einigen die Sachen durcheinander
und verurteilte Wolzow und Vetter wegen „unerlaubten
Grinsens beim Spindappell“ zu fünfundzwanzig Kniebeugen.
Dann gab er allen Sehr gut „wegen Köpfchens“.
Der Hauptmann ließ sich zwei Tage Zeit. „Er will seinen
Lieblingen nicht weh tun“, sagte Wolzow. Dann schrie
Kutschera beim Morgenappell: „Oberhelfer Wilde, vortreten! Die
Kerle von Anton, diese Banditen, haben sich beschwert, Sie
führen die Ausgangslisten falsch. Hab das geprüft. Die
Beschwerden stimmen!“ Und zu Gottesknecht: „Wilde vierzehn
Tage Ausgangssperre!“ Er brüllte den verdatterten Oberhelfer
an: „Mensch, wenn Sie schon Schmu machen, dann so, daß
man mich nicht mit dem Salat belästigen kann!“
Ziesche hatte sich abends bei den Hamburgern in Baracke
Berta herumgetrieben und sagte: „Da habt ihr euch was
eingebrockt! Die sind vor Wut außer sich!“ Vorsichtshalber
gingen Holt, Wolzow und Gomulka nur noch zu dritt durch die
Stellung.

Holt hatte Ausgang. Es war ein Samstag. Er fuhr mit der


Straßenbahn nach Essen. Vielleicht treff ich ein paar von den
Mädchen, dachte er und bummelte, den Stahlhelm am Arm, die
Kaiserstraße entlang. Die Menschen hatten es eilig. Das macht
der ewige Alarm, dachte er. Ein paar HJ-Führer, die ihm
begegneten, übersah er, aber einen Major der Panzertruppe mit
dem Deutschen Kreuz in Gold grüßte er ehrfürchtig. Dann blieb
er vor einem Kino stehen. „Der große König“, von Veit Harlan,

162
auf den Bildern Gustav Fröhlich und Kristina Söderbaum.
Reichswasserleiche, dachte er.
Er sah einen Luftwaffenhelfer an der Seite eines zierlichen
Mädchens vorübergehen. Das ist doch Ziesche! dachte er, und
er beschleunigte seine Schritte, überholte die beiden und
grüßte.
Es war kein Mädchen, was der blonde, etwas gedunsene
Ziesche am Arm führte, es war eine dunkelhaarige Frau von
vielleicht fünfundzwanzig Jahren. Sie wandte Holt ein schmales,
mädchenhaftes Gesicht zu und sah ihn aus dunklen Augen
fragend an, ehe sie mit einem Kopfnicken seinen Gruß
erwiderte. Sie standen mitten auf dem Gehweg, und um sie her
flutete der Menschenstrom. Ziesche räusperte sich, dann stellte
er vor: „Ein Kamerad, Werner Holt. Meine Mutter!“
„Möchtest du freundlicherweise hinzufügen“, sagte die
zierliche Frau rasch und ein wenig gereizt in süddeutscher
Mundart, „daß ich deine Stiefmutter bin? Man könnte sonst“ –
sie wandte sich an Holt – „dieses Trampeltier hier“ – sie stieß
Ziesche mit dem Ellenbogen an – „für meinen leiblichen Sohn
halten!“
Ziesches Lachen war gezwungen. „Also Stiefmutter.“
Jetzt erst, mit angewinkeltem Unterarm, gab sie Holt die Hand.
Ihr Blick verwirrte ihn. Die eine Sekunde, die er den Kopf neigte,
ging in ihm alles durcheinander: Ziesches Mutter, Stiefmutter,
sie ist wie ein Mädchen, zart und zierlich. Er hob den Kopf. Ich
darf sie nicht so anstarren! Er war verwirrt.
Sie gingen zu dritt weiter. Nach ein paar Schritten meinte
Ziesche verstimmt: „Wir wollten ins Kino!“ Sie antwortete
ungezogen und launisch wie ein Kind: „Ich hab mir’s überlegt.
Eigentlich habe ich gar keine Lust.“ Ziesche rief ungehalten:
„Da hätten wir doch gleich zu Hause bleiben können!“ – „Weißt
du was“, sagte Frau Ziesche, nun in bester Laune. „Wir kehren
um. Ich brühe einen Tee, und wir plaudern!“
„Nein!“ Ziesche blieb stehen. „Ich geh ins Kino, mach, was du
willst. Heil Hitler!“ Mit rotem Kopf drehte er sich um und
verschwand in der Menschenmenge.
Holt war von dieser Szene unangenehm berührt. Er wußte
nicht, wie er sich nun verhalten sollte. Sie lief neben ihm her

163
und redete ungehemmt: „Ich hab meine liebe Not mit dem Kerl.
Wissen Sie, seine Mutter, das war so eine Superblonde...
Arische... Mit mir kann er sich nun nicht abfinden!“ Sie blieb
stehen. „Und Sie? Lassen Sie mich auch einfach allein?“ Sie
war kleiner als er und sah ihn von unten aus ihren dunklen
Augen an, mit einem ängstlichen und hilflosen Gesicht.
Ihre Art, so eindeutig zu schauspielern, verwirrte ihn immer
mehr. „Wenn Sie erlauben“, sagte er beklommen, „begleite ich
Sie...“ Sie lächelte. Das schmale Gesicht war ihm vertraut, als
habe er es seit langem täglich gesehen. „Wohin?“ fragte er.
„Nach Hause!“ Er hatte Mühe, seinen Schritt dem ihren
anzupassen. „Sie sind von auswärts? Was machen Sie, wenn
Sie Ausgang haben?“ Man gehe ins Kino, sitze in Cafes herum
und spiele Billard... – „Und die Mädchen?“ fragte sie. „Die
Dämchen aus dem Lyzeum?“
Für manchen sei das die... einzige Abwechslung
gewissermaßen... Er könne es schon verstehen, meinte er. –
„Für manchen? Für Sie also nicht?“ – „Nein“, sagte er
befremdet. Es paßte ihm nicht, so ausgefragt zu werden.
„Mit sechzehn Jahren in die Flakbatterie gesteckt, schrecklich!
Ihr seid doch noch Kinder!“ Er suchte eine Antwort, spitz,
geistreich-ironisch sollte sie sein... Er schwieg, er dachte: Hab
ich das nötig, mich beleidigen zu lassen?... Aber als sie vor
dem Eingang eines großen Miethauses fragte: „Mögen Sie eine
Tasse Tee mit mir trinken?“, da antwortete er glücklich: „Ja,
gern...“ und folgte ihr.
Er half ihr aus dem schwarzen Pelzmantel und sah sie nun in
einem braunen Wollkleid, schlank and schmalhüftig wie einen
Knaben. Sie führte ihn in ein Zimmer, wo er verlegen auf dem
bunten Teppich stehen blieb. Sein Blick haftete an einer
großen, gerahmten Photographie, die auf dem Tisch der
Leselampe stand und das Gesicht eines vielleicht
fünfzigjährigen Mannes zeigte, ein großflächiges, derbes
Gesicht über dem Kragen der SS-Uniform, ein wenig gedunsen,
und es glich, unter der paspelierten Uniformmütze mit dem
Totenkopf, dem Gesicht Günter Ziesches... Das muß sein Vater
sein! Holt drehte das Bild um und las: „Meiner heisgeliebten
Gerti“ – tatsächlich, „heißgeliebt“ war mit s geschrieben, in

164
klobiger und abstoßend primitiver Schrift – „zum 26. Geburtstag
von ihrem Erwin.“ Das Datum: „Krakau, 14. Hartung 1942.“ Fast
achtundzwanzig Jahre alt ist sie also. Erregt starrte er auf das
Bild, auf dieses gedunsene, brutale Gesicht. Sein Inneres füllte
sich bis in den letzten Winkel mit Haß auf diesen Menschen in
der protzigen Uniform, der nicht orthographisch schreiben
konnte und der Mann einer so wunderbaren, mädchenhaften
Frau war...
Hinter ihm ging eine Tür. Mit flinken Bewegungen deckte Frau
Ziesche den Teetisch. Sie lächelte freundlich und plauderte: „Es
ist nicht mehr sehr gemütlich hier. Wir haben fast alles
ausgelagert. Eines Tages erwischt es auch dieses Haus.“
Er saß ihr stumm und verbittert gegenüber. Sie fragte
teilnahmsvoll: „Was ist mit Ihnen?“ – „Nichts. Ich hab keine
Ruhe. Bestimmt gibt’s Alarm.“ Sie beugte sich zum Radio hin.
Widerwillig verfolgte er mit seinem Blick ihren schlanken Arm.
„... Reichsgebiet kein feindlicher Kampfverband.“ Sie suchte
Musik. „Sind Sie nun beruhigt?“ Sie lehnte sich bequem in ihren
Sessel.
Ich will fort! dachte Holt. Wäre ich lieber ins Kino gegangen! Er
glaubte in seinem Rücken den Blick des blonden,
breitgesichtigen Mannes zu fühlen. Er konnte nicht ständig auf
den Boden blicken, er mußte sie ansehen, wie sie mit
untergeschlagenen Beinen auf dem Sessel hockte. Ein zartes
Profil, und das lange dunkle Haar gebündelt im Nacken, zu
einem lockeren Knoten geschlungen... „Es ist besser, wenn ich
gehe.“ Er stand auf. „Ich hab keine Ruhe.“ Sie sah ihn
befremdet an. Dann sagte sie in unverbindlicher
Liebenswürdigkeit- „Wenn Sie meinen? Ich will Sie nicht
halten!“
Auf dem Korridor zog er sich eilig den Mantel über. Sie gab
ihm die Hand. Plötzlich stammelte er: „Bitte... Sie dürfen nicht
bös sein...“
Erstaunt zog sie die Brauen hoch. Er wagte nicht, sie
anzusehen. „Darf ich wiederkommen?“ Sie antwortete
unbefangen: „Warum nicht? Ich hab Telefon. Günter gibt Ihnen
die Nummer!“

165
Er lief hastig die Treppen hinab und irrte planlos durch die
Straßen. Dann fuhr er in die Batterie zurück.
Er fand an diesem Abend lange keinen Schlaf. Vetter röchelte
leise. Holt starrte in die Dunkelheit.
Er sah mandelförmige Augen, dunkles Haar, das zu einem
lockeren Knoten geschlungen war.
Und Uta?
Er beschloß, Frau Ziesche aus dem Weg zu gehen.

Am Sonntag morgen hatte Kutschera schlechte Laune und


nahm einen nachlässigen Gruß zum Anlaß, die Batterie
anderthalb Stunden mit Fußdienst zu plagen. Die Alarmklingel
erlöste die Jungen.
Nach dem üblichen Sonntagsessen, Rinderbraten mit einer
Soße, die „Bratenwasser Din A 4“ genannt wurde, Sauerkraut
und Pellkartoffeln, zog der sonntägliche Besucherstrom in die
Batterie, Eltern und Bekannte der Luftwaffenhelfer aus den
umliegenden Städten.
Vetter drosch mit Kirsch und Rutscher den gewohnten
Sonntagnachmittagsskat. Er versicherte: „Das ist hier ein prima
Leben! Na, meine Sippe soll in Zukunft mal versuchen, mich zu
verdreschen!“ Wolzow las im Clausewitz. Gomulka lag auf dem
Bett und schlief.
Holt schrieb an Uta. Da steckte jemand den Kopf in die Stube
und sagte: „Ziesche, in der Kantine ist Besuch für dich.“ Ziesche
verschwand. Das kann nur sie sein! dachte Holt. Uta war
vergessen. Soll ich nachschaun, ob sie’s wirklich ist?
Zemtzki trat ins Zimmer. Vetter zählte seine Stiche:
„Achtundfünfzig, zwoundsechzig, es reicht!“ – „Gilbert“, piepste
Zemtzki, „du sollst ans Geschütz Cäsar kommen, dort probiern
die Obergefreiten eine hydraulische Ladeschale aus!“ Wolzow
klappte das Buch zu. „Das muß ich mir ansehen!“ Er warf die
Tür ins Schloß.
Ich kann nicht nach der Kantine laufen, ich mach mich ja
lächerlich, dachte Holt. „Was ist ‘n das: Ladeschale?“ fragte
166
jemand. Vetter erklärte: „Bei der 12,8- und 15-Zentimeter-Flak
sind die Patronen so schwer, daß man sie nicht mehr von Hand
laden kann. Bei der 8,8 gibt’s so was nicht!“ Nein, bei der 8,8
gibt’s das nicht, dachte Holt. Ladeschale ist Blödsinn... „Sepp!“
schrie er aufspringend und rüttelte Gomulka. „Sepp! Da stimmt
was nicht! Schnell!“ Er lief schon den Lattenrost entlang.
Geschütz Cäsar lag im Westen, am Abhang der Anhöhe, ein
wenig tiefer als die B 2. Holt konnte im Laufen flach über den
Geschützstand hinwegsehen. Die Kanone war abgedeckt.
Gestalten mit Schirmmützen, also Luftwaffenhelfer! Er rannte
quer über den Acker, dann war er schon am Ziel. Der
Geschützstand wimmelte von Oberhelfern.
Sie hatten Wolzow überwältigt, hatten ihn über einen Holm
gezerrt, sein Oberkörper war bis zum Gürtel in die große
Persenning verstrickt. Auf diesem Bündel knieten vier, fünf
Mann und hielten es nieder. Drei Mann hatten jedes Bein
gepackt, und Günsche stand daneben und hieb mit einer
mehrschwänzigen Lederpeitsche auf Wolzows Rücken. Holt
warf sich dazwischen. Dann war auch Gomulka da, er hatte
seinen Knüppel mit und drosch drauflos. Holt konnte sich noch
einmal befreien, dann wurde er überwältigt. Aber Wolzow war
frei.
Er schleuderte die Persenning von sich, sein Gesicht war blau,
die Augen quollen aus den Höhlen, er schnappte ein paarmal
nach Luft, dann schlug er los. Zunächst schlug er Holt heraus,
der arge Prügel bezog, dann unterlief er Günsche, packte ihn
und warf ihn in eine Ecke. Und während bisher alles lautlos vor
sich gegangen war, begann Wolzow nun vor Wut heiser zu
brüllen.
Da war Gottesknecht da. Holt lief das Blut aus der Nase. Es
dauerte eine Weile, bis Wolzow sich einigermaßen beruhigt
hatte; er stand mit verzerrtem Gesicht vor Gottesknecht und
glotzte ihn an.
Ein paar der Oberhelfer blieben liegen. Günsche war
tatsächlich besinnungslos. Ein Zwilling hockte stöhnend auf
dem schlackebestreuten Boden, beide Hände vors Gesicht
gepreßt, und zwischen den Fingern lief das Blut hervor; er war
mit dem Kopf gegen das Geschütz geprallt. Dann krümmten

167
sich noch zwei am Boden, die keine Luft bekamen. Das war
harmlos. Blutige Nasen oder verschwollene Lippen hatten sie
alle. Nur Gomulka war heil geblieben; er hatte seine Latte in
Stücke geschlagen und hielt den Stumpf noch in der Hand.
„Gomulka!“ sagte Gottesknecht. „Holen Sie den Sanitäter!“
Dann schaute er auf Günsche, der sich noch immer nicht
rührte. Erst als ihm der Sanitäts-Obergefreite ein Fläschchen
mit Salmiakgeist unter die Nase hielt, schlug er die Augen auf,
übergab sich und war nicht fähig, ohne Hilfe zu stehen.
„Gehirnerschütterung!“ Der Zwilling hatte eine tiefe, klaffende
Platzwunde von der Stirn bis zum Backenknochen; das linke
Auge war zugeschwollen. „Herr Wachtmeister, Günsche und
Pingel müssen ins Revier.“
„Na los“, sagte Gottesknecht. Auf einmal waren nur noch Holt,
Wolzow und Gomulka da. Sie deckten die Plane über das
Geschütz. Gottesknecht sah ihnen schweigend zu. „Herr
Wachtmeister“, sagte Wolzow schließlich, „es war Notwehr!“
Gottesknecht antwortete nicht. „Die haben mich hierhergelockt
und sind elf Mann hoch über mich hergefallen.“ – „Halten Sie
den Mund, Wolzow“, sagte Gottesknecht müde, „das
interessiert mich nicht. Mich interessiert nur, daß die nächsten
Tage zwei Mann am Funkmeßgerät fehlen!“ – „Da können die
andern Herrn vom Fu-MG eben solange nicht ausgehen!“ sagte
Holt wütend. Der Wachtmeister schüttelte den Kopf. „Was
macht ihr mir für Sorgen! Wie soll ich denn das dem Chef
beibringen?“

Der Hauptmann, als NSFO, als „Nationalsozialistischer


Führungsoffizier“, hielt am Montag in der Kantine
„wehrpolitischen Führungsunterricht“, „WF-Unterricht“ genannt.
Er zog seinen Fahrermantel aus, warf ihn Gottesknecht hin und
stemmte die Fäuste in die Hüften. „Mal herhörn! Gestern haben
sich welche gekloppt. Zwei mußten ins Revier! Wo gibt’s denn
so was! Wer schuld war, interessiert mich nicht. Die Batterie hat
acht Tage Ausgehverbot. Bedankt euch bei den Kerlen, die
euch das eingebrockt haben!“ Dann begann er mit dem
Unterricht. Lage an den Fronten, politische Lage,
Panzerschlacht bei Schitomir, bisher schwerster Luftangriff auf

168
Berlin, fanatischer Widerstand... Holt hörte nicht hin. Das gilt
uns: die euch das eingebrockt haben, dachte er.
Am Abend sagte Wolzow: „Ich hab’s satt. Jetzt geh ich nach
Berta und rede mit den Oberhelfern.“ – „In die Höhle des
Löwen?“ sagte Gomulka. „Aber das nützt nichts!“ – „Man muß
es versuchen“, meinte Wolzow. Holt sagte: „Keinesfalls gehst
du allein! Los, Sepp, Christian, wir gehn mit!“
Die Oberhelfer zeigten sich überrascht, als die vier in die
Stube traten. Sie lagen auf den Betten, ein paar saßen am
Tisch. Gemütliche Bude, dachte Holt. Die Spinde waren zu
einer Wand zusammengeschoben, hinter der sich die Betten
verbargen. Vor dem Fenster stand ein großes Aquarium mit
Fischen, auf den Fensterbrettern blühten Azaleen und
Alpenveilchen.
Wolzow stand mitten im Zimmer. „Welch hoher Besuch!“
spottete jemand. Wolzow sagte ruhig: „Wir sollten uns in
Zukunft vertragen!“ – „Vertragen?“ rief ein Zwilling und fuhr in
seinem Bett hoch. „Jetzt, wo mein Bruder fürs Leben entstellt
ist?“ – „Ich hab niemanden überfallen“, erwiderte Wolzow. Der
Oberhelfer Wilde erhob sich. „Es gibt ungeschriebene Gesetze
beim Militär. Vertragen können wir uns, wenn ihr eure
Abreibung weghabt!“ Wolzow schrie, mit einem Schritt auf
Wilde, der eilig den Tisch zwischen sich und Wolzow brachte:
„Noch so ein hinterhältiger Überfall... dann gnade euch Gott!“
Die Oberhelfer stimmten ein Hohngelächter an, aber es klang
nicht echt.
„Es hat keinen Zweck“, sagte Holt später. „Das nennt sich nun
Kameradschaft: einer bekämpft den anderen. Ich hab mir das
anders vorgestellt im Einsatz. Eine verschworene
Gemeinschaft...“ – „Blödes Gewäsch!“ schimpfte Wolzow.
Vetter rief: „Verschworene Gemeinschaft, da mußt du dir erst
fünfzig mit dem Ochsenziemer verpassen lassen!“
Holt und seine Freunde waren isoliert. Die Jungen aus ihrer
Klasse, die in der Meßstaffel dienten, biederten sich bei den
Oberhelfern an.

Der Dezember brachte schwere nächtliche Flächenangriffe auf


die umliegenden Städte.

169
Holt erhielt dann und wann Post von seiner Mutter, bekam
regelmäßig von seinem Onkel aus Hamburg
Zigarettenpäckchen und bat manchmal um Geld, denn die
fünfzig Pfennig täglichen „Ehrensoldes“ reichten nicht. Sein
Gesuch um Kurzurlaub zu Weihnachten wurde bewilligt. Er
überlegte lange. Uta, an die er zuerst dachte, hatte schon im
November geschrieben, daß sich ihre Familie zu Weihnachten
im Schwarzwald treffe; zu seiner Mutter zu fahren, dazu spürte
er keine Neigung. Er fühlte sich einsam. Er rief Frau Ziesche
an.
Gottesknecht saß in der Schreibstube und unterhielt sich mit
der rundlichen Nachrichtenhelferin, die laut Batterieklatsch die
Geliebte des Hauptmanns war. Holt schielte mißtrauisch auf
Gottesknecht. Es dauerte ewig, bis er eine freie Amtsleitung
bekam. Dann endlich hörte er Frau Ziesches Stimme, verzerrt
und klirrend. „Natürlich, kommen Sie, ich habe Gäste, es paßt
ausgezeichnet!“ Er machte sich auf den Weg, von einer
beklemmenden Erwartung erfüllt.

Vor dem Hause standen zwei klapprige Autos. Ein Mädchen


öffnete und half ihm aus dem Mantel. Er legte den Stahlhelm
auf den Boden. Ein Militärmantel, am Haken, zeigte keine
Offiziersschulterstücke, wie Holt erleichtert feststellte. Er hörte
Tanzmusik und Gelächter.
Er kannte das Zimmer. Die Flügeltüren zu den angrenzenden
Räumen waren geöffnet. Aus einem Kreis von etwa zwanzig
Personen, Männern und Frauen, kam Frau Ziesche auf ihn zu,
feierlich, unnahbar, Dame des Hauses. Sie reichte ihm die
Fingerspitzen. Der Besitzer des Uniformmantels, ein großer
blonder und bleicher Unteroffizier, am Waffenrock den
Ärmelstreifen des Panzergrenadierregiments
„Großdeutschland“, wurde von allen „Großdeutschland“
angeredet. Wenn ihm das Mädchen ein Tablett mit Likörgläsern
hinhielt und er sich bediente, so rief jemand: „Großdeutschland
kann nicht genug bekommen“, und alle lachten.
Holt saß in einem Sessel, noch sehr befangen. Frau Ziesche,
neben ihm, erklärte liebenswürdig und nicht ohne eine Spur
Vertraulichkeit: „Ehemalige Berufskollegen, Sänger vom

170
Operettenhaus. Sie wissen noch nicht, daß ich Tänzerin bin?
Ich war hier ein paar Jahre Primaballerina... Ich war gar nicht
schlecht! Ich hab auch im Ausland gastiert. Wenn Sie’s
interessiert, zeig ich Ihnen Bilder.“ Sie lachte: „Herrgott, das
waren Zeiten!“
Holt rührte sich nicht und lauschte ihren Worten, beglückt
durch soviel Vertraulichkeit. Ihre Nähe verwirrte und erregte ihn.
„Amüsieren Sie sich gut“, hörte er sie sagen, und scherzhaft:
„Nehmen Sie sich vor den Mädchen in acht! Es sind bloß
Choristinnen, ich hab sie nicht gern im Haus, aber die Männer
brauchen jemanden zum Tanzen.“ Er blieb allein.
Er ließ keinen Blick von ihr. Sie trug ein Hausgewand aus
brauner Seide, einen weiten und langen Hosenrock mit
schlichtem Kasack, dessen Ärmel so weit waren, daß sie oft bis
zur Schulter zurückfielen und dann die weißen, nackten Arme
zeigten. Das Haar war zu einem griechischen Knoten
hochgebunden. Als einzigen Schmuck trug sie in den
Ohrläppchen ein paar kleine glitzernde Steine. In Holt glomm
ein Funke Eifersucht auf all die Männer, die sie hier umgaben.
Er neidete ihnen jedes Lächeln und jedes Wort.
„Kamerad, da wolln wir mal!“ Das war der bleiche Unteroffizier,
und er reichte Holt ein Glas mit Kognak. Ringsum tanzte man
zur Musik des Plattenspielers. „Urlaub?“ fragte der Unteroffizier
mit schwerer Zunge. „Oder hier im Einsatz? Ich... bin auf
Fronturlaub... Wissen Sie was?“ Er trank. „Zappenduster!
Mensch... Kamerad...“ Er wischte sich mit dem Ärmel über die
Stirn. „Ich geh in drei Tagen wieder an die Ostfront... Prost!“ Die
Gläser waren frisch gefüllt. „Kamerad... es ist wirklich
zappenduster! Die Welt ist so sehr verjudet, daß sie uns
schließlich doch unterkriegen!“
Frau Ziesche stand plötzlich bei ihnen und sagte mit heller
Stimme, nicht ohne Schärfe: „Hab ich dir nicht verboten, vom
Krieg zu reden? Geh tanzen!“ Der Unteroffizier durchmaß mit
unsicheren Schritten das Zimmer. Frau Ziesche setzte sich zu
Holt und sagte in gespieltem Groll: „Sie sind ungezogen! Es
gehört sich, daß man mit der Dame des Hauses tanzt!“
„Ich kann nicht tanzen“, gestand er. Sie rief den Mädchen am
Plattenspieler zu: „Einen Foxtrott!“ Dann nahm sie ihn an der

171
Hand und führte den einfachen Schritt vor. Er begriff schnell.
„Geht ja ausgezeichnet“, meinte sie. Mit klopfendem Herzen
hielt er sie im Arm, vorsichtig und behutsam, als sei sie aus
Porzellan. Mit der Rechten fühlte er durch die Seide hindurch
ihr Schulterblatt. Die Platte war abgelaufen. Er bat ungestüm:
„Noch einmal... bitte!“ Er geriet, in den Tanz vertieft,
unaufhaltsam in einen Zustand von Erregung und
Begeisterung. Er zog sie leicht und dann ein wenig fester an
sich und erschrak darüber.
Als auch dieser Tanz, viel zu schnell, beendet war, erschien
sie ihm unnahbarer denn je. Eifersüchtig sah er sie mit einem
anderen tanzen. Man reichte eine Platte mit belegten Broten
herum, Ölsardinen! Aber er lehnte ab, obwohl er hungrig war.
Schließlich setzte er sich zu den Choristinnen, ließ sich einen
Kognak und gleich noch einen zweiten einschenken, aber das
Geschwätz der Mädchen, die geschminkten Gesichter, es war
ihm alles zuwider.
Er raffte sich auf und bat Frau Ziesche abermals um einen
Tanz. Der Kognak gab ihm den Mut, einen der Schauspieler,
der ihm zuvorzukommen drohte, einfach beiseite zu schieben.
Sie lachte. „Siehst du, Fritz, die tapferen Krieger werden
vorrangig behandelt!“ Er sah auf sie herab. In seinem Blut
kreiste der Alkohol. Wenn ich mit ihr allein wär, ich würde sie
küssen! Es gab einen dumpfen Fall, Gläser zersplitterten, die
Choristinnen kreischten. Der Unteroffizier war hingestürzt und
lag nun auf dem Parkett. Zwei der Schauspieler hoben ihn auf.
Frau Ziesche wandte kaum den Kopf. „Bringt ihn ins Bad!... Er
ist betrunken“, sagte sie zu Holt. „Er hat so sehr Angst vor der
Front, daß er sich dauernd betrinkt!“ Sie sah auf die Uhr. „In
zehn Minuten werfe ich die Bande raus!“
Im Radio tickte der Drahtfunk. Dann sagte der Sprecher: „...
feindliche Kampfverbände im Anflug auf das Reichsgebiet...“
Gefechtsschaltung! dachte Holt. Fort! Ein Auto anhalten... dann
schaff ich’s! Aber er sah die Angst in Frau Ziesches Gesicht...
Ich bleibe! Es war üblich, aber nicht Vorschrift, bei Alarm den
Ausgang abzubrechen. Ich bleibe!
Die Gäste polterten die Treppe hinab, man schleppte den
bezechten Unteroffizier in eines der Autos. Frau Ziesche

172
kommandierte inzwischen das Pflichtjahrmädchen: „Lassen Sie
das Geschirr! Bringen Sie die Koffer in den Keller!“ Sie ließ sich
im Pelz in einen Sessel fallen. Die Sirenen gaben Voralarm.
Holt öffnete in dem finsteren Zimmer alle Fenster. Kalte Luft
drang in die verrauchte Wohnung. Im Haus hörte man die Leute
in den Keller laufen.
Frau Ziesche war hilflos und ängstlich wie ein Kind. „Wer soll
das aushalten! Die dauernden Alarme! Zum Verzweifeln!“ Holt
sagte: „Warum bleiben Sie hier in Essen?“ – „Mein Mann meint,
es macht einen schlechten Eindruck...“ – „Unsinn! Wenn Sie
umkommen, macht das einen besseren Eindruck?“ Sein Haß
auf den dicken blonden Mann war frisch und unverbraucht.
Die Sirenen heulten los, auf und ab. „Wir müssen in den
Keller!“ – „Nicht so eilig“, meinte er, am Radio, sehr überlegen.
„Sie sind erst in den Hundertfünfzigkilometerbereich
eingeflogen... Bekommen Sie den Flaksender?“ – „Das versteht
doch kein Mensch...“ - „Ich versteh’s schon!“
Sie kniete neben ihm vor dem Rundfunkgerät nieder. Die
Skala des Radios beleuchtete ihr Gesicht. Zemtzki hatte Holt
die große Karte mit den Planquadraten erklärt. „Schneller
Verband von Martha–Heinrich vierundsechzig nach Nordpol–
Ida siebzehn...“ - „Das sind die Pfadfinder, etwa bei Dinslaken...
Wenn sie ihre Richtung beibehalten, fliegen sie südlich an uns
vorbei...“ Das Ticken verstummte, die Stimme des Sprechers
war wieder da: „Schneller Verband von...“ – „Sie fliegen vorbei.“
– „Und wann wird es gefährlich?“ fragte sie. – „Ich erklär Ihnen
das gelegentlich ganz genau.“ Er horchte auf den Sprecher.
„Die Bomber fliegen hinterher, sie lassen uns in Ruhe.“
„Dieser Ziesche hätte mir das längst erklären können!“ sagte
sie. Draußen setzte schweres Flakfeuer ein, durch die
geöffneten Fenster drang der Geschützdonner, beängstigend
nahe. Holt horchte. „Da schießt jemand“ auf die Pfadfinder!“ -
„Eine Ruhe haben Sie! Ich will in den Keller, ich habe Angst!“
Sie nahm ihn am Arm und ließ sich die Treppe hinabführen.
Der Luftschutzwart lehnte mürrisch an der Haustür und
betrachtete Holt neugierig. „Wird Zeit, daß Sie runterkommen!“
Der Keller war tief und mit Balken abgesteift. Eine Menge
Menschen drängten sich in den Gängen zusammen. Frau

173
Ziesche schloß ganz hinten eine Tür auf. „Ich mag nicht unter
all den Leuten sitzen.“ Das kleine, saubere Kellergelaß war
gleichfalls mit starken Baumstämmen abgestützt. Das wird nicht
viel nützen, dachte Holt mißtrauisch. Er wünschte sich in den
Geschützstand, unter freien Himmel.
Sie setzten sich, sie hielt noch immer seinen Arm fest und
rückte fröstelnd an ihn heran. Im Kellergang leuchtete
schwacher Lichtschein. Das Flakfeuer klang nur gedämpft in
den Keller.
Sie saßen stumm beieinander. Nach einer Weile sagte sie:
„Die Leute draußen machen mich immer ganz verrückt. Aber
Sie wirken beruhigend auf mich.“ Er erwiderte: „Ich hätte hier
unten vielleicht auch Angst. Aber ich bin so froh, daß ich mit
Ihnen zusammen sein kann.“ Er spürte, daß sie ihn anschaute
und dann wieder geradeaus blickte.
Vom Kellergang klang Geschwätz und Kindergeschrei zu
ihnen herein. Aber das hörte Holt kaum. Er sah die junge,
mädchenhafte Frau neben sich, in den Pelz gewickelt, aus dem
nur das schmale und jetzt so blasse Gesicht hervorschaute. Der
Knoten hatte sich gelöst, und das Haar fiel schwer und
mattglänzend in den Nacken und mischte sich mit dem Pelz.
Sie hatte den Kopf rücklings gegen die Kellerwand gelegt.
„Warum sind Sie neulich fortgelaufen?“ fragte sie halblaut.
„Ich wär auch heut beinah wieder gegangen...“ – „Und
warum?“ – „Wenn... Sie mit anderen tanzen, ich ertrag das
nicht...“ Sie lächelte. „Ich kann nicht dafür...“, sagte er, „ich
weiß, es ist dumm...“ Er erhielt keine Antwort. Der
Luftschutzwart brüllte in den Kellergang: „Entwarnung!“
Holt schaute auf die Armbanduhr. Es war kurz nach elf. „Ich
muß fort.“ Wie beim erstenmal stand er mit gesenktem Kopf vor
ihr, hielt ihre Hand und fragte: „Darf ich wiederkommen?“ Sie
sagte langsam: „Eigentlich sind Sie doch alt genug, zu wissen,
was Sie dürfen und was Sie nicht dürfen.“ Er hatte noch nie ein
so undurchschaubares Gesicht gesehen.

Er dachte unaufhörlich über diese seltsame Bekanntschaft


nach. Während des tatenlosen Wartens am Geschütz und
während des Schulunterrichts drehten sich seine Gedanken um

174
nichts anderes als um die dunkelhaarige Frau. Anfangs störte
ihn dabei die Erinnerung an Uta. Aber dann kapitulierte er vor
diesem neuen Gefühl, das offenbar stärker war. Es ging nicht
ohne Selbstvorwürfe ab.
Am Tage vor seinem nächsten Ausgang rief er bei Frau
Ziesche an. Ob er kommen dürfe? „Natürlich, wenn Sie nichts
Besseres vorhaben!“
Sie öffnete selbst, sie war allein in der Wohnung. Wieder
zeigte sie sich ganz anders, als er sie bisher kennengelernt
hatte, sie war von bestürzender Sachlichkeit. Im Wohnzimmer
hockte sie sich auf der Couch nieder. Er zog einen Sessel
heran. Sie rauchten. „Warum sagten Sie: ,Wenn Sie nichts
Besseres vorhaben’?“ fragte er. „Es gibt nichts, was mir lieber
wäre, als Sie zu besuchen!“ – „So?“ sagte sie gedehnt und
rekelte sich auf der Couch. „Auch nicht, an ein gewisses
Fräulein Barnim zu schreiben?“ Er geriet so sehr außer
Fassung, daß er vor Hilflosigkeit frech wurde: „Sie spionieren
mir nach?“
„Ein bißchen“, meinte sie und warf die Zigarette in die
Aschenschale. „Jedenfalls hab ich aus meinem Stiefsohn etwas
Wichtiges herausgehorcht.“ – „Und... das wäre?“ – „Daß Sie
offenbar keiner von denen sind, die sich einer Eroberung
rühmen“, sagte sie langsam und sah ihn dabei fest und
herausfordernd an, „daß Sie, kurz gesagt, den Mund halten
können.“
Er saß wie gelähmt in seinem Sessel, bis sein Blick auf die
große, gerahmte Photographie fiel. Die Erregung, die sein Blut
durch die Adern trieb, schlug für einen Augenblick in sinnlose
Wut um. Er schmetterte das Bild des dicken blonden Mannes
aufs Parkett, daß die Scherben umherflogen. Sie stieß einen
erschreckten Schrei aus. Er faßte nach ihr. Sie zog ihn zu sich
herab. Er nahm ihre Gier für Leidenschaft.
Er blieb bis zum späten Abend. Sie lagen im Schlafzimmer, in
dem breiten Bett. Er schaute ihr unablässig ins Gesicht, das
völlig entspannt war, als wolle er erraten, was hinter der Stirn
vor sich ging. Er fragte unvermittelt: „Liebst du mich?“
Sie schlug überrascht die Augen auf. Ihr Blick ließ ihn
vergessen, wie albern seine Frage war. Schon schloß sie die

175
Augen wieder, seufzte ein bißchen und sagte: „Ja.“ Dann
lächelte sie, mit geschlossenen Augen.
Sie lügt! „Es ist nicht wahr, du liebst mich nicht!“
Sie wandte den Kopf zu ihm hin. „Liebe...“, sagte sie
verächtlich, „was ist denn Liebe? Ich bin doch kein Backfisch!
Hingabe... was willst du mehr?“
„Und... das Herz?“ fragte er hilflos. Sie zog seinen Kopf an
ihre Brust. „Sei still!“ Ehe er ging, fragte sie: „Kannst du nicht
Nachturlaub nehmen, wie die anderen?“

„Mein Stiefsohn darf uns unter gar keinen Umständen auf die
Spur kommen“, sagte Frau Ziesche zu Holt. Da er nun
manchmal erst im Morgengrauen in die Batteriestellung
zurückkehrte, erfand er eine „Freundin“, Hausangestellte in
Gelsenkirchen. „Daß nur Ziesche nichts erfährt“, warnte sie
immer wieder, „es gäbe eine Katastrophe!... Er haßt mich, sieh
dich vor!“
Eine Zeitlang versuchte Holt, Ziesche ein wenig
näherzukommen, und er fragte ihn einmal: „Was ist dein
Vater?“ Ziesche gab Auskunft: „Reichsbeauftragter für die
Festigung deutschen Volkstums im Generalgouvernement.“
Holt konnte sich darunter nicht viel vorstellen. „Was hat er denn
da zu tun?“ Ziesche erklärte es genau. „Du weißt ja, daß die
Polen eine minderwertige Rasse sind. Aber es gibt
Abstufungen, zum Beispiel blonde Slawen, deren germanischer
Blutanteil von früher her sehr hoch ist. Mein Vater sucht solche
Kinder aus, in den Konzentrationslagern und auch sonst. Sie
werden zu deutschen Familien gebracht oder im Reich deutsch
erzogen. Später sollen sie aufgenordet werden; durch
Nachwuchssteuerung kann man rassisch höherstehende Typen
schaffen.“ – „Und die Eltern?“ fragte Holt. Ziesche hob die
Schultern.
Es blieb bei dem einen Annäherungsversuch. Eine
Beobachtung, die Holt durch einen Zufall machte, führte bald
zum Bruch, ja zur Feindschaft zwischen Ziesche und ihm.
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Ziesche hatte einen Freund in der Batterie, einen kleinen
blonden Jungen mit weichem Haar und verträumten Augen, er
hieß Fink. Holt überraschte die beiden eines Abends im Bunker
des Geschützstandes, ohne daß sie es merkten. Er erzählte
niemandem davon.
Als er ein paar Tage später morgens gegen sechs übermüdet
in die Baracke schlich, sah Ziesche ihn kopfschüttelnd an und
brachte am Nachmittag die Sprache darauf. Wolzow, Vetter und
Gomulka saßen dabei. „Du bist erst siebzehn“, sagte Ziesche,
„und treibst es schon derartig mit Weibern!“
Holt schwieg betroffen. Wolzow grinste. „Das geht keinen was
an“, sagte Holt. Ziesche entgegnete: „Ich wundere mich nur,
daß ein Mensch sich im Sumpf so wohl fühlt.“ Er lehnte mit dem
Rücken gegen einen Spind und blickte auf Holt herab. „Ich
jedenfalls halte es mit den Worten, die Flex seinem ,Wanderer’
vorangestellt hat: ,Rein bleiben und reif werden, das ist höchste
und schönste Lebenskunst’!“
Holts Betroffenheit schlug in Wut um. „Du verlogenes Aas!
Nennst du das rein bleiben, wenn du mit Fink...“ Ziesche,
während Vetter vor Lachen losbrüllte, stürzte sich auf Holt, aber
er war zu schwerfällig, um mit ihm fertig zu werden. Von nun an
waren sie Todfeinde.

Holt erzählte die Szene Frau Ziesche. Sie hörte aufmerksam


zu. „Das war unklug“, meinte sie dann, „jetzt hast du ihn dir zum
Feind gemacht.“ – „Was heißt klug oder unklug?... Du bist so...
berechnend! Er hat mich angepöbelt, ich hab’s ihm
zurückgegeben, fertig!“
Sie saßen im Wohnzimmer. Sie legte ihre kindlich kleine Hand
auf seine, seufzte und sagte: „Du bist im Sturm-und-Drang-
Alter... Und berechnend, das wirst du auch noch werden, wenn
du das Leben erst besser kennst, oder...“ – „Oder?“ – „Oder du
bringst es zu nichts.“
Während des üblichen Alarms am Abend blieben sie in der
Wohnung, am Radio. Mochte die Flak schießen, was tat das
schon? „Wenn sie keine Zielmarkierungen werfen“, hatte er ihr
erklärt, „fallen höchstens zufällig mal ‘n paar Bomben.“ Der
Luftschutzwart klingelte Sturm. Sie verhielten sich ruhig, die

177
Wohnung war gut verdunkelt. Das Pflichtjahrmädchen arbeitete
nur viermal wöchentlich.
Holt liebte die Alarmstunden. Dann war es still im Haus, der
ferne Donner der Flakbatterien deckte alle Geräusche zu. Er
kniete neben Frau Ziesche auf dem Boden vor dem Radio. Der
Drahtfunk tickte geheimnisvoll, der schwache Lichtschein der
Skala beleuchtete ihr Gesicht. Er legte den Arm um ihre
Schulter und sah sie unablässig an, und je länger er sie
anblickte, desto mehr verfiel er ihr. Sie lehnte sich gegen ihn,
jede Berührung ließ ihren Atem schneller gehen. Nach dem
Alarm lagen sie im Schlafzimmer auf dem breiten Bett.
„Man kann ruhig darüber sprechen“, pflegte sie zu sagen; das
war der Titel eines gängigen Buches. Anfangs empörte er sich
gegen ihre Sachlichkeit; aber als er sie einmal schamlos
nannte, lachte sie ihn rundweg aus. „Ich nehm dir die
Illusionen“, sagte sie. „Wozu sind Illusionen gut? Zu nichts! Du
wirst mir eines Tages dankbar sein.“ Dankbar? Das verstand er
nicht. „Die meisten Menschen“, erklärte sie, „sind in
Liebesdingen primitiv wie die Tiere.“ – „Tierisch“, meinte er, „ist
es, wenn das Herz nicht dabei ist, das Gefühl...“ Das nannte sie
„Schmus“. „Was soll das leere Gerede! Das Tier kann nicht
genießen, das ist der einzige Unterschied. Auch der Mensch
muß es erst lernen, die meisten lernen es nie, und besonders
ihr Männer seid unbeschreiblich egoistisch, ihr...“ – „Und
Liebe?“ fragte er hartnäckig. „Alles Gerede“, sagte sie. „Es gibt
keine Liebe, es gibt nur einen Lustgewinnungstrieb.“
Manchmal erschrak er vor ihr. „Liebe, Anbetung, Verehrung“,
sagte sie, „das ist alles ganz schön, aber es wird langweilig.
Eine Frau will nicht angebetet und geliebt, sie will unterworfen
sein und Lust gewinnen. Vielleicht weiß sie das anfangs nicht,
aber wenn der Mann etwas taugt, dann lernt sie’s sehr bald.
Merk dir das! Ein Mann darf die Frauen nicht „umschmeicheln
und viel bitten, er muß sie unterwerfen, eher mit Gewalt als mit
vielem Gerede. Liebe? Jede Frau wird ihren Mann betrügen,
wenn sie bloß geliebt und nicht auch befriedigt wird.“
„Wie soll man Achtung haben vor euch?“ fragte Holt.
„Achtung...“, sagte sie gedehnt, „wozu? Lies mal Weininger,
das Buch ist zwar verboten, aber lies es mal. Der hat die

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Frauen gekannt. Lies, was er schreibt. Dann vergeht dir die
Achtung von selbst.“
Holt fühlte sich gleichermaßen abgestoßen und angezogen
von ihren Worten, von ihrer zügellosen Sinnlichkeit. Manchmal
überwog die Abneigung, wie auch in diesem Augenblick. Aber
sie löschte die Entfremdung nach Belieben mit ihren
Zärtlichkeiten aus. Wenn er ihr wieder verfallen war, dann
brannte die Eifersucht in ihm.
Es war die frühe Morgenstunde, und er fragte böse: „Warum
hast du deinen Mann geheiratet?“
Sie schaute ihm, den Kopf in die Hand gestützt, überrascht ins
Gesicht. „Du haßt ihn, nicht wahr? Das ist seltsam. Du kennst
ihn doch gar nicht.“ Sie langte Zigaretten und Streichhölzer vom
Nachtschränkchen. Er folgte der Bewegung ihres nackten
Armes. Sie steckte ihm eine angerauchte Zigarette zwischen
die Lippen.
„Er ist tatsächlich der hassenswürdigste Mensch, den ich mir
vorstellen kann“, sagte sie.
Er mußte sie falsch verstanden haben. „Du meinst, er ist eine
so starke Persönlichkeit, daß man ihn entweder verehren oder
hassen...“ – „Unsinn! Er ist ganz einfach ein Schwein! Ein übler,
brutaler Kerl, der das Zeug zu einem Gewaltverbrecher hat.
Wenn ihn die Nazis nicht zu einem hohen Tier gemacht hätten,
wer weiß, was dann aus ihm geworden wäre.“
Ein Schwein, ein brutaler Kerl, die Nazis. Dieses Wort hatte er
überhaupt erst ein- oder zweimal gehört, es sollte vor
dreiunddreißig ein Schimpfwort gewesen sein. Wo bin ich hier
hineingeraten? dachte er. Aber er tat ganz ungerührt, sog an
der Zigarette und meinte dann: „Da versteh ich nur nicht, daß
du ihn geheiratet hast!“
„Jeder setzt einmal im Leben alles auf eine Karte“, entgegnete
sie. „Und man kann nur hoffen, daß es die richtige Karte war.“ –
„Und du hast alles auf einen Mann gesetzt, den du
verabscheust?“
„Ich hab natürlich nicht wissen können, daß er mal eine so
unbeschreiblich dreckige Arbeit macht“, sagte sie. „Außerdem
sah damals überhaupt noch manches ganz anders aus. Ich
sagte mir: er hat allerhand zu bieten, und da griff ich eben zu.“

179
„Wo du so... schön bist, da hattest du das doch gar nicht
nötig“, meinte er.
Sie lächelte. „Als Tänzerin war ich immer nur besserer
Provinzdurchschnitt. Da denkt man an später.“
Sie hat sich verkauft, dachte er, an diesen Mann! „Was ist das
für eine Arbeit?“
„Er sucht Kinder aus den KZs“, antwortete sie, „die will man
dann später mit Ariern kreuzen, wie die Tiere! Er hat überall die
Pfoten drin, wo die haarsträubendsten Dinge geschehen. Er
entscheidet, ob ein Kind ins Reich kommt oder ins Gas.“
Eine grauenhafte Beklemmung überkam Holt. Fernes, ganz
fernes Gemunkel verdichtete sich... „Rede nicht darüber“, hörte
er sie sagen. „Im Generalgouvernement bringen sie die Polen
und die Juden zu Hunderttausenden um, die SS macht das.
Ziesche nennt es ,Schwächung einer minderwertigen Rasse’.
Die Juden sind schon so gut wie ausgerottet.“
Minderwertige Rasse. Nordischer Herrenmensch. Jude und
Arier. So sieht das also aus, dachte er wie gelähmt. „Aber... das
ist alles ganz anders... mit den Rassen!“ sagte er. „Mein Vater
ist Professor. Einmal hab ich gehört, wie er jemandem erklärt
hat, die Rassentheorie ist Religion...“ – „Der Vergleich ist gut“,
meinte sie. „Die Römer haben die Christen umgebracht, die
Inquisition hat die Ketzer verbrannt, und jetzt vergasen wir die
Juden und die Polen. Davon hab ich natürlich nichts gewußt,
als ich Ziesche heiratete. Er war hier in der Nähe Kreisleiter und
hat dann Karriere gemacht. Das lockte mich. Ich will schließlich
auch zu denen gehören, die obenan sind.“ Sie sprach nur noch
leise. „Jetzt geht’s allerdings immer mehr bergab. Wer weiß, ob
der Zauber nicht eines Tages zusammenkracht.“

Kurz vor dem Morgenappell näherte er sich der Baracke auf


Schleichpfaden, wie es vereinbart war. Er hatte Gottesknecht
um Nachturlaub anstatt des Kurzurlaubs gebeten, und
Gottesknecht hatte erwidert: „So dumm werden Sie doch nicht
sein, daß Sie freiwillig auf den schönen Weihnachtsurlaub
verzichten!“ Und gedämpft: „Nehmen Sie Ausgang wie bisher.
Wenn Sie erst früh kommen wollen, dann geben Sie mir einen
Wink.“ So geschah es. Heute lief Holt dem Wachtmeister in die

180
Arme. „Ich muß Ihnen das nun doch verbieten“, meinte er. –
„Herr Wachtmeister, ich bin frisch und munter!“ – „So? Bis zum
Kugelbaum sind fünfundachtzig Meter, alles genau vermessen.
Da machen wir achtzigmal Häschen-hüpf. Und wenn Sie sich
nicht verzählen, dürfen Sie den Rückweg zur Belohnung auf
dem Bauch kriechen.“
Von Gottesknecht erfuhr Holt auch, daß sein
Weihnachtsurlaub bewilligt war. Er hatte die Absicht, mit zu
Wolzow zu fahren. Aber nun folgte er einer plötzlichen
Eingebung und ließ sich Papiere für eine Reise zu seinem Vater
ausstellen. Er hatte ihn etwa vier Jahre lang nicht gesehen.
Seiner Mutter schrieb er nichts davon. Auch meldete er seinen
Besuch nicht an.
Am 22. Dezember sollte er reisen. Wenige Tage vorher nahm
Schmiedling Wolzow und Holt nachts am Geschütz beiseite. „I
will Ihnen was sag i Ihnen, net wahr! Die was aus Hamburg
sein, die und die andern aus Berta, verstehen S’, da wolln die
Ihnen allezsamm nachts überfalln, in der Stuben!“
Am anderen Morgen, als Ziesche zum Schulunterricht in einer
anderen Baracke weilte, hielten sie Kriegsrat. „Der Günsche hat
wohl immer noch nicht genug!“ schimpfte Wolzow. „Ich hab das
Theater endgültig satt! Ich zieh eine schlagartige Aktion auf. Ich
hau ihnen die Bude kurz und klein.“ – „Wenn wir angreifen“,
meinte Gomulka, „setzen wir uns ins Unrecht.“ – „Quatsch!“
sagte Wolzow und langte nach der Gesäßtasche. Er blätterte in
seinem Taschenbuch. „Als die Schweden unter Gustav Adolf
1629 nach Deutschland zogen, da sprach Gustav Adolf vor
dem schwedischen Reichstag die historischen Worte: ,Meine
Meinung aber ist, daß ich zu unserer Sicherheit, Ehre und
endlichem Frieden nichts dienlicher befinde als einen kühnen
Angriff auf den Feind.’“
192
Sie trafen Vorbereitungen. Wolzow und Holt schwänzten den
Rest des Deutschunterrichts und schnitten Wolzows
Aktentasche zu Lederriemen, die sie an stabile Knüttel
nagelten. Wolzow rieb die Klopfpeitschen mit Lederfett ein, ehe
er sie in seinem Spind versteckte.

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Es schneite seit mehreren Tagen. Die schnellen
Kampfverbände, die nun jede Nacht nach Berlin flogen, waren
in den letzten Nächten schon über Holland abgedreht. Auch
diesen Abend sah es nicht nach Alarm aus, denn am
Nachmittag erhob sich ein Schneesturm.
Vetter und Rutscher machten mit. Rutscher waren im Revier
die Mandeln herausgenommen worden, worauf er kaum noch
stotterte. „Warum nicht gleich!“ hatte Wolzow gesagt. Nach dem
Stubendurchgang sprangen sie aus den Betten und zogen sich
wieder an. Der kleine Kirsch, der in Berta wohnte und für
Wolzow spionierte, meldete: „Sie sind schlafen gegangen!“ –
„Stahlhelme auf!“ befahl Wolzow. Ziesche sah entgeistert zu.
Wolzow erklärte: „Jetzt müssen deine Oberhelfer einen heiligen
Eid schwören, daß sie uns in Ruhe lassen, sonst demolier ich
ihnen die ganze Bude! Du bleibst im Bett!“ befahl er schroff.
„Kirsch, du bürgst mir dafür, daß der Ziesche nicht aus der
Stube geht!“
Sie schlichen im Bogen um Baracke Cäsar herum und
näherten sich dann Berta von Norden. Sie drangen durch den
Korridor in die große Stube. Wolzow schaltete Licht ein.
Rutscher und Vetter schoben sofort den Tisch vor die Tür, die
sich nach außen öffnen ließ.
Die Hamburger saßen erschrocken in den Betten, „’n Abend“,
sagte Wolzow. „Hab gehört, die Herren wollen uns überfallen,
mit Übermacht?“
„Mach, daß du rauskommst!“ rief jemand verschlafen
„Maul halten!“ brüllte Wolzow. „Ehrenwort, daß wir vor einem
nächtlichen Überfall sicher sind? Wird’s bald?“
Günsche glotzte von unten verdattert auf Wolzow, der
bedrohlich nahe stand, und sagte schwach: „Wir lassen uns
nicht erpressen!“
„Also schön, dann nicht!“ rief Wolzow mit wüster Stimme. „Die
beste Verteidigung ist der Angriff, sagt Schlieffen! Los, Männer!“
Und während Holt und die anderen mit den Peitschen auf die
überraschten Hamburger einhieben, nahm Wolzow das
zentnerschwere Aquarium – ein Schrei des Entsetzens wurde
laut –, hob es hoch und schmiß es nach Günsches Bett.
Günsche konnte gerade noch die Beine zur Seite reißen, dann

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knallte der große Glaskasten überschwappend gegen den
Pfosten und zerschellte, daß das Bett wankte. Fünfzig Liter
Wasser ergossen sich über Bettzeug und Boden, überall klirrten
Glasscherben, und dazwischen sprangen und zappelten die
Fische umher... Die Hamburger waren wie gelähmt. Holt hieb
Wilde die Peitsche dreimal über den Rücken, ehe der auch nur
eine abwehrende Handbewegung machte. Wolzow warf
rücksichtslos die Spinde um, dann knallte er die Blumentöpfe
an die Wand, die Tischlampe, Vasen und Aschenbecher
folgten, ein Bild segelte wie ein Diskus durch die Luft und
zersplitterte. Die anderen droschen erbittert mit den
Klopfpeitschen um sich.
Endlich hatten sich ein paar der Hamburger von ihrem
Schreck erholt und sprangen aus den Betten. Aber sie trugen
Nachthemden, die Peitschenhiebe fielen hageldicht, und sie
waren barfuß, und überall lagen Glasscherben umher.
Die Tür wurde aufgestoßen. Die Oberhelfer aus den anderen
Stuben, gleichfalls im Nachthemd, wollten herein, der Tisch
hinderte sie daran, und Vetter verteidigte mit Gomulka wie
verabredet den Eingang. Unterdessen vollendete Wolzow sein
Vernichtungswerk. Er zertrat den Holztisch, auf dem das
Aquarium gestanden hatte – „Da habt ihr was zum Heizen!“ –,
zerfetzte den Adventskalender und warf das Radio nach
seinem Feind Günsche, der verstört und von den ermattenden
Fischen umzappelt in seinem Bett saß und gerade noch die
Bettdecke zwischen sich und das Geschoß bringen konnte.
„Fertig!“ rief Wolzow. „Wünsche angenehme Nachtruhe!“ Die
Stube sah aus wie nach einem Bombenvolltreffer. Sie brachen
durch den Korridor, wo sich die Oberhelfer drängten, dann
liefen sie nach Dora zurück.
Am anderen Morgen herrschte eine nervöse, gereizte
Atmosphäre. Holt sah die Hamburger mit den anderen
Oberhelfern uneins. Vielleicht lassen sie uns nun endlich in
Ruhe, dachte er. Der Überfall war bestimmt nicht gemeldet
worden, denn es galt als ungeschriebenes Gesetz, die
Methoden der sogenannten Selbsterziehung nicht an
Vorgesetzte weiterzutragen.

183
Aber der Hauptmann wußte doch davon. „Mal herhörn“, schrie
er. „Fünf solche Banditen vom Geschütz Anton haben heut
nacht in Berta gehaust wie die Vandalen... Mit ‘m Aquarium
schmeißen, wo gibt’s denn so was!“ Und schon wieder unlustig,
im Begriff, sich abzuwenden: „Von den fünf wollen drei auf
Urlaub gehn... Ich wer denen was husten!“ Zwei Tage später
durften sie sich doch in der Schreibstube ihre Papiere holen.
„Zu Ihrem Vater fahren Sie?“ sagte Gottesknecht. „Dort bin ich
auch zu Hause.“

Holt, Wolzow und Gomulka stoppten in Essen einen LKW, der


sie nach Kassel mitnahm. Der Büssing kam im Schneesturm
auf verschneiten Straßen nur langsam voran. Von Kassel
brachte sie ein Zug nach Erfurt, wo sie abermals einen LKW
fanden. Die Autobahn war eisfrei. Der Wagen schlich mit
seinem Holzgasgenerator ermüdend langsam durch die
Winterlandschaft. Der Fahrtwind pfiff durch das Verdeck.
Wolzow saß vorn im Führerhaus. Gomulka, mit Holt unter der
zugigen Plane, sagte: „Das Leben ist auch ohne Kanone mal
ganz angenehm!“
Holt nickte, tief in Gedanken. Er fuhr zu einem Manne, den er
kaum noch kannte. Vier Jahre sind eine lange Zeit! Fern über
der Kindheit stand das Bild seines Vaters, seiner Mutter, und
heute noch fror ihn, wenn er ans Elternhaus zurückdachte.
Mutter: Du vergräbst dich in deinem Labor. Dazu brauchst du
keine Frau wie mich... so oder ähnlich, immerfort Streit...
Warum arbeitest du so viel, Vater? – Der Mensch hat eine
Aufgabe! Ein Mensch ohne Aufgabe vegetiert wie ein Tier.
Vegetiert wie ein Tier, schießt Hirsche, schießt mit der
Kanone, rauft sich mit Oberhelfern... Was ist meine Aufgabe?
dachte Holt. Es ist Krieg, Wir kämpfen für Deutschland. Von
Kindheit an stand es in allen Lesebüchern: Fürs Vaterland
sterben, Langemarck, Schlageter und so weiter.
Der Lastwagen hielt. „Hier wollte doch einer absteigen!“ Holt
verabschiedete sich. Er wanderte lange über eine Chaussee.
Ringsum lag Schnee, der Himmel hing grau und diesig herab.
Die Stadt war fremd, eine unzerstörte Großstadt, ungewohnt,
beengend, verwirrend. Die Adresse führte Holt in ein Gäßchen.

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Zu beiden Seiten ragten hohe Häuserzeilen auf. Wird
wunderbar brennen! dachte Holt. Ein schmutziges Haus, drei
Treppen, eine Wohnungstür... Holt dachte an die Villa in
Leverkusen, an Mutters Haus in Bamberg, modern, hell, von
Bäumen umstanden, die Südfront ganz aus Glas. Hier, in
diesem schmutzigen Loch, stand „Holt“ auf einem Pappschild,
kein Doktorgrad, kein Professorentitel. Er klingelte. Die
unfreundliche Wirtin gab ihm die Adresse eines städtischen
Amtes.
Dort sagte der Pförtner: „Holt? Ist noch oben. Der murkst
immer so lange rum. Gehn Sie mal hoch.“ Korridore,
Laboratorien, ein kleiner Raum, nur schwach erleuchtet. Ein
Mann am Mikroskop.
Das also war Vater! Das Haar auf dem mächtigen Schädel
war schlohweiß geworden. Der alte Holt richtete sich auf und
rieb sich lange die Augen. Dann erkannte er seinen Sohn.
„Werner! Tatsächlich Werner!“ rief er überrascht.
Holt stand steif in der Tür. Er war enttäuscht, er wußte nicht,
warum. Die Enge des bescheidenen Arbeitsraumes bedrückte
ihn, das trübe Licht der Lampe auf dem Tisch, der abgetragene
Anzug seines Vaters... Wieder fielen ihm die Redensarten
seiner Mutter ein: Ein Sonderling... er hat nichts als seine Arbeit
im Sinn... „Ich dachte, du freust dich“, sagte Holt, „wenn ich
nach so langer Zeit... Aber laß dich nicht stören.“ Professor Holt
räumte seine Sachen zusammen. „Ich freue mich sehr. Du
störst nicht, nein. Ich probiere hier nur nach der Arbeit ein paar
Färbetechniken aus, früher war ja nie Zeit dazu.“ Es stimmt,
dachte Holt, noch tiefer enttäuscht, er hat nichts als seine Arbeit
im Sinn... Bewegungslos, an die Tür gelehnt, sah er seinen
Vater Flaschen, Reagenzgläser und Kolben im Schrank
verschließen und das Mikroskop sorgfältig in den polierten
Holzkasten schieben. „So, mein Junge, wir können gehen!“
Die Straßen waren finster. Ein paar Autos huschten mit
verdunkelten Lichtem über den schneenassen Asphalt. Holt
ging stumm neben dem Professor her, der ihn an Größe
überragte. Ich soll erzählen? Ihn interessiert ja nichts. Er ist ein
Menschenfeind, ganz weltfremd... Er erzählte widerwillig und
flüchtig.

185
In dem kleinen, ärmlich möblierten Zimmer war der Tisch vors
Fenster gerückt und mit Papieren bedeckt, mit Büchern und
Tabellen. Auf dem Korridor schalt die Wirtin laut über unnützen
Aufwand, unverhoffte Besuche und zusätzliche Arbeit vor den
Weihnachtsfeiertagen. Und wieder war es die düstere
Atmosphäre des Zimmers, dieser fremden und armseligen Welt,
die Holt bedrückte und ihn mit einem fast feindseligen Interesse
auf seinen Vater sehen ließ, der bedächtig eine kurze Pfeife
stopfte: ein fremder und alter Mann, ein Mann von Charakter,
der solches auf sich nimmt, in diesem Loch zu hausen,
abgerissen, gescholten von einer schlampigen Wirtin, während
Mutter in der Bamberger Villa residiert... ein Mann von
Charakter oder ein starrsinniger Sonderling, weltfremd,
menschenfeindlich? Was redet er da?... Nach vier Jahren den
Weg gefunden, zu ihm, und wie es so gehe...?
„Von mir“, sagte er, „hab ich dir das Wichtigste schon erzählt.
Und du, Vater, wie ist es dir in den letzten Jahren ergangen?“
Interessiert es mich wirklich? fragte er sich. Oder rede ich das
nur so hin? Ist er nicht von allen Fremden der Fremdeste? Aber
dann wurde doch etwas wie Neugier wach, nun endlich die
Hintergründe dieses Schicksals zu erfahren.
„Du siehst“, sagte der Professor, die kurze Pfeife zwischen
den Zähnen, „ich lebe, ich arbeite. Wozu früher keine Zeit war,
das wird jetzt gründlich, in Ruhe getan.“ – „Gut, gut“, sagte Holt
schnell, „deine Arbeit... Ich versteh nichts davon. Aber sonst,
ich meine...“ Er sagte nun geradeheraus: „Du lebst hier ziemlich
ärmlich. Wenn ich an früher denke... Ich hab eine Menge
Fragen. Man ist schließlich älter geworden. Warum ist
eigentlich...“
Er schwieg. Rühr nicht dran, sprach es in ihm.
„Warum“, fragte er, „ist eigentlich deine Ehe
auseinandergegangen?“
Der Professor sah ein wenig überrascht auf. Er sog an der
Pfeife. Die Tischlampe beleuchtete sein Gesicht und füllte die
starken Falten, die von den Nasenflügeln über die Mundwinkel
liefen, mit Schatten. „Deine Mutter“, begann er bedächtig,
„erscheint mir bis heute, in ihrer Art, als eine liebenswerte Frau,
zweifellos... Aber gerade deshalb paßte sie nicht zu mir.“ –

186
„Gut, gut“, sagte Holt wieder. „Aber der Anlaß! Als du
weggingst, war doch ein Anlaß! Warum hast du damals deine
Stellung in Leverkusen aufgegeben?“ Und wieder dachte er:
Frag nicht, rühr nicht dran!
„Die Arbeit paßte mir nicht“, entgegnete der Professor. Es
klang, als weiche er einer genaueren Antwort aus.
„Ich bitte dich“, sagte Holt, „du bist aus Hamburg
weggegangen, um in der Industrie großzügiger arbeiten zu
können, war es nicht so? Und auf einmal paßte dir die Arbeit
nicht mehr?“
„Nein. Auf einmal paßte sie mir nicht mehr“, erwiderte der
Professor, den Blick nun nachdenklich und abwägend auf
seinen Sohn gerichtet. „Aber hier“, rief Holt herausfordernd, „in
so einem Loch, als kleiner Chemiker, da paßt sie dir?“ – „Ja. Da
paßt sie mir“, sagte der Professor.
Sein Gesicht tauchte in die Dämmerung des Zimmers. Der zur
Seite gedrehte Kopf verdeckte die Lampe. Das weiße Haar,
vom Licht durchschienen, leuchtete silbern auf. Wie gebannt
sah Holt auf seinen Vater, der unbeweglich ins Dunkel blickte,
den Kopf geneigt, in Nachdenken versunken.
„Ich habe“, sagte der Professor langsam, „in der zweiten
Hälfte meines Lebens eine Menge Illusionen zu Grabe
getragen. Du bist älter geworden... gut. Zu diesen Illusionen
gehörte der Glaube, jenseits des Zeitgetriebes in Ruhe und
zum Nutzen meiner Mitmenschen arbeiten zu können, dazu
gehörte unter anderem meine Ehe, dazu gehörte ferner der
Wunsch, einen... Sohn zu haben und ihn einmal nach meinem
Bilde zu formen... Ein Mensch ohne Illusionen aber kann
warten. Und zum Warten ist dieses Zimmer hier... ist meine
derzeitige Arbeit gerade recht.“
Holt versuchte vergebens, den Blick von seinem Vater zu
lösen; er versuchte, den Eindruck fortzuwischen, aber der Ernst
dieser unverständlichen Rede spann ihn unvermittelt in
Erinnerung ein, und eine sehr weit zurückliegende Zeit wurde
lebendig, die früheste Kindheit. Damals, ehe die Entfremdung
begann, ehe die aushöhlenden Redensarten der Mutter
einsetzten, war der Vater Inbegriff aller Tugend gewesen,
allwissend, allmächtig, gütig und weise, Freund und Lehrer.

187
Damals. Langsam schmolz das Eis. „Vater“, sagte Holt, und
nun war doch eine Spur unbewußter Wärme in seinen Worten,
„du sagtest einmal zu mir... es ist sehr lange her: Der Mensch
muß eine Aufgabe haben, sonst lebt er wie ein Tier... Du hattest
doch deine Aufgabe in Leverkusen. Sag mir die Wahrheit:
Warum hast du sie hingeworfen?“
Der alte Holt rückte zur Seite und drehte den Stuhl ins
Zimmer; das war wie eine Geste, und nun saßen Vater und
Sohn dicht beisammen, im Licht der Lampe. „Eine Aufgabe“,
wiederholte er. „Ja. So habe ich gesagt. Aber es gibt etwas, das
darüber steht. Gewissen, Verantwortung, Treue zu sich selbst...
Das mögen manchem... das mögen vor allem heute nur leere
Begriffe sein. Aber es sind keine leeren Begriffe. Ich habe den
Eid des Arztes nicht brechen können, und es wurde von mir
verlangt. Ich habe nach den Auffassungen meiner Kollegen und
Mitarbeiter... und auch deiner Mutter!... nicht nur leichtfertig
meine Existenz zerstört, sondern angeblich auch ehrlos und
verräterisch gehandelt. Aber ich werde dafür ein reines
Gewissen haben, wenn das erst alles vorbei ist.“
„Wenn... was alles vorbei ist?“ fragte Holt. Der Professor sah
auf, mit einem Blick, der Holt gefrieren ließ.
„Das sogenannte ,Dritte Reich’ „, erwiderte er.
Ein tausendmal eingehämmerter Gedanke spülte über Holt
hinweg: Verrat... Zersetzung... Aber dieser Gedanke blieb nicht
haften und verrann, und an seine Stelle trat wieder Angst. „Du
meinst...“ Er verstummte und hörte seinen Vater reden,
nüchtern und sachlich, aber wie aus großer Entfernung: „Du
trägst eine Uniform, du trägst an der Armbinde dieses...
Hakenkreuz, du bist zu mir gekommen, du hast mich
aufgefordert, die Wahrheit zu sagen. Unter diesem Zeichen,
das du am Arm trägst, haben die Nationalsozialisten den
größten Raub- und Eroberungskrieg der Weltgeschichte
vorbereitet und entfesselt, und nun verlieren sie ihn, eindeutig
und gründlich. Ich habe bei der I.G.Farben damals an
bestimmten Entwicklungen mitarbeiten sollen, die im Endeffekt
der Menschenvernichtung dienen, ich habe das abgelehnt. Ich
habe es darüber hinaus als verbrecherisch bezeichnet, die
Giftwirkung verschiedener chemischer Verbindungen, die zur

188
Insektenbekämpfung geeignet waren, im Tierversuch an
Großsäugern zu erproben, weil ich sah, wohin diese
großangelegten Versuche führen sollten, und ich habe recht
behalten: heute tötet die SS in den Konzentrationslagern mit
einer von der I.G. hergestellten Kombination von Blausäure und
Chlorkohlensäuremethylester Hunderttausende von
Menschen...“
Holt machte eine Handbewegung, die nichts als Hilflosigkeit
ausdrückte, Hilflosigkeit und Angst. Der Professor mochte
verstanden haben. Er schwieg. Die Tischlampe brannte trüb
und warf riesige Schatten an die getünchten Wände. Holt
kämpfte sekundenlang mit der Angst, und er zwang sie hinab,
aber damit erlosch auch der Funken Wärme in seiner Seele.
Die Fremdheit kehrte zurück, die Entfremdung breitete sich
wieder zwischen ihnen aus wie ein Hauch von Kälte. Er fror. Er
sah seinen Vater im trüben Lampenschein, und es war nun auf
einmal wieder ein fremder, alter Mann, ein Menschenfeind...
Wirft mir seine Wahrheit hin wie einem Hund den Knochen,
dachte er, stößt mich hin und läßt mich liegen...
Eins wurde ihm nun klar: er mußte schnell fort von hier... Der
alte Mann, dachte er... Saugt an seiner Pfeife, sieht vor sich
hin... Hier fror das Herz zu einem Klumpen Eis! Was will ich
hier? dachte er, was trieb mich hierher, und warum mußte ich
fragen?
Fort! Wohin? Zu Gertie, dachte er. Er atmete auf. Bei ihr... ist
Wärme, Geborgenheit, Trost...
„Wenigstens haben wir uns mal wiedergesehen“, sagte er.
Diese Worte brachte er unbefangen heraus. „Leider...“, es klang
bedauernd, „muß ich morgen früh schon wieder fort. Bei der
gespannten Luftlage...“ Der Professor verstand. Nun war es an
ihm, hilflos die Hand zu bewegen, und diese Hand fiel kraftlos
auf die Tischplatte zurück. „Dann wollen wir schlafen gehen.
Hoffentlich kommt kein Alarm.“

Der Morgen erwachte mit klirrendem Frost. Der Professor ging


groß und aufrecht in sein Laboratorium. Holt sah ihm nach.
Fremdheit, Enttäuschung und Angst... Das schlug nun um in

189
Erbitterung. Geh nur, dachte er böse. Geh! Ich brauch dich
nicht, ich will dich nicht, dich und deine... Wahrheit!
Dann lief er zum Bahnhof.
Ein Schnellzug für Fronturlauber trug ihn nach Westen. Die
Abteile waren mit Soldaten aller Waffengattungen vollgestopft.
Bartstoppelige Gesichter, vom Schlaf entspannt, vom Wachsein
entstellt. Heute war Heiliger Abend.
Magdeburg. Halt! Nicht weiter nach Norden! Er erreichte
Hannover, dann saß er fest, es war auch kein Wagen zu finden,
der weiterfuhr. Planlos lief er durch die Straßen. Es dämmerte.
Er setzte sich in den Bahnhofswartesaal. Es wurde Abend.
Radiolärm, eine Ansprache, nicht hinhören. Und dann: Stille
Nacht, heilige Nacht... Weihnachtsabend. Deutsche Dome
läuten die Weihnacht ein. Holt vergrub den Kopf in den Armen.

Am anderen Morgen langte er in Gelsenkirchen an, fuhr mit


der Straßenbahn nach Essen und telefonierte. Frau Ziesche
war überrascht. Er fragte: „Darf ich kommen?“ – „Nein“, sagte
sie. „Günter Ziesche kommt nachher auf Tagurlaub.“ Er flehte:
„Ich hab... alle Brücken hinter mir abgebrochen, du darfst mich
jetzt nicht allein lassen.“ Er hörte sie sagen: „Warte!“ Es dauerte
lange. „Also fahr nach Borken, das liegt hinter Wesel, irgendwie
wirst du schon hinkommen. Dann läufst du bis zur
Chausseegabelung und nach rechts ins nächste Dorf, es sind
nur ein paar Kilometer, das Gasthaus heißt ,Zur Quelle’. Dort
treffen wir uns. Soll Ziesche sich kümmern. Ich laß mich von
einem Bekannten mit dem Wagen hinfahren.“ Er war glücklich.
„Bis nachher“, sagte sie. „Ich freu mich auch.“
Er gelangte erst nachmittags ans Ziel. Er fand einen
freundlichen Dorfgasthof. Sie saß in einer Ecke, unauffällig und
mädchenhaft. Er faßte ihre Hände. Langsam wendete sie die
Hand, über die er den Kopf beugte, und verschloß mit der
warmen Innenfläche seinen Mund.
Sie liefen durch das flache, tiefverschneite Land. Die Ebene
dehnte sich weit in der Dämmerung, eine eigenartige
Niederungslandschaft. Auf Wiesen, Erlen und Weidengehölz,
Moor und Bruch fielen langsam die Schneeflocken. Die Grenze
nach Holland konnte nicht fern sein. Es fror. Gegen Abend

190
endete das Schneetreiben. In der Dämmerung summte es über
ihren Köpfen. Sehr fern schoß Flak. Das war außerhalb ihres
Lebens. Hier gab es keinen Alarm. Zwei volle, lange Tage lagen
vor ihnen. Sie stapften durch knirschenden Schnee.
„Sieh dir die Winterlandschaft an“, sagte sie. „Ist es nicht
schön hier?“ Auch das war neu an ihr. Später erzählte er von
seinem Vater. „Ein bißchen sehr pessimistisch“, sagte sie.
„Aber im Prinzip hat er schon recht.“ Sie redete von Ohnmacht
und Schicksal, man sei nur eine Figur im großen Spiel. Das
paßte zu seiner gedrückten Stimmung. „Vergiß das alles“,
forderte sie. Auch Uta hatte gesagt: Vergiß das alles. „Ich kann
das nicht vergessen!“ – „Doch. Warte nur! Wenn du zur Batterie
zurückgehst, hast du alles vergessen.“
In der leeren Gaststube brannten ein paar Kerzen am
Weihnachtsbaum. Der Ofen spuckte wohlige Wärme. Der
Gasthof war mit Bombengeschädigten belegt, aber für Frau
Ziesche gab es jederzeit ein Zimmer. Vor Jahren habe man hier
auf Betriebsausflügen gerastet, erzählte sie.
Sie saßen nach dem Essen am warmen Kachelofen, dicht
beieinander. Im Radio ertönte wieder: „Stille Nacht, heilige
Nacht...“, aber mit einem veränderten Text: „... Balder, das
Urlicht, ist da...“ Holt hörte nichts, er war nun, da draußen
dunkel und drohend die Nacht stand, wieder hilflos der
Erinnerung ausgeliefert, der Erinnerung an den weißhaarigen
Mann und seine Worte... Sie gingen bald auf ihr Zimmer. Holt
floh zu ihr, sie mochte ahnen, was in ihm vorging, und überließ
sich ihm still und willenlos. Aber er lag noch lange wach und
kämpfte gegen die Angst an, die nur langsam schwächer
wurde. Es darf mich nicht umwerfen, sagte er sich. Ich hab es
damals verwunden, bei Uta, ich hab auch Gerties... Gerede
unterbekommen, es darf mich nicht umwerfen! Es häuft sich an,
dachte er, es ist... wie eine Belastungsprobe, als wolle das
Schicksal mich prüfen. Schicksal, dachte er.
Der Morgen war von weißem, eiskaltem Nebel verhüllt, aber
der Nordost trieb die Schwaden auseinander. Am frostklaren
Himmel strahlte die Wintersonne und warf hinter jeden
Weidenbusch blaue Schatten. Stundenlang wanderten sie
durch die verschneite Ebene. Er ging neben ihr her, aber er war

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ihr fern und hing seinen Gedanken nach. Schicksal, dachte er
wieder, das ist jenes Große, Dunkle, Unbekannte, dem wir
Menschen ausgeliefert sind... Sie erzählte aus ihrem Leben. Als
Kind habe sie tanzen gelernt, als Sechzehnjährige sei sie mit
einem Ballett durch Europa gereist, durch Frankreich, England,
Rußland... Er horchte auf. „In Rußland warst du?“ Das Land sei
uferlos wie der Himmel, der sich darüber wölbte, hörte er sie
sagen, man ertrinke in Weite, in Grenzenlosigkeit... „Lies
Dostojewskij“, sagte sie. Sein Blick suchte den Horizont, wo
sich das Schneegeflimmer übergangslos mit dem Blau des
Himmels vermischte. Weite, Grenzenlosigkeit, dachte er, ist
denn nicht auch unser Leben wie ein endloser, zielloser Weg,
über dem die Vorsehung unser Schicksal wie ein Gewitter
zusammenbraut? „Lies, was Rilke über die russische Seele
schreibt“, hörte er. Jetzt erst riß das Gespinst seiner Gedanken
auseinander.
Er blieb stehen. „Ich denke, es sind alles Untermenschen?“
fragte er, und er wunderte sich nicht einmal über den neuen
Widerspruch. Sie sagte: „Irgendeinen Vorwand muß man ja
haben, um sie umzubringen.“
Seltsam: es traf ihn nun nicht mehr... Das Leben geht weiter,
dachte er, als er in die Batterie zurückkehrte, es kümmert sich
nicht um uns, um unsere Enttäuschungen, unsere Ängste, es
steht hoch und unbeeinflußbar über uns und zwingt uns auf den
vorgezeichneten Weg, und wir müssen ihn gehen.

Der Winter brachte abwechselnd Schnee und Kälte und


immer wieder wärmere Tage. Im Januar aber begann eine
Periode grimmigen Frostes. Das Quecksilber zeigte des Nachts
zweiundzwanzig, auch sechsundzwanzig Grad unter Null.
Ungeachtet des harten Winters flogen die britischen
Bomberverbände Nacht für Nacht über die Grenzen.
Die Jungen hockten steif vor Frost am Geschütz. „Der fünfte
Kriegswinter!“ Gomulka erzählte: „Daheim gibt’s nichts zu
heizen, und das Essen wird immer erbärmlicher.“ Vetter sagte;
192
„Die da oben, die müssen sich doch den Arsch abfrieren!“ –
„Keine Spur!“ erklärte Wolzow. „Die haben’s schön warm. Die
Viermotorigen sind hermetisch geschlossen, die Piloten in den
elektrisch beheizten Kombinationen werden ordentlich
schwitzen!“
„Hör auf!“ rief Holt. „Schwitzen... So ein Quatsch!“ Er zog die
Wolldecke fester um seine Beine, aber die Kälte stieg im Körper
hoch und ließ die Glieder wie im Schüttelfrost zittern. Vetter
schwätzte: „In einer abgeschossenen Stirling haben sie
Schokolade gefunden und prima Zigaretten! Und Bohnenkaffee
kochen sie sich auch!“ Ziesche schnitt ihm das Wort ab: „Hör
auf! Das grenzt an Zersetzung!“ Vetter rief entrüstet: „Ich und
Zersetzung! Du bist ein Rindvieh!“ – „Still! Luftlage!“ Sie
verstummten und bereiteten sich aufs Schießen vor.
In diesen Frostnächten kam Kutschera immer erst unmittelbar
vor dem Gefecht auf die B 2 und verschwand wieder, so schnell
er konnte. „Wenn was Besonderes los ist, rufen Sie mich“,
sagte er zu Gottesknecht. Dann schnüffelte er noch eine Weile
zwischen den Geräten herum, jagte ein paar Luftwaffenhelfer
grundlos über den gefrorenen Acker, meinte endlich: „Ach, leckt
mich alle...“ und zog ab. In seine Baracke hatte er sich von der
Befehlsstelle eine Feldtelefonleitung legen lassen.
Solange es ruhig blieb, ging Gottesknecht, eine ganz und gar
unmilitärische Pelzmütze auf dem Kopf, von Geschütz zu
Geschütz und verteilte Wybert-Pastillen. „Nehmen Sie, Holt,
das ist gut gegen Husten und Heiserkeit, jedenfalls steht’s so
auf der Schachtel!“ Eines Nachts, während die Jungen langsam
zu Eis gefroren, braute Wolzow im Mannschaftsbunker Grog.
Schmiedling rief: „Dös gibt’s fei net! Ohne meine da müssen S’
mich erst amol um Bewülligung gibt’s dös fei net!“ Den
Brennspiritus hatte Wolzow vom Waffenmeister; wer ihm den
Arrak besorgt hatte, verriet er nicht. Sie schlürften das starke
Getränk aus Kochgeschirrdeckeln und luden auch Gottesknecht
dazu ein. Er gab Wolzow Sehr gut. Dann stieg der Alkohol den
Jungen derartig zu Kopf, daß die Richtkanoniere beim
Schießen falsche Richtwerte einstellten; während die Bomber
im Norden vorbeizogen, feuerte Anton nach Süden. Am Morgen
zeigte es sich, daß man überdies sämtliche Nahfeuerpatronen

193
verschossen hatte. Das ließ sich nicht verheimlichen.
Gottesknecht änderte Wolzows Sehr gut in Nicht genügend.
Am 11. Januar beging Holt seinen siebzehnten Geburtstag.
Die Hamburger Verwandten schickten ein Zigarettenpäckchen,
die Mutter eine Karte mit flüchtig hingeworfenen Zeilen;
„Herzlichen Glückwunsch zum neuen Lebensjahr“. Holt schnob
verächtlich durch die Nase. „Das ist typisch“, sagte er zu
Gomulka. „Anderthalb Zeilen!“ Er brannte sich eine Zigarette
an, „Delhi“ hieß die Sorte, und betrachtete nachdenklich die
grüne Schachtel. „Tja, Sepp... Die sogenannten Blutsbande
sind eigentlich recht dünn. Da gibt’s fremde Menschen, die
einem viel näherstehen!“
Das Zigarettenpäckchen war schon am Zehnten in Holts
Hände gelangt. Pünktlich am Elften brachte die Post ein
winziges Päckchen von Uta. Das überraschte Holt. Er konnte
sich nicht erinnern, ihr jemals sein Geburtsdatum genannt zu
haben. Aus der Verpackung löste sich ein kleines, in Seide
gebundenes Büchlein, Gedichte von Friedrich Hölderlin. Er
überflog den beiliegenden Brief. Ihre Freundin Helga Wiese, so
schrieb sie, habe diese Gabe „dürftig“ genannt, denn ein
Rollschinken, gut geräuchert, finde bei den Kriegern weit mehr
Sympathie als ein Bändchen Gedichte. Aber sie kenne ihn als
eine poetische Natur, die geistige Genüsse vorziehe. Holt
lachte. Aber er verstummte beschämt, als er weiterlas. Einiges
aus diesem Buche gehöre zu ihren Lieblingsgedichten. Auch
sei das Bändchen nicht ganz ohne Egoismus ausgewählt.
„Vielleicht denkst Du bei manchem Vers an mich.“ Er blätterte
wahllos in den Seiten. „Ist nicht heilig mein Herz, schöneren
Lebens voll, seit ich liebe?“
Gomulka saß dabei und beobachtete Holt unverwandt. Dann
stand er auf und ging aus der Stube. Eine Welle eisiger Kälte
fuhr hinter ihm zur Tür herein. Holt fröstelte.
Aber am späten Nachmittag, als Frau Ziesche anrief,
gratulierte und fragte, ob es dabei bliebe, sie gedenke es ihm
riesig gemütlich zu machen, da lief er doch zur Schreibstube.
Gottesknecht gab ihm die Erlaubnis, am Abend in die Stadt zu
gehen. Doch kaum war die Dunkelheit hereingebrochen,

194
klingelte die Alarmglocke, und Holt saß bis zum Morgen am
Geschütz.
Wieder einmal suchten die Bomber Ausweichziele. Etwa
hundert Viermotorige schütteten ihre Last über Bottrop aus, und
dann fielen auch auf das nördliche Essen Bomben, vorwiegend
Luftminen und Brandbomben, und das Rot des Feuers schlug
zum frostblauen Nachthimmel empor. Wolzow kletterte auf die
Erdumwallung des Geschützstandes und starrte in das
brennende Häusermeer. „Verdammt, dort beklagt sich jetzt
keiner mehr, daß ihm zu kalt ist!“ Man lachte, ein grimmiges,
kurzes Lachen. Einer der Flakwehrmänner hielt in der Arbeit
inne. „Rotzjunge! Deine Leute sind ja nicht drin in den
Flammen!“
Wolzow sprang in den Geschützstand, aber Holt faßte ihn am
Arm. „Gilbert, gib Ruhe!“
Drei Tage später hatte Frau Ziesche Geburtstag. Zu seinem
Kummer fand Holt die Wohnung voller Schauspieler und
Ballettmädchen. Er war verärgert. Frau Ziesche setzte sich für
zehn Minuten zu ihm und redete beruhigend auf ihn ein. „Ich
kann’s nicht ändern. Rausschmeißen geht nicht. Laß nur, ich
finde schon eine Möglichkeit, daß wir wieder ein paar Tage für
uns haben.“ Er trank vor Ärger viel französischen Rotwein, von
dem Frau Ziesche einen unerschöpflichen Vorrat zu besitzen
schien, auch holte er sie absichtlich nicht zum Tanz und tobte
mit den beschwipsten Choristinnen herum, lustlos und immer
mehr mit sich uneins. Er fühlte sich fremd zwischen diesen
Menschen, und auch Frau Ziesche war fern und fremd.
Unvermittelt brach er auf. Er verabschiedete sich flüchtig. Sie
flüsterte ihm ungehalten zu: „Warte doch! Bei Voralarm werf ich
alle raus!“ – „Ich muß in die Stellung“, sagte er trotzig. Sie sah
ihm mit hochgezogenen Brauen nach. Voller Genugtuung
glaubte er, sie gekränkt zu haben.
Auf dem dunklen Korridor überraschte er einen
schnurrbärtigen Mann, der sich mit einem Chormädchen
herumdrückte. Holt zog sich den Mantel an. Der Schnurrbärtige
sagte weinselig: „Schon gehen, Kamerad?“ – „Ich bin nicht Ihr
Kamerad“, sagte Holt verächtlich. Der andere, in Zivil, sang:
„Heute rot... morgen tot... Unser ,Großdeutschland’... Sie haben

195
ihn doch auch gekannt, den Panzergrenadier... gefallen!“ Holt
warf die Vorsaaltür hinter sich ins Schloß. Fast zwei Wochen
lang hörte er nichts von Frau Ziesche, dann rief er doch wieder
bei ihr an.

Die Frostperiode dauerte bis Ende Februar. Die Feuerung


wurde knapp, und sie froren auch in den Baracken. Wolzow riß
in der Laubenkolonie heimlich ein Dach ab und stopfte Bretter
und Teerpappe in den Ofen. „Diese Banditen!“ schrie der
Hauptmann, bei dem man sich beschwerte. „Verheizen die
Lauben, wo Ausgebombte drin wohnen! Natürlich der Wolzow!
Ich sperr Sie beim nächsten Dachschaden ein!“ Aber diese
Drohung nahm keiner mehr ernst, dann zwischen Kutschera
und Wolzow herrschte seit langem das beste Einvernehmen.
Ende Februar verwandelte beginnendes Tauwetter die
Batteriestellung in einen grundlosen Morast. Dann folgten
sonnige, frühlingshafte Tage. Nun saßen die Jungen Tag und
Nacht am Geschütz. Die Briten flogen des Nachts ihre
Flächenangriffe gegen die Großstädte, und am Tage zogen die
amerikanischen Bomber zu Hunderten über den blauen
Himmel. Von Jagdgeschwadern begleitet, flogen sie ihre
Angriffe auf Städte, Industriewerke und Verkehrsknotenpunkte.
Im Jahre dreiundvierzig hatten die Nachtangriffe überwogen.
Das änderte sich nun.
Die Batterie hatte viermal am Tag Gefechtsschaltung, und
immer wieder war das Ruhrgebiet selbst Angriffsziel. Der
Munitionsverbrauch stieg, das Patronenschleppen verdrängte
mehr und mehr den Schulunterricht. Am Tag zogen sich die
Luftkämpfe von der holländischen Grenze bis weit nach Osten
hin. Täglich stürzten Maschinen ab, Viermotorige, Mustangs,
Focke-Wulf-, Messerschmittjäger. Aber die Bomber zogen
unbeirrt ihre Bahn.
Holt lag auf seinem Bett, die Brust schmerzte, sie waren am
Vormittag wieder geimpft worden, gegen Typhus oder
Diphtherie, niemand wußte es genau. Wolzow las. Vetter spielte
Skat, mit Kirsch und Zemtzki.
„Da sind wieder sieben Maschinen runtergekommen“, piepste
Zemtzki, „mit der Zeit müssen die das doch merken!“ Er hörte

196
die Meldungen der Untergruppe. Manchmal stürzten im
Abschnitt zehn, auch zwölf Maschinen an einem Tage ab.
Gomulka sagte sachlich: „Unsere Abwehr vernichtet etwa fünf
vom Hundert der eingeflogenen Feindmaschinen, das ist
praktisch bedeutungslos.“ Ziesche rief von seinem Bett her:
„Der Gomulka mit seiner jüdischen Zahlenakrobatik will wieder
mal Wehrkraftzersetzung treiben!“ Vetter drohte: „Paß auf,
wenn wir mal deine Wehrkraft zersetzen, mit ‘m Knüppel!“ Die
Alarmglocke trieb sie aus der Stube. Am Geschütz, als er sich
den Stahlhelm auf den Kopf stülpte, überlegte Holt: Wo hat
Sepp diese Zahl her? Wolzow erzählte von den Fronten. „Ihr
könnt euch nicht vorstellen, was im Osten los ist! Ich hab ein
paar Kommentare gelesen, im Wehrmachtsbericht steht ja
nichts drin. Zwischen Süd- und Mittelabschnitt haben die
Russen einen dreihundert Kilometer breiten Keil getrieben!
Schitomir ist hin, Kirowgrad ist hin, Kriwoi Rog ist hin.“ – „Aber
der Führer“, rief Ziesche, wie immer über Wolzows Sachlichkeit
erbittert, „hat am 9. November ausdrücklich gesagt: ,Was ist
das schon, wenn wir, durch die Kriegsnotwendigkeit
gezwungen, einmal einige hundert Kilometer aufgeben
müssen...’“ – „Durch Kriegsnotwendigkeiten? Durch die Russen
gezwungen“, sagte Wolzow, „immer noch durch die Russen!...
Ach, halt ‘s Maul“, fuhr er Ziesche an, „einem Eierkopf wie dir
muß das der Führer ‘n bißchen sanfter beibringen. Die
militärische Wahrheit ist nur für Männer wie mich.“
Er hatte sich Landkarten aller Kriegsschauplätze besorgt,
stand nun fast täglich, über die Karte gebeugt, am Tisch und
verfolgte den Frontverlauf. Ziesche beobachtete es mit dem
ewig gleichen mißtrauischen Gesicht.

Die Oberhelfer vom Jahrgang sechsundzwanzig aus Hamburg


und den umliegenden Ruhrstädten standen vor der Einberufung
zum Arbeitsdienst. Schon Mitte Februar hatte sich Unteroffizier
Engel mit drei Obergefreiten auf den Weg gemacht, um
irgendwo im Osten Ersatz auszubilden, Schüler vom Jahrgang
1928.
Seit Wolzows „schlagartiger Aktion“ war die Fehde zwischen
Wolzow und den Hamburgern erloschen. Aber nun warnte der

197
treue Schmiedling: „Eh die aus Hamburg, net wahr, dös is
sicher, weil die bevor sie zum RAD gehn, da wolln s’ Ihnen
noch a Abreibung verpassen!“ Wolzow spottete nur.
Am 15. März sollten die Oberhelfer entlassen werden. Am 20.
wurde der Ersatz erwartet. Am 12. März zog die Untergruppe
die 107. Batterie für eine Woche aus dem Einsatz. Vier
Geschütze mußten überholt werden, darunter auch Anton. Sie
rissen den Geschützstand auf, und eine schwere Zugmaschine
zog die Kanone über den Acker. Wolzow, Holt und Vetter
fuhren mit in die Werkstatt. Vetter war in dem halben Jahr
wesentlich schlanker geworden. An den Jungen zehrte die
Schlaflosigkeit.
In der Waffenwerkstatt entdeckte Wolzow sogleich eine
Kanone. „Kommt her! Die 8,8/41... Mit Erdzieleinrichtung!“ Er
erklärte Holt und Vetter die Richtoptik. Ein Flaksoldat, zu
dessen Batterie die Kanone gehörte, unterstützte ihn. Wer
weiß, wozu ‘s gut ist, dachte Holt...
Während der folgenden Tage, da die Batterie nicht feuerbereit
war, wollten die Luftwaffenhelfer einmal ausgiebig schlafen.
Aber Kutschera erinnerte sich plötzlich daran, daß die Disziplin
nachgelassen habe, und verfügte Fußdienst. Am Abend heizten
sie den Ofen, daß er glühte, und fielen nach dem
Stubendurchgang todmüde in die Betten.
Da stürzte Zemtzki ins Zimmer: „Die Hamburger kommen!
Noch andere! Dreißig Mann!“ – „Dreck, verdammter“, rief
Wolzow, „los, Männer, raus!“ Er übernahm das Kommando und
packte erst einmal Ziesche. „Wenn du nicht Neutralität
schwörst, sperr ich dich in meinen Spind!“ Widerstrebend gab
Ziesche sein Ehrenwort, zog sich aber auch an.
Wolzow organisierte die Verteidigung. Sein Plan, die
anrückenden Oberhelfer auf freiem Felde anzufallen, fand keine
Unterstützung, obwohl er ihn, in seinem Taschenbuch blätternd,
mit klassischen Beispielen untermauerte. Das Malheur mit dem
Ofen war nicht mehr rückgängig zu machen. Holt hatte einen
Eimer Kohle hineingestopft. Das Feuer raste. Das Rohr glühte
bis unter die Decke. Zemtzki berichtete: „Sie haben beim
Waffenmeister Tränengaspatronen geklaut!“ – „Gasmasken“,
befahl Wolzow, „Stahlhelme!“ Gomulka hatte sich aus dem

198
Weihnachtsurlaub sein Luftgewehr mitgebracht, knetete
Kügelchen aus Kommißbrot und schoß eines probeweise
gegen Wolzows Hand. „Ganz schön“, meinte Wolzow, „immer
schön in die Fresse, Sepp, dann ist es richtig!“ Er verwarf die
Klopfpeitschen. „Heute müssen stabilere Sachen her!“ Eilig
demolierten sie den Lattenrost vor der Baracke. Ein Kasten
„Fanta“ wurde bereitgestellt; „Fanta“ war eine Art Limonade, mit
Coffein versetzt. Gomulka kippte den Tisch auf die hohe Kante
und verschanzte sich dahinter mit dem Luftgewehr.
Wolzow und Holt warteten vor der Barackentür. Sie standen in
der kühlen Nacht. Holt sagte: „Wie Hagen und Volker im
Nibelungenlied.“ – „Wirst mal sehen, wie ich die Brüder
dresche!“ sagte Wolzow.
Gegen elf zogen sie im Gänsemarsch den Lattenrost entlang.
Holt gab Alarm, Wolzow wartete im dunklen Korridor. Als die
Hamburger die Tür aufzogen, trat er dem ersten in den Leib,
daß er im Fallen zwei andere mitriß. Da die Überraschung
mißlungen war, wagte sich keiner als erster an Wolzow heran.
Aber ein Bombardement mit Steinen und Lehmklumpen zwang
ihn zum Rückzug in die Stube. Er rammte von innen ein Brett
unter die Klinke. Der Korridor füllte sich mit Menschen. Vor den
Fenstern hörte man Getuschel. Ziesche saß nervös auf seinem
Bett.
Eine Weile blieb alles ruhig. Dann keilten die Hamburger mit
einer Spitzhacke die obere Türecke auf, einen Spalt nur, aber
doch weit genug, daß Gomulka rasch den Gewehrlauf
hindurchstecken und abdrücken konnte. „Aaa!“ machte es, und
der Spalt klappte wieder zu. „Herrlich, Sepp!“ Günsche brüllte
draußen wütend: „Noch ein Schuß mit dem Luftgewehr, und wir
dreschen euch reif fürs Revier!“ – „Abwarten!“ rief Wolzow. Holt
dachte: Es sind zu viele, es muß schiefgehen!
Zemtzki drückte sich an Wolzow heran. „Gilbert... Sie haben
dich feige genannt!“ hetzte er. „Einen Feigling!“ Er grinste listig.
Abermals keilten die Oberhelfer die Tür auf. Gomulkas Schuß
ging diesmal fehl, und eine Tränengaspatrone zerklirrte im
Zimmer, eine zweite... Sie zogen schon die Gasmasken über
die Gesichter. Die Hamburger waren enttäuscht und berieten

199
lange. Wolzow war nun endlich in Wut geraten, zertrat einen
Schemel und nahm in jede Hand ein Stuhlbein.
Schritte polterten auf dem Barackendach. „Verflucht, der
Ofen!“ rief Gomulka. Die Hamburger kippten Wasser aus dem
Löschfaß in den Kamin und legten ein Brett auf den
Schornstein. Sogleich begann der überheizte Ofen zu qualmen.
Die Stube füllte sich mit Rauch. Sie hielten es unter den
Masken eine Weile aus, dann wurde der Sauerstoff knapp. Holt
hörte es in den Ohren rauschen, irgendwer, im Rauch nur
undeutlich zu erkennen, taumelte schon, Holt und Wolzow
rissen die Fenster auf, rissen die Helme, die Gasmasken
herunter und atmeten.
Nun wurden die Fenster gestürmt, aber sie waren gut zu
verteidigen. Wolzow und Vetter schlugen mit den Latten
drauflos, dazwischen patschte Gomulkas Luftgewehr. Zu spät
erkannten sie, daß der Angriff auf die Fenster nur fingiert war.
In ihrem Rücken barst das Türschloß, und die Oberhelfer
drangen in die Stube.
Ein paar wurden sofort niedergeschlagen und krochen
stöhnend wieder auf den Korridor hinaus. Wolzow hieb, in jeder
Hand ein Stuhlbein, wie ein Verrückter um sich. Dann fiel er, ein
Klumpen Oberhelfer warf sich auf ihn. Holt erhielt mehrere
Schläge ins Gesicht und auf den Kopf und war nur noch halb
bei Bewußtsein. Er sah Gomulka mit dem Gewehrkolben um
sich stoßen, sah, wie ihn ein Knüppelhieb ins Gesicht traf und
zu Boden warf. Vor seinem Auge schwamm das breite Gesicht
Ziesches. Hassenswürdig... ein Schwein, brutaler Kerl...
Gewaltverbrecher! Holt schlug sich durch das Gewühl zu
Ziesche durch. Er sah Wolzow auf dem Boden mit vier oder fünf
Gegnern ringen, die auf ihn losdroschen und sich dabei
gegenseitig behinderten, sah Vetter mit blutverschmiertem
Gesicht „Fanta“-Flaschen durch den Raum werfen und taumelte
weiter, auf Ziesche zu, stolperte über Wolzows Bein und riß den
Tisch um, der noch immer auf der Kante stand, und die
schwere Platte schlug auf das ringende Menschenbündel.
Wolzow, der zuunterst gelegen hatte, kam frei und kroch unter
der Tischplatte hervor. Holt sah das nur noch wie im Nebel. Er
warf sich auf den überraschten Ziesche, der in der Ecke bei den

200
Betten kauerte, und packte ihn mit beiden Händen am Hals.
Endlich! Sie fielen zu Boden. Ziesche röchelte. Du Aas,
Gewaltverbrecher! Da traf Holt ein Schlag auf den Kopf. Er ließ
los. Die Stimme des Hauptmanns dröhnte: „Diese Banditen
rotten sich gegenseitig aus, wo gibt’s denn so was!“
Holt betastete seinen geschwollenen, schmerzenden Kopf. In
der Tür stand Kutschera, barhäuptig, und draußen, vor dem
Fenster, Gottesknecht, überall saßen und kauerten Gestalten
am Boden und hielten sich die Köpfe. Der Sanitäter verband ein
blutiges Auge. Wolzow, so gut wie unversehrt, stand vor dem
Hauptmann, noch immer ein Stuhlbein in der Hand, und er
maulte: „Wir sind mit Übermacht angegriffen worden!“
Kutschera brüllte: „Und der Kerl, der das eingebrockt hat, der
hat am wenigsten abgekriegt! Sie meinen wohl, Sie können sich
bei mir alles erlauben!“
Die Bilanz: Sieben Luftwaffenhelfer waren so sehr verletzt,
daß sie ins Revier mußten, Vetter, Gomulka und fünf Oberhelfer
und dazu ein Flakwehrmann aus der großen Stube, der
nichtsahnend ins Getümmel geraten war. Vetter hatte ein
gebrochenes Nasenbein, und Gomulka stand hilflos grinsend
mit dick verschwollenem Mund, ein Schneidezahn fehlte, das
machte sein Gesicht fremd und sein Grinsen zur Grimasse.
Sein Kopf war blutverklebt. Hinter dem Ohr klaffte eine große
Platzwunde.
Kutschera verschwand fluchend. Gottesknecht sagte leise:
„Genauso hab ich das kommen sehen!“ Holt, mit einem
unbeherrschbaren Schluchzen, stammelte: „So ein Wahnsinn!
So ein himmelschreiender Wahnsinn!“ – „Eine verschworene
Gemeinschaft sollten wir sein!“ sagte Ziesche von seinem Bett
her. Holt sprang schon wieder zu ihm hin. „Noch einen Ton, du
verlogener Hund...“ – „Schluß“, sagte Wolzow. „Laß den
Ziesche in Ruh! Wenn er nicht das Maul hält, bekommt er von
mir einen Klaps!“ Holt kam ein nervöses Lachen an. Einen
Klaps, dachte er, einen Klaps...
Mit vier Stunden Fußdienst war die Sache für Kutschera
abgetan. Die Oberhelfer wurden zwei Tage vor der Zeit
entlassen; das hatte Gottesknecht durchgesetzt, weil er einen
Rachefeldzug Wolzows befürchtete.

201
Holt besuchte Gomulka im Revier. Gomulka lag mit dick
verbundenem Kopf in den Kissen. Die Wunde war ohne
Betäubung genäht worden. „Eine Schinderei“, meinte er. „Was
gibt’s in der Batterie? Ich hab hin und her überlegt, warum wir
uns eigentlich so blödsinnig gedroschen haben. Es ist Krampf.“
„Aus Prinzip“, sagte Holt. „Nur aus Prinzip. Bei Fontane hat
einer überhaupt keine Lust zum Duell und weiß ganz genau,
daß es Unfug ist, aber er schießt sich mit dem Freund seiner
Frau, aus Prinzip, und schießt ihn tot, aus Prinzip.“
Gomulka drehte den Kopf ein wenig zur Seite. „Wenn aus
Prinzip etwas Sinnloses geschieht, dann ist das Prinzip falsch!“
– „Es hat keinen Zweck, viel darüber nachzudenken“, sagte
Holt. „Das Gesetz des Handelns ist uns klar vorgeschrieben!“
Gomulka mochte wohl müde sein, denn er sagte nichts mehr.
Holt fuhr zu Frau Ziesche.
Sie sagte: „Lieber Himmel, wie siehst du aus!“ Er erzählte von
der Schlägerei. „Ich hätte den Ziesche beinah erwürgt!“ Sie
strich ihm mit der Hand übers Haar und meinte: „Beruhige dich.
Willst du Tee?“ Die Berührung ihrer Hand machte ihn matt und
willenlos. Bei ihr wird alles Schwere leicht, dachte er. Sie
schenkte Tee ein und erzählte Nichtigkeiten. Es war gemütlich
und warm, ihm graute vor der Rückkehr in die Batterie. Er
entschloß sich, über Nacht hierzubleiben, obwohl Gottesknecht
das nicht decken würde. Aber auch das war gleichgültig. „Ich
hab frei bis morgen früh“, log er.
Sie sagte entschlossen: „Werner, du kannst heute nicht
bleiben.“ Er sah sie zunächst nur verwundert an. „Du mußt das
einsehen“, bat sie. „Ziesche kommt auf Urlaub, ich erwarte ihn
jeden Tag.“
Er begriff nur langsam, daß nicht der junge Ziesche, sondern
sein Vater gemeint war, dieser dicke, brutale Mann. „Was
denn...“, sagte er schwerfällig, „und ich?“
„Sei friedlich. Er bleibt ja nur ein paar Tage.“
Nur ein paar Tage... So ist das also, wenn der Ehemann
kommt, wird der Liebhaber abserviert... Nun fiel ihm ein, daß
der alte Ziesche mit seiner Frau... Sein Verstand trübte sich vor
Eifersucht und Ekel. Er packte Frau Ziesche am Handgelenk,

202
derb, außer sich vor Wut. „Wenn du dich von ihm anrühren
läßt...“
Sie erschrak, doch unter dem Griff seiner Hand wurde ihr
Gesicht weich, die Lider senkten sich über die Augen. Sie raffte
sich auf und sagte: „Was erlaubst du dir!“
Ach so! Er ließ sie los, sein Kopf schmerzte wieder, er war
müde. Er nahm seinen Mantel von der Sessellehne und setzte
die Mütze auf. Sie beobachtete ihn gleichmütig. Seine Energie
war schon verpufft. Er wartete auf ein Wort. Aber sie schwieg.
Als er die Treppen hinabstieg, überfiel ihn Verzweiflung: Jetzt
bin ich ganz allein! Er hatte keinen Stolz mehr, kehrte um und
klingelte. Sie ließ sich Zeit, bis sie öffnete. Er stand vor der Tür,
die Mütze in der Hand, sie zog ihn in den Flur, sie strich ihm ein
paar Haare aus der Stirn und lächelte. „Dummer Kerl! Ruf mich
an, wenn du Ausgang hast.“ Er stand unbeweglich vor ihr. „Du
darfst...“ – „Wofür hältst du mich!“ sagte sie. „Eine Frau hat ihre
Möglichkeiten!“

Die Geschütze wurden aus der Werkstatt zurückgebracht, es


gab Arbeit über Arbeit. Anton hatte ein neues Rohr erhalten.
Die gesamte Munition wurde gegen Patronen mit neuartigen
Granaten ausgetauscht. Tags darauf kehrte Gomulka aus dem
Revier zurück. Ein Befehl der Untergruppe ernannte Holt und
seine Klassenkameraden zu Luftwaffenoberhelfern. Gomulka,
ein Pflaster am Hinterkopf, sagte: „Jetzt helfen wir nicht mehr,
jetzt oberhelfen wir.“
Am Nachmittag langte der Ersatz in der Batterie an, Schüler
vom Jahrgang achtundzwanzig, aus Schlesien. Holt, Wolzow,
Vetter und Gomulka standen bei der Schreibstube und sahen
zu, wie die Neuen von den Lastwagen kletterten und an der
Kammerbaracke vorbeidefilierten. „So sind wir auch mal
angekommen“, meinte Gomulka. Holt nickte. Es war ewig her.
„Leute, es ist geschafft!“ krähte Vetter. „Jetzt sind wir die Alten!“
Die Batterie trat auf dem Fahrweg an und wurde eingeteilt. Die
neuernannten Oberhelfer von der Geschützstaffel wurden als
Geschützführer und Richtkanoniere auf alle sechs Geschütze
verteilt. Mit Mühe konnte Schmiedling Wolzow, Holt, Gomulka
und Vetter bei Anton behalten. Kutschera, barhäuptig wie

203
immer, von seinem Hund gefolgt, trat vor die Front. „Mal
herhörn!“ Diesmal sagte er kein Wort von Selbsterziehung.
Gomulka bemerkte dazu auf der Stube: „Es hat ihm schon
lange nicht mehr gepaßt. Aber er konnte sein Prinzip nicht
widerrufen.“ – „Selbsterziehung eines Hauptmanns“, spottete
Holt.
Die Batterie war wieder feuerbereit. Gegen Mitternacht zog
Wolzow noch einmal den Wischer durch das neue Rohr. Sei es,
daß die Neuen am Funkmeßgerät noch unsicher waren, daß sie
Angst hatten oder sich von der üblichen Düppel-Störung
verwirren ließen, das Schießen klappte in dieser Nacht
schlecht. Die Batterie schoß nach Süden, die Bomber
brummten im Norden vorbei. Wolzow fluchte, denn aus dem
neuen Rohr floß brennendes Öl und versengte ihm den
Ladehandschuh. In den Feuerpausen hörten sie, fern beim
Funkmeßgerät, Kutschera toben.
Den Bestand der Batterie bildeten zu zwei Dritteln die Neuen
vom Jahrgang achtundzwanzig. Außer den sechsundzwanzig
Oberhelfern aus Holts Klasse waren nur fünf der alten
Oberhelfer hiergeblieben, Dusenböker und Hörschelmann, die
beiden Entfernungsmesser aus Hamburg, und Ziesche mit zwei
seiner Klassenkameraden aus Essen. Die beiden Hamburger
fanden sich abends bei Wolzow in der Stube ein, brachten
Zigaretten und Schnaps mit und hörten sich eine Weile
geduldig Wolzows Hohnreden an. Dann feierte man
Versöhnung. Günsche war ganz allein an allem schuld
gewesen!

In den nächsten Wochen ließ Kutschera täglich


Batterieexerzieren auf den Dienstplan setzen. Er schickte die
Lehrer weg: „Latein? Schießen ist wichtiger!“ Die Briten flogen
jede Nacht, die Amerikaner jeden Tag nach Deutschland hinein;
im April steigerte sich die Angriffstätigkeit noch mehr und nahm
nicht wieder ab. Das ständige Batterieexerzieren nahm den
Jungen die letzte freie Zeit. Schmiedling aber sagte: „Dös is a
204
Zeichen für a Bsüchtgung is dös!“ Tatsächlich kündigte Ende
April der Untergruppenkommandeur seinen Besuch an. Der
Termin wurde immer wieder verschoben, und erst im Mai rollte
die Autokolonne in die Batterie.
Der Major zog einen Kometenschweif von Hauptleuten und
Leutnants hinter sich her, verschwand erst einmal in der
Chefunterkunft und ließ die angetretene Batterie warten. „Die
saufen jetzt einen prima Begrüßungsschnaps“, erklärte Vetter
ungeniert laut. – „Ruhe im Glied!“ schnauzte irgendwer. Dann
nahte Major Behling mit seinem Gefolge, und als die Melderei
begann, rollte hupend eine neue Wagenkolonne ins
Batteriegelände. Gomulka murmelte im Stillgestanden: „Ach, du
ahnst es nicht!“ Denn einer großen Limousine entstieg der
General der Flakartillerie Bergmann, in Begleitung eines
Obersten und mehrerer Oberstleutnants und Majore. Kutschera
zog sein Pferdegesicht in die Breite; so schlecht er beim
Untergruppenkommandeur angeschrieben war, so sehr beliebt
war er beim General. Er stellte sich an den rechten Flügel
seiner Batterie.
Der General scheute sich nicht, die Erkennungsmarken
vorzeigen zu lassen und dann die Sohlen der Schuhe zu
besichtigen. Dann wünschte er ein gefechtsmäßiges
Batterieexerzieren. Es war ein klarer, warmer Tag. Als
Zielmaschine flog eine Heinkel He 111. Die B 2 war so sehr mit
Offizieren vollgestopft, daß die Luftwaffenhelfer kaum die
Geräte bewegen konnten. Der General wünschte Kutschera als
taktisch, den Wachtmeister als technisch Schießenden zu
sehen. Ehe die Befehle die Wendeltreppe des Instanzenweges
vom General bis zum Hauptmann herabgestiegen waren, hatte
sie die Meßstaffel schon ausgeführt. „Ich sehe“, sagte der
General zufrieden, „Sie haben Ihre Batterie tadellos in
Schwung!“ Nach zehn Minuten Exerzieren war es soweit:
„Gefechtsschaltung!“ Gottesknecht ließ das Müo auslegen, die
Heinkel überflog die Batterie und brummte zum nächsten
Flughafen.
Der General verabschiedete sich eilig. Zurück blieb der Major.
Er übernahm das Kommando über die Untergruppe und
schickte seinen Adjutanten an die Ringleitung. Zehn Minuten

205
später meldete die Luftlage starke Kampfverbände mit
Jagdschutz über Holland im Anflug auf die Reichsgrenze.
Zugleich hieß es: Im Raum Köln–Essen noch vereinzelte
eigene Transport- und Schulmaschinen. Als Feuerbereitschaft
befohlen wurde, nahm Kutschera den Helm ab, zog sich Mantel
und Waffenrock aus und ließ sich den Fahrermantel aus seiner
Baracke bringen. Er hatte die Augen überall. „Los, dalli, das
Müo einziehen!“ Der Major sagte: „Da sind doch noch eigene
Maschinen oben, Hauptmann, da können Sie doch nicht das
Müo wegnehmen!“ Kutschera wandte das Gesicht dem Major
zu und kniff die Augen zusammen. „Es ist Vorschrift, Herr
Major! Wir haben Feuerbereitschaft. In ein paar Minuten sind
die Bomber hier!“
Auf der B 2 herrschte Verwirrung, ob Kutscheras Befehl
auszuführen sei oder nicht. Der Major sagte, gereizt über den
Widerspruch: „Lassen Sie das Müo noch liegen, so geht das ja
auch nicht, wie Sie das handhaben!“ Kutschera kratzte sich
nachdenklich den Kopf, als gebe es keinen Major auf der B 2,
aber er widersprach nicht länger. „Man kann sich doch nicht
wörtlich an die Vorschriften halten“, sagte der Major noch. Das
Müo blieb liegen, ein zehn mal zehn Meter großes Quadrat aus
leuchtend weißen Tüchern, mit einem Kreuz darin, aus einer
Höhe von zehn-, auch Zwölftausend Metern gut zu sehen, eine
Zielscheibe mitten in der Feuerstellung, und nach ein paar
Minuten dachte kein Mensch mehr daran.
Im Nordwesten flog der erste Pulk in den Batteriebereich,
fünftausend Meter hoch, und Kutscheras „Feuer frei!“ fand beim
Kommandeur keinen Widerspruch. Die Batterie schoß
Gruppenfeuer mit vier Geschützen, sie schoß sehr genau, so
daß der Major, das Fernglas an den Augen, „Großartig!“ rief.
Pulk auf Pulk zog in südöstlicher Richtung an ihnen vorbei. Die
Batterie schoß gleichmäßig und ohne Nervosität. Dann änderte
ein Verband von sechzehn Boeing Fortress II nach den ersten
Gruppen die Flugrichtung. „Neuer Zielweg!“ rief Gottesknecht,
und sofort: „Direkter Anflug!“ Da fiel ihnen allen wieder das Müo
ein, aber da war es längst zu spät.
Die Abschüsse schmetterten. Die Leute am
Kommandohilfsgerät und am Entfernungsmesser duckten sich

206
und lasen mit verzerrten Gesichtern die Richtwerte ab, bis sie in
der Optik die Bomber ihre Last ausklinken sahen: da warf sich
vom Major bis zum Luftwaffenhelfer alles in die Deckung der
Brustwehr, nur Gottesknecht drückte zusammengekrümmt die
Feuerglocke, und Kutschera stand barhäuptig und tobte: „Wollt
ihr wohl das Müo einziehen, ihr Banditen!“ Das Schießen setzte
aus, nur zwei Geschütze feuerten in rascher Folge sinnlose
Schüsse in den Himmel.
Auf einmal war Zemtzki da, der kleine Zemtzki, er kam wohl
aus dem Keller, hatte einen hochroten Kopf und stocherte mit
dem Zeigefinger in der Luft herum wie in der Schule: „Ich...
ich... Herr Hauptmann!“ Dann lief er wie ein Wiesel über den
Acker und raffte die Tücher zusammen. Aber da war das
entnervende Geräusch der Bombermotoren schon zugedeckt
von einem hohlen Sausen, das anschwoll zu orkanartigem
Rauschen. Die Erde bebte, die Geschütze schwankten und
rissen an den Verankerungen, ein sekundenlanger
Donnerschlag spaltete den Tag, und Rauchpilze und
Erdfontänen wuchsen in eins zusammen und löschten die
Sonne aus. Splitter jaulten über Geschützstände und B 2
hinweg. Dann war Schweigen. Und in das Schweigen hinein
plauzten ein, zwei Geschütze Schuß auf Schuß, die anderen
Kanonen fielen ein, das Feuerleitgerät arbeitete wieder, und
wütend und unkonzentriert schoß die Batterie hinter dem
abfliegenden Pulk her.
Kein Geschütz war getroffen worden. Die B 2 sah etwas
mitgenommen aus, aber auch dort war nichts passiert. Nur
Zemtzki, Fritz Zemtzki, lag tot vor der Befehlsstelle.

Am Abend ging Holt durch die von Bombenkratern zerklüftete


Stellung. In den Baracken waren die Scheiben zerklirrt, die
Dächer beschädigt, überall wurde gebaut, gesägt und
gehämmert. Ein Trupp Flaksoldaten von der Untergruppe legte
neue Fernsprechleitungen.
Holt stand in der Baracke des Waffenmeisters, wo zwischen
Werkzeugen und Ersatzteilen Zemtzki auf der Erde lag,
Luftwaffenoberhelfer Fritz Zemtzki, mit einer Decke zugedeckt.
Holts Augen brannten. Das Entsetzen des Bombenteppichs war

207
noch nicht verwunden. Lange stand er vor dem grauen Bündel.
In einem Gefühl, das aus Angst und Neugier gemischt war,
schlug er die Decke zurück. Da lag Zemtzki. Das Gesicht war
unversehrt, war frech und jungenhaft wie je. Aber der halbe
Brustkorb fehlte... Das Herz schlug nicht mehr. Als es noch
schlug, hatte der Tote, dieser Zemtzki, den alten Gruber
veralbert: „Bitte schön, der Holt spinnt, er kann nichts dafür, er
hatte Gehirnscharlach!“ Er hatte mit Holt zusammen in den
Bergen gehaust und sich einst ein Schweineschwänzchen als
Trophäe an die Mütze gesteckt. Immer aber hatte er frech und
ein bißchen tückisch aus seinen blauen Augen geschaut, und
frech und unschuldsvoll war er zeitlebens gewesen. Jetzt war er
tot.
Die Tür knarrte. Gomulka suchte Holt, trat ein und verzog den
Mund wie im Ekel. Die Zahnlücke entstellte ihn und verwandelte
jede Bewegung des Gesichts in ein Grinsen. Holt bückte sich
und schlug die Decke über den Leichnam.
„Am 1. Juni wär er siebzehn geworden“, sagte Gomulka. „Ja“;
sagte Holt, „das wär er. Beinahe.“
Im Geschützstand bei Anton setzte sich Holt auf einen
Lafettenholm. Gomulka lehnte am Eingang des
Mannschaftsbunkers. Sie rauchten. Gomulka sagte: „Vielleicht
bin ich der nächste!“ – „Oder ich“, sagte Holt.
Gomulka lispelte ein wenig durch die Zahnlücke. „Es ist mir
von Tag zu Tag unheimlicher geworden, daß sie uns
ungeschoren lassen. Mein Vetter ist in Darmstadt eingesetzt.
Dort lagen Anfang des Jahres vierzehn schwere Batterien, zehn
Heimatflakbatterien und vier aktive. In der Nähe ist ein Werk,
wo sie Panzer bauen. Die Amerikaner wollten es mehrfach
angreifen, aber die vierzehn Batterien haben so genau
geschossen, mit dem Kommandogerät, daß die Pulks ihre
Bomben nicht ins Ziel gebracht haben. Da sind sie zwei
Wochen lang Angriffe gegen die Batterien geflogen. Sie haben
Hunderte von Bomben auf jede Feuerstellung geworfen. Sie
haben sämtliche Funkmeßgeräte zerschmissen, und von den
vierzehn Batterien sind grad noch zwanzig Geschütze
übriggeblieben. Jeder dritte Luftwaffenhelfer ist gefallen, jeder
zweite verwundet. Das Werk ist obendrein kaputt. Es kommt

208
ihnen nicht drauf an. In Kassel hat sie ein
Anderthalbmeterscheinwerfer gestört, mit dem die Batterien
nachts optisch geschossen haben, da haben sie auf diesen
einen Scheinwerfer mehr als dreihundert Zentner
Sprengbomben geworfen. Ich sag dir: Wir kommen auch noch
dran!“
„Sie werden uns zur Sau machen“, sagte Holt.
„Sie werden ganz Deutschland zur Sau machen“, sagte
Gomulka. Dann schwiegen sie lange. Aber Gomulka fing wieder
an: „Die Russen sind immer noch nicht zum Stehen gebracht.
Odessa ist gefallen. Wenn das so weitergeht...“
„Da muß ja nun wirklich bald was geschehen“, sagte Holt.
„Fragt sich bloß, was?“
„Ich weiß nicht“, sagte Holt. Von der B 2 brüllte jemand:
„Leitungsprobe!“ Gomulka hängte sich die
Geschützführerleitung um. Nachher sprachen sie von anderen
Dingen.
Aber in den Stuben wurde die halbe Nacht gestritten, ob der
Kommandeur am Tode Zemtzkis schuld sei. Ziesche
protestierte erregt: „Das Führerprinzip duldet keine zersetzende
Kritik, Ihr wollt verschworene Kämpfer sein? Derartige
Bemerkungen über einen Führer sind einfach
Wehrkraftzersetzung!“ Auch Wolzow fuhr Gomulka an und
schlug mit der flachen Hand auf den Tisch: „Schluß! Es ist
Krieg, da kann es jeden erwischen.“ Er breitete seine Karten
aus.

Am anderen Morgen, nach schwerer nächtlicher Schießerei,


erlebte die zum Appell angetretene Batterie eine Überraschung.
Kutschera nahte in voller Uniform. „Heil Hitler, Batterie! Der
Major war sehr zufrieden. Der Herr General gleichfalls. Die
Division ist inzwischen mit der Prüfung der Unterlagen fertig
geworden und hat festgestellt, daß von den vierunddreißig
Abschüssen im Bereich seit September vier auf unsere
Rechnung kommen. Ruhe im Glied! Die vier Abschüsse sind
uns zugesprochen worden. Wenn ihr Farbe habt, ihr Säcke,
könnt ihr die Ringe an die Rohre pinseln.“ Die Unruhe war nicht
mehr zu unterbinden. Kutschera stand einen Augenblick

209
unschlüssig, dann schrie er: „Batterie... stillstann! Wir gedenken
des Kameraden Zemtzki, der für Führer und Vaterland gefallen
ist. Rührt euch!... Herhörn! Die Batterie hat in Hamburg schon
mal schwere Verluste gehabt. Ein Toter ist nischt Neues! Der
Zemtzki hat Mut gehabt, dafür hat ihm der Major das Ekazwoo
verliehen. – Ruhe im Glied! Nun sag ich eins: Wenn das
Gequatsche auf den Stuben nicht aufhört, von wegen dem Müo
und so... Ich greif mir die Meuterer raus und sperr sie ein! Krieg
ohne Tote, wo gibt’s denn so was!“
Vier Abschüsse! Zemtzki war vergessen. Wolzow zeigte sich
aufgekratzt. „Noch zwei Abschüsse, dann gibt’s das
Flakschießabzeichen.“ Holt ging mit Gomulka den Lattenrost
entlang, er fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. „Sepp! Die
vier Abschüsse, das ist bloß das schlechte Gewissen vom
Major!“ – „Schau dich um“, sagte Gomulka. „Gestern war alles
deprimiert, und jetzt?“
Im Unterricht saß Holt zerstreut und unaufmerksam auf
seinem Schemel. Schließlich ging er in die Stube hinüber und
warf sich auf sein Bett. Wenn ich falle, wird tags darauf kein
Mensch mehr an mich denken.
Gottesknecht riß die Tür auf. „Pfui! Sie schwänzen wieder!“
sagte er. „Holen Sie den Gomulka raus!“ Holt folgte.
„Mitkommen! Sie beide haben den Zemtzki doch näher
gekannt, helfen Sie mir mal, den Brief an seine Mutter zu
schreiben.“ In der Schreibstube sagte er zu Holt: „Übrigens hat
eine Dame angerufen und gefragt, ob Ihnen was passiert ist.
Hat sich rumgesprochen, daß wir Zunder bekommen haben. Ich
hab gesagt, Sie sind wohlbehalten und der Ziesche auch.“
Sie war in Sorge um mich, dachte Holt freudig. Aber dann
erschrak er: Und der Ziesche auch... Wußte Gottesknecht? Holt
schielte zur Seite. Der Wachtmeister schrieb eifrig und
unbeteiligt, und nur Gomulka zog ein merkwürdiges Gesicht.
„Er war das einzige Kind“, sagte Gomulka. Auf dem
Schreibtisch lag das Eiserne Kreuz mit dem roten Ordensband.
Zemtzki hat nichts mehr davon, dachte Holt. Wenn ich das EK
hätte... Bei einem Luftwaffenhelfer würde es Aufsehen er regen!
Gottesknecht las vor: „... in treuer Pflichterfüllung...“

210
War es seine Pflicht, dachte Holt, in den Bombenregen
hinauszulaufen? Was mochte in ihm vorgegangen sein? Ob er
sich auszeichnen wollte?
„Was schaun Sie denn so?“ fragte Gottesknecht. „Die Sache
mit dem Müo kann ich doch wirklich nicht schreiben!“
„Die werden das bestimmt erfahren“, meinte Holt.
„Jetzt ist Schluß!“ rief der Wachtmeister. „Die Ketzerei steht
Ihnen ja an der Stirn geschrieben! Holt, in diesem Krieg sind
schon Millionen umgekommen, Soldaten, Frauen und Kinder,
das wissen Sie, und es hat Sie bis gestern nicht gestört.“
„Herr Wachtmeister“, sagte Gomulka, „aber ich denke, es
wäre...“ – „Halten Sie den Mund!“ fuhr ihn Gottesknecht an.
„Meinen Sie, ich unterhalte mich hier in der Schreibstube mit
Ihnen über den Dunst, der Ihnen gestern vom Gehirn
weggepustet worden ist?“
Holt sah Gottesknecht verständnislos an. Was soll denn das
nun wieder bedeuten? Gottesknecht beugte sich über den
Tisch. Er sagte leise: „Der Ziesche führt Tagebuch! Der Ziesche
notiert jedes Wort, das ihr vor ihm sprecht! ,Wo hat G-Punkt die
exakte Zahl der feindlichen Bomberverluste her...
Fragezeichen!’ Rotwerden ist sinnlos, Gomulka! Air Marshall
Harris’ Flugblatt an das deutsche Volk, was? Ich bitte mir aus,
daß ihr in Zukunft den Mund haltet. Macht mir keinen Kummer,
ich hab’s schwer genug, mich immer wieder zwischen euch und
den Chef zu stellen. Habt ihr mich verstanden?“
Sie antworteten beide nicht.
Der Ziesche schreibt alles auf, dachte Holt erschrocken. Er
überlegte fieberhaft, ob in seinen Gesprächen tatsächlich etwas
zersetzend oder feindlich gewesen sei... Gomulka sagte fast
unhörbar: „Ich versteh, Herr Wachtmeister.“ In diesem
Augenblick trat die Nachrichtenhelferin in die Schreibstube.
Gottesknecht sagte unbefangen: „Das genügt. Sie können
wieder zum Unterricht gehn.“
Sie grüßten und verließen die Baracke. Holt war verwirrt. In
diesem Krieg sind schon Millionen umgekommen... und es hat
Sie bis heute nicht gestört... Sollte das ein Vorwurf sein? „Sepp,
wie verstehst du das, was Gottesknecht gesagt hat? Was meint
er mit ,Flugblatt an das deutsche Volk’?“

211
„Mir ist das alles unklar“, sagte Gomulka.
„Früher hab ich gewußt, was los ist“, sagte Holt. „Seit ich bei
diesem Haufen bin, ist es, als würde mir langsam der Boden
unter den Füßen weggezogen.“
„Früher hast du gewußt, was los ist?“ fragte Gomulka.
„Wirklich?“
„Es ist... der innere Schweinehund“, erwiderte Holt. „Wir
müssen stur werden. Alle Soldaten sind stur!“
Dieser Gedanke befriedigte ihn wenig. Schicksal, Gesetz des
Handelns, fanatisch glauben, dachte er wieder; sind wir wirklich
willenlos ausgeliefert, nur... Figuren im großen Spiel? Aber das
Nachdenken und Grübeln, überlegte er, bringt nichts ein. Hart
werden. Glauben. Sich fanatisch der Sache verschwören. Es
geht nicht, daß mich ein paar Bomben aus dem Gleichgewicht
bringen!
Was ist mit mir los? dachte er.
Gottesknecht ließ ihn bis zum Abend in die Stadt, „zum
Zahnarzt“, wie der UvD ins Wachbuch schrieb. Holt setzte sich
eine Viertelstunde in das Cafe in der Rotthausener Straße, wo
die Urlauber aller Batterien mit ihren Mädchen
zusammensaßen, er traf ein paar Bekannte. Der Bombenangriff
auf die 107. Batterie war allgemeines Gesprächsthema. Die
abgemagerten, unausgeschlafenen Jungen mit den
übernächtigen Augen schimpften auf den Major. „Er soll ja als
erster flachgelegen haben!“ Holt sagte aggressiv: „So geht’s ja
auch nicht! Derartige Gerüchte sind Wehrkraftzersetzung!“ Es
waren Ziesches Worte. Holt ärgerte sich, ausgerechnet Ziesche
nachgeäfft zu haben.
Er versuchte, Frau Ziesche anzurufen, aber das Leitungsnetz
war durch die letzten Bombenabwürfe gestört. Schließlich
bekam er auf einem Postamt Verbindung. „Warum kommst du
nicht her? Ich war in Sorge um dich!“ Ihre Worte stimmten ihn
froh. Aber als er mit ihr zusammensaß, als sie das Radio
anstellte, brachte der Wehrmachtsbericht Nachrichten, die
niederschmetternd auf ihn wirkten. Schlacht in Süditalien,
Großangriffe auf Valmontone... Sewastopol gefallen.
„Nordamerikanische Jagdflugzeuge führten gestern Angriffe auf
Ortschaften in Nord- und Mitteldeutschland... Verluste...

212
Nächtliche Terrorangriffe auf Kiel und Dortmund... Orte im
rheinisch-westfälischen Raum...“ – „Das sind wir“, sagte er, „die
Bomber werden immer frecher.“
Frau Ziesche hörte die Berichte ungerührt an und fragte,
warum er den Kopf hängenlasse, er sei ja heute unleidlich! Er
versuchte, ihr sein Herz auszuschütten, und erzählte von
Zemtzkis sinnlosem Tod. Aber auch sie sagte: „Nimm dich
zusammen! Denk an die Ostkämpfer, dagegen bist du in der
Sommerfrische bei deiner Batterie!“ Als er sich mißmutig
verabschiedete, meinte sie versöhnlich: „Sieh zu, daß du dich
mal richtig ausschläfst. Nimm doch nicht alles so tragisch!“

Frühzeitig flogen zwei Mosquitos in sehr schnellem Flug von


Norden her über den wolkenlosen Himmel, zehntausend Meter
hoch, zwei winzige Pünktchen, die kurze Kondensstreifen hinter
sich herzogen. Sie flogen drei oder vier weite Kreise über den
umliegenden Ruhrstädten. Fern grollten die Abschüsse einer
12,8-Zentimeter-Batterie. Wolzow starrte zum Himmel und
schimpfte: „Jetzt photographieren sie die ganze Gegend!
Brauchen wir uns zu wundern, wenn die Bomber sich so gut
zurechtfinden?“ Die beiden Mosquitos flogen nach Norden ab.
Etwa hundert Kriegsgefangene zogen in die Stellung, von
einem halben Dutzend blutjunger SS-Leute bewacht. „Russen!“
sagte Wolzow, als sie den Geschützstand verließen. „Was
wollen die denn hier?“
Der stereotype Kram lateinischer Grammatik, von dem Holt
längst kein Wort mehr verstand, war heute so langweilig, daß
Holt sich hinausstahl und sich in der Stube aufs Bett legte.
Durch das Fenster sah er ein Dutzend der Gefangenen nahe
der Baracke Bombentrichter zuschaufeln. Er brannte sich eine
Zigarette an, ging ins Freie und sah ihnen zu.
Die erdfarbenen Gestalten, die mühsam mit Schaufeln und
Spaten die Erdschollen in den Krater warfen, erwiesen sich aus
wenigen Metern Entfernung als kaum noch menschenähnliche,
ausgemergelte und hohlwangige Wesen mit überdimensionalen
Schädeln und eingefallenen Gesichtern, grau wie die Mäntel,
die viel zu weit um die staksigen Körper schlotterten. Holt hielt
die angerauchte Zigarette gedankenlos einem der Gefangenen

213
hin, der sich erst nach allen Seiten umsah, auch zögernd
seinen dunklen Blick auf Holt richtete, ehe er sie nahm, die
Lunge voll Rauch sog und die Zigarette weiterreichte.
Holt empfand einen schmerzhaften Druck in der Brust. Mitleid
ist Schwäche! sagte er zu sich selbst, aber er fischte doch die
angebrochene Zigarettenpackung aus der Tasche. Er wollte sie
den Gefangenen hinwerfen, doch dann ging er die paar Schritte
über den Acker und drückte die Schachtel in eine rauhe Hand.
Als er vor dem Gefangenen stand, sah er mit Erschütterung,
daß die Tierhaftigkeit aller dieser Gestalten nichts anderes war
als das letzte Stadium eines unvorstellbaren körperlichen
Verfalls. Er wollte in seiner Verwirrung auch noch die
Streichholzschachtel wegschenken. Da sagte der Gefangene
mühsam, als bereite das Sprechen ihm Schmerzen: „Brot!“
Holt lief in die Stube zurück und riß seinen Spind auf. Sie
hungern! dachte er. Im Essenfach lagen genug Lebensmittel.
Butterkeks und Drops wurden seit Wochen täglich als
Alarmzulage verteilt und häuften sich in den Spinden. Er
verstaute alles in seinen Taschen und zog dann den Mantel
über, denn offen durfte er die Lebensmittel nicht hinaustragen.
Was er zu tun im Begriff war – darüber war Holt sich klar –, war
verboten und galt als strafbar. Er zögerte und wurde unsicher.
Dann schob er doch das Brot unter den Mantel und dachte:
Mag es strafbar sein, mögen es... Untermenschen sein, ich
würde auch keinen Hund verhungern lassen! Dann fiel ihm ein,
daß es zehn, zwölf Männer waren. Er riß auch Gomulkas Spind
auf. Sepp würde es billigen, dessen war er sicher. Eine halbe
Dauerwurst, Brot, ein Würfel Kunsthonig, reichlich Keks... Er
raffte alles zusammen. Dann sah er die halbe Flasche Korn
stehen, die Gomulka für seinen Geburtstag aufsparte. Er nahm
die Flasche an sich.
Ruhig verließ er die Stube, nicht gesonnen, sich erwischen zu
lassen. Sorgsam sah er sich um. Außer den arbeitenden
Gefangenen war niemand zu sehen. Wer weiß, wo sich der
Posten herumdrückte! Die Fenster der großen Stube lagen auf
der anderen Seite.
Er lief über das Feld. Die Gefangenen rissen das Brot in
Stücke und versteckten es unter ihren Kleidern. Sie arbeiteten

214
weiter. Einer nach dem anderen kletterte auf den Grund des
Bombentrichters hinab und trank aus der Kornflasche. Holt ging
in die Stube zurück und legte sich auf sein Bett. Er versuchte zu
schlafen.
Später fing er Gomulka auf dem Korridor ab und zog ihn ins
Freie. Gomulka blickte sich unwillkürlich um, als Holt erzählte.
Dann sagte er: „Gut... Ich bin einverstanden.“ – „Ob es richtig
ist?“ fragte Holt. „Sie sind unsere Feinde.“ – „Sie haben nicht
angefangen“, sagte Gomulka.
In der Stube saß Wolzow auf einem Hocker und schnippelte
mit dem Fahrtenmesser am Nagel seiner großen Zehe herum.
Vetter und Rutscher saßen auf ihren Betten. Ziesche redete mit
Schwung und Enthusiasmus, und die anderen hörten heute
tatsächlich zu.
„Seht sie euch ruhig aus der Nähe an“, sagte Ziesche, als Holt
und Gomulka in die Stube traten. „Das ist sehr lehrreich. Klarer
kann der Beweis, daß es sich um einen rassisch ganz
minderwertigen Typ handelt...“ – „Bei den Russen?“ fragte
Gomulka. – „Ja. Ihr braucht euch bloß mal die Gesichter
anzusehen...“
Gomulka unterbrach Ziesche schon wieder: „Die Russen sind
als Slawen aber doch Arier“, sagte er.
„Wieso?“ fragte Ziesche verblüfft. „Ach so! Arier?“
„Ja, natürlich“, sagte Gomulka. „Das mußt du doch wissen!“
„Sieh mal“, erwiderte Ziesche, während er seine Gedanken
ordnete. „Auch unter den arischen Rassen, verstehst du... Also
die sind nicht einheitlich, nicht wahr! In Rußland, also da liegt
die Sache klar, da ist das Element der Organisation seit je
germanisch und nicht slawisch gewesen. Unter allen Ariern
stehen die Germanen weitaus am höchsten, weil sie die
nordische Rasse am reinsten verkörpern.“ Erst jetzt merkte
Holt, wie sehr Gomulka Ziesche aus dem Konzept gebracht
hatte.
„Das sollte dir eigentlich alles klar sein.....“, sagte Ziesche
aggressiv, „aber du mit deinem slawischen Namen bist
überhaupt lasch und angekränkelt...“
Wolzow hatte bisher zugehört, den nackten Fuß im Schoß,
den Dolch in der Hand. „Was soll denn das heißen? Du denkst

215
wohl, du bist allein ein guter Nationalsozialist?“ – „Dein Name
ist auch nicht arischer!“ sagte Holt.
Vetter lachte meckernd. Ziesche lief puterrot an. Er wackelte
mit dem Kopf. „Mein Name entstand durch Abschleifung aus
einem rein germanischen! Aber auf den Namen kommt es nicht
an, vielmehr...“ – „Schon gut“, sagte Gomulka. „Nur eins ist mir
noch unklar: Selbst wenn die Slawen nicht so hochwertig sind
wie die nordische Rasse, deswegen sind sie doch immer noch
Arier! Kann man sie denn da als Untermenschen bezeichnen?“
Ziesche fühlte wieder sicheren Boden unter den Füßen. „In
der Vergangenheit hättest du mit deinem Einwand recht gehabt,
früher, als in Rußland noch die staatstragende germanische
Oberschicht herrschte. Durch die Herrschaft des
Bolschewismus ist das anders geworden. Der jüdische
Bolschewismus hat die rassisch-völkische Grundlage der
Slawen total zerstört. Natürlich ist der Bolschewismus reif zum
Untergang, denn der Jude als Ferment der Dekomposition...“
„Waaas?“ machte Vetter.
„Na ja, so sagt der Führer! Als zerstörerische Kraft... er kann
das mächtige Reich nicht erhalten, und das Ende der
Judenherrschaft wird zugleich auch das Ende Rußlands als
Staat sein. Der Führer hat ganz klar gesagt, daß wir vom
Schicksal ausersehen sind, Zeugen einer Katastrophe zu
werden...“
Zeugen einer Katastrophe zu werden, wiederholte Holt in
Gedanken, und dieser Satz hakte sich in seinem Gehirn fest.
„... die die gewaltigste Bestätigung für die Richtigkeit der
völkischen Rassentheorie ist.“
Gomulka sagte: „Na ja. Aber sieh dir mal die Frontlage im
Osten an.“
Ziesche rief erregt: „Was da gegen unsere Front anrennt, das
ist fanatisiertes Pack! Sie werfen die letzten Reserven in den
Kampf, Greise und Kranke...“ Wolzow schnürte sich den Schuh
zu und begann zu schimpfen: „Jetzt werde ich dir mal was
sagen, du abgeschliffener Germane! Die Wehrmacht lasse ich
auf gar keinen Fall beleidigen! Willst du etwa sagen, daß
unsere Divisionen von Greisen und Kranken geschlagen
worden sind?“

216
„Geschlagen...“, protestierte Ziesche, aber Wolzow rief
aufgebracht: „Natürlich, geschlagen! In Stalingrad vernichtet!
Bei Radomysl und Brussilow geschlagen! Bei Kirowgrad
vernichtet! Bei Schumsk und Ostropol geschlagen! Bei
Kamenez und Skala vernichtet! Von Greisen, was, und
Kranken, wie?“
Holt, anfangs voller Schadenfreude, fühlte wieder eisige
Beklommenheit. Ziesche raffte sich auf und schrie: „Die
Übermacht ist vorübergehend so groß, daß...“
„Übermacht!“ höhnte Gomulka. „Wieviel Junge und Gesunde
müssen die erst haben bei solcher Übermacht an Greisen und
Kranken!“ Wolzow stieß das Fahrtenmesser in die Tischplatte:
„Herrgott, Ziesche, bist du blöd!“ rief er. „Das ist ja
unbeschreiblich, wie saudumm, saudumm du bist! Da muß man
ja Mitleid haben, so schrankenlos blöd, wie du bist! So was will
ein Nationalsozialist sein! Quatscht der Kerl von
Zusammenbruch und letzten Reserven! Soll ich dir mal an der
Karte zeigen, was sich diesen Winter an der Ostfront abgespielt
hat?“
Ziesche, nun ebenfalls wütend, rief: „So! So! So! Du meinst
also... Du willst... Ich meine... Der Führer hat gesagt“, schrie er,
aber da schraken sie alle zusammen: die Glocke schrillte, die
Spannung löste sich. Stahlhelm, Gasmaske, dachte Holt, dann
lief er mit den anderen zur Kanone.

10

In den ersten Junitagen ließ die Aktivität der anglo-


amerikanischen Luftwaffe über Nacht spürbar nach. Nur die
nächtlichen Störflugzeuge, Verbände der schnellen Mosquitos,
flogen weiterhin über die Grenzen, und am Tage kreisten die
Aufklärer in großer Höhe über dem Land. Nach den
ununterbrochenen Tages- und Nachtangriffen auf Städte und
Einzelziele in den ersten Monaten des Jahres gab dieses
Abflauen der Luftoffensive in den Stuben und an den
Geschützen unermüdlich Gesprächsstoff. Wolzow brütete über
der Karte und vermutete eine „neue Teufelei“. Ziesche aber
217
erklärte mit unverhohlenem Triumph: „Unsere verbissene
Abwehr! Jetzt geht ihnen der Atem aus!“
Gottesknecht, der nicht ohne Besorgnis die wachsende
nervöse Zerrüttung bei den Jungen beobachtete, setzte es bei
Kutschera durch, daß nachts erst bei Feuerbereitschaft geweckt
wurde, wenn keine Kampfverbände gemeldet waren. So fanden
die Jungen nun ein paar Nächte lang seit Monaten das
erstemal wieder reichlicher Schlaf. Sogleich ließ der ständige
Streit nach, die Nervosität legte sich, und ein optimistischer
Geist zog in die Batterie ein. Wolzow vertrug sich wieder mit
Ziesche, und Kutschera brüllte nicht mehr durch die Batterie,
raffte sich dann und wann sogar zu einem groben Witz auf und
spielte während der Feuerbereitschaft mit Blitz, seinem Hund.
Schmiedling wurde wieder redselig wie in der Ausbildungszeit
und freute sich auf seinen Urlaub. Für Holts Wohlbefinden tat
der Wehrmachtsbericht ein übriges. Im Osten, so erklärte
Wolzow an, der Karte, stand die Front von Narwa bis zu den
Karpaten; der monatelange Rückzug hatte ein Ende gefunden.
Vielleicht, so sagte Wolzow, seien die Russen nun doch am
Ende ihrer Kraft! Er war sich mit Ziesche einig, daß der
amerikanische Vormarsch in Italien demgegenüber gering wog,
und auch der Fall Roms konnte den allgemeinen Optimismus
kaum dämpfen. „Italien“, erklärte Ziesche, „ist
Nebenkriegsschauplatz. Die Entscheidung über das Schicksal
des Reiches, das hat der Führer oft genug gesagt, fällt im
Osten!“
Wolzow, der tagaus, tagein über seinen strategischen
Büchern saß und, von Ziesche dazu angeregt, nun auch „Mein
Kampf“ las, benutzte die Ruhepause, die Methode der
Selbsterziehung gegen die Neuen anzuwenden. Das Opfer, das
er aussuchte, hieß Voigt, Munitionskanonier an Geschütz
Anton. „Dieser Voigt“, erklärte Wolzow, „ist der einzige von den
Neuen, der sich nicht freiwillig zur Wehrmacht gemeldet hat.
Dem werde ich kriegerische Tugend beibringen.“ Holt und
Gomulka machten nicht mit. So zog Wolzow mit dem
verwilderten Vetter eines Nachts zur Baracke Anton, wo Voigt
mit dreiundzwanzig anderen Luftwaffenhelfern in der großen
Stube schlief. Eine solche Übermacht hätte sich erfolgreich zur

218
Wehr setzen können, aber man ließ Voigt im Stich und schaute
zu, wie Wolzow in die Stube einbrach. Voigt machte Anstalten,
sich zu verteidigen, aber er wurde aus der Baracke geschleppt
und kopfüber ins Löschwasserfaß gesteckt. In der nächsten
Nacht goß ihm Wolzow einen Eimer brackigen Löschwassers
ins Bett. Dann erfuhr Gottesknecht von der Sache und verbot
Wolzow jede weitere Mißhandlung bei Strafe.
An einem klaren, heißen Junitag langweilte sich Holts Klasse
im Geschichtsunterricht. Holt blickte sehnsüchtig durch das
weitgeöffnete Barackenfenster. Jetzt am Fluß in der Sonne
liegen! träumte er. Die Klasse döste vor sich hin. Nur Wolzow,
wie immer im Geschichtsunterricht, war bei der Sache und
erklärte die Schlacht bei Cannae. Da schrillte die Alarmglocke.
Mit nackten Oberkörpern nahm man an der Kanone ein
Sonnenbad. Die Luftlagemeldungen sprachen von einzelnen
Aufklärern. Auf der Befehlsstelle erhob sich das übliche
Geschrei: „Motorengeräusch Richtung neun!“ Kutschera nahte
mit seinem Hund. Die Geschütze schwenkten die Rohre nach
Westen. „Flugzeug neun!“ schrie der Flugmelder am
Flakfernrohr. Der Hauptmann brüllte vom Acker her: „Frage
Typ!“ Es war eine Lockheed P 38 F Lightning, die in
zehntausend Meter Höhe über den Himmel jagte.
Holt blickte in das strahlende, blendende Blau, wo die
unsichtbare Maschine einen kurzen Kondensstreifen hinter sich
herzog. Wolzow beschattete mit dem Ladehandschuh das
Gesicht und setzte sich dann verärgert auf einen Holm, denn an
Schießen war nicht zu denken. Dennoch gab das
Kommandohilfsgerät Richtwerte durch, Seiten- und
Höhenrichtkanonier meldeten eingestellt. Aber die Zünderwerte
blieben weit über Bereich. Der Kondensstreifen verwehte in der
Ferne. Auf der B 2 erhob sich von neuem Unruhe.
Die Richtleute am Entfernungsmesser, Ebert und Nadler,
hatten die Maschine im Gesichtsfeld behalten und sahen sie
nach Osten abfliegen. Als Dusenböker, der Entfernungsmesser,
den Blick von der vierundzwanzigfachen Meßoptik löste, wurde
als winziges Pünktchen eine zweite Maschine im Sehfeld
erkennbar.

219
„Herr Wachtmeister“, rief Nadler, „da ist... die Lightning stürzt
ab!“ brüllte er. Dusenböker preßte wieder die Augen an die
Okulare. „Quatsch“, sagte Kutschera. Dusenböker bestätigte:
„Es stimmt...“ Es war eine Sensation. Kutschera stieß Nadler
beiseite und beugte sich über die Gläser, rieb sich die Augen
und sagte: „Ihr Heinis, den Tropenkoller habt ihr!“ Auf der
Befehlsstelle trat wieder Ruhe ein.
„Eine Lightning in zehntausend Meter Höhe abschießen, wer
soll denn das gewesen sein?“ fragte Wolzow. Der vorsichtige
Gottesknecht ließ bei der Untergruppe anfragen, aber auch dort
wußte man nichts.
Die Feuerbereitschaft wurde aufgehoben. Kutschera, wie
immer, wenn er nicht zum Schießen gekommen war, fing auf
der B 2 zu schimpfen an: Die Disziplin sei lasch, die Flugmelder
pennten, dieser Nadler fresse Bonbons im Dienst! Schon
wurden die ersten Luftwaffenhelfer zehn Runden um die B 2
gejagt. „Und den Brüdern an den Kanonen, denen werd ich...“
Aber da rief, da kreischte der Flugmelder am Flakfernrohr:
„Flugzeug drei!!“ Dann deutete er nach oben. „Dort!“ Kein
Motorengeräusch war zu hören. Alles starrte verblüfft zum
Himmel. Kutschera rief: „Frage Typ!!“ Endlich schwenkten
Entfernungsmesser und Kommandohilfsgerät herum. „Frage
Typ!“ brüllte Kutschera. Der Flugmelder antwortete nicht. Die
Geräteführer meldeten: „Ziel aufgefaßt!“ Kutschera brüllte außer
sich: „Frage Typ, Mensch, wird’s bald!“ Dusenböker hob den
Blick von der Meßoptik. „Keine Ahnung, Herr Hauptmann!“ Der
Flugmelder stammelte: „Das... ich...“ Dann fing er an:
„Grobansprache Eindecker, ohne Motor, ohne Höhenleitwerk,
ohne Fahrwerk...“ – „Sind Sie besoffen?“ dröhnte Kutschera.
„Ja, seid ihr denn alle schwachsinnig!“ Gottesknecht hielt ihm
das Glas hin. „Die Maschine ist unbekannt.“ - „Also dann“,
schrie Kutschera, „Feuer frei!“ Ein kleines, silberglänzendes
Flugzeug zog am Himmel lautlose Kreise.
„Fliegeralarm... Flugzeug sechs!“ gellte es an den
Geschützen. „Schießen mit Kommandohilfsgerät!...
Gruppenfeuer!“ und: „Gruppe!“ Die Abschüsse schmetterten,
Rauch wehte über die B 2 hinweg. Aus dem Keller brüllte
jemand: „Feuerverbot von der Untergruppe! Jäger am Feind!“ –

220
„Wo gibt’s denn so was!“ rief Kutschera, während am Himmel
dumpf die Granaten detonierten. Da schrie Dusenböker: „Herr
Hauptmann, die Maschine hat deutsche Hoheitsabzeichen!“
Es gab niemanden in der Batterie, der jetzt nicht zum Himmel
emporblickte, auf das Flugzeug, dessen Lautlosigkeit
unheimlich wirkte. „Noch eine Gruppe“, sagte Wolzow, „und er
war runtergekommen!“ Die Maschine, nach einer letzten
Schleife, glitt nach Süden davon.
„Das ist der Jäger, der die Lightning abgeschossen hat!“
Ziesche sprach als erster von einer „neuen Waffe“. Am
Nachmittag rannte Wolzow von der Schreibstube zur Baracke
und zog sich rasch die Ausgehuniform an. Ein Telefonanruf
hatte die Flugmelder und Geräteführer aller Batterien zur
Untergruppe befohlen. Wolzow lief natürlich mit. In einer Wolke
von Bierdunst kehrte er am Abend in die Stube zurück.
Man schlief schon. „Los, raustreten, ihr Penner!“ Er saß auf
dem Tisch und berichtete: „Wir waren auf dem Fliegerhorst.
Dann sind wir alle noch ins Cafe Italia, und die Olle hat ein Faß
Starkbier angestochen, abgesteckt, angesteckt, mein ich.“ –
„Was ist mit der Maschine?“ rief Holt. - „Tolle Sache.“ Es handle
sich um ein neues Jagdflugzeug. „Raketenjäger!“ sagte
Wolzow. „Heißt Me 163. Soll phantastisch schnell sein, über
tausend Stundenkilometer...“ Seine Worte gingen in Geschrei
unter. „Ruhe!“ Der Jäger habe westlich Dortmund tatsächlich
die Lightning abgeschossen. „Der Raketensatz brennt bloß
kurze Zeit, dann muß die Maschine irgendwo bauchlanden. Der
Pilot hat ganz schön geflucht. Hatte nicht mal
Erkennungszeichen mit. Es sollen noch andere neue Typen in
Erprobung sein. Me 262, das ist ein Strahlflugzeug, wie das
funktioniert, das weiß keiner.“
Die Wende des Luftkrieges! dachte Holt. Im Einschlafen sah
er Schwärme der neuen Jäger die Bomber hinwegfegen... Und
ich, dachte er, war oft so wankelmütig und schwach...
Im Cafe Italia saßen am nächsten Tag Luftwaffenhelfer aller
Batterien. Das gestrige Ereignis entzündete die Phantasie. Man
erzählte unglaubliche Geschichten und sagte den neuen
Maschinen die Vernichtung ganzer Bomberverbände nach. Das

221
unvermittelte Ende der Luftoffensive wurde den neuen Jägern
zugeschrieben.
Holt hockte in einem angenehmen Zustand von Schläfrigkeit
auf dem alten Plüschsofa und ließ sich von den Mädchen etwas
über einen Sanitätseinsatz erzählen, auf den sie sich
vorbereiteten. Er hörte nicht zu und überlegte, ob um diese Zeit
Frau Ziesche daheim erreichbar sei. Er ließ die Mädchen sitzen
und lief durch die zerstörten Straßen. Aus den Krupp-Werken
ergoß sich zum Schichtwechsel ein Strom von Menschen. Die
Fabriken sind nicht totzukriegen, dachte er.
Frau Ziesche zeigte sich über seinen Besuch erfreut und hörte
sich geduldig den Bericht über das rätselhafte Flugzeug an.
„Rom hat dein Raketenjäger jedenfalls nicht gerettet“, sagte sie,
und er ärgerte sich. Sie gingen zusammen ins Kino. Der uralte
Kriminalstreifen beeindruckte Holt wenig, aber die Aufnahmen
der Wochenschau verfolgte er mit Interesse. Da waren Panzer
zu sehen, die sich mit Sturmgeschützen herumschlugen.
Draußen empfing sie ein klarer und milder Sommerabend. Der
böige Wind milderte die Hitze. Sie gingen langsam durch die
Straßen einer Villenvorstadt. Nirgendwo Grün, nur Staub und
Ruß, die Luft verraucht und unrein... Holt erinnerte sich an die
uferlosen Wälder, an Berge und Steinbruch. „Wenn man
verreisen könnte, jetzt im Sommer“, sagte er.
Sie sah ihn prüfend von der Seite an, dann lief sie eine Weile
wortlos neben ihm her. „Du warst in der letzten Zeit oft patzig
und ungezogen.“ – „Du mußt das verstehen“, erwiderte Holt.
„Im April, im Mai, es war fast zuviel... Die Nerven...
Außerdem...“ – „Außerdem?“ – „Ich war in einer verdammten
Krise“, sagte Holt. „Jetzt, wo es hinter mir liegt, seh ich erst, wie
zerrüttet ich war. Ich hatte Zweifel an allem. Am Endsieg, an mir
selbst. Ja, ich hab...“ Sie stieß ihn, da er innehielt, ermunternd
mit dem Ellenbogen an. „Ich hab nicht mehr gewußt, ob ich
dich... mag.“
Sie lachte klingend und drückte seinen Arm. „Auf den
Scheiterhaufen mit dem Ketzer!“ Er fragte: „Bist du mir böse?“ -
„Schrecklich!“ sagte sie. „Du wirst feierlich abschwören
müssen!“

222
Die Straßenzüge ringsum lagen in Schutt. Über den Ruinen,
über sattem Unkraut stand friedlich der Abend. „Es ist heute wie
am Anfang, als ich dich kennenlernte“, sagte Holt. „Was hast du
eigentlich gedacht, damals auf der Straße?“
„So fragt man nicht“, antwortete sie. „Du wirst es nie lernen!
Man zwingt eine Frau nicht, über etwas nachzudenken, das
besser ungedacht und unklar bleibt. Frauen wollen nicht
nachdenken über ihr Gefühl.“ - „Warum nicht?“ Sie sagte
nachdenklich: „Warum soll ich mir meiner Schwäche bewußt
werden? Aber du verstehst das nicht. Bei euch ist das anders.
Ein Mann fühlt sich bestätigt in Eitelkeit und Herrschsucht...“ Er
verstand sie nur halb. „Ich hab mich wie ein Sklave gefühlt,
damals.“ – „Mit den Jahren gibt sich das hoffentlich“, sagte sie
lachend. „Die Frau will ja auch ein bißchen Furcht haben vor
dem Mann, sonst wird es langweilig.“
„Wie konnte ich damals ahnen“, sagte er unwillig, „daß du...“ –
„Sprich es nur ruhig aus“, erwiderte sie. „Daß ich als
verheiratete Frau und so weiter, das meinst du doch? Es ist
eben deine Unerfahrenheit. Sonst hättest du gewußt, daß
verheiratete Frauen am leichtesten zu erobern sind.“ Sie setzte,
in einem Tonfall von Trotz, hinzu: „Jede verheiratete Frau ist zu
haben. Jede! Der Mann muß die Frau nur fühlen lassen, daß
Widerstand nutzlos ist.“
Das Gespräch behagte ihm nicht, es erinnerte ihn an all das
Zweifelhafte, Anrüchige in seiner Beziehung zu ihr. Er sagte
ablenkend: „Und doch glaube ich, du würdest es mir sehr
übelnehmen, wenn ich einmal den Kopf gegen dich
durchsetzen wollte!“ - „Weil dein Trotz immer den gleichen
dummen Grund hat!“ rief sie aufgebracht.
„Verstehst du das nicht?“ fragte er. „Kannst du nicht einsehen,
wie schwer es für mich ist, in deinem Leben nur... eine
Randfigur zu sein?“
„Du bist dumm! Du bist auf ein Stück Papier eifersüchtig. Du
wirst nächstens noch meinen Hauswirt hassen, an den bindet
mich nämlich auch ein formeller Vertrag! Wenn du großes Kind
ein wenig erfahrener wärst“, rief sie, „dann würdest du
einsehen, daß höchstens er Grund hätte...“ Sie schwieg

223
unvermittelt. „Ich hab schon viel zuviel gesagt!“ Sie ging
rascher. „Vielleicht lassen sie uns heute einmal zufrieden!“
Tatsächlich verging die Nacht ohne Fliegeralarm. Am frühen
Morgen schlief Holt fest und traumlos. Da weckte Frau Ziesche
ihn unsanft. Er hatte so gründlich Batterie, Krieg und Kanone
vergessen, daß ihn das Wachwerden wie eine Enttäuschung
überkam. „Hör zu!“ rief Frau Ziesche, die Hand am
Lautstärkeregler des kleinen Radios, das auf ihrem Nachttisch
stand.
Holt blinzelte. Aus dem Radio drangen Worte. „... hat der
Feind seinen seit langem vorbereiteten und von uns erwarteten
Angriff auf Westeuropa begonnen... zu ihrem blutigen
Opfergang auf Befehl Moskaus angetreten... gelang dem Feind,
von See her an mehreren Stellen... im Gebiet der Seine-Bucht
starke Luftlandeverbände... Treffer auf
Schlachtschiffseinheiten... Kampf gegen die Invasionstruppen
ist in vollem Gange...“ Sie schaltete ab und schüttelte ihn:
„Wach endlich auf!“ Dann sagte sie: „Da hast du’s!“ Er zog sich
fröstelnd die Steppdecke bis unter das Kinn. „Es wird ein neues
Dieppe geben!“ Nun fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.
„Jetzt versteh ich! Deshalb haben uns die Bomber in Ruhe
gelassen!“
Frau Ziesche schob ihm eine angebrannte Zigarette zwischen
die Lippen. „Nun ist es doch ein Zweifrontenkrieg!“ Er rang noch
mit der Enttäuschung, aber er sagte: „Sei nicht so
pessimistisch!“ Frau Ziesche folgte ihm ins Bad. Er rasierte
sich. Sie steckte sich mit nackten Armen die Haare hoch und
fragte: „Du willst in die Batterie?“ – „Da gehör ich jetzt wohl hin“,
antwortete er.

Günter Ziesche stand vor der Baracke, von ein paar der
Neuen aus Schlesien umgeben. „Nun können wir endlich auch
die amerikanischen Truppen vernichtende Schläge fühlen
lassen!“ Vetter steckte den Kopf mit verwildertem Haar aus dem
Fenster und spottete: „Paß auf, daß die Bomber dich nicht mal
vernichtende Schläge auf den Gehirnkasten fühlen lassen!“
Während des Unterrichts stand Wolzow in der Stube über
seinen Landkarten. Wenige Tage später beugte er sich noch

224
tiefer, noch nachdenklicher über den Tisch. „Die Russen greifen
die karelische Landenge an!“ Ziesche erklärte: „Dieser
russische Angriff in Karelien ist nichts als ein
Schwächezeichen.“ – „In der Normandie“, fuhr Wolzow fort,
„haben sich gestern die beiden Landeköpfe vereinigt!“ – „Um so
besser!“ rief Ziesche. „Da können wir sie in einem Ansturm ins
Meer werfen!“ Der Sprecher, in Ziesches kleinem Radio, sagte:
„Der Sturm hat begonnen. Die Brust hebt sich im Vorgefühl
wahrhaft entscheidender Stunde.“ Wolzow, über seiner Karte,
kratzte sich lange den Kopf.
Zum Nachmittagsappell ließ sich wieder einmal Kutschera
sehen. „Herhörn! Ich hab eine Nachricht, wird heut durch den
Rundfunk kommen, ‘s geht los! Die Stunde der Vergeltung ist
da! Ruhe im Glied! Seit heute morgen liegt London unter dem
pausenlosen Feuer neuartiger deutscher Sprengkörper
schwersten Kalibers.“ Nach einigen Tagen wurden Einzelheiten
bekannt, und der Name: „V 1“.
Holt registrierte Hochgefühl und Niedergeschlagenheit in
jähem Wechsel, ein Auf und Ab seiner Stimmung, das ihn
erschreckte. Die Nachrichten vom Einsatz der neuartigen
Sprengkörper machten die niederdrückenden Meldungen aus
Frankreich vergessen. Als Rundfunk und Zeitungen sich in
optimistischen Meldungen überschlugen, war Gomulka der
einzige, der darüber die Hiobsbotschaft zur Kenntnis nahm:
„Die Amerikaner sind aus dem Landekopf Cotentin
herausgestoßen.“ Tags darauf wurde der Fall von St. Sauveur
gemeldet.
Mit voller Wucht setzten nun wieder die britischen und
amerikanischen Luftangriffe ein. Rasch hintereinander flogen
die Amerikaner Tagesangriffe auf verschiedene Industriewerke
der engeren Umgebung, die Briten Nachtangriffe auf
Oberhausen, Duisburg und Gelsenkirchen. Eines Nachts
wurden die Gelsenkirchener Hydrierwerke getroffen und
brannten tagelang. Schießen und Munitionsschleppen füllte im
alten Rhythmus das Leben der Jungen aus. Die
Luftlagemeldungen berichteten nun immer häufiger von
lebhafter Feindtätigkeit in weit östlich liegenden Räumen. Die
Zahl der Einflüge und der eingesetzten Maschinen nahm zu.

225
Die Luftkämpfe am Tag ließen langsam nach, die Stunde kam,
da Wolzow sagte: „Sie haben die Luftherrschaft über dem
Reichsgebiet!“ Eines Nachts schossen sie mehr als hundert
Gruppen; anschließend schleppten sie Munition, bis sie vor
Erschöpfung taumelten. Da war es Gomulka, der in einem
Koller von Wut Ziesche anschrie: „Ich denke, durch ,unsere
verbissene Abwehr’ haben die Bomber den Atem verloren,
was?“
Optimismus und Begeisterung gehörten vollends der
Vergangenheit an, als eine Nachricht, erst als Gerücht
durchgesickert, dann bestätigt, die Jungen in Furcht versetzte:
Nördlich Recklinghausen, auch bei Duisburg und Dortmund,
waren Flakbatterien bombardiert worden. Pfadfinder hatten am
hellichten Tage das Batteriegelände mit Rauchzeichen
abgesteckt und die Bomber in mehreren Wellen ihre Last auf
die Kanonen geschüttet.
„Wir kommen auch dran!“ sagte Gomulka. Holt hatte Angst.
Die Alarmglocke jagte ihm einen Schauer der Furcht über den
Rücken. Erst wenn die Kanonen losdonnerten, wurde er
ruhiger. Ich muß die Angst unterkriegen, ich muß! Nach einiger
Zeit sagte er sich: Ich werde nicht schlimmer versagen als alle
anderen. Auch die anderen haben Angst.
Ziesche hörte dreimal wöchentlich die Kommentare Hans
Fritzsches und versuchte anschließend, die Jungen mit neuen
Argumenten von besserer Führung und kommender Stunde
aufzupulvern. Wolzow stand unterdessen nachdenklich über
der Karte. „Großoffensive im Osten“, sagte er. „Männer, da ist
was los!“ Seine Gelassenheit wurde Holt unheimlich.
Ziesche hatte Ausgang, Rutscher und Vetter spielten mit
Kirsch in der Kantine Skat. Wolzow holte seine Landkarten aus
dem Spind. Holt sprang in einem plötzlichen Entschluß vom
Bett und fragte mit gespielter Gleichgültigkeit: „Was gibt’s
Neues?“ Gleich war auch Gomulka da.
„Es sieht ernst aus!“ sagte Wolzow. „Die Halbinsel Cotentin ist
in amerikanischen Händen.“ Er faltete die Karte von Frankreich
auseinander. Holt verfolgte die Zirkelspitze, mit der Wolzow nun
auf Cherbourg tippte, und sagte erleichtert: „Das ist die

226
Halbinsel Cotentin? Aber das ist ja nur ein ganz kleines Stück
von Frankreich!“
„Es ist immerhin ein strategischer Raum“, erklärte Wolzow.
„Jetzt können sie sich einen großzügigen Aufmarsch leisten.
Doch das alles ist noch recht harmlos, wenn man’s mit der
Ostfront vergleicht.“
„Sieht’s dort so böse aus?“ fragte Holt bedrückt. Wolzow
schnob durch die Nase. Er legte die Karte von Osteuropa auf
den Tisch. Da öffnete sich die Tür. Gottesknecht trat ein.
„Weitermachen!“ Er sah sich prüfend in der Stube um. „Die
Herren bei der Lagebesprechung, wenn ich mich nicht irre? Na,
Wolzow, auf Ihre Lagebeurteilung bin ich gespannt! Schießen
Sie los.“
Wolzow schaute Gottesknecht mit schräggelegtem Kopf an,
als wolle er sagen: Du hast mir gerade noch gefehlt! Dann
meinte er zögernd: „Aber ich muß mir das alles rekonstruieren,
das ist gar nicht so einfach.“ – „Rekonstruieren? Wie meinen
Sie das?“ – „Na, eben zusammenbasteln. Der
Wehrmachtsbericht gibt ja keinen Überblick. Da wird hier mal ‘n
örtlicher Einbruch, dort eine Absetzbewegung gemeldet und ab
und zu ein paar Ortsnamen. Bloß die Kommentare im
,Völkischen’ verraten was davon, wie’s wirklich aussieht, da
muß man sich ein Bild von den Geschehnissen
zusammenstückeln.“
„Also stückeln Sie“, sagte Gottesknecht. „Lassen Sie hören!
Aber wenn Sie Unsinn reden, gibt’s Mangelhaft!“
„Bis zum 20. Juni“, begann Wolzow, „stand die deutsche Front
etwa folgendermaßen: von der Schwarzmeerküste westlich
Odessa über Jassy zu den Karpaten, nach Norden über Brody
bis zum Pripjet. Dort schloß sich der Mittelabschnitt als ein
dicker Bogen an, der etwa dreihundert Kilometer nach Osten
verlief, den Pripjet entlang, dann nordöstlich bis Rogatschow
und Shlobin, nun im Bogen über den Dnepr nach Norden und
zurück aufs westliche Dnepr-Ufer, um Witebsk vorgebuchtet,
dann ein Stück zurück nach Westen bis Polozk. Dort schloß
sich der Nordabschnitt an, dessen Front steil nach Norden bis
zum Peipus-See und weiter bis Narwa führte.“ Er zeigte den
Frontverlauf auf der Karte. „Wenn ich mir diesen Frontbogen

227
angeschaut habe, ist mir ganz komisch geworden, weil man ja
in jedem Lehrbuch der Strategie und Taktik nachlesen kann,
daß solche Frontbögen fast immer ins Auge gehn, siehe
Stalingrad! Die riesige Südflanke im Mittelabschnitt, hier, wo sie
von Westen dreihundert Kilometer lang nach Osten läuft, ist
zwar durch die Pripjet-Sümpfe gedeckt, wo im Sommer kein
Mensch Krieg führen kann. Trotzdem ist dieser Bogen mit
seiner riesenlangen Front ein weiches Ei, wenn ich mal so
sagen darf.“
„Sie dürfen.“
„Tatsächlich haben die Russen nun diesen Frontbogen
angegriffen, an vier Stellen, zwischen dem Einundzwanzigsten
und Dreiundzwanzigsten, hier, beiderseits Witebsk, dann hier
bei Orscha, bei Mogilew und schließlich beiderseits Bobruisk.
Der Wehrmachtsbericht sprach schon nach dem ersten
Angriffstag von ,örtlichen Einbrüchen’, die ‚abgeriegelt’ worden
wären. Das hat wohl nur bis zum nächsten Morgen gestimmt.
Nehmen wir als Beispiel die beiden Einbrüche nördlich und
südlich Witebsk: am Einundzwanzigsten begann dort der
Angriff, spätestens am Dreiundzwanzigsten waren die Russen
an beiden Stellen durch die deutsche Front gebrochen, und am
Vierundzwanzigsten müssen sich beide Stoßkeile vereinigt
haben. Daß Witebsk trotzdem noch tagelang im
Wehrmachtsbericht genannt wurde, der übliche Kram mit
schweren Abwehrkämpfen und so, das beweist, daß...“ Wolzow
zögerte.
„Na, was denn?“ fragte Gottesknecht.
„Herr Wachtmeister, wenn die Russen schon im Vormarsch
weit nach Westen sind und östlich davon im Raum Witebsk
schwere Kämpfe gemeldet werden, dann nenne ich das einen
Kessel.“
Schweigen. Gottesknecht riß ein Streichholz an und rauchte.
„Die Falle um Witebsk ist zu“, fuhr Wolzow fort. „Die Russen
stoßen so rasch nach Westen vor, daß mir ganz mulmig ist!
Dasselbe muß sich im Angriffsraum Orscha–Mogilew abgespielt
haben: es hieß ,örtliche Einbrüche’, einen Tag später fallen
Namen von Orten, die viel weiter westlich liegen. Am
schlimmsten aber sieht es hier aus: der Stoß auf Bobruisk muß

228
mit unheimlicher Wucht geführt worden sein. Ich hab besonders
aufgepaßt, wann die Russen nördlich Bobruisk den Dnepr
erreicht haben. Es klingt wie ein Witz, Herr Wachtmeister, aber
die Russen müssen tatsächlich gleichzeitig mit unseren
Divisionen über den Fluß gegangen sein! Jedenfalls gibt es zur
Zeit zwischen Mogilew und Beresino Abwehrkämpfe, während
im Raum Mogilew, Orscha und Bobruisk noch gekämpft wird;
dort scheint der größte Kessel entstanden zu sein.“ Wolzow
legte den Zirkel hin und stützte beide Hände auf den Tisch.
„Orscha ist gefallen, Mogilew und Bobruisk sind abgeschnitten.
In dem tiefen Raum zwischen dem Dnepr und der Beresina
operieren die Russen. Sie müssen jeden Tag die Beresina
erreichen. Offenbar haben sie Bewegungsfreiheit, während im
Norden die Front von Narwa bis Polozk frei in der Luft hängt,
mit offener Südflanke. Die nördlich Witebsk durchgebrochenen
Keile brauchen nur nach Norden einzudrehen, um Polozk zu
umgehen, wenn sie nicht etwas anderes im Schilde führen,
nämlich in einer weiten Umfassungsbewegung den ganzen
Mittelabschnitt bis Minsk einzuschnüren und dabei möglichst
rasch zur ostpreußischen Grenze durchzustoßen.“
Gottesknecht war sehr ernst, als er fragte: „Und was ist da zu
tun?“
Wolzow begann zu grinsen. „Eine Prüfungsfrage für ‘n
Generalstäbler ist das, Herr Wachtmeister! Nach den
klassischen Regeln der Kriegskunst gilt noch immer der Satz,
unter allen Umständen eine Umklammerung durch den Feind
zu vermeiden. Ich würde versuchen, auf der Linie Minsk–Sluzk
eine neue Front aufzubauen.“
Gottesknecht betrachtete lange die Karte; dann sagte er, ohne
den Blick zu heben: „Da käm Ihre neue Front aber schon
verdammt nahe an Ostpreußen heran!“
Wolzow hob die Schultern. „Vor der Linie Dünaburg– Minsk–
Sluzk, da geh ich jede Wette ein, bringt die Russen kein
Mensch mehr zum Stehen!“
Gottesknecht setzte seine Mütze auf, rückte sie umständlich
zurecht und sah Wolzow mit einem dunklen Blick an. „Sie
haben doch Vertrauen zur Führung, Wolzow?“ fragte er.
„Jawohl, Herr Wachtmeister!“

229
Gottesknecht klopfte mit dem Knöchel hart auf den Tisch. „Ich
würde nicht gar zu oft solche ‚Lagebesprechungen’ abhalten!
Ich empfehle Ihnen dringend, in unerschütterlichem Vertrauen
auf unseren Führer zu blicken, besonders immer dann, wenn
Ziesche im Zimmer ist. Haben Sie mich verstanden?“
„Jawohl, Herr Wachtmeister!“
„Großartig! Na, Holt, und Sie? Was hocken Sie denn auf
einmal so traurig in der Ecke?“ Er wandte sich an Wolzow.
„Sehen Sie sich mal Ihren Freund an! Ich bin ja Psychologe
genug, um zu wissen, daß der Holt voller Zuversicht auf den
Endsieg baut, und wenn er jetzt so niedergeschmettert in der
Ecke sitzt, dann bloß, weil ihm wieder mal irgendeine
Weibergeschichte über den Kopf wächst. Aber der Ziesche,
oder so einer, der könnte jetzt auf Holt zeigen und sagen: Der
Wolzow hat ihn moralisch fertiggemacht mit seiner
defätistischen Einschätzung der Lage! Er könnte zum Chef
laufen und eine bildschöne Meldung machen: Der Wolzow
zersetzt die Wehrkraft seiner Kameraden! Und wie das
weitergeht, so mit Tatbericht und allem Komfort, das ist Ihnen ja
bekannt. Sehen Sie, und wir wollen doch unter allen
Umständen vermeiden, daß so was passiert, nicht?“
„Jawohl, Herr Wachtmeister!“
„Na also. Und Sie, Holt, Sie ziehn ein anderes Gesicht, aber
sofort! Sie sind überhaupt ein ganz wankelmütiger Mensch!
Kaum hat Ihnen die V1 ein bißchen die Moral aufgemöbelt, da
genügt ein Blick auf die Karte, und Sie kippen aus den
Pantinen. Schlecht, Holt! Nehmen Sie sich ein Beispiel an
Wolzow, der hat eine geradezu napoleonische Gelassenheit...
Gesundheitlich geht’s Ihnen doch gut, Holt?“
„Jawohl“, sagte Holt, der sich verhöhnt und elend fühlte.
„Das ist immer noch die Hauptsache. Also...“, er wandte sich
zur Tür, „dann haut euch mal bald aufs Ohr, Jungs, wer weiß,
ob ihr heut nacht zum Schlafen kommt. Gute Nacht!“
„Gute Nacht, Herr Wachtmeister!“
Wolzow faltete wortlos die Karte zusammen. Gomulka trat ans
Fenster und blickte in den späten Sommerabend hinaus. Holt
sagte: „Wirklich ein Original, dieser Gottesknecht, nicht?“ Es
klang verkrampft. Er sagte leise und schnell: „Gilbert, auf Ehre

230
und Gewissen: Täuschst du dich auch nicht? Ist es wirklich so,
wie du sagst?“
Wolzow antwortete: „Ich kann mich täuschen. Es kann noch
viel interessanter sein, denn ich hab keine Ahnung, wieviel
Divisionen in den Kesseln stecken und was weiter westlich an
Reserven zur Verfügung steht.“
„Aber da versteh ich nicht, wie du so gleichgültig darüber
reden kannst! Mein Gott, was soll denn werden? Es geht doch
um Deutschland! Bewegt dich das gar nicht?“
„Mich?“ sagte Wolzow erstaunt. „Aber man muß das doch
auseinanderhalten, ob man selbst im Schlamassel drinsteckt
oder ob man die Lage allgemein beurteilt. Hier, an der Karte, da
ist das wie beim Schach, wo man sich als fairer Spieler über
jede schöne Kombination des Gegners freut. Außerdem nützt
das doch nichts, wenn man den Kopf hängenläßt!“
„Ich kann das nicht. Ich muß immer denken: Und wie geht das
weiter?“
„Woher soll ich das wissen? Der Führer wird sich schon was
einfallen lassen! Das ist ja schließlich nicht der erste Krieg, wo’s
mal Rückschläge gibt und doch noch gut endet. Hannibal stand
nach der Schlacht bei Cannae vor dem schutzlosen Rom, da
hätte keiner mehr einen Groschen fürs Römische Reich
gegeben, und dann kam’s doch anders! Oder die Goten, die
sind unter Totila nach Byzanz gerückt, und kein Mensch hätte
sie aufhalten können, und doch hat Narses noch den Krieg
gewonnen.“ Er zählte weitere historische Beispiele auf.
„Friedrich nach Kunersdorf... Das Marnewunder 1914, da haben
die Franzosen genauso dagesessen wie heute wir und haben
gedacht: Die Lage ist mies!“
Die Analogien verfehlten nicht ihre Wirkung. Holt schämte
sich: Ich bin wankelmütig und schwach. Nichts ist verloren,
wenn ein jeder an seinem Posten ausharrt!

11

Es war ein Sonntag im Juli, das schöne Wetter hielt an. Der
Tag war tropisch heiß. Dunst verschleierte den Himmel, über
231
den Werken ringsum lagerte der Rauch der Schlote in grauen
Bänken.
Schmiedling lehnte an der Bunkerwand und erzählte, was er
sich für den Urlaub alles vorgenommen habe, Ziesche horchte
in den Kopfhörer und verfärbte sich. „Mehrere starke
Jagdverbände über Holland! Mit Tiefangriffen muß gerechnet
werden.“ Tiefangriffe? dachte Holt verwundert. Warum nicht
gar!
Wolzow nahm die Warnung ernst. Er schnauzte: „Seit Ostern
gibt’s überall Tiefangriffe! Sepp, Werner, hängt euch an die
Leitung! Nahfeuerpatronen!“ – „Nahfeuer?“ sagte Vetter
erstaunt. „Mach bloß keine Witze!“
Ein paar Minuten verstrichen. Auf der B 2 schrie eine Stimme:
„Motorengeräusch Richtung neun!“ Und schon: „Verband in
neun!“ Fern, aber nicht allzu hoch, zog ein Schwärm
einmotoriger Flugzeuge vorüber. Wolzow streifte die Feldbluse
über den nackten Oberkörper. Das Motorengeräusch schwoll
auf einmal mächtig an. Ziesche schrie mit einer Stimme, die
sich überschlug: „Tiefflieger Richtung neun!“ Holts Herzschlag
setzte aus. Unwillkürlich riß er das Geschütz nach Westen
herum. Eine Woge von Lärm spülte heran. Zwölf Mustang-
Jäger rasten über die Stellung hinweg, stießen erst über dem
Wäldchen im Osten tief herab und feuerten mit Bordkanonen
und Maschinengewehren in die Schrebergärten und
Laubenkolonien. „Neuer Anflug Richtung drei!“ brüllte Ziesche.
Die Mustangs flogen zum zweitenmal sehr tief an; sie hatten die
Batterie entdeckt, lösten ein paar Bomben und schossen mit
Bordwaffen auf B 2 und Geschützstände.
Eine Druckwelle warf Holt gegen die Kanone, Rauch füllte den
Geschützstand, in der Dunkelheit klirrte Stahl, Holz brach...
Fern, undeutlich, überschrie Wolzow das Motorengeheul:
„Werner, verdammt, nach links!“ Eine fremde, entstellte
Stimme: „Volle Deckung!“ Das Dunkel wehte auseinander, eine
einzelne Maschine raste auf den Geschützstand zu, so tief, daß
hinter dem Glas der Kabine das Gesicht des Piloten
maskenhaft heranwuchs. Ein Satz, Holt war im
Mannschaftsbunker. Dort schnallte Wolzow den Helm fest und
schrie: „Die Kanone ist hin! Der Luftvorholer läuft aus! Werner,

232
Christian, Sepp, los... zu Berta!“ Holt sprang hinter ihm her. Der
graue Barackenhaufen am Fahrweg brannte. Neben dem
Geschützstand ein breiter, flacher Trichter. Holt lief.
Motorenlärm, der sich ins Unerträgliche steigerte. Holt warf sich
hin. Wie eine Sturmbö fegte es über ihn hinweg. Er lief und
erreichte den Geschützstand. Dort stemmte Wolzow den
Verschluß auf. Auch Vetter und Gomulka waren da, barhäuptig,
und rissen einen Munitionsbunker auf. Wolzow warf eine
Nahfeuerpatrone ins Rohr. Eine Maschine raste heran, Holt zog
den Kopf zwischen die Schultern. Die Kanone wankte, Wolzow
schrie: „Daneben!“ Holt hatte keinen Einschlag gehört, eine
Rauchwolke trieb über den Geschützstand. „Links, Werner, ja,
so! Weiter runter, Sepp!“ Der Schuß schmetterte, die Kanone
bebte, Holt dachte befreit: Gilbert schießt! Vetter brüllte: „Neuer
Anflug Richtung neun!“ Die Maschine war schon über die
Jungen hinweg, auf dem Erdwall stiebte Dreck hoch. Wieder
zog Wolzow ab, der Schuß krachte. „Feierabend!
Hülsenklemmer!“ Auf einmal war es ganz still. Gomulka
keuchte: „Verflucht... o verflucht!“
Holt erhob sich taumelnd vom Richtsitz. Wolzow spähte über
den Erdwall. Er sagte: „Sie sind weg!“ Und: „Brennt ganz
schön... Bloß die Chefbude steht noch!“ Holt nahm den Helm ab
und befühlte seinen Kopf. Das Feuer knisterte.
Sie traten ins Freie. Die B 2 wimmelte von Menschen. Bei den
Geschützen im Norden rief es langgezogen: „Sa-ni-täää-ter!“
Anton bot ein Bild der Verwüstung. Schmiedling lag
bewegungslos in einer Blutlache. Ein paar der Schlesier
standen verängstigt herum. „Helft doch dem Ziesche!“ rief
jemand.
Die Westwand des Geschützstandes war eingedrückt. Ziesche
lag auf dem Rücken zwischen zwei Holmen, seine Beine waren
bis über die Knie unter dem Erdreich begraben; er lag
bewegungslos, mit offenen, hervorquellenden Augen, sein
Unterkiefer bebte. Sie wuchteten einen Balken der
umgestürzten Holzverschalung hoch und zogen Ziesche hervor.
„Es ist nicht zu glauben! Die Beine sind heil!“ – „Der Balken hat
auf einem Pfahl aufgelegen“, erklärte Wolzow ungerührt, „sonst
hätte er ihm die Knochen zerquetscht!“

233
Sie standen alle um Schmiedling herum, der auf dem Bauch
lag, die Hände in den Schlackebelag des Bodens gekrallt. „Und
mich hat er ,Leiche’ genannt!“ rief Vetter. „Dabei hätte der lieber
auf sich selbst aufpassen sollen!“ – „Halt ‘s Maul“, sagte
Gomulka. Holt stand stumm dabei und sah auf den toten
Schmiedling. Er hat vier Kinder, dachte er.
Ziesche stand unversehrt auf, alle Glieder schlotterten.
„Nervenschock!“ sagte Wolzow. „Das gibt sich!“ –
„Leitungsprobe!“ rief es von der B 2. Die Leitungen waren ohne
Strom. Gottesknecht trat in den Geschützstand. „Verluste?“ –
„Schmiedling tot“, meldete Wolzow, „und Ziesche leicht
beschädigt.“ – „Und das Geschütz?“ – „Der Luftvorholer dürfte
endgültig hinüber sein“, sagte Wolzow. Gottesknecht notierte
und ging.
Vier Tote und elf Verwundete war die Bilanz dieses
Sonntagvormittags. Die Nachrichtenhelferin war in der
Schreibstube umgekommen, verbrannt. Vier Geschütze waren
beschädigt, zwei davon wurden bis zum Abend wieder
einsatzfähig. Anton und Dora mußten in die Werkstatt gebracht
werden. Bei Anton hatte ein Geschoß den Luftvorholer
zerschlagen. Ein Splitter mochte Schmiedling getötet haben.
Dora war von einer Splitterbombe getroffen worden, von der
Bedienung waren zwei Luftwaffenhelfer gefallen und fünf
verletzt. Auf der B 2 war Nadler gefallen.

Am Nachmittag ging der Hauptmann mit Gottesknecht durch


die Stuben. Ziesche lag auf seinem Bett, noch immer mit
zitternden Gliedern. Kutschera stieß die Tür auf, winkte ab und
fragte: „Wie geht’s?“ Sein Blick fiel auf Ziesche, der apathisch
auf dem Strohsack lag. „Wie sehn Sie denn aus, Mensch?“
Gottesknecht flüsterte ein paar Worte, Kutschera fragte: „Wolln
Sie ins Revier?“ Ziesche schüttelte den Kopf. „Nein, Herr
Hauptmann.“ Kutschera nickte befriedigt Sein Blick fiel auf Holt.
„Habt ihr Banditen dem Ziesche nicht eher helfen können?“ –
„Herr Hauptmann“, sagte Holt, „ich hab das alles erst hinterher
gemerkt. Wir sind zu Berta, an was anderes hat keiner
gedacht!“ Wieder nickte Kutschera. „Na, Wolzow, aber ehrlich:
War’s schlimm?“ Wolzow legte den Kopf auf die Seite und sah

234
den Hauptmann an: „Herr Hauptmann! Da gehören ein paar
Zweizentimeterkanonen in die Stellung! Das Nahfeuer hat doch
bloß eine moralische Wirkung!“ – „Klugscheißen kann jeder“,
sagte der Hauptmann und langte nach dem Türgriff.
Gottesknecht sagte: „Ich schick nachher den UvD durch, zur
Leitungsprobe, der Fernsprech-Bautrupp ist schon da.“
Kutschera, schon in der Tür, wendete noch einmal den Kopf.
„Hat jemand ‘n Wunsch?“ - „Waaas?“ rief Vetter. „Na, Herr
Hauptmann, auf das Gemetzel war eigentlich eine Flasche
Schnaps fällig, und der Küchenbulle könnte mal wieder eine
Büchse Rindfleisch rausrücken!“ – „Mensch“, rief Kutschera,
„nischt als Fressen und Saufen im Sinn!“
Holt legte sich auf sein Bett. Er schloß die Augen. Es ist
vorbei, mag es wiederkommen, es war weniger schlimm, als ich
fürchtete. Ich hatte keine Zeit, Angst zu haben. Es ist wohl auch
keine Zeit, Schmerz zu empfinden, wenn es trifft.... Schmiedling
hat ein rasches Ende gehabt. Aber dann schauderte ihn bei
dem Gedanken, hilflos zu liegen wie Ziesche, den Blick zum
Himmel gerichtet, wo die Jagdbomber entlangrasen... das muß
furchtbar sein!
Der Sanitäter brachte Ziesche ein Schlafmittel. Kaum war er
gegangen, warf Ziesche die Tabletten zum Fenster hinaus.
„Richtig“, sagte Wolzow.
Holt dachte: Der Tiefangriff war schlimmer als die Bomben
damals, als Fritz starb. Zemtzki, Nadler... nun sind es schon
zwei aus der Klasse. Und Schmiedling.
Schmiedling, dachte Holt. Da hat er nun solche Angst vor der
Front gehabt, und hier, in der Heimat, erschlägt es ihn.
Vielleicht wäre er draußen am Leben geblieben. Oder sollte er
fallen? War es ihm bestimmt? Wieder dachte er: Schicksal,
Vorsehung... Ist alles Zufall? Schmiedling war mir immer sehr
fremd, ein Mensch aus einer anderen Welt. Was für eine Welt
ist das?
Der UvD riß die Tür auf. „Leitungsprobe, dalli!“ Holt ging mit
Wolzow und Vetter zu Berta. Eine Zugmaschine würgte Anton
aus dem Geschützstand, Ein Kommando Gefangener
schaufelte die Trichter zu, arbeitete an dem verwüsteten
Geschützstand, besserte die Lattenroste aus und räumte den

235
Schutt der verbrannten Baracken fort. Wolzow begann Munition
zu reinigen. „Der Hülsenklemmer war nämlich überflüssig“,
erklärte Vetter. Holt blickte von der Arbeit auf. Vetter war nicht
mehr das dicke, weinende Kerlchen, das sich ewig
zurückgesetzt fühlte. Vetter war groß und stark geworden, roh
und draufgängerisch.
Kutschera ließ tatsächlich Schnaps verteilen und auch
„Rindfleisch im eigenen Saft“. Wolzow öffnete eine Flasche und
hielt sie Ziesche hin. „Heute“, sagte er, „bist du zuerst dran.
Wenn du nicht immer so dußlig quatschen würdest, könnten wir
zwei die besten Freunde sein.“ Ziesche lächelte und trank.
Wolzow hob ihm den Arm samt Flasche: „Bißchen mehr,
Mensch!“ Ziesche verschluckte sich, der Schnaps lief ihm übers
Gesicht und in den Halsausschnitt. „Du bist mir ein schöner
Germane“, spottete Wolzow, „kannst nicht mal saufen!“ Er gab
die Flasche weiter. Holt fühlte den Alkohol brennend in der
Kehle. Ein Schauer lief über den Rücken. Dann breitete sich
wohlige Wärme in ihm aus, Klarheit und Zufriedenheit. Das
Leben ist doch schön! Das Leben ist gefährlich, aber es lohnt
sich. Und jetzt ruf ich Gertie an, dachte er.
Im Keller der B 2, der nun provisorisch als Schreibstube
diente, saß Gottesknecht und las den „Völkischen Beobachter“.
Holt wählte Frau Ziesches Nummer. „Werner? Gott sei Dank!
Hier gehen die tollsten Gerüchte um, ist es denn wahr?“ – Holt
vermied vor Gottesknecht jede Anrede. „Komm zu mir“, sagte
Frau Ziesche. – „Das geht heut nicht.“ – „Ist Ziesche wohlauf?“
fragte sie endlich. „Er hat Glück gehabt“, sagte Holt, und nun
mußte Gottesknecht erraten, mit wem er sprach, „er ist
unverletzt, bloß mit den Nerven runter.“ Er glaubte, die
Verbindung sei unterbrochen. Aber da meldete sie sich wieder:
„Schade, daß du nicht kommen kannst! Laß dich rech bald bei
mir sehen!“ – „Ja. Natürlich.“ – „Und paß auf die! auf, hörst du?“
Sie sorgt sich um mich, dachte er, während er den Hörer auf die
Gabel legte. Er wäre gern zu ihr gefahren nun war ihm der
Sonntag verleidet. Viele Luftwaffenhelfer ließen sich von ihren
Mädchen besuchen. Warum hab ich nicht eine Freundin, mit
der ich mich hier sehen lassen kann?

236
Vetter und Rutscher gaben keine Ruhe, ehe Holt nicht mit
ihnen Skat spielte. Vetter reizte: „Achtzehn...“ Wolzow sagte:
„Das hat mit Klugscheißerei gar nichts zu tun. Wir brauchen
eine Zwozentimeterflak!“ – „Vierundzwanzig?“ wiederholte Holt
unschlüssig. „Ich passe. Meinst du, daß die was nützen
würde?“ Vetter rief: „Vier, sieben, dreißig, drei, sechs...?“ –
„Und ob!“ sagte Wolzow. „Wenn hier eine Vierlingsflak
gestanden hätte, da wären die Fetzen geflogen!“ – „Die hätten
auch eine Vierlingsflak zur Sau gemacht!“ – „Vierzig!“ rief
Vetter. Wolzow sagte brummig: „Aber von den Mustangs hätten
mindestens zwei dran glauben müssen!“ – „Grand!“ sagte
Vetter stolz.
Sie spielten. Wolzow, den „Clausewitz“ vor sich, meinte: „Da
haben sie nun auf der B 2 die beiden MGs, und keiner hat
geschossen!“ Gomulka sagte von seinem Bett her: „Es wäre
auch sinnlos gewesen!“ – „Vierundachtzig, siebenundachtzig,
einundneunzig; Schneider!“ sagte Vetter. „Heute sind fünfzehn
Mann ausgefallen. Ob’s da großen Urlaub gibt?“ Ziesche
brummte von seinem Bett her: „Im gegenwärtigen Stadium des
Krieges ist Urlaub überflüssig!“ – „Kaum kann der Ziesche
wieder den Mund aufmachen“, krähte Vetter, „da quatscht er
dämlich! So was!“ Ziesche schrie bebend: „Ich laß mir diese
Beleidigungen nicht mehr gefallen!“ – „Was willst du denn
machen?“ fragte Vetter. „Du weißt ja genau, daß wir dir nach
Belieben den Popo voll hauen können!“ Aber Wolzow sagte:
„Christian, laß den Ziesche in Ruhe, der gehört jetzt zu uns
alten Kriegern!“
Holt wechselte einen Blick mit Gomulka
Ziesche mußte am Abend doch ins Revier gebracht werden.
Das Gliederzittern wollte nicht nachlassen. „Hoffentlich wird er
nicht so ‘n Schüttler!“ sagte Rutscher. Aber der Sanitäter
erklärte fachkundig: „Der kriegt Prontosil und spurt wieder.“
Wolzow verbrachte den Tag in der Kantine. Am Abend erzählte
er: „Dort sitzen die SS-Leute vom Russenkommando. Die
schweinigeln was weg!“

Nachts dröhnte der Himmel von Bombermotoren. Weit im


Osten fielen Leuchtzeichen. „Dortmund!“ sagte Holt. Er war an

237
Berta Geschützführer. Ringsum schoß Flak. Dann feuerte auch
die 107. Batterie.
Der Lehrer fand am anderen Morgen fast keine Schüler vor.
Holt, Gomulka und Wolzow halfen, Geschütz Anton in Stellung
zu bringen. Der Luftvorholer war geschweißt worden. Die
Kriegsgefangenen schlossen den Geschützstand. Wolzow
befahl Munitionsreinigen. „Ich will so bald keinen
Hülsenklemmer mehr erleben!“ Sie zogen die Hemden aus und
arbeiteten. „Hier an der Kanone ist das Leben noch am
erträglichsten“, sagte Holt.
Am Nachmittag wurde Gefechtsschaltung befohlen. Die
Luftlagemeldungen nannten Ludwigshafen, Mannheim und
Schweinfurt. Weitere Bomberverbände flogen über die Alpen in
den süd- und südostdeutschen Raum. Am späten Nachmittag
lag Holt übermüdet auf seinem Bett. Gomulka steckte den Kopf
durch die Tür und rief ihn heraus.
Er war aufgeregt. „Schau dir das an!“
Beim Kugelbaum arbeiteten die Kriegsgefangenen an einem
Trichter. Der SS-Posten stieß mit dem Kolben seines
Karabiners nach einem der Gefangenen, stieß ihn zu Boden
und trat ihn mit Füßen.
Holt lief in die Stube zurück, wo Wolzow mit Vetter und
Rutscher beim Kartenspiel am Tisch saß. „Gilbert! Draußen
schlägt ein SS-Mann die Gefangenen!“
„Na und...?“ fragte Wolzow gedehnt. „Was gehn denn mich die
Russen an!“
Ja. Was gehen uns die Russen an? „Wir sollten uns das nicht
bieten lassen, Gilbert.“ – „Jetzt laß mich endlich mit diesem
Kroppzeug zufrieden!“ schimpfte Wolzow. Aber Holt rief: „Du
hast mir einmal geschworen, wenn ich dich um was bitte...“
Worauf laß ich mich ein?
Die Sache paßte Wolzow nicht. „Mit dem Burschen wirst du
doch allein fertig!“ Holt wußte nun ganz klar: Es ist Wahnsinn!
„Gib mir einen General zum Onkel, und ich brauch keinen
andern.“
Wolzow zögerte noch immer. Dann wurde er wütend. Er
knallte die Karten auf den Tisch und sah Holt böse an.

238
„Langsam ist mir egal, mit wem ich mich prügel.“ Holt sah, wie
unlustig Wolzow zu seinem Wort stand.
Vetter riß das Fenster auf. Sie schauten hinaus. Der
mißhandelte Gefangene lag noch immer am Boden. Die
anderen schaufelten. Der Posten hielt sich ein paar Meter
abseits. Wolzow stapfte über den Acker und rief: „Mensch,
vielleicht benimmst du dich hier ‘n bißchen zivilisiert!“
„Das geht schief!“ flüsterte Gomulka.
Man konnte nicht verstehen, was der Posten antwortete, hörte
aber Wolzow schreien: „Wer ich bin? Ich bin der Oberhelfer
Wolzow! Genügt das?“ Wieder sagte der Posten etwas, trat
einen Schritt zurück und hob den Karabiner, während Wolzow
schimpfte: „Drisch die Iwans im Lager! Aber nicht in unserer
Batterie!... Du!“ schrie er, sprang zu dem Posten hin und faßte
ihn an der Bluse: „Was willst du mit der Knarre? Bist du
verrückt? Nächstens schießen Deutsche auf Deutsche!“ Er
schüttelte den Posten und ließ ihn dann einfach stehen.
Er setzte sich wortlos wieder an den Tisch und nahm seine
Karten auf. „Schiß hat er gehabt!“ sagte Vetter. „Halt ‘s Maul!“
rief Wolzow. Dann fuhr er Holt an: „Das war das erste und letzte
Mal, daß ich mich von dir in so was hineinziehen lasse! Du mit
deinen verrückten Ideen! Viel zu weich bist du!“ Holt fuhr
herum: „So! Willst du mir die Freundschaft aufkündigen?“ Er
schrie: „Dann sag’s doch offen! Meinst du, ich furcht mich vor
dir?“
Wolzow blickte auf Holt und sagte verblüfft: „Du bist wohl
verrückt! Ich prügel mich doch nicht mit dir!“ – „Einigkeit ma-ma-
macht stark!“ sagte Rutscher. Wolzow rief: „Du stotterst ja
wieder, Mensch, du mußt dir noch mal die Mandeln
rausnehmen lassen!“ Das Gelächter wirkte versöhnend.

Die Nacht am Geschütz war lang. Kutschera hatte Kurzurlaub.


In der Batterie residierte Gottesknecht. Während des
Schulunterrichts saßen die Jungen dann schlafend auf ihren
Schemeln. Der Lehrer las mit monotoner Stimme aus einem
Buch vor.
Mitten im Unterricht holte der UvD Wolzow auf die
Befehlsstelle, die immer noch als Schreibstube diente. Holt fuhr

239
aus dem Halbschlaf empor und wechselte einen Blick mit
Gomulka. Zehn Minuten später ging abermals die Tür.
Gottesknecht winkte Holt.
Holt hatte Gottesknecht noch nie so ernst gesehen, so
sorgenvoll und verfallen. Der erste Abend fiel ihm ein. Damals
hatte Gottesknecht das Gesicht eines müden, gealterten
Mannes gezeigt. Heute sah er verzweifelt aus.
„Holt, kennen Sie Wolzows Onkel, den General? Wir müssen
sofort etwas unternehmen. Wolzow ist eben von der Geheimen
Staatspolizei abgeholt worden.“
Holt nahm die Worte hin wie einen Schlag. Unsinnige Angst
faßte ihn. „Ich konnte nichts tun“, hörte er Gottesknecht sagen.
„Ihr untersteht ja nicht einmal der Militärgerichtsbarkeit, so
verrückt das ist. Kriegsrechtlich seid ihr Zivilisten. Das
erleichtert andererseits eine Intervention von oben.“ Im Keller
der B 2 hielt ein Obergefreiter Telefonwache. Gottesknecht
schickte ihn hinaus, ließ sich von der Untergruppe eine
Amtsleitung geben und meldete ein Blitzgespräch an. Er rief
abermals die Untergruppe: „Hör mal, Kleine, ich hab Blitz Berlin
verlangt, leg das sofort in die Hundertsieben!“
Holt fand keinen klaren Gedanken. Schließlich fragte er
mühsam: „Und weswegen...“
„Tun Sie doch nicht so!“ fuhr Gottesknecht ihn an. „Das wissen
Sie doch am besten! Ich kenn den Wolzow, der hätte keinen
Finger gerührt. Sie stecken dahinter, Holt, kein anderer!“
„Herr Wachtmeister, ich...“
„Halten Sie den Mund! Sie haben Ihrem Freund einen
schlechten Dienst erwiesen!“ Gottesknecht war aufgebracht wie
noch nie. „Wenn das Theater wenigstens einen Sinn gehabt
hätte! Aber wegen der Russen mit der SS anzubinden, das ist
doch sinnlos! Was haben Sie sich bloß dabei gedacht?“
„Mir ist das alles erst hinterher eingefallen“, sagte Holt
kläglich. Mitleid ist Schwäche, dachte er. Mit uns haben die
Jagdbomber am Sonntag ja auch kein Mitleid gehabt! Daß mich
der Gilbert bloß nicht verrät!
Das Telefon summte, Gottesknecht verzerrte das Gesicht vor
Konzentration. „Bitte einen Augenblick, Herr Oberst!“ Er reichte

240
Holt den Hörer und flüsterte: „Sehn Sie zu, daß Sie den General
persönlich an den Apparat bekommen!“
„Herr Oberst?“ rief Holt mit heiserer Stimme. „Hier spricht
Luftwaffenoberhelfer Holt. Dürfte ich bitte den Herrn
Generalleutnant Wolzow sprechen? Es handelt sich um seinen
Neffen!“
„Gefallen?“ fragte eine scharfe Stimme.
„Nein, Herr Oberst. Aber es ist dringend!“
Fern in der Leitung klang ein Besetztzeichen. Holt sagte leise:
„Er holt ihn.“ Gottesknecht flüsterte hastig: „Sagen Sie, er hat
sich das nur verbeten, weil’s unmittelbar vor der Baracke war!
Vielleicht hat’s ihn beim Schlafen gestört oder so! Sagen Sie, es
ist ein Mißverständnis!“
Am anderen Ende der Leitung wurden Schritte laut, eine
ruhige Stimme sagte: „Wolzow. Was ist los?“ Holt erzählte
stockend, so gut es ging. Am anderen Ende schrie es: „Ich muß
schon sagen, daß ich das Theater mit euch Rotzjungen
langsam satt habe!“
„Herr General“, sagte Holt verzweifelt, aber der
Generalleutnant schrie wütend: „Wie stellen Sie sich das vor!
Bin ich der liebe Gott?“ Dann klang die Stimme ruhiger: „Ich
werde sehen. Mahlzeit.“ Es knackte. Aus, vorbei. Holt wischte
sich den Schweiß von der Stirn. „Gelsenkirchen, sprechen Sie
noch?“ Holt legte den Hörer auf.
„Was hat er gesagt?“ fragte Gottesknecht ungeduldig. Er
lachte kurz. „Böse? Das glaub ich!“ Erst jetzt wurde Holt völlig
klar, was geschehen war. Wenn Wolzow ihn als Anstifter
preisgab, dann holten sie auch ihn, und kein Generalsonkel half
ihm aus der Schlinge.
„Wie bring ich das bloß dem Chef bei!“ sagte Gottesknecht.
„Und Sie, Holt, was machen wir, wenn die Sie auch noch
holen?“
„Herr Wachtmeister“, sagte Holt, und er raffte allen Willen
zusammen, trotz seiner Angst eine einigermaßen gute Figur
abzugeben, „ich bitte Sie, Tatbericht einzureichen, daß... ich der
Anstifter gewesen bin!“ Er hoffte inbrünstig, daß Gottesknecht
diesen Vorschlag ablehnen würde.

241
„Sie sind ein Idiot!“ sagte Gottesknecht. „Unüberlegt und
dumm, Holt, das ist ein bißchen viel! Jetzt kommen Sie sich
wohl mächtig edel vor, bei soviel teutonischer Aufrichtigkeit,
was? Sie wären imstande und machen aus einem
Dummejungenstreich eine Verschwörung, mit Anstiftern,
Hintermännern und Statuten. Das war und bleibt ein
Dummerjungenstreich, verstehen Sie? Der Wolzow prügelt sich
fürs Leben gern, das weiß hier jeder. Er prügelt sich mit allen,
also zufällig auch mal mit einem SS-Mann. Anlaß? Braucht er
keinen. Er prügelt sich aus Sport. Dabei bleiben wir, Holt! Es
hat keinen Anlaß gegeben! Den Wolzow ärgert manchmal die
Fliege an der Wand, und dann sucht er Händel. So war es auch
gestern.“
„Jawohl, Herr Wachtmeister!“
„Merken Sie sich das, wenn der Chef Sie fragt oder ein
anderer. Was mach ich mit Ihnen?“ Er überlegte. „Sie
verschwinden. Wenn man nach Ihnen fragen sollte, sag ich, Sie
haben Urlaub. So gewinnen wir Zeit, bis sich der General
einschaltet. Morgen früh sind Sie wieder hier. Bewegen Sie sich
ein bißchen vorsichtig. Warten Sie am Geschütz Anton auf
mich, ich sag Ihnen dort Bescheid, wie die Dinge liegen.
Verschwinden Sie.“
„Oberhelfer Holt meldet sich ab auf Nachturlaub!“
„Wer weiß noch von der Sache?“
„Gomulka, Rutscher und Vetter.“
Gottesknecht schüttelte den Kopf, als könne er das alles gar
nicht fassen.

Holt zog sich um und lief dann durch den Wald zur
Straßenbahn. Aber er ging zu Fuß. Ein Glück, daß es Gertie
gibt! Er läutete bei ihr an. Doch niemand meldete sich. Er setzte
sich in einem Lokal abseits in eine Ecke. Vielleicht fahnden sie
schon nach mir!
Geheime Staatspolizei, Gestapo, ein geläufiges Wort. Die
Vorstellung, die sich mit diesem Wort verband, war vage und
unklar. Holt erinnerte sich, wie Knack im Geschichtsunterricht
den Charakter aller nationalsozialistischen Organisationen
erläutert hatte, auch Wesen und Aufgabe der Geheimen

242
Staatspolizei. Holt bemühte sich, einige dieser Definitionen in
seinem Gedächtnis wachzurufen. Die Geheime Staatspolizei ist
der unerbittliche Wächter über die innere Sicherheit des
Reiches, oder so ähnlich. Das verjüngte deutsche Volk schützt
seine rassische Grundlage, seine Einigkeit und Kraft hart und
rücksichtslos gegen alle Anschläge des Weltjudentums, und es
bedient sich hierzu der SS und der Geheimen Staatspolizei.
Oder: Die Gestapo ist der Arm des Führers, der unbarmherzig
allen Feinden des Reiches das Handwerk legt. Oder: Hätte es
1918 schon eine Gestapo nationalsozialistischen Gepräges
gegeben, so würde die Revolution der Zuhälter und Deserteure
brutal im Keim erstickt worden sein...
Jetzt erst fiel Holt auf, daß jede dieser Definitionen mit einem
Beiwort wie „unbarmherzig“, „brutal“ oder „rücksichtslos“
versehen war, was den Begriff „Geheime Staatspolizei“ mit dem
Geruch des Schrecklichen umgab. Womit hab ich angebunden!
Was hab ich herausgefordert! Wie soll das enden! Immer neue
Erinnerungen tauchten in seinem Bewußtsein auf, von weit her,
gewaltsam aus dem Gedächtnis getilgt: „... Ruths Vater ist gar
nicht wieder nach Hause gekommen, und niemand weiß, wo er
jetzt ist...“, das hatte Marie Krüger erzählt, „und niemand weiß,
wo er jetzt ist...“ – „Im Generalgouvernement bringen sie die
Juden zu Hunderttausenden um, die SS...“, das war Gertie. Und
der alte Mann in seinem muffigen Zimmer: „...tötet die SS heute
Hunderttausende von Menschen.“
Eine Welt des Grauens tat sich auf.
Er sprang auf, warf einen Geldschein auf den Tisch und trat
ins Freie. Er lief in eine Telefonzelle. Sie war außer Betrieb. Er
rannte planlos durch zerstörte Straßen, bis er ein Postamt fand.
Endlich meldete sich Frau Ziesche. „Ich komm eben nach
Hause, ich war bei Günter im Revier... Was gibt’s? Wo sprichst
du?“ Er sagte: „Ich kann heut nicht in die Batterie zurück, erst
morgen früh... Bitte, darf ich bei dir bleiben?“ Sie lachte. Er
begriff nicht, warum sie so lachte. „Komm schon!“ Befreit
hängte er den Hörer auf. Fürs erste war er geborgen.
Sie empfing ihn, nahm ihm den Stahlhelm ab und schob, als
sie ihn ins Zimmer geleitete, gutgelaunt ihren Arm unter den
seinen. „Was ist das für eine neue Mode?“ sagte sie. „Meinst du

243
wirklich, du mußt Gruselgeschichten erfinden, wenn du bei mir
bleiben willst?“ Jetzt wurde ihm klar, warum sie vorhin so
gelacht hatte, und er sagte unwillig: „Du irrst dich. Ich bin in
einer schlimmen Situation!“
Sie hörte sich an, was er erzählte, und während sie zuhörte,
gefror ihr Gesicht. Noch ehe er fertig war, erhob sie sich, stellte
das Radio ab und entzündete in nervöser Hast eine Zigarette.
„Und was hast du damit zu tun?“ - „Ich hab Wolzow angestiftet“,
sagte er.
„Bist du denn nicht bei Trost?“ sagte sie erregt. „Wie kannst du
so etwas tun?“ Er blickte ihr in das blasse, feindselig
verschlossene Gesicht, tief enttäuscht. „Du hast recht“, sagte er
müde. „Ich weiß, daß es nicht richtig war. Aber Verständnis
solltest du eigentlich dafür haben.“
„Nein!“ sagte sie scharf. „Da täuschst du dich gewaltig in mir.
Ich bin eine deutsche Frau! Für so was habe ich nicht die Spur
Verständnis!“
„Was denn, was denn“, sagte er fassungslos. „Wer hat mich
denn konfus gemacht mit ‚russischer Seele’?“ – „Ach...“, sagte
sie gedehnt und sah ihn mit einem unbeschreiblichen Ausdruck
an. „Jetzt soll ich wohl an diesem Wahnsinn schuld sein?“ –
„Jawohl, du!“ rief er, außer sich vor Zorn. „Streng dich nur ein
bißchen an und erinnere dich!“
„So nicht, mein Lieber“, sagte sie leise, aber drohend. „So auf
gar keinen Fall! Du möchtest mich wohl in die Sache
hineinziehen, ja? Gib dich keinen Illusionen hin, ich habe mehr
Rückgrat als du!“ Sie beugte sich über den Rauchtisch, das
entstellte Gesicht ihm zugewendet: „Treib mich nicht so weit,
daß ich Ziesche gegen dich zu Hilfe rufen muß!“
Holt fühlte, wie ihn die Beherrschung verließ. Er wollte Frau
Ziesche anschreien. Aber da erfaßte ihn verzweifelte
Schwäche. Apathisch saß er im Sessel. War also Geschwätz,
was sie von „russischer Seele“ erzählt hat, dachte er, hat sie
gar nicht ernst gemeint...
„Such die Schuld erst einmal bei dir“, sagte Frau Ziesche, „bei
den Einflüsterungen deines sauberen Herrn Vaters, bei deiner
persönlichen Laschheit, der undeutschen Toleranz...!“

244
Das ist allerhand! dachte Holt empört, und nun wurden auch in
ihm gemeine Gedanken hochgespült. „Drohen...“, sagte er, „mit
deinem Mann drohen ist sinnlos! Du denkst nämlich gar nicht
daran, ihn gegen mich auszuspielen, ich könnte ihm immerhin
ein paar... interessante Einzelheiten aus deinem Leben
erzählen.“ Das war deutlich. Sie stieß nervös die Zigarette in die
Aschenschale. Er sah mit Genugtuung, daß er die rechte Tonart
gefunden hatte.
„Du entpuppst dich ja in einer netten Weise“, sagte sie. Er fiel
ihr ins Wort: „Ich hab nicht zu drohen angefangen!“
Sie schwiegen beide. „Ich hab gedacht, du hilfst mir“, sagte er,
„stehst mir bei... Aber du bist ja so unbeschreiblich falsch,
daß...“ Jetzt fiel sie ihm ins Wort: „Du hast kein Recht, so mit
mir zu sprechen!“
„Nein?“ fragte er. Zum erstenmal im Leben war er zynisch: „Da
möcht ich wissen, was man noch anstellen muß mit dir, eh man
dieses Recht hat!“ Das traf sie wie ein Schlag ins Gesicht.
„So!“ sagte er und stand auf. „Ich geh!“ Er hatte keine Freude
mehr daran, sie beschimpft zu haben, er empfand weder
Scham noch Genugtuung, er fühlte in diesem Augenblick nur
Gleichgültigkeit und dahinter dunkel und drohend die Angst. Auf
dem Korridor konnte er seinen Stahlhelm nicht finden. Als er ihn
schließlich auf einem Korbstuhl liegen sah, öffnete sich die
Wohnzimmertür; Frau Ziesche war bleich, und die dunklen
Augen glühten in dem blassen Gesicht. Leise, doch sehr
deutlich sagte sie: „Du unverschämter Kerl wirst dich jetzt sofort
bei mir entschuldigen!“ Er schaute sie ein wenig verwundert an
und kam nicht los von ihrem Blick. Er sagte: „Es tut mir leid.“ Er
faßte ihre Hand. „Verzeih mir.“
„Wolltest du wirklich fort?“ fragte sie später. – „Ja.“ – „Und an
mich hast du nicht gedacht?“ – „Nein. Aber du hättest mir
gefehlt.“ – „Du bist ein dummer, unverschämter Junge“, flüsterte
sie. „Und du bist falsch“, sagte er, noch immer böse. Aber sie
drängte sich gegen ihn. „Jetzt bin ich nicht falsch“, flüsterte sie.
Die Sirene trieb sie hoch.
Voralarm. Während Holt die Uniform überzog, stellte im
Wohnzimmer das Radio an. Starke feindliche Kampfverbände
im Anflug über der deutschen Bucht. Aller Voraussicht nach galt

245
das nicht ihnen. „Wir hätten uns Zeit lassen könne sagte er. Sie
richtete im Wohnzimmer den Teetisch her, nun saßen sie ohne
Licht vor den weitgeöffneten Fenstern. Kurz vor Mitternacht
heulten die Sirenen Vollalarm. „Ich hätte mich doch lieber
anziehen sollen“, sagte sie, noch immer im Kimono. Er
beruhigte sie: „Es sind abfliegende Verbände.“ Zwanzig
Minuten lang zogen die Bomber vorbei. Flak grollte im Norden.
Sie standen am Fenster. Entwarnung! Sie sagte: „Jetzt ruf ich in
der Batterie an und frag nach dir!“ – „Mitten in der Nacht? Frag
lieber nur, wenn sich Gottesknecht meldet, er wird bestimmt
noch auf der B 2 sein!“
Holt brachte sein Ohr dicht an ihr Gesicht; so konnte er
mithören. Gottesknecht meldete sich. „Holt? Wer spricht denn
da? Ach so! Nein, Holt hat Ausgang. Er wird morgen früh zu
sprechen sein. Hier liegen günstige Nachrichten für ihn.“ Frau
Ziesche sagte noch: „Das hört man gern!“ Holt warf sich
aufatmend in einen Sessel.
Am Morgen schob sie ihm ein großes zusammengerolltes Heft
unter den Arm. „Schau dir das an, damit du siehst, für wen du
dich eingesetzt hast.“ Er stopfte die Zeitschrift durchs Koppel
und rückte die Mütze zurecht, sie stellte sich auf die
Zehenspitzen und flüsterte, den Mund an seinem Ohr: „Komm
bald wieder!“
In der Straßenbahn nahm er sich das Heft vor. Vom Titelblatt
grinste ihn eine grauenhafte Menschenfratze an. Darunter
große, fahle Buchstaben: „Untermenschen...“, „IB
Sondernummer“. Viele Seiten lang die gleichen tierischen
Gesichter, mittelalterliche Teufelsmasken, verzerrt, mit
gebleckten Raubtierzähnen. Ab und zu eine kurze,
einprägsame Textzeile: „Das Reich ist bedroht!“ Oder: „Das
Antlitz Judas, lüstern nach deutschem Blute!“

Auf dem Batteriegelände wurden neue Baracken aufgestellt.


Gottesknecht winkte Holt zu sich heran. „Wolzow ist wieder da.“
Er ging neben Holt durch die Feuerstellung. „Es war ein
Mißverständnis, wie ich dachte.“ Holt sagte: „Ich habe Ihnen zu
danken, daß...“ – „Scheren Sie sich zur Hölle!“ rief
Gottesknecht.

246
In der Stube saß Wolzow, frühstückte und erklärte: „Minsk ist
gefallen! Ich hab also recht behalten!“ Als Holt eintrat, rief er
unbefangen: „Wieder im Lande?“ Er räumte Brot und Wurst in
den Spind. „Sepp, Werner, kommt mal mit zur Leitungsprobe!“
Am Geschütz erzählte er. Man hatte ihn mit dem Wagen auf
irgendeine Dienststelle gefahren und dort vor einen
Obergruppenführer gebracht. Wolzow hatte die Anschuldigung,
er habe einen SS-Mann im Dienst bedroht, sogleich
zugegeben. Aber er hatte bestritten, daß dies wegen der
Russen geschehen sei. Es habe sich vielmehr um eine „reine
Privatsache“ gehandelt, davon hatte er sich nicht abbringen
lassen, auch nicht, als man drohte, die Wahrheit gewaltsam aus
ihm herauszuholen. Dann war er in eine Kellerzelle gesperrt,
nach zwei Stunden aber wieder herausgeholt und abermals vor
den Obergruppenführer geführt worden. Inzwischen mußte
schon ein Anruf aus Berlin vorgelegen haben, denn man
behandelte ihn nun wesentlich sanfter. Wenn er den wahren
Grund angebe, warum er den Posten bedroht habe, so könne
er nach Hause gehen. Wolzow hatte sich erinnert, daß die SS-
Leute am Abend vorher in der Kantine gesessen und dort auf
laute und rohe Weise über ihre Mädchen gewitzelt hatten. Dies,
gab er nun als Grund, an. Die Schmähungen der SS-Leute
gegenüber deutschen Frauen seien es gewesen, erklärte er,
die ihn bewogen hätten, sich einige SS-Leute einzeln
vorzuknöpfen, jedoch sei es dann am anderen Morgen bei dem
einen geblieben. Man nahm diese Antwort zu Protokoll, auch
Wolzows Bemerkung, die Anzeige sei ein „hundsgemeiner
Racheakt“. „Na, und dann haben sie mich eben entlassen“,
schloß er seine Erzählung. „Der Obergruppenführer hat mich
noch furchtbar angebrüllt, ich soll meine Rauflust im Zaum
halten, bis ich an der Front bin.“
„Du bist ganz korrekt behandelt worden?“ fragte Gomulka
gespannt. Wolzow sagte: „Ja. Aber im Keller, da haben die ein
paar Typen als Schließer, Mensch, richtige Zähneeinschläger!“
Holt sagte: „Ich hatte Angst, du könntest mich verraten!“ –
„Wenn du wieder so eine verrückte Idee hast, dann such dir
dazu einen andern!“ fuhr Wolzow ihn an. „Von deiner
Humanitätsduselei hab ich genug. Nimm dir ein Beispiel an

247
Ziesche! Wenn’s drauf ankommt, hat der mehr soldatische
Härte als du!“
Kutschera schimpfte am anderen Tag vor versammelter
Mannschaft über „die verdammte Händelsucherei von dem
Wolzow“. Tage später erhielt Wolzow einen wütenden Brief
seines Onkels, darin er und seine Freunde mit groben Worten
aufgefordert wurden, „derartige anrüchige Scherze ein für
allemal zu unterlassen“. Damit war die Angelegenheit abgetan.
Die Julitage reihten sich aneinander, trocken und heiß, dann
diesig und trübe. An einem regnerischen Tag wurde die Batterie
zum zweiten Male von Tieffliegern angegriffen. Eine Kette
Mustang-Jagdbomber stürzte sich auf die Geschütze Dora und
Cäsar. Der Sachschaden war gering. Aber zwei Tote und sechs
Schwerverwundete blieben liegen. Gomulka sagte: „Das ist
alles erst der Anfang. Verlaß dich drauf!“

12

„Holt“, sagte Gottesknecht eines Tages, „verdient haben Sie’s


nicht, aber ich gebe Ihnen einen guten Rat. Reichen Sie sofort
ein Urlaubsgesuch ein, Sie und Wolzow, auch Gomulka, ehe es
zu spät ist! Wie’s mit unserer Mannschaftsstärke aussieht, das
wissen Sie. Noch ein paar Ausfälle, und mit Urlaub ist’s vorbei!“
Über dem Ruhrgebiet lag eine Hitzewelle. Dunst verschleierte
die Mittagssonne. Türen und Fenster der Baracke standen
offen, aber kein kühlender Luftzug strich durch die überhitzten
Stuben. „Wir sollen den Chef gleich um Urlaub angehn“, sagte
Holt. Gomulka rief: „Still!“ Wolzow las aus der Zeitung vor: „...
,und so wird die Schlacht im Osten immer mehr zur großen
Bewährungsprobe der Einzelkämpfer. Den Vorstößen schneller
sowjetischer Kräfte begegnen unsere Kampfgruppen durch
Zusammenschluß in einzelnen Widerstandsräumen...’“
Gomulka meinte: „Da hast du tatsächlich recht behalten mit
deiner Lageeinschätzung!“ Wolzow las weiter: „‚Während der
feindliche Einbruch in Minsk von Südosten und Nordosten her
geschah, stehen weiter südöstlich bis zur Beresina hin immer
noch deutsche Truppen, die sich unter fortgesetzten
248
Durchbruchskämpfen nach Westen zurückschlagen.’“ – „Also
eingekesselt!“ sagte Gomulka und nahm Wolzow die Zeitung
aus der Hand. „Außerdem geht eindeutig daraus hervor, daß es
im Osten ein Bewegungskrieg geworden ist: ,Der Feind
versucht’, heißt es, ,die Bewegung weiterhin
aufrechtzuerhalten.’ „
Holt schielte auf Ziesche. Ziesche schlief, oder er gab vor zu
schlafen. „Und noch immer keine Gegenmaßnahmen?“ fragte
Holt. „Lies den Wehrmachtsbericht!“
Gomulka blätterte in der Zeitung. „Gegenmaßnahmen?“ Es
zuckte in seinem Gesicht. „Moment! Invasionsfront... Also: ,Im
Mittelabschnitt der Ostfront stehen unsere Truppen bei
drückender Hitze in auch für uns verlustreichen Kämpfen...’“
Wolzow unterbrach ihn: „Da muß was los sein!“ Ziesche
richtete sich auf und glotzte verschlafen.
„Das hat es im ganzen Krieg noch nicht gegeben“, sagte
Gomulka. „Da brauchst du gar nicht so ‘n ungläubiges Gesicht
zu machen, Ziesche, schau dir die Wehrmachtsberichte an,
vom Polenfeldzug bis heute! Das ist das erstemal, daß es heißt
,in auch, für uns verlustreichen Kämpfen’.“ Er las weiter: „,Die
heldenmütige Besatzung von Wilna’...“ – „Wilna?“ rief Holt
erschrocken. „Na ja doch“, sagte Gomulka, „Wilna ist schon vor
drei Tagen erreicht worden. ,An Wilna vorbei dringt der Gegner
weiter nach Westen und Südwesten vor.’“ Er legte die Zeitung
fort. „Sieht also nicht nach Gegenmaßnahmen aus.“
Holt saß deprimiert am Tisch. Eben noch hatte er sich auf den
Urlaub gefreut. Nun war ihm diese Freude verdorben. Er
wunderte sich nur immer wieder über die anderen, die all die
niederschmetternden Nachrichten so empfindungslos
hinnahmen oder aber ihre Gefühle besser als er zu verbergen
wußten. Vetter jedenfalls rief von seinem Bett: „Scheiß auf
Wilna! Die solln uns hier mal ausschlafen lassen, das ist
wichtiger!“

Sie schrieben Urlaubsgesuche. Holt überlegte noch einmal:


Was fang ich mit dem Urlaub an? Mutter? Nein. Vater? Nein.
Holt hatte seit Weihnachten nichts mehr von ihm gehört und vor
ein paar Wochen, als die mitteldeutschen Industriezentren

249
bombardiert worden waren, nur durch eine der vorgedruckten
Mitteilungskarten erfahren, daß sein Vater lebte, blieb nur
Wolzows Einladung. Wolzow und Gomulka hatten ihn immer
wieder aufgefordert, mitzukommen. Solange man noch Freunde
hat, ist alles gut! Freunde, dachte er mit leichtem Mißbehagen.
Gab es zwischen Wolzow und ihm nicht eine leise
Entfremdung? Aber dann erinnerte er sich an die verwilderte
Villa, die Sommertage am Fluß... und an Uta! Dieser Gedanke
war unangenehm. Frau Ziesche fiel ihm ein.
Er konnte unmöglich auf Urlaub fahren, ohne vorher mit ihr
gesprochen zu haben. Vielleicht hatte sie Zeit, vielleicht
konnten sie zusammen verreisen, wie Weihnachten... Er saß
sinnend und dachte: Ob es noch einmal so wird wie damals?
Seltsam, überall die gleiche Entfremdung! Er zog sich rasch die
Ausgehuniform an. „Wo willst du hin?“ fragte Wolzow. – „Zum
Zahnarzt.“ Wolzow begann zu grinsen. Da schrillte die
Alarmglocke. Wolzow lief in der Badehose zum Geschütz, das
Drillich unter dem Arm.
Die Sonne prallte senkrecht in den Geschützstand. Holt, in der
Uniform aus Wollstoff, suchte vor den sengenden Strahlen
vergeblich im Mannschaftsbunker Schutz; das Erdreich war so
heiß, daß die Luft aus dem Bunker wie aus einem Backofen
schlug. Er zog sich die Bluse aus. Schröder, einer der
Schlesier, saß statt seiner an der Seitenrichtmaschine.
„Feuerbereitschaft!“ meldete Ziesche, der auch die
Ausgehuniform trug. Sie setzten die Stahlhelme auf. – „Einzelne
schnelle Feindflugzeuge...“ – „Die obligaten Mosquitos“, sagte
Gomulka. Wolzow zog sich den Ladehandschuh wieder aus
und setzte sich auf einen Holm.
„De Havilland Mosquito“, sagte er dann träumerisch. „Die sind
als Aufklärer vollständig unbewaffnet. Sie fliegen so schnell,
daß unsere Jäger sie nur im Sturzflug einholen können.“
Ziesche fragte: „Aus was für Kanälen stammt diese Weisheit
eigentlich?“ Wolzow warf den Zigarettenstummel auf den
Boden. „Das hat im ,Völkischen Beobachter’ gestanden! Aber
du liest ja bloß immer die Schlagzeilen, die Kommentare mußt
du lesen! Du bist zwar ein guter Nationalsozialist, aber du

250
könntest dir endlich ein bißchen militärische Sachlichkeit
angewöhnen.“
„Rohre Richtung neun!“ schrie Ziesche. In der Ferne erhob
sich ein dunkles Grollen. „Die 12,8-Batterien in Bottrop
schießen!“ Wolzow zog sich wieder den Ladehandschuh an und
dozierte weiter: „Damit stellst du dir nämlich ein unnötiges
Armutszeugnis aus, wenn du die militärische Wahrheit als
Zersetzung ansiehst. Nächstens sagst du noch, der Führer
treibt Zersetzung, wenn er die Lage als ernst bezeichnet.“
In den Städten heulten die Sirenen Entwarnung. Ziesche
schaltete am Mikrophon. „Anton verstanden. Feuerbereitschaft
aufgehoben. Die schnellen Feindflugzeuge sind ins Reich
eingeflogen... Zwei Mann bleiben an den Geschützen. Die
anderen können essen gehen.“ – „Ich bleib“, sagte Wolzow.
„Sepp, bring mir das Essen her!“
Holt zog die Bluse an und lief zur B 2. Gottesknecht furchte
die Stirn. „Pünktlich siebzehn Uhr wieder hier, verstanden? Und
hören Sie sich beim ,Zahnarzt’ mal die Luftlagemeldungen an,
wenn Kampfverbände einfliegen, dann kommen Sie sofort
zurück!“
Holt trabte im Laufschritt zur Straßenbahn. Vor dem
Hauptbahnhof stieg er aus und lief zu Fuß weiter. Zehn Minuten
später klingelte er bei Frau Ziesche. Sie lief in einem
Strandanzug in der Wohnung umher und hatte in der Küche
Bier auf Eis stehen. „Seit den letzten Angriffen will Ziesche
unbedingt, daß ich hier weggeh! Ich soll zu ihm nach Krakau
kommen! Außerdem werde ich dauernd angemeckert wegen
der großen Wohnung. Ziesche schreibt, es wäre besser, wenn
ich zwei Zimmer abgebe, damit die Volksgenossen nicht sagen
können, die Partei macht Schiebung.“
„Eigentlich könntest du hierbleiben, bis ich zum RAD geh“,
sagte Holt. „Wir sind vorige Woche gemustert worden. Es sind
ja nur noch sechs Wochen.“
„Ausgerechnet nach Krakau!“ sagte sie. „Dort sind doch bald
die Russen! Da fühl ich mich hier im Keller noch wohler!“ – „Hör
doch mal zu!“ rief Holt. „Ich will was mit dir besprechen!“
Sie hörte sich Holts Urlaubspläne an und überlegte lange. „Es
wäre schön“, sagte sie. „Ich kenne einen Ort im Bayrischen

251
Wald... Nein... Es geht nicht! Du hast Urlaub, fährst nicht nach
Hause, und gleichzeitig verreise ich, Ziel unbekannt... Das muß
ja auffallen!“
Er war enttäuscht. „Überleg dir doch Ausreden!“ Sie schüttelte
den Kopf. „Ich kann das nicht riskieren. Es wäre herrlich, aber
es geht nicht.“ Nach einer Weile setzte sie hinzu: „Wenn Günter
Ziesche nicht wäre!“ – „Wenn, wenn!“ sagte er. „Alles verdirbt er
mir, dieser ekelhafte Kerl!“ – „Sei friedlich“, meinte sie. – „Dann
bleib wenigstens hier, bis ich zum RAD geh“, bat er, „ich hab
sonst niemanden.“ – „Werde nicht sentimental, dazu ist gar kein
Grund.“

Als der Drahtfunk meldete: „Über dem Reichsgebiet befindet


sich kein feindlicher Kampf verband“, lag Holt neben Frau
Ziesche auf dem Bett. Die Fenster waren weit geöffnet. Er
versuchte noch einmal, sie zu überreden: „Hast du nicht
irgendwo Verwandte, daß du sagen kannst...“ – „Es geht
wirklich nicht! Mir tut es selbst leid.“ Ihm war, als höre er
Schritte in der Wohnung. Das mußte ein Irrtum sein. „Und wenn
du vorausfahren würdest“, fragte er hartnäckig, „und ich komm
später nach? Da kann doch keinem was auffallen!“
Die Tür öffnete sich, und auf der Schwelle des Schlafzimmers
stand Ziesche, tatsächlich, Luftwaffenoberhelfer Ziesche, den
Stahlhelm am Riemen in der Rechten; Holt erschrak und zog
nur die Steppdecke über Frau Ziesche.
Ziesche sagte hilflos: „Aha... aha... aha!“, und ehe sie noch
recht begriffen hatten, war er verschwunden wie ein Spuk. Die
Tür blieb offen. Draußen fiel die Vorsaaltür ins Schloß. Holt
sagte wütend: „Dieses Schwein... Dieses schwule Schwein!“
Frau Ziesche zitterte vor Schreck. Sie war bleich. „Um Gottes
willen!“ Er wollte sie beruhigen, aber sie hörte auf nichts und
stammelte: „Erledigt... erledigt, er schreibt’s seinem Vater!“
Dieser Gedanke schreckte nun auch Holt. Er überlegte
schwerfällig, was da zu tun sei. Gilbert muß helfen, und Ziesche
muß schwören, nichts zu verraten! dachte er zuerst. Aber
dieser Gedanke war sinnlos. Auf Wolzow war nicht zu rechnen,
und Ziesche würde sich lieber totschlagen lassen, ehe er darauf
verzichtete, seine Stiefmutter samt Holt ans Messer zu liefern.

252
Holt saß im Bett, die Knie bis unters Kinn gezogen, und dachte:
Elend, verfluchtes!
Frau Ziesche lag bewegungslos neben ihm. Sie sah auf
einmal verfallen aus. „Er jagt mich weg“, flüsterte sie, „er jagt
mich einfach weg!“ – „Warte ab“, sagte Holt. „Er wird’s nicht
erfahren, dafür laß mich sorgen.“ Er hatte keine Ahnung, was er
tun sollte, aber der Weg in die Stellung war lang, und
unterwegs würde ihm schon etwas einfallen. Er stand auf, nahm
seine Sachen und ging ins Bad. Er ließ sich eiskaltes Wasser
über den Kopf laufen. Frau Ziesche folgte ihm, fröstelnd trotz
der Hitze. „Er darf es nicht seinem Vater schreiben“, sagte sie,
ein wenig gefaßter. Sie redete auf Holt ein: „Werner, was du
tust, ist gleichgültig. Aber er darf es nicht seinem Vater
schreiben! Du kennst den alten Ziesche nicht, er ist eitel und
rachsüchtig.“ Angst griff nach Holt. Er kämmte sich, warf den
Kamm hin und sagte: „Ich werde sehen.“
Er fuhr in die Batterie. Natürlich fiel ihm auch auf dem Wege
nichts ein. Er dachte: Welch bodenloser Leichtsinn! Das durfte
nicht passieren! Und: Ich werde erst einmal mit ihm reden.

In der Stube saß Wolzow am Tisch und stocherte mit dem


Zirkel auf der Karte herum. Gomulka las. Ziesche fehlte. „Laß
ihn mal lieber in Ruhe“, sagte Gomulka. „Er wollte auf
Nachturlaub gehen, dann ist er wiedergekommen, mit einer
Stinklaune. Jetzt sitzt er in der Kantine und schreibt.“ Ziesche
schrieb also schon! Es war höchste Zeit.
Es dämmerte in dem öden Kantinenraum. Hinter der Theke
schlief der Küchenchef auf einem Stuhl. Vor einem der kleinen,
verdreckten Fenster saß Ziesche an einem Tisch und schrieb.
Als er Holt eintreten sah, raffte er seine Papiere zusammen.
Holt setzte sich ihm wortlos gegenüber. Ziesches Gesicht war
noch gedunsener als sonst, war blaß und rotfleckig, und die
Augen blickten voller Haß.
Holt sagte: „Hör mal zu!“ – „Hau ab“, sagte Ziesche böse.
„Hau bloß ab!“ – „Sachte!“ meinte Holt. Aber Ziesche brüllte los:
„Verschwinde, du... du... du Schwein! Mit dir red ich nicht! Du
hast die Ehre meines Vaters...“ – „Lauter!“ sagte Holt. „Noch
lauter, damit der Küchenbulle was davon hat!“ Der Obergefreite

253
hinter der Theke war aufgewacht und schaute verständnislos
auf die beiden Jungen. Dann schloß er seine Schränke ab und
verließ die Kantine.
„Ich will dir mal was sagen“, meinte Holt. „Du hast was
gesehen, was du besser nicht gesehen hättest. Wir beide
denken da anders drüber, es hat gar keinen Zweck, daß wir uns
lange unterhalten. Aber daß du dich hinsetzt und brühwarm
alles deinem Alten schreibst, das ist... erbärmlich ist das! Wenn
du dich beleidigt fühlst und für ‘n Groschen Mut hast, dann
machst du das mit mir ab und läßt deinen Vater aus dem Spiel!“
Es war ein rettender Gedanke: Wenn Ziesche zu bewegen
war, die Sache als eine Art Ehrenhandel aufzufassen, dann war
viel gewonnen. Aber Ziesche zischte Holt ins Gesicht: „Gib dir
keine Mühe!“ Und schon wieder schreiend: „Ich laß die Ehre
meines Vaters nicht von dir antasten! Schluß! Jetzt ist endgültig
Schluß, jetzt wird aufgerechnet, vom ersten Tag an, deine
ganze morsche Intellektualität... deine undeutsche
Sittenlosigkeit... alles wird abgerechnet...“ Seine Stimme
überschlug sich. Holt verstummte vor diesem Ausbruch. Heiser
fuhr Ziesche fort: „Daß du die Frau zur... zur... daß du sie zur
Hure gemacht hast, dafür wirst du von meinem Vater die
Quittung bekommen! Du und sie! Und das werdet ihr noch
bereuen... bereuen... bitter werdet ihr das bereuen!“
Holt war ratlos. Er sprang auf und packte Ziesche an der
Bluse. Aber da schlug lärmend die Alarmglocke. „Da bist du
grade noch mal um deine Prügel gekommen!“ sagte Holt.
Ziesche stopfte zitternd vor Wut seine Papiere unter die Bluse,
dann lief er ans Geschütz.

„Schneller Kampfverband über Nordwestfrankreich im Anflug


auf die Reichsgrenze.“ Dabei blieb es. Drei Stunden
verstrichen, es wurde Nacht. Die Flakwehrmänner schliefen im
Mannschaftsbunker. Ziesche meldete: „Feuerbereitschaft!“ In
den Städten heulten die Sirenen. „Gleich Vollalarm?“ sagte
Gomulka verwundert. „Starke Kampfverbände über Holland im
Anflug auf den Raum Köln-Essen“, rief Ziesche. Wolzow trieb
die Flakwehrmänner aus dem Bunker. Aber die Verbände
änderten ihre Flugrichtung und flogen weit im Norden vorüber.

254
„Scheinangriffe, Verschleierungsmanöver“, sagte Gomulka. „Die
veralbern uns und die Nachtjäger!“ Die Sirenen heulten
Entwarnung. Die Luftlagemeldungen sprachen später von
Bombenabwürfen im Raum Groß-Berlin.
Holt unterhielt sich mit Gomulka. Von der B 2 her hörte man
Kutschera brüllen. Ein paar Scheinwerfer suchten den Himmel
ab. Die Nacht war hell. Am Zenit standen Sterne. Ringsum
lagerten Dunstbänke. Im Süden wurde ein Hochofen
abgestochen, brennende Gichtgase färbten den Himmel
blutigrot. „Was haben die schon für Bomben geschmissen!“
sagte Wolzow. „Und die Werke arbeiten immer noch!“ Ziesche
rief: „Ruhe... Weitere starke Kampfverbände über dem Kanal im
Anflug auf den Raum Emden-Oldenburg.“ Ringsum in den
Städten heulten wieder die Sirenen. Eine halbe Stunde später
hieß es: „In Küstennähe starke Nebelbildung. Bomber suchen
Ausweichziele.“ - „Da kommen sie hierher.“ Wolzow sprach mit
den Flakwehrmännern: „Wenn sie Christbäume setzen sollten,
dann wird erst die Munition aus der Zweitausstattung rangeholt,
verstanden?“ Das Auf und Ab der Sirenen: Vollalarm! Schon
summten am Himmel die Bomberpulks, und nahe im Osten
fielen Leuchtzeichen, gleißend hell, sie markierten die Siedlung,
die wie eine Insel zwischen den Werken lag. Nervös tasteten
Scheinwerfer über den Himmel und erloschen, ehe die
optischen Feuerleitgeräte ein Ziel auffassen konnten. Das
schwere Summen der Bombermotore wuchs von Nordwesten
heran. Ringsum setzte wütendes Flakfeuer ein. Die fallenden
Leuchtkaskaden erhellten den Geschützstand. Ziesche rief:
„Schießen mit Funkmeßgerät!“ Und sofort: „Düppel-Störung!
Starres Sperrfeuer Richtung drei!“ Er brüllte die Richtwerte in
den Geschützstand. „Barrikade... marsch!“ Die Abschüsse
verschmolzen mit den nahen Bombeneinschlägen zu einem
einzigen lang anhaltenden Donner. Holt, mit einer
Kopfbewegung, sah Wolzow breitbeinig hinter dem Geschütz
stehen, ohne Helm, und sah ihn mit gleichmäßigen
Bewegungen Patrone auf Patrone ins Rohr schieben.
Feuerpause.
Die Flakwehrmänner warfen stumm die leeren Kartuschen aus
dem Geschützstand, irgendwer zählte: „Neununddreißig,

255
vierzig, einundvierzig.“ Holt dachte erstaunt: Einundvierzig
Schuß? Die Kaskaden erloschen. Im Osten war der Himmel
nun brandrot, die Flammen schlugen gleich hinter dem
zerfetzten Wäldchen, hinter den Schrebergärten hoch. Ein
hohles Fauchen drang bis in die Stellung; in der großflächigen,
dicht bebauten Siedlung entwickelte sich rasch ein Feuersturm.
Einer der Flakwehrmänner, an der Wand des Geschützstandes,
krümmte sich zusammen, die Hände vors Gesicht geschlagen.
„Seine Leute... dort drüben“, sagte jemand rauh. „Egal!“ rief
Wolzow. „Reiß dich zusammen!“ Er fettete den Verschluß ein.
Wieder zitterte die Luft im Motorengeräusch. „Düppel-Störung!“
schrie Ziesche, mit einer kratzigen Stimme, und Holt dachte
schadenfroh: Hat er sich vorhin heiser gebrüllt!
„Barrikadenfeuer! Höhe fünfunddreißig-dreißig, Seite
achtundvierzig-zwanzig, Zünder zwohundert Grad vom Kreuz!“
Holt rückte den Kopfhörer zurecht. „Barrikade... marsch!“ schrie
Ziesche. Aufs neue stiebte bei jedem Abschuß der trockene
Staub ins Gesicht. Die Augen brannten, geblendet vom
Mündungsfeuer. Er hörte nicht, daß Ziesche Feuerpause
befahl. Auf einmal war es still. In die Stille keuchte Wolzow:
„Jetzt haben die Schweine Sprengbomben in die Flammen
geschmissen!“
Abermals neue Einflüge. Über Frankreich steuerten starke
Kampfverbände den Raum Koblenz–Saarbrücken an. „Die
haben heut nacht aber viel vor“, sagte Gomulka. Wolzow zog
mit einem Flakwehrmann den Wischer durchs Rohr.
Erst morgens gegen vier, als es schon taghell war, wurden die
letzten Pulks im Abflug gemeldet.
Holt hatte keine Vorstellung, wie der Streit mit Ziesche
beizulegen sei. Als sie die Plane über die Kanone zogen,
beobachtete er Ziesche und atmete auf, als er ihn wie alle
anderen in die Stube gehen sah, wo er sich erschöpft aufs Bett
warf.
Den Papierkram mußte er noch unter seiner Bluse tragen.
Einen Augenblick dachte Holt daran, ihm den angefangenen
Brief mit Gewalt zu entreißen.
Ziesche schlief, leise schnarchend. Alle schliefen. Nur Holt lag
abgespannt und übermüdet wach und suchte einen Ausweg. Er

256
erwog, sich doch noch Wolzow anzuvertrauen, ihn abermals
beim Wort zu nehmen... Gegen sieben Uhr trieb ihn die
Alarmglocke wieder ans Geschütz.

Der Morgen war frisch und klar. Im Osten, wo die Siedlung


bombardiert worden war, lagerte eine undurchdringliche
Rauchbank und verschleierte den Horizont. Die Leitungsprobe
mit den optischen Feuerleitgeräten war kaum vorüber, als
schon einzelne schnelle Maschinen gemeldet wurden. Sie
flogen den Rhein entlang nach Süden. Ziesche meldete starke
Kampf- und Jagdverbände über Südostholland. Gomulka sagte:
„Bomber mit Jagdschutz? Da werden sich unsere Jäger freuen!“
– Wenn’s nur nicht wieder Tiefangriffe gibt, dachte Holt
sorgenvoll.
Wolzow begann zu fluchen. Jetzt, da die Flakwehrmänner die
Stellung verlassen hatten und die Jungen allein am Geschütz
waren, stellte es sich heraus, daß nachts die Munition aus den
Bunkern am Geschütz verschossen worden war. „Also los“,
befahl Ziesche, „Patronen von der Zweitausstattung ranholen!
Tempo!“ Während sie die Körbe über den Acker zum Geschütz
schleppten, wurde das Auf und Ab der Sirenen laut. Zugleich
erhob sich auf der Befehlsstelle das übliche Geschrei.
Holt warf den zentnerschweren Korb auf den Acker und lief
zum Geschütz. Er brachte in der Aufregung nicht den Stecker
des Kopfhörers in den Kontakt an der Seitenrichtmaschine.
„Rohre Richtung neun!“ schrie Ziesche. Irgendwer sagte:
„Pfadfinder!“ Nur schwaches Motorengeräusch drang an Holts
Ohr. Er blickte auf. Drei Maschinen zogen über den Himmel,
sehr schnell. Wahrscheinlich Lightnings! In der klaren Luft
standen auf einmal schmale, hohe, scharf begrenzte
Rauchsäulen. Holt begriff nur langsam. „Sie stecken uns ab, mit
Rauchzeichen!“ brüllte Ziesche außer sich. Holt sah sich
erstaunt nach allen Seiten um: überall standen die
Rauchzeichen über der Stellung, vor ihm, beim Kugelbaum
mußte das sein, riesenhaft, und hinter ihm, bei der Kantine, und
nun erst begriff er, daß dies Zielmarkierungen und sie selbst
das Ziel waren... Auch Wolzows Stimme war heiser: „Heut sind
wir dran!“ Fern, rasch stärker werdend, erscholl Motorenlärm.

257
„Fliegeralarm... Flugzeug neun!“ schrie Ziesche verzweifelt.
„Schießen mit Kommandohilfsgerät, direkter Anflug!“ In Holts
Kopfhörer sprach es klar und deutlich: „Seite steht bei
neunundvierzig-dreißig...“ – „Anton feuerbereit!“ schrie Ziesche.
„Gruppenfeuer...“ – „Schön zügig Patronen her!“ rief Wolzow,
und Ziesche brüllte überschnappend: „Gruppe!“ Holt zog den
Kopf zwischen die Schultern und drückte sich eng ans
Geschütz. Der Schuß schmetterte und ließ die Kanone
aufbocken, die Kartusche klirrte auf einen Holm. In Holt zog
Ruhe ein: Gilbert schießt! Noch ehe er das gewaltige Rauschen
wahrnahm, diesen heranheulenden Orkan, erlosch der helle
Morgen, die Erde hob sich und schwankte und bebte, und Holt
war es, als falle er ins Bodenlose... Als er sich aufraffte und
nicht wußte, was geschehen war, zitterte die Luft unter den
nahen Bombermotoren, und ringsum gab es keinen
Geschützstand mehr, nur noch umgepflügte Erde und
zersplitterte Balken, und mittendrin kauerte Wolzow am Boden,
und vor ihm kniete Gomulka und wickelte ihm ein
Verbandpäckchen um die Stirn. Holt spuckte Schlacke und
Erde aus. Wo war die Kanone? Er sah sie umgestürzt, statt des
schlanken Rohres ragte ein Holm der Kreuzlafette in den
Himmel, dahinter lagen ein paar blaugraue Gestalten
bewegungslos auf der schwarzen Schlacke. Er kroch zu
Wolzow hin, der sich den Helm auf den verbundenen Kopf
stülpte. „Los! Zu Berta!“ Holt taumelte mühsam hoch, warf einen
Blick auf die leblosen Gestalten hinter und unter dem
umgestürzten Geschütz, dann lief er über den zerklüfteten
Acker. Er sah am Himmel, breit auseinandergeweht, die
Rauchzeichen, er sah eine Kette viermotoriger Bomber in
geringer Höhe die Stellung anfliegen und warf sich zu Boden.
Die Abschüsse zweier Geschütze erschreckten ihn so sehr, daß
er sich in einen riesigen Bombentrichter hinabrollte. Dort lag
Wolzow, mit blutigem Gesicht, und schrie: „Die zweite Welle!“
Der Motorenlärm der tief anfliegenden Bomber war so stark,
daß Holt kaum verstand. Wie ein Windstoß fegte es über ihn
hin. Zugleich traf ihn die Schallwelle mit solcher Gewalt, daß er
sekundenlang nach Atem rang. An seinem Ohr stöhnte
Wolzow: „Munition... Jetzt ist Munition in die Luft geflogen...“

258
Das Dröhnen der Motoren ließ nicht nach. Ein einzelnes
Geschütz schoß und verstummte. Holt und Wolzow kletterten
aus dem Trichter und liefen zu Geschütz Berta.
Dort hatten Gomulka und Vetter und zwei von den Schlesiern
Schutz vor den Bomben gesucht und machten nun in
fieberhafter Eile die Kanone feuerbereit. Wolzow wuchtete den
Verschluß auf. „Werner Geschützführer! Sepp K 1! Christian K
6! Los doch, Schröder, steh nicht rum und mach K 2! Du hier,
du bist K 7...“ Holt legte das Kehlkopfmikrophon um den Hals.
Welch Wunder, die Leitung hatte Strom! Mit unbeschreiblicher
Erleichterung vernahm er Gottesknechts Stimme. Wolzow rief:
„Wir brauchen Munitionskanoniere!“ – „Hier Berta!“ meldete sich
Holt. „Besetzt mit sechs Kanonieren von Anton. Wir brauchen
Munitionskanoniere!“ – „Ich schick euch Leute vom
Funkmeßgerät“, sagte Gottesknecht. „Berta! Wer ist
Geschützführer? Sind Sie das, Holt?“ – „Jawohl.“ – „Wie sind
die Verluste an Anton?“ – „Ich weiß nicht.“ Es summte in der
Leitung. „Geschütze... melden!“ – „Hier Berta!“ Nur das
Geschütz Cäsar folgte. Auf der B 2 brüllte Kutschera: „Wollt ihr
wohl zu Dora und Emil Notleitungen legen!“
Ein paar Luftwaffenhelfer drängten sich in den Geschützstand.
„Was gibt’s auf der B 2?“ fragte Gomulka. Es gab nur Schäden
durch Luftdruck. Bei Geschütz Frieda waren die
Munitionsbunker detoniert. Die Leute vom Funkmeßgerät
sagten apathisch: „Dort rührt sich nichts mehr!“ Wieder nahte
Motorenlärm. Gottesknechts Stimme, im Kopfhörer, fremd und
rauh: „Fliegeralarm! Flugzeug neun! Direkter Anfing!... Die dritte
Welle!“ Holt brüllte die Kommandos heraus, ohne es zu wissen.
Die Kanoniere meldeten „Eingestellt!“. – „Berta feuerbereit!“ Er
blickte zum Himmel, dort zog abermals eine Kette viermotoriger
Bomber heran. „Gruppenfeuer!... Gruppe!“ Wolzow lud rasch
und sicher. Nur zwei Kanonen schossen. „Gruppe!“ Wolzow zog
schon ab. Das Rohr fuhr immer höher empor. „Wendepunkt!“
Die Kanone schwenkte nach Osten. Das Rauschen der
Bomben war im Schießen untergegangen, ringsum wuchsen
die Rauchpilze und Erdfontänen zum Himmel, der
Geschützstand bebte. Holt keuchte: „Gruppe!“ Tatsächlich,
Wolzow lud und zog ab; Gottesknechts Stimme sagte im

259
Kopfhörer: „Diesmal ging’s weit daneben!“ Wolzow schob in
einer wahren Raserei Patrone um Patrone ins Rohr und schoß
ohne Befehl und ohne Pause, bis Vetter meldete: „Zünder über
Bereich!“
„Feuerpause!“ Gottesknechts Stimme im Kopfhörer: „Einen
Moment! Luftlage!“ Es dauerte lange, bis er sich wieder
meldete. „Alle Verbände im Abflug. Feuerbereitschaft
aufgehoben.“ – „Berta verstanden.“ Holt war auf einmal
unsagbar müde. Er riß die Hörergarnitur herunter und reichte
sie Wolzow, der auf einem Holm saß, den verbundenen Kopf in
die Hände gestützt.
Holt lief zu Anton.
Er fand sich in der Stellung nicht zurecht. Zwischen den
Geschützen war die Erde wie umgepflügt. Bombentrichter
gähnten. Der Geschützstand von Anton war ein Haufen Erde,
aus dem zersplitterte Teile der Holzverschalung ragten. Holt
kletterte über die Reste des Erdwalles zu der umgestürzten
Kanone. Er stieß auf Rutscher, der mit dem Unterkörper
zwischen dem Pfahlwerk des Bunkers und der Lafette
eingeklemmt und zerquetscht worden war. Der Anblick war
schrecklich. Holt wurde übel. Er erinnerte sich unvermittelt an
Rutschers große und schöne Schwester... Er stieg über den
Leichnam hinweg. Vor einem eingedrückten Munitionsbunker,
aus dem die blanken Granatpatronen massenweise
herausgerutscht waren, lagen zwei weitere Gestalten. Die eine,
kleinere, war nicht zu erkennen, denn das Gesicht war
zertrümmert und der Stahlhelm bis über die Augen
herabgeglitten. Daneben lag Günter Ziesche, noch durch die
Geschützführerleitung mit der Kanone verbunden. Er lag mit
ausgebreiteten Armen auf dem Rücken, in einer Blutlache, und
das Blut war aus Ohren, Nase und Mund geflossen. Das
Gesicht war seltsam in die Breite gezogen. Wie ist das nur
geschehen? dachte Holt... Rutscher und Ziesche, dachte er...
Er kauerte sich auf den Boden, öffnete Ziesche die Bluse, zog
die Papiere hervor und steckte sie in die Hosentasche. Dann
nahm er ihm die Erkennungsmarke ab, auch dem Kleinen, den
er nicht erkennen konnte.

260
Gomulka war plötzlich bei Holt, noch andere Luftwaffenhelfer
und ein paar Mann vom Batteriekommando. Gomulka sah
Rutscher, und sein Gesicht wurde grau. Gottesknecht stand
erhöht auf dem Erdhaufen, der einmal ein Geschützstand
gewesen war, das Notizbuch in den Händen. Holt reichte ihm
die beiden Erkennungsmarken. „Der Rutscher... Herr
Wachtmeister...“ – „Es ist gut. Kümmern Sie sich um Berta.“
Gomulka sprang in einen Trichter, es würgte ihn, er erbrach
sich. Dann sagte er: „Bei Frieda... die ganze Bedienung.... in
Stücke gerissen.“
Holt dachte auf einmal weit zurück. Ich hab das Elternhaus
satt gehabt, ich hab die Schule satt gehabt, ich hab es nicht
mehr erwarten können, ich hab mich nach dem Krieg gesehnt...
Bei Berta saßen alle bedrückt und schweigend an der Kanone.
Nur Wolzow tat, als wäre nichts geschehen. „Sechsunddreißig
Bombentrichter“, sagte er. „Bomben von fünfzehn oder zwanzig
Zentnern! Und der Erfolg? Zwei Geschütze sind ausgefallen.
Das nenn ich aus dem vollen wirtschaften!“ – „Laß dich
verbinden“, sagte Holt. Durch Wolzows Verband sickerte Blut.
Das Haar war verklebt, das Gesicht blutbeschmiert. Wolzow
verließ den Geschützstand. Holt teilte die Bedienung neu ein.
Fehlt ein ordentlicher K 7, dachte er, nachts haben wir
Flakwehrmänner, und was wird tagsüber? Er brüllte: „Los!
Geschützreinigen!“ Die Schlesier zogen gehorsam den Wischer
durchs Rohr.
Auf dem Fahrweg hielten Sanitätsautos. Gomulka sagte: „Ich
werde nie begreifen, was bei Anton passiert ist!“ Da traten
Kutschera und Gottesknecht in den Geschützstand. Der
Hauptmann brüllte: „Heißer Morgen, was? Die Banditen haben
meinen Hund erschlagen, das verzeih ich denen nie!“ Holt
sagte: „Wir brauchen einen K 3, einen K 7 und
Munitionskanoniere!“ Gottesknecht notierte. „Herr
Wachtmeister“, sagte Holt, als Kutschera gegangen war, „darf
ich mal telefonieren?“ Gottesknecht sah ihn zerstreut an.
„Warten Sie. Die Leitungen sind noch überbeansprucht.“ Er
dachte nach. „Wenn Sie telefonieren, dann können Sie mir
eine... Benachrichtigung abnehmen.“

261
Die Baracke war so sehr durchgeschüttelt worden, daß ihr
Inneres einem Trümmerfeld glich. Es dauerte zwei Stunden,
ehe sie ein wenig Ordnung geschaffen hatten. Ein
Bombentreffer hatte die Latrine weggefegt, der Unrat klebte an
den Barackenwänden. Wolzow, noch immer mit durchblutetem
Verband, stützte beide Hände in die Hüften. „Das ist ein uraltes
Kampfmittel“, sagte er. „Schon die alten Römer haben mittels
sogenannter Ballisten Scheiße in belagerte Städte
geschossen.“ Holt schrie ihn an: „Scher dich ins Revier!“ Er lief
in die Schreibstube, wo Gottesknecht über den
Mannschaftslisten saß. „Dreizehn Tote, Holt, es ist furchtbar!“
Er klopfte mit dem Stift auf die Liste. „Die Bedienung Frieda bis
auf den letzten Mann. Neun von den Schlesiern, die waren alle
erst sechzehn.“ Holt fragte beklommen: „Wie ist das passiert?“
– „Volltreffer. Es müssen Neunhundert-Kilo-Bomben gewesen
sein.“ – „Und bei uns, bei Anton? Ich versteh das nicht.“ – „Eine
Bombe ist dicht hinter den Erdwall im Norden gefallen; was an
der Nordwand stand, ist gewissermaßen in Feuerlee gewesen...
Wer weiter weg stand, muß in den Druck- und Splitterbereich
geraten sein.“ – „Da hat der Sepp ein Riesenglück gehabt! Er
stand links an der Höhenrichtmaschine.“ Gottesknecht sagte:
„Ihr alle habt ein Riesenglück gehabt.“ Er erhob sich. „Ich lasse
Sie allein, tun Sie mir den Gefallen.“
Holt wartete lange auf eine freie Amtsleitung. Nun war das
Gestern wieder gegenwärtig, so fern, als sei ein Jahr darüber
hingegangen. Er wählte. Jetzt könnte sie doch mit mir
verreisen, dachte er, aber das Blut stieg ihm zu Kopf bei diesem
Gedanken. Frau Ziesche meldete sich: „Ich hab kein Auge
zugetan, die ganze Nacht! Was ist los? Seid ihr auch
bombardiert worden? Ich hör die tollsten Gerüchte!“ – „Ja. Es
war schlimm. Wir haben dreizehn Tote.“ - „Und Ziesche? Was
ist mit Ziesche? Er darf auf gar keinen Fall an seinen Vater
schreiben!“ Er unterbrach sie. „Ziesche kann nicht mehr an
seinen Vater schreiben. Er ist tot.“ – „Tot?“ fragte sie und zog
das Wort in die Länge. „Bist du sicher, daß er nicht schon
gestern abend geschrieben hat?“ Er stand starr. „Nein. Er hat
nicht geschrieben.“ Die Verbindung wurde unterbrochen, die

262
Untergruppe verlangte den Chef. Holt schaltete den Apparat
nach Kutscheras Baracke.
Er stand unbeweglich in der Schreibstube. Welch Glück, daß
die Verbindung abgerissen war! Plötzlich schlugen seine Zähne
aufeinander. Er fror. Er trat ins Freie.
Die Stellung wimmelte von Kriegsgefangenen, die an den
Bombentrichtern schaufelten. Am Geschütz Anton wartete eine
der schweren Zugmaschinen. Ein Dutzend drillichgekleideter
Flaksoldaten von der Untergruppe richtete mit Hebebäumen
und Seilwinden die umgestürzte Kanone auf. Auch
Gottesknecht stand dort, mit Vetter und Gomulka. Ein paar
Gefangene arbeiteten schon an dem zertrümmerten
Geschützstand. Holt ging zu Gottesknecht. Wolzow meldete
sich ab ins Revier. Gottesknecht musterte Holt und sagte: „Jetzt
müssen Sie die Zähne zusammenbeißen!“ Holt lief davon... Es
ist ja vorbei ! Er warf sich auf sein Bett.

13

Wolzow kehrte schon am folgenden Tag in die Batterie


zurück. Er sah ziemlich mitgenommen aus. Man hatte ihm
Dutzende von kleinen Holzsplittern aus Stirn- und Kopfhaut
gezogen. „Da ist nicht ein Bett mehr frei im Revier“, erzählte er.
„Die 109. Batterie hat fünf Tote, die 136. vierzehn. Die
Verletzten haben sie bis nach Bochum in ein Reservelazarett
bringen müssen.“ Am Abend schaltete er Ziesches kleines
Radio ein. „Der Kasten dürfte hin sein!“ sagte Gomulka. Aber
auf einmal tönte aus dem Lautsprecher die harte Stimme des
Sprechers. Holt fuhr kerzengerade auf seinem Bett empor. „...
Juli neunzehnhundertvierundvierzig. Auf den Führer wurde
heute ein Sprengstoffanschlag verübt. Aus seiner Umgebung
wurden hierbei verletzt: Generalleutnant...“
„Das ist...“, rief Gomulka. „Still!“ fuhr Wolzow ihn an. „...
Mitarbeiter Berger. Leichtere Verletzungen trugen davon:
Generaloberst Jodl, die Generale Körten...“ Holt blickte immer
abwechselnd auf Wolzow und Gomulka. Wolzow beugte sich
aufmerksam über das Radio. Gomulka hielt den Mund offen
263
und starrte wie hypnotisiert auf einen Fleck an der Wand. „...
Bodenschatz, Heusinger, Scherff...“ Vetter richtete sich auf,
ganz langsam, und sein Gesicht spiegelte Verständnislosigkeit.
„... Führer selbst hat außer leichten Verbrennungen und
Prellungen keine Verletzungen erlitten“, sagte der Sprecher im
Radio. „Er hat unverzüglich darauf seine Arbeit
wiederaufgenommen und wie vorgesehen den Duce zu einer
längeren Aussprache empfangen...“ - „Den Duce?“ sagte
Vetter. „Er hat den Duce...?“ Wolzow herrschte ihn an: „Ruhe!“
– „... traf der Reichsmarschall beim Führer ein.“
Schluß, aus.
Die harte Stimme war verstummt. Wolzow stand schweigend
den Kopf schräg gelegt. Aus dem Radio ertönte Marschmusik.
Vetter fragte, als habe er nichts verstanden: „Ein Attentat? Ein
Bombenattentat? So ein richtiges Bombenattentat?“ Wolzow
entschloß sich: „Das müssen wir melden! Wer weiß, ob das
außer uns jemand gehört hat!“ Er nahm seine Mütze. „Komm,
Werner!“
Draußen war es noch immer heiß. Die Sonne stand in den
Dunstbänken über dem Horizont. Holt packte Wolzow am Arm.
„Was hat das zu bedeuten?“ – „Woher soll ich das wissen?“
sagte Wolzow. Sie liefen über den Lattenrost, der außerhalb der
Feuerstellung unbeschädigt auf dem Acker lag. Zwischen den
Geschützständen schaufelten die Gefangenen an den
Trichtern.
Gottesknecht stand vor der Schreibstube und rauchte seine
kurze Pfeife. „Na, ihr Dioskuren?“ fragte er freundlich. „Holt, wie
sehn Sie denn aus? Ist Ihnen der Schock gestern so tief in die
Galle gefahren?“
Wolzow trat einen Schritt an Gottesknecht heran. Der
Wachtmeister nahm die Pfeife aus dem Mund und zog ein
eigenartiges, gespanntes Gesicht. Er blieb eine Weile
schweigend stehen. Dann meinte er: „Es ist gut. Der Chef ist
zur Untergruppe gerufen worden und noch nicht zurück...“ Er
rührte sich nicht vom Fleck. „Der... Führer lebt, sagen Sie?“ –
„Jawohl. Aber ein paar Generäle sind verletzt, Jodl, Heusinger,
Admiral Voß, ich hab mir nicht alle Namen merken können...“
Gottesknecht nickte abwesend, tief in Gedanken. Dann rückte

264
er seine Mütze zurecht und verschwand wortlos in der
Schreibstube. Wolzow sagte: „Beim Major, da wird der Chef
vielleicht schon Einzelheiten erfahren.“ – „Ich versteh das alles
nicht“, sagte Holt hilflos. „Denkst du, ich?“ meinte Wolzow.
In der Stube plärrte das Radio noch immer Marschmusik.
Vetter und Gomulka stritten miteinander. „Und Badoglio?“
schrie Vetter. „Wie war das bei Badoglio?“ Gomulka machte
eine abweisende Handbewegung. Er sah erschöpft und
verfallen aus. „Hört doch mit dem Gequatsche auf“, sagte
Wolzow. Er dämpfte die Musik. Holt saß verwirrt und apathisch
auf einem Schemel. Ein paar Flakwehrmänner polterten durch
den Korridor in die große Stube. Holt sah auf die Uhr, es war
noch nicht acht. Wolzow fuhr ihn plötzlich an: „Sitzt der Kerl hier
rum! Du bist mir ein schöner Geschützführer! Hast du denn
deine Nachtbedienung schon beisammen?“ Holt erhob sich
widerwillig.
Während der Leitungsprobe ging Gottesknecht von Geschütz
zu Geschütz. „Sie bekommen einstweilen drei Mann von Dora
und Flakwehrmänner. Morgen früh wird neu eingeteilt.“
Holt war so müde, daß er nur noch einen Gedanken kannte:
Schlafen, mag kommen, was will! In der Stube warf er sich aufs
Bett. Schon nach einer Stunde stieß ihn Wolzow in die Rippen:
„Raus! Gefechtsschaltung!“ Der übliche schnelle Kampfverband
flog über das Ruhrgebiet hinweg.
Im Geschützstand warteten die Flakwehrmänner, die nun die
Nachricht von dem Attentat in der Batterie verbreiteten. Vetter
sagte: „Also, mir ist das jetzt restlos klar. Das sind diese
Bolschewisten gewesen.“ Wolzow meinte: „Und wie kommen
die Bolschewisten ins Führerhauptquartier? Wo gibt’s denn so
was!“ – „Also dann waren das diese Kommunisten“, sagte
Vetter.
Einer der Flakwehrmänner sagte leise und gleichgültig:
„Kommunisten? Deutsche Kommunisten? Die sind alle im KZ
oder im Zuchthaus.“ – „Da gehören sie ja wohl auch hin!“ rief
Wolzow scharf.
Erst kurz vor Mitternacht meldete der Luftwarndienst den
schnellen Kampfverband im Abflug über der deutschen Bucht.
Wolzow und Holt zerrten die Persenning über die Kanone.

265
Vetter sagte: „Die Flakwehrmänner sind komisch.“ – „Proleten“,
knurrte Wolzow.
In der Stube drehte Vetter an dem kleinen Radio, aus dem
noch immer Marschmusik ertönte. Er sagte aufgeregt: „Der
Führer spricht!“ Da wurde schon die Tür aufgerissen. Auf der
Schwelle stand Kutschera, groß und bedrohlich. Vetter brüllte:
„Achtung!“ Der Hauptmann winkte ab. „Alles in die Kantine!
Gemeinschaftsempfang!“
Holt hatte sich nur die schweren, benagelten Schuhe
ausgezogen und war angekleidet auf sein Bett geklettert.
Übermüdung und Abgespanntheit hatten einen solchen Grad
erreicht, daß er alles distanziert wie ein Zuschauer im Kino
erlebte, unbeteiligt, gleichsam von fern, ohne innere
Anteilnahme. Geht mich alles nichts an, dachte er. Ich wach
plötzlich auf, da sitzt Ziesche auf seinem Bett und quatscht: Der
nordische Mensch ist zur Neuordnung Europas bestimmt, oder
so ähnlich... Holt sprang vom Bett. Ist das tatsächlich erst
gestern passiert? Ein Tag ist wie tausend Jahre, aber warum
hat Kutschera nicht den UvD geschickt?
„Vetter!“ schrie Kutschera, und seine Stimme dröhnte wie ein
Gong. „Was sagen Sie zu dem Anschlag auf unseren Führer
Adolf Hitler?“
„Ich?“ stammelte Vetter. „Was ich...? Meinen Sie, was ich...?“
– „Sie pennen wohl!“ schimpfte Kutschera. Gomulka sagte
unaufgefordert: „Herr Hauptmann, in den letzten vier Tagen
haben wir keine fünf Stunden geschlafen!“ Kutschera wandte
Gomulka das Pferdegesicht zu, aber da rief Gottesknecht auf
dem Korridor: „Herr Hauptmann, jeden Augenblick beginnt die
Führerrede!“

In der Kantine drängten sich übermüdete Luftwaffenhelfer,


Obergefreite und Flakwehrmänner. Gottesknecht bediente den
großen Radioapparat, der sonst in der Chefbaracke stand.
Holt hatte weit hinten, in einer Ecke, Platz genommen, wo er
sich wenig beobachtet fühlte. Er machte es sich auf dem harten
Stuhl so bequem wie möglich. Wolzow saß neben ihm. Holt war
nur noch halb wach, die klirrende Musik aus dem Lautsprecher
wirkte einschläfernd. In diesem Schwebezustand zwischen

266
Wachen und Schlafen war die Phantasie seltsam rege. Nun
verstummte die Marschmusik. Der Ansager redete und redete.
Großdeutscher Rundfunk, angeschlossen die Sender... Sender
und immer mehr Sender, dann war es still, eine lange Weile,
und Holt dachte: Es geht gleich los!... Er legte den Kopf auf die
Seite, so sah er Wolzows Profil. Sein Verstand taumelte an der
Schlafgrenze entlang. Wolzow ist der beste Mann in der
Geschützstaffel, deutsche Volksgenossen und
Volksgenossinnen, und so einen Ladekanonier soll sich eine
Batterie erst einmal suchen! Ich weiß nicht, zum wievielten Male
nunmehr ein Attentat auf mich geplant und zur Durchführung
gekommen ist, zum wievielten Male?, na, aber das muß der
Führer doch eigentlich wissen, komisch, so was merkt man sich
doch, also, ich würde mir das genau merken, ein
Bombenattentat passiert ja schließlich nicht alle Tage... Holt riß
die Augen auf. Der Führer spricht! dachte er. Es war ein
Zauberwort von Kindheit an: Der Führer spricht! Und zwar
spricht er heute besonders aus zwei Gründen: erstens, damit
Sie meine Stimme hören und wissen, daß ich selbst unverletzt
und gesund bin, zweitens, damit Sie aber auch das Nähere
erfahren über ein Verbrechen, das in der deutschen
Geschichte... hoppla, nicht einschlafen!... Eine ganz kleine
Clique ehrgeiziger, gewissenloser und verbrecherischer
dummer Offiziere... Holt fuhr aus dem Halbschlaf hoch... hat ein
Komplott geschmiedet, um mich zu beseitigen... Holt versuchte,
den Schlaf abzuschütteln, es gelang, nur die Augen brannten,
aber der Verstand war für ein paar Augenblicke hellwach, Holt
hatte das Gefühl, jemand habe ihm einen Eimer eiskalten
Wassers über den Kopf gegossen. Offiziere? Ein Komplott
deutscher Offiziere gegen den größten Führer aller Zeiten?
„Die Bombe, die von dem Oberst Graf Stauffenberg gelegt
wurde, krepierte zwei Meter von meiner...“
Stauffenberg? Holt war nicht fähig, sosehr er sich auch Mühe
gab, der Rede Wort für Wort zu folgen. Einzelne Satzfetzen
hakten sich in seinem Denken fest. Oberst Graf Stauffenberg?
Ein Oberst legt eine Bombe? Was hat das zu bedeuten, wie ist
das zu verstehen, was war damit bezweckt...?

267
„... bis auf ganz kleine Hautabschürfungen und
Verbrennungen. Ich fasse das als eine Bestätigung des
Auftrages der Vorsehung auf, mein Lebensziel...“
Vorsehung, dachte Holt. Er erschlaffte. Müdigkeit und
Erschöpfung waren so stark, daß sie auch die Erregung
niederzwangen. Ein Schleier zog sich über sein Bewußtsein,
seine Gedanken liefen bunt wie im Traum durcheinander.
Vorsehung, Schicksal... Daß Ziesche heute morgen
umgekommen ist, das ist auch die Vorsehung gewesen, sonst
wär mir’s nämlich dreckig gegangen, Gertie und mir... Es ist
eben doch gut, daß es eine Vorsehung gibt... Glaube an die
Vorsehung, Glaube an Gott... Ich glaube an einen Sinn der
Geschichte, das hab ich doch irgendwann einmal gehört, der
Doktor Goebbels muß das gesagt haben, in einer Rede... Ich
glaube... aber mein Vater, mein Vater?... der hat immer das
Gesicht verzogen, wenn einer vom Glauben sprach, von der
Vorsehung... Kunststück: Der Intellektuelle glaubt nicht, weil er
nicht glauben kann, das hab ich auch gelesen, bei Hanns Johst,
und mein Vater ist überhaupt ein typischer Defätist, ein richtiger
Miesmacher! In der Schule mußte ich mal zwei Seiten Hanns
Johst auswendig lernen: Es gibt in der Provinz des Glaubens
keine Problematik, sondern eine Gnade, ja, keine Problematik,
sondern eine Gnade, das hab ich damals nicht verstanden,
heute versteh ich’s: man muß an den Führer glauben, an die
Vorsehung, an den Endsieg, an die Me163, an die V1, an den
neuen Ein-Mann-Torpedo, auch wenn die Russen bei Wilna
weiter nach Westen vordringen, na, und mit der Invasion,
vonwegen: die Brust hebt sich im Vorgefühl der entscheidenden
Stunde...
„Schlaf nicht!“ Holt wurde in die Seite gestoßen, das war
Wolzow. Na ja doch! Der Führer spricht! Holt sah sich blinzelnd
um: alles starrte wie gebannt auf das Radio. Die heisere
Stimme im Lautsprecher schrie: „... wie im Jahre 1918 den
Dolchstoß in den Rücken zu führen...“
Richtig, der Dolchstoß! dachte Holt schläfrig. Das war wohl die
größte Gemeinheit damals! Wenn man sich das so überlegt, ein
Dutzend Zuhälter und Deserteure, und sie haben der Front
einfach die Waffe aus der Hand gewunden... aber im Lesebuch

268
stand: Und ihr habt doch gesiegt... und schlägt’s dich in
Scherben, ich steh für zwei, und geht’s zum Sterben, ich bin
dabei...
„... ganz kleiner Klüngel verbrecherischer Elemente, die jetzt
unbarmherzig ausgerottet werden...“
Ausgerottet: das hörte Holt noch, dann nickte er ein. Aber
Wolzow stieß ihn derb in die Seite: „Mensch, hör zu!“ Holt raffte
sich noch einmal auf und mühte sich, der Stimme im Radio zu
folgen. „... befehle daher in diesem Augenblick: Erstens, daß
keine Zivilstelle irgendeinen Befehl entgegenzunehmen hat von
einer Dienststelle, die sich diese Usurpatoren anmaßen.
Zweitens, daß keine Militärstelle, kein Führer einer Truppe, kein
Soldat irgendeinen Befehl dieser Usurpatoren...“
Was bedeutet bloß Usurpatoren? grübelte Holt, das muß doch
aus dem Lateinischen kommen, ach ja, usu rapere, damit war
Wiese mal dran, Peter Wiese, der hat’s gut, der ist daheim und
kann schlafen! „... entweder sofort zu verhaften oder bei
Widerstand augenblicklich niederzumachen...“
Niederzumachen, auszurotten, dachte Holt, er begann zu
frieren, aber das ließ ihn wieder munter werden. „... freudig
begrüßen“, hörte er verständnislos, da er den Zusammenhang
verloren hatte, „daß es mir vergönnt war, einem Schicksal zu
entgehen, das nicht für mich Schreckliches in sich barg,
sondern das den Schrecken für das deutsche Volk gebracht
hätte. Ich ersehe daraus auch einen Fingerzeig der Vorsehung,
daß ich mein Werk weiterführen muß und daher weiterführen
werde..,“ Stille. Eine andere Stimme: „Großdeutscher
Rundfunk...“ Vorbei!
Ringsum setzte heftiger, wenn auch gedämpfter Stimmenlärm
ein, alles redete durcheinander. Holt klapperte mit den Zähnen.
„Batterie...“, rief Gottesknecht langgezogen, und der
Stimmenlärm verstummte, „...Achtung!“ Ein einziges,
donnerndes Füßeaufstampfen. Luftwaffenhelfer und
Flakwehrmänner standen bewegungslos. Kutscheras Stimme,
rauh und brüllend wie je, füllte den niedrigen Kantinenraum.
„Befehle werden nur von direkten Vorgesetzten
entgegengenommen!“ Pause. Dann: „Die schwere
Heimatflakbatterie 107 steht in bedingungsloser Treue zum

269
Führer! Sollte jemand in der Batterie...“ Pause. Dann: „... oder
sollte irgendeiner unter den Flakwehrmännern glauben, jetzt
könnte man bißchen aufwiegeln, Zersetzung treiben...“ Pause.
Dann: „... den leg ich selber um, an Ort und Stelle! Da bin ich
mir gar nicht zu fein dazu!“
Die Tür fiel ins Schloß. Gottesknecht ließ auf die Stuben
wegtreten. Holt sah auf die Uhr. Es war null Uhr dreißig
Minuten. Luftwaffenhelfer und Flakwehrmänner verloren sich in
der Weite des Batteriegeländes, kletterten in der Dunkelheit
durch das Kratergebirge der halb zugeschütteten
Bombentrichter. Auf der B 2, bewegungslos, mit umgehängtem
Gewehr, stand ein Obergefreiter Posten.
Zwei, drei Tage vergingen. Nacht für Nacht dröhnte der
Himmel, fielen Leuchtzeichen, lohte das Feuer der Brände.

Holt schlief erschöpft. Als ihn jemand wachrüttelte, lag er mit


dem Gesicht zur Wand, und es dauerte lange, bis er munter
wurde. Er wälzte sich herum, sah die gelbe Schnur, den
Stahlhelm... Der UvD stand an seinem Bett. Holt richtete sich
auf. Der Obergefreite sagte mit halblauter Stimme: „Werden Sie
endlich wach! Sofort zum Chef!“
Zum Chef? Holt schaute verständnislos. Was soll ich früh um
vier beim Chef, was will Kutschera von mir? „Was soll ich
denn...“ – „Reden Sie nicht, stehen Sie auf! Schnell!“
Holt schnürte die Schuhe zu und überlegte. Wieder
bemächtigte sich seiner das Angstgefühl und wurde zur Panik:
Die Russen! Es kann nur wegen der Russen sein! Hätt ich
damals bloß nicht den verdammten Wahnsinn angezettelt! Was
gingen mich die Gefangenen an!
„Stahlhelm auf“, sagte der UvD.
Wer mag mich verraten haben? Jetzt, nach drei Wochen? Er
fühlte mechanisch mit den Händen nach, ob alle Knöpfe
geschlossen seien. Oder... was kann er sonst von mir wollen,
mitten in der Nacht? Der Gedanke an Ziesches Tagebuch fuhr
ihm durch den Sinn. Ziesches Tagebuch! Aber das hatte
Gottesknecht an sich genommen, und Gottesknecht... Nein!
Es war fast taghell. Auf dem Fahrweg hielt ein großer
Personenkraftwagen. Vor der Chefbaracke stand Gottesknecht.

270
Holt sah ihn im Vorbeigehen hilfeflehend an. Nickte er nicht
beruhigend mit dem Kopf?
In der verdunkelten Chefunterkunft brannte trübes Licht. Der
UvD meldete. Dann stand Holt allein, mutterseelenallein, mit
dem Rücken zur Tür. Er riß sich zusammen. Die Hacken
knallten, der rechte Arm flog zum Gruß empor: „Oberhelfer Holt
meldet sich wie befohlen!“ Sekunden zogen sich in die Länge,
dann sagte Kutscheras Stimme: „Sie können rühren.“
Jetzt erst nahm Holt Einzelheiten des matt erleuchteten
Raumes in sich auf. Die Luft war von Tabakqualm verschleiert.
Ein unberührtes Feldbett, zwei Sessel an einem Rauchtisch, ein
Schreibtisch, Telefon, das große Radio... Hinter dem
Schreibtisch hockte ein Zivilist. In einem der Sessel saß
Kutschera mit aufgeknöpftem Waffenrock, neben ihm ein
fremder Offizier, nein, ein SS-Führer, und Holt entschlüsselte
rasch die Schulterstücke: Rangstufe eines Oberleutnants, ein
SS-Obersturmführer muß das also sein... Obersturmführer...
daß ich mich bloß nicht irre! Zum Glück fiel ihm noch ein, daß
bei der SS die Anrede „Herr“ wegfiel.
„Näher ran, Holt“, sagte der Hauptmann. Auch wenn er ganz
leise sprach, war seine Stimme gewaltig. Holt gehorchte. Der
fremde SS-Führer sagte: „Sie sind Werner Holt?“
„Jawohl, Obersturmführer!“
Frage und Antwort fielen Schlag auf Schlag. Kutschera hörte
gelassen zu und rauchte.
„Kriegsfreiwilliger?“
„Jawohl, Obersturmführer. Panzertruppe.“
„Was ist Ihr Vater?“
„Mediziner, Obersturmführer. Jetzt Lebensmittelprüfer.“
„Ihr Vater mußte 1938 gemaßregelt werden. Wie stehen Sie
dazu?“
Holt zögerte mit der Antwort, aber dann sagte er: „Ich hab seit
Jahren kaum Kontakt mit ihm. Er ist mir sehr fremd.“
„Warum sind Sie dann Weihnachten zu ihm auf Urlaub
gefahren?“
„Er... hatte mich eingeladen, Obersturmführer.“ Das war eine
Lüge. „Ich fühlte mich verpflichtet.“

271
„Sie waren nur einen Tag bei Ihrem Vater, und Sie haben sich
dort nicht wie vorgeschrieben auf der Urlauberstelle des
Wehrbezirkskommandos gemeldet. Wo waren Sie die anderen
drei Tage?“
Ja um Gottes willen, woher weiß er denn das alles?
„Los, Antwort!“
„Ich war in einem Dorf im Kreis Wesel... es heißt Dingden.
Dort hab ich in einem Gasthof gewohnt. Gasthof ,Zur Quelle’.“
„Haben Sie sich dort gemeldet?“
„Ins Gästebuch eingetragen und ausgewiesen,
Obersturmführer.“
Eine Handbewegung nach links, und der Zivilist hinter dem
Schreibtisch nickte und notierte. Sie werden das nachprüfen,
dachte Holt, verdammt, da steht ja auch Gerties Name im
Gästebuch! Aber was will er nur von mir, das sind doch alles
nur Randfragen...
„Kennen Sie einen Oberst Barnim?“
„Jawohl, Obersturmführer, das heißt, nein...“
„Was denn nun: ja oder nein?“
Das war die entscheidende Frage, Holt fühlte es genau.
Schon lief unter dem Stahlhelm Schweiß hervor und rann übers
Gesicht. „Ich kenne ihn nicht persönlich, Obersturmführer, ich
habe ihn nie gesehen oder gesprochen.“
„Wen kennen Sie aus seiner Familie?“
„Die beiden Töchter, Obersturmführer. Die älteste Tochter
kenne ich persönlich, die jüngere nur so vom Sehen.“
„Die älteste Tochter heißt Uta?“
„Jawohl, Obersturmführer.“
„Wann waren Sie mit ihr das letztenmal zusammen?“
„Im September, Anfang September vorigen Jahres,
Obersturmführer.“
„Wo bewahren Sie die Briefe auf, die sie Ihnen seither
geschrieben hat?“
Holt schluckte. „Im Spind, Obersturmführer.“
Eine verbindliche Handbewegung zu Kutschera.
„Gottesknecht!“ brüllte Kutschera. In Holts Rücken ging die Tür.
„Herr Hauptmann?“ Der Obersturmführer sagte zu Holt:
„Erklären Sie, wo die Briefe liegen!“

272
Holt blickte auf Gottesknecht. „Mein Spind ist offen... Oben
links... eine Mappe, die Briefe sind zusammengebunden...“
„Bringen Sie die ganze Mappe!“ sagte der Obersturmführer.
Die Tür fiel ins Schloß. Ehe Holt einen Gedanken fassen
konnte, ging die Fragerei weiter.
„Kennen Sie einen Leutnant Kiefer?“
Holt überlegte. Kiefer, Kiefer, warte doch mal...
„Antworten Sie!“
„Ich habe einmal in einer Gesellschaft einen Leutnant
getroffen, der mit Uta Barnim verlobt war. Ich komm nicht mehr
drauf, ob er Kiefer hieß. Kann sein. Er war von der
Panzertruppe.“
„Wann war das?“
„Voriges Jahr im Juli, Obersturmführer.“
„Was war das für eine Gesellschaft?“
„Die Schwester eines Klassenkameraden hatte Geburtstag.
Ich kam zufällig dazu.“
„Wie heißt dieser Klassenkamerad?“
„Wiese, Obersturmführer.“
Blick auf Kutschera. Kutschera bewegte verneinend den Kopf.
Handbewegung nach links, der Zivilist notierte. „Kannten Sie
damals die Barnim schon?“
„Nein, Obersturmführer. An diesem Nachmittag hab ich sie
kennengelernt.“
An diesem Nachmittag... unvergeßlicher Augenblick! Holt
fühlte sich elender als je zuvor, fast kam ihm ein Weinen an.
Die Tür knarrte, Gottesknecht sagte: „Befehl ausgeführt!“ und
legte Holts Schreibmappe auf den Rauchtisch. Der
Obersturmführer nahm die Briefe heraus und blätterte sie
durch, es war ein ansehnlicher Packen.
„Sind das alle Briefe, die sie Ihnen geschrieben hat?“
„Jawohl, Sturm... Verzeihung, Obersturmführer.“
„Fehlt keiner?“
„Nein, Ober... stürm... führer.“
„Was ist los?“
„Nichts, Obersturmführer.“
„Die Briefe sind beschlagnahmt.“ Nun wurde die Mappe
durchgesehen, aber sie enthielt nur unbeschriebenes Papier.

273
Handbewegung nach links, der Zivilist erhob sich und verließ
grußlos die Baracke.
Der Obersturmführer richtete den Blick prüfend auf Holt, einen
scharfen, durchdringenden Blick aus hellgrauen Augen. Holt
hielt diesem Blick stand. Aber in seinem Inneren breitete sich
ein Schwächegefühl aus, das seine Knie beben ließ. Die
Stimme des Obersturmführers klang sehr nahe: „Wissen Sie,
wo die Barnim sich aufhält? Können Sie uns einen Hinweis
geben, wo sie sich vielleicht aufhalten könnte?“
„Ich habe wirklich keine Ahnung, Obersturmführer“, sagte Holt,
und seine Stimme zitterte.
„Sollte die Barnim Ihnen in Zukunft irgendwelche Nachricht
geben, gleichgültig ob brieflich oder telefonisch oder sonstwie,
sollten Sie auf irgendeine Weise von ihr hören oder etwas über
ihren Aufenthalt erfahren, so haben Sie sofort der Geheimen
Staatspolizei, der Polizei oder Feldgendarmerie, notfalls Ihrem
Vorgesetzten davon Mitteilung zu machen unter Hinweis darauf,
daß nach der Barnim gefahndet wird. Haben Sie verstanden?“
„Jawohl, Obersturmführer.“
„Nehmen Sie Haltung an!“
Holt zog die Hacken zusammen.
„Hiermit belehre ich Sie darüber, daß Sie sich selbst der
schwersten Bestrafung aussetzen, falls Sie im angenommenen
Fall eine Meldung unterlassen.“
„Jawohl, Obersturmführer.“
Der Obersturmführer wandte sich an Kutschera. „Ich bin fertig,
Hauptmann Kutschera.“ Kutschera bellte: „Haun Sie ab,
Mensch, und halten Sie gefälligst den Mund.“
Holt bewegte sich nicht. Er preßte verzweifelt die Hände an
die Hosennaht. „Herr Hauptmann... Ich bitte, eine Frage an den
Obersturmführer...“ – „Da müssen Sie doch nicht mich fragen“,
schimpfte Kutschera. Der Obersturmführer sah Holt befremdet
an.
„Was wollen Sie?“
„Ich bitte fragen zu dürfen“, sagte Holt mühsam, denn
Gewißheit wollte, nein mußte er haben, „ob... ob Uta Barnim...
Ob der Oberst Barnim...“

274
„Der Oberst Barnim“, sagte der Obersturmführer drohend und
schnell, „ist erschossen worden.“
Ist erschossen worden. Erschossen.
„Und Sie als Deutscher sollen sich Ihr Lebtag schämen, mit
diesem Abschaum bekannt gewesen zu sein!“
Kutschera: „Und jetzt raus, Sie, aber schnell!“
Gruß. Kehrtwendung. Tür auf. Tür zu. Die Sonne scheint. Sie
steigt aus den Dunstbänken empor. Alles geht weiter. Um acht
wird geweckt. Auch ich werde geweckt, und alles war nur ein
böser Traum. Zemtzki ist noch am Leben, es gibt keine Short
Stirling mehr, keine Kanone und keinen Stubendienst. Es ist
alles wieder wie in fernen Kindertagen, als der Vater tröstend
sagte: Nein, böse Hexen gibt’s nur im Märchen... Und was
dazwischen liegt, zwischen dem fernen Gestern und dem Jetzt,
das ist nur ein Traum gewesen. Alles ist nur ein Traum. Hab nur
Vertrauen: Wenn der Traum auch drückend ist, einmal wird das
Wecksignal geblasen, dann fällt ins Dunkel zurück, was dich
bedrückte, und du lachst darüber und schüttelst es ab.

Holt ging zum Geschütz Berta. Als gegen sieben


Gefechtsschaltung befohlen wurde, hatte er sich wieder in der
Gewalt. Wolzow nahm ihn beiseite. Holt sagte: „Ich mußte ein
paar Auskünfte geben. Es ist uninteressant und hat nichts mit
uns hier zu tun.“
Wolzow sagte: „Na schön, dann eben nicht.“
Der übliche Morgenaufklärer steuerte den süddeutschen
Raum an. Dann folgten Kampfverbände und warfen im Raum
Bremen Bomben. Gegen elf hieß es: „Starke Jagdverbände im
Anflug auf den Raum Köln–Essen.“ Die Untergruppe warnte vor
Tieffliegern. Holt gab alle Durchsagen unbewegt weiter. Wolzow
und Gomulka redeten auf die Schlesier ein, die jede Warnung
vor Tieffliegern in Panik stürzte. Dorsten, Haltern und Lünen
meldeten Tiefangriffe auf verschiedene Ziele, auch auf
Flakbatterien. Vetter wechselte mit einem der Schlesier den
Platz und setzte sich an die Seitenrichtmaschine. Wolzow
wickelte den leuchtend weißen Verband vom Kopf und drückte
den Stahlhelm in die wunde Stirn. Recklinghausen und
Dinslaken meldeten Tiefangriffe, dann Moers, Krefeld und

275
Düsseldorf. „Gleich sind sie da!“ sagte Holt. Gottesknecht gab
einen Rundspruch: „Nehmt volle Deckung!“ Wolzow sagte: „Ich
schieß Nahfeuer, und wenn ich krepier!“
Sie waren da. Sie stießen vom Himmel, rasten am Horizont
entlang, sehr tief. Fern sprang eine riesige Feuersäule hoch,
„Öl!“ schrie Wolzow. „Die Raffinerien von Gelsenkirchen!“
Irgendwo schoß eine schwere Batterie und verstummte wieder.
Fern hämmerte Zweizentimeterflak. Eine Kette einmotoriger
Maschinen flog von Norden heran und stieß auf die Batterie
herab. Sie drosselten die Motoren und flogen so niedrig, daß
sie beim Abflug über das Wäldchen hinwegspringen mußten.
Sie wendeten und flogen von neuem an, drei Mustangs. Erst
warfen sie ihre Bomben, dann feuerten sie mit Raketen und
Bordwaffen auf die B 2 und die Geschützstände. Wild und
hemmungslos kurvten sie über der Batterie.
Zwei Geschütze schossen Nahfeuer. Cäsar verstummte nach
zwei oder drei Schuß. Berta feuerte sinnlos weiter. Die
Jagdbomber flogen immer wieder den Geschützstand an. Einer
der Schlesier fiel über einen Holm, Wolzow schleifte ihn zur
Seite. Er lud und feuerte. Dann fiel Vetter vom Sitz der
Seitenrichtmaschine, und auch Berta verstummte. Die
Jagdbomber zogen steil in die Höhe und verschwanden.
Holt und Gomulka bemühten sich um Vetter. Ein Splitter hatte
den Stahlhelm getroffen, ohne ihn zu durchschlagen. Vetter
erlangte bald wieder das Bewußtsein. „Mensch, du überlebst
uns alle!“ sagte Wolzow. Er drehte den Schlesier auf den
Rücken, dann warf er die Persenning über ihn. Gomulka nahm
den Stahlhelm ab und sagte: „Jetzt wird es gottverdammt Zeit,
daß wir Urlaub bekommen!“ Holt rief: „Starke Kräfte der in den
Raum Bremen eingeflogenen Kampfverbände sind nach
Südwesten abgedreht. Mit Bombenabwürfen im westfälischen
Gebiet ist zu rechnen.“ Gomulka setzte den Stahlhelm wieder
auf. Wolzow trieb die demoralisierten Schlesier ans Geschütz.
Im Norden setzte schweres Flakfeuer ein. Vetter lehnte in einer
Ecke und hielt sich den Kopf. „Du mußt mitmachen“, schrie
Wolzow, „wir sind nur drei Munitionskanoniere!“ Die Bomber
flogen nordwestlich vorbei und warfen Bomben auf Duisburg.
Die Batterie feuerte. Gegen fünfzehn Uhr wurde die

276
Gefechtsschaltung aufgehoben, eine Stunde später flogen
abermals Aufklärer ein, Bomberströme folgten, Jagdverbände
und wieder Bomber. Die Jungen blieben sechsunddreißig
Stunden lang am Geschütz. Anschließend hatten sie ein paar
Stunden Ruhe.
„Das geht so weiter“, sagte Gomulka zu Holt. „Das wird nicht
besser, das nimmt kein Ende.“ Holt antwortete nicht.

14

Sie hausten zu viert in der kleinen Stube, bis Gottesknecht


alles durcheinanderbrachte. Baracke Berta wurde geräumt für
den Ersatz, der nun jeden Tag eintreffen sollte. „Sie dürfen sich
aussuchen, wen Sie zu sich in die Stube nehmen wollen“, sagte
Gottesknecht, „wie bin ich wieder mal zu Ihnen?“ Sie
entschieden sich für Kirsch und Branzner. Beide hatten anfangs
zur Stammbedienung Anton gehört, waren zu Dora
übergewechselt und taten nun seit dem Ausfall zweier
Geschütze des Nachts bei Berta Dienst. „Die beiden sind in
Ordnung“, sagte Wolzow. Gomulka sagte zu Holt: „Aber der
Branzner steckt in der letzten Zeit dauernd mit Kieback
zusammen, und mit denen...“ – „Seit dem letzten Tiefangriff“,
meinte Holt, „ist die ganze Batterie so... fanatisch. Der Angriff
hat eine wahre Erbitterung ausgelöst.“ – „Ich möchte mal
wissen, wieso?“ sagte Wolzow. „Wir sind doch ein militärisches
Ziel. Das ist doch in Ordnung, wenn sie uns angreifen!“ – „Seit
dem Attentat haben alle die Übersicht verloren“., sagte
Gomulka. Wolzow erzählte: „Gestern abend hat Kutschera die
Obergefreiten schleifen lassen, weil der deutsche Gruß immer
noch nicht klappt!“
Branzner erwies sich als eine „äußerst zweifelhafte
Errungenschaft“, wie Gomulka am Morgen nach dem Einzug zu
Holt sagte. Unter dem Eindruck der Zeitereignisse, als Reaktion
auf die blutigen Gefechte, hatte Branzner sich sehr verändert.
Er sah, wie er schon am ersten Abend beiläufig erklärte, den
einzigen Garanten des Endsieges darin, allen Anstrengungen
des Feindes den unerschütterlichen und fanatischen Glauben
277
an die Sendung des Führers und die Ewigkeit des Reiches
entgegenzusetzen. Natürlich gab es gleich Streit.
Wolzow hörte sich Branzners Erklärung an, mit
schräggelegtem Kopf. Holt dachte: Da haben wir ja Ziesche
wieder! Aber Branzner übertraf Ziesche noch, denn er war
redseliger und wortgewandter, wenn er auch seines schwarzen
Haares wegen weniger von Rasse sprach und der völkisch-
rassische Gedanke nur gelegentlich in seinen Argumenten
Platz hatte.
„Hör mal zu“, sagte Wolzow auf Branzners programmatische
Erklärung. „Unerschütterlichkeit, Fanatismus...“ Er brach ab und
dachte nach. „Wenn einer ein bißchen bekloppt ist, verstehst
du, beschränkt, eben dämlich, wie so die meisten sind, dann ist
der fanatische Glaube ein ganz brauchbares Mittel, ihn bei der
Sache zu halten. Ohne diesen Glauben würden die meisten
immerfort aus den Pantoffeln kippen, weil sie keine kriegerische
Tugend haben und weil ihnen die höhere Einsicht fehlt. Aber
unsereins? Angenommen, der Krieg wäre verloren, so eindeutig
verloren, daß es ein Blinder sieht: ich würde trotzdem
weiterkämpfen, ohne fanatischen Glauben, ganz einfach weil
sich das für einen Soldaten gehört. Was anderes gibt es gar
nicht. Hör zu, Branzner! Was meinst du wohl, warum wir neulich
als einzige Kanone Nahfeuer geschossen haben, während ihr
samt eurem Glauben schön flachgelegen habt? Etwa weil ich
fanatisch glaube, daß das was nützt? Quatsch. Nahfeuer nützt
gar nichts. Aber es gehört sich so!“ Wolzow redete sich in Eifer.
„Ein Soldat muß kämpfen, ohne Frage, ob es einen Sinn hat
oder keinen! Ein Soldat ist zum Kämpfen da, zu nichts
anderem! Dein Glaube, mein Lieber, ist eine verdammt
unsichere Sache, er kann in die Binsen gehn, und dann sitzt du
da und schnappst nach Luft! Bei mir kann nichts in die Binsen
gehn. Bei mir heißt es: Der Soldat hat zu kämpfen. Also wird
gekämpft.“
Was Wolzow sagte, gefiel Holt besser als die Forderung nach
blindem, fanatischem Glauben. Jetzt wußte er auch, wo
Wolzow seine Ruhe hernahm. Er dachte: Leicht ist das nicht, so
zu denken wie Wolzow, ohne irre zu werden. Da muß man wohl
seit 1750 aktive Offiziere zu Vorfahren haben.

278
„Kämpfen als Selbstzweck“, sagte Gomulka, „halten wir das
mal fest. Kampf ist für dich Selbstzweck, Gilbert, und das läßt
sich hören. Mit dieser Einstellung brauchst du keinen Glauben
an den Endsieg oder an den Führer. Aber einen Einwand
forderst du geradezu heraus. Es ist ein Widerspruch in deiner
Auffassung.“ Er furchte die Stirn, so angestrengt dachte er
nach. „Du hast uns oft genug die Fehler erklärt; die in der
Vergangenheit von Feldherren begangen wurden. Terentius
Varro, Daun und Karl von Lothringen bei Leuthen, du kannst
also nicht abstreiten, daß du einen Zweck des Kampfes
anerkennst: den Sieg. Wird deine Überzeugung nicht in dem
Augenblick in die Brüche gehn, wo der Kampf aussichtslos ist?“
„Ach wo, ganz und gar nicht! Natürlich, der Kampf soll zum
Sieg führen, der Sieg ist das Salz aufs Brot des Krieges.
Solange eine Möglichkeit besteht zu siegen, so lange wird um
den Sieg gekämpft. Aber man kann auch um eine Remis-
Lösung kämpfen. Und wenn die Lage aussichtslos ist, dann
wird gekämpft, weil sich das so gehört.“
Holt brütete vor sich hin. Wolzows Worte riefen die Erinnerung
an ein Buch in ihm wach, an Ernst Jüngers „Das Wäldchen
125“. Eine Stelle in diesem Buch hatte ihn damals beeindruckt,
und jetzt war sie gegenwärtig. Er sagte: „Ich glaube, Gilbert hat
die... die echte soldatische Haltung.“ Er zitierte, was aus der
Vergessenheit aufgetaucht war: „,Aber ein höchstes Gesetz
erfüllt, wer in einsamer Nacht und auf verlorenem Posten fällt.
Ihrer wird man gedenken, wo immer man die Bitterkeit des
Unterganges liebt und den hohen Sinn, den keine Flamme
versehrt.’ „
Gomulka sog, mit vorgestrecktem Kopf, dieses Zitat in sich
hinein. Nach einem langen Schweigen wiederholte er: „Die
Bitterkeit des Unterganges...“ Branzner hockte mit mißmutigem
Gesicht auf seinem Strohsack, ihm mochte das alles nicht
passen. Holt trat ans Fenster. Die Bitterkeit des Unterganges,
wiederholte er noch einmal in Gedanken.

Gottesknecht riß die Tür auf. „Meine Herren, wollen Sie sich
nicht ein bißchen zur Ruhe begeben, ehe das Theater wieder
losgeht?“ Sein Blick fiel auf Holt. „Was ist mit Ihnen los?

279
Mitkommen! Ich habe mit Ihnen zu reden.“ Es dämmerte.
Gottesknecht hatte seit dem nächtlichen Verhör kein
außerdienstliches Wort mit Holt gewechselt. Jetzt sah er müder
und sorgenvoller aus denn je. „Ihr Urlaub ist bewilligt“, sagte er.
„Aber ehe ich Sie abfahren lasse, muß ich Ihnen ins Gewissen
reden... wegen dieser... Barnims.“
Holt sagte: „Ich weiß von nichts. Ich kann mir das nicht
vorstellen. Ob es mit dem Attentat zu tun hat?“ – „Sobald der
Ersatz eintrifft, können Sie reisen. Sie fahren zu Wolzow, nicht?
Jetzt hören Sie zu! Lassen Sie dort die Finger von den Barnims.
Erkundigen Sie sich nach niemandem. Reden Sie mit keinem
Menschen. Halten Sie den Mund. Haben Sie das verstanden?“
– „Jawohl, Herr Wachtmeister.“ – „Und jetzt ehrlich: Macht
Ihnen die Sache sehr zu schaffen?“
„Ich... denk nicht drüber nach“, sagte Holt.
Gottesknecht lächelte. Es war ein bitteres Lächeln. „Sie
denken nicht nach...“, wiederholte er. Er murmelte: „Keiner
denkt nach... keiner!... Los, legen Sie sich ins Bett!“ – „Jawohl,
Herr Wachtmeister.“

In der Stube wurde wieder gestritten. Wolzow saß auf dem


Tisch, rauchte und fragte, als Holt ins Zimmer trat: „Na... und?“
„Ein bolschewistischer Schriftsteller“, rief Branzner erregt, „hat
erklärt... Ich glaube, er heißt Ehrenburg oder so ähnlich... Er hat
erklärt, daß es für die Bolschewisten nur ein Ziel gibt, und das
heißt Berlin!“ Er lag im Bett, richtete sich auf und stützte sich
auf die Ellenbogen.
„Das braucht dich doch nicht zu wundern“, sagte Wolzow.
„Denkst du, die Russen wollen den Krieg nicht gewinnen? Die
Eroberung der feindlichen Hauptstadt ist für die Russen das
strategische Ziel, das mit dem Siege gleichzusetzen ist. Das
kannst du schon bei Clausewitz unter den ‚Allgemeinen
Grundsätzen der Strategie’ nachlesen.“
„Du hast mir zuviel Verständnis für die Russen“, sagte
Branzner böse. Wolzow lachte nur. Aber auf einmal schimpfte
Gomulka: „Das ist ja zum Verzweifeln! Kaum sind wir den
Ziesche los, und schon liegt einer im selben Bett und pöbelt uns
genauso an! Werden denn diese Stänker niemals alle?“

280
„Nein!“ schrie Branzner, und ein böses Funkeln war in seinen
Augen, als er sich nun gegen Gomulka wandte. „Nein! Sie
werden nicht alle! Was du beschimpfst, das sind die besten
Deutschen, die echten Nationalsozialisten, jawohl! Alle denken
so wie ich, ihr seid die schimpfliche Ausnahme, die ganze
Batterie denkt wie ich, das ganze deutsche Volk denkt so und
glaubt an den Führer, weil er der größte Deutsche ist und der
größte Feldherr und... und...“
„Und, und! spottete Holt. „Nach dem Führer kommst gleich du,
was?, der zweitgrößte Deutsche, der zweitgrößte Feldherr, der
zweitgrößte Trottel...“ – „Ruhe!“ brüllte Wolzow. „Seid ihr denn
wahnsinnig?“
Aber Branzner saß schon auf seinem Bett, wachsbleich, und
er sagte, während er nach den Schuhen angelte: „So... so! Ihr
habt es alle gehört! Ihr seid Zeugen! Er hat den Führer einen
Trottel genannt! Ich mach Meldung!“
Gomulka rief: „Quatsch doch nicht, Mensch, dich hat er Trottel
genannt!“ – „Den zweitgrößten“, sagte Branzner. Gomulka
meinte: „Sei doch froh, daß es offensichtlich noch einen
größeren gibt als dich!“ Aber Branzner, während er einen Schuh
anzog, schüttelte den Kopf: „Nein, also nein, nein! Keine
Ausreden! Nein! Ich stelle eindeutig fest, daß es gar keine
andere Auslegung gibt: der Führer ist der größte Trottel!“
Die Tür flog auf. Gottesknecht trat ein. „Branzner!“ sagte er
streng. „Was höre ich? Was sagen Sie da?“
Schweigen.
„Ich drücke ja beide Augen zu“, fuhr Gottesknecht fort, „wenn
sich einer mal eine kernige Bemerkung über die Führung
erlaubt. Aber was Sie da eben gesagt haben, das geht zu weit!“
Branzner stand halb angekleidet, einen Schuh in den Händen,
vor seinem Bett. Er stammelte: „Ich? Aber ich... Der Holt! Ich
meine doch... Das ist doch...“ Plötzlich schrie er verzweifelt:
„Aber ich hab das doch gar nicht... ich wollte doch bloß... die
anderen hatten doch... ich würde doch nie... ich... ich...“ –
„Nehmen Sie sich zusammen!“ rief Gottesknecht. „Was
erlauben Sie sich!“
Holt war überzeugt, daß Gottesknecht lange an der Tür
gelauscht hatte und im passenden Augenblick eingetreten war.

281
Die Art, wie sein Erscheinen die Szene ins Groteske kehrte und
auf den Kopf stellte, erfüllte ihn mit einem Lachreiz und mit
Furcht.
Branzner war in sich zusammengesunken und warf
hilfesuchende Blicke auf Wolzow, auf Holt, auf Gomulka.
Wolzow sagte endlich: „Der Branzner ist ja sonst ein
anständiger Kerl, vielleicht hat er es wirklich nicht so gemeint.“
„Wenn niemand etwas gehört hätte, wäre es zweifellos das
beste“, sagte Gottesknecht nach einigem Nachdenken.
„Ich hab nichts gehört“, sagte Gomulka. – „Ich auch nicht.“ –
„Ich hab schon geschlafen.“ – „Ich als Nationalsozialist“, sagte
Wolzow großartig, „müßte eigentlich darauf bestehen. Aber da
will ich halt auch nichts gehört haben.“
„Schön“, sagte Gottesknecht. „Ich bitte mir aus, daß solche
sinnlosen Streitereien in Zukunft unterbleiben. Gute Nacht.“
Sie schwiegen, bis die Barackentür ins Schloß gefallen war.
Branzner sagte: „Was seid ihr... für Schufte!“
Theater, alles Theater, dachte Holt.

Gottesknecht sagte: „Ich seh’s ja, wenn ich Sie nicht gehen
lasse, dann leidet Ihre Kampfmoral! Haun Sie ab!“ Eine Stunde
später langte Holt bei Frau Ziesche an.
Sie packte. Auf dem Korridor standen Koffer, Kisten und
Körbe. Frau Ziesche trug eine knallbunte Schürze. Im
Schlafzimmer schichtete sie Wäsche in einen Korb. Holt sah ihr
zu. „Ja, lebst du denn auf dem Mond?“ rief sie. „Goebbels ist
Reichsbevollmächtigter für den totalen Kriegseinsatz geworden.
Sämtliche Theater, Varietes und Kunstschulen sind
geschlossen, und fast das ganze Schrifttum ist stillgelegt
worden! Jeden Tag können neue Richtlinien für den
Arbeitseinsatz bekanntgegeben werden, ganz strenge
Maßnahmen! Meinst du, ich hab Lust, Granaten zu drehen? Da
ruiniere ich mir fürs ganze Leben die Hände! Sechzig Stunden
Arbeitszeit wöchentlich, dazu hab ich keine Lust!“ Sie setzte
sich aufs Bett und brannte sich eine Zigarette an. „Ich schließe
hier zu“, sagte sie, „die Sachen werden ausgelagert... Wie steht
es denn mit deinem Urlaub?“
„Bewilligt“, sagte Holt. „Es kann jeden Tag losgehen.“

282
„Wollen wir in den Bayrischen Wald fahren?“ fragte sie.
Er antwortete nicht. Er rauchte und schaute sie aufmerksam
an. Sie lächelte, sehr verführerisch, sehr verlockend. Wie
seltsam: es wirkte nicht! Holt dachte: Sie hat nicht mal gefragt,
wie das mit Ziesche passiert ist... Es wäre wirklich schade,
wenn ihre Hände Schwielen bekämen! Auf einmal, es war wie
eine Zwangsvorstellung, sah er Schmiedlings große, behaarte
Hände, in den Schlackeboden des Geschützstandes gekrallt,
sah auch Zemtzkis Hände, Rutschers Hände... „Ich weiß nicht“,
sagte er trübsinnig, „in den Bayrischen Wald? Es wäre schön.
Aber ob sich das bei mir noch ändern läßt...“ Sie sagte leise:
„Es wird bestimmt sehr schön!“ Aber auch das verfing
seltsamerweise nicht. Er dachte: Sie ist wirklich bildhübsch.
Warum regte sich bei diesem Gedanken nichts in ihm, wie
sonst? Sie sagte: „Laß deine Papiere umändern, Urlaubsort,
Fahrschein. Ruf mich morgen an.“ Er nickte. Sie erhob sich:
„Jetzt laß ich alles stehn und liegen. Ich will unbedingt ins Kino,
kommst du mit? In Wattenscheid wird zufällig noch einmal
,Nora’ gespielt, nach Ibsen, ich hab den Film voriges Jahr
verpaßt.“
Sie brauchten fast eine Stunde, bis sie in Wattenscheid
anlangten. Die Verkehrsmittel hatten durch die ständigen
Angriffe stark gelitten. In dem engen, muffigen Kinosaal wurde
Holt ein beklemmendes Gefühl nicht mehr los. Unfug, zur
Abendvorstellung zu gehen! Es gibt bestimmt Alarm, bei diesem
idealen Wetter: ein bißchen diesig, da sind die Jäger behindert,
die Flak auch... Und wir sitzen hier in einer wildfremden
Gegend, weit weg von Gerties Wohnung, weit weg von der
Batterie... Apathisch saß er in dem harten Klappstuhl, den
Stahlhelm auf den Knien. Der Film interessierte ihn nicht. Er
atmete erleichtert auf, als der Streifen endlich abgelaufen war.
„Komm!“ Aber sie wollte noch die Wochenschau sehen. „Es soll
Bilder vom Attentat geben!“ Er setzte sich wieder. Die Fanfare
des Vorspanns war noch nicht verhallt, da brach die
Wochenschau auch schon ab; auf der Leinwand erschienen die
Worte: „Voralarm! Verlassen Sie sofort das Theater!“ – „Da hast
du’s, verdammt!“ rief er wütend. Sie sagte beschwichtigend:
„Vielleicht sind es nur Aufklärer!“ Alles drängte zum Ausgang.

283
Es war zweiundzwanzig Uhr. Draußen umfing sie die Nacht.
Der verschleierte Himmel leuchtete schwach. Holt orientierte
sich rasch: die Straße, von Trümmergrundstücken und
ausgebrannten Fassaden gesäumt, lief nach Norden,
vermutlich nach Gelsenkirchen; mochte sich der Teufel in
diesem Städtegewirr zurechtfinden! Die Straßenbahn fuhr nicht
mehr. Der Menschenhaufen verlief sich rasch. Bald war die
Straße menschenleer. Sie gingen sehr schnell und erreichten
ein unzerstörtes Stadtviertel mit engen Straßen. Nun schlug das
Auf und Ab der Sirenen wie eine Woge zum Himmel hoch. Sie
liefen im Laufschritt weiter. Flakfeuer donnerte, fern erst, dann
ganz nahe. Am Himmel summten Motoren. Holt tröstete sich:
Sie überfliegen uns nur! Sein Blut erstarrte: Oder sind es
Pfadfinder? Die Nacht wurde taghell. Irgendwo fielen
Leuchtkaskaden, es mußte sehr nahe sein, die hohen Häuser
versperrten die Aussicht, aber der Himmel gleißte.
Ein Mann verstellte ihnen den Weg, abenteuerlich uniformiert,
die Volksgasmaske um den Hals: „Halt... halt! Von der Straße
weg! In den Schutzraum!“ Frau Ziesche redete schnell,
angstvoll, aber Holt sagte: „Sei vernünftig, Herrgott!“ Er zog sie
in den Hausflur. „Sie bleiben hier oben“, sagte der
Luftschutzwart zu Holt. Frau Ziesche rief: „Nein! Ich... ich bin
leidend... ganz hilflos, ich brauche Schutz!“ Sie zog ihn die
steile und tiefe Treppe hinab.
Der Kellergang war mit Menschen vollgestopft. Holt
überschaute den matt erleuchteten Raum, überschaute die
hundert Gesichter, die wie kreidige Flecke in der Dämmerung
schwebten, überschaute Koffer und Rucksäcke und die
Wannen mit Wasser. An sein Ohr drang Kindergeschrei.
„Nicht den Ausgang verstellen!“ Irgendwer schob Holt in den
Keller. Holt strebte dem Ende des sehr langen Ganges zu,
vielleicht nur, weil dort hinten Platz war. Sie stiegen über
Packtaschen und ausgestreckte Beine hinweg. Der Platz war
eigentlich gar nicht so schlecht, vielleicht nur etwas weit vom
Ausgang entfernt. Sie saßen, als letzte in der langen Reihe,
unmittelbar am Mauerdurchbruch. Das flache Tonnengewölbe
des Kellerganges war hier noch einmal mit zwei starken Pfählen
abgestützt, die wie Säulen den vermauerten Durchbruch zu

284
Holts linker Hand flankierten. Er legte schützend den Arm um
Frau Ziesche. Sie zitterte unter dem leichten Sommermantel.
„Setz meinen Helm auf!“ Der Helm war zu groß, aber so
schützte er auch Nacken und Schultern. Holt sah sich einem
kleinen Mädchen von vielleicht vier Jahren gegenüber. Das
Kind war zusammengesunken, in tiefem Schlaf. Daneben lag
viel Gepäck. Dann saß eine große, derbe Frau auf der Bank,
sie trug eine Tarnjacke aus Zeltleinen und blaue Schihosen.
Holt suchte in seinen Taschen die kleine Stabtaschenlampe,
fand sie und steckte sie wieder weg. Eine dumpfe Stimme
sagte: „Trocken Brot will ich essen mein Lebtag, wenn bloß die
Bomben aufhören!“
Der Keller war sehr tief. Aber das Motorengedröhn der
Bomber drang nun doch herab. Ein zitternder, gebrechlicher
Greis setzte sich dicht neben Frau Ziesche. So saßen sie, zu
dritt in die Mauerecke gepreßt. In der gegenüberliegenden Ecke
schlief das Kind.
Ein furchtbarer Schlag, der Keller erbebte, ein zweiter Schlag,
dann ein dritter, so gewaltig, daß Holt die Erschütterung der
Kellerwand in seinem Rücken fühlte. Ein Windstoß fegte durch
den Gang. Holt hörte Frau Ziesches Stimme dicht an seinem
Ohr, stammelnd: „O heilige Maria... Mutter Gottes... unter
deinen Schutz und Schirm fliehen wir...“ Vom Kellereingang her
kreischte eine Stimme: „Es brennt!“ Barsches Geschrei, das
schon unterging: „Alle Männer...“ und: „... zum Löschen!“ Holt
wollte sich erheben, aber Frau Ziesche klammerte sich an ihm
fest, sie schrie: „Es brennt... ich will raus... Ich will raus hier!“
Wahnsinn, dachte Holt, Wahnsinn; er hörte Wolzows Stimme:
„Die Schweine... Sprengbomben in die Flammen...“ Da traf ihn
ein Stoß mit solcher Wucht, daß sein Kopf gegen die Mauer
schlug, das Licht verlöschte, das Leben setzte aus, Holt rang
nach Luft, und er hustete, hustete...
Es dauerte lange, ehe er die Taschenlampe fand. Der
Lichtstrahl prallte auf eine undurchdringliche weiße Wand von
Kalkstaub. Holt stieß Frau Ziesche von sich, erhob sich, trat auf
einen Körper, trat darüber hinweg, tastete nach rechts, trat auf
Schutt. Sein Kopf stieß gegen etwas Hartes, das war die
heruntergebrochene Kellerdecke. Er hustete noch immer, aber

285
der Kalkstaub setzte sich. Verschüttet! Holt wollte schreien, der
qualvolle Hustenreiz hinderte ihn. Endlich bekam er Luft, nun
zwang er die Panik nieder, aber die Gedanken flatterten. Der
Staub wurde durchsichtig. Holt überblickte im hin und her
huschenden Lichtkegel der kleinen Taschenlampe die Ecke des
Kellerganges, in der sie eingeschlossen waren. Die kaum
bezwungene Panik jagte zusammenhanglose Worte durch
seinen Sinn:... in einsamer Nacht und auf verlorenem Posten...
Der Greis richtete sich stöhnend vom Boden auf. Das kleine
Mädchen würgte und zog mit pfeifendem Ton die Luft in die
Lungen, als habe es Keuchhusten. Aus dem Schutt ragten zwei
Beine in blauen Schihosen. Frau Ziesche hustete und rang
nach Luft... und geht’s ans Sterben, ich bin dabei... Er dachte:
Ich muß... ich muß... Und immer wieder: Ich muß! Er dachte:
Gleich kommt das Wecksignal... Er dachte: Der
Mauerdurchbruch!
Er wischte sich über die Augen, in denen der Kalkstaub wie
Säure brannte. Er packte Frau Ziesche am Arm und zog sie
hoch, sie wollte sich an ihm festhalten, er stieß sie nach hinten,
daß sie auf den Schutt fiel. Er schob den Greis hinter sich, er
schob das kleine Mädchen hinter sich. Dann nahm er die
Holzbank, auf der sie gesessen hatten, und rammte sie gegen
den Mauerdurchbruch. Vergeblich. Er konnte nicht weit genug
ausholen, immer wieder stieß er zu, das Sitzbrett spaltete der
Länge nach auf. Er ließ die Bank fallen und schlug mit den
Fäusten auf die Ziegelsteine. Er keuchte, er trat mit dem Fuß
gegen das Mauerwerk. Er brüllte überschnappend: „Hilfe!“ Er
warf das volle Gewicht seines Körpers gegen den Durchbrach,
er fiel nach vorn und schlug mit dem Gesicht auf kantige Steine,
es rasselte, es knisterte in den Ohren, er stöhnte vor Schmerz.
Dann lag er bewegungslos und atmete tief.
Als er aufstand, fielen Steine von ihm ab. Er hielt die
Taschenlampe noch in der Hand, aber sie brannte nicht mehr.
Er schüttelte sie. Nun flammte sie auf. Vor ihm lag ein langer,
leerer Kellergang. Weit vor ihm glühte rotes, zuckendes Licht.
Sie sind hier längst raus, dachte er, und dachte: Fliehen! Er
hörte hinter sich das hemmungslose Geschrei Frau Ziesches.
Er kletterte durch das Mauerloch zurück in den verschütteten

286
Keller, hob sie auf und herrschte sie an: „Still! Still doch!“ Ihr
Gesicht war verzerrt und entstellt. Er nahm das Kind wie ein
Bündel unter den Arm. Frau Ziesche schrie: „Hilf mir... Hilf mir
doch! Laß das Kind!“ Er mußte sie wieder abschütteln, ehe er
mit dem Kind in den Nachbarkeller hinüberklettern konnte.
Dann half er Frau Ziesche, dann auch dem Greis. Frau Ziesche
hielt sich krampfhaft an ihm fest, er zog sie gewaltsam den
Gang entlang. Am Fuß der Treppe lag viel weggeworfenes
Gepäck. Oben flammte gelbrote Glut durch das Viereck der
Haustür. Ein starker Luftzug strich über ihn hin. Draußen heulte
der Feuersturm. Frau Ziesche schrie: „Ich will nicht ins Feuer...
ich will nicht!“ Holt sah sich verzweifelt nach einem anderen
Ausgang um, es mußte ihn geben, denn es gab diesen
fauchenden Luftstrom, aber er hörte über seinem Kopf
ununterbrochen Mauerteile niederkrachen. Raus! dachte er. Die
Bitterkeit des Unterganges. Neben der Treppe, in einer Nische,
stand eine große Zinkwanne voll Wasser. Reichsminister
Doktor Goebbels: ein Wort zum Luftkrieg, dachte er. Nasse
Decken! dachte er, es gab keine Decken. Er tauchte das Kind
in die Badewanne, und noch einmal, es kam zu sich und schrie,
er legte es auf den Kellerboden. Frau Ziesche lag auf den
Knien: „Heiliger Joseph, Nährvater... bitte für uns in der Stunde
des Todes... Jungfrau Maria... bitte für alle, die heute im
Todeskampf liegen...“ Als Holt sie anfaßte, begann sie wieder
zu schreien: „Nicht ins Feuer!“ Er stieß sie gewaltsam in die
Wanne. Der Stahlhelm klirrte auf das Zinkblech. Ein Lachen
schüttelte Holt, oder war es ein Weinen? Er tauchte ihr den
Kopf unter, sie verstummte, er half ihr heraus, sie hatte irre
Augen. Holt wälzte sich in der Wanne, dann hing die Uniform
wie eine Zentnerlast an ihm. Wo war der Alte? Der Alte war
nirgends. Alle, die heute im Todeskampf liegen... „Los jetzt!“ Er
hob das Kind auf, da umklammerte ihn Frau Ziesche abermals:
„Mich mußt du retten, Jesus Maria, laß doch das Kind!“ Er
befreite sich, faßte sie am Unterarm und zog sie die Stufen
hoch. Das kleine Mädchen hing unbeweglich unter seinem Arm.
Als sie auf halber Höhe waren, krachte vor der offenen Haustür
brennendes Gebälk auf die Straße, die Funken stoben bis in
den Hausflur. Unerträgliche Glut prallte ihnen entgegen. Holt

287
zerrte Frau Ziesche ins Freie. Der heulende Feuersturm schlug
über ihnen zusammen und peitschte ihnen Funken ins Gesicht.
Wohin? Wo ist Rettung? Alle Häuser ringsum brannten, in
großen Flächen brannte der Asphalt, Blasen werfend unter
Phosphorpfützen, die Lungen versengten, auf der Straße lagen
dunkle Gestalten, schwarze Strünke, mitten im Feuer,
glimmende Matratzen, überall Tote, hinter ihnen krachte ein
Haus in sich zusammen, vor ihnen kippte eine riesige,
flammende Fassade auf die Straße... Zurück! Holts Mütze
brannte, er warf sie von sich, er packte Frau Ziesche um die
Hüfte und schleppte sie weiter, die nassen Kleider kochten,
sein Bewußtsein setzte aus, er stolperte über einen Toten.

Sie fanden sich auf dem Gelände einer Kohlengrube wieder.


Hinter ihnen raste das Feuer, überall lagerten Menschen auf
dem Boden, stumm, wie tot, nur Kinderweinen war zu hören.
Frau Ziesche hockte auf der Erde, regungslos, er nahm ihr den
Stahlhelm ab. Das kleine Mädchen zu seinen Füßen bewegte
sich nicht. Er setzte den Stahlhelm auf, um beide Hände frei zu
haben, dann trug er das Kind zu dem großen Sanitätszelt.
„Eltern?“ Holt sagte: „Ich weiß nicht...“ Ein Arzt beugte sich über
das Kind, richtete sich auf, ließ das Stethoskop sinken und
sagte über die Schulter: „Ex.“ Zu Holt: „Sie hätten sich die Mühe
sparen können.“ Holt rührte sich nicht. Er sah auf das Kind. Es
trug rote Schuhe.
Ein Mädchen schenkte Kaffee aus, in angeschlagenen
Steinguttassen. Holt wurde zur Seite gedrängt. Er ließ sich
einen Becher geben und trug ihn zu Frau Ziesche: „Hier... trink!“
Sie trank willenlos. „Willst du noch mehr?“ Sie schüttelte den
Kopf. Er brachte den Becher zurück und ließ ihn wieder füllen.
Das Mädchen sagte: „Wie siehst du denn aus! Bist du verletzt?“
Er schüttelte den Kopf. Er ging zurück zu Frau Ziesche.
„Komm!“ Sie reihten sich ein in die Kolonne, die nach Westen
zog. Sie gelangten an einen schmalen Kanal, über den eine
Holzbrücke führte. Weiter! Ein Güterbahnhof, am Rande eines
riesigen Fabrikgeländes. Dort lagerten sich die
Menschengestalten auf Bündeln und Koffern. Holt ging mit Frau
Ziesche die Chaussee weiter nach Westen. Es war drei Uhr.

288
Die letzten Kilometer mußte er sie fast tragen. Dann schleppte
er sie die Treppe hoch. Auch seine Kraft ging zu Ende. Er legte
sie auf ihr Bett, zog ihr den verbrannten Mantel aus und deckte
sie zu. Sie hielt die Augen geschlossen. Ihre Zähne schlugen
aufeinander. Er ging ins Bad. Sie rief schwach: „Bleib hier!“ Er
sah in den Spiegel. Das Gesicht war blutverschmiert, Stirn und
Kinn waren zerschunden. Die Hände brannten wie Feuer, als er
sie ins Wasser tauchte, auch Hals und Gesicht. Das Haar war
versengt, die Uniform von Funkenlöchern zerfressen, die
Überfallhosen an den Knöcheln verkohlt.
Er ging wieder ins Schlafzimmer und setzte sich, von
Schwäche übermannt, zu ihr aufs Bett. „Du wirst sofort
abreisen?“ Sie sagte tonlos und ohne die Augen zu öffnen: „Ja.“
– „Weißt du, wohin?“ – „Ja. Ich hab Verwandte in München.“ Er
schwieg. „Geh nicht fort“, rief sie, „ich habe solche Angst!“ Er
erhob sich. „Ich muß in die Batterie.“ Sie begann wieder zu
weinen. „Bleib doch!“ Er sagte: „Laß dir’s gutgehn.“ Sie rief
hinter ihm her: „Werner!“ Er warf die Vorsaaltür zu und lief aus
dem Haus.

Gottesknecht stand auf den Stufen der Schreibstube. Holt


meldete sich zurück. Gottesknecht sah ihn lange an, vom
versengten, unbedeckten Kopf bis hinab zu den Füßen. „Doch
nicht etwa mittenhineingeraten?“
„Jawohl.“
„In Wattenscheid?“
„Jawohl.“
Gottesknecht schwieg. Dann fragte er: „Und...
schlappgemacht?“ Holt schüttelte den Kopf.
Gottesknecht stopfte sich eine Pfeife und entzündete sie.
„Lassen Sie sich vom Sanitäter Brandsalbe geben und
Heftpflaster. Oder wollen Sie ins Revier? Gut. Tauschen Sie die
Montur. Die Mütze ist weg? Schreiben Sie einen Wisch, ich
mach meinen Wilhelm drauf, das soll der Wachsmuth zu den
Listen legen. Die Kleiderbude brennt sowieso eines Tages mal
ab.“
„Jawohl, Herr Wachtmeister.“

289
Gottesknechts Blick ruhte auf Holt. Dann fragte er: „Wohl
gerade noch rausgekommen?“
„Jawohl.“
„Allein?“
„Ein kleines Mädchen hab ich mitgeschleppt. Und eine Frau.
Sie hat mir’s so schwer gemacht. Als ich das Kind endlich
draußen hatte, da war’s... da hat es nicht mehr gelebt.“
„Holt!“ sagte Gottesknecht, und er kam die wenigen Stufen
herab, und tatsächlich: er nahm Holt am Arm und zog ihn fort,
zur Feuerstellung hin. „Werner... Junge... Kopf hoch!“ Er sprach
sehr leise. „Zähne zusammenbeißen. Durchhalten. Nicht
schlappmachen. Das ist doch die einzige Chance! Ein paar von
euch müssen übrigbleiben. Der Krieg geht zu Ende, vielleicht
bald. Ihr müßt weiterleben.“
Sie blieben stehen. „Verstehn Sie mich recht“, fuhr
Gottesknecht eindringlich fort. „Ich bin Lehrer, Jungen wie euch
hab ich zum Abitur geführt, ich will das wieder tun. Soll ich vor
leeren Klassenzimmern unterrichten? Ihr müßt es durchstehen!
Wenn dieser Krieg zu Ende ist, dann... beginnt der schwerere
Kampf. Es ist nicht nur das kleine Mädchen, Holt. Keiner kann
mehr die Toten zählen. Es ist schon zu viel gestorben worden!
Nach dem Krieg ist so viel Arbeit. Die Suppe ist in fünf Jahren
eingebrockt, ein Jahrhundert wird daran löffeln.“ Er zwang Holt
seinen Blick auf. „Wer sich heute freiwillig zu den Ein-Mann-
Torpedos meldet, zu den Sturmstaffeln oder
Panzerjagdkommandos, der drückt sich vor dem schwereren
Kampf, der nachher kommt! Wer sich mit allen Mitteln zu
bewahren sucht, nicht aus Feigheit, Holt, sondern aus Einsicht,
der bewahrt sich für... Deutschland.“
Deutschland... dachte Holt. Zum erstenmal im Leben hörte er
das Wort nicht von Jubel getragen oder von Heilrufen umrahmt,
sondern gleichsam entblößt von allem Flitter und
Standartengold, durchzittert von tiefer Sorge. „Deutschland“,
sagte Gottesknecht, „das ist ja schon heute kein Gigant mehr,
der Europa beherrscht, sondern ein blutendes, elendes Etwas.
Es wird noch elender werden und bettelarm und wird unsagbar
leiden, aber es darf nicht verbluten! Für das riesige,
schimmernde Deutschland von gestern zu sterben, das nenn

290
ich Feigheit, Holt. Aber für das arme, todwunde Deutschland
von morgen zu leben... das ist Heroismus, dazu gehört Mut. Ich
weiß: Sie suchen, Holt... einen Sinn, ein Ziel, einen Weg... Ich
kenn den Weg nicht. Ich kann Ihnen nicht helfen. Wir sind alle
mit Blindheit geschlagen und müssen durch die sieben Höllen
hindurch bis zum Ende.“ Er schwieg. Dann sagte er noch: „Das
muß wohl so sein. Damit wir endlich wir selbst werden.“
Holt ging allein zur Baracke weiter. Die verbrannten Hände
schmerzten nicht mehr. Er schaute geradeaus, über die
Baracke hinweg, am Horizont lag Dunst. Er bückte durch den
Dunst hindurch ins Ferne und Uferlose. Er begriff nichts und
verstand nichts. Er horchte, ob nicht das Wecksignal ertöne...
aber noch war es wohl nicht soweit.

Er fiel in einen Schlaf, der an Ohnmacht grenzte. Die anderen


ließen ihn liegen und rüttelten ihn erst am Nachmittag wach.
Holt fand sich in der kleinen Stube wieder, und ein Gefühl der
Geborgenheit durchströmte ihn. Er hörte Wolzows rauhe
Stimme: „Raus, du Penner! Ich hab dir was zu fressen
mitgebracht!“ Er fühlte Gomulkas Blick mitleidig auf sich
gerichtet.
Keller, Kalkstaub, Feuersturm, ist das überhaupt Wirklichkeit
gewesen? Unmeßbares Grauen war nun wie von Nebel
bedeckt, unwirklich, unglaubhaft, fern... Holt dachte: War es ein
Angsttraum?
Er richtete sich auf, wie zerschlagen, es gab keine Stelle an
seinem Körper, die nicht schmerzte. Doch mit einem Satz
sprang er vom Bett und reckte sich.
Am Tisch saß rauchend der Sanitäter, die Ledertasche auf
den Knien. Er grinste. „Bei Ihnen mach ich sogar Hausbesuche,
kostet fünf Mark! Los, lassen Sie sich verarzten!“ Auf beiden
Handrücken hatten sich Brandblasen gebildet. „Die lassen wir
schön in Ruhe, sonst entzündet sich das.“ Er legte Holt einen
Mullverband an. „Hier... Prontosil-Rotschiff, das beruhigt die
Nerven!“
Holt zog sich endlich die verbrannte Montur aus. Gomulka
sagte: „Du bist am ganzen Körper blutunterlaufen!“ Holt sagte

291
nur: „Ich versteh nicht, wie die Leute das aushalten!“ Da gab es
gleich wieder Streit.
Holt dachte: Jetzt geht das Theater von neuem los! Branzner
furchte die Stirn und sah Holt mißbilligend an. „So! Das
verstehst du nicht? Na, da werd ich dir das erklären.“ Gomulka
sagte: „Da bin ich aber gespannt!“ Branzner warf einen
mißtrauischen Blick auf ihn und begann: „Die deutsche Nation
ist von unwandelbarem Glauben an den Führer und an den
Endsieg erfüllt. Darum nimmt sie alle Lasten freudig auf sich.
Wer Wind sät, wird Sturm ernten! Der Führer hat das ganz klar
gesagt, voriges Jahr, am Vorabend des 9. November. Die
Ausgebombten sind die Avantgarde der Rache!“
Holt sah das Elendslager der Überlebenden auf dem Gelände
der Kohlengrube. Avantgarde? Vetter nähte sich mit einer
riesigen Stopfnadel einen Knopf an die Drillichjacke. Gomulka
fragte Branzner: „Hast du schon mal einen Terrorangriff
mitgemacht?“
„Nein.“
„ Dann halt den Mund!“
„Aber der Führer“, protestierte Branzner. „Du sollst den Mund
halten!“ rief Gomulka. „Der Führer hat auch noch keinen
Terrorangriff mitgemacht! Er hat noch nicht einmal eine
ausgebombte Stadt besucht!“
Branzner schluckte, daß sein großer Adamsapfel auf und
nieder hüpfte. „Das... das... jetzt ist es genug!“ sagte er. „Heut
legt ihr mich nicht wieder rein! Jetzt mach ich endgültig
Meldung! Ich geh zum Chef!“ Holt rief: „Gilbert, nun sorg du
doch endlich mal für Ruhe!“ Wolzow, der seine strategischen
Lehrbücher aus dem Spind holte, fragte uninteressiert: „Was
willst du denn melden?“ und vertiefte sich in ein Buch. Branzner
schnallte das Koppel um. „So fing es 1918 auch an! Ihr treibt
Zersetzung! Feindpropaganda...“
Gomulka schüttelte den Kopf. Branzner schrie wütend: „Ihr
steckt alle unter einer Decke! Kirsch, du hast es gehört!“ Kirsch,
der Tischlersohn, saß am Tisch und stopfte paketweise
Butterkeks in sich hinein. „Ich...?“ Er gähnte. „Das können hier
alle bezeugen, daß ich fest geschlafen hat!“ Gomulka sagte
befriedigt: „Da wird sich nichts machen lassen, Branzner!“

292
Branzner setzte die Mütze auf. „Also gut! Gut! Ein
Verschwörernest! Aber ich laß euch alle hochgehn, alle!“ Er
schrie: „Volksschädlinge seid ihr, Saboteure...“
Gomulka tippte sich stumm an die Stirn; er schnitt Holt mit
Sorgfalt und Geschick das versengte Haar. „Volksschädlinge?“
rief Vetter in seiner Ecke. „Also, Gilbert, so was darfst du dir als
Offiziersbewerber nicht gefallen lassen. Stell dir vor, diese
Knalltüte läuft zum Chef!“ – „Jawohl“, sagte Holt, „du mußt ihm
ein für allemal beibringen, wie er sich zu benehmen hat.“
Wolzow blickte von seinem Buch auf. „Wie hat er mich
genannt?“ – „Volksschädling“, hetzte Vetter, „Saboteur... und
überhaupt...“ Wolzow sprang auf, langte sich Branzner und
faßte ihn mit der Rechten vorn an der Bluse. Branzner wollte
sich wehren, aber da traf ihn schon eine schallende Ohrfeige.
Vetter meckerte vergnügt, und Kirsch stopfte Keks in sich
hinein. Wolzow hob den erschlafften Branzner mit der Rechten
langsam in die Höhe, er war so kräftig, daß er ihn in der Luft
schütteln konnte. Dann stellte er ihn auf den Boden, stieß ihn
gegen einen Spind und zog ihn wieder dicht zu sich heran. „Hör
zu! Hör genau zu! Die paar Wochen, die ich noch bei diesem
Haufen bin, will ich Ruhe haben! Ich laß mir doch von dir nicht
meine Laufbahn vermasseln. Du wirst also endgültig aufhören
zu stänkern! Sonst... Weißt du, was sonst ist? Du bist nachts
mit uns am Geschütz. So wahr ich Gilbert Wolzow heiße: Ich
schlag dir beim nächsten Schießen mit ‘m Schraubenschlüssel
das Genick ein! Solche Unfälle passieren relativ häufig, das
kannst du schon in Prinz Kraft zu Hohenlohes ,Militärischen
Briefen über Artillerie’ nachlesen! Verstehen wir uns?“ Erließ
Branzner los.
Holt hatte das Empfinden, als schnüre ihm jemand die Kehle
zu. Er nahm Wolzows Drohung ernst. Er hatte nie die Szene
vergessen, als Wolzow am Rabenfelsen dem wehrlosen
Meißner die Mündung der Pistole auf die Stirn gedrückt hatte...
Es ist alles dasselbe, dachte Holt in einem Gefühl des
Grauens. Ob er einen Wachhund totschlägt, ob er sich prügelt
oder Nahfeuer schießt... es ist alles dasselbe!

293
Bei der Leitungsprobe sagte Gomulka unvermittelt zu Holt:
„Stell dir vor, Wolzow wär unser Feind!“ Er hing die Kopfhörer in
den Bunker. „Wenn du nicht sein Freund wärst...“ – „Ein Glück,
daß er vorhin nicht richtig zugehört hat“, sagte Holt. „Wer weiß,
was das für ein Theater gegeben hätte!“
Gomulka setzte sich auf einen Holm. „Sag mir mal ganz
ehrlich: Wie war das heut nacht?“ – „Ich sag es nur dir“,
erwiderte Holt. „Es war über jede Beschreibung furchtbar. Ich
kann mir nicht vorstellen, daß irgend etwas auf der Welt
schlimmer ist. Lieber Tiefangriffe und Bombenteppiche hier
draußen.“
Gomulka schwieg. Dann sagte er zusammenhanglos:
„Wolzow hat von seinem Onkel Post bekommen. Der ist schon
wieder befördert worden, zum Kommandierenden General. Er
übernimmt eine Einheit an der Westfront. Früher hatte er eine
Luftwaffen-Felddivision in Rußland, die wurde eingeschlossen.
Bei Woronesh. Aber er ist mit einem Fieseler-Storch aus dem
Kessel entkommen.“
Bei Woronesh eingeschlossen, dachte Holt. Da hat man ja
auch nie davon gehört. Er dachte verwundert: Vor einem Jahr
hätte mich so eine Bemerkung niedergedrückt. Gomulka sagte
beiläufig: „Ich hab auch Post von daheim.“ Holt fragte
beklommen: „Und... hast du was gehört? Hängt es mit dem
Attentat zusammen? Ist sie festgenommen worden?“ Gomulka
schüttelte den Kopf. „Sie soll spurlos verschwunden sein...“
Fragen Sie nach niemandem, dachte Holt, reden Sie mit
keinem... – „Sippenhaft!“ flüsterte Gomulka. „Oberst Barnim soll
mit seinem Regiment kapituliert haben, und als er selbst zu den
Russen wollte, da haben sie ihn...“
Holt sprang auf. „Hoffentlich lassen sie uns heut nacht
schlafen“, sagte er hastig.
In der Nacht, an der Kanone, riß Wolzow Witze über den
Mosquito-Verband, der kreuz und quer durch das Land flog,
ehe er sich nach Berlin wandte und dort Bomben warf. „Da
verarschen sie die Nachtjäger“, sagte er, „die suchen jetzt bei
München!“
Am anderen Morgen war der Ersatz da. Vetter kam früh um
sieben von der Leitungsprobe, als die anderen noch in den

294
Betten lagen, und rief: „Die Schusterjungen sind da! Mensch,
das sind keine Oberschüler, das sind solche Heinis,
Bäckerlehrlinge, Schlosser, lauter solches Kroppzeug von der
Berufsschule... Fragt mich einer: ,Kamerad, ich finde mir hier
nicht zurecht...’ Ich hab gesagt: ,Da mußt du dir mal beim UvD
erkundigen, sonst kann ich dich nicht helfen...’ Sagt der auch
noch: ,Danke!’ Männer, das wird was! Wenn die sich nicht
benehmen, dann führ ich hier offiziell die Prügelstrafe ein!“
Wolzow rief von seinem Bett: „Mit denen geben wir uns gar
nicht ab!“
Beim Morgenappell nahte Kutschera seltsamerweise
ordentlich angezogen, von drei hohen HJ-Führern begleitet.
Gottesknecht holte einen Karton aus der Schreibstube. Wolzow
stieß Holt überrascht mit dem Ellenbogen an. Kutschera rief:
„Die Luftwaffenoberhelfer Dusenböker, Hörschelmann und
Wolzow... vortreten!“ Er überreichte den drei Jungen das
Eiserne Kreuz. Gottesknecht stopfte ihnen die Bänder ins
Knopfloch, die HJ-Führer schüttelten ihnen die Hände. Dann
ließ Kutschera das Batteriekommando vortreten und las Namen
von einer Liste: „Dusenböker, Ebert, Gomulka, Grubert, Holt...“
und so weiter, alle, die noch vom Jahrgang 27 da waren, mit
den beiden Hamburgern noch siebzehn Mann. Holt lief nach
vorn. Er dachte: Wir waren achtundzwanzig, als wir herkamen...
dreizehn Tote aus einer Klasse! Gottesknecht steckte ihm das
Flakschießabzeichen an die Bluse, das begehrte silberne
Abzeichen, an der linken Brust zu tragen...
Die Batterie wurde eingeteilt. Gottesknecht rief: „Holt, Wolzow,
Gomulka, ihr könnt morgen fahren!“ Wolzow sagte strahlend:
„Herr Wachtmeister, also auf das EK müssen wir zusammen
ungeheuer einen saufen!“ – „Sie sind wohl verrückt!“ empörte
sich Gottesknecht. „Mit siebzehn Jahren alkoholische Exzesse,
dem leiste ich keinen Vorschub!“ Am Abend brachte Wolzow
aber doch eine Flasche Kognak. Holt wurde nach ein paar
Schlucken angenehm müde. Er dachte glücklich: Urlaub, Ruhe,
endlich!
Beim Stubendurchgang befahl Gottesknecht: „Morgen wird
alles eingepackt! Spinde leermachen! In unserem

295
Batteriegelände wird ein Flakschwerpunkt gebildet...
Großkampfbatterie mit achtzig oder hundert Geschützen.“
Nachts saßen sie faul im Geschützstand und sahen den
Neuen beim Schießen zu. Am anderen Morgen packten sie.
Vetter mußte bleiben. Der Urlaub begann zwölf Uhr und dauerte
vierzehn Tage, zuzüglich zweier Reisetage. Sie liefen im Trab
nach Essen. Als sie endlich auf dem Bahnhof angelangt waren,
heulten die Sirenen Vollalarm. Ein Wehrmacht-LKW nahm sie
mit nach Süden. In Wuppertal kletterten sie in einen
Personenzug. Nach ein paar Stationen blieb der Zug auf freier
Strecke stehen. Wolzow sah aus dem Fenster. „Los, raus!“ Und
sie liefen, während die Bomber sie überflogen, zu einer großen
Schutthalde. Die Flak schoß, ringsum grollte es dumpf. Sie
liefen auf einem Feldweg nach Westen. Hinter ihnen schütteten
die Viermotorigen ihre Bomben aus.

15

Über der Wolzowschen Villa hing ein trüber Morgenhimmel.


Es regnete.
Holt und Wolzow trugen die Rucksäcke ins Haus. Holt streckte
die Füße von sich. Der Klubsessel war weich. Wolzow
berichtete: „Das Haus ist voll fremder Leute, Bombenfrischler,
weißt schon, Evakuierte und Ausgebombte. Da baun wir für
dich ein Feldbett in mein Zimmer und sind ganz unter uns.“
Holt schlief erschöpft und traumlos. Als er am Nachmittag
wach wurde, öffnete Wolzow eine Konservenbüchse. Über dem
Spirituskocher, in der Pfanne, brutzelte Fett. Holt erschrak vor
der heillosen Unordnung, die ringsum herrschte; alles lag
durcheinander, die Stahlhelme, die Uniformen, die geöffneten
Rucksäcke. Überall Gerümpel, das ausgestopfte Rebhuhn
obenauf, die Duellpistolen, der zertrümmerte Totenkopf. „Wir
müssen hier erst mal aufräumen, Gilbert!“ – „Wieso? Ich find’s
ganz gemütlich.“ Wolzow kippte den Inhalt der
Konservenbüchse in die Pfanne. Der Duft gebratenen Fleischs
füllte das Zimmer.

296
Holt wickelte den Verband von den Händen. „Mein Onkel“,
sagte Wolzow, „ist in Frankreich, vorher war er noch mal hier
und hat einen Haufen Kram dagelassen, Vorräte: Konserven,
Rotwein, russischen Tabak, sogar Kaviar, ich hab vorhin so ‘n
Döschen aufgemacht, schmeckt wie Hering, aber satt wirst du
nicht davon, da mußt du schon zehn Büchsen auf einmal
fressen...“ – „Ob ich nicht erst mal deine Mutter begrüße?“
fragte Holt. „Lieber nicht. Du störst sie bloß beim Heulen. Ich
hab ihr gesagt, daß wir da sind, das genügt.“
Das Haus war verwahrlost. Im letzten Jahr mochte nichts
mehr aufgeräumt oder gar gesäubert worden sein. Nur im
Erdgeschoß, wo nun Fremde wohnten, herrschte Ordnung. Holt
ging ins Bad. Der Abfluß der Wanne war mit Haarbüscheln
verstopft. Aus dem Hahn über dem Becken lief kein Wasser.
Richtig, dachte Holt, da hat Gilbert damals das Bleirohr
rausgerissen... Er duschte sich. Er sah im Spiegel, daß sich die
blutunterlaufenen Stellen auf dem Rücken blau und grün
färbten.
Zum Frühstück aßen sie das Büchsenfleisch aus der Pfanne,
„Brot?“ dozierte Wolzow. „Fleisch ist viel gesünder. Attila soll
nur Fleisch gegessen haben.“ Er hatte als erstes den
zerlesenen Clausewitz aus seinem Rucksack geholt. Holt
blätterte darin. „Wenn du dich endlich mal ‘n bißchen mit
Kriegskunst beschäftigen willst“, sagte Wolzow, „dann fängst du
am besten mit Schlieffens ,Cannae’ an.“
Holt klappte das Buch zu. „Danke“, sagte er und nahm die
angebotene Zigarette.
Wolzow fuhr fort: „Wenn man keine militärischen Kenntnisse
besitzt, kann man nämlich die Vorgänge an den Fronten gar
nicht richtig verstehen. Soll ich dir sagen, warum Leute wie
Branzner die Wahrheit über die militärische Lage nicht hören
wollen? Weil sie innerlich... unsicher sind, weil sie trotz aller
schönen Worte den Krieg eigentlich gar nicht richtig mögen!
Schau mal, der Führer sagt zwar immer, der Krieg sei uns
aufgezwungen worden, aber das sagt er bloß wegen der Leute.
In Wirklichkeit war nach 1918 natürlich ein neuer Krieg fällig, ich
weiß doch von meinem Vater, daß ein richtiger Soldat so eine
Niederlage nicht hinnimmt, ohne an die kommende Revanche

297
zu denken. Das steht auch alles in ,Mein Kampf’, und auch, daß
wir uns neuen Boden im Osten mit dem Schwert erobern
müssen...“
Holt hatte kaum aufgeatmet, von der zermürbenden
Anspannung des Luftkrieges befreit, er hatte sich kaum in die
Atmosphäre der kleinen Stadt und des Urlaubs eingewöhnt, da
stießen ihn Wolzows Worte in die alte Niedergeschlagenheit
zurück und riefen die Erinnerung wach: „... Eroberungskrieg
vorbereitet und entfesselt...“, so hatte Vater gesagt, und auch
Gomulkas lakonische Worte angesichts der verhungernden
Gefangenen waren gegenwärtig: „Sie haben nicht
angefangen...“
„Einer wie ich“, redete Wolzow unterdessen weiter, „na, wie
soll ich sagen?... der bejaht den Krieg, und wenn keiner wäre,
müßte man schnell einen anfangen. Es muß ein ordentlicher
Krieg sein, nicht so ‘n Ramschkrieg wie 1806, sondern nach
allen Regeln der Kriegskunst, wie bei Alexander oder
Napoleon. Also frag nur, jetzt haben wir Zeit. Willst du die Lage
erläutert haben? Wir kämpfen nun langsam auf der inneren
Linie, und das schöne Vorfeld ist hin.“
Holt rauchte, er ließ Wolzow reden. Er sah auf die Uhr und
erschrak. „Schluß! Das Wehrbezirkskommando macht zu!“

Sie trafen Gomulka in der Stadt. Der Regen war versiegt, die
Wolkendecke riß auseinander, und ab und zu huschte
Sonnenlicht über die Erde. Sie gingen stadtwärts. Nachdem sie
sich auf der Urlauberstelle gemeldet hatten, bummelten sie
durch die engen Kleinstadtstraßen zum Marktplatz.
Sie gingen an einem Lebensmittelgeschäft vorbei. Aus der
Ladentür trat ein schmächtiges, sehr junges Mädchen und trat
noch einmal zurück, um die drei vorbeigehen zu lassen. Das
Mädchen, in einem ärmlichen bunten Kleid, trug am Arm einen
Einkaufskorb.
Ihr Haar war braun. Auch ihre Augen waren braun. Ihr Blick
streifte über Holt hinweg. Er dachte: ... da stand das Kind am
Wege..., es war eine Zeile aus einem Gedicht, das er einmal
gelesen hatte: Da stand das Kind am Wege. Das kleine

298
Mädchen mit den roten Schuhen fiel ihm ein. Er blieb stehen.
Warum sieht sie so traurig aus?
Das fremde Mädchen ging den Weg zurück, den er eben
gekommen war. über ihr lastete der Himmel mit seinem
Regengewölk. Durch ein Wolkenloch ergoß sich Sonnenlicht
und blendete Holt. Er ging weiter. Was war das? dachte er.
„Wer war das? Wolzow schalt: „Der Kerl pennt am hellichten
Tage!“

Auf dem Marktplatz begegneten sie einer Rotte junger Leute,


Peter Wiese war dabei und Herbert Wurm, bei dessen Anblick
Wolzow die Brust mit dem Ordensband herauswölbte, und dann
die Mädchen: Rutschers Schwester, die Friedel Küchler in
Uniform, ihre Freundin, Putzi genannt, noch drei, vier andere.
Sie trugen Badesachen bei sich. „Donnerwetter, der Wolzow mit
‘m EK!“ hieß es. „Und das, was ist das?“ -
„Flakschießabzeichen, gibt’s bei soundso viel Abschüssen.“
Man schlug den Weg zur Badeanstalt ein. Holt blieb stehen.
„Wir wollten doch Zemtzkis Eltern besuchen.“ Rutschers
Schwester war noch blasser als früher und zog Holt beiseite.
„Sie waren doch mit ihm am Geschütz...“ Nichts erzählen! Holt
dachte an den zertrümmerten Geschützstand, an die
umgestürzte Kanone. Läuft mir der Krieg bis hierher nach? Die
Mädchen erzählten von Einsätzen im
Kinderlandverschickungslager... Man verabredete sich für den
kommenden Tag.
Sie besuchten Zemtzkis, saßen verlegen auf den Stühlen und
redeten Frau Zemtzki ein, die Sache mit dem Müo sei wirklich
nur ein Gerücht. „Ein ganz gemeines Gerücht“, meinte Wolzow.
Draußen schwur er: „Das war der erste und letzte Besuch
dieser Art! Zu meiner Mutter braucht auch keiner hinzugehn,
wenn’s mich erwischt.“ Gomulka ging zum Zahnarzt, um endlich
die Lücke in der Schneidezahnreihe schließen zu lassen.
Nachts schreckte Holt ein Angsttraum aus dem Schlaf:
Flammen, überall Flammen... Es wird noch oft wiederkehren.
Es ist erst drei Tage her! Drei Tage. Die Zeit ist durcheinander.
Wie alt bin ich jetzt? Siebzehneinhalb. Wenn es bis zum
Flakeinsatz sechzehneinhalb gewesen sind, dann müssen

299
seither dreißig, fünfzig Jahre verstrichen sein. Noch mehr. Die
Feuernacht in Wattenscheid allein hat hundert Jahre gedauert.
Er sank wieder in Schlaf, glücklich in dem Gedanken: keine
Alarmglocke, keine Mosquitos, keine Leitungsprobe. Im
Einschlafen dachte er wieder: Da stand das Kind am Wege...
mit einem Einkaufskorb.

Wolzow triumphierte am nächsten Morgen: „Herrliches Wetter!


Der Himmel verläßt die alten Krieger nicht!“ Beim Frühstück
erzählte er, was er sich vorgenommen hatte: „Da liegen noch
die Tagebücher von meinem Vater rum, die muß ich endlich
lesen. Dann will ich in die Berge, unsere Pistolen ausbuddeln.“
Holt wollte Peter Wiese besuchen. Wolzow fragte:
„Ausgerechnet den Miesepeter? Was du bloß an dem findest!“
Vorerst beschlossen sie, baden zu gehen. Holt hatte Bedenken
mit seinem zerschundenen Rücken. „,Da lagen die Helden, die
Wunden vorn’“, zitierte er. „Die alten Germanen hätten mich mit
Schimpf und Schande davongejagt.“ – „Da gab’s auch noch
keinen Luftkrieg.“ Wolzow fuhr mit den Beinen in die
Überfallhose. „Das waren Zeiten! Stell dir das vor. Kampf Mann
gegen Mann, oh, was hätt ich dazwischengehaun, bestimmt!“
Die Vorstellung einer längst vergangenen Kampfesweise
überwältigte ihn. „Ich wär der größte Feldherr des Altertums
geworden“, prahlte er. „Dem Hannibal hätte ich mit einer
Gegenumfassung geantwortet. So ein Blödsinn! Varro stellt die
Truppen sechsunddreißig Mann tief auf, was nützt ihm da seine
Überlegenheit? Ich hätte die Hastati und Principes nur in zwölf
Glieder gestellt und die Triarii seitlich gestaffelt in Reserve
behalten, da hätt ich Hasdrubals Reiterei in den Aufidus
geschmissen...“
„Oder Napoleon“, spottete Holt, „da hättest du ganz Rußland
erobert...“ Aber Wolzow entgegnete: „Nein.“ Er zog sich die
Hose über den Bauch. „Wenn ich Napoleon gewesen war, hätte
ich Rußland nicht angegriffen. Die Russen hätten ja kommen
können, wenn sie was wollten. Da hätte ich aus der Nachhand
geschlagen, ganz nahe meiner Basis.“ Er knöpfte sich die Hose
zu. „Bei Napoleon ist es anders. Napoleon hat als Feldherr
keinen Fehler gemacht. Wenn da behauptet wird, er hätte vor

300
dem Marsch auf Moskau erst die baltischen Festungen erobern
müssen, dann ist das Geschwätz. Napoleon hat in Rußland
richtig gehandelt, das hat Clausewitz ein für allemal
nachgewiesen. Napoleons Rußlandfeldzug ist deshalb nicht
gelungen, sagt Clausewitz, weil die feindliche Regierung fest,
das Volk treu und standhaft blieb, weil er also nicht gelingen
konnte. Was schaust du denn so? Was ist denn?“
„Nichts“, antwortete Holt. „Beeil dich. Schade um den schönen
Nachmittag!“

Die Badeanstalt war fast menschenleer. Holt schwamm zum


anderen Ufer, Wolzow blieb zurück. Als Holt die Flußmitte
erreicht hatte, legte er sich auf den Rücken und ließ sich
treiben. Blödes Beispiel, dachte er, mußte ich ausgerechnet auf
Napoleon kommen? Am jenseitigen Ufer lag er eine Weile im
Gras. Stimmt also gar nicht, daß der Führer Napoleons Fehler
vermieden hat, wie’s immer heißt. Napoleon hat demnach gar
keine gemacht.
Als er wieder die Badeanstalt erreichte, hielt er sich ermattet
an der Treppe fest und hing eine Weile im Wasser. Dann
kletterte er an Deck. Das Herz arbeitete in harten Schlägen. Auf
dem alten Stammplatz neben dem Sprungturm sah er sie alle
beisammen, Jungen und Mädchen, Wolzow und Gomulka
mittendrin. Langsam ging er über das Floß. Nein, dachte er, das
ist doch nicht möglich! Ganz allein, weit abseits, saß das
fremde Mädchen, an einen Pfeiler des Geländers gelehnt, die
Knie bis unter das Kinn gezogen, hockte dort mit
geschlossenen Augen.
Holt schlich zum Sprungturm und warf sich auf die Planken.
Sogleich fragte die Friedel Küchler, wer ihn denn so grün und
blau geschlagen habe. Holt antwortete nicht. Aber Gomulka,
der sonst Kraftausdrücke gar nicht liebte, fuhr sie an: „Wo der
Werner sich das geholt hat, du dumme Gans, dort hättest du
dich vor lauter Angst von oben bis unten be... schmutzt!“ Die
Mädchen verzogen die Gesichter. Wolzow begann derartig zu
lachen, daß oben am Ufer der alte Bademeister verwundert aus
seiner Bretterbude schaute.

301
Dann saßen sie stumm und träge in der Sonne. Jemand
fragte: „Wie ist denn der Luftkrieg nun eigentlich?“ Wolzow
grinste. „Wie der Luftkrieg nun eigentlich ist? Der Luftkrieg ist
nun eigentlich ganz einfach! Das ist der einfachste Krieg, den’s
überhaupt gibt. Wir sind unten und schießen nach oben, und
die sind oben und schmeißen nach unten.“
Holt dachte: Ich muß noch warten, eh ich frag, sonst fällt’s auf!
Er fragte schon, so ganz nebenbei: „Wer ist das Mädchen dort
drüben?“ Alle wendeten die Köpfe. Ein paar Mädchen lachten.
Holt sagte gereizt: „Ihr seid albern!“ Wolzow brummte: „Alle
Mädchen, sobald mehrere beisammen sind! Eine allein möcht
am liebsten in die Erde versinken!“ – „Gut beobachtet“, sagte
Gomulka.
„Die ist nicht von hier“, erzählte Friedel Küchler, die
weißblonde BdM-Führerin, nach einer Weile. „Die ist evakuiert,
aus Westdeutschland, ich glaube aus Schweinfurt. Die soll hier
oben“ – sie tippte mit dem Finger an die Stirn – „nicht ganz in
Ordnung sein. Von ihrer Scharführerin weiß ich, daß sie keine
Eltern mehr hat und in Schweinfurt Dienstmädchen war, das
heißt, sie war im Pflichtjahr. Sie ist ja erst fünfzehn. Sie soll bei
einem Angriff verschüttet worden sein, und als man nach einer
Woche den Keller geöffnet hat, war alles tot, bloß sie hat noch
gelebt. Dann hat sie im Krankenhaus gelegen. Jetzt ist sie hier
bei einer kinderreichen Familie im Pflichtjahr, der Mann ist in
der SS, dort ist sie gut aufgehoben. Im Mai mußte sie wieder
ins Krankenhaus. Jetzt hat sie Schonung und braucht bloß
vormittags zu arbeiten.“
Wolzow legte sich lang auf die Planken. „Krieg ist eben Krieg.“
Holt kämpfte gegen die Vision eines Kellers, in dem sich
zwischen erstarrten Leichen ein Lebender um den Verstand
schrie. Er hörte ringsum das Geplauder der Mädchen. Er fragte
mit heiserer Stimme: „Warum kümmert ihr euch nicht um sie?“
Man verstummte. „Die will ja nicht. Die weicht ja allen aus.“
Holt sprang auf. „Volksgemeinschaft“, höhnte er, „alle für
einen...“ Er sah viele Augenpaare verständnislos auf sich
gerichtet. Ihm war, als höre er die blonde BdM-Führerin von
verschworener Gemeinschaft reden, und das war noch kein
Jahr her! Er hörte auch Frau Ziesches Stimme: Laß doch das

302
Kind! Mich mußt du retten! Dann wandte er sich rasch ab.
Hinter seinem Rücken sagte Gomulka: „Er hat so was vor paar
Tagen selbst erlebt.“
Das ist es ja gar nicht, dachte Holt, als er das Floß
entlangging. Ich hab es durchgestanden, ich würde es wieder
durchstehen.
Am Ende des Floßes, wo die Paddelboote und Angelkähne
befestigt waren, setzte er sich nieder und ließ die Füße ins
Wasser hängen. Der Fluß glänzte im Licht.
Acht Tage verschüttet! dachte er. Er sah sich das kleine
Mädchen mit den roten Schuhen zum Verbandplatz tragen, und
jemand sagte: Ex. Die Mühe hätten Sie sich sparen können.
Brennendes Dachgebälk krachte auf die Straße, und Funken
stoben bis in den Hausflur... Kennen Sie einen Oberst Barnim?
Und dann:... erschossen worden. Was ist mit Uta? Vielleicht
lebt sie nicht mehr... Vielleicht hat sie nie gelebt. Vielleicht hab
ich Uta nur geträumt, wie die Mustangs, den Schmiedling, die
Bombenteppiche.
Er erhob sich und ging langsam zu dem Mädchen, das noch
immer in der Sonne saß, den Rücken an die Planken des
Geländers gelehnt Er setzte sich an ihrer Seite auf den Boden.
„Ich heiß Werner Holt. Ich bin Luftwaffenhelfer und hab Urlaub.“
Sie wandte flüchtig den Kopf zu ihm hin. Langsam stieg ihr die
Röte in die Wangen.
Wenigstens ist sie nicht gleich fortgelaufen, dachte er. Ihr
Gesicht war ihm eigentlich gar nicht fremd, die bewimperten
Lider, die dunklen Brauen und die roten Lippen. Ich darf sie
nicht so anstarren, sonst läuft sie doch noch weg! Was sag ich
bloß? „Ich bin auch fremd, ich bin erst voriges Jahr hierher aufs
Gymnasium gekommen, nur ein paar Monate, dann ging’s zur
Flak.“
Flak ist falsch, dachte er. Luftwaffenhelfer war auch falsch,
das erinnert sie an den Bombenkrieg. „Ich hab’s zu Hause nicht
länger ausgehalten, ich weiß nicht, warum.“ Zu Hause, das ist
auch falsch, weil sie keine Eltern mehr hat... Eigentlich hab ich
auch keine Eltern mehr. „Sie müssen... Du mußt
entschuldigen“, sagte er verwirrt. „Ich rede lauter Unsinn... Es
ist aber auch schwer“, sagte er gradheraus, „ein fremdes

303
Mädchen anzusprechen. Außerdem hab ich Angst, daß du
fortläufst.“
Sie rührte sich nicht.
„Ich hab dich schon gestern gesehen, mit dem Einkaufskorb“,
fuhr er fort. „Am liebsten wär ich dir gleich nachgegangen. Als
ich hörte...“ Jetzt schlug sie die Augen auf, aber sie blickte
geradeaus... „... daß du aus Schweinfurt bist...“ Er dachte; Was
red ich da? „... als ich das hörte, dachte ich, daß dich hier
überhaupt keiner verstehen kann.“
Sie schloß die Augen und saß unbeweglich.
Verstehen, dachte Holt, kann man denn überhaupt einen
anderen Menschen verstehen? „Wir sind im Ruhrgebiet
eingesetzt. Ich weiß nicht, wie oft ich in den Luftlagemeldungen
gehört hab: ,Raum Würzburg–Schweinfurt’...“ Er erinnerte sich
sehr deutlich. Es war im Oktober gewesen, die Amerikaner
hatten an die tausend Begleitjäger mitgeschickt, und die
Luftkämpfe zogen sich von der holländischen Grenze bis in den
süddeutschen Raum. Mehr als hundert Viermotorige waren
abgestürzt, aber Schweinfurt war dennoch bombardiert
worden... Holt sah ein Häusermeer in einer grauen Rauchwand
versinken, darin unaufhörlich die Blitze der Einschläge zuckten,
bis sich das Rot der Brände durch den Rauch fraß... Er
schüttelte die Erinnerung ab. Wie sagte Gottesknecht immer?
Zähne zusammenbeißen!
„Es ist gut, daß ich damals nichts von dir wußte. Ich hätte ja
keine Ruhe gehabt. Helfen hätte ich dir auch nicht können.“ Er
saß lange stumm neben ihr. Unsicher durch ihr standhaftes
Schweigen fragte er: „Soll ich gehn?“ Sie schüttelte unmerklich
den Kopf.
Die Gesellschaft am Sprungturm brach auf. Wolzow sah im
Vorbeigehen auf das Mädchen, dann verlor sich der
Stimmenlärm auf der Liegewiese. Sie blieben allein auf dem
Floß zurück. Die Abendsonne stand tief über den Bergen
jenseits des Flusses und wärmte nicht mehr. Er fragte: „Ich
weiß noch gar nicht, wie du heißt.“
„Gundel. Eigentlich Gundula.“ Er horchte auf ihre Stimme, eine
dunkle, etwas brüchige Stimme. Er wiederholte: „Gundel...“ Sie
wandte ihm das Gesicht zu. „Und mit Familiennamen?“ –

304
„Thieß.“ Ihre Stimme gefiel ihm. „Wird dir nicht kalt?“ Sie sagte
statt einer Antwort: „Die andern werden böse sein, wenn du
nicht mitgehst. Es sind doch deine Freunde.“ – „Gilbert und
Sepp“, sagte er, „die andern gehn mich nichts an.“
Sie lächelte. Er sah zwischen den Lippen die blanken Zähne
schimmern. „Woran denkst du?“ Das Lächeln vertiefte sich. Sie
sagte: „Ich möcht wissen, was du gestern gedacht hast.“ –
„Ich?“ Die Frage verblüffte ihn. „Ich hab dir nachgeschaut.
Zuerst fiel mir eine Zeile aus einem Gedicht ein... Da stand das
Kind am Wege...“ Sie neigte den Kopf zu ihm hin. „Und wie
geht’s weiter?“ Er überlegte angestrengt. „Da stand das Kind
am Wege... und winkte ihn nach Haus... Es ist von Storni, glaub
ich.“ Er sah, daß sich ihre Lippen bewegten; sie wiederholte für
sich die beiden Verszeilen. „Und du?“ forschte er. „Was hast du
gedacht?“ Da stieg ihr wieder die Röte ins Gesicht, und sie
stand auf. Er war einen halben Kopf größer als sie. Er sah ihr
nach, dann rannte er über die Liegewiese zu seiner Kabine und
fuhr in die Uniform. Er wartete am Ausgang.
Sie trug wieder das verschossene bunte Kleid. Er lief wortlos
neben ihr durch die Parkanlagen zur Stadt. Als hinter der
Brücke die Straße nach links zum Fischerviertel abzweigte,
blieb sie stehen und sagte: „Nicht... Es ist besser, wenn sie dich
nicht sehen.“
„Gehst du morgen wieder baden?“ Sie nickte. Dann, als sei
dies schon zuviel gewesen, ging sie davon, die enge, schattige
Gasse entlang.

Holt besuchte am anderen Morgen Gomulka. Wolzow schlief


noch. Auf dem Tisch lag ein Stoß schwarzer, in Wachstuch
gebundener Hefte, in denen Wolzow die halbe Nacht gelesen
hatte, die Tagebücher seines Vaters. Holt schrieb einen Zettel:
„Bin bei Sepp. Sehen uns vielleicht beim Baden.“ Als sein Blick
auf Wolzow fiel, der im Schlafe leise schnarchte, hatte er Lust,
ihm ins Gesicht zu brüllen: Gefechtsschaltung! Sollst mal
sehen, wie er hochkommt!
Gomulkas bewohnten ein Haus am Stadtrand. Im Vorgarten
blühten Gladiolen und Astern. Gomulka öffnete im Bademantel
und führte Holt durch die Diele in ein helles Speisezimmer. Aus

305
dem angrenzenden Raum drang das Gespräch mehrerer
Frauenstimmen. Gomulka erläuterte: „Wir haben
Verwandtenbesuch.“
Sein Zimmer war einfach möbliert. Hier herrschte eine
peinliche, fast pedantische Ordnung und Sauberkeit. Als
Gomulka den Schrank öffnete, sah Holt die Wäschestücke auf
die gleiche Breite gefaltet, exakt aufeinandergestapelt, die
Schuhe in Reih und Glied und die Kleidungsstücke sauber
gebürstet auf den Bügeln. Er dachte an die Unordnung bei
Wolzow.
Sie suchten sich im Garten einen schattigen Platz. Die
Aprikosenbäume hingen voll reifer Früchte. Gomulka meinte:
„Heuer ist ein gutes Aprikosenjahr. Wir lassen sie ganz reif
werden, überreif, da kann man sie ohne Zucker zu Marmelade
kochen.“ Holt hob ein paar der herumliegenden Früchte auf, aß
und warf die Kerne ins Gebüsch. Träge und zufrieden legte er
sich unter einen Baum. Gomulka fragte: „Was machst du am
Nachmittag?“ - „Ich bin verabredet.“ Gomulka fragte vorsichtig:
„Stimmt es, daß sie... nicht ganz richtig ist?“
„Das ist ein verdammter Quatsch, Sepp! Das ist typisch für die
Küchler, diese Ziege!“ Holt fuhr ruhiger fort: „Ich weiß auch
nicht, warum ich so eine Wut auf die hab. Wenn ich sie seh,
dann wird mir schon ganz kribblig...“ Er dachte: Sie ist das
weibliche Gegenstück zu Ziesche und Branzner und all denen.
„Sag mal, Sepp“, fragte er nachdenklich, „warum haben wir
eigentlich immer gegen die etwas, die begeistert sind, von der...
nationalsozialistischen Idee durchdrungen? Wenn einer kommt,
irgendein Fremder, da denkt man: Sympathischer Kerl! Kaum
macht er den Mund auf, da geht’s los: Herrenrasse, unbedingte
Gläubigkeit, fanatischer Wille, eben das übliche. Sofort denk
ich: Lieber Gott, das ist ja auch so einer. Eigentlich sollten die
doch unser Vorbild sein, Leute wie Ziesche, in ihrem...
gläubigen Fanatismus.“
„Mir persönlich“, sagte Gomulka bedächtig, „ist Fanatismus...
na, unheimlich will ich’s nennen. Warum? Mit einem Fanatiker
kann man nicht reden. Der Inbegriff des Fanatismus ist für mich
eine wütende Bulldogge. Lach nicht, Werner, es ist wirklich so!“

306
„Aber gerade Fanatismus wird doch von uns gefordert!“ rief
Holt. „Und gerade, weil ich dazu neige, alles zu zergrübeln, zu
zergliedern, beneide ich diejenigen, die fanatisch glauben
können. Ich geb mir wer weiß was für Mühe, fanatisch zu sein!
Man hätte es viel einfacher. Das Nachdenken und Grübeln, das
macht einen fertig, Sepp! Ich wünschte, ich war ein Fanatiker.“
Gomulka richtete sich auf. „Da könnte ich nicht dein Freund
sein. Stell dir vor, ich sag etwas, da springst du auf, mit
funkelnden Augen, und machst Meldung... Es ist ja sowieso
unmöglich, ganz aufrichtig zu sein!“ Er ließ sich wieder ins Gras
sinken. „Das Nachdenken“, sagte er mit ungewöhnlichem Ernst,
„das macht dich nicht fertig, nur das sinnlose Nachdenken!
Suchen ist richtig, nur nicht sinnlos suchen, gewissermaßen mit
verbundenen Augen, im dunklen Zimmer...“
Mit verbundenen Augen im dunklen Zimmer, dachte Holt, ja,
ein gutes Gleichnis, oft ist es tatsächlich so, als tappe man im
Finstern umher, dann denk ich: Das versteh ich nicht, und das
werde ich nie verstehen... Was hab ich nicht alles
heruntergeschluckt in diesem einen Jahr. Barnims hier sind alle
verhaftet, der alte Ziesche macht im Generalgouvernement eine
unbeschreiblich dreckige Arbeit, die Juden, die stillschweigend
verschwunden sind, werden mit... wie hieß es doch,
Chlorkohlensäuremethylester oder so, das hat Vater gesagt,
und gelogen hat er noch nie! Aber da darf ich überhaupt nicht
daran denken! Denn wie soll ich durchkommen, ohne
Sicherheit, ohne Halt? Was ist denn überhaupt noch sicher auf
dieser Welt?
„Vielleicht verstehen wir diese Zeit nicht“, sagte er. „Aber jetzt,
wo die Russen vor Ostpreußen stehen, bleibt da nicht
wenigstens eins: daß wir für Deutschland kämpfen? Haben wir
bisher nicht für Frauen und Kinder in Essen und Gelsenkirchen
gekämpft? Vielleicht hat es nicht viel genützt, aber daran hab
ich mich immer festgehalten: wir schützen Frauen und Kinder!“
„Die anderen aber doch auch“, sagte Gomulka. „Wenn du
damit anfängst, dann gibt es überhaupt keine Klarheit mehr.
Was meinst da denn, wofür die Russen kämpfen? Laß dir mal
erzählen, wie die SS von Anfang an in Rußland gehaust hat,
die Feldgendarmerie und die Wehrmacht! Der Ziesche hätte dir

307
genau erklärt, daß wir ein Recht haben, die Russen
auszurotten, weil ‘s Bolschewiken sind. Nun versetz dich mal in
so einen Bolschewisten hinein, dem vielleicht die ganze Familie
erschossen oder nach Deutschland zur Zwangsarbeit gebracht
worden ist. Kämpft der nicht für Frau und Kinder?“
„Sepp... Du sagst das so einfach!“ rief Holt. „Du nimmst
diesen Widerspruch einfach hin! Und was gibt dir Halt?“ – „Mir?“
sagte Gomulka gedehnt und ausweichend. „Das ist schwer zu
sagen, sehr schwer...“
Holt dachte unvermittelt an das fremde Mädchen. Ein Mensch
wird mir Halt sein, dachte er. Vielleicht hätte es Uta sein
können, aber ich Idiot bin zu Gertie Ziesche gelaufen, und statt
Halt zu finden und Sicherheit hab ich erleben müssen, wie mir
ein Mensch immer gleichgültiger wurde, so schauerlich
gleichgültig, daß mich heut noch friert, wenn ich daran denke.
„Komm essen“, sagte Gomulka.

Auf der Veranda war der Mittagstisch mit unübersehbarem


Aufwand an Porzellan und Silber für acht Personen gedeckt.
Gomulka stellte vor: „Mein Freund Werner Holt.“ Seine Mutter
war eine stattliche Frau, blond und blauäugig. Holt hörte Namen
von Tanten und Nichten. Rechtsanwalt Doktor Gomulka war ein
Mann von fünfzig Jahren, mit schütterem grauem Haar und
einer dunklen Brille, dennoch wie ein Doppelgänger seines
Sohnes anzusehen. Er sagte höflich: „Ich freue mich wirklich
sehr, Herr Holt!“ Er pflegte verschiedene Wörter seiner Rede
über Gebühr zu betonen.
Man aß eine Aprikosenkaltschale, dann Aprikosenauflauf,
Aprikosenkompott, und statt des Kaffees gab es einen sehr
dünnen, aber echten Tee, dazu Aprikosenkuchen. „Sie sehen“,
sagte Frau Gomulka, „der Garten ernährt seinen Mann.“ Das
Tischgespräch bestritten fast ausschließlich Gomulka und sein
Vater. Es dauerte nicht lange, bis Holt die leise Gereiztheit
heraushörte, die im Gespräch zwischen Vater und Sohn
mitschwang. Aus Höflichkeit beantwortete er dann und wann
eine Frage; der ungeduldige Wunsch, mit sich allein zu sein,
verstummte erst, als sie im engeren Kreise am Tisch sitzen
blieben.

308
Die Verwandtschaft zog sich zurück.
„Wir hätten Sie gern schon früher einmal bei uns gesehen“,
begann der Rechtsanwalt in einem Ton, als sage er: Herr
Präsident, meine Herren Geschworenen! „Lassen Sie uns ein
paar offene Worte sprechen. Ihre Klasse hat Verluste gehabt,
dreizehn Tote, wenn ich recht informiert bin... Wie schätzen Sie
Ihre weiteren Aussichten ein?“
„Wir haben Glück gehabt“, antwortete Holt. „Gilbert Wolzow
meint immer, der Himmel verläßt die alten Krieger nicht.“ – „Ein
zweckoptimistisches Wort“, entgegnete der Rechtsanwalt,
„finden Sie nicht? Rauchen Sie? Bitte. Danke, ich bediene mich
selbst.“ Er setzte eine Shagpfeife in Brand.
Frau Gomulka sagte, die Teetasse in der Hand: „Jede Mutter
möchte ihren Sohn wiederhaben.“ Gomulka rief heftig: „Mama!
Du wolltest nicht wieder davon anfangen!“ Sie wies ihn zurecht:
„Ich glaubte dich besser erzogen zu haben, als daß du dir einen
solchen Ton erlauben dürftest.“ Der Wortwechsel erfüllte Holt
mit Mißbehagen,
„Ihr Vater“, begann der Anwalt wieder, während er seine Brille
abnahm, „wenn ich recht unterrichtet bin, so ist er gemaßregelt
worden... Sie gestatten, daß ich davon spreche? Hat er sich nie
mit Ihnen über die weitere Perspektive unterhalten? Haben Sie
nicht gewisse Grundsätze für eine zweckentsprechende
Verhaltensweise vereinbart?“ Ehe er Holt ansah, setzte er seine
Brille wieder auf.
Gewisse Grundsätze? Zweckentsprechende
Verhaltensweise? Holt sagte abwehrend: „Mein Vater ist ein
Sonderling, er hat keinen Sinn fürs Praktische... Sepp und ich,
wir haben uns natürlich mal überlegt, wie wir uns verhalten
wollen. Aber es kommt doch immer ganz anders. Zum Beispiel
die endlose Fehde mit den Hamburgern, da sind wir
hineingeraten, ohne es gewollt zu haben.“
Der Rechtsanwalt sog unzufrieden an seiner Pfeife. „Damit Sie
mich recht verstehen: ich bin ein Gegner der Handlungs-
normen. Ich bin überhaupt gegen jede Norm. Sie sollen
durchaus kein Schema suchen. Es gibt da zum Beispiel
Soldaten, deren Gedanken in das Schema gepreßt sind: Nie
freiwillig melden! Dieses wie jedes Schema ist unbedingt falsch.

309
Der Mensch bedarf der Elastizität. Ich wünschte, ihr Jungen
besäßet diese Elastizität. Die heutige Zeit, oder besser: die
Gegenwart... unsere Epoche jedenfalls neigt zur
Überbewertung des starren Prinzips und setzt es über die
Entscheidung des einzelnen.“
Holt hatte das Gefühl, der Anwalt schleiche mit seinen Worten
um ihn herum wie die Katze um den heißen Brei. Holt suchte
keine Antwort, er suchte den Widerspruch, er wußte nicht,
warum; es ging ihm ähnlich wie Weihnachten bei seinem Vater.
„Entschuldigen Sie, Herr Doktor. Ich weiß nicht, ob das stimmt,
was Sie sagen. Während der diesjährigen russischen Angriffe
im Mittelabschnitt, da wurde die Rolle des Einzelkämpfers
besonders hervorgehoben, eines Kämpfers also, der auf die
persönliche Initiative und die Freiheit seiner Entscheidung
angewiesen ist.“
„Zweifellos!“ sagte der Anwalt sarkastisch. „Wobei diese
Handlungsfreiheit ebenso unbeabsichtigt erteilt als auch von
vornherein eingeengt worden ist.“ – „Eingeengt? Wodurch?“
fragte Holt nervös. – „Nun... Durch die totale Ausrichtung des
einzelnen. Eben durch das, was ich die heute gültigen Normen
nenne. Kampf bis zur Selbstaufopferung zum Beispiel,
Ehrlosigkeit jeder Kapitulation. Und so weiter.“
„Ohne zwingenden Grund“, sagte Holt herausfordernd, „halte
ich Kapitulation allerdings für unehrenhaft.“ Er war davon
durchaus nicht überzeugt. Hatte nicht Sepp erzählt: Der Oberst
Barnim soll mit seinem Regiment kapituliert haben...?
Der Rechtsanwalt sah Holt mit einem forschenden Blick an,
ehe er die Brille abnahm. „Persaepe accidit, ut utilitas cum
honestate certet“, sagte er bedächtig. „Sehen wir davon ab, den
Ehrbegriff zu erläutern, den Sie da ins Feld führen. Gut, gut...
Sie haben recht, ich habe ihn ins Feld geführt. Es genüge
vielmehr die Frage, ob Sie sich in der Lage fühlen zu beurteilen,
wann denn der ,zwingende Grund’ gegeben sei. Aber lassen
wir das.“
Gilbert müßte hier sein, dachte Holt verärgert, er würde ihm
schon erklären, unter welchen Umständen eine Kapitulation
gerechtfertigt ist! Das Gespräch war ihm zuwider. Gomulka
mischte sich ein. „Entschuldige, Papa. Das Gerede führt zu

310
nichts. Damit ist uns nicht gedient. Solche Spitzfindigkeiten“,
sagte er mit erhobener Stimme, „würzen vielleicht ein
Tischgespräch, aber sie geben uns keinen Halt.“
„Nein, nein“, entgegnete der Anwalt, „ganz recht, gewiß nicht...
Aber es gibt erst recht keinen Halt, wenn man sich über
tiefgehende innere Zerwürfnisse hinwegsetzt.“
„Wobei es wahrscheinlich ist“, rief Gomulka geradezu
verbittert, „daß sich gewisse Zerwürfnisse, die ich lange mit
ansehen mußte, erst recht demoralisierend ausgewirkt haben!“
Der Rechtsanwalt sog an seiner Pfeife. Er furchte die Stirn.
Frau Gomulka hob den Blick und sagte kühl: „Ich glaube, im
letzten Jahr haben sich ganz andere Dinge demoralisierend auf
dich ausgewirkt.“ Gomulka war erregt. „Wofür ihr nicht das
geringste Verständnis habt!“
Der Rechtsanwalt nahm die Pfeife aus dem Mund. „In
entscheidenden Fragen“, sagte er ruhig, wenn auch tadelnd,
„hast du deine Eltern niemals anders als einmütig gesehen.
Deine Anspielung auf gewisse Zerwürfnisse verdient also
äußerst taktlos genannt zu werden, noch dazu in Gegenwart
eines Gastes. Est adulescentis maiores natu vereri.“ Diese
Phrase schien Gomulka noch mehr zu verbittern, denn er rief:
„Stultus es... qui facta infecta facere verbis cupias! Laß doch die
weisen Sprüche, Papa, dein Latein imponiert mir ja nun weiß
Gott nicht!“ – „Und was unser angebliches Unverständnis für
deine Erlebnisse im Ruhrgebiet anbelangt“, fuhr der Anwalt mit
unerschütterlicher Ruhe fort, „so wollen wir mit ihrer Hilfe
lediglich deinen Gesichtskreis erweitern. Lassen wir das. Ich
habe diese Differenzen vorausgesehen und nehme dir nichts
übel. Denn wo anders als zu Hause vermöchtest du auch,
deinem jugendlichen Oppositionsdrang ungestraft
nachzugehen?“
Holt war diese Szene peinlich. Er sagte, so unbefangen wie
möglich: „Bitte erlauben Sie, daß ich mich verabschiede.“
Vielleicht hatte er den unglückseligen Streit durch seinen
Widerspruch provoziert. „Mein Widerspruch war ungehörig“,
sagte er aufrichtig, „und er war falsch. Man verteidigt oft nach
außen hin Dinge, die... hier innen drin ganz und gar nicht so
klar sind. Vielleicht verteidigt man sie gerade deshalb! Auf

311
Wiedersehen, gnädige Frau. Danke, es wird schon
schiefgehen. Heil Hitler, Herr Doktor.“
Sepp brachte ihn durch den Vorgarten. Er war noch immer
aufgeregt. Holt sagte beschwichtigend: „Nimm’s doch nicht so
tragisch, Sepp! Ich kenn das! Mit meinem Vater geht mir’s
genauso.“ – „Aber der Wahnsinn ist ja, daß er recht hat!“ rief
Gomulka. „Er hat recht, ja! Aber ich kann’s nicht zugeben, nicht
so ohne weiteres, ich kann nicht!“ – „Schwimm dich frei, Sepp“,
sagte Holt, „wir müssen selber durch den Dreck!“... Durch die
sieben Höllen, dachte er.
Er ging die Allee entlang. Schluß jetzt mit der
Selbstzerfleischung! Ich denk nicht dran, mich selber
fertigzumachen! Auf einen imaginären Punkt schauen, dachte
er, und vorwärts, marsch!

Er schaute bei den Tennisplätzen auf der Parkinsel eine Weile


dem Spiel zweier Mädchen zu. Dann wartete er auf der Brücke.
Es war schon drei Uhr vorbei. Er lehnte mit dem Rücken am
Holzgeländer, in der sengenden Sonne, und warf den
Zigarettenrest in das faulige, abgestandene Wasser. „Nun
komm schon“, sagte er laut. Er sah immer wieder auf die Uhr
und wunderte sich, daß von Mal zu Mal kaum Minuten
verstrichen waren. Die Zeit ist aus den Fugen! Er sagte:
„Komm!“ Aber als sie dann aus der engen Gasse in den
Inselweg einbog, erschrak er und stand wie festgenagelt am
Geländer. Sie ging langsam über die Brücke, als sehe sie ihn
nicht. Erst als er ihren Namen rief, blieb sie stehen.
„Ich wußte ja gar nicht, ob dir’s ernst war“, sagte sie
unbefangen und sah aus großen Augen zu ihm auf. „Ich war
komisch gestern, nicht? Ich hab erst über alles nachdenken
müssen.“ – „Ich war komisch“, widersprach er. „Ich hab
unmögliches Zeug geredet, da mußte ich dir ja ganz unheimlich
werden!“ Sie lachten beide; das nahm die letzte Befangenheit.
„Gehn wir baden? Wir können auch ein Stück wandern.“ – „Wie
du willst“, antwortete sie.
Gleich hinter dem Gerichtsgebäude führte ein Feldweg den
Berg hinan und mündete in einen breiten und stillen Waldweg.
Holt litt unter der Hitze und zog die Mütze durchs Koppel. Auf

312
der Höhe wehte der Wind dann kühlend über sie hin. Holt
erzählte, was ihm gerade einfiel, von Wolzows „schlagartiger
Aktion“ gegen die Hamburger, damals, vor dem
Weihnachtsurlaub.
„Der Große?“ fragte sie. „Ist das dein Freund? Ich glaube, er...
hat kein Herz.“ Er fragte verblüfft: „Wie meinst du das?“ –
„Gestern, als sie alle vorbeigingen“, sagte sie, „da hat er mich
angeschaut. Er sieht so... gleichgültig aus.“ – „Aber er ist ein
treuer Freund“, rief Holt, und er rief es gleichsam auch sich
selbst zu. Er erzählte weiter und gab sich Mühe, die Situation
anschaulich zu schildern, wie Wolzow das Aquarium nach
Günsches Bett geworfen hatte... „Das ist schrecklich!“ rief
Gundel. „Und die Fische?“ – „Es waren keine drin“, log Holt,
„bloß leere Schneckenhäuser, Steine und so was.“ – „Ich
glaube, er hätte es auch mit den Fischen hingeworfen“, sagte
sie. Holt schwieg. Er sah Wolzow im Biologiezimmer Zickels
Zierfische an die schnurrende Katze verfüttern...
Der Wald nahm sie auf. Der Weg war kühl und schattig. In den
Wipfeln rauschte das Laub. „Du sagst ja gar nichts mehr.“ Er
meinte: „Ich überleg. Hab ich auch kein Herz?“ – „Du mußt nicht
gekränkt sein“, sagte sie. „Ich wollte deinen Freund nicht
beleidigen.“ Er fand sie eigenartig, ganz anders als die
Mädchen, die er kannte. „Die anderen“, begann er vorsichtig,
„haben gesagt, du sonderst dich ab... du weichst allen aus...
Aber warum hast du mich dann gestern nicht weggeschickt?“
„Ich weich allen aus“, wiederholte sie, „ja, das stimmt. Die
einen wissen nichts und reden immerfort von
Zusammennehmen. Das ertrag ich nicht. Die anderen wissen
nur die Hälfte und haben Mitleid, oder sie heucheln. Mitleid mag
ich nicht. Überhaupt... ich paß nicht zu denen.“ – „Und ich?“
fragte er. – „Bei dir“, sagte sie nachdenklich, „hatte ich das
Gefühl, du... könntest wirklich mich meinen.“ – „Das versteh ich
nicht“, entgegnete er. – „Ich weiß schon, was ich sagen will. Ich
kann es bloß nicht richtig ausdrücken... Außerdem könnte es ja
sein, daß du mich brauchst.“ In einer impulsiven Regung
streckte er die Hand nach ihr aus. Sie wich zur Seite, bis an den
Rand des Weges, doch dann folgte sie ihm durch das kniehohe
Farnkraut zum Waldrand, wo die Sonne auf Brombeerhecken

313
lastete. Der gelbe Roggen neigte sich schwer im Wind. Jenseits
des Talgrundes auf dem Hügelrücken ragte der Rabenfelsen in
den Himmel. „Setz dich“, sagte er, „der Boden ist trocken, es
gibt auch keine Ameisen hier.“
Sie saß mit untergeschlagenen Beinen im Gras und zupfte
einen Faden aus dem Rocksaum. Holt legte sich lang auf den
Boden und verschränkte die Hände unter dem Kopf. „Erzähl mir
was.“ Er sah, daß sie überlegte. „Du hast keine Eltern mehr?
Erzähl mir von deinen Eltern.“ Sie zögerte und sah zu dem
schwarzen Basaltfelsen hin. „Von meinem Vater weiß ich
nichts“, sagte sie schließlich. „Ich kann mich kaum noch an ihn
erinnern. Ich war erst vier Jahre alt, als er verhaftet wurde.“
Verhaftet? Sie kann kein... Verbrecherkind sein... Hätte ich
bloß nicht gefragt! dachte er müde... Sie beobachtete ihn.
„Es war im Februar 1933“, erzählte sie. „Er ist nie
wiedergekommen, aber er hat noch lange gelebt, in einem
Lager. Ich war schon elf Jahre alt, als die Todesnachricht kam,
am 3. August 1940. Meine Mutter hat nie von meinem Vater
gesprochen. Aber als der Brief kam, da war sie weiß wie die
Wand. Ich hör noch jedes Wort. Sie hat gesagt: ,Ich hab
geschwiegen, weil ich gedacht hab, ich kann ihm helfen, daß er
zurückkommt... Aber jetzt’, hat sie gesagt, ,jetzt kann ich nicht
mehr schweigen.’ Ich hab das nicht verstanden. Ein paar Tage
später ist sie abends zu mir ans Bett gekommen. Sie hat
gesagt: ,Sie haben deinen Vater bespuckt, sie werden auch
deine Mutter bespucken, aber du darfst niemals glauben, was
sie von uns behaupten.’“
Gundel flüsterte nur noch. „Von diesem Tag an war alles
durcheinander. Ich hab oft gehört, wie meine Mutter nachts
fortgegangen ist, wir hatten ja nur Stube und Küche. Im
Dezember, am 9. Dezember, als ich aus der Schule kam, da
war die Polizei da. Sie haben mich gefragt und gefragt, und
nachher hat mich eine Frau mitgenommen und hat mich
geschlagen, ich soll sagen, was ich weiß. Ich wußte nichts.
Dann bin ich in ein Heim für verwahrloste Jugendliche gebracht
worden. Im Frühjahr haben sie meine Mutter sechsmal zum
Tode verurteilt und gleich hingerichtet.“ Sie schwieg. „Nun weißt
du’s. Ich bin auch schon angespuckt worden. Im Heim, da

314
waren Mädchen, die gestohlen hatten und noch viel
Schlimmeres, aber die waren alle besser als ich. Und alle
haben auf mich geschrien: ,Dreckstück’...“ Ihr Gesicht war
verschlossen. „Geh! Lauf ruhig weg! Ich brauch keinen.“ Er lag
unbeweglich und starrte in den Sommerhimmel, bis die Augen
schmerzten. „Sprich zu niemandem darüber!“ sagte er endlich.
„Daß nur dir nichts geschieht.“
Ihr Gesicht wurde weich. Er sagte leise: „Ich weiß nicht, wie
lang der Krieg noch dauert. Ich weiß nicht, was los ist in der
Welt und was aus mir wird. Manchmal denk ich, das ist alles nur
ein böser Traum. Wenn ich heimkomm aus dem Krieg, dann
mußt du noch da sein. Ich weiß sonst nicht, wo ich hingehen
soll.“ Sie sagte: „Wirst du mich auch nicht gleich wieder
vergessen?“ Er riß einen Getreidehalm ab und warf ihn ins Feld
zurück. „Nein.“ Auf einmal lachte sie. „Ich glaube, jetzt kann ich
dir auch sagen, was ich gedacht hab, vorgestern, auf der
Straße.“ Sie blinzelte in die Sonne, die schon dicht über dem
Rabenfelsen stand. „Ich hab gedacht: Der müßte mein Bruder
sein.“ – „Dein Bruder?“ Holt war verwirrt, und sie fragte auch
noch: „Möchtest du nicht mein Bruder sein?“
Er richtete sich auf. Aber nun sah er nicht nur das Gesicht mit
den großen Augen und dem kindlichen Mund, sondern auch die
nackten braunen Arme, die junge Brust, die das knappe Kleid
schlecht verbarg, die winzigen Füße mit den Holzsandalen, die
unter dem ausgebreiteten Kleidersaum hervorsahen. „Nein.
Nicht dein Bruder“, sagte er und sprang auf. „Komm. Es wird
bald Abend.“ Er hielt ihr die Hände hin und half ihr aufzustehen,
einen Augenblick standen sie unbeweglich voreinander, dann
riß sie sich los. Er folgte ihr, sie gingen durch den Wald
stadtwärts.
Es dämmerte. Zwischen den Bäumen herrschte ein
durchsichtiges Halbdunkel. Der Pfad teilte sich. Holt wählte den
längeren Weg. Eine Bank stand zwischen den Sträuchern, er
zog Gundel neben sich auf den Sitz und faßte ihre Hände.
Dann hob er sie auf seinen Schoß. Ihr Kopf lag an seiner
Schulter. Er legte den linken Arm um sie und strich ihr mit der
Rechten das Haar aus der Stirn. Etwas wie Mitleid überkam ihn,
er sagte: „Du bist noch so jung!“ Sie antwortete mit

315
geschlossenen Augen: „Du doch auch!“ Er küßte sie, nur
flüchtig. „Nicht doch“, sagte er, „du mußt den Mund nicht so fest
zumachen! Die Lippen nur ganz leis aufeinanderlegen...“ Sie
begann plötzlich zu lachen. „Probier’s noch mal!“ Er küßte sie
wieder, sie hatte begriffen. „War’s jetzt richtig?“ fragte sie. Er
antwortete: „Das darfst du mich doch nicht fragen, du dummes
Kind, wenn dir’s gefällt, dann war’s richtig.“ Sie hob ihm schon
wieder die Lippen entgegen, sie fand Gefallen daran. Er zog sie
fester an sich. Behutsam, um sie nicht zu erschrecken, legte er
die Hand auf ihre Brust. Sie wollte etwas sagen, aber er drückte
ihr Gesicht fest an sich, dann öffnete er ihr das Kleid bis hinab
zum Gürtel, sie trug darunter nur den Badeanzug. Er fühlte ihre
warme Haut, er streifte den Träger des Badeanzugs von der
Schulter und strich mit den Fingerspitzen hauchzart über die
Wölbung ihrer Brust. Sie seufzte: „Ich hab Angst.“ Aber sie legte
den nackten und kühlen Arm um seinen Hals.
Er kam zu sich und erschrak so sehr, daß er sie fast von sich
stieß. „Was ist?“ fragte sie. Er zog sie ganz sacht wieder zu sich
heran, er sprach, den Mund in ihrem Haar: „Nichts. Du gefällst
mir. Du bist wie... eine Elfe.“ Sie sagte unvermittelt: „Du hast
recht.“
„Womit hab ich recht?“
„Daß du nicht mein Bruder sein willst.“
Das überwältigte ihn. „Wenn der Krieg vorbei ist“, sagte er,
„dann komm ich und hol dich. Wenn du mich nur bis dahin nicht
vergessen hast!“ – „Ich dich vergessen!“ rief sie. Er erhob sich
und trug sie ein paar Schritte weit, und während er sie auf den
Weg stellte, lag sie eine Sekunde lang an seiner Brust wie das
kleine Mädchen mit den roten Schuhen, Er preßte sie hilflos an
sich und barg das Gesicht in ihrem Haar.

Er ging langsam durch die winkligen Gassen. Wolzow war


noch nicht zu Hause. Holt saß lange am offenen Fenster. Er
konnte durch die Sommernacht bis hinab zum Fluß sehen.
Nach Mitternacht polterte Wolzow ins Zimmer, staubig und
verschwitzt. „Das war ein Gewaltmarsch!“ Er warf ein schweres
Bündel auf den Tisch. „Unsere Schießeisen!“ Das Leder der
Taschen war feucht und verschimmelt. Holt hielt den belgischen

316
Browning in der Hand, ein paar Rostflecke auf dem dunklen
Stahl ließen sich abreiben. Sie rauchten Zigarren und putzten
die Waffen. Wolzow war merkwürdig wortkarg. „Was hast du?“
fragte Holt. „Ich? Nichts“, antwortete Wolzow. Er zog den
Schlitten der Walther-Pistole zurück und ließ eine Patrone in
den Lauf schnappen, zielte auf das ausgestopfte Rebhuhn und
drückte ab. Der Schuß krachte in dem engen Zimmer wie eine
Kanone, der Pulverdampf wehte zum offenen Fenster hinaus.
Wolzow warf die Pistole auf den Tisch. Im Haus wurde es
lebendig. Von unten rief jemand: „Was ist... Um Gottes willen!“
Wolzow sprang zur Tür und brüllte: „Ruhe! Sonst kracht’s noch
mal!“ Dann saß er wieder auf dem Bett. „Und du?“ fragte er
übellaunig. „Warst du bei der Kleinen? Spinnt sie denn nun
wirklich? Sogenannte traumatische Neurosen sind das, gibt es
im Krieg häufig, ,Kriegsneurosen’, das sind bloß abnorme
Reaktionen, gab’s auch schon früher, ich glaube, ich habe
schon bei Altgeld in ‚Sanitätsdienst im Felde’ drüber gelesen.
Meistens ist es nur Simulation... Was denkst du, wie die das
während des Weltkrieges in den Lazaretten des 16.
Armeekorps gemacht haben? Da haben sie den
Kriegsneurosen Gewaltexerzieren verordnet, dreimal täglich
vier Stunden; du kannst dir nicht vorstellen, wie das geholfen
hat! In acht Tagen waren schwere Fälle von Schüttlern und
Verkrümmten wieder fronteinsatzfähig...“
Als Holt auf seinem Feldbett lag und einschlief, sah er Wolzow
wieder über den schwarzen, in Wachstuch gebundenen Heften
sitzen und lesen, mit finsterem und verschlossenem Gesicht.
Am anderen Morgen gegen elf erwachte Holt durch ein
Klopfen an der Tür. „Runterkommen, die Post ist da!“
Die Briefträgerin ließ sie beide unterschreiben. Holt sah den
Umschlag. Er las nur den Stempel: „Frei durch Ablösung
Reich“. In einem Schwindelgefühl lehnte er sich gegen den
Türpfosten.
Wolzow riß den Umschlag auf und las laut vor: „Sie haben
sich... Mensch, das war vorgestern!... bei der RAD-Abteilung
2/461...“ Sie gingen wieder die Treppe hoch. Wolzow bürstete
seine Uniform. Die Briefe waren von Gelsenkirchen an die
Batterie und von dort an Wolzows Adresse nachgeschickt

317
worden. Wolzow befahl: „Du holst den Sepp!“ Aber Holt lief die
Gasse hinab.

Er fand das Haus wieder, riß die Tür auf und stieg die Treppe
hoch. Es war dunkel hier, die Luft roch muffig. Hinter dem
ersten Treppenabsatz kniete Gundel und scheuerte die
hölzernen Stufen. Als sie ihn hörte, wandte sie den Kopf. Ihr
Gesicht leuchtete auf. Sie war barfuß und trug eine graue
Kleiderschürze. Verwirrt strich sie sich mit dem Handrücken
eine Haarsträhne aus der Stirn.
„Ich muß fort!“ sagte er. „Ich muß dich noch mal sprechen.“ –
„Du mußt fort?“ fragte sie fassungslos. „Schon heute?“ Oben
schlug eine Tür. Eine Frauenstimme rief: „Gundel! Mit wem
schwatzt du?“ Holt sah, wie Gundel erschrak, warnend den
Finger auf die Lippen legte und hastig weiterarbeitete. Eine
große, derbe Frau mit wirrem Haar stand auf der Treppe und
lehnte sich schimpfend über das Geländer. Als sie Holt sah, rief
sie erschrocken: „Guten Tag... was wollen Sie?“
„Heil Hitler!“ schrie Holt. Warte, dir werd ich! dachte er,
während er die Hacken zusammenknallte. „Heil Hitler heißt das,
nicht guten Tag, wo gibt’s denn so was!“ Das Gesicht der Frau
lief rot an. „Das brauchen Sie mir...“ – „Offenbar doch!“ schrie
Holt, von einer grimmigen Freude erfaßt, und er versuchte,
Hauptmann Kutschera nachzuahmen: „Mal herhörn! Ein
Benehmen wie die Banditen!“ Die Frau schielte argwöhnisch
nach oben, wo geräuschvoll eine Tür aufgerissen wurde, und
sagte: „Aber machen Sie doch kein...“ Benagelte Sohlen
polterten die Treppe herab, ein Mann beugte sich über das
Treppengeländer, ein vierschrötiger Kerl mit grauem
Stutzbärtchen und Glatze; er trug schwarze Reithosen und
Stiefel, und das Netzhemd ließ die behaarte Brust sehen. „Was
is ‘n hier los?“ fragte er.
Durchhalten! Jetzt ist schon alles egal! Holt bellte: „Was hier
los ist? Die Frau da empfängt einen, daß man denkt, man ist in
der Pollackei! An den Baum binden und auspeitschen!“ Das
saß. Der Kerl sagte drohend: „Haste wieder dein
ungewaschnes Maul... Los, du, verschwinde!“ Und zu Holt: „Nu
sei mal friedlich, Kamrad... Was willste denn?“ Jetzt fort! dachte

318
Holt, planmäßig absetzen! „Ich will die Eltern eines gefallenen
Kameraden besuchen“, sagte er. „Nadler, das muß hier wo
sein.“ – „Nadler?“ wiederholte der Kerl auf der Treppe und
überlegte. „Da biste aber schiefgewickelt, da biste falsch, aber
komm erst mal hoch.“ Holt zögerte. Die Neugier ließ ihn die
Treppe hinaufsteigen.
In einer großen Wohnküche lungerten fünf Kinder herum, ein
sechstes lag in einem Korb am Fenster. Der Kerl zog sich einen
schwarzen SS-Rock über und sagte zu den Kindern: „Hagen,
Wulf, haut ab... Raus, Annegret, nimm die Kleinen mit, dalli!“
Dann ließ er sich auf das Sofa fallen. „Nimm Platz!“ Holt
studierte die Rangabzeichen. Es wurde Zeit zu verschwinden.
„Ich bitte um Entschuldigung, Unterscharführer, ich konnte
natürlich nicht wissen...“
„Nu setz dich erst mal“, sagte der Kerl. „Is schon gut, hast ja
recht, dieses Weibszeug spurt nicht, was hab ich nicht schon
versucht! Erzähl mal, wo kommst’n her?“ – „Gelsenkirchen“,
sagte Holt einsilbig. – „Ja richtig! Die Jungs von hier sin ja alle
dort unten... Und wie sieht’s dort nu aus?“ – „Wie soll’s denn
aussehen“, sagte Holt. „Es wird gearbeitet, trotz der Bomben,
die Leute sind zähe.“ - „Na also“, meinte der Kerl befriedigt.
„Hier gibt’s Gerüchte, du ahnst es nicht... von Demoralisation un
so... Unser Mädel spielt sich wer weiß wie auf, bloß weil sie in
Schweinfurt was aufs Dach gekriegt hat... Hab ich längst
durchschaut... von der Arbeit drücken will sich das Aas! Du
mußt’s ja nu wirklich wissen.“ Holt erhob sich. „Ich hab heut die
Einberufung zum RAD bekommen, irgendwo im Protektorat
muß das sein, nach der Slowakei hin.“
„Slowakei? Feine Ecke haste da erwischt!“ Der Kerl nickte
freundlich mit dem kahlen Schädel. „Die dort unten sin ganz
schön frech... Zugüberfälle, Brückensprengungen un so, immer
freiweg, wern immer frecher, un die Russen setzen nachts
welche mit ‘m Fallschirm ab... Na, unsre gehn da jetzt aber ran,
die wern hingemacht, das geht eins fix drei.“ – „Vorher muß ich
noch aufs Meldeamt, wegen der Adresse“, sagte Holt, „ich hab
nur noch ganz wenig Zeit...“ – „Hals- un Beinbruch“, sagte der
Kerl und führte Holt zur Küchentür, „halt die Ohren steif! –

319
Hagen“, schrie er, „Wulfi, Annegret, Heidrun, könnt wieder
reinkomm!“
Holt lief die Treppe hinab. Im Vorbeigehen drückte er Gundels
Hand. „Nach drei... wieder an der Brücke, ja?“ Sie nickte. Holt
stand vor dem Haus, erschüttert, verstört. Auf dem Wege zu
Gomulkas dachte er: Sie muß dort raus!

Bei Gomulkas öffnete niemand. Aus der Wohnung dröhnte


Radiomusik bis auf die Straße. Holt klingelte und klopfte, nichts
rührte sich. Er lief durch den Garten. Die Verandatür stand
offen. Holt trat ins Haus. „Sepp!“ Er trat in die Diele. Das Radio
dröhnte so laut, daß eine Vase auf dem Fensterbrett klirrte. Auf
einmal verstummte die Musik. In der Stille hörte Holt durch die
angelehnte Speisezimmertür Gomulkas Stimme, in einer
fremden Sprache, langsam und betont. Nun die Stimme des
Rechtsanwaltes: „Das Kroatische macht dir die meisten
Schwierigkeiten, du mußt es jeden Abend in Gedanken
wiederholen! Jetzt noch einmal auf russisch!“ Komisch, dachte
Holt, wirklich komisch! Wieder hörte er Gomulkas Stimme
fremdartige, konsonantenreiche Worte formen...
„Sepp!“ rief Holt. In diesem Augenblick setzte wieder das
Radio ein. Frau Gomulka erschien in der Tür. „Entschuldigen
Sie vielmals, ich habe geklingelt, geklopft, gerufen...“ Sie führte
ihn unbefangen ins Speisezimmer. „Wir haben Sie erwartet.
Was meinen Sie, wann Sie reisen müssen?“ – „Heute noch“,
sagte Holt. „Komm mit, Sepp, zu Wolzow!“ Gomulka ging, sich
anzukleiden. Holt hockte trübselig auf einem Stuhl. Sie muß
raus dort, dachte er. „Herr Doktor“, sagte er in plötzlichem
Entschluß, „dürfte ich Sie wohl um... eine Unterredung bitten?“
Der Anwalt wechselte einen Blick mit seiner Frau. „Aber gern!“
Er führte Holt in sein Arbeitszimmer. An den Wänden standen
Regale mit Hunderten von Büchern. Holt, in einem Klubsessel,
wurde ein unbehagliches Gefühl nicht los. Worauf laß ich mich
da bloß wieder ein?
„Es ist... wegen gestern“, begann er stockend. „Ich bin mir
darüber im klaren... Ich will sagen, man kann sich so furchtbar
täuschen, aber bei Ihnen glaube ich...“ – „Aber ich bitte Sie!“
unterbrach ihn der Anwalt. „Der kleine Streit ist doch nicht der

320
Rede wert... Uns muß es peinlich sein, nicht Ihnen! Zwischen
den Vätern und den Söhnen gibt es gelegentlich Differenzen,
das hat doch nichts zu bedeuten.“ Er erhob sich. „Sie verstehen
mich falsch“, sagte Holt schnell. „Ich wollte nur erklären, warum
ich gerade zu Ihnen... warum ich mich gerade an Sie... es ist
eine... Vertrauensfrage.“
Doktor Gomulka setzte sich wieder. „Immer frisch von der
Leber weg! Reden Sie ohne Hemmungen! Sie wissen, ich bin in
der Partei, Sie brauchen also keinerlei diesbezügliche Scheu zu
haben. Andererseits... ich versichere Sie, daß ich Ihnen
zuhören werde, als wären Sie mein leiblicher Sohn.“
„Ich habe eine Freundin hier“, sagte Holt, und er schaute auf
den Anwalt, denn er fürchtete insgeheim, ausgelacht zu
werden. „Es ist ein sehr junges Mädchen. Sie heißt Gundel
Thieß.“
„Thieß, Thieß?“ wiederholte der Anwalt. „Warten Sie. Ich
entsinne mich. Das braucht Sie gar nicht zu wundern, ich kenne
so gut wie jeden hier. Thieß... Ja, da war ein Vorgang, eine
Vormundschaftssache...“ – „Das könnte stimmen“, sagte Holt
eifrig, „denn sie hat keine Eltern mehr...“ – „Ich erinnere mich
jetzt genau. Sie hat beide Eltern durch... recht unglückliche
Umstände verloren. Vor einiger Zeit wurde die Vormundschaft
neu verfügt. Womit kann ich Ihnen dienen?“
„Ich war heut dort, wo sie im Pflichtjahr ist“, sagte Holt
langsam. Der Anwalt unterbrach ihn abermals. „Sind Sie über
die... Ereignisse informiert, die den Tod ihrer Eltern zur Folge
hatten? Ja? Dann erlauben Sie mir zunächst die Frage, ob Sie
sich nicht veranlaßt sehen, die Verbindung zu dem Mädchen zu
lösen.“
„Wenn Sie das von mir erwarten“, sagte Holt heiser, und er
war enttäuscht, „dann...“ – „Nichts, gar nichts erwarte ich“,
entgegnete der Anwalt ruhig. „Ich frage nur. Sie sehen sich also
nicht veranlaßt. Gut. Es paßt zu dem Bilde, das Sepp von Ihnen
zeichnete. Nun weiter. Bitte.“
„Ich war heut dort. Sie können sich das Milieu kaum vorstellen,
und die Menschen...“ – „Ich kann es mir vorstellen“, sagte der
Anwalt. „Ich kenne den Herrn. Er ist in einer bestimmten
Abteilung der Gefangenen-Anstalt beschäftigt. Er genießt auch

321
sonst den Ruf, ein... beispielhafter Nationalsozialist zu sein,
überdies ist er der Vormund des Mädchens. Gewisse
Bestrebungen, dies zu verhindern, waren nach Lage der Dinge
zum Scheitern verurteilt.“
„Kann man sie dort nicht wegholen?“ fragte Holt. „Kann man
ihr nicht helfen?“
Der Anwalt antwortete unumwunden: „Nein. Jura noscit curia.
Glauben Sie mir, da ist keine Möglichkeit, überhaupt keine,
vorerst nicht. Es gibt viele solcher oder ähnlicher Fälle“, sagte
er und blickte zur holzgetäfelten Decke. „Es gibt weitaus
schlimmere. Sie können sich nur in das Heer der Wartenden
einreihen.“
„Warten“, sagte Holt, „worauf?“
Der Anwalt strich sich durch das schüttere Haar. „Credo rem
integram restitutum iri“, flüsterte er. Dann lächelte er schwach
und sagte: „Daß der Märchenprinz unser verwunschenes Kind
bald befreie!“
Sepp riß die Tür auf. Holt erhob sich. „Ich danke vielmals, Herr
Doktor.“ Der Anwalt sagte: „Sie sollen sich nicht sorgen, lieber
Werner Holt. Das Mädchen ist nicht so völlig verlassen, wie Sie
glauben.“ Er begleitete die beiden Jungen bis an die Gartentür.
Holt grübelte. Manches Wort des Anwalts blieb unklar. Er
sagte zu Gomulka: „Ich finde deinen Vater großartig, Sepp!“
Gomulka erwiderte nachdenklich: „Ja... Ich versteh mich ja auch
mit ihm. Nur manchmal... da ist es mir zu einfach, was er sagt.
Es ist in Wirklichkeit viel komplizierter.“

Wolzow saß inmitten der Unordnung seines Zimmers und las


in den schwarzen Heften. Sein Rucksack stand gepackt an der
Tür. Er sagte: „Wir fahren achtzehn Uhr, über Prag. Das Nest
liegt an der slowakischen Grenze. Vielleicht werden wir gegen
Partisanen eingesetzt. Ich hab mit Essen telefoniert,
Gottesknecht läßt euch grüßen. Schau nicht so dumm, Sepp,
hau ab! Punkt vier treffen wir uns im Cafe am Markt.“
Als Gomulka gegangen war, sagte Holt: „Da hat unser Urlaub
ein verdammt schnelles Ende gefunden.“ Wolzow rauchte und
las schweigend weiter. „Diese Tagebücher“, sagte Holt, „hätten
mich ja auch mal interessiert. Da müssen doch tolle Sachen

322
drinstehen, nicht?“ Wolzow legte den Kopf auf die Seite. „Wie
meinst du das?“ fragte er. „Was soll das heißen?“
Holt blickte verwundert auf. „Na... nichts! Ich mein bloß so!
Dein Vater war Oberst, das muß doch interessant sein, was er
da schreibt!“ Er schob den Rucksack zur Tür. „Gib mir eine
Zigarre. Danke.“ Er rauchte. „Ich wollte mich über viele Dinge
mit dir unterhalten. Zum Beispiel... dieses Attentat. Ich versteh
das noch immer nicht.“
Wolzow sprang auf und starrte Holt ins Gesicht, aber dann
bückte er sich und holte unter dem Holztisch eine
Rotweinflasche hervor. „Jetzt hör mal zu“, sagte er, während er
zwei Gläser füllte. „Jetzt werd ich dir mal was sagen.“ Er rief:
„Ein Wolzow verabscheut diese Verräter! Ein Wolzow hält
seinem Kriegsherrn die Treue... Mein Onkel ist seit 1930 in der
Partei, und wir sind seit 1742 Offiziere, und da hat noch keiner
seinen Treueid gebrochen!“ Er hielt den Packen der
Tagebücher in der Hand. Nun warf er ihn auf den Tisch, daß die
Weingläser überschwappten. „Ein Wolzow steht zum Führer“,
rief er und schlug mit der flachen Hand auf die schwarzen
Hefte, „und zeigt, was soldatische Haltung ist! Jetzt beginnt für
uns ein neuer Abschnitt, jetzt wird es Ernst! Geb’s Gott, daß der
Krieg noch zwei Jahre dauert, dann sollst du erleben, was ein
deutscher Offizier ist.“
Er weiß, was er will, dachte Holt, wenn er auch Wolzows
Erregung nicht recht verstand. Alles oder nichts, die Halben soll
der Teufel holen! Sie tranken. „Auf gute Kameradschaft!“ rief
Wolzow. Er hielt Holt die Parabellum hin. „Zeig sie nicht rum,
bis wir mal im Einsatz sind.“
Holt sah auf die Uhr. Er nahm einen Zettel und schrieb die
Adresse seines Vaters auf. Er bat Wolzow: „Nimm meinen
Rucksack mit, ich komm später.“ Er lief durch die Straßen zur
Parkinsel.

Holt wartete länger als eine halbe Stunde. „Ich muß auf die
Kinder aufpassen“, sagte Gundel, atemlos vom schnellen Lauf.
„Ich hab nur zehn Minuten Zeit...“ Er zog sie über die Brücke in
die Anlagen und redete auf sie ein. „Denk an alles, was ich dir
gesagt hab: ich komm wieder! Ich schreib dir postlagernd, geh

323
ab und zu fragen. Schreib mir, sooft du kannst, ja? Und hier...
die Adresse meines Vaters.“ Sie las den Zettel. „Doktor Richard
Holt?“ - „Er ist Professor. Aber jetzt hat er eine ganz armselige
Stellung, weil er... Ich hab so gut wie keine Verbindung zu ihm.
Aber wenn du je im Leben hinkommen solltest, sag, daß wir uns
kennen. Du kannst ihm alles erzählen, da wird er dir bestimmt
helfen.“ Er nahm ihre Hand, eine rissige, verarbeitete
Kinderhand. „Leb wohl, Gundel!“ Sie sagte: „Komm wieder,
Werner... Und werd nicht so... so, wie du heute morgen warst!“
– „Ich hab doch Theater gespielt!“ rief er. „Ich hab meinen
Hauptmann nachgeahmt!“ – „Ich weiß“, sagte sie. „Aber etwas
davon ist auch in dir.“ Er fühlte den Druck ihrer Hand. Sie
wandte sich ab. Er rief sie noch einmal zurück, zog das
Kästchen aus der Brusttasche und legte Utas Kreuz mit dem
Kettchen in ihre Hände. „Ich hab’s vor einem Jahr geschenkt
bekommen, von einem Mädchen, das vielleicht gar nicht mehr
lebt...“
Sie schaute lange auf das rote Gold und flüsterte die
Jahreszahl: „Sechzehnhundertzweiundneunzig...“
„Lies, was da steht“, bat er. Sie buchstabierte die
verschnörkelte winzige Gravierung. Dann lief sie davon.
Er ging durch die Anlagen und schaute über den Fluß.

Im Cafe saßen Wolzow und Gomulka zwischen den Mädchen.


Auch Wurm war dabei. Wolzow führte große Reden, er war
angetrunken. Gomulkas Gesicht war gerötet. Wolzow rief: „Die
Olle rückt nur Bier raus!... Da hat Stammführer Wurm eine Pulle
von daheim geholt! Bist eben doch ein guter Kerl, was?“ Er
schlug ihm kräftig auf die Schulter. Man drückte Holt ein Glas in
die Hand. Jemand rief: „Trinkspruch!“ Wolzow sprang auf und
brüllte, daß die Adern auf seiner Stirn schwollen: „Schlägt’s dich
in Scherben, ich steh für zwei, und geht’s ans Sterben, ich bin
dabei!“ – „Wir müssen zur Bahn“, mahnte Gomulka. Ein
Bierglas fiel vom Tisch und zerbrach. Holt warf den Rucksack
über die Schulter. Der Stahlhelm klirrte gegen einen Stuhl. Auf
einen imaginären Punkt schauen, dort, über der Tür, und:
vorwärts, marsch!

324
Im Zug holte Wolzow eine Karte aus dem Rucksack. „Mal die
Örtlichkeit studieren. Miese Gegend! Berge, Wälder, tief
eingeschnittene Schluchten. Günstig für Kleinkrieg! Gut, daß ich
das klassische Infanteriewerk von Boguslawski mitgenommen
hab!“

325
ZWEITES BUCH

Mitte September zog ein milder Nachsommer über die


nordwestlichen Beskiden.
Gomulka sagte zu Holt: „Eigentlich sollten wir uns nicht
beklagen. Weißt du noch, wie wir uns während der Flak-
Ausbildung unterhielten, wozu der stumpfsinnige Drill gut ist?
Damit man Sehnsucht nach dem Einsatz bekommt.“
Sie saßen zusammen auf der Latrine. Das war hier der einzige
Ort, wo man ungestört ein paar Worte wechseln konnte.
Gomulka war seit dem Urlaub schweigsam und in sich gekehrt.
Sie rauchten, über das Lager brach die Dämmerung herein.
„Hast recht“, antwortete Holt. Essen stand mir bis oben ran,
dachte er, und jetzt wünsch ich mich zurück. Alles, was
kommen kann, ist besser als dieses Lager!
Die Gerüchte von einem bevorstehenden Einsatz
verstummten nicht. Jeder hatte anfangs mit Unruhe und Angst
an diesen Einsatz gedacht, heute gab es wenige, die ihn nicht
herbeiwünschten. „Man ist verdammt vergeßlich“, sagte Holt.
„Wir werden uns eines Tages hierher zurückwünschen!“ – „Bis
jetzt haben wir’s jedesmal schlechter erwischt“, meinte
Gomulka. Holt sog an der Zigarette. „Gottesknecht war ein
märchenhafter Vorgesetzter!“ – „Die Flak war überhaupt die
reinste Sommerfrische“, erwiderte Gomulka. „Dort haben sie
uns wenigstens noch wie Menschen behandelt.“ Holt nickte.
Hier trieb ein von morgens fünf bis abends sieben minutiös
geregelter und genau vorgeschriebener Tagesablauf die
Jungen an die Grenze der Erschöpfung. Holt hielt durch, er war
gesund und kräftig, er schickte sich drein, daß Obervormann
Schulze ihn zwanzigmal mit Karabiner und Sturmgepäck über

326
die Eskaladierwand jagte, und nahm alle Strapazen als
Training. Nur Härte, dachte er, wird mich die Anstrengungen
des Krieges ertragen lassen! Aber der Ton, der hier herrschte,
zermürbte ihn doch, die Schikane, das ausgeklügelte und dabei
so einfache System, den Willen jedes einzelnen zu brechen.

Das Lager, auf dem Gelände einer Gärtnerei, war von einer
hohen Ziegelmauer umgeben. Dicht beim Tor lag die große
Verwaltungsbaracke mit Wachlokal, Arrestzelle und den
Wohnungen der Führer. Dahinter dehnte sich der Appellplatz,
hundert Meter im Quadrat, mit Schlacke bestreut. Die Gärtnerei,
rings um die drei Unterkunftsbaracken, war in ein
Übungsgelände mit Aschenbahn, Eskaladierwand und
Wassergraben, Feldstellungen, Unterständen, Schützengräben
und Drahthindernissen verwandelt worden. Die Arbeitsmänner
wurden militärisch ausgebildet. An die Stelle des Spatens war
der Karabiner getreten.
Holt gehörte mit Gomulka, Wolzow und Vetter zum Trupp des
Obervormanns Schulze und lag mit ihnen zusammen in einer
Stube, in einem der großen, unwirtlichen Barackenräume, in
dem gewöhnlich fünfzehn Arbeitsmänner mit einem
Stubenältesten untergebracht waren. Aus der Batterie und
Holts ehemaliger Klasse waren noch ein paar andere Schüler
zur gleichen Abteilung eingerückt.
Obervormann Schulze war ein grober, stiernackiger Bursche
von zwanzig Jahren, über dem unbewegten, leeren Gesicht floh
die Stirn flach nach hinten. Den wasserhellen Augen fehlte
jeder menschliche Ausdruck, sie blickten so tierhaft drein, daß
Holt das Gefühl nicht loswurde, er habe es mit einem
angezogenen Affen zu tun. Der deprimierende Eindruck wurde
verstärkt durch die zu lang herabhängenden, mit Muskelwülsten
bepackten Arme und eine reichliche Körperbehaarung, die Holt
morgens beim Waschen mit immer neuem Ekel erfüllte. Die
Intelligenz des Obervormanns reichte gerade, empfangene
Befehle weiterzugeben, mit einer eigenartig gequetschten
Stimme, die sich zu heiserem Gebrüll erheben konnte. Er
verfügte über ein paar auswendiggelernte Dienstvorschriften,
war trotz seiner Beschränktheit nicht ohne Schläue und dabei

327
von rücksichtsloser Ungerechtigkeit. Er verfolgte jeden, der
intelligenter war als er selbst, mit Mißtrauen und Haß.
An diesem Abend hackte Schulze auf Vetter herum. Christian
Vetter war nicht mehr dick oder schwammig, er war gewachsen
und überragte Holt an Körpergröße. In den sechs Wochen hatte
er sich mehr als Holt und Gomulka an den rohen Ton gewöhnt
und eine Reihe von Angewohnheiten angenommen, deren er
sich noch bei der Flak geschämt hätte. Er rülpste, ließ
rücksichtslos die Darmwinde fahren und quatschte mit den
anderen in gemeinen Worten von Weibergeschichten, was Holt
um so abstoßender und alberner fand, als Vetter noch immer
vor jedem weiblichen Wesen einen roten Kopf bekam.
Obervormann Schulze bediente sich in seiner Begriffsarmut
zweier immer wiederkehrender Schimpfwörter: „Sie Untier“ und
„Sie nasser Sack“. Die Bezeichnung Untier, fand Holt, paßte am
besten auf Schulze selbst, wie er so dastand, nach vorn
geneigt, das tote Gesicht vorgeschoben und die langen Arme in
die Hüften gestützt. „Sie nasser Sack!“ brüllte er mit seiner
gequetschten Stimme Vetter an. „Mit Sie wer ich noch fertig,
aber jetzt falln Sie um, Sie Untier, das kost zwanzig, vonwegen
über mir lustig machen!“ Vetter kippte gehorsam nach vorn auf
den Fußboden und zählte laut: „Eins... zwei... drei...“
Holt zog sich aus und baute sorgfältig an seinem
Kleiderpäckchen, überflüssig, daß ich mir solche Mühe geb,
dachte er dabei. Es ist sowieso ein Lotteriespiel, wen es trifft!
Fast alle lagen schon auf den Strohsäcken, nur Wolzow fehlte
noch.
Holt kletterte auf sein Bett. Wolzow hatte sich eine
Ausnahmestellung erobert. Nach außen hin knallte er vor
Schulze die Hacken noch lauter als andere, aber hinter dieser
Kulisse der Subordination soufflierte er dem Obervormann beim
Dienst und flüsterte ihm alles ein, was nötig war, das Ansehen
des Truppführers bei den Vorgesetzten sprungartig zu heben.
Wolzow verhalf Schulze zu der Anerkennung, sein Trupp sei
der beste der Abteilung. Wolzow organisierte den Dienst, und
der Obervormann befahl mit armen Worten, was Wolzow
durchdacht hatte. Wolzow war der eigentliche Führer des
Trupps. Schulze fügte sich und fuhr gut dabei, in der Illusion,

328
daß er der Vorgesetzte und Wolzow eine Art Adjutant sei. Das
einzige Originale an Schulze war das Schimpfen und Brüllen
und das Leuteschinden.
Wolzow zeigte sich seit den Urlaubstagen finster und
verschlossen, was Holt auf den Drill schob. Wer weiß, ob ich
mich nicht auch so verändert hab... Er rauchte, obwohl das
Rauchen im Bett verboten war. Aber er konnte sich nicht
entschließen, die Zigarette auszudrücken. Vetter und ein
blonder, gutmütiger Bauernbursche aus dem Harz hatten
Stubendienst und fegten eifrig den geölten Bretterboden. Der
Obervormann saß angekleidet an seinem kleinen Tisch neben
der Tür. Endlich polterte Wolzow in die Stube. Er hatte im
Speiseraum den Dienstplan abgeschrieben und reichte Schulze
das Blatt. Der Obervormann rief: „Ich verles den Dienstplan von
morgen!“ Dann gab er Wolzow das Papier zurück. Wolzow las:
5 Uhr wecken.
5 Uhr 20 bis 5 Uhr 29 Frühstück.
5 Uhr 30 raustreten zum Morgenappell.
6 Uhr bis 8 Uhr 45 Ordnungsdienst.
9 Uhr bis 10 Uhr 44 Waffenausbildung: Panzerfaust.
10 Uhr 45 bis 10 Uhr 59 Pause.
11 Uhr bis 11 Uhr 55 Abteilungsunterricht: Verhütung von
Geschlechtskrankheiten römisch zwei.
12 Uhr bis 12 Uhr 45 Mittagessen, anschließend
Mittagsruhe.
13 Uhr 30 raustreten und Abmarsch zum Scharfschießen,
Karabinerübungen III und IV.
20 Uhr Abendessen.
21 Uhr Nachtruhe.
Wolzow bückte sich und flüsterte Schulze ein paar Worte zu.
Der Obervormann rief: „Karabinerübung IV wird mit Gasmaske
geschossen, bis morgen früh Meldung bei mir, wer neue
Klarscheiben braucht!“ Holt verbarg die Zigarette hinter der
hohlen Hand. Kam der Schulze nie drauf! Wenn die Kerle nichts
sehn und lauter Fahrkarten schießen, dann war das
Donnerwetter da!
Schulze gab noch den Stubendienst bekannt: „Wenskat und
Huber... Daß Sie früh ranhaun, daß Sie gleich Kaffee holn

329
könn!“ Er ging von Bett zu Bett, in zehn Minuten war
Stubendurchgang. „Gomulka, natürlich Ihr Kleiderpäckchen,
saumäßig, raus, Sie Untier, wegen Sie fällt der ganze Trupp
auf!“ Er warf Gomulkas Uniformstücke durch die Stube.
Gomulka sprang schweigend aus dem Bett und las seine
Sachen zusammen.
Holt hatte endlich die Zigarette ausgedrückt und überdachte
schläfrig den kommenden Tag. Ordnungsdienst, üble
Schinderei. Waffenausbildung, Panzerfaust, kann interessant
werden. Abteilungsunterricht, wieder mal
Geschlechtskrankheiten, die eine Stunde geht vorbei. Dann
raus zum Schießstand, ein Elend, diese Marschiererei.
Schulze, an der Tür postiert, meldete: „Stube fünf mit ein
Obervormann und vierzehn Mann fertig zur Stubenabnahme!“
Unterfeldmeister Böhm, der Zugführer, ging als „Führer vom
Dienst“ durch die Baracken. Er mochte guter Laune sein, denn
sonst pflegte er gleich an der Tür loszubrüllen: „Sauerei!
Mistloch!!“ Heute trat er schweigend in die Stube. Hoffentlich
bleibt er friedlich, dachte Holt. Da ging es schon los: „Füße
vorzeigen!“ Holt hing die Beine aus dem Bett. Gomulka war
vorhin barfuß auf den geölten Fußboden gesprungen und hatte
sich danach die Sohlen nur flüchtig an einem Lappen
abgewischt. „Dreckschwein, Misthund!“ schrie der
Unterfeldmeister. „Schulze, sehn Sie sich diese Sau an!“ –
„Raus, Sie Untier!“ schimpfte Schulze. Gomulka zog die Hose
über und lief in den Waschraum.
Böhm stand unschlüssig in der Stube. Jetzt überlegt er, ob’s
genug ist, dachte Holt und sah den Unterfeldmeister suchend
umherblicken... Jetzt geht’s los, jetzt findet er bestimmt was!
„Was ist denn das?“ sagte Böhm langsam. „Ein Gewehr ohne
Mündungsschoner?“ Er brüllte: „Wem gehört der Karabiner?“
Holt beugte sich weit aus dem Bett, bis er den Gewehrständer
sehen konnte: Gott sei Dank, meins ist es nicht! Jemand sprang
aus dem Bett. „Sie wahnsinnige Gestalt! Sie irrsinniges Vieh,
Sie wahnsinniges!“ Jetzt ist er in Fahrt, jetzt geht es weiter!
„Fünfzig Kniebeugen, das Gewehr in Vorhalt, ich bring Ihnen
bei, wie man mit seiner Waffe umgeht, Sie hohläugiges
Gespenst!“ Er hat immer neue Schimpfwörter, dachte Holt.

330
„Und hier: Staub unter dem Gewehrständer! Und dort: eine
Kippe im Aschenbecher, Jesusmariaundjosef: eine Kippe!“ Jetzt
ist der Stubendienst dran, dachte Holt, armer Christian!, und
wütend: Die Kippe hat der Schulze ausgedrückt, als Böhm
reinkam! „Dreck, überall Dreck!“ tobte der Unterfeldmeister. „Die
Kerle scheißen wohl in die Ecken, ja, was ist denn das für ein
Sauladen, ein Schweinekoben, ein stinkiger Affenstall,
verdammt!“ Stille. „Alles raus, los, raus, alles!“ Holt sprang aus
dem Bett, vier, fünf Handgriffe, er war angezogen, er schnürte
schon die Schuhe zu. „Schulze! Fünfzehn Minuten Nachtschliff,
aber im dritten Grad! Häschen-hüpf will ich sehn!“ Und wieder
brüllend: „Ihr werdet robben, bis euch der Nabel glänzt!“
Holt lief langsam in die Nacht hinaus, bis Schulzes
gequetschte Stimme „Achtung!“ rief. Im Gänsemarsch trabten
sie in Richtung Hindernisbahn durch die Gärtnerei. Die
Aschenbahn entlanggehüpft, mit vorgestreckten Händen, dann
auf dem Bauch gekrochen, es war finster, man konnte mogeln.
Zurück in die Stube: Handtuch, Seife, ab in den Waschraum.
Jetzt wird er wohl Ruhe geben, jetzt ist er befriedigt!
Sie krochen in die Betten. Der Unterfeldmeister stand mitten in
dem trüb erleuchteten Raum. „Ich bring euch Ordnung bei!“
sagte er beinahe sanft. „Ich lehr euch, was Sauberkeit ist, ihr
unerzogenen Ferkel, ich mach noch Menschen aus euch... und
wenn ihr drüber krepiert!“ Er ging zur Tür. „Gute Nacht!“ Holt
wickelte sich in eine Decke. Schlafen, nichts als schlafen!

„Aufstehen! Raus!“ Holt sprang im Halbschlaf aus dem Bett


und wurde erst im Waschraum völlig wach, als er sich kaltes
Wasser über Hals und Schultern laufen ließ. Jede Minute, die er
jetzt gewann, kam dem Bettenbau zugute. Zurück in die Stube!
Es war halb dunkel, Licht durfte nicht gebrannt werden.
Der Bettenbau war das Problem seines derzeitigen Lebens.
Ein schlechtgebautes Bett bedeutete ein eingerissenes Bett,
und dieses löste das Strafgericht Schulzes aus. Der
Obervormann besaß alle Vollmachten, das Bett zum zweiten,
dritten oder vierten Male einzureißen, unter Preisgabe der
Mittagspause und jeder Minute der kargen Freizeit, immer
wieder, bis zum Zapfenstreich und darüber hinaus. Es gab

331
Fälle, da das Bett fünfzehn-, auch zwanzigmal am Tage gebaut
worden war, und Schulze stand dabei und riß es zum
fünfzehnten oder zwanzigsten Male wieder ein. Ein
schlechtgebautes Bett hieß, einen Tag lang ununterbrochen
gequält und gepeinigt zu werden.
Es war schwer, das Bett zur Zufriedenheit des „Führers vom
Dienst“ herzurichten, und unmöglich, wenn der „Führer vom
Dienst“ Böhm hieß. Die Strohsäcke lagen hier, von allen Seiten
sichtbar, auf den eisernen Bettgestellen. Sie sollten
geometrisch exakte Quader darstellen, mit waagerechter
Oberfläche, senkrechten Längsseiten und rechtwinkligen
Kanten. Also wurden Bretter oder Kartonstreifen unter dem
Laken verborgen. Man hatte gelernt, trotz eines zerlegenen
Strohsacks mit Hilfe von Latten und Hölzern das Laken so zu
spannen, daß alles ganz ideal aussah. Aber bei Böhm nützte
das nichts. Böhm betrachtete die Betten nicht, er befühlte sie.
Holt kämpfte den üblichen Kampf, er fühlte sich heute schlecht
in Form, das machte ihn mutlos. Er drückte und knetete und
stapelte die zusammengefalteten Decken millimetergenau
übereinander. Währenddessen goß er einen Becher des
lauwarmen Kaffees hinunter und kaute lustlos einen mit
Kunsthonig bestrichenen Brotkanten. Noch zehn Minuten!
Wenskat, ein Schlächtergeselle aus dem Westerwald, fegte
geschäftig. Wenn das Bett jetzt keine Gnade fand, dann war es
Gottes Wunsch und Wille oder des Schicksals oder vielleicht
eben auch nur Böhms, aber das blieb sich gleich. Holt zog die
Drillichjacke über. Koppel, Mütze, Fingernägel, Schuhputz,
Halsbinde – alles in Ordnung! Er fuhr noch einmal mit der
Bürste über die Knobelbecher. Dann verschloß er vorsichtig
den Spind. Hier riskierte man nicht nur, wegen „Verleitung zum
Kameradendiebstahl“ bestraft zu werden, hier riskierte man,
daß tatsächlich der Tabak verschwand, und dann war es das
beste, zu schweigen, denn hier war nicht der Dieb, sondern der
Bestohlene schuld.
Fertig! Holt schaute auf Schulze, Schulze schaute auf
Wolzow, Wolzow schaute auf die Armbanduhr. Schulzes
Strohsack sah erbärmlich aus! Kunststück, sein Bett war ein
Obervormannsbett! „Fertigmachen zum Raustreten!“ Jemand

332
hastete zur Tür herein und schimpfte: „Nicht mal in Ruhe
kacken kann man hier!“
Durch das geöffnete Fenster schrillte die Trillerpfeife. Es war
nun hell. Im Osten hinter den Bergen flammte der Himmel. Aus
allen Baracken liefen die Mannschaften zum Appellplatz. Das
Antreten klappte nicht schlechter als sonst, doch Böhm schrie:
„Hilfsausbilder rechts raus! Alles nach hinten weg... marsch,
marsch!“ Hundertachtzig Mann trabten über den Platz, daß die
Schlacke stiebte. „Hinlegen!“ Auf und nieder, zehn-, zwölfmal,
bis endlich die Pfeife schrillte. „Achtung!... Euch Schweine werd
ich munter machen!“ brüllte Böhm. „Nach hinten weg... marsch,
marsch!“ Erst als Oberfeldmeister Lesser, der Abteilungsführer,
aus der Verwaltungsbaracke trat, gab Böhm sich zufrieden.
Das übliche Zeremoniell: Meldung, Flaggenhissung, Ausgabe
der Parole... Hinweise fürs Scharfschießen? Wolzow wird schon
aufpassen! „Abteilung... rechts um! Im Gleichschritt... marsch!“
Die Kolonne zog um den Appellplatz, das gehörte nun schon
zum Ordnungsdienst. – „Ein Lied!“ Vorn stimmten sie an: „Ich
habe Lust...“ Holt murmelte: „Ich habe Lust...“, hinten schrie es:
„Lied durch!“ Das war Lessers Leib- und Magenlied. „Drei...
vier!“ Das Marschieren war tatsächlich leichter und weniger
stumpfsinnig, wenn man sang. Holt dachte: Das geht jetzt
anderthalb Stunden so, dann kommt die Schleiferei in den
Trupps! – „Ich habe Lust im weiten Feld...“ Holt schrie: „Zu
streitää-än mit dem Feind!“ Schlafen müßte man, dachte er,
statt hier im Kreis herumzumarschieren! Schulzes gequetschte
Stimme, ohne Rücksicht auf die Melodie, klang an seiner Seite:
„...wohl als ein tapfrer Kriegesheld...“ Als Hilfsausbilder hat man
gar kein schlechtes Leben, überlegte Holt, während er sang: „...
der’s treu und ree-eeed-lich meint!“
„Lied aus!“ brüllte Böhm. „Nennt ihr das vielleicht singen, ihr
kastrierten Ratten? Wartet, ich werd euch die Stimmritzen
öffnen! Hilfsausbilder rechts raus! Alles nach links weg...
marsch, marsch! Hinlegen! Auf!“ So ging das fünf Minuten.
Dann wieder: „Drei... vier! Ich habe Lust...“ Holt war noch außer
Atem, aber er brüllte, was die Lungen hergaben. Plötzlich
dachte er: Böhm ist weg, vielleicht reißt er jetzt mein Bett ein!

333
„Wohlan, die Fahne weht“, sang er, und: „Es helfe mir der Herre
Gott zum Sieg...“

Holts Bett war nicht eingerissen. Er setzte den Stahlhelm auf


und nahm den Karabiner aus dem Ständer. Die Trupps suchten
sich in der Gärtnerei einen Platz, in einem Grabenstück oder
hinter dem Mauerrest eines zerstörten Treibhauses. Nun war
„kriegsmäßiges Verhalten“ vorgeschrieben. Schulze nahte mit
einer Übungspanzerfaust. Man hörte Wunderdinge von dieser
Waffe. „Leistet enorm viel“, sagte Wolzow, „wenn du gut triffst.“
Holt und Wolzow standen rauchend abseits, das Rauchen war
vor dem Mittagessen verboten, aber Schulze achtete heute
nicht darauf. Er hatte mit sich selbst zu tun. „Der T 34/85“,
erzählte Wolzow, „wie er seit vorigem Jahr im Einsatz ist, hat
eine Frontpanzerung von fünfundsiebzig Millimetern, das haut
die Panzerfaust durch, wenn sie günstig trifft.“ Schulze befahl:
„Antreten! Gewehre zusammensetzen!“ Sie standen im
Halbkreis um ihn herum. „Die Panzerfaust!“ begann er. „Die
Panzerfaust ist ein Panzerbekämpfungsmittel. Ein
Panzerbekämpfungsmittel für den Infanteristen, und heißt
Panzerfaust. Fahrn Sie fort, Wolzow!“ Wolzow sprach
konzentriert, in leicht dozierendem Ton. Schulze schrie
zwischendurch: „Wiederholen Sie, Wenskat!“ Wenskat war nicht
dumm, aber träge, er machte „Ha?“ und wurde eine Weile über
die Aschenbahn gejagt. Wolzow erklärte das Prinzip der
Hohlladung; die Panzerfaust sei eine Hohlladung, die auf den
Panzer geschossen werde und im Aufprall detoniere. Ob
Schulze nicht länger die Rolle des Zuschauers spielen oder ob
er sich die heimliche Angst abreagieren wollte, die er vor
diesem Thema gehabt hatte, blieb unerfindlich. „Fallen Sie um“,
schrie er plötzlich den Arbeitsmann Kranz an, „fünfzig Sachen
pumpen!“ Ringsum schaute man interessiert zu, wie Kranz sich
abmühte und langsam ermattete.
Unterfeldmeister Böhm trat um die Mauerecke.
„Weitermachen!“ Er war mittelgroß, etwa dreißig Jahre alt, und
seine wäßrigen blauen Augen drückten stets Mißtrauen aus. Im
Zivilberuf war er Inhaber einer Stehbierhalle in einer rheinischen
Industriestadt. Auch heute sah er mißtrauisch von einem zum

334
andern und ließ wiederholen. Es ging nicht ohne Gebrüll ab.
„Holt, was erlauben Sie sich zu grinsen?“ – „Herr
Unterfeldmeister, mein Gesicht hat gezuckt!“ – „Der Bauch“,
schrie Böhm, „der vollgefressene Wanst soll Ihnen zucken, so
werden Sie jetzt robben! Nieder! Bis zum Wassergraben!“ Holt
ließ sich Zeit. Stärkt die Muskeln, dachte er verbissen. Als er
zurückkehrte, war Böhm schon bei der nächsten Gruppe.
Schulze erklärte mit mageren Worten die Bedienung der
Panzerfaust. Wolzow führte das praktisch vor. „Werner, Sepp,
Christian, aufpassen! Die Panzerfaust ist wichtiger als alles
andere!“ Der Unterricht endete mit der üblichen Einpaukerei.
Vier Handgriffe, zehnmal wiederholt und zehnmal geübt.
Erstens Sicherungsdraht lösen, zweitens Visier hochklappen...
Visier hochklappen, zum Kotzen stur ist das, dachte Holt.
Drittens Sicherungsschieber in Stellung „Entsichert“ schieben...
Das hängt mir ellenweit zum Hals heraus! Viertens Feuertaste
drücken, erstens, zweitens, drittens, viertens, Draht, Visier,
Sicherungsschieber, Feuertaste, das vergeß ich mein Lebtag
nicht mehr, und wenn ich hundert Jahre alt werde!
Anschlagsarten, hinten mindestens zehn Meter frei wegen des
Feuerstrahls, Rückstoß gibt’s keinen, und immer wieder erstens
bis viertens, Draht bis Feuertaste, Anschlagsarten, los, zeigen
Sie noch mal, jetzt Sie, jetzt Sie hier, Sie Untier, jetzt Sie noch
mal, wehe, das klappt nächstens nicht, wehe! Ob man freilich
trifft, dachte Holt, bleibt vorläufig unklar. Ob ich die Nerven hab,
so ein Ding auf fünfzig Meter gegen einen Panzer
abzuschießen?.
„Keine Sorge!“ erklärte Wolzow, als es endlich vorüber war.
„Wenn ein Sherman seine dreiunddreißig Tonnen gegen dich
loswälzt, dann drückst du von allein ab!“ – „In die Hosen!“ rief
Wenskat.

Unterricht in der Kantine. „Der Knochenschuster!“ sagte


jemand. „Achtung!“ Irgendwer meldete irgendwem. „Heutiges
Thema für den Abteilungsunterricht: Verhütung von
Geschlechtskrankheiten römisch zwei. – Hinsetzen.“ Ein
blutjunger Feldunterarzt trat vor die Abteilung und setzte sich
nachlässig auf die Tischkante. Er begann in leichtem

335
Plauderton. Seine Laszivität war eher zynisch als derb. Er liebte
es, die übelsten Dinge im Diminutiv zu nennen, und versah sie
mit niedlichen Beiwörtern, etwa so: „Was wir Ärzte den
syphilitischen Primäraffekt nennen, das ist ein ganz reizendes
Geschwürchen...“ Wenn er jemanden zur Beantwortung einer
Frage aufforderte, pflegte er ihn mit einer unverständlichen
Krankheitsbezeichnung zu kennzeichnen: „Sie, ja, der Struma
mit den Basedow-Augen!“
„Wir hatten übrigens gesehen“, sagte der Feldunterarzt, „daß
man sich die böse Syphilis notfalls auch auf dem Klo holen
kann. Wie ist denn das nun mit dem Tripper? Kann man sich
denn auch das Tripperchen auf dem Abort anlachen? Sie... ja,
Sie dort, den Spund mit der blühenden Impetigo contagiosa
staphylogenes mein ich, ,stehn Sie auf, Sie wandelnder Grind,
antworten Sie!“ Vorn erhob sich ein Arbeitsmann mit
schorfbedecktem Gesicht und stammelte: „Nein, aber doch
nicht, das geht nicht.“ – „Das ist ein verhängnisvoller Irrtum“,
sagte der Feldunterarzt. „Warum haben Sie sich übrigens nicht
krank gemeldet? Sie verseuchen ja das ganze Protektorat!
Setzen. Natürlich kann man den Tripper auch auf dem Klo
bekommen, allerdings nur, wenn man dort mit seinem Mädchen
die einschlägigen Dummheiten treibt.“ Und in dieser Tonart ging
es weiter...
Morgen Revierreinigen, Zeugputz und so weiter, dachte Holt,
da ist ein Spindappell fällig, und ich muß die Parabellum
verstecken. Bloß früh nicht auffallen, sonst muß ich nachmittags
die Latrine scheuern! Wäsche tauschen, vielleicht rückt der
Kammerchef neue Fußlappen raus...
Die Stunde ging zum Glück rasch vorbei. Händewaschen,
Anzug säubern, Eßbesteck, Haare kämmen, Fingernägel,
womöglich steht Böhm am Eingang und läßt sich die Hände
zeigen... „Raustreten zum Mittagessen!“ Tatsächlich, Böhm
stand an der Tür: „Zeigt eure Krallen her!“ Holt durfte passieren,
hinter ihm ging das Gebrüll los: „Ist denn so was möglich, o
Gott, diese Toppsau! Scheren Sie sich zur Hölle!“
Zwei Trupps aßen zusammen an einem langen Holztisch,
dreißig Mann, eng aneinandergedrückt. Der Stubendienst
schleppte Waschschüsseln voll Pellkartoffeln heran, einen

336
Eimer graubrauner Soße, in der undefinierbare Fleischfetzen
schwammen. „Achtung!“ Der Abteilungsführer, Oberfeldmeister
Lesser, gefolgt von Feldmeister Böttcher, stapfte zwischen den
Stuhlreihen hindurch zu seinem Tisch, wo er gemeinsam mit
den Zugführern aß. „Tischspruch!“ Aus einer Ecke brüllte
jemand auf sächsisch: „Kartoffeln mit Soße und Zwiebeln dazu,
das läuft durch die Hose bis in die Schuh!“ Der Oberfeldmeister
lachte, dann rief er: „Alle Mann...“ – „...ran!“ brüllte die
Abteilung.
Holt fand das Essen miserabel, aber er hatte Hunger und aß
große Mengen Kartoffeln.
Es war üblich, beim Essen ekelerregende Dinge zu erzählen,
und es galt als Zeichen soldatischer Tugend, dessenungeachtet
weiterzuessen.
Böhm trat in die Kantine, einen dicken Packen Briefe unter
dem Arm. Heute muß für mich was dabei sein, dachte Holt. Er
hatte bisher vier Briefe von Gundel erhalten. Böhm verteilte die
Post an die Truppführer. Holt schielte auf Schulze. Der setzte
sich wieder und legte die Briefe mitten in die Kartoffelschalen
und Soßenflecken hinein. Auf der Stube teilte er aus.
Holt sah auf die Uhr: gleich eins. Er zog einen Schemel ans
Fenster und brannte sich eine Zigarette an. Er riß ungeduldig
den Umschlag auf. Als er letzthin an Gundel schrieb, hatte er
sich gehenlassen. Es gab Tage, da ihn Schikane, Gebrüll und
Drill zur Verzweiflung trieben. In einer solchen Stimmung hatte
er sich Gundel anvertraut. Zu Mutlosigkeit und Bedrückung
hatten sich trübe Erinnerungen gesellt, und das Ergebnis waren
konfuse und abstrakte Worte gewesen, die ihn am anderen
Morgen reuten.
Nun überflog er ihre Zeilen; ganz am Ende stand: „Ich kann
verstehen, daß Du manchmal traurig bist.“
Ihre Handschrift war kindlich und wenig ausgeschrieben. In
den ersten beiden Briefen war ihr sprachlicher Ausdruck
ungeschickt und holpernd gewesen, aber nun schrieb sie so
unbefangen, wie sie gesprochen hatte. „Lieber Werner, stell Dir
vor, was ich gestern erlebt habe! Beim Einkaufen hat mich eine
Dame angesprochen.“ Erst hatte es „Frau“ geheißen, aber das
Wort war durchgestrichen. „Sie hat ihren Namen genannt:

337
Gomulka.“ Seltsam! Holt las gespannt weiter: „Dann hat sie
gefragt, ob ich nicht einen Augenblick Zeit habe. Auf der Straße
sagte sie, Du bist ein guter Freund von Sepp. So heißt ihr Sohn.
In der Badeanstalt hattest Du mir erzählt, daß Deine Freunde
Gilbert und Sepp heißen. Da habe ich ihr geglaubt. Du sollst
Frau Gomulkas Mann erzählt haben, daß Du bei uns gewesen
bist und daß es Dir gar nicht gefallen hat. Auch die Leute nicht.
Wenn Du das erzählt hast, mußt Du Herrn Gomulka ja sehr gut
kennen. Dann hat sie gefragt, was ich in meiner Freizeit mache.
Und ob ich sie nicht einmal besuchen will. Sie war sehr nett. Ich
weiß gar nicht, warum. Sie hat gesagt, leider hat sie keine
Tochter, so ein junges Mädchen wäre ihr schon recht,
manchmal am Abend, und auch sonntags. Als Besuch. Wenn
ich nicht will, erzählt sie auch keinem davon, und ich kann vom
Hügelweg durch die Gärten kommen, daß es keiner sieht. Ich
habe gesagt, daß ich es mir überlegen muß, aber vielleicht
komme ich doch einmal, wenn es ihr wirklich recht ist. Lieber
Werner, Du mußt mir schreiben, ob ich hingehen soll und was
es für Leute sind. Du weißt ja, warum ich mit vielen nichts zu
tun haben will.“
Was haben Gomulkas für Gründe, Gundel einzuladen?
Menschenfreundlichkeit? Holt erinnerte sich:...das Mädchen ist
nicht so völlig verlassen, wie Sie glauben... Sie habe viel Arbeit,
schrieb sie, aber sie sei das Anpacken ja gewöhnt. Die Kinder
machten doch Freude, obwohl sie frech zu ihr seien, denn sie
habe Kinder gern, auch freche. Die Bitte um eine Photographie
könne sie ihm nicht erfüllen, denn sie habe keine. Dann jener
Nachsatz und am Ende der Wunsch: „Schreib mir bald wieder,
wenn es Dir nicht zuviel Mühe macht.“
„Fertigmachen zum Raustreten!“ Holt sagte zu Gomulka: „Lies
mal, Sepp.“ Er hatte Gomulka Gundels Schicksal erzählt.
Gomulka nahm den Brief. „Warum lädt deine Mutter sie ein?“
fragte Holt. „Was weiß ich?“ entgegnete Gomulka.

338
2

Das Antreten zog sich in die Länge. Der Abmarsch zum


Scharfschießen verzögerte sich. Oberfeldmeister Lesser ließ
auf sich warten. Ein Kradmelder war ins Lager gerollt, nun hieß
es, der Chef telefoniere. Die Abteilung stand Gewehr bei Fuß,
Gerüchte machten die Runde, Feldmeister Böttcher und die
Zugführer wurden vom Appellplatz weg zur Schreibstube
gerufen. Auf einmal war es kein Gerücht mehr: Einsatz!
Die nächsten Stunden ging im Lager alles drunter und drüber.
Schulze schrie: „Wolzow, Wenskat, Holt, Gomulka, Huber...
mitkommen!“ Sie holten drei Kisten Patronen. Während in der
Stube scharfe Munition verteilt wurde, meckerte Vetter:
„Zweihundert Schuß pro Mann, wer soll denn das schleppen?“
Aber Wolzow wies ihn zurecht.
Am frühen Abend stand die Abteilung marschfertig. Holt
stützte sich auf den Karabiner. Der Tornister drückte. Am
Koppel lasteten die gefüllte Patronentasche, Seitengewehr,
Infanteriespaten, Gasmaske, Brotbeutel und Feldflasche. Die
Armbinden mit dem Hakenkreuz waren befehlsgemäß von den
Uniformen abgetrennt worden. Oberfeldmeister Lesser trat vor
die Front. „In der verbündeten Slowakei“, schrie er, „wollen die
Feinde des Reiches, unterstützt von bolschewistischen
Fallschirmspringern, der schwer ringenden Front in den Rücken
fallen! In einem Aufruf hat der slowakische Staatspräsident
erklärt, daß der Abschaum der Gesellschaft aufgeboten worden
ist, um in der Slowakei ein Chaos zu entfesseln und den Boden
reif für den Bolschewismus zu machen! Da die slowakischen
Kräfte zu schwach sind, hat Staatspräsident Tiso den großen
deutschen Verbündeten um Truppen zur Niederwerfung der
Bolschewistenhorden gebeten.“ Er stand breitbeinig vor der
Front, die Brauen zusammengezogen. „Wir übernehmen
Wachdienste und unterstützen die Kampftruppen bei Verlade-
und Entladearbeiten, gegebenenfalls natürlich auch im Kampf.
Jetzt könnt ihr zeigen, was ihr gelernt habt.“ Der dicke
Feldmeister Böttcher übernahm das Kommando und ließ die
drei Züge abrücken. Auf dem Bahnhof standen Viehwaggons
bereit. Die Maschine dampfte langsam aus der Station, dann
339
stand der Zug viele Stunden in der Nacht. Holt schlief, in eine
Decke gewickelt, auf dem harten Boden. Am nächsten Tag hielt
der Zug abermals viele Stunden auf freier Strecke. Ein Gerücht
lief von Wagen zu Wagen: „Der Lokführer ist getürmt!“ Gomulka
lachte unterdrückt. Am Nachmittag ging es endlich weiter. In der
folgenden Nacht blieb der Zug mit einem Ruck stehen, so daß
die Arbeitsmänner durcheinanderrollten. Draußen war
Geschrei, schon krachten ein paar Schüsse. „Raus!“ schrie
Wolzow. Holt sprang mit dem Karabiner in die Nacht. Vorn
blitzten Schüsse. Wolzow schoß stehend ins Dunkel. Bei der
Maschine brüllte jemand wie besessen: „Stopfen!
Stoooooopfen!“ Das Licht einer Taschenlampe huschte über die
Gleise. Wolzow lief nach vorn, wo nun ein rotes Signallicht
leuchtete. Oberfeldmeister Lesser brüllte: „Ihr wahnsinnigen
Säcke! Ihr verdammten Idioten!“
Die Arbeitsmänner standen auf dem Bahnkörper neben dem
Zug. Wolzow berichtete: „Eine Brücke. Natürlich bewacht. Da
zeigen die Posten ein Langsamfahrt-Signal, der Lokführer hält,
die Posten im ersten Wagen knallen gleich wild drauflos. Da
haben die Brückenposten natürlich zurückgeschossen, die
wußten auch nicht mehr, was gespielt wird.“ Die Maschine zog
ruckend an, alles kletterte durch die Schiebetüren in die
Wagen. Holt sah auf der Brücke ein paar Gestalten stehen,
Gewehre umgehängt. „Ist was passiert?“ – „Komischerweise
nicht“, sagte Wolzow, „aber das ist ein mieses Zeichen, daß
keiner getroffen hat!“

Am nächsten Tag erreichten sie endlich das Ziel. Der Zug lief
in einen Güterbahnhof ein. Gleisanlagen, Schuppen und
Stellwerke dehnten sich weitflächig bis zum Wald. Ein paar
Kilometer weiter überspannte eine Eisenbahnbrücke das
tiefeingeschnittene Tal eines schmalen, reißenden Flusses.
„Das ist der Gran“, erklärte Wolzow nach einem Blick auf die
Karte. Die Stadt lag eine halbe Wegstunde vom Güterbahnhof
entfernt zwischen dichten Laubwäldern, eine kleine,
verschlafene Stadt mit wenigen Straßen. Sie marschierten
durch die engen Gassen. Obwohl es Mittag war, sah man kaum
einen Menschen. Sie sangen: „...her zu uns, daß wir die Saat

340
beginnen, ein Hunger ist in die Augen gesetzt, neue Lande,
neue Lande wollen wir uns gewinnen.“ Sie marschierten durch
die Stadt hindurch und hinaus aus dem verwinkelten
Straßengewirr auf einen großen freien Platz. Dort befahl
Böttcher Halt. Ein größeres frei stehendes Gebäude kehrte die
Front mit dem Eingang dem Platz und der Straßenmündung zu,
ein zweigeschossiges Schulhaus, von einem weitflächigen,
dicht bepflanzten Garten umgeben, der mit niedrigen
Lattenzäunen zu beiden Seiten des Gebäudes an den Platz
grenzte. Die Giebelwände waren kahl und fensterlos. Die
Fenster an der Frontseite waren im Erdgeschoß eng vergittert,
desgleichen die Kellerfenster.
„Scheißquartier!“ sagte Wolzow, während er das Gewehr
absetzte. „Schlecht zu bewachen!“ Böttcher hatte mit den
Zugführern das Schulhaus besichtigt und gab Befehle. „Erster
Zug Wachdienst. Zweiter Zug räumt die Schule aus. Dritter Zug
holt Stroh ran. Los, auf dem Hof Gepäck ablegen, Waffen
werden ständig mitgeführt. Gewehre umhängen. Links um.
Zugweise Reihe rechts, ohne Tritt marsch. Mitkommen.“
Holt trat durch den Eingang, die wenigen Stufen hoch, dann
wichen die Mauern zu beiden Seiten weit zurück und
umschlossen eine geräumige Eingangshalle. Dort zweigten
links und rechts die Korridore mit den Klassenzimmern ab.
Geradeaus, dem Eingang unmittelbar gegenüber, führte eine
breite Holztreppe ins Obergeschoß. Rechts daneben ging es
wieder ein paar Stufen hinab und dann an der Kellertür vorbei
durch die Hoftür ins Freie. Von der Eingangshalle sah man
links, vor dem Korridor, durch eine Tür in einen kleinen Raum.
Dort stand der Hausmeister, ein dunkelhaariger Mann von
fünfzig Jahren. Böhm schnauzte ihn an: „Schlüssel her, los! Sie
scheren sich weg hier! Weg, Mann!“ brüllte er. Der Hausmeister
verstand offensichtlich kein Deutsch. Nun verließ er durch die
Hoftür das Schulhaus.
Holt arbeitete bis zum Abend. Er half, Schulbänke und
Katheder auf den Hof zu räumen. Der dritte Zug brachte
Wagenladungen voll Stroh heran. Sie schleppten die Ballen in
alle Klassenzimmer.

341
Am anderen Tag hatte der zweite Zug Wachdienst. Böhm
teilte ein. Der erste Trupp mit Obervormann Schulze übernahm
die Quartierwache, der zweite Trupp mit Obervormann Rößler
die Stadtstreifen, der dritte mit Obervormann Berger die Wache
am Bahnhof, der vierte mit Obervormann Lachmann die Wache
an der Eisenbahnbrücke. Böhm erklärte: „Die Brückenwache
schießt von zwanzig bis sechs Uhr ohne Anruf, in dieser Zeit
hat die Bevölkerung Ausgehsperre. Die Quartier- und die
Bahnhofswache schießt nach einmaligem Anruf. Die
Stadtstreifen nehmen alle Zivilisten fest, die nach
einundzwanzig Uhr auf der Straße angetroffen werden. In der
Polizeistelle, wo das Wachlokal ist, sind feste Zimmer. Die
Polizei geht nachts keine Streifen. Am Tage werden ständig
Ausweise kontrolliert, eine Liste der gültigen Papiere hängt im
Wachlokal. Sind noch Fragen?“ Niemand meldete sich. Böhm
fuhr fort: „Die Slowakei ist mit uns verbündet, aber die
Bevölkerung ist aufsässig und deutschfeindlich. Die örtlichen
Polizeiorgane genießen kein Vertrauen, wenn irgendwas
passiert, werden sie festgenommen und entwaffnet. Bei allen
Verhaftungen rücksichtslos zupacken! Widerstand mit allen
Mitteln brechen! Es ist besser, von der Schußwaffe Gebrauch
zu machen, als verdächtige Elemente laufenzulassen.“ Er las
aus seinem Notizbuch ab: „Jedoch ist nach Möglichkeit darauf
zu achten, daß mit dem Reich sympathisierende
Bevölkerungsteile korrekt behandelt werden.“ Er befahl:
„Gewehre umhängen!“ Dann legte er die Hände an die
Hosennaht: „Zweiter Zug... stillstann! Parole ,Morgenlicht’.“ Er
hob den Arm zum Gruß. „Vergatterung!“ Die Trupps zogen
sofort zur Ablösung.
Schulze und seine Leute nisteten sich im Erdgeschoß ein,
links, in dem Zimmer des Hausmeisters, das als Wachlokal
benutzt wurde. Dort waren ein paar Munitionskisten
aufgestapelt; auf einem Tisch lag das Wachbuch. Holt hatte
gemeinsam mit Gomulka von Mitternacht bis zwei Uhr morgens
Posten zu stehen. Die anderen beiden Züge waren am
Vormittag zu den wenigen umliegenden Dörfern marschiert, wo
sie Heu und Stroh zu beschlagnahmen und zum Bahnhof zu
bringen hatten. So war der Trupp Schulze allein im Schulhaus.

342
Am Mittag saß Holt mit Wolzow im Wachlokal. Wolzow hatte
deutsche Zeitungen aufgetrieben, sie waren nicht mehr ganz
neu. Er rauchte und las. Holt fragte: „Wie sieht es an den
Fronten aus?“ Wolzow ließ das Blatt sinken. „Daß Finnland
kapituliert hat, das weißt du. Bulgarien hat nun auch die
Beziehungen zum Reich abgebrochen. Und an der
Invasionsfront muß es eine üble Geschichte gegeben haben,
die Front scheint in Auflösung zu sein. Nur an der Riviera gibt
es noch feste Linien. Lyon ist gefallen, die Mosel erreicht.“ Er
fragte mürrisch: „Genügt das? Im Osten hat die Entwicklung
einen reißenden Verlauf angenommen. Im Mittelabschnitt stehn
sie vor Warschau...“ – „Warschau?“ rief Holt erschrocken. – „Ja.
Der Aufstand ist immer noch nicht niedergeschlagen. Im
Nordabschnitt greifen die Russen an, bei Narwa sind sie durch
die Front gebrochen. Nun rollt auch in der Ukraine eine
Offensive, die Russen können bald in den Karpaten sein,
sozusagen Wand an Wand mit uns hier. Das siebenbürgische
Kronstadt ist schon gefallen. Der Stoß zielt offenbar nach
Ungarn hinein... Noch was? Ja, richtig, die V2! Die Briten
scheinen sie nicht schlechter zu verdauen als die V1.“
Holt fragte, wie er schon oft gefragt hatte: „Wie soll denn das
um Gottes willen weitergehen?“ – „Na, halt irgendwie“, sagte
Wolzow. „So ‘n Krieg ist zum Glück recht zählebig, und jetzt
wird ja auch allerhand getan, ihn wieder ordentlich
hochzupäppeln! Goebbels hat ganz radikale Maßnahmen zum
totalen Kriegseinsatz erlassen, Schulen werden geschlossen,
fast das ganze Schrifttum wird stillgelegt, das preußische
Finanzministerium ist aufgelöst, und so weiter. Hier, im
,Völkischen Beobachter’, der ist allerdings schon bißchen älter,
da ist eine Rede abgedruckt, die der Staatssekretär Dr.
Naumann zum Eintritt ins sechste Kriegsjahr gehalten hat, in
Danzig. Es heißt hier, Doktor Naumann gab...“ – „Laß mich
lesen!“ sagte Holt. Wolzow reichte ihm die Zeitung. Holt
überflog den Vorspann: „... gab ein ungeschminktes, durch
keinerlei Winkelzüge beschönigtes Bild der Lage... getragen
von der Gläubigkeit des Nationalsozialisten... seinen Zuhörern
gleichzeitig die deutschen Siegeschancen überzeugend zu
begründen vermochte... klang die Kundgebung in einem

343
einzigen großen Bekenntnis zum Führer und seiner Idee aus...“
Wo steht denn die Begründung unserer Siegeschancen? Das
muß ich unbedingt lesen! Er überflog den Wortlaut: „... totaler
Erfolg daher nur durch einen totalen Einsatz möglich...
Wellenberge und Wellentäler... Tage des Eintritts in das
sechste Kriegsjahr fallen in ein solches Wellental... unseren
Feinden einige Tatsachen zur Kenntnis gebracht, in denen die
Überwindung aller Krisen bereits vorgezeichnet... Erstens: der
Führer ist nicht vom deutschen Volk zu trennen, und das
deutsche Volk steht bedingungslos zu ihm... zweitens: das
deutsche Volk ist nationalsozialistisch, nicht allein in
glücklichen, sondern erst recht in schweren Tagen... drittens: es
gibt kein Versagen der deutschen Heimat, in der Gewißheit des
Sieges...“ Ja, aber die Begründung der Siegeschancen, wo ist
sie denn? Holt las hastig weiter: „...kämpfen wir um die Zeit, die
wir zur Mobilisierung unserer Reserven noch benötigen...“ Aha!
Wolzow fragte: „Spielst du einen Offiziersskat mit?“ Holt
schüttelte den Kopf. Er las. „Unsere Gegner täuschen sich“, las
er, „wenn sie sich am Vorabend des Sieges wähnen... neue
Divisionen rücken an die Front... Festung Deutschland wird
verteidigt werden, wie nie zuvor eine Festung verteidigt wurde,
dann aber wird unsere Stunde kommen...“ Dann, dachte Holt,
dann... wann? „...steht das deutsche Volk...gehärtet und im
Schmelztiegel seines Kampfes gestählt wie nie zuvor... wilden
und fanatischen Entschlossenheit durchdrungen, sein Land,
sein Leben und seine Weltanschauung bis zum letzten
Blutstropfen zu behaupten... Weltanschauung... kämpft für sie,
in schlechten Tagen mit größerer Entschlossenheit als in den
guten und glücklichen Stunden...“ Aus. Ende.
„Da hast du den ,Völkischen’“, sagte Holt, „mir reicht es jetzt
wieder mal, Gilbert, mir reicht es wirklich! Wer ist dieser
Naumann?“ – „Ein SS-General, SS-Brigadeführer, er wird ein
,an der Front gehärteter politischer Soldat’ genannt... Also,
wenn du nicht mitspielst, dann leg ich mir eine Patience!“

Gomulka trat ins Wachlokal. „Werner, wir müssen gleich


ablösen!“ Holt setzte den Helm auf und nahm den Karabiner.
Sie warteten am Hintereingang. Der große, quadratische Hof

344
war an drei Seiten vom Gärten umgeben, und der buschreiche,
mit Obstbäumen und Ziersträuchern bepflanzte Garten grenzte
an den nahen Wald. In der Mitte des Hofes stand eine Pumpe,
rechts am Zaun ein Schuppen, und daneben führte eine Pforte
in den Garten. Hinter der Pumpe, dem Hofeingang gegenüber,
wohnte der Hausmeister in einem kleinen Gartenhaus aus roten
Backsteinen.
Bei der Pumpe lümmelten ein paar wachfreie Arbeitsmänner,
Wenskat, Baruffke, Zöllner und Meermann, auch Vetter war
dabei, alle halbnackt, sie hatten sich dort gewaschen. Holt
sagte: „Sieht vorläufig aus wie’s Große Los, der Einsatz, neben
dem Lagerbetrieb eine Erholung!“ Gomulka antwortete nicht.
Holt sah aus dem Gartenhäuschen ein junges Mädchen treten
und über den Hof zum Schuppen gehen. Sie war vielleicht
zwanzig Jahre alt und hatte sehr helles und langes Haar.
„Schau dir an, was die Slowaken für hübsche Mädchen haben!“
sagte er. Aber Gomulka schwieg hartnäckig.
Beim Brunnen pfiff Wenskat schrill auf zwei Fingern, jemand
rief langgezogen: „Heeeee! Puppchen!“ – „Die solln sich was
schämen“, sagte Holt, „was soll die denn von uns denken!“ Er
ging über den Hof. Gomulka folgte ihm. „Haste gesehn, Holt?“
fragte jemand. „Das war meine Hutnummer, wie?“ Holt sagte:
„Benehmt euch!“ – „Quatsch doch nicht, Mensch“, sagte
Wenskat, „hier so ‘n Zimt machen wegen der Slowakischen!“
Das Mädchen brachte zwei Zinkeimer aus dem Schuppen und
näherte sich zögernd der Pumpe. „Die will Wasser holen!“
krähte Vetter. Holt sah, als sie herankam, daß sie große blaue
Augen hatte. Ihr Gesicht war verschlossen. Sie erinnerte ihn in
allem, in Gang und Haltung und in der Art, wie sie den Kopf
trug, an Uta. Wenn die Kerle unverschämt werden, dachte er,
dann... Aber er dachte zugleich: Vorsicht, daß ich nicht wieder
in irgendwas hineintreib...
Das Mädchen stellte einen Eimer unter das Wasserrohr.
Wenskat rief: „Na, Kleine, willst dir von uns bissel pumpen
lassen?“ Das Mädchen verstand wohl kein Deutsch und nahm
das rohe Gelächter unbewegt hin. Sie wollte den
Pumpenschwengel fassen, aber Wenskat streckte rasch ein
Bein aus und schrie: „Nix daitsch, wos? Verstehste nicht? Was

345
wir wollen, ist international!“ Sie versteht wirklich kein Deutsch,
dachte Holt, und er fuhr Wenskat an: „Nimm die Knochen weg...
los!“ Wenskat sagte verständnislos: „Was willste? Bist wohl...“
Holt sagte drohend: „Du nimmst sofort das Bein weg, oder es
setzt was!“ – „Der Kerl spinnt lauwarm“, sagte Wenskat, aber er
zog doch den Fuß zu sich heran. Das Mädchen trat an den
Brunnen, füllte die beiden Eimer und trug sie zum Gartenhaus.
Die Arbeitsmänner sahen ihr nach. Wenskat sagte böse: „Wie
meinst ‘n das, daß du wegen der mit mir Streit anfängst, ha?“
An der Hoftür brüllte Schulze: „Holt, Gomulka! Posten ablösen!“

Mißmutig standen sie zwei Stunden auf dem Gehsteig vor


dem Eingang. Die Stadt lag wie ausgestorben. Am späten
Abend rückten die beiden Züge ins Quartier und füllten den
Schulhof mit Lärm. Als es Mitternacht war, ging Holt mit
Gomulka die Streife um Schule und Garten. Gomulka begann
unvermittelt: „Das ist die Tochter vom Hausmeister, Milena
heißt sie. Der Schulze hat ein Auge auf sie.“ – „Schulze?“ rief
Holt. „Dieser Pavian?“ – „Als er von ihr erzählt hat, da hab ich
zum erstenmal in seinem Gesicht etwas wie einen Ausdruck
gesehn, übrigens keinen guten.“ Was reg ich mich auf? dachte
Holt. Sie geht mich nichts an! Aber... sie soll wissen, daß hier
nicht alle dumm und rüpelhaft sind. Gomulka sprach weiter:
„Warum hast du sie an der Pumpe in Schutz genommen?“ –
„Ich sag dir was!“ rief Holt wütend. „Wenn der Schulze... Also,
daraus wird nichts!“ – „Sieh dich vor“, sagte Gomulka
bedächtig. „Angriff auf einen Vorgesetzten, Kriegsgericht, aber
so weit kommt es gar nicht, gegen den Schulze hast du keine
Chance, der dreht dir einfach den Hals um. Der Wolzow würde
mit ihm fertig, aber auf den rechnest du besser nicht. Und
außerdem...“ – „Halt!“ rief Holt und sprang erschrocken in die
Deckung der Mauer. Er hob den Karabiner. Aus dem Dunkel
rief es die Losung. Es war Böhm. „Halten Sie das Maul! Brüllen
Sie nicht so rum!“ Holt meldete. Keine besonderen
Vorkommnisse. Böhm meckerte: „Auf Posten wird nicht
gequatscht! Passen Sie lieber auf!“ Er trug eine
Maschinenpistole um den Hals und tauchte wieder im Dunkel

346
unter. Sie setzten den Rundgang fort. Holt meinte nach einer
Weile mit gedämpfter Stimme: „... und außerdem?“
Gomulka blieb stehen und sah sich nach allen Seiten um; er
durchforschte mit seinen Blicken die Nacht. „Seit hier die
Aufstandsbewegung ist“, flüsterte er, „soll hier, wie im ganzen
Osten, nicht nur der Kommissarbefehl gelten, sondern auch der
Führererlaß über die Behandlung von Straftaten von
Angehörigen der Wehrmacht und des Gefolges gegen
Landeseinwohner... Das heißt, wenn sich einer was gegen die
Slowaken zuschulden kommen läßt, wird er nicht
kriegsgerichtlich, sondern nur disziplinarisch bestraft.“
Kommissarbefehl, Führererlaß? „Woher... weißt du das?“ fragte
Holt befremdet. – „Der Erlaß ist ja berüchtigt“, antwortete
Gomulka ausweichend. „Kannst ja mal Wolzow fragen, der weiß
das alles! Der Erlaß wird der Truppe nicht mehr
bekanntgegeben, nur den Führern, denn wenn ihn die Soldaten
erfahren haben, dann sind sie so verroht, daß die Disziplin
gelitten hat.“ – „Woher weißt du das?“ fragte Holt abermals. –
„Das ist ja gleichgültig“, meinte Gomulka. „Ich sag dir’s, damit
du gewarnt bist. Du kannst dich nicht mal auf die Kriegsgesetze
berufen, wenn du dem Mädel gegen Schulze beistehst.“ Sie
gingen weiter. Dieser widerwärtige Schulze, dachte Holt
haßvoll, dieser bösartige Gorilla! Aber sein Haß war mit
Hilflosigkeit gemischt. „Da soll ich also zusehn, wenn er sich an
dem Mädchen vergreift?“ Er ereiferte sich: „Das sagst du?“
Gomulka zeigte zunächst keine Absicht zu antworten. Aber
dann sagte er doch: „Daß du dich so in Wut hineinsteigerst,
nimm mir’s nicht übel, Werner... das machst du doch bloß, weil
es um ein Mädchen geht.“
Holt war gekränkt. „So...“, sagte er. „Und die Russen, in der
Batterie damals, waren das auch Mädchen?“ Gomulka
antwortete nachdenklich: „Nein... Du hast recht. Sei nicht böse“,
bat er, „ich dachte nur...“ Er hat recht, dachte Holt, nein, er hat
doch nicht recht... Vielleicht ist es immer noch wie vor einem
Jahr, als ich glaubte, mit Gilbert für... Gerechtigkeit kämpfen zu
müssen, damals, als mich die Marie Krüger behext hatte, daß
ich dem Meißner an den Kragen wollte... Das war kindisch.
Nein, es war nicht kindisch, aber... Es hat keinen Zweck, dachte

347
er. Was ist Gerechtigkeit? Vielleicht ist alles falsch... oder
vielleicht ist Mitleid wirklich Schwäche, und Ziesche hatte doch
recht, und wahre Gerechtigkeit ist Härte, wenn wir Deutschen...
Mit verbundenen Augen im dunklen Zimmer, dachte er.

Die nächsten Tage brachten schwere Arbeit. Transportzüge


mit SS-Einheiten trafen auf dem Bahnhof ein. Die
Arbeitsmänner entluden Waggons-. Waffen und Gerät,
Kraftfahrzeuge, auch Pferde und Fuhrwerke, leichte
Feldgeschütze und Minenwerfer. „Jetzt geht’s den Banden an
den Kragen!“ frohlockte Vetter. „Jetzt dauert das keine acht
Tage mehr!“ Wolzow fluchte, als sie stundenlang
Munitionskisten und Granatkörbe schleppten. „Das könnten
auch die Slowaken machen, das faule Volk hockt daheim in den
Stuben!“
In der Mittagspause löffelte er aus dem Kochgeschirr den
faden Eintopf. „Eine kriegsstarke SS-Division ist das. Ich hab
gehört, es sollen Spezialverbände sein, die Division hat in den
Pripjet-Sümpfen Partisanen gejagt, die haben Erfahrung in so
was!“ Sie stapelten weiter Munitionskisten auf die wartenden
Fahrzeuge. Ein paar Kisten Gewehrmunition wurden in der
Schule abgeladen.

Eine Woche war verstrichen, ohne daß der Einsatz etwas


anderes als Arbeit gebracht hätte. Der September ging zur
Neige, aber das Wetter blieb sommerlich warm. Nur die Nächte
waren schon kalt und neblig.
Holt lag eines Tages im Schulgarten in der Sonne und schaute
in den Himmel. Er hörte Schritte. Das blonde Mädchen ging den
Gartenweg entlang, mit einem Laubrechen und einem großen
Henkelkorb. Holt sagte vernehmlich: „Guten Tag.“ Sie blickte
rasch zu ihm hin, dann schaute sie wieder geradeaus, aber sie
erwiderte seinen Gruß, indem sie flüchtig mit dem Kopf nickte.
Na also! dachte Holt befriedigt, sie kann unterscheiden
zwischen denen und meinesgleichen!
In der folgenden Nacht stand er mit Wolzow an der
Eisenbahnbrücke Posten. „Horch!“ sagte Wolzow. In der Ferne
grollte schwerer Kanonendonner. Es war gegen drei Uhr, die

348
schmale Mondsichel stieg über die Berge. Holt fröstelte. „Hört
sich an wie eine richtige Schlacht!“ Wolzow entgegnete: „Aus
dem Gebirge holt die so schnell keiner raus! Berge bis
zweitausend Meter... da schaffst du nur mit Brachialgewalt
Ordnung!“ Holt erwog, Wolzow zu fragen, was es mit jenem
„Kommissarbefehl“ auf sich habe, aber irgend etwas hielt ihn
zurück, die wachsende Entfremdung, eine unerklärliche
Scheu...
Das Geschützfeuer blieb bis zum Morgen hörbar. Als sie am
Mittag in die Stadt zurückkehrten, hielten vor der Schule ein
paar verdreckte Lastwagen. Auf dem Hof lagerten etwa
zweihundert SS-Leute, zwischen Gewehrpyramiden und
Gepäckstücken. Wolzow setzte sich zu ihnen. Dann brachte er
Neuigkeiten. „Von wegen in acht Tagen Schluß“, sagte er, „das
war eine Illusion! Überall geht’s los, das halbe Land ist in
Aufruhr, ganz in der Nähe haben sie eine Garnison
niedergemacht. Die SS ist ganz schön abgekämpft. Die
Partisanen, sagen sie, sind nicht schlechter als reguläre
Truppen, manchmal noch zäher, weil ihnen die SS
grundsätzlich den Pardon verweigert. Die Russen schmeißen
ihnen Waffen ab, die Partisanen sind mitunter besser bewaffnet
als die SS, alle mit Maschinenpistolen. Bin gespannt, wann es
hier bei uns losgeht.“ Vetter erzählte: „Der erste Zug hat heut
vormittag in der Stadt Haussuchungen nach Waffen gemacht.
Gefunden haben sie nichts!“
Am frühen Nachmittag rückte die SS ab. Im Haus blieben nur
der Wachtrupp vom dritten Zug und Schulzes Trupp, der nach
der Brückenwache dienstfrei war. Die Arbeitsmänner lagen im
Stroh und schliefen. Aber Holt litt es nicht im Zimmer. Er
schlenderte ziellos über den Hof und in den Schulgarten.
Dort traf er die blonde Slowakin. Sie schleppte einen großen
Korb, der mit Holz gefüllt war, mit Ästen und Reisig. Holt sagte:
„Lassen Sie mich das tragen!“ Er nahm ihr den Korb ab und
trug ihn zum Schulhof. Er fragte über die Schulter: „In den
Schuppen?“ – „Ja.“ Sie versteht also doch Deutsch, dachte er
überrascht. Sie schloß die Tür auf. Er setzte den Korb in einer
Ecke ab, wo viel Holz auf einem Haufen lag. Sie war ihm gefolgt
und sagte freundlich: „Danke.“ Er richtete sich auf. Er war

349
verwirrt, denn sie stand nahe bei ihm. Er faßte sie plötzlich an
den Schultern und zog sie an sich, aber da schlug sie ihn mit
solcher Heftigkeit ins Gesicht, daß er taumelte. Wut stieg in ihm
auf. Er dachte eine Sekunde lang an Gewalt. In seinem Inneren
sagte eine Stimme: Etwas davon ist auch in dir! Die Scham
schlug wie eine Welle in ihm hoch.
Das Mädchen hatte den Hackklotz zwischen ihn und sich
gebracht, hatte das Handbeil herausgerissen und stand nun
lauernd, nach vorn geneigt. Mit der Rechten umklammerte sie
den Schaft des Beiles, während sie langsam den linken Arm
hob und zur Tür wies. Sie sagte nur ein einziges Wort: „Hinaus!“
Er wollte eine Entschuldigung stammeln, eine Rechtfertigung,
etwas von einem Mißverständnis, aber aus ihren Augen traf ihn
ein Blick so abgründigen Hasses, daß er wortlos den Schuppen
verließ.
Er ging in den Garten. Er sah das Mädchen rasch über den
Hof laufen, zum Gartenhaus hin, sie trug noch immer das Beil in
der Hand. Aber das alles drang gar nicht in sein Bewußtsein. Im
Schulgarten stand er wie geistesabwesend zwischen den
Sträuchern. Er versuchte, dieses erstickende Gefühl der Scham
loszuwerden. Er dachte: Die soll sich nicht aufspielen!
Schließlich bin ich ein Deutscher, und sie... Da wuchs das
Schamgefühl ins Unerträgliche. Sein Gesicht brannte, wie vom
Feuer versengt.

Drei Tage später hielt Trupp Schulze wieder Quartierwache.


Holt saß in der Wachstube, als Schulze das Zimmer verließ und
die Stufen hinab zur Hoftür ging. Ein paar Minuten später brüllte
Böhm vom Kellereingang her: „Schulze!“... „Schulze!“ brüllte er
noch einmal. Wenskat trat ins Wachlokal und sagte grinsend:
„Der Schulze hört jetzt nischt, der ist der Kleinen in den Garten
nachgeschlichen, dem hing richtig die Zunge raus!“
Das traf Holt wie ein Schlag. Aber da stand Böhm in der
offenen Tür. „Pennt denn die ganze Wache? Los, Holt,
Gomulka, mitkommen!“ Wenskat verschwand auf dem Hof. Holt
350
stieg die Kellertreppe hinab. Er kramte unter einem Stapel
Patronenkisten einen Kasten Pistolenmunition hervor, den
Böhm für seine Maschinenpistole brauchte, und trug ihn mit
Gomulka ins Wachlokal. Da stürzte Wenskat ins Zimmer. Sein
Gesicht war verzerrt. „Wache!... der Schulze, im Garten, Herr
Unterfeldmeister... tot!“
Böhm starrte Wenskat an, sein Mund öffnete und schloß sich.
Dann überschlug sich seine Stimme: „Mitkommen!“ Sie rannten
über den Hof in den Garten. Zwischen den Büschen lag
Schulze. Der Anblick war furchtbar. Wolzow beugte sich
ungerührt über den Toten. Die Stirn klaffte von einem Beilhieb.
Er lag auf dem Rücken, die Beine waren im Hinstürzen seltsam
nach hinten geknickt. Waffenrock und Hose waren geöffnet. In
der linken, krampfhaft verschlossenen Faust hielt er ein dichtes
Büschel hellblonden Haares. Wolzow richtete sich auf. „Der ist
hin.“ Er sah sich suchend um. „Dort!“ Holt sah im Gras ein Beil
liegen, das Beil.
„Herr Unterfeldmeister!“ schrie Wenskat. „Die Blonde vom
Hausmeister! Er ist ihr nachgegangen, und als ich sehen wollte,
wo er bleibt, da lag er hier!“
Böhm lief schon los. Sie folgten ihm. Aus dem Schulhaus
stürzten immer mehr Leute. Böhm rüttelte an der Klinke des
Gartenhäuschens. „Tür einschlagen!“ Wolzow stieß mit dem
Kolben des Karabiners zu, daß es donnerte, immer wieder, bis
das Schloß barst. Der Korridor lag offen vor ihnen. Wenskat
stürmte als erster hinein, durchmaß mit wenigen Schritten den
Vorraum und riß die Tür auf.
Mitten im Zimmer stand der Hausmeister, ein Jagdgewehr im
Anschlag, der Schuß krachte. Wenskat brach schreiend
zusammen. Böhm riß dem Hausmeister das Gewehr aus den
Händen und schlug mit dem Kolben auf ihn los, er brüllte:
„Verbrecher! Bandit! Slawenvieh!“ Der Hausmeister fiel zu
Boden, Böhm trat ihn mit den benagelten Stiefeln und tobte:
„An die Wand... Sofort an die Wand!“ Das Mädchen stand am
geöffneten Fenster, einen halbgefüllten Rucksack zu Füßen.
Böhm fuhr auf das Mädchen los: „Die Hände hoch, du Aas!“
Das Mädchen hob die Arme. „Vetter, Wolzow!“ schrie Böhm.
„Den Wenskat ins Krankenzimmer! Gomulka, Schwedt, den

351
Banditen auf die Beine bringen, aber schnell, an die Mauer,
Gesicht zur Wand! Holt, stehn Sie nicht rum, das Aas abführen,
Gesicht zur Wand... Wirst du wohl die Arme oben lassen, du
Hurenstück! Meermann, Runge... mitkommen!“ Er lief davon.
Gomulka und Schwedt hoben den Hausmeister auf, er wankte
vor ihnen durch den Korridor auf den Hof. Das Mädchen folgte
unaufgefordert.
Holt ging ein paar Schritte hinter ihr. Sie hielt die zitternden
Hände im Nacken verschränkt, das Haar fiel über Hände und
Schultern. Er trug den entsicherten Karabiner unter dem Arm.
Die Linke umklammerte den Kolbenhals, der Finger lag am
Abzug. Wenn sie wegläuft, dann muß ich schießen. Dann
werde ich schießen. Sein Blick suchte einen Punkt zwischen
den Schulterblättern. Etwas links, dachte er, dann spürt sie
nichts.
Der Hausmeister lehnte den zerschlagenen Kopf gegen die
Mauer des Schulhauses. Das Mädchen trat neben ihn hin. Holt
stand dicht dahinter, das Gewehr in den Händen, er dachte:
Gleich kommt Böhm wieder, dann muß ich schießen...
Böhm brüllte von der Haustür her: „In den Keller! Los,
vielleicht bewegt ihr euch ein bißchen schneller!“ Böhm öffnete
unten ein stockdunkles Loch, ein massives Gelaß mit eiserner
Tür. „Schwedt, Sie bleiben als Posten hier, bis ich Ablösung
schicke. Die andern mitkommen.“

In der Wachstube stand der Trupp beisammen. Wolzow


meldete: „Wenskat tot. Vier Mann auf Posten!“ Böhm überflog
die Gesichter, er murmelte die Namen: „Gomulka, Holt, Vetter,
Zöllner, Meermann, Matzke, Runge... Schwedt im Keller...
Wolzow, Sie übernehmen den Trupp! Ich hab mit dem
Oberfeldmeister telefoniert. Er ist am Bahnhof. Wenn er
zurückkommt, will er die beiden verhören. Er sagt, es stinkt, es
stinkt überall, und es stinkt auch hier ganz gewaltig... Der erste
Zug ist zurückgerufen worden. Der dritte Zug war nicht zu
erreichen. Die Wachen werden heut nacht verdoppelt.
Wolzow... Schulze ins Krankenzimmer. Dann das Erdgeschoß
von Stroh säubern, ist zu brenzlig, alles hoch ins Obergeschoß,
bloß das Wachlokal bleibt hier. Ich muß zur Brücke. Sie melden

352
die Wache beim Oberfeldmeister, sobald er zurückkommt.
Lassen Sie sich Befehle geben.“
„Erster Trupp hört auf mein Kommando“, rief Wolzow. „Vetter,
Posten verständigen, die werden vorläufig nicht abgelöst!
Zöllner und Meermann, Schulze holen!“ Vetter ging durch die
Tür. Wolzow rief: „Arbeitsmann Vetter, wollen Sie nicht den
Befehl wiederholen?“ – „Jawohl“, sagte Vetter verdattert. – „Ich
bin mit Truppführer anzureden!“ – „Jawohl, Truppführer!“ – „Los,
ab!... Ordnung muß sein“, schrie Wolzow. „Wir räumen die
Zimmer im Erdgeschoß aus.“
Der erste Zug rückte ein. Das Haus dröhnte von
Hammerschlägen. Sie nagelten von innen die
herausgerissenen Türen gegen die Erdgeschoßfenster.
Irgendwer befahl, auch die Flügel der Eingangs- und der Hoftür
dazu zu verwenden. „Hauptsache, sie können uns keine
Bomben durch die Fenster schmeißen“, sagte Unterfeldmeister
Rischka, der den ersten Zug befehligte. Gegen Abend kehrten
Lesser und Böttcher zurück. Wolzow meldete sich bei ihnen im
ersten Stock. Als er die Treppe wieder herabkam, sagte er zu
Holt: „Kannst die Parabellum tragen, er hat nichts dagegen.“
Am Abend war auch Böhm wieder da, und Holt sah ihn hinter
dem Oberfeldmeister in den Keller steigen. Wolzow brachte die
Nachricht: „Die beiden werden morgen der SS übergeben.“ Holt
antwortete nicht.
Endlich wurde es ruhig im Haus. Der erste Zug unter Rischka
übernahm mit je zwei Trupps die Bahnhofswache und den
Streifendienst in der Stadt und rückte ab. Der zweite Zug wurde
zur Brücken- und zur Quartierwache eingeteilt. Am späten
Abend holte Böhm noch einen der beiden Trupps von der
Schulwache zur Brücke. „Drei Trupps an die Brücke...“, sagte
Gomulka, „und nur ein Trupp für die Schule?“ – „Sie faule Sau!“
schrie Böhm. „Da werden Sie eben nur alle drei oder vier
Stunden abgelöst, ich brauch die Leute! Die Brücke ist wichtiger
als das Quartier, der Oberfeldmeister hat das so befohlen!“
Widerstrebend ließ er den Obervormann Rößler zurück.
Wolzow stellte drei Doppelposten auf, vor dem Eingang auf der
Straße und im Hof. Der dritte patrouillierte durch das
Schulgebäude.

353
Sie saßen im Wachlokal, Wolzow, Holt, Gomulka, Vetter, auch
der Obervormann Rößler, ein ruhiger Mensch, der nur
manchmal im Jähzorn üble Schimpfwörter hervorstieß. Wolzow
rauchte eine dicke Zigarre und kommentierte die
Tagesereignisse. „Wir sind vierzehn Mann hier, dazu Böttcher
und Lesser. In der Nacht soll der dritte Zug zurückkommen,
dann sind wir genug Leute.“ Vetter meinte: „Also diese
Nervosität, so was! Wenn sie so aufgeregt sind, dann gibt es
meistens überhaupt nichts.“
Holt verließ das Wachlokal. Das Gerede war ihm zuwider.
Er stand einen Augenblick an der Haustür und sah die beiden
Posten unbeweglich im Dunkel... Er dachte an das Mädchen im
Keller; dieser Gedanke quälte ihn wie ein körperlicher Schmerz.
Ich hätte sie erschossen, dachte er. Er war unfähig, damit fertig
zu werden. Er warf sich im Obergeschoß ins Stroh, aber er fand
keinen Schlaf.
Elf Uhr löste er mit Gomulka den Streifenposten ab. Gomulka
schärfte den anderen ein: „Daß ihr nicht etwa auf uns schießt!“
Sie liefen langsam ihre Runde, die Straße vor dem Schulhaus
entlang, durch den Garten um den Hof herum und auf der
anderen Seite wieder zur Straße. Der Zaun beiderseits des
Schulhauses war niedergelegt worden. Sie schwiegen und
horchten angespannt in die Dunkelheit.
Es war Mitternacht. Sie verließen den Schulgarten und traten
auf die Straße. In der Stadt, ganz nahe, knallte ein Schuß. Holt
erstarrte. Eine wüste Schießerei begann. Rasche, dünne
Feuerstöße aus Maschinenpistolen, dazwischen in immer
dichterer Folge Gewehrschüsse. Beim Eingang brüllte es:
„Steh!“ Dann knallte es auch dort. Gomulka lief los, zum
Eingang hin. Holt hörte hinter sich hastende Schritte durch das
Gebüsch des Gartens brechen. Er schoß. Vor ihm in der
Dunkelheit blitzte das Mündungsfeuer einer Maschinenpistole.
Jenseits des Schulplatzes, wo die Straße zwischen den
Häusern stadtwärts führte, setzte heftiges Feuer ein,
verstummte, flackerte wieder auf. Nun fielen auch aus dem
Schulhaus Schüsse.

354
Holt hörte Schritte über das Pflaster hallen, jemand lief von
der Stadt her auf den Garten zu, stürzte hin und schrie: „Hiiiilfe!“
Holt war mit ein paar Schritten bei dem Gefallenen, der auf dem
Bauch lag, den Kopf hob und röchelte: „Die Stadtwache... Die
Streifen... Alles...“ Dann klirrte der Kopf mit dem Helm auf das
Pflaster. Am Straßenausgang jenseits des Schulplatzes begann
ein Maschinengewehr zu feuern, in kurzen Stößen.
Holt flüchtete zwischen die Gartenbüsche. Aber auch auf dem
Hof schoß es, hinter ihm im Garten, ganz nahe, überall. Er lief
auf die Straße, lief nahe der Mauer am Schulhaus entlang, warf
sich zu Boden und kroch zur Tür hin. Vor dem Eingang lag
einer der Posten, der andere auf der Schwelle. Holt kroch über
ihn hinweg ins Treppenhaus. Dort lag Rößler, unbeweglich.
Holt schrie: „Nicht schießen!“ Er rollte sich zur Seite aus dem
Schußwinkel des Maschinengewehrs, das seine Feuerstöße
durch den Eingang ins Schulhaus schickte. Ununterbrochen
fetzten Geschosse gegen die Wände. Oben, in der Vorhalle,
blitzten in regelmäßigen Abständen die Abschüsse eines
Karabiners auf.
Holt kroch, eng an die Wand gedrückt, die wenigen Stufen
hoch und fand in der Halle endlich Deckung hinter dem
Mauervorsprung. Wo die Tür ins Wachlokal führte, kniete
Wolzow, in Hemdsärmeln und barhäuptig, und sandte Schuß
auf Schuß durch die Tür ins Freie. Holt sah Vetter aus dem
Wachlokal eine geöffnete Patronenkiste zu Wolzow
hinschieben.
Wolzow lud. Er brüllte zu Holt hinüber, und bei dem Lärm der
Schüsse konnte man sich nur schreiend verständigen: „Hast
du’s geschafft, Werner? Zum Hoftor! Dort steht bloß der Kranz!“
„Wo ist Sepp?“ schrie Holt zurück. Wolzow deutete mit dem
Ellenbogen ins Wachlokal. „Streifschuß im Gesicht! Vetter hat
ihn verbunden!“
Holt rechnete: Gilbert, Christian, Sepp und ich sind vier.
Rößler tot: fünf. Die Straßenposten tot: sieben. An der Hoftür
einer: acht. Schwedt und Schwerdtfeger standen auf dem Hof,
die sind wohl auch gefallen: zehn. Fehlen sechs Mann.
„Wo sind denn die anderen?“ schrie er. Wolzow ließ sich von
Vetter einen geladenen Karabiner reichen und gab das

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leergeschossene Gewehr zurück. Er deutete mit dem Daumen
über die Schulter. Die breite Holztreppe, die ins Obergeschoß
führte, lag dem Eingang unmittelbar gegenüber.
Ununterbrochen klatschten Geschosse in die Holzstiegen.
Wolzow schoß wieder. Im Blitzen der Abschüsse sah Holt auf
den zersplitterten Stufen drei regungslose Gestalten liegen,
eine vierte lag am Fuß der Treppe in der Halle. Zehn und vier
sind vierzehn. „Und Lesser und Böttcher?“ schrie er. Wolzow
antwortete zwischen zwei Schüssen: „Sind oben. Die traun sich
nicht über die Stiegen runter!“ Eine Kugel schlug dicht vor
seinem Gesicht in den Mauervorsprung, der Putz stiebte.
„Vetter, meinen Helm!“ schrie Wolzow. Vetter reichte ihm den
Stahlhelm.
Holt sprang endlich die Treppe hinunter zur Hoftür. Zu seiner
Rechten führte die Kellertreppe hinab. Auch durch die geöffnete
Hoftür schlugen ununterbrochen Schüsse herein und klatschten
in die Mauer. Kranz stand eng an den Türrahmen gepreßt und
schoß auf den Hof hinaus. Er hörte, als das Schießen einen
Augenblick nachließ, wie Böttcher im Obergeschoß laut
„Obacht!“ rief, dann fiel in der Halle klirrend ein Gegenstand zu
Boden.
Holts Auge hatte sich an die Finsternis gewöhnt. Wolzow
fischte mit dem Gewehrlauf ein in Papier gewickeltes Päckchen
zu sich heran, las und warf es Holt hin. Dann begann er wortlos
wieder zu feuern. Holt hob das Päckchen auf, ein
Schlüsselbund fiel zu Boden. Er drückte sich tief in die Ecke
zwischen Hof- und Kellertür, entzündete ein Streichholz und las:
„Befehl vom Oberfeldmeister. Sofort die Gefangenen
erschießen! Schlüssel anbei. Böttcher.“
Holt warf das Streichholz weg. Die solln lieber sehn, daß sie
runterkommen, dachte er. Er drehte den Zettel in den Händen.
Er sah Kranz noch immer eng an den Türpfosten gepreßt und
dann und wann einen Schuß zum Brunnen hinüberfeuern, Von
der Straße her schoß das Maschinengewehr wütend seine
Feuerstöße durch die Tür. Die Treppe war der Kugelfang. Da
kommt keiner runter, dachte Holt, der Lesser nicht, der Böttcher
nicht. Er warf den Karabiner auf den Rücken.

356
Während er sich die Kellertreppe hinabtastete, begann sein
Herz vor Angst wie rasend zu schlagen. Er zog die Parabellum
und entsicherte sie. An der Mauer entlang fühlte er sich zu der
Eisentür hin. Als er sie gefunden hatte, stand er und horchte. Er
mußte sich erst beruhigen, so sehr zitterte er vor Angst und
Aufregung. Von oben drangen gedämpft die Schüsse zu ihm
herab. Er zog den Schlüssel und öffnete. Das Licht eines
Kerzenstummels fiel auf ihn.
Der Hausmeister stand schützend vor seiner Tochter. Holt
stieß hervor: „Ihr müßt weg hier! Aber ich kann euch nicht
rauslassen, sonst erschießen sie mich!“ Das Mädchen starrte
ihn an. Jetzt wird sie endlich begreifen, daß sie mir unrecht
getan hat, dachte Holt. Der Hausmeister sprach mit seiner
Tochter. Sie rief: „Schieß doch, Faschist!“ Er schrie
unbeherrscht, in seiner Nervosität durch dieses unverständliche
Gebaren gereizt: „Red doch keinen Unsinn! Ich muß euch
erschießen, und was ist, wenn jetzt einer kommt, dann bin ich
dran, was soll ich denn tun?“
Sie redete hastig auf den Hausmeister ein, der mißtrauisch auf
Holt und auf die Pistole blickte und dann irgend etwas
antwortete. „Schnell doch!“ rief Holt ungeduldig. – „Haben Sie
Schlüssel?“ – Holt nickte. – „Gegenüber ist Werkzeug... Eine
Brechstange!“ – Holt blickte zu dem winzigen, vergitterten
Fenster hoch. Er verstand. Er probierte die Schlüssel an der
gegenüberliegenden Tür. Das Mädchen stand schon neben
ihm. „Geben Sie her!“ Sie öffnete, und der Hausmeister schob
Holt zur Seite und suchte in dem stockdunklen Loch, bis er ein
großes, doppelt U-förmig gebogenes Eisen fand. Das Mädchen
schloß ab und gab ihm die Schlüssel zurück. Holt steckte die
Pistole weg. Der Hausmeister kletterte auf eine hochgekantete
Kiste und wuchtete mit dem Eisen an den Gitterstäben. Holt
sagte: „In fünf Minuten müßt ihr weg sein, dann kann ich
melden, ihr wart schon fort, als ich runterkam.“ Sie nickte. Er
wollte die Eisentür schließen, aber plötzlich sagte er heiser:
„Und wenn uns eure Leute heut nacht... dann denk an mich!“
Sie sah ihn groß an. „Schlagt eure Anführer tot! Wir werden
sagen, daß sie euch nichts tun!“ Verrückt, dachte Holt, sie ist

357
verrückt! Er warf die Tür ins Schloß, drehte den Schlüssel um
und lief nach oben.
Er trat gerade in dem Augenblick wieder in den Hausflur, als
Kranz an der Hoftür das Gewehr fallen ließ, sich nach vorn
neigte, sich immer mehr zusammenkrümmte und dann lautlos
nach rechts auf die Seite fiel, mitten in die offene Tür. Holt
kniete hinter der Mauer nieder und schob den Gewehrlauf
hinaus. Bei der Pumpe blitzten wieder Schüsse auf. Kranz
streckte sich, dann lag er unbeweglich. Holt schoß das Magazin
leer. Er lud und wartete. Sinnlos, dachte er.
Im Haus war es auf einmal ruhig. Auch Wolzow schoß nicht
mehr. Aber auf der Straße feuerte noch immer das
Maschinengewehr. Das geht doch nun schon eine Stunde so,
dachte Holt. Er sah auf die Uhr. Es war noch nicht eins. Wolzow
brüllte: „Werner?“ Auf dem Hof verstummte das Schießen. Der
entfernte Gefechtslärm war nun deutlich vernehmbar. Wird am
Bahnhof sein, dachte Holt. Im Garten brach Gebüsch. Auf dem
Hof rief jemand fremdartige Worte. Jetzt sind sie weg, dachte
er. „Werner!“ brüllte Wolzow wieder. Holt antwortete: „Der Kranz
ist auch tot! Und die Gefangenen hab ich nicht erschießen
können. Die waren getürmt!“
Wolzow riß das Gewehr hoch, auch Vetter schoß, sehr rasch
hintereinander knallten die Abschüsse der Walther-Pistole.
Dann war wieder Ruhe. „Plötzlich an der Tür waren sie!“ rief
Vetter. „Wollten einfach rein, so was!“ Auf einmal verstummte
auf der Straße das Maschinengewehr. Eine mächtige
Detonation erschütterte das Schulhaus, eine zweite, dritte,
vierte, der Boden bebte, von der Decke fiel Putz. Dann war es
totenstill. Wolzows Stimme: „Herr Oberfeldmeister!... Das war
oben!“ Niemand antwortete. „Rauch“, schrie Wolzow, „es
brennt!“
Holt lehnte sich an die Mauer. Aus. Vorbei. Er hörte Wolzow
rufen: „Laßt keinen rein!“ Dann jagte er die Treppe nach oben.
Auf den Hof fiel flackernder Feuerschein. Wolzow polterte
wieder die Treppe hinab, kam um die Ecke zu Holt und sagte:
„Feierabend! Lesser und Böttcher sind hin... Handgranaten!
Das Stroh brennt überall.“ – „Gilbert!“ schrie Holt. – „Sei doch
still!“ Wolzow nahm den Helm ab und fuhr sich mit der Hand

358
durchs Haar. Holt sagte: „Wer ist denn noch da?“ Wolzow
antwortete: „Wir vier von Anton, sonst keiner.“
Der Feuerschein schlug heller auf den Hof hinaus, auch
durchs Treppenhaus flackerte rotes Licht. „Im Dunklen wär eine
Chance gewesen“, sagte Wolzow, „aber jetzt knallen sie uns
ab, wenn wir durch den Feuerschein laufen, darauf warten die
in aller Herrgottsruhe.“ Er dachte nach. „Wir müßten längst weg
sein! Als es losging, hätten wir uns sofort zur Bahnhofswache
durchschlagen müssen, das wär richtig gewesen, das können
wir dem Lesser auf den Grabstein meißeln... Der Lesser“, sagte
er plötzlich wütend, „hat’s gewußt, daß es heut losgeht.“ Vetter
rief: „Hier fällt solcher Kalk von der Decke!“ – „Laß ihn fallen“,
rief Wolzow zurück, „paß lieber auf den Eingang auf!“ Er dachte
wieder nach. „Sag mal, hast du etwa den Hausmeister
auskneifen lassen?“ – „Nein.“ – „Komisch. Wie sind denn die
getürmt?“ – „Durchs Fenster.“ – „Aber die Fenster sind doch
vergittert!“ – „Die Stäbe waren rausgebrochen“, rief Holt.
„Herrgott, was wird denn aus uns? Sollen wir hier verbrennen?“
– „Sei mal still!“ sagte Wolzow. „Wo führt das Fenster hin? Auf
den Hof?“ – „Nein, in den Garten unter der Giebelwand.“ – „Gib
den Schlüssel her“, sagte Wolzow, „ich schau mir das an!“ Er
lief die Kellertreppe hinab, über Holt fauchte und prasselte das
Feuer, Fensterscheiben zerklirrten und fielen auf den Hof.
„Mensch!“ rief Vetter entrüstet. „Dort drüben, am Schulplatz,
dort laufen sie rum! Die denken wohl, wir sind nicht mehr da?“
Er schoß, der Schuß dröhnte, als Antwort jagte das
Maschinengewehr einen Feuerstoß durch die Tür, daß die
Treppe splitterte. Holt sah auch hinter dem Brunnen und beim
Gartenhäuschen ein paar Gestalten, auf die der Feuerschein
fiel, aber er schoß nicht.
Wolzow tauchte in der Kellertür auf. „Wenn wir ein bißchen
Glück haben, kommen wir in den Garten. Mal sehn, wie’s
weitergeht.“ Es geht also doch weiter, dachte Holt, es ist noch
nicht alles zu Ende... „Und Sepp?“ - „Wundschock. Wir nehmen
ihn mit. Paß auf! Christian muß mit Sepp weg. Wir bleiben
noch.“ Er überlegte schon wieder, mit schräggelegtem Kopf.
Holt rief ungeduldig: „Also los doch!“ – „Na, einen Moment! Hab
dich doch nicht so! Was ist denn heut mit dir los? Ich überleg

359
bloß. Ob die uns hier noch raushaun? Kampfauftrag hatten wir
keinen. Ich denke, man kann den Ausbruch verantworten.“
„Gilbert!“ brüllte Holt. „Hör auf! Sonst hau ich allein ab!“ – “Das
wirst du nicht tun“, sagte Wolzow, und er war böse. „Auf gar
keinen Fall! Organisierter Rückzug: ja. Aber nicht türmen!“
Holt dachte entgeistert: Vier Mann... und organisierter
Rückzug!
Vetter und Gomulka krochen durch die Halle. Dann standen
sie bei Holt. Gomulka stützte sich auf Vetter und auf seinen
Karabiner. Er war erschöpft, sein Gesicht sah blaßgrau und
eingefallen aus dem Mullverband hervor, die Lippen
schimmerten bläulich, kalter Schweiß bedeckte seine Stirn.
„Hast du Schmerzen?“ fragte Holt. – „Fast gar nicht“, antwortete
Gomulka schwach. Er verschwand mit Vetter im Keller.
Auf der Straße schoß wieder das MG. Wolzow schoß zurück,
er brüllte: „Schieß, Werner!“ Jemand rannte aus dem
Lichtschein in die Dunkelheit des Gartens. Holt schoß den
Karabiner leer, über ihm tobte das Feuer, nun krachten Ziegel
und Balken auf den Hof... Wolzow war neben ihm und steckte
das Seitengewehr auf den Karabiner. „Laden, dann weg!“ Sie
flüchteten in den Keller. Holt stieg auf die Kiste und kroch durch
das Fenster. Wolzow reichte ihm die Gewehre nach. Dann
tauchten sie ins Gebüsch des Gartens. Gerettet! Holt blickte
zurück. Das Feuer raste, die Flammen schlugen aus den
Fenstern und hoch über dem Dach zusammen.

Unbehelligt erreichten sie den Bahndamm und folgten ihm


zum Bahnhof. Hinter ihnen, in der Stadt, verstummte das
Schießen. Sie mußten Gomulka stützen und kamen nur
langsam voran. Gegen zwei Uhr morgens erreichten sie den
Bahnhof, wo noch immer Schüsse knallten. Sie warteten, weit
abseits im Wald versteckt, bis es hell wurde und auch hier das
Feuer verstummte. Die Reste der Bahnhofswache hatten sich in
einem Stellwerk verschanzt
Ringsum war alles ruhig, als sei in der Nacht nichts
geschehen. Sie meldeten sich bei Unterfeldmeister Rischka,
der bleich und demoralisiert zwischen seinen Leuten hockte.

360
Gomulka kam bald wieder zu Kräften. Er ließ sich von Holt ein
neues Verbandpäckchen um den Kopf wickeln. Der Schuß war
vorn schräg über die Wange gefahren und hatte bis zum
Ohrläppchen eine fingerlange Fleischwunde gerissen, die stark
geblutet hatte.
Wolzow und Vetter zogen unterdessen mit ein paar Mann in
die Stadt und fanden sie verlassen und menschenleer. Gegen
zehn Uhr traf zögernd, in einzelnen Trupps, der dritte Zug beim
Bahnhof ein, führerlos und stark gelichtet. Er war am Abend auf
dem Rückmarsch weit außerhalb der Stadt angegriffen und
auseinandergetrieben worden. Der Zugführer war gefallen. Die
Trupps hatten sich in den Wäldern versteckt. Wenig später
erschien Böhm mit einer fünf Mann starken Bedeckung am
Bahnhof. Auch die Brückenwache war angegriffen worden.
Böhm übernahm das Kommando über die Abteilung, lief mit
dem Notizbuch herum und versuchte, die Verluste festzustellen.
Die Abteilung war von hundertfünfundachtzig auf
hunderteinunddreißig Mann zusammengeschmolzen.
Holt zitterte bei dem Gedanken an die kommende Nacht. Er
lag in einem Kornspeicher. Wolzow trieb sich draußen herum;
am Nachmittag sagte er: „Wenn’s dunkel ist, dann kommen die
wieder.“
Aber am späten Nachmittag rollte eine motorisierte SS-Einheit
in die Stadt. Die Arbeitsmänner drängten sich vor dem Bahnhof
um die Lastwagen. Vetter rief: „Schau mal, was die für tolle
Waffen haben!“ – „Sturmgewehr 44“, sagte Wolzow, „eine neue
Maschinenpistole.“ – „Wenn wir so was hätten“, rief Vetter, „da
hätten wir heut nacht bestimmt gesiegt!“
Holt saß teilnahmslos auf der Betonrampe eines
Güterschuppens. Wenn sie wiederkommen, dann verlieren wir
wieder fünfzig Mann. Und morgen abermals. Und spätestens
übermorgen bin ich dran. Noch zwei Tage... Böhm ließ
antreten. Die Arbeitsmänner kletterten auf die Lastwagen. Die
SS stand Gewehr bei Fuß vor dem Bahnhof und blieb.
Die Fahrzeuge rollten in einem Tal den Weg entlang, der dem
Lauf eines reißenden Gewässers folgte. Das ferne
Geschützfeuer, das seit dem Morgen über den Bergen grollte,
kam näher und näher. Am Abend erreichten sie ein Dorf in

361
einem weiten Talkessel. Der Ort war mit SS vollgestopft. Die
Abteilung erhielt eine windschiefe Feldscheune als Quartier.
Endlich gab es warmes Essen und Verpflegung. Die Abteilung
hatte in der Schule alles Gepäck verloren. Holt war noch im
Besitz des Brotbeutels und verstaute darin Konserven und Brot.
Zigaretten und Tabak hoben die Stimmung. Holt brachte
Gomulka zum Verbandplatz. Ein Sanitäter besah die Wunde
und sagte verächtlich: „Mach keinen Zimt wegen dem
Läusebiß... Was hast du gehabt? Einen Wundschock willst du
gehabt haben bei dem Kratzer? Du bist ja bescheuert!“
Am anderen Tage rückte ein Großteil der SS ab, nur die Stäbe
und Troßeinheiten blieben zurück. Böhm hatte ausgeschlafen
und zeigte sich sehr geschäftig. Aus den Beständen der SS
erhielt die Abteilung eine dürftige neue Ausrüstung, Brotbeutel,
Feldflaschen, Feldspaten und jeder eine Zeltbahn. Die drei
Züge, zu vier Trupps, waren nun nur noch je einundvierzig
Mann stark; als Truppführer wurden Arbeitsmänner, als
Zugführer die dienstältesten Obervormänner eingesetzt. Sechs
Mann waren überzählig, aus ihnen bildete Böhm einen
„Kommandotrupp“, den er Wolzow übergab; Wolzow suchte
sich Holt, Vetter, Gomulka und noch zwei andere aus. Am
Nachmittag brachte Wolzow Schnaps. Der Alkohol gab Holt nur
für kurze Zeit Kraft und Entschlossenheit zurück. Dann
beherrschte ihn wieder das trostlose Gefühl von Verlassenheit
und Angst.
Böhm schleppte den Kommandotrupp ständig mit sich herum.
„Kommandotrupp? Eine Leibwache hat er gewollt!“ sagte Holt.
„Wir sind die Leibstandarte Adolf Böhm“, rief Vetter, auf den die
Ereignisse keinen sichtbaren Eindruck hinterlassen hatten.

Die Abteilung erhielt einen neuen Einsatzbefehl. Wolzow


erzählte: „Heut nacht hat die SS ein Dorf mit einer wichtigen
Straßenkreuzung erobert und ist sofort weitergezogen. Wir
sollen den Ort besetzen und die Kreuzung bewachen. Endlich

362
mal ein eindeutiger Kampfauftrag, da weiß man doch, woran
man ist!“
Sie marschierten, über dichtbewaldete, mächtig ansteigende
Berghänge, durch urwüchsige Laubwälder, auf Waldpfaden und
Pirschwegen. Böhm orientierte sich nach der Karte. Ein Trupp
zog als Vorhut voraus, die Abteilung folgte in Schützenkette,
weit auseinandergezogen. Auf einem breiten, befestigten
Fahrweg, unangefochten, wenn auch vom Marsch erschöpft,
erreichten sie am Nachmittag ihr Ziel.
Vor ihnen öffnete sich ein grünes Tal, das sich langgestreckt,
etwa drei Kilometer breit, von Osten nach Westen zog. Der
Fahrweg stieß im Süden aus den Wäldern heraus, den steilen
Berghang hinab ins Tal, und jenseits der Talsohle, im Norden,
wieder hoch in die bewaldeten Berge. Die Talsohle entlang, von
Osten nach Westen, floß ein breiter Wildbach durch versumpfte
Wiesen, und seinem Lauf folgte eine Straße, die im Westen
hinter einer Krümmung des Tales verschwand. Wolzow taufte
sie Talstraße, Wo beide Wege einander im rechten Winkel
schnitten, dort sah man ein halbes Dutzend Häuser, und am
Bach ein paar niedrige Gebäude. Das war die ganze Ortschaft.
Am Fuße des Berges, auf den Wiesen, befahl Böhm Halt. Die
weit auseinandergezogene Abteilung sammelte sich. Die
Kreuzung lag etwa einen Kilometer vor ihnen. „Der erste Zug“,
schrie Böhm, „gräbt sich hier links und rechts der Straße ein,
Front nach Süden gegen die Berge. Zweiter und dritter Zug
Gewehre umhängen! Ohne Tritt... marsch!“ Etwa hundert Meter
vor der Straßenkreuzung ließ er abermals halten. „Der dritte
Zug marschiert über die Kreuzung und über die Brücke, bis
etwa einen Kilometer hinter das Dorf, und gräbt sich dort ein,
Front nach Norden gegen den Berghang. Dritter Zug abrücken!“
Er zog die Karte hervor und beriet sich mit Rischka.
Holt sah sich um. Die Wiesen waren sumpfig. Kein Spaß, sich
da einzugraben, dachte er. Fünfzig Meter vor ihm, rechts an der
Straße, lag ein Haus, ein Wirtshaus offenbar. Links sah Holt
drei einzelne Gehöfte, dann die Talstraße, dahinter den Bach,
den eine niedrige Holzbrücke überspannte. Die Gebäude
jenseits des Baches, Haus und Schuppen, gehörten zu einer
Sägemühle, wie Holt an den Bretterstapeln auf dem Hof

363
erkannte. Im Osten der Ortschaft war der Bach gestaut. Dort
zweigte ein Arm des Gewässers ab, lief unter der Straße
hindurch und dann durch das Gelände der Sägemühle, ehe er
wieder in den Bach zurückmündete. Rechts an der Talstraße,
etwa zweihundert Meter östlich der Kreuzung, sah Holt ein
weiteres einzelnes Gehöft liegen, niedergebrannt, in Trümmern.
Die beiden Unterfeldmeister berieten noch immer. Wolzow
hatte sich einfach dazugestellt. Der Kommandotrupp war ihm
gefolgt und stand um die beiden Führer herum. „Also gut“,
sagte Böhm, „der zweite Zug nimmt im Dorf Quartier.“ Wolzow
legte die Hände an die Hosennaht und fragte: „Warum graben
sich der erste und der dritte Zug einen Kilometer außerhalb des
Dorfes ein? Man soll seine Kräfte nicht unnütz teilen!“ – „Hörn
Sie auf, Sie dreifacher Idiot!“ brüllte Böhm außer sich. „Wer hat
Ihnen erlaubt, hier dämlich herumzuschwafeln?“ Wolzow setzte
umständlich den Helm auf. Böhm schrie: „Der zweite Zug wie
befohlen ins Dorf, als Reserve! Die Züge bleiben liegen, wo sie
sind, auf freiem Felde sind wir denen über, ich laß mich doch
nicht wieder auf einen Häuserkampf ein! An die Talstraße stelle
ich Doppelposten, und Sie Idiot, Sie mit Ihrem Kommandotrupp,
Sie werden Wache schieben, bis Ihnen das Gekröse zum Arsch
heraushängt!“ Die letzte Beschimpfung kam schon schwächer,
seine Wut war verflogen. „Gewehre zusammensetzen! Es darf
geraucht werden!“ Er warf sich ins Gras und knöpfte die
Feldflasche los. „Wolzow! Der Kommandotrupp sucht Quartiere
aus!“
Sie stiefelten den staubigen Weg entlang. „Schau mal, dort!“
sagte Wolzow und wies mit der Hand nach rechts. Vor der
Giebelwand des Wirtshauses neben der Straße lag ein grauer
Haufen erstarrter Leichen. „Hat die SS Gefangene umgelegt!“
Er rief über die Schulter: „Vetter, schaut euch links die drei
Gehöfte an!“
Wolzow, Holt und Gomulka standen auf der Wegkreuzung. Sie
gingen über die Brücke zur Sägemühle. Holt folgte Wolzow ins
Wohnhaus. Gomulka öffnete die Tür zur Werkstatt. In den
Räumen des Wohnhauses waren die Wände von Einschlägen
zerhackt. Wolzow stapfte die Treppe hoch ins Obergeschoß.

364
Holt sah unter dem eingeschlagenen Fenster einen Leichnam
liegen, mit zertrümmertem Gesicht. Er lief ins Freie.
Aus der anderen Tür, die im rechten Winkel zur Wohnhaustür
und nur wenige Schritte entfernt in die Werkstatt führte, trat in
diesem Augenblick Gomulka, nein, er trat nicht, er taumelte. Er
hielt sich an der Klinke fest, so daß er die Tür unwillkürlich
hinter sich zuzog, dann fiel er gegen die Mauer. Sein Gesicht
war grünlichgelb. Er krümmte sich zusammen, er schlug beide
Hände vors Gesicht.
„Sepp!“ rief Holt erschrocken.
Gomulka ließ die Hände sinken. Er stöhnte. Er sah Holt an.
Aus seinen Augen sprach unbeschreibliches Entsetzen. „Geh
nicht rein!“ schrie er. „Mein Gott, geh nicht rein!“ Abermals
bedeckte er das Gesicht mit den Händen.
Holt war ratlos. Das Gefühl einer unheimlichen Bedrohung
schnürte ihm die Kehle zu. Gomulka sagte dumpf: „Doch... geh
rein... Los, geh!“
Holt nahm den Karabiner von der Schulter, aber er hängte ihn
wieder um, zog die Parabellum und entsicherte sie. Er riß die
Tür auf und schaute in einen schmalen Korridor. Er trat ein. Die
Tür fiel hinter ihm ins Schloß. Er spähte vorsichtig in das kleine
Büro. Nichts. Schließlich ging er in die Werkstatt.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis er sich an die Dunkelheit
gewöhnt hatte. Dann sah er. Was er sah, war so über alle
Maßen grauenhaft, daß es sich in seinem Hirn erst wie aus
Mosaiksteinchen zu einem vollständigen Bild zusammenfügen
mußte. Aber dann begriff er. Alles um ihn begann sich zu
drehen, vor seinen Augen wurde es rot und dann schwarz. Er
hielt sich am Türpfosten fest. Er wollte fliehen, aber die Glieder
versagten und begannen haltlos zu zittern.
Er sah: Eine Kreissäge. Auf dem mit Sägespänen bestreuten,
blutgetränkten Boden lagen russische Uniformstücke verstreut,
und dazwischen ein paar über den Knien abgesägte Beine,
eine Hand, ein Stück Schenkel. Auf dem Tisch der Kreissäge
lag der nackte, armlose Oberkörper eines Menschen. In die
Brust war ein großer Sowjetstern geschnitten. Aus dem Leib
hatte das runde Sägeblatt die Gedärme herausgezerrt, und

365
Eingeweide, Fleischfetzen und Kot erfüllten den Raum mit
einem unerträglichen Gestank.
Jemand polterte durch die Tür und prallte zurück. Es war
Wolzow. Auch er wurde aschfahl. Er zog die Schultern nach
vorn, sein Kopf kippte zur Seite. Dann packte er Holt am Arm
und zog ihn ins Freie.
Holt wankte ein paar Schritte in den Abend hinaus. Er spürte,
wie ihm der Mageninhalt hochkam. Er erbrach sich. Wolzow
sagte neben ihm: „Immer raus damit... Jetzt geht’s schon
wieder besser!“ Dann stieß er Holt mit der Faust in den Rücken.
„Los, weg hier!“
Sie gingen die Straße zurück und trafen Vetter mit den
anderen. „Zwei Gehöfte sind ganz ordentlich“, sagte Vetter,
„aber keine Sau im Stall, nicht mal ‘n Karnickel!“ – „Halt ‘s
Maul!“ sagte Wolzow.
Er ging zu Böhm. Böhm fragte: „Wo?“ Wolzow deutete mit der
Hand ins Dorf. Böhm hob die Schultern und schüttelte den
Kopf, aber da rief Wolzow: „Wir haben auch Nerven, gehn Sie
doch hin und sehen Sie sich an, was für eine Sauerei die SS
dort angerichtet hat!“ Rischka zog Wolzow zur Seite, nestelte
seine Feldflasche los, und Wolzow nahm sie und trank. Holt sah
das alles teilnahmslos mit an. Wolzow reichte ihm die
Feldflasche. „Trink! Los doch, es ist Schnaps, das hilft, nimm
noch einen Schluck, du auch, Sepp!“ Holt trank und gab die
Flasche weiter.
Vetter führte den Zug zu den beiden Gehöften. Bald wurde es
dunkel. Böhm stellte den Kommandotrupp an den Talweg. Holt
und Gomulka wachten nach Osten hin, bei dem einsamen,
ausgebrannten Gehöft.

Wolzow durchstreifte das Dorf. Gegen Mitternacht kontrollierte


Böhm die Posten, mürrisch und mißgelaunt. Als er gegangen
war, kam Wolzow wieder und rauchte bei Holt und Gomulka
eine Zigarette. Er erzählte: „Ich hab ihm noch mal
vorgeschlagen, die beiden Züge ins Dorf zu holen. Ich hab ihm
gleich vorhin gesagt, wir müssen die Mühle abbrennen, aber er
will nicht. Wenn sie das Dorf einnehmen und die Bescherung in
der Mühle sehen, dann lassen sie ihre Wut an uns aus. Ich

366
versteh die SS nicht! Wenn man so was macht, läßt man’s doch
hinterher nicht offen rumliegen.“ Er trat die Zigarette aus. „Ich
komm wieder.“ ‘ Er tauchte in der Nacht unter.
Gomulka hatte den Abend kein Wort gesprochen. Seine
Bewegungen waren fahrig. Jetzt, da sie in der Dunkelheit
beieinanderstanden, sagte er plötzlich: „Ich hab es gewußt.
Aber ich hab es nicht geglaubt.“ Erst nach Minuten fuhr er fort:
„Jetzt glaub ich alles.“
Holt nahm den Karabiner von der Schulter und legte ihn auf
die Patronentasche. Auge um Auge, Zahn um Zahn, dachte er.
„Gnade Gott uns allen, wenn wir nicht siegen!“
„Siegen!“ sagte Gomulka verächtlich. „Das gibt es nicht. Das
darf nicht sein, daß so was siegt!“
Holt antwortete nicht. Eine halbe Stunde verging. Es war still,
nur der Bach rauschte.
„Ich hab, seit ich in die Schule gehe, nicht mehr an Gott
geglaubt“, sprach Gomulka wieder, und seine Rede war
verworren. „Ich kann auch nie mehr an Gott glauben... Aber daß
es den Teufel gibt, das glaub ich.“ Er sprach mit entstellter
Stimme: „Seit ich das heute gesehen hab... und wenn ich nun
denk, wie es werden wird mit Deutschland, dann hör ich meine
Mutter, wie sie mir früher einmal aus der Bibel vorgelesen hat:
Und in den Tagen werden die Menschen den Tod suchen und
nicht finden... und werden begehren zu sterben, und der Tod
wird vor ihnen fliehen... Und ich seh das Kriegsende... das fahle
Pferd, von dem es heißt: Und der daraufsaß, des Name hieß
Tod. Und die Hölle folgte ihm nach...“
Holt schauderte. Nun wußte er das Gefühl zu deuten, das ihn
seit Stunden nicht mehr losließ. Es war Todesangst. Er horchte
mit allen Sinnen in die Dunkelheit. Der Mond ging erst
frühmorgens auf. Das Rauschen des Baches deckte alles zu. In
einsamer Nacht, und auf verlorenem Posten.
Wolzow rief die Losung, noch ehe seine Schritte laut
geworden waren. „Was Neues? Nein? Es ist gleich eins.“ Er
stand regungslos. „Böhm hat sich hingelegt. Ich geh jetzt mal
zum dritten Zug. Wenn was ist... schießt lieber zu früh als zu
spät.“
Die Nacht sog ihn auf.

367
Es wurde empfindlich kalt. In der Dunkelheit leuchtete nun
blaß der weiße Nebel, der aus dem Bach stieg und langsam
über die Wiesen kroch. Gomulka flüsterte an Holts Ohr: „Ich hör
was!“ Holt starrte in die Nacht. „Dort vorn!“ Holt sah und hörte
nichts. Gomulka hob das Gewehr.
„Warte!“ Holt ging langsam den Weg entlang. Er dachte: Das
ist falsch, da kann Sepp nicht schießen. Aber er ging doch
weiter. Endlich blieb er stehen und lauschte. Nichts. Nur der
Bach rauschte. Holt drehte sich um und horchte nach Süden
über die Wiesen hin. Nichts.
Ein klirrender Schlag traf seinen Helm, glitt ab, traf die
Schulter, warf ihn hin, im Fallen drehte er sich um sich selbst,
dann traf ein zweiter, kraftvoller Kolbenschlag seinen Körper.
Der Klang einer gewaltigen erzenen Glocke dröhnte in seinen
Ohren, hob ihn hoch über das Tal, bis er das einsetzende
Schießen nur noch von fern vernahm, das Geschrei der
Kämpfenden, das Brüllen Wolzows, der den dritten Zug auf der
Brücke in einen Feuerhagel hineinführte. Aber das alles war
schon ausgelöscht. Ein großes, warmes Glücksgefühl erfüllte
ihn.

Heftiges Stoßen und Schaukeln löste unerträgliche


Schmerzen aus. Holt stöhnte. Er drehte den Kopf zur Seite.
„Lieg still!“ sagte Wolzow barsch. „Dir haben sie wahrscheinlich
etliche Rippen eingeschlagen.“ Holt lag auf einem Lastwagen.
Neben ihm röchelte jemand. Er schloß wieder die Augen. Sein
Kopf schmerzte, als wolle er zerspringen. Er wußte nicht, was
geschehen war. „Wo ist Sepp?“ fragte er schwach. – „Auch hier.
Hat einen Schuß im Arm. Mir ist einer durch die Wade
gegangen. Durch die Hand ein Bajonettstich. Lieg still, wer
weiß, was bei dir alles kaputt ist!“ Holt wälzte sich auf die
schmerzende Seite. So lag er besser. Das Röcheln neben ihm
war grauenhaft.
Der Wagen erreichte bald einen Verbandplatz. Dort nahm man
die Verwundeten nicht an. Auch der Hauptverbandplatz wollte
368
nichts von ihnen wissen und schickte sie fort. Der Wagen fuhr
weiter, immer weiter. Das Röcheln neben Holt verstummte. Erst
tief in der Nacht erreichten sie eine Stadt. Dort wurden sie
ausgeladen.
Holt wurde am Morgen geröntgt. „Schreiben Sie:
Röntgenaufnahme linkes Schultergelenk. Das Acromion zeigt
eine Infraktionslinie ohne irgendeine Dislokation...“ Und weiter:
„Röntgenbefund Thorax. Zwerchfelle glatt konturiert, Herz
normal konfiguriert, Fraktur dritte, vierte und fünfte Rippe im
Bereich der hinteren Axillarlinie ohne nennenswerte
Dislokation...“ Er wurde hinausgefahren und fand sich in einem
Bett wieder, in einem richtigen, weißbezogenen Bett. Das
Zimmer war klein. Eins der drei Betten war leer, in dem anderen
lag ein hohlwangiger, älterer Mann. Man sah durch das
geöffnete Fenster in den Garten.

„Das ist hier schon Protektorat, Kumpel“, sagte der Mann,


„hier kannst du ganz ruhig schlafen!“ Holt war stark benommen.
Am Abend stand eine junge Schwester in heller Tracht an
seinem Bett und fragte: „Wie alt sind Sie?“ – „Bald achtzehn.“ –
„Also siebzehn!“ rief sie teilnahmsvoll. „Haben Sie Schmerzen?“
Er drehte den Kopf zur Seite und sah hinaus in den dunklen
Abendhimmel.
Später kam sie abermals und gab ihm eine Injektion in den
Unterarm. „Morgen sieht alles schon wieder ganz anders aus!“
– „Wie heißen Sie?“ flüsterte Holt. – „Schwester Regine. Aber
jetzt wird geschlafen!“
Am anderen Morgen, nach der flüchtigen Arztvisite, humpelte
Wolzow durch die Tür, guter Laune wie lange nicht mehr. Er
hatte die Hose über das Nachthemd gezogen, das linke
Hosenbein war abgeschnitten. „Wie geht’s, alter Krieger?“ Er
setzte sich zu Holt aufs Bett. „Bei mir ist alles wie geölt durch
die Glieder gerutscht, saubere Fleischwunden, der Himmel
verläßt die alten Krieger nicht! Der Chefarzt wollte mich gar
nicht hierbehalten, ich sollte ins Garnisonsrevier, da hab ich
eben ein bißchen simulieren müssen!“

369
„Simulieren?“ rief der Mann in der Ecke und richtete sich auf.
Er war schrecklich abgemagert. „Und er hat’s nicht gemerkt?
Ich denke, die Ärzte merken es immer, wenn einer simuliert?“
„Ach wo“, sagte Wolzow. „Ich weiß Bescheid, die Frage ist
ausführlich untersucht worden, schon im Weltkrieg und noch
früher, steht alles in Peltzers ,Kriegslazarett-Studien’, glaub ich,
oder in Frölichs ,Militärmedizin’, ist ja egal. Ich hab gesagt, ich
könnte mich nicht erinnern, wie das alles passiert wär, ich hätte
plötzlich dagelegen und immerfort gebrochen, auch auf der
Fahrt hätt ich noch alles vollgekotzt, und so benommen war mir,
und dann hätt ich fürchterliche Kopfschmerzen, aber wenn ich
ganz ehrlich sein soll: ein bißchen hätten sie schon
nachgelassen, die Kopfschmerzen! Da hat er natürlich die
Diagnose auf schwere Gehirnerschütterung stellen müssen,
mindestens einundzwanzig Tage Bettruhe, was blieb ihm denn
anderes übrig?“
Holt mußte lachen, aber das Lachen schmerzte in der Brust.
„Wenn er dich hier erwischt!“ Wolzow schüttelte den Kopf. „Sind
ja bloß zwei Ärzte hier, die operieren jetzt. Der Chef operiert für
sein Leben gern; wenn es was zu operieren gibt, dann nimmt er
jeden auf! Das ist doch kein Lazarett hier, das ist ein ganz
gemütliches Kreisspital.“
Schwester Regine trat ins Zimmer. „Wolzow“, schalt sie.
„Durch das Haus laufen, das gibt es nicht! Sofort ins Bett!“ –
„Schwester“, sagte Wolzow, „wir sind ganz alte Schulfreunde,
ich kriech dort in das freie Bett!“ Sie zögerte einen Augenblick,
dann lächelte sie. „Schön. Da machen wir eben eine
Kinderstation auf.“ Wolzow empörte sich: „Kinderstation! Von
wegen...“ Sie befahl: „Sofort hinlegen!“ Sie gab Holt eine
Tablette. „Gegen die Schmerzen.“
„Wie hab ich das gemacht?“ fragte Wolzow. Der Hohlwangige
in der Ecke aber sagte aufgeregt: „Hör mal, Kumpel, also
weißte denn noch mehr solche Sachen, die was die Ärzte nicht
rauskriegen?“ Wolzow war zurückhaltend. „Da müßte ich erst
mal wissen, wie alt du bist und bei was für einem Haufen.“ –
„Landsturm“, sagte der Mann, „bis dreiundvierzig war ich g.v.H.,
dann haben sie mich bedingt k.v. geschrieben. Ich war in Prag
bei der Korpskommandantur, da sollte ich auf einem Gut in der

370
Slowakei ein Schwein abholen, ein gemästetes, für den
Korpsintendanten, die Sau, die hab ich mit ‘m Opel-Blitz geholt,
da haben sie mich zusammengeschossen, auf der Straße, grad
als das dort losging. Das Schwein war auch hin. Hier ist es wie
im Himmel, Kumpel! Es war ein glatter Lungenschuß, aber in
drei Tagen werd ich entlassen, das ist furchtbar, denn der
Korpsintendant soll so getobt haben, weil das Schwein
hingewesen ist, daß er mich wird an die Front schicken lassen.
Ich heiße August Meier, bin dreiundfünfzig Jahre alt,
evangelisch, verheiratet und hab vier Kinder. In der Partei bin
ich aber nicht, weil ich früher Sozi war.“
„August Meier!“ sagte Wolzow und lachte laut. „Ausgerechnet
August Meier, da ist deinen Eltern wohl nichts Gescheiteres
eingefallen, was? Also, alter Sozi oder was du da warst,
Stahlhelm, Volkspartei, war ja alles dasselbe, wenn du vierzig
wärst, dann wüßte ich ja nichts, da würde ich dich an die Front
jagen, aber mit dreiundfünfzig und vier Kindern, da will ich mal
nicht so sein, da werd ich dir eine Blinddarmentzündung
verpassen! Den Blinddarm hast du doch noch? Gut. Du mußt
nach der Operation die Sache schön in die Länge ziehn, da
kann man die Wunde eitern lassen und so, ich erklär dir das
alles. Du hebst dir sofort alle Butter auf, da brauchst
mindestens ein Viertelpfund...“ – „Hab ich“, sagte Meier, „sogar
mehr, ich schick sie immer nach Hause.“ – „Da kannst du ja
schon heute nacht operiert werden! Paß auf! Du bekommst
plötzlich Leibschmerzen, aber gräßliche! Du stöhnst und
verziehst das Gesicht, so sehr du kannst, du hast ganz
furchtbare Bauchschmerzen, und sie haben wie der Blitz aus
heitrem Himmel angefangen...“
„Aber wenn das so sehr weh tut“, sagte Meier mit verzerrtem
Gesicht, „dann ist es vielleicht nicht das Richtige...“ – „Du bist
dämlich!“ rief Wolzow. „Mensch, es tut ja gar nicht weh, du tust
doch bloß so, als ob es weh tut!“ – „Ja, richtig!“ sagte Meier.
Wolzow fuhr fort: „Grad wolltest du sehn, wie spät es ist, ob es
schon Zeit zum Schlafen ist, da war es drei Viertel neun oder
so, das wirkt immer sehr überzeugend, wenn man die Uhrzeit
noch weiß. Und der ganze Bauch tut dir weh, nicht bloß rechts,
vor allem in der Mitte, so unterm Nabel...“

371
Holt lag unbeweglich. Die Erinnerung kehrte zurück. Die letzte
Wache im Dorf. Der Kampf um die Schule. Die Slowakin. Das
RAD-Lager. Gundel. Die Feuernacht in Wattenscheid. Er schloß
die Augen,
„Ja, weiter!“ sagte Meier.
„Du legst dich nie auf die linke Seite, merk dir das, weil es da
noch schlimmer weh tut! Du ziehst das rechte Bein an, weil das
den Schmerz erleichtert, und wenn sie dir’s gewaltsam
ausstrecken, dann stöhnst du und ziehst es gleich wieder an.
Verstehst du?“
Ich hab es gesucht, das... Abenteuer, dachte Holt. Nun darf
ich nicht jammern und klagen, auch wenn ich darin umkomm.
Aber ich hab es mir anders gedacht: reinigend, befreiend, und
heroisch... nicht so sinnlos. Langemarck, wie es in den
Lesebüchern stand, war immer das Ideal, singend für
Deutschland in den Tod zu stürmen... Alle die Bücher fielen ihm
ein, er sah eine Seite mit gotischen Lettern aufgeschlagen vor
sich: „... halbaufrecht emporgeworfen die Handgranate mit
einem Jauchzen in das Maschinengewehrnest schleudernd...
im Schwung noch von der Kugel getroffen und niedersinken mit
dem letzten Gedanken:... Deutschland... Nahm den bitteren
Kelch mit stolzem Heldenlachen...“
Lüge! Die Bücher haben alle gelogen.
„Links tut’s nicht weh, beim Drücken, aber rechts... Dann
drückt er dir den Bauch ganz langsam tief rein, auch auf der
rechten Seite, und läßt plötzlich los...da schreist du ,Au!’. Und
wenn er wieder reindrückt, da merkst du nichts, aber wenn er
wieder losläßt, dann stöhnst du, was du kannst...“
Die Erinnerung an die Kindheit war heute klarer als sonst. Da
bin ich noch nicht zehn gewesen, da haben wir Krieg gespielt.
Ich hab gesagt: Wenn ich groß bin, dann will ich auch in den
Krieg! Nun hab ich, was ich mir wünschte.
„... damit das Blutbild stimmt, mußt du zwanzig Minuten vor
der Blutentnahme die ganze Butter auffressen, so schnell du
kannst. Schaffst du das?“ – „Ich denke doch“, sagte Meier. „Mal
so richtig Butter essen, warum nicht?“
Aber die Erwachsenen haben es zugelassen! Die haben mich
hineingetrieben. Sieh dir den Werner an, der wird bestimmt

372
einmal ein tapferer Soldat! Ich bin nicht schuld, ich wußte es
nicht besser. Die Erwachsenen hätten es besser wissen
müssen. Sie haben mich mit schönen Sprüchen auf den Weg
geschickt, auf diesen Weg.
„Und wenn du alles richtig machst, dann müssen sie dich
operieren, und kein Mensch kann dir was beweisen!“
Holt drehte das Gesicht zum Fenster. Das Laub in den
Baumwipfeln färbte sich braun. Wolzows Geschwätz drang
immer wieder in sein Bewußtsein. Am Morgen, als er erwacht
war, hatte er geglaubt, ihm sei die Flucht geglückt. Aber das
Leben folgte ihm nach. Es folgte ihm in Wolzows Gestalt, das
Leben, der Krieg. Wenn ich nicht wieder aufgewacht wär,
dachte er, dann war jetzt alles vorbei. Es war gar nicht schlimm.
Es war schön. Nur die Angst ist schlimm, vorher, aber das
Sterben ist sanft.
Wolzow wiederholte seine Anweisungen und paukte sie Meier
ein. „Am besten, wir machen’s gleich heute abend“, sagte
Meier, „weil du mir da noch helfen kannst!“
Holt hatte keine Schmerzen mehr. Die Benommenheit war
gewichen. Ein Gefühl der Gelöstheit und der Ruhe überkam
ihn. Die Ereignisse des letzten Jahres zogen wie Bilder an ihm
vorbei, Ereignisse, die jedes für sich nicht viel mehr als einen
Schock, vielleicht sogar nur ein Erschrecken bedeutet hatten,
doch nun, da er sie überschaute, waren sie
ineinandergeschmiedet wie die Glieder einer Kette, und diese
Kette band ihn an das Leben und gab ihn nicht frei.
Es begann mit der Marie Krüger, dachte er. Bis dahin war
alles leicht und klar. Als sie mir das von Meißner gesagt hat, da
fing es an. Dann, in den Bergen, hat einer erzählt, wie man in
der Ukraine Vieh requiriert und einen Bauern samt Familie
erschossen hat. Dann Uta: Es ist ja doch alles umsonst! Dann
Frau Ziesche und die unbeschreiblich dreckige Arbeit ihres
Mannes. Dann Vater: ... tötet die SS in den polnischen
Konzentrationslagern Hunderttausende... Dann die
Russengeschichte in der Batterie. Dann die Nacht in
Kutscheras Baracke. Dann Gundels Schicksal. Dann die
Slowakin. Dann die Sägemühle.

373
Ich weiß alles. Kommunisten werden hingerichtet, Juden mit
Giftgas erstickt, Kriegsgefangene geschlagen und zu Tode
gehungert, Polenkinder ins Reich verschleppt, Ukrainer ins
Ruhrgebiet deportiert, junge Mädchen erschossen, Partisanen
zu Tode gefoltert. Ich weiß es. Ich hab versucht, das alles zu
vergessen. Immer wenn ich es vergessen hatte, ist etwas
Neues geschehen. Es läuft mir nach, es drängt sich mir auf, ich
bin mittendrin, ich komm nicht mehr frei. Jetzt gibt es kein
Ausweichen mehr. Ich kann nicht mehr zurück. Ich muß durch
die sieben Höllen. Eher ist nicht Schluß, eher gibt es keine
Ruhe, kein Vergessen.
Ich weiß es nicht nur, dachte er, sondern: Etwas davon ist
auch in mir. Etwas? Ich mach alles mit. Wenn Böhm befohlen
hätte: Erschieß sie!, ich hätte sie erschossen. Wenn der gleiche
Befehl morgen wieder kommt... ich würde sie erschießen.
O mein Gott!
Aber der sie erschossen hätte, grübelte Holt, der war nicht ich
gewesen. Ich hatte ja Lessers Befehl, in der Nacht, ich hab ihn
nicht ausgeführt, ich hab sie laufenlassen, ich hab auch die
Russen in Schutz genommen, damals. Der da im Geist schon
visiert hat: zwischen den Schultern, etwas links, der bin nicht
ich gewesen. Doch wir beide, er und ich, wir werden
weitermachen, wie das Gesetz es befiehlt. Geradeaus schauen,
irgendwohin, und vorwärts, marsch!
Vielleicht muß das so sein... damit wir endlich wir selbst
werden. Vielleicht muß es so sein, daß alles dies erst über uns
selbst kommt: Elend, Zerstörung, Qual und Tod, in den
Bombennächten, und nun wohl bald überall, im ganzen
deutschen Land. Er lag im Dämmerschlaf.

„Wo ist Sepp?“ fragte Holt. „Wo ist Christian? Was war
überhaupt los? Gilbert, wo hast du den Bajonettstich her?“
Wolzow kaute, er sagte mit vollem Munde: „Sepp ist auch hier.
Christian? Der wird halt irgendwo rumkrebsen, froh und munter,
der überlebt uns alle, den hat der Schmiedling unsterblich
gemacht, von wegen ,Leiche’. Ich war mit ihm bis zuletzt
zusammen. Ich hätt ihm nie zugetraut, daß der mal so ein
eiskalter Hund wird.“ – „Wie sind wir in den Lastwagen

374
gekommen?“ – „Das war so: Die Doppelposten fielen ohne
einen Schuß. Schon waren sie im Dorf. Als die Knallerei
losging, war ich beim dritten Zug. Wir sind gerannt, was wir
konnten. Als wir am Bach waren, da hatten sie im Dorf schon
alles überwältigt, nur aus einem Gehöft hat es noch ein bißchen
geschossen. Sie haben uns nicht über den Bach gelassen. Wir
haben es zweimal versucht, aber sie haben uns
zusammengeschossen. Auf der Brücke hab ich auch mein Ding
verpaßt bekommen, durch den Stiefel. Sind wir also in die
Sägemühle, noch einundzwanzig Mann.“ – „Und der erste
Zug?“ – „Der hat draußen auf der Wiese gelegen und hat
zugeschaut. Wir haben die Mühle verteidigt. Ich hab einen
Melder losgeschickt, zum ersten Zug, über die Wiesen, später
noch einen, aber keiner ist durchgekommen. Wir haben die
ganze Nacht gekämpft. Zweimal waren sie bis im Hof und
einmal schon im Korridor, da mußten wir sie mit dem
Seitengewehr zurückwerfen, Vetter ganz vorneweg, wie ein
Wilder. Wir haben uns geschlagen wie die Berserker, für keinen
Kampfauftrag, für keinen Zweck, nur, damit sie uns nicht dort
schnappen, wo unten noch die ganze Sauerei herumlag. Das
hab ich den Leuten vorher gezeigt. Hier, hab ich gesagt, jetzt
wißt ihr, daß ihr bis zum letzten Tropfen Blut kämpfen müßt!
Haben sie auch getan. Aus Angst! Als es hell wurde, haben wir
zwar besser gesehen, aber da haben sie uns an den Fenstern
abgeschossen, daß man hätte seine helle Freude dran haben
können, so gute Schützen waren dort dabei. Bei uns wurde die
Munition knapp. Zuletzt waren noch neun Mann kampffähig. Ich
hab nur immer überlegt, was ich mach, daß sie mich nicht in der
Mühle erwischen. Schließlich kam eine Lastwagenkolonne von
Osten den Talweg entlang, da fuhren als Bedeckung drei
Schützenpanzer mit, Panzergrenadiere drauf, MGs und eine
Zweizentimeter, die haben sämtliche Gehöfte in Klump
geschossen und uns aus der Mühle rausgeholt, sozusagen in
letzter Minute. Der erste Zug hat unterdessen in den Löchern
gelegen und hat es knallen lassen, weil sie keinen Befehl
hatten, stell dir so was vor! Als es hell wurde, wollten sie ins
Dorf, aber auf dem offnen Gelände ist der Angriff natürlich
liegengeblieben. Als die Panzergrenadiere kamen, sind die

375
Partisanen in die Wälder. Es waren höchstens dreißig Mann,
aber alles Scharfschützen. Nun hör dir an, was dem Sepp
passiert ist. Er ist mit einem Schuß im Arm in das ausgebrannte
Gehöft gekrochen und hat sich im Keller versteckt, über ihm in
der Ruine haben die Partisanen ein MG aufgebaut und zu uns
in die Mühle gefunkt. Und die ganze Nacht hindurch haben sie
die Hingerichteten, die beim Wirtshaus lagen, in den Keller
getragen. Sepp hat sich hinter Gerumpel verkrochen, er ist fast
gestorben vor Angst. Dich haben wir am Talweg aufgelesen.
Ein Wagen hat die Verwundeten weggebracht, vier sind
unterwegs gestorben. Den Rest der Abteilung haben die
Panzergrenadiere auf ihren Wagen mitgenommen.“ Er
verschränkte die Hände unter dem Kopf.
Holt lag wieder mit geschlossenen Augen. Sepp hat es also
auch überstanden. Ich hab es überstanden. Wozu eigentlich?

Am frühen Abend begann Meier tatsächlich zu simulieren.


Wolzow leitete ihn an. Schwester Regine versah den Dienst,
wer weiß, wann sie einmal frei hatte. Sie stand an Meiers Bett.
„Aber nun strecken Sie doch mal das Bein aus!“ – „Nein!“
stöhnte Meier. „Da soll es ja noch mehr weh tun!“ – „Soso“,
sagte sie, „da will ich mal den Arzt holen!“
„War’s gut?“ fragte Meier. Wolzow rief: „Himmelhohes
Rindvieh, du darfst doch nicht sagen, es so!! weh tun, du mußt
sagen, es tut weh! Und wenn er dich abfühlt, dann mußt du
,Au!’ brüllen!“
Der Assistenzarzt, ein noch recht junger Mann mit starken
Gläsern in der dunklen Hornbrille, beugte sich über Meiers Bett,
wobei er Wolzow den Rücken zuwandte. Er schlug die Decke
zurück. Schwester Regine stand neben ihm „Tut das weh?“ –
„überall!“ ächzte Meier. Er drehte das Gesicht zu Wolzow hin.
Wolzow kniete im Bett und gab Meier Zeichen. Meier verstand
nicht. Er hatte offenbar so große Angst, als Simulant entlarvt zu
werden, daß er ganz leidend aussah. – „Tut es hier weh?“ –
„Stöhnen!!“ rief Wolzow ungeduldig. Meier stöhnte. Der Arzt
drehte sich herum. „Was ist denn mit Ihnen los?“ – „... tut der
Kerl“, sagte Wolzow rasch, „stöhnen tut der, daß einem ganz
bange wird!“ Der Arzt sagte unwillig: „Sie haben wohl schwache

376
Nerven!“ Dann untersuchte er weiter. „Tut das weh?“ – „Nein...
Au!!“ schrie Meier. – „Drehn Sie sich zur Wand!“ Meier wälzte
sich auf die linke Seite und stöhnte. – „Was ist denn?“ – „Es
tut... weil es immer mehr, auf dieser Seite“, stammelte Meier. –
„Einwandfrei“, sagte der Arzt zu Schwester Regine, „alles
hübsch beisammen, komischerweise keine Abwehrspannung,
die fehlt aber öfter mal. Rektal sparen wir uns, es ist
einwandfrei.“ – „Und brechen!“ sagte Meier zaghaft. „Vorhin, da
war mir so übel, und der ganze Bauch tut weh, nicht bloß
rechts!“
„Geben Sie ausnahmsweise Dilaudid“, sagte der Arzt. „Und
früh gleich fertigmachen und in den Opeh, der Chef operiert
grundsätzlich nicht im Intermediärstadium, ich seh ihn heut
noch und sage Bescheid. Aber vorher brauch ich den
Leukozytenwert, läßt sich das machen?“
Kaum hatte sich die Tür geschlossen, rief Wolzow: „Die Butter!
Rasch, friß die Butter auf!“ Meier holte mit zitternder Hand eine
gelbe Bakelitdose aus dem Nachttisch, fuhr mit zwei Fingern
hinein und strich sich die gelbe Butter in den Mund, wieder und
wieder. Dann warf er die Dose ins Schubfach und schluckte.
Die Augen quollen ihm aus den Höhlen. Er schluckte, er würgte.
„Nicht brechen!“ rief Wolzow. „Zwing’s runter!“ Meier preßte die
Hand vor den Mund. Er würgte immer qualvoller. Schwester
Regine trat ins Zimmer und machte sofort kehrt, aber als sie mit
einer Brechschale zurückkam, da hatte Meier es geschafft und
lag schweißnaß und erschöpft in seinem Bett. „Geht es jetzt
besser?“ fragte sie mitleidig. „Warten Sie, ich mach Ihnen erst
die Spritze zurecht!“
„Siehst du!“ sagte Wolzow triumphierend. „Der August Meier
wird operiert! Und dann schön die Wunde eitern lassen, du
mußt dir den Dreck von deinem Furunkel reinschmieren, das
haut hin! Aber jetzt müssen wir unbedingt erst noch zwanzig
Minuten vergehen lassen, am besten, ich bring dich solange
aufs Klo. Los, Tempo!“ Er sprang aus dem Bett, „Kumpel“,
sagte Meier, „das vergeß ich dir nie! Wenn der Krieg aus ist,
mußt du mich besuchen, du auch, Holt, ich hab ein Stück
Acker, da schlacht ich die beste Gans!“ Sie verschwanden
durch die Tür, beide im Nachthemd.

377
Schwester Regine sah erstaunt auf die leeren Betten. „Nanu?“
Sie legte die Spritze auf den kleinen Instrumententisch am
Fenster, dann stellte sie sich zu Holt ans Fußende des Bettes.
Es dunkelte. „Und wie geht’s uns?“ fragte sie. – „Danke. Ich hab
bis jetzt keine Schmerzen gehabt. Die Tablette war so schön
beruhigend.“ – „Sooo?“ sagte sie gedehnt. „Aber das will ich
nicht gehört haben, von wegen schön beruhigend, sonst gibt’s
nichts mehr, das war Eukodal!“ Wie sie an seinem Bett stand,
im letzten Tageslicht, erschien sie ihm ganz traumhaft und
unirdisch, in der hellen Tracht, mit dem Häubchen auf dem
blonden Haar. Er schaute sie an, schweigend, er dachte: Wenn
es Gerechtigkeit gibt auf der Welt, dann wird auch hinter ihrem
Rücken einmal einer stehen und wird visieren: zwischen den
Schultern, etwas links.
„Schwester Regine...“, sagte er, „Sie sind doch ein... guter
Mensch, bestimmt...“ Sie lächelte. „Was soll das?“ Er sagte:
„Aber es wird über uns alle kommen, auch über Sie.“ Sie neigte
den Kopf, dann setzte sie sich zu ihm auf die Bettkante. „Was
reden Sie!“
Er sah an ihr vorbei. Vor seinem Blick verschwammen die
Konturen des Fensters in der Dämmerung. „Ein Mädchen... wie
Sie“, sagte er, „genauso jung, eine Slowakin, auch blond... in
der Notwehr hat sie einen von uns totgeschlagen... er wollte sie
vergewaltigen. Dafür sollte sie erschossen werden. Wenn ich
den Befehl bekommen hätte... dann hätte ich es getan.“
„Aber... Sie haben es doch nicht getan“, sagte sie leise. „Da
können Sie doch ruhig schlafen.“
„Ich hab sie sogar laufenlassen“, sagte Holt kaum hörbar.
„Aber das zählt nicht. Denn ich hab gewußt, daß es nicht
rauskommt, sonst hätte ich nicht den Mut gehabt... Was ist
das?“
Sie saß lange stumm. Dann sagte sie: „Versuchen Sie doch...
zu beten!“
Er antwortete nicht. Er schüttelte den Kopf. Schicksal,
Vorsehung, Gott... Es regte sich in ihm wie Auflehnung: Ich will
keinen Gott! Die Menschen müssen daran schuld sein, vielleicht

378
weil sie unvollkommen sind oder wer weiß warum. Gott soll
nicht schuld sein, sonst wär’s zum Verzweifeln!
Sie stand in einem plötzlichen Entschluß auf und holte die
Spritze, nahm seinen Arm und stieß ihm die Nadel unter die
Haut.
Er wurde rasch müde. „Ich hab eine Bitte, Schwester Regine.
Kann morgen nicht Sepp Gomulka in Meiers Bett?“ – „Der
Oberarmdurchschuß?“ Sie nickte. „Aber nun müssen Sie
schlafen.“ Sie redete beruhigend auf ihn ein. „Es soll ein
Lazarettzug durchkommen. Er geht bis ins Reich. Ich will
versuchen, daß Sie mitgeschickt werden.“ Er lag mit
geschlossenen Augen. Sie strich ihm mit der Hand über die
Stirn. Er hörte im Einschlafen noch die rauhe Stimme Wolzows,
der Meier wieder ins Bett steckte.
Am anderen Morgen lag Gomulka tatsächlich am Fenster, das
Gesicht mit Pflastern beklebt, den Arm verbunden. Auf Holts
Fragen gab er einsilbig Antwort. Wolzow, der hier seit dem
Urlaub das erstemal wieder etwas wie gute Laune zeigte, sagte:
„Meier ist operiert! Der Chef hat sich das nicht entgehen
lassen.“ Holt döste vor sich hin. Erst am Abend, als die
Dämmerung ins Zimmer kroch, erwachte er aus seiner
Lethargie. Schwester Regine trat ihren Dienst an und fragte:
„Wie steht’s auf der Kinderstation?“ Sie kümmerte sich nicht um
Wolzows Protest, sie lachte und lehnte sich mit dem Rücken
gegen das offene Fenster. Holt fragte: „Was Sie gestern gesagt
haben von einem Lazarettzug, ist es wirklich wahr?“ – „Wir
erwarten ihn schon morgen“, sagte sie. „Sie dürfen mit. Ich hab
schon die Unterschrift.“ – „Aber wenn Sepp und Gilbert...“ – „Ich
hab mir’s gedacht. Bei Ihnen, Wolzow, hat der Doktor ein
bißchen die Stirn in Falten gezogen, dann hat er aber doch
unterschrieben. Ich soll Sie alle in eine Kinderklinik
überweisen.“ Sie lachte abermals. Wolzow knurrte: „Die paar
Jahre, die Sie älter sind als wir!“
Gomulka sagte auf einmal von seinem Bett her: „Daß wir hier
wegkommen, daß es uns überhaupt wieder so gut geht, das
haben wir gar nicht verdient!“ – „Verdient?“ Wolzow lachte. „Du
hast wohl Fieber! Seit wann geht denn so was nach Verdienst?
Beziehung braucht man! Diesmal hat der Werner die

379
Beziehungen. Wenn es um Weiber geht...“ – „Gilbert!“ rief Holt
böse. Wolzow fuhr ungerührt fort: „Sieht doch ein Blinder,
Schwester, wie der Holt Sie mit Schmus eingewickelt hat!“ Sie
stützte sich mit beiden Händen rücklings auf das Fensterbrett
und lachte, daß ihre Zähne blitzten. „Paßt es Ihnen nicht, wenn
ich Holt ein bißchen vorzieh? Ich zieh immer einen vor. Er brüllt
ja auch nicht so rum wie Sie und ist nett, nicht so ein
Landsknecht wie Sie!“
„Mit richtigen Schlafwagen reist ihr“, sagte sie am anderen
Tag und packte die Sachen zusammen. „Ich wünschte, ich
könnte mitkommen, aber ich darf noch nicht weg, erst wenn
meine Zeit herum ist, dann such ich mir daheim in Schwerin
was.“
Als die Krankenträger erschienen, hatte Schwester Regine
das Zimmer verlassen. Holt dachte, während er die Treppe
hinuntergetragen wurde: Ich hätte ihr gern auf Wiedersehen
gesagt...
Er bezog mit Gomulka ein zweibettiges Abteil. Wolzow lag
nebenan. Holt hörte ihn durch die dünne Abteilwand schimpfen:
„Nimm doch deine Knochen zur Seite, Döskopp!“ Das
Pflegepersonal war unfreundlich und mürrisch.
Am anderen Morgen erreichten sie Prag. Holt hatte nicht
geschlafen, die Schienenstöße bereiteten ihm Schmerzen.
Auch Gomulka fühlte sich elend. Zwischen Prag und Dresden
hielt der Zug oft und lange auf freier Strecke. Sie brauchten
vierundzwanzig Stunden bis Schandau, dort standen die
Wagen einen Tag lang auf einem Abstellgleis. Am anderen
Morgen erreichte der Zug endlich Dresden. Sanitätskraftwagen
brachten sie in ein großes Reservelazarett. Holt, Wolzow und
Gomulka lagen wieder Bett an Bett.
Man sah von den Fenstern hinab zur Elbe. Der Lazarettbetrieb
erinnerte eher an eine Kaserne als an ein Krankenhaus. Nach
wenigen Tagen sagte Wolzow: „Ich hab das satt. Ich meld mich
gesund!“ Am Nachmittag erhielt er einen Brief von Vetter. Der
Rest der Abteilung sei wieder in einem Lager, erzählte er.
„Vetter schreibt, er wird voraussichtlich Mitte Oktober
entlassen.“

380
Tags darauf stand Wolzow marschfertig an Holts Bett. Es war
das erstemal, daß sie sich trennten.

Gomulka sprach kaum noch ein Wort. Er lag in seinem Bett


und sah vor sich hin. Dann und wann besuchte ihn sein Onkel,
der hier in Dresden als Zahnarzt praktizierte. Holt las in den
Hölderlin-Gedichten.
Er gewöhnte sich schwer an das antike Versmaß. Nur wenige
der Gedichte erschlossen sich seinem Verständnis. Meist war
es nur eine Stimmung, die er nachempfand, eine tiefe
Melancholie. Doch Glanz und Wohllaut der Sprache berührten
ihn auch dort, wo er die Worte nicht verstand. Es gab Verse, die
sich ihm für immer einprägten, die zürnenden Worte des
„Jünglings an die klugen Ratgeber“ und stärker noch die Elegie
„An die Natur“. Er las, bis er die Strophen auswendig wußte.
Daß der Jugend Träume sterben, dachte er, das erleb ich jetzt:
Hoffnungen und Wünsche lösen sich auf, die Illusionen werden
fortgerissen wie ein Vorhang, hinter dem sich das Leben
verbirgt. Was bleibt zurück? Das einsame, frierende Ich, dem
es gegeben ist, auf keiner Stätte zu ruhen.
„Und Siegesboten kommen herab:“, las er, „Die Schlacht ist
unser!“ Das erschütterte ihn. „Lebe droben, o Vaterland, und
zähle nicht die Toten! Dir ist, Liebes! nicht Einer zu viel
gefallen...“ Könnte man doch so sprechen! dachte er. Könnte
man den Krieg erleben als furchtbare, doch reine und heilige
Aufgabe, wie man sich’s einmal erträumte... Wüßte man doch:
Es ist gerecht und darum sinnvoll und gut! Denn nicht der
Kampf ist unerträglich und furchtbar, nur die Sinnlosigkeit, das
Umsonst der Entschlüsse, das Unrecht der Taten... Wolzows
Kampf in der Mühle, dies erkannte er nun, war ein Symbol. Sich
schlagen ohne Auftrag und Zweck, nur um eine grauenvolle
Bluttat zu verbergen. Wer ist schuld, daß wir unsere Kraft,
unser Leben, alles, was wir besitzen, hinopfern müssen ohne
Sinn, daß wir umsonst und vergeblich kämpfen, nur um die
Nacht über tausend Sägemühlen festzuhalten?
So grübelte er, tagelang.
Er ließ sich in der Lazarettbibliothek Bücher geben und las,
was ihm in die Hände geriet, Bücher, die hier herumstanden

381
und nie gelesen wurden: Griechische Kosmogonie von Hesiod
bis zur Orphik, eine Abhandlung über Kants Antinomien der
reinen Vernunft, Goethes „Faust“ und viele Romane, Bände, die
wer weiß wie ins Lazarett gelangt waren.
Als er aufstehen durfte und auch Gomulka das Bett verließ,
kamen sie wieder miteinander ins Gespräch. An manchem
schönen Oktobertag wanderten sie durch die Anlagen des
Krankenhausgartens. Die Sonne wärmte nicht mehr. „Ich
überleg mir, wie’s nun weitergeht“, sagte Holt. Gomulka hob die
Schultern. „Woher soll ich das wissen?“
Rechtsanwalt Gomulka besuchte seinen Sohn. Er übergab
Holt einen Brief von Gundel. Dabei sagte er, in einem Ton, als
gratuliere er einem Mandanten zum Freispruch: „Was das junge
Mädchen betrifft, mein lieber Werner Holt, so sendet sie Ihnen...
Eigentlich“, unterbrach er sich, „müßte ich es sagen, aber man
darf hier wohl das Genus naturalis dem grammatischen
Geschlecht vorziehen... sendet sie Ihnen also dies hier mit den
allerbesten Wünschen für baldige Genesung. Meine Frau hat
recht viel Freude an Gundels gelegentlichen Besuchen.“ Als er
wieder abreiste und sich verabschiedete, beugte er sich zu
Holts Bett herab. „Übrigens... Sie brauchen nicht die geringste
Sorge zu haben. Es ist alles bedacht, in casum casus. Was
eventuell den Vormund erwartet, wird keinesfalls das Mündel
treffen, dessen versichere ich Sie!“
Holt las Gundels Brief, dankbar, aber auch beschämt. Die
Gedanken an Gundel hatten etwas Bedrückendes. Werde ich
ihr jemals wieder unter die Augen treten können? Ich darf ihr
niemals eingestehen, daß ich geschossen hätte, damals, auf
dem Schulhof... Der Gedanke war wie eine Wunde, die nicht
heilen will. Und wenn nun so ein Befehl tatsächlich... und wenn
ich ihn ausführe... Dann... Es sprach in ihm: Wie willst du
weiterleben, das Kainsmal an der Stirn?
Die Gedanken quälten ihn. Er sagte im Garten zu Gomulka:
„Ich muß dich was fragen. Als du auf dem Schulhof hinter dem
Hausmeister standst... wenn Böhm dir da befohlen hätte...“
Gomulka bewegte ablehnend die Hand. Holt verstummte.

382
„Ich weiß nicht, ob es viel Sinn hat, darüber nachzugrübeln“,
sagte Gomulka schließlich. „Drück dich nicht!“ sagte Holt.
„Hättest du ihn erschossen? Ja oder nein!“
„Damals: ja.“
„Und heute?“
„Heute...?“ Gomulka atmete rasch. „Ich würde auf Böhm
schießen! Ich würde um mich schießen! Ich war ja sowieso hin,
wenn ich den Befehl verweiger. Dann soll aber noch jemand
mitgehn von dem Gesindel, das uns so etwas befiehlt.“
Holt hörte die Stimme der Slowakin im Keller: Schlagt eure
Anführer tot! Er fragte atemlos: „Würdest du das wirklich tun,
Sepp?“
Gomulka schwieg: „Ich möchte“, sagte er dann. „Aber... ob ich
den Mut habe... Ich weiß nicht...“
„Ob es welche gibt, die so einen Befehl verweigern?“
„Ich glaub schon.“
Holt rief: „Aber wir müssen doch jeden Befehl ausführen! Das
ist doch das oberste Gesetz des Soldaten! Wo kam denn die
Wehrmacht hin, wenn wir Befehle verweigern! Befehl ist
Befehl!“
Gomulka lächelte. „Wo die Wehrmacht hinkam? Wo kommt sie
denn so hin, Werner! Und was du ,oberstes Gesetz’ nennst...
Da haben längst alle Gesetze ihre Gültigkeit verloren, nur
dieses eine nicht!“ Er holte aus der Brusttasche sein kleines
Notizbuch und blätterte darin. „ ,Es ist in keinem Kriegsgesetz
vorgesehen’“, las er, „ ,daß ein Soldat bei einem schimpflichen
Verbrechen dadurch straffrei wird, daß er sich auf seinen
Vorgesetzten beruft, zumal wenn dessen Anordnungen in
eklatantem Widerspruch zu jeder menschlichen Moral und jeder
internationalen Übung der Kriegsführung stehen.’ Wie findest
du das?“
„Das?“ sagte Holt verwirrt. „Das ist... die Genfer Konvention,
nicht?“
Da lachte Gomulka, bitter, verzweifelt. Er rief: „Denk an die
Sägemühle! Das hier... das hat Goebbels zu Pfingsten im
,Völkischen Beobachter’ geschrieben! Gemeint sind die
amerikanischen Flieger, die unsere Städte bombardieren.“
„Aber... das ist doch richtig!“

383
„Und wer bestimmt, was ein ,schimpfliches Verbrechen’ ist?
Und was ist ,menschliche Moral’? Überhaupt...“, höhnte
Gomulka, „,menschliche Moral’, das hätte uns der Ziesche um
die Ohren gehauen, Herrenmoral des nordischen Menschen
gibt es, sonst nichts!“
Heilloser Wirrwarr! Es fehlt irgendwas, dachte Holt, es fehlt ein
Maßstab...! „Ein Maßstab fehlt, Sepp“, sagte er, „an dem sich
messen läßt, was gerecht und ungerecht ist!“
„Jeder behauptet, recht zu haben“, antwortete Gomulka. „Es
kommt auf die Maßstäbe an. Es gibt einen sehr einfachen
Maßstab, Ziesches Maßstab: Wir Deutsche haben recht, immer,
auch in der Mühle, wir dürfen alles.“
„Aber so... kann es nicht sein.“
„Wenn du auf das hörst, was die... die bei uns sagen“, fuhr
Gomulka fort, „dann wirst da immer verwirrter, dann weißt du
gar nichts mehr. Die drehn alles so, als ob sie recht hätten.“
„Der Archimedische Punkt fehlt“, sagte Holt.
„Ja... Hast recht. Es muß etwas geben, wo keiner lügen kann.
Wo die Tatsachen sprechen. Wo man sagen kann: Sei ruhig,
hier ist der Beweis, du hast unrecht, du hast schuld. Der erste
Schuß ist es nicht, solche... äußerlichen Tatsachen kann man
organisieren, frisieren, verschleiern. Es muß etwas
Innewohnendes geben, etwas im Wesen der Welt.“
„Nicht vielleicht außer ihr?“ fragte Holt.
„Du meinst Gott? So sagen viele. Dauernd wird von Gott
geredet, von Vorsehung, Schicksal. Mir paßt das nicht. Die
Alten, Werner, wo sie etwas nicht wissen, da muß es auf einmal
Gott sein.“
„Früher war jedes Gewitter Gott“, erwiderte Holt, „und die
Cholera auch. Mein Vater hat gesagt, da war ich noch ganz
klein: Gott ist ein Virus... Das Unerkannte ist Gott, Sepp,
solange es unbekannt ist. Die Wissenschaft hat Gott schon den
Mantel ausgezogen und wird ihm auch noch das Hemd
ausziehen.“
„Aber am Krieg soll er schuld sein!“ sagte Gomulka. „Nein, das
ist ja genauso primitiv wie der ,Weltjude’, da kann sich auch
jeder darunter vorstellen, was er will.“ Er versank wieder in

384
Nachdenken. „Bis man’s weiß, muß man sich an das wenige
halten, was eindeutig ist.“
„An die Mühle?“ sagte Holt leise.
„Ja. Das genügt ja auch.“ Gomulka hockte trübselig neben
Holt auf einer Gartenbank. „Mein Vater“, sagte er noch, „der gibt
sich alle Mühe. Aber ich komm so schwer darüber hinweg, daß
die Alten uns das alles eingebrockt haben, und wir dürfen es
auslöffeln!“
„Und dürfen dran krepieren!“ sagte Holt.

Holt erhielt einen Brief von Wolzow. Wolzow saß, vom


Arbeitsdienst entlassen, in der öden Villa und spielte mit Vetter
Offiziersskat. Seine Mutter, schrieb er, sei nun endgültig in einer
Irrenanstalt untergebracht, nachdem sie noch „für eine
Offiziersfrau schandbare Dinge“ getrieben habe... Der Rest der
Klasse sei in die Winde verstreut. Für den 20. Oktober habe er
nun die Einberufung zur Panzer-Ersatz- und
Ausbildungsabteilung 26 erhalten, Vetter desgleichen. Auf dem
Wehrbezirkskommando habe er erfahren, daß der gleiche
Truppenteil auch auf Holt und Gomulka warte.
Holt erkundigte sich bei der Lazarettverwaltung. Dort lagen
schon für ihn und Gomulka die Gestellungsbefehle. In der
letzten Oktoberwoche wurden sie entlassen. Die Abteilung
hatte ihnen die alten Luftwaffenhelfer-Monturen nachgeschickt.
Sie waren laut Entlassungsbefund „k.v. Ersatzreserve I“
geblieben. Genesungsurlaub, wie sie erhofft hatten, gab es
nicht. Mit einem Personenzug fuhren sie von Dresden ostwärts.
Ein riesiges Kasernengelände nahm sie auf. Sie fragten sich
durch ein halbes Dutzend Schreibstuben zur Stabskompanie
durch. „Jetzt ist Mittag. Melden Sie sich nach zwei bei Leutnant
Wehnert. Raus!“ Auf einem Korridor kam ihnen Wolzow
entgegen, groß, finster, im Drillich, ein gefülltes Kochgeschirr in
der Hand.
Er freute sich. „Ich hab bestens vorgesorgt. Dem Revetcki hab
ich gesagt, wenn er die beste Korporalschaft haben will, dann
muß er unbedingt für euch Platz halten. Hat er gemacht.
Revetcki ist unser Unteroffizier. Ein Urvieh, halb Wildschwein,
halb Kasperle. Der Peter Wiese ist auch hier, den haben sie k.v.

385
geschrieben! Er hängt an allen Ecken und ist für die Ausbilder
der Fußabstreicher. Vetter ist natürlich auch dabei. Sind die
alten Krieger wieder schön beisammen!“
Draußen heulte es: „Woooolzow!“ – „Das ist er! Mal sehn, was
er will. Bin wieder so eine Art Adjutant. Unser Zugführer heißt
Wehnert, Leutnant, ganz junger Kerl, von der Napola,
leidenschaftlicher Soldat. Mal sehn, was Revetcki will.“
Holt sah sich in der Stube um und belegte eins der beiden
leeren Betten. Von dem darunterliegenden Strohsack erhob
sich ein baumlanger Mensch. „Stabsgefreiter Kindchen“, sagte
er. „Könnt ,du’ zu mir sagen. Bloß wenn ich mal dienstlich
werden muß, dann lieber ,Sie’. Bin hier Stubenältester.
Außerdem Schießunteroffizier.“ Er gab ihnen die Hand. „Ich hab
ausgesorgt“, erzählte er in leicht sächsischer Mundart,
„wunderbar steifes Knie, hält ewig, g.v.H. bis ans Ende dieser
Welt! Bin seit achtunddreißig Soldat.“ Er setzte sich wieder auf
sein Bett, dabei mußte er den Rücken krumm machen, so groß
war er. „Bin Fabrikbesitzer, ich mach feine Andenken, herrliche
Sachen, kleine Schweine mit ,Viel Glück’ und Steirerbuam mit
,Gruß von der Bastei’, auch Gartenzwerge. Unser
Kommandeur, Major Reichert, diese Sau, der ist Vertreter! Paßt
mal auf! Nach dem Krieg wird’s bei mir klingeln. Ich sitz grad
beim Frühstück. Wird meine Frau sagen: ,Fritzel, da ist ein Herr
Reichert!’ Nehm ich die Tasse. Trink. Gähn. ,Soll warten!’ sag
ich dann. Das wird herrlich!“
Holt warf den Rucksack aufs Bett. Es geht weiter, dachte er.

Holt war Rekrut. Er nannte sich Panzerschütze.


„Panzerschütze Holt!“ Er sang, ein MG über der Schulter, mit
rasselnden Stimmbändern: „Fern-bei-Se-dang! Auf-den-Höööö-
hen! Stand-ein-Pan-zer-schüüüü-tze-auf-der-Wacht!“ Alles
Bisherige war Spiel gewesen, Vorspiel, bloßer Auftakt der
militärischen Ausbildung. Nur selten noch dachte er nach. Die
Ausbildung war anstrengend, das Leben unmenschlich hart.
Aber der Panzerschütze Holt wünschte sich nicht mehr fort aus
386
dieser riesigen Kaserne, obwohl er sie wie ein Zuchthaus
verfluchte, aus der Nähe der Vorgesetzten, obwohl er sie
verabscheute. Er schickte sich in alles, in Drill und Dienst und
Schikane. Denn er hatte gelernt: Es wird immer noch
schlimmer, als es war. Diesmal stand die Front bevor, das
Inferno der Durchbruchsschlachten im Osten. Die 11.
Panzerdivision, für die man hier Ersatz ausbildete, gehörte zum
Ostheer. Und im Osten erbebte in diesen Wochen das Reich.
Also: wünsch dir nicht, daß es ans Rucksackpacken gehe!
Holt wurde als Panzerfunker ausgebildet. Sie durchjagten ein
umfassendes Ausbildungsprogramm. Funkgeräte,
Ultrakurzwellen- und Mittelwellensender, -empfänger. Funktion,
Bedienung des Gerätes, Abstimmen, Frequenzwechsel,
Sprech- und Tastfunk, Pflege und Wartung, Störungen. Täglich
zwei Stunden Morsen. Man zog des Nachmittags mit einem
zweirädrigen Karren los, worauf die Funkgeräte montiert waren,
zog auf die umliegenden Dörfer und suchte sich dort einen
windgeschützten Fleck, hinter einer Feldscheune oder auf dem
Hof eines Bauern. Dann ging es los. Funksprechverkehr. Kaum
hatte man ein warmes Plätzchen gefunden, schon trieb der
Befehl die Bedienung des Karrens wieder hinaus, die Chaussee
entlang, über die der Novembersturm pfiff.
An den Abenden paukte man Q-Gruppen, wie einst in der
Schule Vokabeln. QZL hieß „Spruch hat keinen Sinn“,
Merkhilfe: „Quatsch zum Lachen.“ Man sagte nicht mehr: „Wie
spät?“ Man fragte: „QTR“, „erbitte Uhrzeit!“ Man lernte den
Gebrauch der Funk- und Schlüsseltafel und des
Rasterschlüssels.
Ausbildung am Panzer, an veralteten, nicht mehr
einsatzfähigen Wagen, die aus Benzinmangel nie die
Fahrzeughalle verließen, an dem dreiundzwanzig Tonnen
schweren Panzer III. Aus- und Einsteigen, Ausbooten nach
Treffern, Ein- und Ausbau der Funkgeräte, Funker-MG und
Turmwaffen, Richt- und Ladeübungen an der Kanone. Einen
fahrenden Panzer, von den klapprigen, turmlosen Gestellen der
Fahrschule abgesehen, auf denen hinten klobige
Holzgasgeneratoren montiert waren, sah Holt in all den Wochen
nur ein einziges Mal. Das war, als sie, „Panzerüberrollen“

387
übten, in einem kleinen Erdloch, den Kopf zwischen die
Schultern gezogen, den Karabiner zwischen den Knien. Die
breite Kette des Panzers rollte über das Loch, deckte es zu,
drückte Sand und Erde hinein, gab es wieder frei. Holt tauchte
aus dem Erdreich, Sand in den Augen, und er mußte nun nach
Befehl hinten auf den abfahrenden Panzer springen... Dann
Waffendienst. Karabiner, Gewehrgranatgerät, die
Maschinengewehre 34 und 42, die Pistolen 08 und 38,
Maschinenpistole, Sturmgewehr 44, Stiel- und Eierhandgranate,
geballte und gestreckte Ladungen, Kriegsmittel zur
Panzerbekämpfung, Nebelkerze, Tellermine, Hafthohlladung,
Panzerschreck und Panzerfaust. Am strapaziösesten war die
Infanterieausbildung. Nachtorientierungsmärsche, tagelange
Quälereien im Zielgarten, gefechtsmäßiges Scharfschießen,
Dreieckszielen, Panzernahbekämpfung, Kriegspiel Gruppe
gegen Gruppe, wobei man die Platzpatronenvorräte des
Stabsgefreiten Kindchen verknallen durfte, auf freiem Feld oder
zu nachtschlafener Zeit in der Stadt, wo die Einwohner
ängstlich durch die verdunkelten Fenster lugten.
Nahkampfausbildung, Bajonettfechten, Infanteriespaten als
Waffe, Haltung des Gewehrkolbens beim Schlag, die
Handgranate als Schlagwaffe, MG-Schießen aus dem Lauf, die
eine Hand am Zweibein, die andere am Abzug. Man schrie
dabei aus Leibeskräften „Hurra!“. Gasausbildung, Gasplane,
Entgiften, Filterwechsel, Erste Hilfe. Und außerdem Unterricht
über zwei Dutzend Themen, Spionageabwehr,
Geschlechtskrankheiten, Panzererkennungsdienst, Taktik des
Panzerkampfes am Sandkasten.
Vierzehn Stunden täglichen Dienstes! Eins, in diesem Winter
des Jahres 1944, gab es nicht mehr: Exerzieren,
Kasernenhofdrill. Die Ausbildungszeiten waren immer wieder
verkürzt worden, und der Drill war in potenzierter Form in der
Infanterieausbildung enthalten. Zwei Stunden im Zielgarten
waren sechs Stunden Ordnungsdienst auf dem Kasernenhof
wert. Aber es gab keine Gewehrgriffe mehr, keine
Ordnungsübungen, nur ein paar Wendungen, ein wenig
Marschieren und Grüßen.

388
Sobald das Kasernengebäude verlassen wurde, war
„kriegsmäßiges Verhalten“ vorgeschrieben. Der riesige,
mehrere Hektar große Kasernenhof war gesprengt und in ein
künstliches Trichterfeld verwandelt worden, in dessen Mitte wie
ein drohendes Gespenst ein hundertmal ausgebrannter T 34
stand, ein grauenvolles Wrack, an dem man mit Nebelkerzen
und Übungspanzerfäusten ausgebildet wurde. Wer aufrecht aus
der Kasernentür trat, verfiel der Rache der Unteroffiziere. Selbst
beim Essenholen setzte man mit dem leeren oder gefüllten
Kochgeschirr gebückt und sprungweise durch die Trichter.
Die Ausbilder brauchten kein Exerzieren, um die Rekruten
„sauer zu machen“, wie der Fachausdruck hieß; man konnte
ihnen beim Infanteriedienst „zeigen, was Preußengeist ist“, „die
Gedärme rausleiern“, „das Gehirn ausschaben“, „die Seele
verdorren“. Der UvD sorgte dafür, daß es in den Stuben nicht
zu gemütlich zuging, und warf das Bettzeug nicht nur in der
Stube umher, sondern auch aus dem Fenster, zwei Stockwerke
tief hinab. Er kippte mit Vorliebe Spinde nach vorn ins Zimmer.
Man erlebte nachts den „Maskenball“, es gab das Scheuern
des Korridors mit Hand- oder Zahnbürsten, schamlose
Inspektionen bestimmter Körperteile, und es gab
Gewehrappelle, die Samstag am Abend begannen und
Sonntag am Abend endeten.
Holt ertrug es stumm, auch Gomulka schwieg zu allem. Vetter
stumpfte immer mehr ab. Wolzow nahm das alles als „Training
für die Front“, wo es „weit ungemütlicher“ zugehe. Der kleine,
schwächliche Peter Wiese aber verfiel körperlich und zerbrach.
Wolzow sagte ungerührt zu Holt: „Er geht drauf, so oder so. Nur
die Starken bestehen die Probe.“
Holt sah oft auf den schmächtigen Jungen. Er dachte: Drei
Monate Ausbildung, noch acht Wochen, noch vier Wochen...
Also hat er noch zwei Monate, noch einen Monat zu leben.
Wiese träumte vom Konservatorium. „Ich bin nun doch fest
entschlossen, Pianist zu werden! Vor allem Chopin und
Rubinstein möchte ich spielen... Ja, Rubinstein hab ich erst im
letzten Jahr entdeckt. Ich weiß nicht, was mir an ihm so gefällt.
Vielleicht, weil er in seinen Jugendwerken so ein...
Temperament hat, das mir selbst fehlt... Oder der Bai costume,

389
das müßte ich dir vorspielen, es ist unbeschreiblich! Du hast
recht, eigentlich liegt mir Schumann viel mehr, ich hab ihn
leidenschaftlich gern gespielt, aber er liegt mir eben zu sehr, bei
ihm verlier ich mich.“
„Da komm ich später in deine Konzerte“, sagte Holt. Wiese
sah auf die Uhr. „Ich muß Revetcki und Boek die Schuhe
putzen.“

Die beiden Gruppenführer des Ausbildungszuges waren der


Schrecken der Rekruten. Unteroffizier Revetcki nannte sich
einen „preußischen Korporal“. Wolzows Formel: „Urvieh, halb
Wildschwein, halb Kasperle“, war zu einfach. Revetcki war
unberechenbar, herzlos, gemein, manchmal affektiert und
albern, dann wieder roh und stumpf, gleichzeitig brutal und
triefend von Sentimentalität, heute so, morgen so und
übermorgen wieder ganz anders. Er war wortgewandt und
flüsterte in wohlgesetzter Rede, dann wieder brüllte er, wüst
und in schamlosen Ausdrücken. Er war von Beruf Schauspieler.
Er spielte immer Theater, und wie er wirklich war, wußte keiner.
Peter Wiese zitterte vor ihm, Holt nannte ihn einen
Wahnsinnigen, Gomulka sagte: „Er ist pervers!“
Er war Ende der Dreißig, klein, nur etwa einen Meter und
sechzig groß, von zierlichem Wuchs. Er pflegte sorgfältig seine
schlanken Hände und parfümierte sich. Sein Gesicht war
zerknittert, verfältelt; in der Mitte, über einem hölzernen roten
Mund, hing eine gurkenförmige Nase herab. Er konnte dieses
Gesicht zusammenfalten wie eine auf Leinwand aufgezogene
Landkarte, er konnte es strahlend ausbreiten wie ein
frischgewaschenes Laken. Aber sein Blick blieb kalt und böse.
Das Register seiner mimischen Verwandlungsmöglichkeiten
war endlos. Er sprach abwechselnd in Jamben, gereimt und im
übelsten Kasernenhofton. Sein Haarschnitt, eine lange,
dauergewellte Mähne, widersprach allen militärischen Sitten,
und auf diesem Bubikopf thronte das Schiffchen; unter der
Feldmütze quoll die Lockenpracht rings hervor. Es blieb ein
Rätsel, wie er diese Haartracht zu bewahren verstand. Vieles
war rätselhaft an ihm.

390
Holt hatte ihn am ersten Tage kennengelernt. Er war noch
keine halbe Stunde da und räumte seinen Spind ein, als sich
die Tür öffnete und ein Männchen in die Stube trat, das Holt am
liebsten für ein altes Weib gehalten hätte. Aber die
Schulterklappen eines Unteroffiziers ließen ihn Haltung
annehmen und brüllen: „Panzerschütze Holt meldet sich zum
Dienst!“ Der Unteroffizier hielt ein dünnes Rohrstöckchen in den
gepflegten Händen. „Unteroffizier Revetcki“, sagte er und
lächelte honigsüß. „Angenehm. Für mich! Ich bin Ihr Korporal.“
Er deutete ringsum. „Beim Eintritt hier laßt alle Hoffnung
fahren!“ Er drehte das Stöckchen in den Händen. „Dies ist mein
Korporalstock, bei mir wird noch geprügelt.“ Dann nickte er
wohlgefällig mit dem Kopf. Er ging zweimal im Kreis um Holt
herum und klopfte dabei mit dem Rohrstöckchen an die Schäfte
seiner Knobelbecher. „Ein schmucker Rekrut“, sagte er sanft,
„ein hübscher Rekrut, ei, welche Augenweide!“ Dann stand er
wieder vor Holt, seine zerknitterten Gesichtszüge ordneten sich,
er flüsterte mit einem drohenden Unterton: „Jetzt halten Sie
mich doch nicht etwa für einen Urning?“ Er schüttelte sich vor
Ekel. „Für homosexuell?“ – „Nein, Herr Unteroffizier!“ brüllte
Holt. Revetcki nickte. „O welches Glück, daß mich ein
Menschenherz begreift!“ deklamierte er mit hochgezogenen
Brauen. Sein Gesicht war wieder wüst zerknittert. Mit dem
Stöckchen deutete er auf Wolzow. „Der Wolzow weiß, daß ich
heterosexuell bin. Er kennt meine Alte, diese Toppsau, die mir
das Mark aussaugt!“ Sein Gesicht verklärte sich.
Holt glaubte zu träumen. Revetcki hüstelte. „Weitermachen!“
Dann ging er zur Tür. „Wenn Sie mit Ihren Mistsachen die
Stube verdrecken!“ schrie er plötzlich, und flötete: „Darin bin ich
komisch!“, und schrie: „Wenn ich nachher die Stube inspiziere
und finde Staub, dann sehen Sie keine Betten mehr, dann
sehen Sie keine Spinde mehr, dann sehen Sie keine Tische
mehr, dann sehen Sie keine Stühle mehr, dann sehen Sie nur
noch herumwirbelnde Hölzer!“
Das war Revetcki. Er war nicht immer so harmlos. Er war
tückisch: „Gomulka, Sie hinterlistiges Dreckstück, Ihre
Gedanken möcht ich lesen, Ihre Maske möcht ich
herunterreißen, das müßte mir Wollust sein, Sie zu entlarven,

391
Sie verkappter Meuterer! Aber warten Sie, ich schreib Ihnen
eine Beurteilung, daß Sie in der Strafkompanie enden!“ Er war
gemein: „Wiese, Muttersöhnchen, lasches Knäblein, puh, wann
schreiben Sie an Ihre Mammi... aber ehrlich! So, heute abend?
Das werd ich Ihnen vermanschen!“ Und am Abend nach
Dienstschluß: „Wiese, den Brief an Ihr Mütterlein bekommen
Sie nie fertig! Los, mein Drillich waschen!“ Und, so unglaublich
das war, er prügelte! Jemand gab beim Unterricht eine falsche
Antwort, Revetcki tobte, plötzlich wurde er sanft. „Heute abend,
mein Guter, da hol ich Sie zu einem kleinen Privatschliff, der
Himmel erbarme sich Ihrer! Und wenn Ihnen das Bauchfell
platzt!“ Er stellte sich vor das eingeschüchterte Opfer und
flötete: „Früher... lang ist’s her, in längst verschollnen Zeiten...
da war es einfacher, da wurde körperlich gezüchtigt! Mir ist das
verboten, da werde ich eingesperrt. Es sei denn, Sie bitten
mich, daß ich Sie aus Barmherzigkeit und Spaß verdresche!“
Meist hieß es sogleich: „Ich bitte darum, Herr Unteroffizier!“
Revetcki schrie: „Sie haben es alle gehört! Er wünscht es, und
es ist Spaß!“ Dann hieb er mit der Gerte los, auf die Hände, ein
böses Funkeln in den Augen, und sagte mit verzerrtem Mund:
„Du willst es? Gut, dann hau ich dich mit meinem Stecken
fürchterlich!“
„Das glaubt uns später kein Mensch!“ sagte Holt zu Gomulka.
Gomulka nahm Holt beiseite. „Revetcki war erst Hilfsausbilder
bei der Genesenenkompanie. Du weißt ja, die Leute aus den
Lazaretten werden ganz schön geschliffen. Dort hat er einen
alten Fronthasen zu Tode gehetzt. Der wollte sich krank
melden, weil er vor Leibschmerzen kaum noch geradestehen
konnte. Revetcki hat ihn deshalb durch den Zielgarten gejagt,
bis er zusammenbrach. Aber da war die akute
Blinddarmentzündung schon in die Bauchhöhle
durchgebrochen, und die Operation kam bei diesen Ärzten hier
viel zu spät. In der Genesenenkompanie hagelte es
Beschwerden. Revetcki wurde zwangsversetzt. Nicht an die
Front, nein, zu uns.“ – „Woher weißt du so was?“ fragte Holt.
Gomulka wich aus. „Erkundige dich. Ich sage dir, er ist pervers,
er ist ein Sadist. So was brauchen die hier.“

392
Neben Revetcki sank das Zerrbild des Unterfeldmeisters
Böhm samt allem Geschrei in der Erinnerung zu völliger
Bedeutungslosigkeit herab. Neben Revetcki konnte sich
Unteroffizier Boek, der zweite Gruppenführer, ein
Theologiestudent, nur gelegentlich seiner schrecklichen
Jähzornausbrüche rühmen, annähernd so gehaßt und
gefürchtet zu sein. Zwei Gefreite, die als Hilfsausbilder tätig
waren, gaben nur die Kulisse für die Auftritte Revetckis ab.
Revetcki war zudem der Scharfrichter des Zugführers. Der
geschniegelte Leutnant war kein Rekrutenschleifer. Er sagte,
wenn er auch vor Wut kochte, leise und beherrscht: „Ich mach
mir doch an euch nicht die Finger schmutzig! Revetcki, nehmen
Sie diese fünf Mann! Machen Sie die Leute fertig! Bis zum
Zusammenbrechen!“ Revetcki führte die Delinquenten in ein
schweres Gelände beim Zielgarten, wo es Gräben, Hecken,
Hohlwege und Hügel gab, oder auf das Trichterfeld des
Kasernenhofes, spitzte die Lippen und flötete: „Dies sind die
Tage, von denen wir sagen, sie gefallen uns nicht, Prediger
zwölf, Vers eins.“ Dann wanderte er langsam über den Acker,
die Hände mit dem Stöckchen auf dem Rücken, und ließ seine
Opfer im Laufschritt um sich herumlaufen und ließ sie unter der
Gasmaske brüllen: „Zicke-zacke-zicke-zacke-hei-hei-hei!“, bis
ihnen der Atem verging. Revetcki hatte es dabei nicht eilig, er
wußte, daß unter der Maske bei genügender Bewegung jedem
die Luft knapp wurde. Es gab körperliche Zusammenbrüche.
Holt sagte nach einer solchen „Sonderbehandlung“: „Es ist das
gemeinste, das es gibt!“ Der Leutnant aber pflegte zu sagen:
„Den Kerlen zittern ja bloß ein bißchen die Knie! Revetcki,
machen Sie die Brüder doch gleich noch mal fertig, sonst
denken die, hier ist ein Sanatorium!“
Das ärgste an Revetcki war, daß er die Rekruten zu
erniedrigenden Schaustellungen mißbrauchte. Das bekam Holt
zu spüren. Ein zeitiger Winter mit viel Schnee und harten
Frösten brach herein. In der Schneewüste des Zielgartens,
draußen, zwischen den Hügeln, wurden die fünf Stunden
Infanteriedienst zu einer Strapaze. Eines Tages zogen sie
wieder zu dem berüchtigten Übungsgelände hinaus. Holt
marschierte an der Spitze des Zuges, ein MG über der Schulter,

393
Vetter war Schütze 2 und schleppte ein paar mit Platzpatronen
gefüllte Munitionskästen. Dann lagen sie hinter dem MG im
Schnee. Holt sah in der Nähe die bullige Gestalt des
Oberfeldwebels Burgkert, in einem verdreckten Fahrermantel;
er trieb sich mal hier, mal da herum, man sah ihn gelegentlich
mit einem Waffenrock voller Orden, man wußte nichts von ihm,
als daß er der Liebling des Abteilungskommandeurs sei und
etwas wie Narrenfreiheit genieße. Er sah verkommen aus und
bewegte sich stets in einer Wolke von Schnapsdunst. Jetzt
stand er bewegungslos auf der Anhöhe, wo sie am zugigsten
war, und schneite ein; schon reichte ihm die Schneewehe bis
an die Knie. Holt blickte auf ihn. Er überhörte einen Befehl
Revetckis. Revetcki sprang zu ihm hin. „Laufwechsel!“ Er
stoppte die Zeit. „Fünf Sekunden!“ Holts Hände waren klamm
vor Kälte. „Zehn Sekunden... Fünfzehn...“ - „Fertig!“ rief Holt.
„Schlecht, sauschlecht, hundsmiserabel!“ schrie Revetcki.
„Unfähig, faul, träge, minderwertig! Schwein, Dreckschwein,
Wildschwein, es hat eine Sekunde zu lange gedauert!“ Holt
rührte sich nicht. „Jetzt schleif ich dich zum Krüppel! Los,
aufstehen!“ Holt erhob sich. Revetcki umkreiste Holt zweimal.
Dabei schlug er mit dem Rohrstöckchen an die Schäfte seiner
Stiefel. „Ich weiß was Besseres! Sie werden den Himmel darum
bitten, daß mir im Kriege kein Leides geschehe! Sie werden
täglich für mich beten! Sie melden sich mit Vetter heute abend
bei mir.“

Eine Stunde vor Zapfenstreich stieg Holt mit Vetter die Treppe
zum dritten Stock hinauf, wo die Zimmer der Unteroffiziere
lagen. Revetcki wohnte mit Boek und einem ruhigen, älteren
Unteroffizier namens Winkler zusammen. Revetcki lag im
Trainingsanzug auf seinem Bett. Er hatte sich viele bunte
Kissen in den Rücken geschoben und hielt die Hände auf der
Brust gefaltet. Unteroffizier Boek saß am Tisch, rasierte sich
und grinste erwartungsvoll. Unteroffizier Winkler lag schon im
Bett. Revetckis Gesicht zuckte. „Ich wünsche ab sofort
allabendlich ein Nachtgebet zu hören“, sagte er. „Ich habe mich
entschlossen, fromm zu werden, weil ich unter euch Teufeln

394
Gefahr laufe, ein Leben zu führen, welches Gott nicht
wohlgefällig ist. Holt, sagen Sie das Gebet auf!“
Boek feixte.
„Und Vetter, Sie beten anschließend mohammedanisch“,
befahl Revetcki, „falls Allah größer als Jehova ist!“
Holt besann sich nicht länger und sagte, was ihm gerade in
den Sinn kamt „Ich bin klein, mein Herz ist rein...“
Revetcki schrie schon los: „Wahnsinniger! Irrsinniger!
Schwachsinniger! Nennt Er das ein Nachtgebet für einen
preußischen Korporal?“ Er äffte nach: „Ich bin klein... Will Er
seinen Korporal wegen seines geringen Wuchses verhöhnen?“
„Nein, Herr Unteroffizier!“
„Ab!“ schrie Revetcki. „In einer halben Stunde wieder hier! Mit
einem ordentlichen Gebet! Es muß zwei Teile haben! Der erste
Teil muß traurig sein, daß ich an meine vielliebe Mutter denken
und weinen kann! Der zweite Teil muß kernig sein, wie dies für
einen Soldaten sich geziemt! Los, ab!“
Holt sagte draußen zu Vetter: „Er ist geisteskrank! Er ist ein
geisteskranker Narr!“ – „Ach wo“, sagte Vetter, „der hat bloß
seinen Jux mit uns, weil wir doch alles tun müssen!“
In der Stube berieten sie. Die Anteilnahme war groß, denn
schon morgen konnte es jeden anderen treffen. Das Problem
wurde mit Kindchens Hilfe gelöst. „Drei Zigaretten, und ich
mach’s! Ich kann dichten, ich hab schon als Junge
Festzeitungen geliefert, Hochzeitsgedichte und so!“ Er nahm
Papier und Bleistift. „Zwei Teile? Erst ernst, dann kernig?“ Er
schrieb. Er fragte: „Was reimt sich denn gleich auf Furz?“ –
„Sturz!“ rief Wolzow. „Kurz!“ schrie es aus einer Ecke. Kindchen
war rasch fertig, las vor und erntete Beifall. Holt prägte sich die
zusammengereimten Zeilen ein. Kindchen witterte ein Geschäft.
„Wenn er jeden Abend so ein Gedicht haben will, und ihr
bestellt sie bei mir wochenweise, dann geb ich bei sieben Stück
dreißig Prozent Rabatt, sagen wir: fünfzehn Zigaretten die
Woche.“
Holt und Vetter meldeten sich wieder bei Revetcki. „Der Abend
sinkt“, begann Holt, „die Sterne scheinen, der Mond am Himmel
leuchtet mild.“ Revetckis Gesicht verklärte sich. Holt fuhr fort:
„Die Mütter in der Heimat weinen an ihrer Söhne trautem Bild.“

395
– „Schön!“ flüsterte Revetcki. „O so schön!“ Holt überlegte
verzweifelt, wie es weitergehe. „Fern tönt des Glöckchens süß
Gebimmel. Der Herr verhüte deinen Sturz.“ Revetckis
Augenbrauen zuckten. Holt vollendete: „Ruh sanft. Es schenke
dir der Himmel gesunden Schlaf und guten Furz!“
Unteroffizier Boek schlug ein brüllendes Gelächter an.
Revetcki schrie: „Vetter! Auf die Knie! Das Gesicht gen Mekka!
Los, heulen Sie wie ein Derwisch: Allah il Allah!“ Vetter zeterte
mit erhobenen Armen: „Aaalah il Aaalah!“
Holt sah abwechselnd auf Revetcki, dessen Gesicht eine
unbekannte Begeisterung ausstrahlte, auf Vetter, der einen
kläglichen Anblick bot, und auf Boek, der vor Lachen zu bersten
drohte, beide Hände zwischen die Schenkel preßte und schrie:
„Hilfe, ich... schiff mir... in die Hose!“
Holt sagte nachher zu Wolzow: „Ich soll jeden Abend
kommen. Muß ich das?“ – „Mußt du nicht“, sagte Wolzow.
„Beschwer dich, du wirst todsicher recht bekommen. Aber
überleg dir das hundertmal. Die Ausbilder sehen dann einen
Spielverderber in dir.“ Holt beschwerte sich nicht, obwohl er
sich deshalb verachtete. Revetcki führte diese abendlichen
Szenen dem Unteroffizierskorps der Stabskompanie vor.
Kindchen lieferte Gebete, die am Anfang immer mehr von
Sentimentalität trieften und deren Pointen immer lasziver
wurden. Dann hatte Revetcki die Sache satt und erklärte, weiter
ein „gottlos lüderliches Leben“ führen zu wollen.
Der Stabsgefreite Kindchen sagte: „Du hast doch Abitur, Holt.
Da mußt du nach dem Krieg Kritiker werden! Da gehst du in die
Stadt, wo der Revetcki am Theater ist, und schreibst in der
Zeitung: ,Der Statist Alois Revetcki, dieser mittelmäßige
Komparse, verfügt nicht annähernd über die notwendigen
Gestaltungsmittel, eine Rolle mit Leben zu erfüllen.’ Dann gibst
du ihm den Rest: ,Revetcki erwies sich wieder einmal als
äußerst zweifelhafte Errungenschaft, auf die der Herr Intendant
hätte verzichten müssen!’ Sieh mal, ich hab eine kleine Fabrik,
und unser Alter, der Reichert, also der hat mich mal ganz
hundsgemein schleifen lassen. Von Beruf ist er Vertreter. Und
nach dem Krieg...“ Und wieder einmal erzählte er, wie er sich
nach dem Krieg am Kommandeur rächen wolle.

396
Der Führer des Ausbildungszuges, Leutnant Wehnert, war
einundzwanzig Jahre alt, groß und schlank, blond und
blauäugig. Seine schwarze Uniform mit den silbernen
Totenköpfen auf den Spiegeln war immer peinlich sauber und
gebügelt. Wehnert sprach oft über sich selbst: „Ich bin Soldat
durch und durch!“ Oder: „Ich bin ein politischer Soldat... Wir
glühenden Nationalsozialisten“, sagte er, „kennen nur ein
Gesetz: die Treue zum Führer!“ Er sprach gern und oft. „Das
deutsche Volk hat den wertvollsten Zug seines Wesens, die
nordische Treue, für das Linsengericht des welschen
Humanismus hingegeben. Der Führer macht diesen
verderblichen Tausch rückgängig. Es muß wieder gelten:
Unsere Ehre heißt Treue! Das nenne ich deutsche
Wiedergeburt.“ Er sprach nicht nur gern, er sprach auch
fließend. Er zitierte oft „Mein Kampf“ und noch öfter Rosenbergs
„Mythos“. Er war NSF-Offizier. Mit Leidenschaft hielt er
„wehrpolitischen Führungsunterricht“. Wehnert, fand Holt, ließ
sich mit Ziesche vergleichen. „Vergeßt nie die strahlende
Mission, die wir Deutschen erfüllen!“ sagte er. „Seit zwei
Jahrtausenden sehnt sich die Menschheit nach Erlösung. Die
Welt wartet auf den Heiland. Wir, Volk der Deutschen, sind der
Heiland. Aber wir lassen uns nicht, wie jener falsche Erlöser,
ans Kreuz schlagen. Wir schlagen die anderen ans Kreuz.
Unser Evangelium heißt Macht.“
Zu den Rekruten pflegte er zu sagen: „Panzerschütze
Reimann! Sie sind nur ein Stück Dreck! Sie werden die Gnade
nie begreifen, in dieser Zeit leben zu dürfen. Niemals wird die
Erleuchtung über Sie kommen, welche Ehre es ist, für Adolf
Hitler zu sterben. Sie leben stur dahin, fressen, saufen. Sie sind
Dünger für den Acker, den wir Nationalsozialisten mit dem
Schwert pflügen, damit das Reich wachse und gedeihe.“
Er hatte zwei Steckenpferde: Vorträge über Themen wie „Der
Held und die Geschichte“, „Das Deutschtum und der heldische
Gedanke“ und Kriegsspiele am Sandkasten. Er führte eine
Reihe von Liedern ein, die von der SS gesungen wurden:
„Kamerad, wo bist du“ lautete das eine, es kam etwas von einer
„kleinen Freundin“ darin vor. Peter Wiese sagte zu Holt: „Die

397
Sentimentalität dieser Lieder ist verlogen!“ Holt war das
gleichgültig. Er schrie, was die Lungen hergaben, denn wenn
der Gesang klappte, ließ man sie in Ruhe marschieren. Das
war das wichtigste.
An der Front war Leutnant Wehnert nur kurze Zeit gewesen,
ein paar Wochen in Frankreich. Wolzow sagte: „Reden kann er
sehr schön. Mal sehn, was an der Front aus seinem ,heldischen
Gedanken’ wird. Was er sagt, unterschreib ich. Er könnte mein
Ideal sein. Aber ich werde das Gefühl nicht los, er trägt eine
Maske, und in Wirklichkeit... Also abwarten!“ Einmal gerieten
sie aneinander. Wolzow prahlte mit seinen militärischen
Kenntnissen. Wehnert rief: „Sie sind ein Angeber, Wolzow! Ich
habe schon manchen großmäuligen Feigling gekannt.“
Wolzow sagte am Abend: „Großmäuliger Feigling... Das laß
ich mir nicht bieten!“
Wenige Tage später war im Zielgarten das erste Werfen mit
scharfen Handgranaten. In der Deckung eines Gebüsches
händigte Revetcki Holt eine Stiel- und eine Eierhandgranate
aus. Holt mußte sie schärfen, dann steckte er die
Stielhandgranate durchs Koppel und kroch über das Feld zu
dem Schützenloch hin, wo Leutnant Wehnert wartete.
Der Leutnant, in dem engen Loch dicht an Holts Seite, erklärte
noch einmal: „Es wird nicht gezählt! Es wird abgerissen und
geworfen.“ Etwa zwanzig Meter vor dem Loch war ein Pfahl als
Ziel in die Erde gerammt. „Los!“ Holt schraubte den Stiel auf,
die Schnur mit dem Porzellanknopf fiel in seine Hand. Er riß ab
und warf. Leutnant und Rekrut duckten sich tief ins Loch, die
Druckwelle der Detonation fegte über sie hin. Holt warf auch die
Eierhandgranate.
Wolzow saß inmitten der Gruppe im Gebüsch und wartete. Er
schwang wie üblich große Reden. „Die Wirkung einer
Handgranate ist gering“, sagte er. „Es handelt sich vor allem um
eine moralische Wirkung.“ – „Sie sollen heute noch verspüren“,
deklamierte Revetcki, „wie tief moralisch mein Privatschliff
wirkt!“ Wolzow schwieg. „Los, ab!“ befahl Revetcki.
Wolzow kroch ins Loch, wo Wehnert wieder seinen Spruch
aufsagte: „Es wird nicht gezählt, es wird abgerissen und
geworfen.“ – „Jawohl“, sagte Wolzow. Dann warf er die

398
Stielhandgranate. Als er sich die Eierhandgranate
zurechtmachte, fragte er: „Ich bin doch recht unterrichtet: der
Zünder brennt fünf Sekunden?“ - „Quatschen Sie nicht. Werfen
Sie!“
Wolzow schob umständlich den Ärmel des Mantels und der
Feldbluse hoch, legte das Zifferblatt seiner Armbanduhr frei,
sah den Leutnant an und riß den Zünder ab. Dann hielt er die
Eierhandgranate in der Faust und blickte auf die Uhr. „Noch vier
Sekunden...“ – „Wolzow!“ schrie der Leutnant in Todesangst. –
„Noch zwei Sekunden... noch eine...“ Der Leutnant sank
zusammen, grau im Gesicht. „Weg!“ schrie Wolzow und
schleuderte die Eierhandgranate von sich, sie detonierte in der
Luft, Sand peitschte ins Loch.
Wehnert zitterte. Auch Wolzow zitterte nun. „Herr Leutnant, eh
Sie mich das nächste Mal ,großmäuligen Feigling’ schimpfen,
da sehn Sie sich meine Ahnentafel an.“
Nur Holt und Gomulka erfuhren von dieser Begebenheit.
Wolzow sagte: „Nun muß ich abwarten, ob er Tatbericht
einreicht.“ – „Warum forderst du ihn so heraus?“ fragte Holt. –
„Das verstehst du nicht. Von Wehnerts Beurteilung hängt meine
Offizierslaufbahn ab. Ich muß schnell Unteroffizier werden.
Entweder er macht mich jetzt fertig, oder... Ich glaub, ich hab
ihm imponiert.“ Er nahm Holt beiseite: „Wie ihm in dem Loch
das Zittern gekommen ist... Jetzt bin ich sicher. Alles Fassade!
Der macht sich was vor, der redet sich was ein, weil er Angst
hat! Der Wehnert fällt um!“
Holt antwortete nicht. Er sprach mit Wolzow eigentlich nur
noch über den Dienst. Wolzow wurde immer härter,
rücksichtsloser, von vielem, was Holt bewegte, durfte er nichts
wissen. Holt hatte sich nie mit ihm über die Erlebnisse in den
Karpaten ausgesprochen. Er ließ sich von Wolzow
mitschleppen, aber die Entfremdung wuchs.

Leutnant Wehnert reichte keinen Tatbericht ein, sondern zog


Wolzow mehr und mehr vor. Wolzow wurde sein
Lieblingsrekrut. Die Spiele am Sandkasten taten ein übriges.
Die Ausbildung sah dann und wann Unterricht über „Taktik des
Panzerkampfes“ vor; das Thema beschränkte sich auf

399
Formationsfahren, Marsch- und Gefechtsformation,
Geländekunde. Wolzow aber schlug mit Wehnert im
Sandkasten wahre Mammutschlachten, Schachkämpfe der
Strategie, wobei er den Leutnant mittels klangvoller Phrasen
einkesselte und vernichtete. Er lieferte ein klassisches Cannae
nach dem andern, vereinigte seine getrennten Truppen mehr
als einmal mustergültig auf dem Schlachtfeld – „Das Höchste,
was ein Feldherr zu leisten vermag!“ – und meldete dann, mit
schräggelegtem Kopf: „Herr Leutnant, ich muß schachmatt
sagen! Ihre beiden Kampfgruppen dort, die dürften inzwischen
längst verschossen haben!“
Holt ließ sich gern als Helfer heranziehen, er hörte geduldig
Wolzows ausgefallene historische Parallelen an. Der
Sandkasten war zehn mal fünf Meter groß, ringsum führten ein
paar Holzstufen empor. Wenn ein solches Spiel bevorstand,
befahl Wehnert Holt und Vetter zu sich und ließ sie eine
vielgestaltige Landschaft aufbauen, mit Flüssen, Bergen,
Wäldern und Städten. Am Nachmittag wies er dann Revetcki für
die vorgeschriebenen Formationsübungen eine schäbige Ecke
an und rief Wolzow zu sich. „Ich hab uns da ein schönes
Problem aufgebaut. Sie haben Rot. Ich hab Blau und greife an.“
Er verteilte die Figuren, kleine Panzer, Schützenpanzer,
Kanonen aus Kunststoff, Symbole für größere Einheiten. Holt
stand mit einem zwei Meter langen Zeigestab dabei, um die
Figuren zurechtzurücken. Wehnert hockte geschniegelt auf der
obersten Treppenstufe. „Ich bin mit starken Panzerkräften
überraschend durch Ihre Linien gebrochen, mit zwei
Panzerkorps, Infanterie, Artillerie und so weiter. Meine
Reserven sind Ihnen unbekannt. Sie haben keine bedeutenden
Reserven.“ Wolzow maulte: „Immer muß ich mit unterlegenen
Kräften operieren, und dann kritisieren Sie, daß ich
Ermattungsstrategie treibe! Wie sieht es denn in der Luft aus?
Darf ich rauchen?“ Wehnert nickte. „In der Luft reichen die
Kräfte gerade aus, jeweils die eigenen Erdtruppen zuverlässig
abzuschirmen, das vereinfacht das Problem etwas.“ – „Hier, die
Stadt, soll das meine Hauptstadt sein?“ – „Ja. Legen Sie los.“ –
„Nein“, sagte Wolzow unlustig. „Ich muß doch erst mal sehn,
wohin der Stoß zielt!“ Leutnant Wehnert zog die Spitze eines

400
Panzerkeils näher an die Stadt heran. „So. Abend des vierten
Angriffstages.“ Wolzow überlegte lange, ging um den
Sandkasten herum und rauchte. „Ich beginne meinen
Aufmarsch. Ich brauch acht Tage. Rücken Sie inzwischen
weiter vor... Nein, Herr Leutnant, nicht gar so schnell, ich hab
dort immerhin ein paar feste Orte und Artilleriekräfte, mit denen
müssen Sie erst mal fertig werden. Bis an den Fluß, weiter
kommen Sie in den acht Tagen nicht.“ Wolzow stellte seine
Figuren auf und erklärte: „Ihr Angriff zielt auf meine Hauptstadt,
die Situation ähnelt der Lage in Frankreich Juni 1940.“ Wehnert
sah mit wachsendem Erstaunen zu. „Was ist denn los? Das ist
doch Unsinn! Wollen Sie Ihre Kräfte nicht zur Verteidigung der
Hauptstadt ansetzen?“ – „Wo steht denn geschrieben, daß ich
meine Hauptstadt unbedingt decken muß, Herr Leutnant? Da
werden Sie aber auch nicht eine Literaturstelle finden. Das
kann ich doch machen, wie ich will! Ich hab eine starke
Garnison dort, die wird natürlich alarmiert.“ – „Und wollen Sie
mir nicht den Flußübergang verwehren? Das ist doch die letzte
Barriere vor Ihrer Hauptstadt!“ – „Ich werd doch nicht wegen so
einem bissel Flußsand meine besten Divisionen opfern!“ sagte
Wolzow. „Hier, hinter meiner Hauptstadt, stell ich ein
schwaches Korps auf, das kann jederzeit zur Verstärkung der
Besatzung eingesetzt werden. Ich erklär meine Metropole zur
Festung, die müssen Sie belagern, Herr Leutnant!“ Wehnert
zog seine Panzerspitzen bis an den Fluß. „Ich kämpfe mir den
Flußübergang frei und setze über!“ – „Bitte!“ sagte Wolzow.
„Ziehen Sie gegen die Hauptstadt, das kann mich gar nicht
irremachen. Ich marschier in Ihrer Nordflanke auf, mit der
Hauptmacht meiner Panzer- und Infanteriedivisionen, da wolln
wir doch mal sehn, ob Sie wagen, weiter vorzugehn!“
Nun überlegte der Leutnant, verblüfft über die Wendung, die
das Spiel nahm. Wolzow fuhr fort: „Wenn ich Ihnen meine
Panzerdivisionen überstürzt in den Weg werfe, werde ich
geschlagen und bin erledigt. So haben Sie sich das nämlich
gedacht.“
Der Leutnant schwieg, noch immer betroffen. „Aber daß Sie
mir einfach den Weg freigeben, ist das nicht gegen alle
Regeln?“ – „Regeln, was man darf und was man nicht darf“,

401
erklärte Wolzow großsprecherisch, „gibt es in der Strategie
überhaupt nicht. Grundprinzipien, ja, aber sonst gilt nur eins:
das jeweils Bestmögliche zu tun. Moltke hat die Strategie ein
System von Aushilfen genannt. Bis Moltke hat es geheißen: Ein
Feldherr muß als Wichtigstes seine Basis sichern, muß Flanken
und Rücken decken, muß seine Kräfte zusammenhalten, soll
vor der Schlacht Masse bilden, soll vordringlich auf die
feindliche Hauptarmee marschieren... Ein Feldherr soll und ein
Feldherr muß und so weiter, das waren im neunzehnten
Jahrhundert unumstößliche Gesetze. Moltke hat gegen alle
diese Gesetze verstoßen und hat trotz dieser Riesenfehler
gesiegt. Da hat schon Schlieffen die Frage gestellt: War das
bloß Glück? Es war mehr. Es war eben Moltkes System von
Aushilfen.“
„Gut, gut“, sagte Wehnert. „Jetzt muß ich also eine Aushilfe
finden. Sie sollen sich verrechnet haben, daß ich Sie dort in
Ihrer Bombenstellung angreife. Ich lasse Ihren Aufmarsch in
meiner Flanke stehen, natürlich drehe ich Teilkräfte nach
Norden ein, im übrigen stoße ich weiter auf Ihre Hauptstadt und
beginne sofort mit der Belagerung. Holt, rücken Sie mal die
ersten acht Abteilungen heran!“ Wolzow überlegte. Dann zog er
seine Panzer im Bogen nach Osten. Wehnert sagte: „Ja...
aber...“ - „Ging heut schnell, was? Sehn Sie, was jetzt
passiert?“ Wehnert starrte auf den Sandkasten. Sein Gesicht
rötete sich. „Ich bin aber doch stark genug, um einen Stoß in
den Rücken aufzufangen! Ich beziehe hier in der Hügelgegend
mit starken Teilkräften eine feste Rückenstellung.“
Wolzow grinste ungeniert, „überall starke Teilkräfte! Teilkräfte
drehen nach Norden ein, Teilkräfte beziehen eine
Hügelstellung, Teilkräfte belagern meine Hauptstadt; und mein
Panzerkorps, Herr Leutnant, das schick ich jetzt auf Urlaub, für
Ihre Teilkräfte reicht meine Garnison! So will Moltke ja nun auch
nicht verstanden sein! Ihre Teilkräfte überrenn ich, wo ich will!“
Wehnert sah verblüfft auf Wolzow, der nun fragte: „Darf ich was
Grundsätzliches sagen? Ihnen schwebte so etwas wie Cäsar
bei Alesia vor. Die Deckung einer Belagerung gegen
Entsatzheere ist eine der schwersten Aufgaben für den
Feldherrn, dabei ist schon vielen großen Männern eine Pleite

402
passiert, und gelungen ist es nur wenigen.“ Er zog sein
Taschenbuch. „Erstmalig wurde das Problem von Cäsar gelöst.
Als die Gallier mit Übermacht den Vercingetorix entsetzen
wollten, gab er die Belagerung Alesias nicht auf, sondern
schloß sein Belagerungsheer selbst mit Wall und Graben ein.
Moltke hätte das eine geniale Aushilfe genannt. Ob so was
heute überhaupt noch möglich ist, das ist sehr fraglich.
Immerhin ist es den Russen bei Stalingrad gelungen, Mansteins
Entsatzversuch abzuweisen, ohne die Belagerung aufzugeben.
Aber der Wunsch, bereits errungene Vorteile nicht
preiszugeben, hat zum Beispiel 1683 dem Kara Mustapha den
greifbaren Sieg gekostet! Er konnte sich nicht entschließen,
seine Janitscharen gegen Karl von Lothringens Entsatzheer zu
werfen, aus war’s! Ähnlich ging’s dem preußischen Friedrich,
als er mit Teilkräften nach Kolin zog. Richtig hat es Napoleon
gemacht. Er hat 1797 die Belagerung von Mantua aufgegeben
und bei Rivoli, Corona und La Favorita die Österreicher
vernichtet, woraufhin ihm Mantua von selbst zufiel. Ich habe
hier den Fehler vermieden, den Napoleon 1813 gemacht hat.
Napoleon“, sagte er mit unüberbietbarem Selbstbewußtsein,
„hätte wie ich sein Heer seitlich von Paris aufstellen müssen, da
hätten es die Preußen nie gewagt, ein Korps auf Paris gehen
zu lassen! Sie haben es gewagt. Wären Sie gegen meinen
Aufmarsch nach Norden eingedreht, da hätte ich es sehr
schwer gehabt.“
„Sie haben ein phänomenales Gedächtnis, Wolzow“, sagte
Wehnert, „das hilft natürlich viel, wenn man solche
Präzedenzfälle im Gedächtnis hat. Ich mach Sie zum
Unteroffizier, ich schick Sie auf Offizierslehrgang. Erst müssen
Sie natürlich durch den Schmelztiegel der Front. Denn Sie
dürfen nicht denken“, meinte er, während er das helle Koppel
zurechtrückte, „daß militärisches Wissen allein die Führernatur
ausmacht, dazu gehört selbstverständlich mehr, und nicht jeder
wird Leutnant!“ Er nickte. „Sehen Sie mich an. Härte bis zur
Grausamkeit, unerschütterlicher Glaube an die großdeutsche
Sendung, und vor allem bedingungslose Treue zum Führer
über den Tod hinaus... Das sind die wichtigsten Eigenschaften
eines nationalsozialistischen Offiziers.“ Er deutete auf den

403
Sandkasten. „Morgen sind Sie vom Infanteriedienst befreit, da
spielen wir noch einmal durch, wie es gekommen war, wenn ich
Ihre Hauptmacht angegriffen hätte.“ Wolzow schrie: „Jawohl,
Herr Leutnant!“

Leutnant Wehnert hielt Unterricht. Thema: „Ist Rasse


Schicksal?“ Holt saß im Unterrichtsraum stets weit hinten,
neben Peter Wiese. In seinem Rücken lümmelten sich Wolzow
und Vetter auf den harten Schemeln. Wehnert trat hoch
aufgerichtet vor die Rekruten hin, in seinem Rücken thronte
Revetcki auf dem Katheder, ein Auge halb geschlossen, das
andere weit aufgerissen und den Blick starr in den Raum
gerichtet. Wehnert trug das runde Parteiabzeichen an der
Panzeruniform. Der Blick seiner kalten Augen ging über die
Rekruten hinweg. Er hielt die Hände auf dem Rücken.
Jetzt konzentriert er sich, dachte Holt. Er stützte die
Ellenbogen auf die Tischplatte, aber Revetcki zog drohend eine
Augenbraue hoch.
„Ist Rasse Schicksal?“ fragte Wehnert mit klingender Stimme.
Holt dachte gespannt: Ob er jetzt endlich mal erklärt, was er
unter Schicksal eigentlich versteht? Immerfort Schicksal,
Herrgott, Vorsehung...
„Das Schicksal einer Rasse bedeutet Selbstbestimmung“,
begann der Leutnant. „Denn das nordische Blut...“ Holt war
unaufmerksam. „... jeder einzelne daran Anteil hat...“, hörte er,
„... die Möglichkeit, von sich aus zur Wiedervernordung unserer
Nation beizutragen... nordische Rasse und...“
Nordische Rasse, dachte Holt, noch keiner hat jemals erklärt,
was das eigentlich ist, die „nordische Rasse“, weder Kutschera
noch Ziesche, noch Lesser. Er erinnerte sich an seinen Vater.
Es lag weit zurück. Holt hatte gehört, wie sein Vater mit
irgendwem über die Rassentheorie gesprochen hatte.
Menschenblut in vier Gruppen, A, B, AB und 0, dachte er jetzt,
noch etliche Untergruppen. Aber Eskimoblut, Japanerblut,
Schwedenblut, Indianerblut, da ist kein Unterschied, nur diese
Gruppen. Was meinen die also mit nordischem Blut, was soll
man sich darunter vorstellen?

404
„Soll das deutsche Volk sich seiner rassischen Aufgabe klar
bewußt werden, muß ihm eine auserwählte Führerschicht, ein
neuer Adel des nordisch reinen Bluts, vorangehen, sagt einer
unserer Rassenforscher.“
Holt dachte: Vater hat gesagt, das ist alles Religion,
Aberglaube, Spuk, fauler Zauber. Aber er hat es nicht zu mir
gesagt! Zu mir, dachte er bitter, hat er gar nichts gesagt, mich
hat er laufen lassen, ins Elend, ins Unglück!... Die ständige
Wiederkehr des „nordischen Blutes“ in Wehnerts Rede reizte
ihn. Alles Quatsch, dachte er. Aber warum? Wozu dieser ganze
Rassen-, Blut- und Nordmenschzauber? Das müßte man
wissen!
„...daß die Rasse letzten Endes ein Mysterium ist“, sagte
Leutnant Wehnert. Holt nickte unwillkürlich. „Man kann sie nicht
erkennen, nur fühlen. Der Verstand faßt sie nicht, nur das
Gefühl... durch die Rasse kann die heutige Welt den heldischen
Gedanken zurückgewinnen.“ Wieder überkam den Leutnant
jene eifernde Beredsamkeit. Holt beobachtete den Offizier mit
Skepsis und Mißtrauen. Wozu das?
„... und zwar nur im nordischen Blut: die Germanen oder die
Nacht, das ist heute wie einst die Losung.“
Die Rekruten dösten. Nur wenige hörten zu. Der Leutnant
sagte: „Das Leben des Helden ist das Leben, das wir uns
erstreben, das Leben der nach Beute und Sieg lüstern
schweifenden blonden Bestie. Wir können nur dadurch Helden
sein, daß wir unser Jahrhundert zum Beginn einer neuen Welt
gestalten. Denn der Held steht immer in den Anfängen der
Welt. Sein Gegenbild ist der Nachfahr. Darum hassen alle
Späten das Heldische.“
Es ist klar, daß es keinen interessiert, dachte Holt. Wenn er
sagen würde, wie der Krieg weitergeht, dann würden alle
zuhören. Außerdem hat er das Wesen des Helden schon ein
paarmal erklärt.
„In der Kindheit ist der Held faul und lebt für sich. Es gibt eine
heldische Faulheit.“
Wolzow stieß Holt in den Rücken und flüsterte: „Ich! Ich! Aber
genau!“

405
„Heldische Faulheit ist Ruhen in sich selbst: gutmütig,
wortfaul, gleichgiltig...“ Er sagte gleichmütig. „... bis dann der
Berserkergang kommt, dieser urmenschliche Ausbruch von
Kraft und Kampflust...“
„Jawohl“, flüsterte Wolzow in Holts Rücken. „Vier Wochen faul
wie die Pest, aber dann mal richtig dreschen!“
„...erlebt der Held als Jüngling seine Einsamkeit, bis ihm als
Mann die Einsamkeit des Helden Stolz und Kraft...“
Vetter nickte ein, aber Wolzow stieß ihn in die Seite.
„Darum liebt der Held das Meer und die Fahrt im
Wikingsdrachen, darum steigt er hinauf ins Gebirg. Droben fühlt
er sich ewig, den Aaren des Anfangs gefreundet, und spürt,
was einzig ihn ausfüllt: zeitlose Macht! Held und All, das ist der
tiefste Blick in den Tag des Geschehens.“
Den Aaren des Anfangs gefreundet? Jetzt ist er ganz groß in
Fahrt! Komisch, ich hör ihm zu und hör jedes Wort und hab
doch keine Ahnung, was er eigentlich redet!
„Der Held hat’s gewagt, ein Schicksal zu leben, den Tod nicht
zu fürchten und vielen verhaßt zu sein. Er kennt seinen
Reichtum, er reckt seine Arme und schreitet hinein. Daß noch
alles zu tun ist, daß rings ein Anfang und überall Bestätigung
glänzt, das ist die heldische Zuversicht, die nur der Reine kennt,
der Edelgeborene.“
Und vielen verhaßt zu sein! Holts Gedanken irrten ab. Das soll
also etwas Großes, Heldisches sein, wenn man sich vielen
verhaßt macht...?
„Es ist seltsam bestellt mit dem Schicksal des Helden...
Revetcki!“ rief Wehnert plötzlich, und ein Ruck ging durch die
Zuhörer. Das Gesicht des Leutnants war zornrot. „Menke, Hintz,
Otzdorf und Pleß! Daß Sie mir nachher die Schweine
fertigmachen, Revetcki, bis sie röcheln! Im Unterricht schlafen!
Ihr undeutsches Gesindel, ich treib euch den inneren
Schweinehund aus!“
Jetzt hat er todsicher den Faden verloren, dachte Holt,
während er dem Leutnant aufmerksam ins Gesicht sah, aber er
kann fortfahren, wo er will, es paßt immer alles überall.

406
„Es ist seltsam bestellt mit dem Schicksal des Helden“,
wiederholte der Leutnant „Begreifen wir ihn und seine
Schicksalsschau, so begreifen wir ihn und seine ganze Welt.“
Schicksal, immer wieder Schicksal, dachte Holt: Was ist
Schicksal?
„Der heldische Haß, o dieser Griff Thors um seinen Hammer,
daß die Knöchel der Hand weiß werden, diese Herrlichkeit
heldischen Hassens, prasselnd in die Welt, daß den Starken in
ihren Wäldern der Atem stockt! Erst seit der Haß, der heldische
Haß wieder gelehrt werden darf, ist ein Anfang über
Deutschland.“
Nach dem heldischen Haß kommt immer die heldische
Sittlichkeit, dachte Holt.
„Aus der edlen Entfesselung der Sinne, die eine alte Zeit
gekannt hat, sind die vielerlei Unzuchtsverfahren des
Genießers geworden. Die Unzucht früherer Zeit...“ – die
Aufmerksamkeit hob sich – „... war ein Erlebnis, hatte ihren
eigenen Spaß, ihr schenkelklatschendes Pathos und ihre
bunten Galgenvögel, die etwas opfern konnten, damit es
herrlich am Morgen in einer Gosse endete...“
Vetter räusperte sich laut.
„So mag sein wildes Blut den Helden in den Urstreit
schleudern des Geschlechtlichen und mag ihn ringen lassen
um den Sinn von Mann und Weib, der zu erleben ist, nie zu
erklügeln! Und fessellos ausbrechen will das Geschlechtliche,
darin liegt die Fragwürdigkeit der Ehe für manche Männer
heldischen Blutes...“
Jetzt hörten die Rekruten tatsächlich zu. Man schaute
gespannt auf den Leutnant. Aber Wehnert kehrte zur
heldischen Rasse zurück, und das Interesse erlosch. Auch
Holts Aufmerksamkeit ließ nach.
„Die heldische Rasse... Blutserfahrung eines jeden einzelnen
sollte sie sein... Spricht der Führer: Die Sünde wider Blut und
Rasse ist die Erbsünde dieser Welt... Alle Werte der Welt
geschaffen von nordischen Menschen... Das klassische
Griechenland eine Großtat nordischer Rasse, das Römerreich
eine Rassentat nordischer Größe... Die italienischen Künstler

407
sind nordischen Blutes... Nordischen Blutes waren Voltaire
und...“
Jetzt kommt die heldische Schönheit, dann ist er fertig, dachte
Holt.
„... nicht nur der begabteste, auch der schönste Mensch ist der
Mensch nordischer Rasse. Da steht die schlanke Gestalt des
Mannes aufgerichtet zu siegreichem Ausdruck des Knochen-
und Muskelbaus... da blüht der Wuchs des Weibes auf mit
schmalen gerundeten Schultern und breiter geschwungener
Hüfte... So sind die nordischen Menschen als der Schmuck der
Erde erschienen, als die strahlenden Kömmlinge aus der
Freude der Schöpfung.“
„Amen“, sagte jemand ganz leise. Das war Gomulka.
„Uns aber“, rief der Leutnant, „denen das Ahnen erschlossen
ist um Würde und Wunder der Rasse, uns bleibt eine
elementare Pflicht zu erfüllen. Wer aus tiefster Seele an die
Sendung des nordischen Helden glaubt, der kann nie wanken
und nie weich werden, wenn der Befehl auch dem Verstand
unfaßbar ist, dem Verstand, der nur die Äußerlichkeit begreift,
während der Glaube allein das Wesen erschließt.“
Wie war das? Wenn der Befehl auch dem Verstande unfaßbar
erscheint... ja, jetzt begreif ich!
„Das Schicksal des Helden ist seine Rasse, der Mythos vom
Reich sucht gläubige Herzen. Es ist nicht die Kraft des
Verstandes, die das Reich erbauen wird, sondern die heldische
Zuversicht, die Selbstbeherrschung, auch wenn der klügelnde
Verstand sich meldet. Der Führer schrieb: Wenn unserer
Jugend etwas weniger Wissen eingetrichtert worden wäre, so
hätte sich das für Deutschland vielfach gelohnt. Der Weg zum
Endsieg heißt nicht Denken–Wissen–Kritik, sondern Schicksal–
Mythos–Glaube! Die heldische Größe zeigt sich im Gehorchen
und im Handeln. Des Führers Partei schuf die Grundlage, die
Partei, von der der Dichter singt: ,Aus dem Sumpf und seinen
Niederungen stieg die Partei mit ihren Gliederungen...’“
Holt hörte nicht mehr hin. Jetzt begreif ich, wozu das erfunden
worden ist, dachte er, und der Gedanke nahm ihm den Atem:
Rasse, nordisches Blut, Arier, Übermensch, heldische

408
Zuversicht... damit ich die Slowakin erschossen hätte, ohne mit
der Wimper zu zucken!
„Im Kampf um das Reich gilt keine Moral! Unser Dichter
Hanns Johst spricht: ,Es läßt sich aus einer Moral aber kein
Glauben gewinnen, nur aus dem Glauben eine Moral.’ Aus dem
Glauben an die Urkraft der Rasse wuchs unsere Moral. Wo
Glaube ist, so spricht Hanns Johst, dort ist Allmacht! Und wo
Allmacht ist... ist das Reich und die Herrlichkeit!’“ – „... in
Ewigkeit, amen...“, flüsterte Gomulka.
„Achtung!“ brüllte Revetcki. Die Rekruten sprangen auf.
Leutnant Wehnert verließ kerzengerade den Raum. Die Tür fiel
hinter ihm ins Schloß.
„So!“ sagte Revetcki. „Dienstschluß? Nein, Essig! Ich habe
gesehen, daß ihr allesamt gepennt habt.“ Er lief vor den
Tischen auf and ab und klopfte mit dem Stöckchen an seine
Stiefel. „Warum spiegeln eure Visagen keine heilige
Ergriffenheit? Warum glotzt ihr mich an wie tote Karpfen?“ Er
brüllte: „Jetzt werdet ihr einen Berserkergang erleben, ihr
dreckigen Kömmlinge, bis ihr bei lebendigem Leibe verwest!
Jetzt treib ich euch die heldische Faulheit aus, ich werd euch
fessellos schleifen, bis es herrlich am grauen Morgen in einer
Gosse endet! Ihr sollt den tiefsten Blick in den Tag des
Geschehens tun! Los, in drei Minuten feldmarschmäßig und...
Gaaaas!“
Sie rissen die Masken heraus, Revetcki führte sie auf das
Trichterfeld des Kasernenhofes. „Jetzt treibe ich WF-Unterricht“,
sagte er, „daß die Knöchel weiß werden!“ Boek grinste
begeistert. „Karabiner im Vorhalt! Hüpft heldisch Häschen-hüpf,
Hunde, hübsch durch die Trichter! Reckt die Arme und schreitet
hinein!“
Er ließ sie erst nach einer Stunde auf die Stuben.

Die trübe, gedrückte Stimmung der Rekruten besserte sich


überraschend, als am 19. Dezember die Nachricht von der
Ardennenoffensive eintraf. Wehnert und Wolzow standen bis
409
tief in die Nacht am Sandkasten, wo sie die Landschaft
zwischen Schneifel und Hohem Venn aufgebaut hatten. Holt
mußte seinen Schlaf opfern und mit dem Zeigestock die kleinen
Panzer zurechtsetzen. Wehnert wußte mehr Einzelheiten, als
der Wehrmachtsbericht meldete. Wolzow studierte die Karte,
stocherte mit dem Finger im Sandkasten herum und sagte: „Die
Offensive ist nach allen Regeln der Kriegskunst angelegt!“
Einen Tag vor Heiligabend standen sie das letztemal am
Sandkasten. Bis zum Jahresende klangen die Berichte vom
Fortgang der Offensive optimistisch. Dann brachen jegliche
Illusionen zusammen.
Wenige Tage vor Weihnachten wurden sie vereidigt. Es war
eine flüchtige Zeremonie, die an den Rekruten ohne Eindruck
vorüberging. Nur Wolzow nahm sie ernst. „Jetzt sind wir
vereidigt“, sagte er, „jetzt haben wir bis zum letzten Blutstropfen
zu kämpfen, was auch kommen mag!“
Revetcki kündigte die Abteilungs-Weihnachtsfeier an: „Ich
habe euch ab sofort seelisch zu läutern, damit ihr in der hohen
Nacht der klaren Sterne mit schuldlosem Antlitz vor das heilige
Jesulein tretet!“
„Seelisch läutern?“ sagte Holt. „Schleifen meint das
scheinheilige Aas!“
Revetcki trat in die Stube. „Wiese! Öffnen Sie sofort Ihre
Halsbinde!“ Wiese gehorchte. Revetcki besichtigte einen Spind.
Dann fuhr er Wiese an: „Das ist un-möööglich! Der Kerl läuft mit
offener Halsbinde herum! Dafür werden Sie sechs Stunden
sonderbehandelt! Machen Sie sich fertig, ehe ich Sie
fertigmache, schreiben Sie noch ein paar Zeilen an Ihre
Hinterbliebenen!“
Peter Wiese wurde bleich.
Revetcki sagte: „Oder wollen Sie ein Ablaßbriefchen kaufen?
Was machen Sie in der stillen, heiligen Nacht mit Ihren
Schnapsmarken?“
„Herr Unteroffizier“, stammelte Wiese, Tränen der
Erleichterung in den Augen, „die geb ich Ihnen!“ – „Welch
liebliches Geschenk!“ rief Revetcki, und sein Gesicht warf
abenteuerliche Falten. „Die geöffnete Halsbinde ist großzügig
verziehen!“

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Dann war Heiligabend. Wolzow, Holt, Vetter, Gomulka und
noch ein paar andere waren zu Unteroffiziers-Ordonnanzen
befohlen und holten sich in der Kammer neue, schneeweiße
Drillichjacken. Die größte der Fahrzeughallen war ausgeräumt
und mit Tischen und Bänken vollgestellt worden. An der Wand
zog sich eine Theke entlang. Vorn war ein Podium aufgebaut.
Dort sang am Abend ein Soldatenchor: „O du fröhliche...“ Zwei
große Weihnachtsbäume warfen schwaches Kerzenlicht in die
Halle. Major Reichert, der Abteilungskommandeur, hielt eine
Ansprache. Holt, in der weißen Drillichjacke, stand an der
Theke und hielt ein Tablett bereit.
Es war öde und leer in ihm. Weihnachten, dachte er...
Niemand hatte ihm geschrieben, auch Gundel nicht. Wortfetzen
aus der Rede des Kommandeurs drangen an sein Ohr:
„Sechste Kriegsweihnacht... Führer unerschütterlich...
Unerschütterliches Vertrauen... Fest der Hoffnung, Fest der
Zuversicht... Endsieg.“ Der Chor setzte wieder ein, dann
sangen in der Halle mehr als tausend kratzige, rauhe Stimmen:
„Stille Nacht, heilige Nacht...“ Holt lehnte an der Theke.
Gomulka, neben ihm, verzog keine Miene. Wolzow trat an Holts
Seite und stieß ihn in die Rippen: „Alter Krieger, trink einen
Schnaps!“ Es war ein Bierglas, halb voll Korn, Holt rang
sekundenlang nach Atem, dann wischte er sich über die Stirn.
Ein dünner, durchsichtiger Schleier zog sich über seine Sinne:
die Kerzen an den Bäumen strahlten heller, das einsetzende
Summen der tausend Stimmen rauschte fern wie
Meeresbrandung. Das war das letztemal, daß ich weich
geworden bin! dachte er. Schlägt’s dich in Scherben, ich steh
für zwei, und geht’s ans Sterben, ich bin dabei... „Noch leben
wir“, sagte er, und Wolzow knuffte ihn wieder in die Seite und
meinte: „Und ob! Zwei alte Krieger wie wir!“
Der Abend entartete rasch zu einem Saufgelage. Holt trug
Tabletts mit Schnaps- und Biergläsern von der Theke zu den
Unteroffizieren, wischte Bierpfützen auf, sammelte
Schnapsmarken ein und trug sie zur Theke. Anfangs wurden
die Marken nachgezählt, bald mußte Holt sie ungezählt in einen
Kasten werfen, wobei er fleißig betrog. Mit der Zeit ging die
Kontrolle verloren.

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Die Unteroffiziere betranken sich rasch. Revetcki rollte mit den
Augen, trank und rief: „Keinen Tropfen trinkt das Huhn, ohne
einen Blick zum Himmel auf zu tun!“ In einer Ecke, umringt von
Unteroffizieren und Feldwebeln, stand die Tochter des
Kantinenwirtes, ein übles Frauenzimmer von dreißig Jahren mit
weißgebleichtem Haar, leicht verwachsen, heute noch greller
als sonst geschminkt. Sie hatte anfangs bei den Offizieren
serviert, aber nun ließen sie die Unteroffiziere nicht mehr an die
Arbeit. Am Offizierstisch standen Batterien von Wein- und
Kognakflaschen auf der weißgedeckten Tafel, Konfektschalen
und geöffnete Zigarrenkisten. Holt sah den
Abteilungskommandeur, Major Reichert, zum erstenmal. Zu
seiner Rechten saß der sagenhafte Hauptmann Weber, Chef
der IV. Kompanie, sagenhaft ob seiner lückenlosen Sammlung
von Kriegsauszeichnungen, mehrfach im Wehrmachtsbericht
genannt und nun seit einem halben Jahr endgültig beim
Ersatzheer gelandet: einarmig, den linken Ärmel der
zweireihigen schwarzen Uniformjacke in die Achsel
eingeschlagen, einäugig, das rechte Auge von einer schwarzen
Binde bedeckt, das Gesicht von Narben zerhackt, so saß er
kerzengerade neben dem Major und hob mit einer eckigen
Bewegung das Weinglas zum Mund. Er trug heute an der Jacke
keinen Orden, keine Medaille, nur um den Hals das Ritterkreuz.
„Sieh ihn dir an!“ sagte Wolzow zu Holt. „Der Mann hat den
Dnepr-Übergang bei Rogatschow mitgemacht, dann war er bei
Mogilew eingekesselt und hat sich mit seinen Henschel-Tigern
nach Westen durchgeschlagen, da ist die ganze Kompanie
draufgegangen, einzig er ist mit dem Umsteigewagen
durchgekommen!“
„Ordonnanz!“ krakeelte Revetcki am Unteroffizierstisch. Er
hatte trübe Augen. „Holt! Uns ist so kannibalisch wohl...
Ganymed, du findiger Engel...!“ Der Schluckauf plagte ihn. „Hier
fehlt nur eins: Schnaps und... Holt! Wo ist die Toppsau hin, die
Bucklige? Das Aas verlangt zehn Mark!“ Er schrie: „Anstatt froh
zu sein, wenn sie ein preußischer Korporal...“ Der Schluckauf
zerrüttete ihn. „Da sagte ich: Nein danke! Dafür kann ich ja
zweimal in den Puff gehn!“ Unteroffizier Boek brüllte: „Du wirst
den Spund doch nicht etwa bitten! Seit wann werden die

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Dreckspunde denn gebeten! Gib dem Spund doch einen
Befehl! Sag dem Spund doch, er wird morgen den ganzen
Feiertag geschliffen, ge-schliiii-fen, bis ihm das Hirn verdampft!“
– „Los, schaff uns Schnaps“, schrie Revetcki, „aber schnell,
sonst schleif ich dich zum Eunuchen!“
Wolzow zog Holt zur Seite: „Wir müssen Revetcki und Boek
jetzt derartig besoffen machen, daß sie morgen nicht schnaufen
können!“ – „Also los“, sagte Holt. An der Theke füllte der
Kantinenwirt Schnapsgläser.

Jemand faßte Holt von hinten am Arm und drehte ihn mit
unwiderstehlicher Gewalt herum. Das war Oberfeldwebel
Burgkert. „Junge“, sagte er, „Ordonnanz, wie heißt du?“ –
„Panzerschütze Holt, vom Ausbildungszug der Stabskompanie.“
Jeder kannte den Oberfeldwebel. Er ließ sich von niemandem
etwas sagen, grüßte die Offiziere lasch, herablassend und
erwiderte den Gruß Untergebener mit einem Kopfnicken. Heute
hatte er sämtliche Orden angelegt. Er war so groß wie Wolzow,
aber viel breiter, bulliger. Holts Blick glitt über die schwarze
Uniformjacke. EK I und EK II, zählte er, goldenes
Verwundetenabzeichen, silberne Nahkampfspange, Deutsches
Kreuz in Gold, am Ärmel sieben
Panzervernichtungsabzeichen... – „Schau dir den Ramsch ruhig
an, mein Junge!“ sagte der Oberfeldwebel mit heiserem Baß,
und er hielt Holt noch immer am Arm fest. „Wenn du genug
geglotzt hast, dann holst du für mich zwei Flaschen Kognak,
aber nicht solchen Fuseldreck, sondern den gleichen, den die
Offiziere bekommen! Zwei Flaschen, zwei Gläser, es müssen
Schwenkschalen sein! Das bringst du mir in die Ecke!“ Er
deutete in das trüb erleuchtete Ende der Fahrzeughalle. „Los!“
Holt lief zur Theke. „Zwei Flaschen für den Kommandeur!
Kognak! Und zwei Schwenkschalen!“ Die Schwenkschalen
tilgten das Mißtrauen. Der Oberfeldwebel saß auf einem leeren
Bierfaß, er nahm Holt die Flaschen aus der Hand und studierte
die Etiketts. „Gut!“ Er stellte eine Flasche auf den Boden und
füllte die beiden Schwenkschalen. „Trink, Rekrut!“ Der Lärm in
der Halle ebbte ab. Irgendwo grölte ein Dutzend betrunkener
Stimmen: „Wie einst, Lilli-Marleeeeen!“ Dann verstummte auch

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das. Bei der improvisierten Bühne war der Major, offensichtlich
stark betrunken, auf die Offizierstafel geklettert, hielt ein
gefülltes Sektglas in der Hand und brüllte: „Hoch... Panzer...
elf!... Es lebe... die ruhmreiche... ungeschlagene... 11.
Panzerdivision!!“ – „Ungeschlagen!“ sagte der Oberfeldwebel.
Seine Stimme hatte alles Kratzige verloren, und der Baß rollte
grabestief. „Ungeschlagen! Tula, November einundvierzig...
Smolensk, September dreiundvierzig... Mogilew, März
vierundvierzig... Minsk, Juli vierundvierzig... ungeschlagen, aber
vernichtet! Es gibt keine 11. Panzerdivision mehr! Es gibt noch
fünfhundert Gewehre und ein Dutzend Tiger, aber die sind
schrottreif!“ – „Es lebe...“, schrie der Major, „unser großer
General... und unser Führer Adolf Hitler...“ Die Halle zitterte im
Gebrüll der tausend Soldaten. „Junge, trink!“ sagte der
Oberfeldwebel. „Nicht auf den General. Auf niemand. Auf den
größten Beschiß der Welt!“ Holt trank gehorsam,
„Abteilungsbefehl!“ hörte er den Major brüllen. „... Anbetracht
der Lage... noch vorhandenen Alkoholvorräte... rücksichtslos zu
versaufen!“ – „Wir sind ja so beschissen worden“, sagte der
Oberfeldwebel. „Junge, du hast keine Ahnung!“ Er goß sich
wieder das Glas voll. „Sauf, Rekrut! Der Dank des Vaterlandes
ist dir gewiß.“ Holt starrte gebannt auf den riesigen Mann, der
sich einschenkte, trank, wieder einschenkte und trank. Er hörte
ihn zwischen zwei Schlucken sagen: „Sauf, Junge! Willst du
nicht?“ Er nahm schon die zweite Flasche zur Hand. „Junge,
wie man uns beschissen hat!“ Holt lief davon.

Beim Tisch der Unteroffiziere ging das Gelage seinem Ende


zu. Revetcki trank ans der Flasche. Boek lag mit dem
Oberkörper über dem Tisch. Der Stabsgefreite Kindchen
torkelte zwischen den Tischen entlang, in jedem Arm eine
Flasche, und sang: „Ein Pro-oo-sit der Ge-müüt-lich-keit!“ Die
Offiziere waren verschwunden. Unteroffizier Winkler, der auf
Revetckis Stube lag, wankte dem Ausgang zu, stolperte und
schlug hin. Revetcki beugte sich über ihn, richtete sich auf und
sagte grinsend: „Weitermachen!“ Holt eilte zu Winkler. Dort
stand Burgkert und sagte: „Bring ihn weg, Rekrut! Er wird noch
gebraucht. Wir werden alle noch gebraucht!“

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Holt und Gomulka hoben Winkler auf. An der Hallentür stand
ein Gefreiter, klein von Statur, vielleicht dreißig Jahre alt. Er
rauchte und blickte ungerührt in das Chaos, mit einem
aufmerksamen und wachen Blick. Er öffnete die Tür für Holt
und Gomulka, die Winkler aus der Halle trugen, während Boek
an ihnen vorbei ins Freie torkelte.
„Eure Ausbilder?“ fragte er.
Gomulka sagte: „Es ist widerlich.“
Der Gefreite lächelte. Er sagte, indem er mit einer
Handbewegung in die Halle hineindeutete: „Warte nur, bis diese
Fehlcharge abgestochen wird! Fliegt auf den Schrotthaufen,
das dauert kein Jahr mehr!“
Holt und Gomulka schleppten Winkler über den zerklüfteten
Kasernenhof in sein Bett. Gomulka lief zurück zur Halle, wo der
Gefreite noch immer an der Tür stand.
Holt ging in die Stube. Die trübe Lampe erhellte den großen
Raum nur schwach. In einer Ecke saß Peter Wiese. Er schrieb
einen Brief.
Holt lehnte sich an einen Spind. Wiese lächelte. Der Lärm
drang über den weiten Kasernenhof bis in die Stube. „Tja,
Peter...“, sagte Holt hilflos. Er warf sich auf sein Bett.
Weihnachten! dachte er...
Am ersten Feiertag, als die Kaserne endlich aus der
Betäubung erwachte, brachte Kindchen Post. Holt erhielt ein
Päckchen von Gundel. „Ich durfte bei Frau Gomulka für Dich
backen“, schrieb sie. „Es ist das erstemal, daß ich gebacken
habe. Darum ist es noch nicht restlos gelungen. Frau Gomulka
meint aber, ich soll es trotzdem schicken. Die getrockneten
Aprikosen hat sie mir für Dich geschenkt. Das Bild habe ich
beim Photographen machen lassen, aber ich finde, so sehe ich
gar nicht aus.“
Er faltete das Papier auseinander. Obenan lag ein einfacher
Tannenzweig. Er sah lange auf die Photographie. Gundel... Sie
lächelte nicht, sie war ganz ernst. Wie kann man so große
Augen haben, dachte er.

Seinen Geburtstag verbrachte Holt im Gelände beim


Übungsschießen mit der Panzerfaust. Auf dem Rückmarsch

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schob Revetcki eine „Sonderbehandlung“ ein, und erschöpft fiel
Holt auf sein Bett. Vetter sagte: „Jetzt bist du achtzehn! Jetzt
darfst du auch als Zivilist in alle Filme!“
Eine Woche später traf die Nachricht in der Kaserne ein: „Die
Russen sind an der Weichsel durchgebrochen!“ Wolzow
breitete die Karte aus: „Hier! Aus dem Brückenkopf
Sandomierz! Der Stoß zielt wahrscheinlich südwestlich nach
Krakau oder westlich nach Kielce... Hier! Aus dem Brückenkopf
Pulawy, auf Litzmannstadt angesetzt...“ Neue Nachrichten
langten an: „Sie sind auch in Ostpreußen durchgebrochen!“ In
der Kaserne verbreiteten sich ununterbrochen Gerüchte. „Die
zweite Kompanie geht an die Front, noch diese Nacht!“ Vetter
schrie: „Wir solln weiter ausgebildet werden! Und eh’s rausgeht,
solln wir alle in einen Puff!“ Noch eine Woche verstrich.

Der Ausbildungszug fuhr mit einem Lastwagen zum


gefechtsmäßigen Nachtscharfschießen auf den benachbarten
Truppenübungsplatz. Die Rekruten auf dem LKW sangen.
Dann standen sie lange in der Nacht und warteten. Wenig
entfernt krachte Gewehr- und Maschinengewehrfeuer,
Leuchtkugeln erhellten immer wieder die Dunkelheit. Holt stand
mit gespreizten Beinen über seinem MG. Vetter hatte sich ein
paar Gurte um den Hals gehängt und schleppte
Munitionskästen, den Karabiner auf dem Rücken. Sie nahmen
die Helme ab und rauchten eine Zigarette. Wolzow gab die
letzten Direktiven: „Leute, wenn ihr vorgeht, lauft den MGs nicht
ins Schußfeld! Werner, wir geben uns gegenseitig Feuerschutz
beim Stellungswechsel.“ Er sog an der Zigarette. „Bin gespannt,
ob sie uns für frontreif erklären.“
„Abwarten“, sagte Holt.
Gomulka fragte: „Ob wir bald eingesetzt werden?“ – „Der
kann’s gar nicht mehr erwarten!“ spottete jemand. Holt dachte:
Ängstlich hat Sepps Frage wirklich nicht geklungen, eher
erwartungsvoll! „Hast recht, Sepp. Das Warten, diese
Ungewißheit, das ist vielleicht das übelste.“ – „Vielleicht“, sagte
Gomulka. Revetcki rief: „Fertigmachen!“ Sie traten die
Zigaretten aus und setzten die Helme auf. „Antreten!“ Revetcki
gab sich freundlich und sagte zu den Rekruten „Musketiere“