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Hausmitteilung
30. Dezember 2006 Betr.: Titel, SPIEGEL-Gespräch, Somalia
V iele Jahrhunderte lang waren Frauen und Männer, die angeblich in die Zukunft
sehen und, bestenfalls, vor Katastrophen warnen konnten, anerkannte Intellektuelle:
Propheten und sogenannte Sibyllen, wie sie auch Michelangelo Buonarroti im 16. Jahr-
hundert auf das Deckengewölbe der Sixtinischen Kapelle in Rom gemalt hat. Die
„Delphische Sibylle“, eine von fünf Wahrsagerinnen, gilt
als eindrucksvollste Gestalt unter ihnen, fragend schaut
sie in die Ferne, als habe sie in der Schriftrolle etwas gele-
sen, das ihr Sorgen macht. Das vatikanische Fresko inspi-
rierte den US-amerikanischen Illustrator Tim O’Brien, 42,
zum Titelbild dieser Ausgabe. SPIEGEL-Autor Mathias
Schreiber, 63, hat zurückverfolgt, mit welch bisweilen selt-
samen Methoden Menschen seit je versuchen, die großen
und kleinen Katastrophen des Lebens im Voraus zu erfah-
ren oder nachträglich zu deuten. Wahrsagen, Sterndeutung
und Alltagsmagie zählen dazu – und das große Wort vom
Walten des Schicksals, so Schreiber, habe „noch immer
AKG
seine Berechtigung“. Es könne helfen, „das Unerklärliche
zu ertragen“ (Seite 100). „Delphische Sibylle“
S eine Meinung sagt er öfter und lauter als manch einer seiner Vorgänger, und nicht
selten wagt sich Bundespräsident Horst Köhler, 63, bis in die Tagespolitik vor – was
früher als Tabubruch galt. Auf Parteien und die Befindlichkeiten ihrer Würdenträger
nimmt er dabei keine Rücksicht: Gleich zweimal verweigerte er, zum Verdruss von
Kanzlerin Angela Merkel, 52, seine Unterschrift unter Gesetze. Wie sehr sich Köhler
dazu bekennt, „notfalls unbequem“ zu
sein, wurde deutlich, als er im Berliner
Schloss Bellevue die Redakteure Stefan
Aust, 60, Jan Fleischhauer, 44, und Ga-
bor Steingart, 44, empfing. Rasch geriet
das SPIEGEL-Gespräch zur politischen
WERNER SCHUERING
R echerchen in Somalia sind gefährlich – das Land versinkt im Chaos. Als Thilo Thiel-
ke, 38, Afrika-Korrespondent des SPIEGEL mit Sitz in Nairobi, in die von islamis-
tischen Milizen beherrschte Hauptstadt Mogadischu reiste, folgte er der Empfehlung sei-
ner schwerbewaffneten Eskorte, wegen der Gefahr von Anschlägen „nie länger als fünf
Minuten an einem Ort zu bleiben“. Radikale Islamisten lassen Mitbürger exekutieren,
die in Cafés Sportsendungen sehen, andere werden ausgepeitscht. Die international
anerkannte, von Äthiopien und den USA unterstützte somalische Übergangsregie-
rung residiert in der Stadt Baidoa, aber auch dort sei die Lage, so Thielke, „äußerst
angespannt“. Als Politiker sich im Parlament prügelten, geriet der SPIEGEL-Mann
beinahe in Haft; als es zu teils militanten Demonstrationen kam, fand er gerade noch
auf sicherem Uno-Gelände Zuflucht. Nun kämpft Äthiopien mit der Übergangsregie-
rung gegen die Islamisten. Es drohe, sagt Thielke, „ein langer Krieg“ (Seite 80).
Im Internet: www.spiegel.de d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 7 3
In diesem Heft
Titel
Zufall oder Schicksal? Seit Jahrtausenden
beschwören die Menschen die höhere Macht
von Vorsehung und Verhängnis ............................ 100
Deutschland
Panorama: Elitetruppe KSK hat Nachwuchs-
sorgen / Zuwanderung Hochqualifizierter soll
PEMAX / IMAGO
Konjunktur: Warum die heimische Wirtschaft
2007 schwächer wachsen wird ................................ 16
Reformen: Kurt Beck entdeckt die Langsamkeit ... 18
Staatsoberhaupt: SPIEGEL-Gespräch
mit Bundespräsident Horst Köhler über seinen Berliner Kaufhaus Arbeiter (bei VW in Wolfsburg)
Reformehrgeiz und sein Plädoyer für eine
umfassende Entwicklungspolitik ............................ 22
Regierung: Aus Gleichstellung wird
„Gender Mainstreaming“ ...................................... 27
CSU: Parteichef Stoiber in Bedrängnis .................. 30
Wie viel Wachstum schafft das Land? Seiten 16, 58
Tourismus: Schlechte Aussichten Die deutsche Wirtschaft wird auch 2007 wachsen, wenn auch langsamer. Höhere
für bayerische Wintersportorte .............................. 32 Steuern und Abgaben dürften die Kauflust dämpfen, auf dem Jobmarkt blüht vor
Gentechnik: Wie viel Schutz vor allem die Zeitarbeit, der Osten des Landes fällt weiter zurück. Damit die Konjunk-
manipuliertem Saatgut ist nötig? ........................... 34 tur auf Trab kommt, müsste die Große Koalition mehr tun als bisher.
Radikale: Der G-8-Gipfel in Heiligendamm
im Visier militanter Linker .................................... 36
Affären: Wie Beamte in Mecklenburg-Vorpommern
mit Bundessubventionen mauschelten ................... 38
Kirche: Das verblüffende Miteinander von
Katholiken und Muslimen in Duisburg-Marxloh ... 40
Humanitäre Hilfe: Humedica-Projektleiter
Nachfolgedebatte
Hans Musswessels über seine Geheimdiplomatie
mit den Rebellen in Darfur und die Not
um Stoiber Seite 30
in den Flüchtlingslagern ........................................ 43 Von dem Ansehensverlust nach
SEYBOLDT-PRESS
Fischer dem Meer entkamen und nun
von Hollywood entdeckt werden ........................... 46 Chef nun auf einem neuen Tief-
Ortstermin: In Regensburg darf ein EU-Beamter punkt. Die Frage, wer Stoiber
die Folgen Brüsseler Vorschriften kennenlernen .... 52 nachfolgen könnte, wird in der
Partei heftig diskutiert. Stoiber Pauli
Wirtschaft
Trends: Finanzminister Steinbrück muss
weniger Schulden aufnehmen / Rente mit 67
schmälert Rendite / ABM kaum noch gefragt ........ 54
Geld: Der Dax gehört zu den globalen Gewinnern /
Chancen und Risiken auf den Rohstoffmärkten ..... 57
Arbeitsmarkt: Weshalb die Boombranche
Die Gleichmacher Seite 27
Zeitarbeit eine neue Zweiklassengesellschaft Ein Begriff macht Karriere: Das Schlagwort „Gender Mainstreaming“ sickert in den
schaffen könnte ..................................................... 58 politischen Betrieb ein und entwickelt sich zum bürokratischen Großprojekt. Gleich-
Unternehmer: Die Drogeriemarkt-Größe Götz stellungspolitiker aller Couleur lassen sich damit auf ein Erziehungsprogramm ein,
Werner entwickelt sich zum Wanderprediger ........ 62 das nicht nur die Lage der Menschen ändern will, sondern den Menschen selbst.
Steuern: Der deutsche Fiskus hat
eine halbe Milliarde Euro verschenkt .................... 64
Immobilien: Die überraschenden Bahnpläne
für den Berliner Flughafen Tempelhof ................... 65
Spielbanken: Ein österreichischer
Casino-Profi versucht, den deutschen
Glücksspielmarkt aufzurollen ................................ 68
Kalkofe: „Unser Fernsehen ist am Ende“ Seite 72
Innovationen: Ein Bremer Mittelständler feiert Oliver Kalkofe hat sich mit Spott übers
mit Sexspielzeug internationale Erfolge ................. 69 Fernsehen selbst einen festen Platz im
TV gesichert. Sein Urteil über das Pro-
Medien gramm 2006 – mit einer Flut von Teleno-
Trends: Interview mit dem Deutschland-Chef von velas wie „Sturm der Liebe“ – fällt bitter
JO BISCHOFF / ARD
Universal Music, Frank Briegmann, über die Chancen aus: „Unser Fernsehen ist am Ende.“
seiner kriselnden Branche / Journalistenverband Immerhin weiß er, wie’s besser ginge.
fürchtet um Informantenschutz ............................. 70
Fernsehen: Vorschau / Rückblick .......................... 71
Polemik: Der TV-Macher und -Kritiker Oliver ARD-Telenovela „Sturm der Liebe“
Kalkofe über die Krise des deutschen Fernsehens ... 72
4 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 7
Ausland
Panorama: Marokkos Machthaber wollen Wahlsieg
der Islamisten verhindern / Eine EU-Vorschrift zum
Terrorschutz beunruhigt Europas Spediteure ........... 77
Somalia: Krieg am Horn von Afrika .................... 80
Turkmenistan: Der Turkmenbaschi ist tot,
es lebe Turkmenbaschi .......................................... 82
Polen: Warschau fordert, die deutschen Heimat-
vertriebenen endlich in die Schranken zu weisen ... 83
Naher Osten: Christen auf der Flucht .................. 84
Norwegen: Ministerpräsident Jens Stoltenberg
über die Erschließung des Nordmeers ................... 88
Liberia: Wie Afrikas erste Präsidentin verhindern
will, dass ihr Land erneut ins Chaos stürzt ............ 90
Global Village: Das Gedächtnis von Shanghai ..... 94
Sport
Extrembergsteigen: Eine 83-Jährige führt
Liberias Hoffnung S. 90 eine Chronik über die Himalaja-Expeditionen ..... 136
Vatikan: Der Kirchenstaat entdeckt den Fußball ... 139
Ellen Johnson-Sirleaf ist die erste Prä-
sidentin Afrikas. Nach 14 Jahren Ge-
CANDACE FEIT / WPN / AGENTUR FOCUS
Johnson-Sirleaf
Gutes neues Jahr
Wer wird die Hitparaden stür-
men, die Bestsellerliste an-
Die Technik der Zukunft Seite 134 führen, einen Oscar gewin-
nen? Der KulturSPIEGEL, das
Biologische Fabriken, spirituelle Erlebnisse im Supermarkt, die Verschmelzung von Magazin für Abonnenten,
Mensch und Maschine – im SPIEGEL-Interview wagt der Zukunftsforscher Karl- stellt 50 Menschen vor, die
heinz Steinmüller einen Ausblick auf technologische Trends des 21. Jahrhunderts. 2007 von sich reden machen.
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 7 5
Briefe
Keine Täuschung
Nr. 36/2006, Adressbücher: Geflutete Briefkästen
HECHTENBERG / CARO
Demonstration gegen Sozialabbau
Viele haben resigniert
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 7 9
Briefe
Das Gezerre darum, welches Bundes- oder darum gehen, dass einem Kunden ein Bild Nahrungsaufnahme und -umsetzung nicht
Landesgesetz denn nun anwendbar sei, um gefällt, als dass es großen Gewinn verspricht. für alle möglichen Reparatur- und Restau-
das Rauchen zum Beispiel in Restaurants zu Wiener Neudorf (Österr.) Dr. Peter Mitmasser rationsprozesse der Zellen und -verbände
verbieten, kann ich nicht begreifen. Im ihrer Geschöpfe adäquat nutzbar gemacht
Grundgesetz heißt es im Artikel 2, Absatz (1): Wenn Sie wüssten, dass viele Galeristen hätte.
„Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung nebenbei Taxi fahren oder als Kellner im Bochum Prof. Dr. Hermann Unger
seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Restaurant arbeiten müssen, um ihre Ga-
Rechte anderer verletzt …“ und in Ab- lerie finanzieren zu können. Wenn Sie Das bahnbrechende Ergebnis einer ameri-
satz (2): „Jeder hat das Recht auf Leben und wüssten, dass jedes Jahr eine große Zahl kanischen Ernährungsstudie an Affen: Wer
körperliche Unversehrtheit …“ Wenn es von Galerien aus Deutschland ins Ausland maßhält, bleibt auch im Alter länger jung
dann noch weiter heißt: „In diese Rechte abwandert, weil sich bei uns die Arbeits- und fit. Müssen für solche Binsenweisheiten
darf nur auf Grund eines Gesetzes einge- konditionen stetig verschlechtern. Wenn wirklich Affen, unsere nächsten Verwand-
griffen werden“, so ist die Situation sogar Sie wüssten, dass viele Galeristen ihr Herz- ten, mehr als 15 Jahre lang in einen fens-
umgekehrt: Raucher dürften also nur dann blut hergeben für ein paar tausend Euro terlosen Raum gesperrt werden? Und: Eine
und dort in Anwesenheit von Nichtrauchern Monatsumsatz. Wenn Sie wüssten, dass die Pille soll selbst das Maßhalten überflüssig
rauchen, wenn ihnen ein Gesetz dies aus- meisten Galerien aus Überzeugung und machen? Diese funktioniert natürlich nur
drücklich erlaubt, oder? Wenn die Politik Idealismus bestehen, weil sie an die Kunst bei Mäusen und auch nur in Megadosie-
meine Grundrechte nicht schützen will, soll- und deren Inhalte glauben und ihre Arbeit
te man eine Klage beim Verfassungsgericht in fortsetzen, solange sie es finanziell durch-
diesem Sinne einreichen. halten können. Wenn Sie wüssten, wie
Köhlen (Nieders.) Sigrid Steffens viele Galerien jedes Jahr in Deutschland
schließen – vielleicht wäre Ihnen dann ein
Was ist dies denn bloß wieder für eine interessanter Artikel gelungen. Wenn Sie
Weicheier-Regierung, die nicht in der Lage behaupten, dass eine Galerie es sich sogar
ist, endlich einmal ein richtig vernünftiges leisten kann, Kunst zu verschenken, kann
Gesetz auf den Weg zu bringen und damit ich Ihnen als ehemaliges Vorstandsmitglied
Tatsachen zu schaffen, die in anderen Län- und Schatzmeister des Bundesverbands
JEFF MILLER
dern längst gang und gäbe sind? Wo bleiben Deutscher Galerien versichern, dass es
denn die verfassungsrechtlichen Bedenken, nichts umsonst gibt.
wenn es darum geht, als Nichtraucher un- Berlin Rafael Vostell Versuchsaffen Canto, Owen
behelligt in ungetrübter Luft sein Essen ge- Der Natur ein Schnippchen schlagen
nießen zu wollen, ohne gleichzeitig über das Die Kunst und der Künstler haben keine
aufgezwungene passive Mitrauchen einer ge- Macht. Aber Mächte bedienen sich ihrer. rungen. Wirkung und Nebenwirkung beim
sundheitlichen Gefährdung ausgesetzt zu Kunsterwerb, Kunstbesitz, Mäzenaten- und Menschen unbekannt. Wozu sollen solche
sein, dieser legitime Anspruch aber durch Sammlertätigkeit schaffen Prestige und Tierversuche gut sein? Glauben die Götter
das rücksichtslose Qualmen der ewig Unbe- Imagepflege und bei einigem Geschick im in Weiß tatsächlich, man könnte der Natur
lehrbaren immer wieder unterminiert wird? Hochpreissegment sogar materiellen Ge- auf so simple Weise ein Schnippchen schla-
Berlin Rainer Wiesner winn. Es hat sich die Klientel der Kunst- gen und einen so komplexen Vorgang wie
verwerter und -benutzer geändert, nicht die das Altern beim Menschen aufhalten?
Mechanismen und Interessen. Der eine Braunschweig (Nieders.) Dr. Corina Gericke
Einen Vorteil hat das Ganze kauft sich einen Londoner Fußballverein, Ärzte gegen Tierversuche
Nr. 50/2006, Kunstmarkt: Hedgefonds entdecken das um zu demonstrieren, wer in den Top Ten
Milliardengeschäft mit der Malerei der illustren, globalen Gesellschaft spielt, Es gibt eine einfachere Erklärung für die le-
der andere einen Neo Rauch. Sobald der bensverlängernde Wirkung des Hungerns:
Wenn jetzt Hedgefonds ins Geschäft mit der bildende Künstler im Geschäft ist und seine Dass pflanzliche Inhaltsstoffe giftig oder
bildenden Kunst einsteigen, wird es bald Werke auf dem Markt sind, ist es aus mit akut gesundheitsschädlich sein können, ist
nur noch um Show und nicht mehr um seiner Macht. Öffentlich gemachte Kunst durch Erfahrung längst bekannt. Dane-
„Kunst“ – so schwierig die auch zu definie- dient einzig und allein der Steigerung des ben enthält pflanzliche Nahrung unter der
ren sein mag – gehen. Einen Vorteil hat das Nutzens der Kunstbesitzer. Das war so, das Unzahl sonstiger Bestandteile mit hoher
Ganze: Die vielen „kleinen“ lokalen Künst- ist so, und das wird auch so bleiben. Aber Wahrscheinlichkeit auch solche, deren
ler werden einen besseren Markt vorfinden besser, sie kaufen Kunst statt Kanonen! nachteilige Wirkung nicht sofort oder nach
als bisher, weil die „große“ Kunst längst un- Hamm/Sieg Volker Niederhöfer kurzer Zeit evident wird, sondern erst
leistbar geworden ist. Es wird wieder mehr nach jahre- oder jahrzehntelanger Auf-
nahme zu erkennbaren Gesundheitsschä-
BRABYN/SIPA/DE KOONING FOUND./VG BILDKUNST, BONN 2007
10 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 7
Panorama Deutschland
AU S L A N D S E I N S ÄT Z E Kämpfer plus rund 600 Mann Unterstüt-
zungskräfte – wird deutlich unterschrit-
Elite ohne Nachwuchs ten. Bisher sind nur gut 35 Prozent der
Posten für Kommando-Soldaten besetzt.
Dabei rechnet das Verteidigungsministe-
KSK-Soldaten im Wüstentraining
FEUERWERK
Explosive Witwenmacher
CARO / SÜDDEUTSCHER VERLAG
KON J U N KT UR
D
er fränkische Spielzeugproduzent So macht auch das Regieren
Entlastung
Playmobil gehört zu jenen Fabri-
kanten, die Händler dem soge- Berliner Neujahrsgrüße der Bürger,
Spaß. Kanzlerin Angela Mer-
kel, die Deutschland im Som-
Neuregelungen ab 1. Januar 2007 in Mrd. ¤
nannten Premiumsegment zurechnen. Ein mer noch zum „Sanierungsfall“
einfaches Polizeiauto mit Besatzung kostet erklärte, sieht im aktuellen Auf-
24 Euro. Der Renner des Jahres 2006 war Arbeitslosenversicherung Der Bei- schwung nun einen Beleg für
das „Krankenhaus mit Einrichtung“ – 120 tragssatz sinkt von 6,5 auf 4,2 Prozent. 17,6 „die richtige Politik“ ihres Ka-
Euro teuer und in vielen Geschäften seit Elterngeld Mütter oder Väter können binetts. Ihr SPD-Vizekanzler
Mitte Dezember ausverkauft. bei der Geburt eines Kindes Elterngeld Franz Müntefering brüstet sich,
„Obwohl wir Überstunden und Sonder- beantragen, wenn sie bis zu 14 Monate die Große Koalition habe viel
schichten eingelegt haben, sind wir mit der die Ausübung ihres Berufs unterbrechen
0,7 „für Wachstum und Beschäfti-
Produktion nicht mehr nachgekommen“, (67 Prozent des letzten Nettolohns, maximal gung getan“. Wirtschaftsminis-
sagt Geschäftsführerin Andrea Schauer. 1800 Euro monatlich). ter Michael Glos (CSU) führt
„Die Nachfrage war einfach zu groß.“ die positiven Wirtschaftsdaten
Ob Spielzeug, Plasmafernseher oder Le- wie selbstverständlich auf die
dermöbel – ein solches Weihnachtsgeschäft politische „Erfolgsbilanz dieser
haben die Einzelhändler der Republik schon
Differenz aus
Ent- und Mehr-
25 Mehrbelastung
der Bürger, Bundesregierung“ zurück.
lange nicht mehr erlebt. Von Hamburg belastung Mrd. ¤ Wie gut die Konjunktur
in Mrd. ¤
bis München standen die Kunden Schlange läuft, hat die Politiker selbst
vor Drehtüren, Rolltreppen und Kassen. Die überrascht. Noch im Frühjahr
Warenhäuser meldeten Umsätze wie seit hatten sie für 2006 ein Wachs-
Jahren nicht. Marktforscher registrierten tum von 1,6 Prozent vorherge-
die Rückkehr von Luxus, Glanz und Gla- Mehrwertsteuer Sie erhöht sich 19,4 sagt. Jetzt rechnet Glos damit,
mour. Die Boulevardblätter fabulierten gar von 16 auf 19 Prozent. dass die Zahl am Ende wohl
vom „Abebben der Geizwelle“ und einem bei 2,5 Prozent liegen wird.
„Kaufrausch zu Weihnachten“. Krankenversicherung Der Beitrags- Ähnlich soll es 2007 weiter-
satz steigt von durchschnittlich 14,3 7,0
7,4
Das Weihnachtsgeschäft war der Höhe- gehen, hoffen die Berliner
punkt eines konjunkturellen Aufschwung- auf ca. 15 Prozent. Koalitionsspitzen.
jahres, das viele der hiesigen Wirtschaft Rentenversicherung Der Beitragssatz Die Konjunktur habe „Fahrt
schon gar nicht mehr zugetraut hatten. Jah- klettert um 0,4 Prozentpunkte auf 4,1 aufgenommen“, konstatiert
relang war das deutsche Wachstum an der 19,9 Prozent. SPD-Chef Kurt Beck und zeigt
Nulllinie entlanggedümpelt. In- und aus- sich überzeugt, dass die deut-
ländische Fachleute hatten den Standort Versicherungsteuer Ab 1. Januar sche Wirtschaft die Trendwen-
Deutschland als „kranken Mann Europas“ beträgt der Regelsatz nicht mehr 16, 1,7 de bereits geschafft habe. Auch
verspottet. Und nun das? sondern 19 Prozent. Kanzlerin Merkel sieht die
Auf den ausländischen Märkten melde- Steuersparmodelle Weitere Republik wieder auf dem Weg,
ten heimische Chemie-, Maschinenbau- Beschränkung der Verlustverrechnung. 1,6 sich als wirtschaftliche „Loko-
oder Elektrokonzerne einen Absatzrekord motive Europas“ zurückzu-
nach dem anderen. Im Inland legten sich Pendlerpauschale Die Entfernungs- melden.
die Unternehmen erstmals seit Jahren pauschale wird reduziert. Erst ab dem Wer würde was dagegen
21. Kilometer können Fahrtkosten mit 1,3
wieder in großem Stil neue Fabrikanlagen haben? Nach fünf Jahren
oder Werkhallen zu. Auch in notorischen 30 Cent je Kilometer abgesetzt werden. Stillstand und Zukunftsangst
Krisenbranchen wie der Bauindustrie Sparerfreibetrag Er reduziert sich von könnte das Land einen dauer-
brummte das Geschäft dermaßen, dass 1370 auf 750 Euro (Ledige).
0,6 haften Aufschwung gut ge-
mancherorts bereits Zement oder Dämm- brauchen. Doch die Experten
platten knapp wurden. Arbeitszimmer Die Absetzbarkeit wird sind skeptisch.
Selbst der seit Jahren in Agonie erstarr- erheblich erschwert.
0,1 Zwar präsentieren sich die
te Arbeitsmarkt sendete neue Lebenszei- Reichensteuer Der Spitzensteuersatz bundesdeutschen Unternehmen
chen: Zum Jahresende 2006 sank die Zahl nach jahrelangen Entlassungs-
der Erwerbslosen erstmals seit vier Jahren
für hohe, nichtgewerbliche Einkünfte 0,1 wellen so fit und wettbewerbs-
steigt um 3 Prozentpunkte auf 45 Prozent.
wieder unter die Vier-Millionen-Grenze. fähig wie lange nicht. Zum Ju-
Überrascht von der Serie guter Nach- Finanzauskunft Verbindliche Auskünfte bel aber bestehe „kein Anlass“,
ohne
richten, schwärmten die Volkswirte der US- der Finanzämter zu schwierigen Steuer- Angabe sagt Hans-Werner Sinn, Chef
Investmentbank Goldman Sachs von einer fragen sind zukünftig gebührenpflichtig. des Münchner Ifo-Instituts für
„Wiedergeburt der deutschen Wirtschaft“. sonstige: Wirtschaftsforschung.
7,4 Mrd. ¤
16 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 7
Kanzlerin Merkel*, Warenhaus (in Leipzig)
Erst Sanierungsfall, dann Kaufrausch
ROBERTO PFEIL / AP
Selbst im jüngsten Boom liegt die Zu-
wachsrate lediglich im europäischen Mit-
telfeld. Und in 2007, so prognostizieren die
Experten, dürfte der Aufstieg schon wieder
abgebremst werden. Das Wachstum geht
weiter, so lautet die Prognose, aber die Re-
publik erlebt einen Aufschwung ohne rech-
ten Schwung.
Grund sind die Steuern und Abgaben,
die zur Jahreswende in einem Umfang
erhöht wurden wie nie zuvor in der Ge-
schichte (siehe Grafik).
Noch in der Silvesternacht stellen Mil-
lionen Einzelhändler, Tankstellenpächter
und Restaurantbesitzer in ihren Kassen-
systemen den Umsatzsteuerprozentsatz von
„16“ auf „19“ um – und werden so im Lauf
des Jahres 2007 rund 20 Milliarden Euro zu-
sätzlich in die staatlichen Kassen lenken.
Die beschlossenen Einschnitte bei Pend-
lerpauschale, Eigenheimförderung und
Sparerfreibetrag belasten die Bürger mit
über drei Milliarden Euro, die Erhöhun-
gen von Renten- und Krankenkassenbei-
trägen schlagen mit weiteren elf Milliar-
den zu Buche.
Dass die Regierung im Gegenzug den
Beitrag zur Arbeitslosenversicherung senkt,
verbessert die Bilanz nur mäßig: Unterm
Strich, so die Prognose der Ökonomen,
wird der Staat Wirtschaft und Verbrau-
chern 2007 rund 25 Milliarden Euro ent-
reißen – und so den Konsum gleich auf
mehrfache Weise drosseln.
Zum einen haben die Bürger weniger
Geld im Portemonnaie und können ent-
sprechend weniger ausgeben. Zum an-
deren treibt die höhere Mehrwertsteuer
die Preise in die Höhe, was der Kauflust
gleichfalls schlecht bekommt. Und schließ-
lich fallen all jene Möbel, Autos und Heim-
computer, die viele Bürger im Vorgriff auf
die Steuererhöhung bereits in 2006 gekauft
haben, in 2007 als Umsatzbringer aus.
Ein schwieriges Jahr für den privaten
Verbrauch erwarten deshalb die Ökono-
men – und prognostizieren, dass der Steu-
erschock das Wachstum in 2007 deutlich
dämpfen wird. Wie tief der Einschnitt aus-
fällt, darüber freilich gehen die Meinungen
auseinander.
Während die Mehrheit der Konjunktur-
experten lediglich eine kleine Delle er-
WALTRAUD GRUBITZSCH / DPA
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 7 17
Deutschland
Stoppsignal aus Mainz mobilienbüros von New York und Los An-
geles, an den Börsen von Tokio oder Sin-
gapur und in den Fabrikhallen von Shang-
Mit seinem Plädoyer für weniger Reformen bringt SPD-Chef hai oder Guangdong.
Wie nie zuvor hat die deutsche Wirtschaft
Kurt Beck den Koalitionspartner gegen sich auf. in den vergangenen Jahren vom Wachstum
W
er Kurt Beck einen pfälzischen nungslos benannte, liegt nicht im der Weltwirtschaft profitiert. Wie nie zuvor
Gemütsmenschen nennt, wird Interesse der Kanzlerin. Auch des- hängen die verbliebenen Industriejobs hier-
wenig Widerspruch ernten, halb bemühte sich Regierungssprecher zulande nun vom Geschäftsgang in den glo-
schon gar nicht bei ihm selbst. Der ge- Thomas Steg vergangene Woche, Ta- balen Boomregionen ab.
wichtige SPD-Chef liebt Weinfeste und tendurst zu reklamieren: „Die Koali- Entsprechend nervös blicken die Mana-
Wochenmärkte, und wenn er eine poli- tion hat noch ausreichend Arbeit und ger bei DaimlerChrysler, Bayer oder
tische Botschaft unters Volk bringen wird sich über nicht ausreichende Ar- Siemens auf jedes Konjunktursignal aus
will, tut er dies am liebsten im breiten beit zu keinem Zeitpunkt beklagen ihren wichtigsten Auslandsmärkten, allen
Idiom seiner waldreichen Heimat. müssen.“ voran den USA. Die größte Volkswirtschaft
„Immer mal langsam mit de Leut“, Aber vielleicht waren damit ja auch der Welt hat in den vergangenen Jahren
befand Beck vergangenen Mittwoch im nur die Vorhaben gemeint, über die die einen ungewöhnlich langen Wachstums-
Interview mit der „Welt“ – und alle Koalition längst schon hatte Einigkeit zyklus erlebt. Das Bruttosozialprodukt
wussten sofort, was gemeint war. erzielen wollen. Bei der Gesundheits- stieg Quartal für Quartal um drei, vier, fünf
Schluss mit weiteren Reformen, signa- reform versteift sich der Widerstand Prozent. Das 300-Millionen-Einwohner-
lisierte der Mainzer Ministerpräsident der unionsregierten Länder.
den Deutschen. Die Politik habe ihnen Der geplante Krankenkassen-
in den vergangenen Jahren schon ge- fonds, so räumen inzwischen
nug zugemutet, jetzt seien die „Gren- viele Parlamentarier von CDU
zen der Belastbarkeit“ langsam er- und CSU ein, muss wahr-
reicht. scheinlich erneut verschoben
Becks volksnahe Einlassung löste im werden.
weihnachtlich dahindämmernden Re- Nicht weniger unsicher ist,
gierungsviertel umgehend hektische ob die verabredete Arbeits-
Betriebsamkeit aus. Kanzlerin Angela marktreform zustande kommt.
Merkel schickte ihren Regierungsspre- Im zuständigen Koalitionsgre-
cher zum Widerspruch an die Mikro- mium existieren bislang nur
fone, und führende Unionspolitiker unverbindliche Expertenpapie-
meldeten den erwünschten Protest an. re; dafür driften die Pläne der
„Das hieße Stillstand für Deutsch- Parteien seit Wochen ausein-
land“, erregte sich CSU-Landesgrup- ander. Die SPD will in mög-
penchef Peter Ramsauer. Und der lichst vielen Branchen Min-
baden-württembergische Ministerprä- destlöhne einführen, die Uni-
Volkswirtschaft zurückhaltend in
die Zukunft. Jetzt macht sich
wieder gute Laune breit.
Monat für Monat erforscht
Merrill Lynch die Stimmung unter Containerhafen in Hamburg, Druckmaschinenmontage (in Würzburg): Wie nie zuvor vom Wachstum der
Managern von Investmentfonds.
Rund 60 Prozent von ihnen glauben schon spürbar gestiegen sind – trotz niedrigerer es folglich im aktuellen Jahresausblick von
wieder, dass die Wirtschaft in 2007 ähnlich Wachstumsraten. Zudem legten die Expor- Goldman Sachs. Die Bank erwartet sogar
stark oder stärker wächst als 2006. Noch im te zu, und die Inflationsängste milderten eine „erneute Beschleunigung der Wachs-
Oktober teilten nur 32 Prozent von ihnen sich ab: Seit Juni hat die US-Notenbank tumsraten“, sobald die Anpassung des
diese Einschätzung. Lediglich 8 Prozent er- Fed die Zinsen nicht mehr erhöht. Etliche Immobilienmarkts erfolgt ist. Die Unter-
warten aktuell, dass das Land in eine Re- Analysten erwarten, dass die Währungs- nehmensfinanzen seien in fast allen In-
zession rutschen könnte. hüter auch in absehbarer Zukunft keinen dustrien grundsolide. Das Gesamtbild der
Für vorsichtigen Optimismus spricht Grund zum Einschreiten sehen. Eine „Re- US-Wirtschaft, so der Bericht, sei „auf ver-
auch, dass die Beschäftigtenzahlen zuletzt zession scheint unwahrscheinlich“, heißt nünftige Art erfreulich“.
Im Dezember meldeten die Fir-
men wichtiger Industriebranchen,
dass rund 20 Prozent ihrer offenen
Stellen nicht besetzt werden kön-
nen. Der Fachkräftemangel beein-
trächtige bereits heute das Wirt-
schaftswachstum, so der Deutsche
Industrie- und Handelskammertag.
An den sogenannten Problem-
gruppen des Arbeitsmarkts dage-
gen geht der aktuelle Aufschwung
weitgehend vorbei. In kaum ei-
nem anderen Land Europas ist der
Anteil der Langzeitarbeitslosen so
hoch wie hierzulande. Nirgendwo
sonst ist die Arbeitslosenquote bei
den über 55-Jährigen so hoch wie
in der Bundesrepublik.
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 7 21
Deutschland
SPI EGEL-GESPRÄCH
SPIEGEL: Herr Bundespräsident, die Große SPIEGEL: Sie haben gerade zum zweiten Mal SPIEGEL: Es gebe in diesem Fall verschie-
Koalition reibt sich an Ihnen. Der Prä- innerhalb weniger Wochen die Unterschrift dene Rechtsstandpunkte, sagt die Bundes-
sident nervt, heißt es bis hinauf in die unter ein Gesetz verweigert, das Ihnen zur kanzlerin. Auch die Regierung habe das
Spitzen der Regierungsfraktionen. Erle- Ausfertigung vorgelegt wurde. Die Situa- Gesetz sehr sorgfältig prüfen lassen, ohne
ben wir nun das Unbequem-Sein, das tion ist mit dem Wort „notfalls“ genügend dass verfassungsrechtliche Bedenken vor-
Sie zu Beginn Ihrer Amtszeit angekündigt gekennzeichnet? gebracht wurden. Wie zwingend war die
hatten? Köhler: Das Verbraucherinformationsge- Ablehnung?
Köhler: Ich habe gesagt, ich werde offen setz, auf das Sie sich beziehen, wurde mir Köhler: Im Zuge der Föderalismusreform
sein und notfalls unbequem. Das war mei- im Oktober zur Ausfertigung zugeleitet. sind im September Änderungen des
ne Einstellung von Anfang an, und das Ich habe es sorgfältig geprüft. Dabei stell- Grundgesetzes in Kraft getreten. Seither
wird auch so bleiben. te sich heraus, dass dieses Gesetz nicht mit darf der Bund keine Aufgaben mehr an
den Vorschriften des Grundgesetzes im die Kommunen übertragen, genau dies
Das Gespräch führten die Redakteure Stefan Aust, Jan Einklang stand. Deshalb war ich an der aber sah das Gesetz vor. Die Bundesregie-
Fleischhauer und Gabor Steingart. Ausfertigung gehindert. rung konnte die verfassungsrechtlichen
22 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 7
Bedenken nicht ausräumen. Damit war die selbstverständliche Standards in der Ge- eine arbeitsmarktpolitische Kurskorrektur
Lage klar. setzgebung sein. verbunden, die jetzt zu wirken beginnt.
SPIEGEL: Fällt es Ihnen schwer, einem Ge- SPIEGEL: Es gibt die Auffassung, dass dem Dazu hat auch der Paradigmenwechsel
setz die Unterschrift zu verweigern? Bundespräsidenten in Ermangelung einer bei der Auszahlung des Arbeitslosengel-
Köhler: Das macht keine Freude. Und ich ernsthaften, starken Opposition in einer des beigetragen. Für mich ging es nicht
weiß, dass die Bundesregierung und der Großen Koalition eine besondere Rolle zu- ums Tagesgeschäft, sondern es geht um
Gesetzgeber nicht das Grundgesetz ab- kommt, dass er also eine Kontrollfunktion Stetigkeit und Beharrlichkeit, damit wir
sichtlich unterlaufen wollen. ausübt, die er sonst so nicht hätte. den Durchbruch zu mehr Beschäftigung
SPIEGEL: Karlsruhe sei die richtige Instanz, Köhler: Das Institutionengefüge hat Be- schaffen.
die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen zu stand unabhängig von den Mehrheitsver- SPIEGEL: Steckt dahinter eine generelle Kri-
klären, nicht der Bundespräsident, sagen hältnissen im Parlament. Und die Opposi- tik an Tempo und Tiefe des Reformpro-
Regierungsvertreter. tion, das ist auch in Zeiten einer Großen zesses in Deutschland?
Köhler: Nach meinem Amtsverständnis hat
der Bundespräsident nicht nur ein Prü-
fungsrecht, sondern auch eine Prüfungs-
pflicht. Er ist nach dem Grundgesetz Teil
des Gesetzgebungsverfahrens. Das hat das
Bundesverfassungsgericht schon vor lan-
ger Zeit bestätigt. Im Übrigen ist der Weg
nach Karlsruhe offen, auch wenn der Bun-
despräsident ein Gesetz nicht unter-
schreibt.
SPIEGEL: Wir erleben also einen selbstbe-
wussten und damit auch machtbewussten
Präsidenten.
Köhler: Einen pflichtbewussten. Mir geht
es um die Treue zum Grundgesetz. Der
Bundespräsident ist kein Unterschriften-
zahlen eher zur Selbstzufriedenheit der Dem Land mangelt es weder an Ideen Hartz-IV-Empfänger. Führen wir hier die
politischen Klasse beitragen. noch an Bürgern, die bereit sind, sie um- richtige Diskussion, wenn wir über eine
Köhler: Das ist Ihre Benotung. Ich sage, wir zusetzen. Das ist nicht das Problem. Aufstockung der Lohnersatzleistungen
sollten den Aufschwung nutzen, um weiter SPIEGEL: Sondern? reden?
voranzukommen: zum Beispiel bei der Köhler: Der Staat überfordert sich selbst mit Köhler: Es ist jedenfalls eine Diskussion,
nachhaltigen Absenkung der Lohnneben- dem Anspruch, dem Einzelnen jedes Risiko die sich noch nicht genügend der Realität
kosten, bei der Neugestaltung der Finanz- und jede Unsicherheit abzunehmen. Ich fin- und der Ehrlichkeit verpflichtet sieht. Ich
beziehungen zwischen Bund und Ländern de, die Menschen sollen Freiheit erfahren empfinde Hochachtung für die Frau an der
und bei einer nationalen Kraftanstrengung und Unterstützung bei der Verwirklichung Kaufhauskasse. Was sie an Steuern zahlt,
für Bildung sowie Forschung und Ent- ihrer eigenen Ideen erleben. Damit können finanziert auch den Sozialstaat. Menschen
wicklung. Im Aufschwung steckt eine wir am besten Kreativität mobilisieren. Des- wie sie sollten nicht das Gefühl haben
Chance für alle. halb ist es zum Beispiel auch richtig, den müssen: Eigentlich ist es ökonomisch irra-
SPIEGEL: Auch für die Armen in Deutsch- Weg vom betreuenden und nachsorgenden tional für mich, überhaupt noch arbeiten
land? Ausweislich einer gerade vom Statis- Sozialstaat hin zum vorsorgenden – ich sage zu gehen.
tischen Bundesamt veröffentlichten Studie lieber investiven – Sozialstaat zu gehen. Das SPIEGEL: Erwarten Sie von den Bürgern all-
leben Millionen unterhalb der Armuts- ist für mich ein Sozialstaat, der den Men- gemein mehr Kraftanstrengungen?
grenze. schen vor allem Chancen eröffnet, der aber Köhler: Die große Mehrheit der Bürger
Köhler: Wenn wir weniger Langzeitarbeits- auch ihre Verantwortung sieht. strengt sich an, und das verdient alle An-
lose hätten, gäbe es auch weniger Armut in SPIEGEL: Muss man dann nicht aber auch erkennung. Es muss nur klar sein: Es
Deutschland. Wir haben einfach zu lange über die Höhe staatlicher Transferleistun- braucht eine große Anstrengung der Ge-
darüber hinweggeschaut, dass da inzwi- gen reden? Was das verfügbare Einkom- sellschaft insgesamt, unseren Wohlstand zu
schen Millionen Menschen in einer Situa- men angeht, gibt es keinen großen Unter- halten, und eine noch größere, ihn weiter
tion verharren, in der sie für sich keine schied zwischen einem Arbeitslosen und zu steigern. Die Regierung in Dänemark
Perspektive sehen oder nicht mehr sehen demjenigen, der in einer der unteren zum Beispiel hat das erkannt. Sie hat eine
wollen. Lohngruppen arbeitet, ein Umstand, den Strategie formuliert, wie ihr Land aus der
SPIEGEL: Aber können Sie eine Kraftan- die Experten seit Jahren bemängeln. Globalisierung bestmöglich Nutzen ziehen
strengung der Politik erkennen, daran et- Köhler: Derjenige, der arbeitet und auch kann. Im Vorwort steht, dass es Dänemark
was grundlegend zu ändern? Arbeit unter schwierigen Bedingungen an- gutgeht – und genau deshalb sei jetzt der
richtige Zeitpunkt, sich für die Zukunft zu
wappnen. Die Dänen sagen also: Wenn du
stark bist, nutze deine Kraft, um dich auf
das Kommende vorzubereiten. Die meisten
Reformvorschläge gelten übrigens For-
schung und Bildung.
SPIEGEL: In den skandinavischen Staaten,
Finnland vorneweg, sind die Sozialausga-
ben gesunken. Dafür haben sie das Geld in
die Bildung investiert.
Köhler: Eine Studie im Auftrag der Hans-
Böckler-Stiftung hat gerade festgestellt,
dass wir in Deutschland europaweit an der
Spitze stehen bei der Höhe unserer So-
zialaufwendungen im Verhältnis zur volks-
wirtschaftlichen Leistung, aber weit hin-
ten in Bezug auf die Wirksamkeit dieser
Aufwendungen. Unsere Sozialpolitik ist
demnach in hohem Maße ineffizient. Wir
könnten mehr für die Bürger tun, mit den
MARGARET MOLLOY
gleichen Ausgaben.
SPIEGEL: Es gibt in Deutschland 26,5 Millio-
nen Empfänger von Transferzahlungen, ge-
nauso viele, wie als Beschäftigte in die So-
Totenehrung für im Irak gefallene US-Soldaten (in Kalifornien) zialkassen einzahlen. Ein Präsidiumsmit-
„Die Europäer haben den Amerikanern Erfahrung bei glied der CDU hat uns vor kurzem gesagt,
dass die Politik der Volksparteien sich zu-
der Begegnung mit anderen Kulturen voraus.“ nehmend auf die Verschiebung der Mehr-
heitsverhältnisse einzustellen beginnt.
Köhler: Ich erkenne viel Bewegung im nimmt, soll besser dastehen als jemand, Köhler: Wenn eine Demokratie nur nach
Land. Den Preis für die beste Schule der von Lohnersatzleistungen lebt. Das dem Gesetz der größeren Zahl funktioniert,
Deutschlands zum Beispiel bekam eine sollte auch ein durchgehendes Leitprinzip trägt sie möglicherweise den Keim ihres
Grundschule in Dortmund, weil sie für bei der geplanten Neuordnung des Nied- eigenen Niedergangs in sich. Deswegen
Kinder aus 26 Nationen ein vorbildliches riglohnsektors sein. braucht es eben auch politische Führung.
Klima für kreatives Lernen geschaffen hat. SPIEGEL: Armut beginnt laut den jetzt vor- SPIEGEL: „Mehrheit ist der Unsinn, Ver-
Die Schulleiterin hat gesagt, wir brauchen gelegten Zahlen im Falle einer vierköpfi- stand ist stets bei wen’gen nur gewesen“,
für unsere Schule eine Vision, und wir gen Familie in Deutschland bei einem ver- sagte einst Friedrich Schiller.
brauchen Spielraum für eigene, praktische fügbaren Einkommen von 1798 Euro netto. Köhler: Da bin ich ein bisschen optimisti-
Lösungen vor Ort. Im Grunde lautete ihre Eine Frau, die heute an einer Kaufhaus- scher. So viel Wissen und Informiertheit in
Botschaft: Lasst uns bitte machen. Und auf kasse sitzt und mit ihrem Verdienst ihre der Breite gab es historisch noch nie. Das
diese Haltung stoße ich überall im Land. Familie durchbringt, hat weniger als ein gibt mir Zuversicht. Es will mir nicht in
24 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 7
den Kopf, dass es nicht möglich sein soll, kämpften Süden zu gehen, zumindest nicht Köhler: Es hängt davon ab, wie wichtig uns
eine Politik zu definieren, bei der ich zwar mit Bodentruppen. Einige Nato-Partner eine wirksame internationale Stabilitäts-
dem einzelnen Menschen Veränderung zu- haben sehr deutlich gemacht, dass sie das politik ist, die über das Militärische hin-
mute, aber doch auch die vernünftige Aus- nicht akzeptabel finden. Ist das eine kluge ausreicht. Politisch ist es geboten, dass sich
sicht habe, dass es hinterher allen insge- oder eher eine ärgerliche Entscheidung des der Westen darüber klar wird, welche Rol-
samt nachhaltig bessergeht. deutschen Parlaments? le Afghanistan für weitergehende Fragen
SPIEGEL: In der Politik hat sich die Auffas- Köhler: Die Bundeswehr ist mit gutem internationaler Stabilität spielt.
sung durchgesetzt, dass mit dem Wort „Re- Grund eine Parlamentsarmee. Deshalb SPIEGEL: Die westliche Interventionspoli-
form“ keine Wähler zu gewinnen sind. Der habe ich diese Entscheidung nicht zu be- tik hat einen eindeutig militärischen
Impetus zur Veränderung rückt damit im- werten. Für mich wirft die Situation in Schwerpunkt …
mer weiter in den Hintergrund. Afghanistan eine grundsätzlichere Frage Köhler: … was ich kritisch sehe. Das mi-
Köhler: Das wäre schlecht, denn wir kön- auf, nämlich: Was wollen wir eigentlich mit litärische hat leider das zivile Element zu-
nen vieles nur bewahren, wenn wir auch
vieles ändern. Im Gespräch mit den Bür-
gern kann ich nicht erkennen, dass man
mit dem Thema Reform von vornherein
scheitern muss. Aber man braucht über-
zeugende Erklärungen, was sich warum in
Deutschland ändern sollte, was der welt-
weite Wandel für uns bedeutet und welche
Chancen er für uns birgt. Die meisten Bür-
ger wollen Ehrlichkeit und können sie auch
verkraften, selbst wenn sie mit Zumutun-
gen verbunden ist. Sie sagen mir: „Es muss
gerecht zugehen, dann machen wir auch
mit.“ Und mit Gerechtigkeit meinen sie
nicht das kleinliche Berechnen kurzfristi-
ger Vor- und Nachteile, sondern sie mei-
nen: Gerechtigkeit bei den Chancen. Also:
Die Leute können mit Freiheit umgehen,
und vernunftbegabt sind sie auch.
SPIEGEL: Stimmt der Eindruck, dass Sie in
schen dem Westen und den anderen Na- Köhler: Ich glaube, dass die Menschen im Köhler: Die russische Demokratie wird
tionen der Welt. Nahen und Mittleren Osten dem Grund- möglicherweise nie ganz unseren Vorstel-
SPIEGEL: Ist so auch dem Irak-Schlamassel satz nach dasselbe wünschen wie die lungen entsprechen. Das ist aber auch
zu entkommen? Menschen bei uns: dass sich das Leben nicht zwingend für eine gute Zusammen-
Köhler: Die Grundaussage, dass ohne eine lohnt. Nur wer nichts zu verlieren hat, ist arbeit.
entwicklungspolitische Dimension, die empfänglich für Extremisten. Das geht SPIEGEL: Ist Präsident Wladimir Putin eher
glaubwürdig am Wohlergehen der Be- über das Religiöse weit hinaus. Der Be- ein Opfer der Umstände oder einer der
völkerung ausgerichtet ist, kein militä- völkerungswissenschaftler Gunnar Hein- Drahtzieher hinter den jüngsten Turbu-
rischer Einsatz mehr vielversprechend sohn aus Bremen sieht zum Beispiel lenzen?
ist, gilt für den Irak genauso wie für Af- nicht so sehr in einem aggressiven Islam Köhler: Ich verfüge nicht über Informatio-
ghanistan. das größte Konfliktpotential, sondern in nen, die über das hinausgehen, was auch
SPIEGEL: Hat nicht derjenige, der von vorn- dem raschen Anwachsen einer perspektiv- Ihnen zugänglich ist. Ich kann Ihnen aber
herein seine Teilnahme ausschließt, sein losen Jugend in vielen arabischen Län- sagen, wie ich Präsident Putin bei früheren
Recht verwirkt, in der Irak-Debatte das dern. Begegnungen erlebt habe: als einen außer-
große Wort zu führen? SPIEGEL: Ihre Schlussfolgerung? ordentlich sachkundigen Politiker mit der
Fähigkeit, sich auf das Nächstliegende zu
konzentrieren. Und das war am Ende der
neunziger Jahre zunächst einmal die Wie-
derherstellung von staatlicher Ordnung und
Handlungsfähigkeit. Später erlebte ich ihn
auch als ernsthaften Reformer mit wachsen-
dem machtpolitischem Selbstbewusstsein.
SPIEGEL: Putin, der Gute?
Köhler: Das Verhältnis, das die russische
Führung bisweilen etwa zu Pressefreiheit
oder zu anderer Leute Eigentum ent-
wickelt, kann man kritisch beurteilen. Das
veranlasst mich aber nicht, mich an Spe-
kulationen und Verdächtigungen zu betei-
ligen, die darüber weit hinausgehen.
SPIEGEL: Nochmals unsere Frage: Putin ist
aus Ihrer Sicht also ein Opfer, kein Täter?
Köhler: Manche sagen, was wir derzeit er-
leben, sei bereits Teil des Machtkampfes
um die Nachfolge des Präsidenten. Ich
weiß es nicht. Es ist richtig, dass Außen-
minister Steinmeier die russische Führung
ITAR-TASS / REUTERS
D
er Nationalpark Eifel ist ein schö- Man könnte die Sache für das Ergebnis die Vorstellung aus, dass Männer und
ner Flecken Erde zwischen Bonn einer übereifrigen Bürokratie halten, wäre Frauen sich nur deshalb unterschiedlich
und Aachen. Lichte Buchenwälder da nicht diese merkwürdige Wendung verhalten, weil sie von der Gesellschaft
wechseln sich ab mit duftenden Heidewie- „Gender Mainstreaming“. Die Spitzenleu- dazu erzogen werden. Das ist kein neuer
sen. Es ist ein Ort, an dem alle Menschen te im Kanzleramt kennen sie ebenso wie Gedanke, Simone de Beauvoir schrieb
gleichermaßen Ruhe und Erholung finden, die Angestellten in Rathäusern und schon 1949: „Man kommt nicht als Frau
Männer wie Frauen; ein Ort, so möchte Kreisämtern, sie ist eingedrungen in die zur Welt, man wird es.“
man meinen, wo der Geschlechterkampf Verwaltung des Staates, leise, aber mit be- Neu ist, dass die Idee Eingang in die
pausiert. trächtlicher Wirkung. Gender Mainstrea- Politik gefunden hat, und dort entfaltet sie
Das Umweltministerium Nordrhein- ming ist Leitprinzip für alle Bundesbehör- eine tiefgreifende Wirkung. Denn wenn
Westfalen traute dem Frieden nicht und den, so steht es in der Geschäftsordnung das Geschlecht nur ein Lernprogramm ist,
schickte ein Expertenteam los, eine Sozio- der Regierung, zwölf Bundesländer sind dann kann man es im Dienst der Ge-
login, eine promovierte Ökotrophologin, mit ähnlichen Regelungen nachgezogen, schlechtergerechtigkeit auch umschreiben.
sie hatten einen wichtigen Auftrag: „Gen- das CSU-regierte Bayern genauso wie der Das ist ein Ziel des Gender-Mainstrea-
der Mainstreaming im Nationalpark Eifel – rot-rote Berliner Senat. ming-Konzepts. Nach dem Antidiskrimi-
Entwicklung von Umsetzungsinstrumen- Vor allem Bundesfamilienministerin Ur- nierungsgesetz ist dies nun das zweite ge-
ten“. Das klingt kompliziert, aber dahinter sula von der Leyen (CDU) ist die Sache ein sellschaftspolitische Projekt von Rot-Grün,
stand die Überzeugung, dass Sexismus Anliegen. In ihrem Haus gibt es ein eigenes das unter der neuen Bundesregierung mit
nicht vor den Grenzen eines Naturschutz- Referat Gender Mainstreaming und Anti- Elan weiterbetrieben wird.
gebiets haltmacht. diskriminierung, das Thema nimmt auf der Wer eine Vorstellung davon bekommen
Nach elf Monaten Arbeit legte das For- Internet-Seite des Ministeriums breiten möchte, wie Gender Mainstreaming in der
scherteam einen 67-seitigen Abschlussbe- Raum ein. Gleich zu Amtsbeginn beklagte Praxis funktioniert, muss bei Ralf Puchert
richt vor. Es empfahl zum Beispiel, Bilder die neue Ressortchefin: „Mit Gender vorbeischauen. Puchert hat es sich zur
von der Hirschbrunft möglichst aus Wer- Mainstreaming hinken wir der internatio- Lebensaufgabe gemacht, einen anderen
bebroschüren zu streichen, denn so etwas nalen Entwicklung hinterher.“ Mann zu formen, er verfolgt den Gedan-
fördere „stereotype Geschlechterrollen“. Was aber bedeutet Gender Mainstrea- ken, seit er in den achtziger Jahren an der
Die Landesregierung überwies 27 000 Euro ming, ein Begriff, der inzwischen so ver- TU Berlin studiert hat. 1989 schloss er sich
für die Studie. breitet ist, dass die Redaktion des Duden mit vier anderen Pädagogen aus seiner
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 7 27
Männergruppe zusammen
und gründete „Dissens“, ei-
nen Verein für eine „aktive
Patriarchatskritik“.
Inzwischen sind die meis-
ten Männergruppen im Or-
kus der Zeitgeschichte ver-
schwunden, Dissens aber ist
ein florierender Betrieb mit
20 Mitarbeitern, eine Art
Allzweck-Anbieter für pro-
gressive Geschlechterarbeit.
Die späte Blüte verdankt der
Verein auch dem Umstand,
dass Gender-Mainstreaming-
Projekte seit einigen Jah-
ren großzügig gefördert wer-
den; Aufträge kamen schon
von der Stadt Berlin, der
Bundesregierung, der EU-
Kommission.
Spezialgebiet des Vereins
ist Jungenarbeit. Von dieser
J. H. DARCHINGER
M. MITCHELL
sozialpädagogischen Projekts zu stellen, Euro für die Studie „Gender Greenstrea-
das auf einer zweifelhaften theoretischen ming“ übrig, zu deren Ergebnissen gehört,
Grundlage steht. Mediziner Money dass es geschlechterpolitisch sinnvoll wäre,
Der amerikanische Mediziner John Die Realität beugte sich nicht der Theorie wenn es auch mal „Motorsägenkurse für
Money war einer der Ersten, die wissen- Frauen“ gäbe.
schaftlich zu beweisen versuchten, dass fessorin Judith Butler. Für Butler ist die Und das nächste Projekt steht schon auf
Geschlecht nur erlernt ist, er war einer Geschlechtsidentität der meisten Men- der Tagesordnung. Seit März liegt im Bun-
der Pioniere der Gender-Theorie. Money schen eine Fiktion, eine „Komödie“, die desfamilienministerium eine „Machbar-
ging bei seiner Forschung nicht zimperlich aufzuführen sie von frühester Kindheit an keitsstudie Gender Budgeting“, sie hat
vor: Im Jahr 1967 unterzog er den knapp eingebläut bekommen. Das Zusammenle- 180 000 Euro gekostet, der Haushalt etli-
zwei Jahre alten Jungen Bruce Reimer ei- ben von Mann und Frau und das sexuelle cher Ministerien wurde dafür untersucht.
ner Geschlechtsumwandlung; dessen Penis Begehren zwischen den unterschiedlichen Würde es umgesetzt, müsste jeder einzel-
war zuvor bei einer Beschneidung ver- Geschlechtern betrachtet sie als Ausdruck ne Finanzposten danach abgeklopft wer-
stümmelt worden. Schon bald zeigte sich, eines perfiden Repressionssystems, der den, ob er geschlechterpolitisch korrekt
dass sich die Realität nicht Moneys Theo- „Zwangsheterosexualität“. ausgegeben wird. Es wäre der Sieg der
rie beugen wollte. Schon als kleines Kind Es ist leicht, Butler für das Produkt eines Bürokratie über die Vernunft, denn es ist
riss sich Brenda, wie Bruce nun hieß, die etwas überdrehten amerikanischen Uni- schwer zu klären, ob nun eher Frauen oder
Kleider vom Leib, um Mädchenspielzeug versitätsbetriebs zu halten. Aber das hie- Männer einen Vorteil haben, wenn die Re-
machte sie einen weiten Bogen. Als Bren- ße, ihre Wirkung zu unterschätzen. An je- gierung Steinkohlesubventionen zahlt oder
da mit 14 erfuhr, dass sie als Junge auf der der zahlreichen deutschen Hochschu- einen neuen Kampfhubschrauber bestellt.
die Welt gekommen war, ließ sie die Ge- len, die Gender-Studien anbieten, gehört Inzwischen dämmert es vielen in der
schlechtsumwandlung rückgängig machen. Butler zum Kanon, und für die Studenten Union, dass ein Projekt wie Gender Main-
Im Frühjahr 2004 erschoss sich Bruce Rei- bieten sich immer mehr Möglichkeiten, streaming kaum mit der Programmatik
mer mit einer Schrotflinte. das Erlernte in die Praxis umzusetzen. einer konservativen Partei zu vereinbaren
Noch heute führt jede neue Den Gender-Theoretikern ist ist. „Ich frage mich wirklich, ob wir damit
Studie über die Gründe für es gelungen, aus ihrer akade- den richtigen politischen Schwerpunkt set-
das unterschiedliche Verhalten mischen Nischendisziplin ein zen“, grummelt der Unionsfraktionsvize
der Geschlechter zu heftigen bürokratisches Großprojekt zu Wolfgang Bosbach. Bisher war es immer
Debatten. Das liegt vor allem machen. Position der Union, sich aus dem Privatle-
daran, dass es eine politische Bis in die Provinz sind ben der Menschen möglichst herauszuhal-
Frage ist, ob Natur oder Kul- die Gender-Arbeiter schon ten; sie wollte den Staat nach ihrem Willen
tur den Menschen zu Mann vorgedrungen. Für die Dorf- formen, aber nicht die Bürger.
MARKUS KIRCHGESSNER / LAIF
oder Frau macht. Würden erneuerung von Jützenbach, Ursula von der Leyen hat sich eine
Gene und Hormone das Ver- einer 550-Einwohner-Gemein- Doppelstrategie überlegt, um der Kritik
halten der Menschen steuern de im Südharz, gab das Erfur- auszuweichen. Öffentlich wird die Minis-
wie eine Fernbedienung, dann ter Landwirtschaftsministeri- terin das Wort Gender Mainstreaming
könnten Gegner einer echten um einen „Gender-Check“ für nicht mehr in den Mund nehmen, in einer
Gleichstellung der Geschlech- 15000 Euro in Auftrag, der un- Leitungsbesprechung in ihrem Haus
ter es zu einer Art Naturgesetz Professorin Butler ter anderem zu der Erkenntnis wurde verfügt, dass künftig die Formel
erklären, dass Frauen ihr Le- Radikale Vertreterin führte, dass in der freiwilligen „Gleichstellungspolitik als Erfolgsstrategie“
ben in Sorge um Kind und Feuerwehr nur eine einzige zu verwenden sei. Aber das ändert nichts
Heim verbringen müssen. Das erklärt wie- Frau Dienst tut. Die Freiburger Stadtver- an ihrer Linie.
derum, warum viele Feministinnen und waltung hat einen Leitfaden für Erzieher Wer den „Newsletter zu Gleichstel-
Gender-Theoretiker so vehement bestrei- herausgegeben, damit „negativen Einwir- lungspolitik“ des Ministeriums abonniert,
ten, dass es überhaupt einen Unterschied kungen jungmännlicher Dominanz“ schon findet unter der Rubrik „Neues aus dem
gibt zwischen Mann und Frau außer Pe- im Kindergarten begegnet wird. GenderKompetenzZentrum“ weiterhin
nis und Vagina. Sie fürchten, dass alles Kaum ein Bürger weiß, was Gender regelmäßig Erfolgsmeldungen. Von der
andere als Rechtfertigung benutzt wird, Mainstreaming heißt, die deutschen Staats- Leyen hat schon zu Beginn ihrer Amtszeit
um Frauen Rechte und Lebenschancen diener aber bekommen immer ausgeklü- klargemacht, dass sie sich im Gegensatz
vorzuenthalten. geltere Leitfäden dazu auf den Tisch, es zur Kanzlerin nicht mit einer Politik der
Die wohl einflussreichste und radikalste gibt Pilotprojekte, Lehrgänge und Mach- kleinen Schritte begnügen will. „Ich möch-
Vertreterin der Gender-Theorie ist die barkeitsstudien. An der Berliner Humboldt- te in diesem Land etwas bewegen“, sagte
im kalifornischen Berkeley lehrende Pro- Universität hat die Regierung eigens ein sie. René Pfister
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 7 29
Deutschland
I
n den vergangenen Wochen wurde Ed- feld Paulis geschnüffelt haben
mund Stoiber häufiger von politischen soll, musste vier Tage später ge-
Erinnerungen übermannt. Dann sah er hen. Er war einer der engsten
sich selbst, vor 13 Jahren, als schneidigen Vertrauten des Ministerpräsi-
Innenminister, dem in München die Zu- denten, er ist seit rund drei
kunft gehörte. Der bayerische Minister- Jahrzehnten an seiner Seite.
präsident Max Streibl war tief in einen Fi- In der Partei wird seither
nanzskandal verstrickt, der als Amigo-Af- ziemlich ungehemmt über Stoi-
färe in die Geschichte eingehen sollte. Die bers politische Zukunft disku-
CSU steckte in einer ernsten Krise, die tiert. Immer mehr Landtags-
nächste Landtagswahl rückte näher. abgeordnete zeigen ihre Sym-
Alles wartete auf eine Entscheidung, da pathie für die Forderung der
trat Stoiber vor die CSU-Abgeordneten Landrätin Pauli, den Spitzen-
und sagte: „Wenn Max Streibl aufhören kandidaten für die Landtags-
sollte – ich traue mir das zu.“ Es war das wahl 2008 nach einer Urabstim-
Signal zum Sturz des Ministerpräsidenten. mung in der Partei zu benen-
Streibl musste zurücktreten, Stoiber wurde nen. Selbst der bayerische Um-
sein Nachfolger. weltminister Werner Schnapp-
Wenn der CSU-Chef an das Entschei- auf lehnt eine Mitgliederbefra-
dungsjahr 1993 zurückdenkt, dann bleibt gung nicht mehr grundsätzlich
ihm ein Trost: Der 65-Jährige sieht gegen- ab – für die Stoiber-Getreuen
wärtig niemanden, der ihn stürzen könnte. das Zeichen, dass die Gruppe
Denn eigentlich wäre es wieder Zeit für der Stoiber-Kritiker bis ins Ka-
einen Führungswechsel. Das ist die andere binett Fuß gefasst hat.
Botschaft der Putschgeschichte, die Stoiber Alles kommt nun wieder
in diesen Tagen im kleinen Kreis reminis- hoch: der Ärger über Stoibers
zierend zum Besten gibt. sprunghafte Art, Politik zu be-
Seit er sich vor einem Jahr zu der Ent- treiben, der Unmut über sein
scheidung durchrang, doch lieber Minis- ewiges Zaudern und über einen
terpräsident in Bayern zu bleiben, als Mi- Führungsstil, der ihm als CSU-
nister in Berlin zu werden, hat er es in der Generalsekretär einst den
Heimat schwer. Stoibers Ansehen hat sich Beinamen „blondes Fallbeil“
von der Absage an Kanzlerin Angela Mer- einbrachte.
kel, die viele als Flucht vor der Verant- Stoiber war nie zimperlich,
wortung verstanden, nie mehr richtig wenn es darum ging, Widersa-
erholt. In einer am Donnerstag veröffent- cher zu Fall zu bringen. Schon
lichten Umfrage äußerten sich deutlich we- früh hat er einen Kreis von Ver-
niger als die Hälfte der Befragten zufrieden trauten um sich geschart, die
mit seiner Arbeit. In der Staatskanzlei wer- sich in der Kunst des politischen
tet man die 43 Prozent schon als Erfolg. Armdrückens verstanden und
Die Auftritte Stoibers auf der Bundes- dabei auch vor Drohungen
bühne werden allenthalben mit Kopf- nicht zurückschreckten.
schütteln verfolgt. Zweimal hat der CSU- Der frühere CSU-Chef Theo
Chef 2006 in Nachtsitzungen mit den Spit- Waigel denkt noch immer mit
zen von SPD und CDU Kompromisse zur Wut an jene Wochen zurück,
Gesundheitsreform ausgehandelt, jedes als er den glücklosen Streibl
Mal hat er hinterher den Beschluss wieder als Ministerpräsidenten ablösen
in Frage gestellt. „Ganz blöd sind die Leu- wollte. Plötzlich setzte es An-
te nicht“, sagt ein Mitglied der CSU- rufe bei den Chefredaktionen
Führung. „Ich kann mich nicht damit brüs- der Münchner Lokalzeitungen,
ten, dass in Berlin keine Beschlüsse gegen in denen, mit der Bitte um
die CSU gefällt werden, und gleichzeitig Quellenschutz, darauf hinge-
kritisieren, was die da in Berlin für einen wiesen wurde, dass Waigels
SEYBOLDT-PRESS
MARC-STEFFEN UNGER
wenn es der Sache dient. Nach sei- gute Chancen aus, Parteichef zu
ner Wahl zum CSU-Chef 1999 werden.
schickte ihn Stoiber in die Partei- Auch Wirtschaftsminister Er-
zentrale, zunächst als Büroleiter, win Huber, 60, hat seine Hoff-
2001 dann als Geschäftsführer. Er Kandidaten Herrmann, Seehofer: Die Zeit ist nicht reif nungen auf das Amt des Minis-
sollte Generalsekretär Thomas terpräsidenten noch nicht auf-
Goppel kontrollieren. Höhenberger leiste- dass die Landrätin ihm nicht wirklich ge- gegeben; Thomas Goppel, 59, inzwischen
te ganze Arbeit. Goppel erhielt eines Tages fährlich werden kann, dafür hat sie zu we- Wissenschaftsminister, werden ebenfalls
einen Brief, der seine eigene Unterschrift nig Gewicht im Partei-Establishment. Ambitionen nachgesagt. Sie alle belau-
trug. Er hatte den Brief nie zuvor gesehen. Die Wortführer halten sich bislang ern und blockieren sich gegenseitig. Das
Höhenberger, so wird berichtet, hatte ihn zurück. Es gibt eine Reihe von Leuten mit ist im Augenblick Stoibers Lebensversi-
in Goppels Namen aufgesetzt. Unter- Ambitionen, daran liegt es nicht. Frak- cherung.
schrieben hatte ein Automat. tionschef Joachim Herrmann, 50, will Stoi- Das ist auch der Grund dafür, dass die
Als Stoiber voriges Jahr die Flucht aus bers Nachfolger als Ministerpräsident wer- Chance einiger Stoiber-Gegner, mit ihrer
Berlin antrat und politisch so geschwächt den, das wissen alle. Aber er kann sich Forderung nach einer Urwahl des Spitzen-
war wie noch nie zuvor, richtete sich der nicht offen gegen Stoiber stellen, dafür ist kandidaten durchzukommen, nicht sehr
Zorn der Abgeordneten als Erstes gegen die Zeit noch nicht reif. Andererseits muss groß ist. Beim CSU-Parteitag im Oktober
seine Mitarbeiter. Vor allem Stoibers Re- er den Abgeordneten zeigen, dass er ihm wiesen die Delegierten einen entspre-
gierungssprecher Martin Neumeyer stand gegenüber eigenständig auftritt. Ein Duck- chenden Antrag mit überwältigender
plötzlich im Zentrum der Kritik. Neumey- mäuser kann nicht bayerischer Minister- Mehrheit zurück. Jetzt schlägt Pauli eine
er war im System Stoiber am Ende so ein- präsident werden. Mitgliederbefragung vor, die den Parteitag
flussreich geworden, dass er sogar Minister Als die Spitzelaffäre losbrach, schwieg nicht bindet. Doch Führungsfragen regeln
zurechtweisen konnte. Auf ihn hörte Stoi- Herrmann zunächst. Als die Empörung die Mächtigen in der CSU gern unter sich.
ber mehr als auf die politische Führung immer größer wurde, sagte er: „Die Staats- Eine Urabstimmung wäre unkontrollierbar
der CSU. kanzlei sollte sich auf gute Politik kon- – allerdings sieht die Satzung die Möglich-
Einige Abgeordnete forderten seinen zentrieren und nicht auf die Suche nach keit einer derartigen Befragung der Par-
Kopf. Stoiber versetze Neumeyer – nach Gegnern von Edmund Stoiber.“ Das war teibasis bisher auch nicht vor.
oben. Er ist nun Amtschef in der Staats- In der Staatskanzlei macht man
kanzlei, mächtiger als je zuvor. „Es ist wie sich damit Mut, dass nur noch we-
früher“, stöhnt ein CSU-Spitzenmann. nig Zeit für einen Führungswech-
„Neumeyer weist die Ministerien an, wel- sel bleibt. Im Frühjahr 2008 sind
che Pressemitteilungen sie herausgeben die wichtigen Kommunalwahlen.
sollen.“ Nichts fürchten Kommunalpoliti-
Daran wird auch die Pauli-Affäre nichts ker mehr als eine Führungsdebat-
ändern. Stoiber ist nach seinem Rückzug te zur Unzeit, Uneinigkeit wird
aus Berlin noch abhängiger von seinen vor allem von konservativen
Mitarbeitern als zuvor. Es gibt nicht mehr Wählern hart bestraft.
viele, denen er wirklich vertrauen kann, In der Parteizentrale, die wie
genau besehen sind da nur noch die Leu- die Staatskanzlei noch fest in der
te, die mit ihm stehen und fallen. Hand des CSU-Chefs ist, rechnen
Höhenberger wird in Stoibers Nähe deshalb alle damit, dass der Minis-
bleiben, in welcher Funktion auch immer. terpräsident des Freistaats auch
Stoiber hatte seinen Mann partout halten nach der Landtagswahl im Herbst
wollen. Erst als Höhenbergers Gesprächs- 2008 wieder Edmund Stoiber
partner, der Fürther Wirtschaftsreferent heißen wird.
Horst Müller, bei dem sich der Büroleiter Es gibt bereits erste Überlegun-
über das Privatleben Paulis erkundigt hat- gen für den Wahlkampf, abge-
te, die Vorwürfe bestätigte, kam man in stimmt auf die schwierige Lage.
der Staatskanzlei zu der Einschätzung, „Diesmal sollen die Inhalte im
dass Höhenberger nicht mehr zu halten Vordergrund stehen“, sagt ein
sei. Das sei ein „Aushorchen auf einem Wahlkampfmanager, was vor-
DANIEL KARMANN / DPA
Niveau gewesen, das nicht das meine ist“, nehm umschreiben soll, dass ein
sagte Müller. reiner Personenwahlkampf als un-
Für Stoiber geht es jetzt darum, Zeit zu geeignet gilt. „Das Land mit Stoi-
gewinnen und den Kreis der Gegner klein ber-Plakaten zupflastern, das wird
zu halten. Bislang haben sich Kommunal- nicht mehr gehen“, sagt der Par-
politiker und Hinterbänkler öffentlich auf Bespitzelte CSU-Landrätin Pauli teistratege bedauernd.
die Seite Paulis geschlagen. Stoiber weiß, Früher wäre sie erledigt gewesen Ralf Neukirch
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 7 31
Gefährdete Winterwelt Höhenlage ausgewählter Skigebiete in den Bayerischen Alpen Oberstdorf SCHWEIZ
815 m
Ober-
Zugspitze 2962 m Hindelang maiselstein
825 m 859 m LIECHTENSTEIN
Ö STE R R E ICH
Garmisch-
Spitzing Partenkirchen
1085 m 720 m
Nord
Gruppe die Modernisierung rund 14 Mil- bayerischen Orte erwischt es demnach fast
TOURISMUS
lionen Euro kosten lassen. komplett: Schon bei zwei Grad Tempera-
F
rohgelaunt schweben zwei Männer gar mächtig weiße Winter wie der vorige, 100 Skigebiete. Der Klimaexperte Shardul
im gepolsterten Vierersessellift auf als viele Hausbesitzer um ihre papp- Agrawala kam auf diese bedrohlichen Pro-
den Stümpfling. Es sind der Münch- schneebelasteten Dächer fürchteten, sind gnosen, nachdem er riesige Datenmengen
ner Unternehmer Stefan Schörghuber, immer mal wieder möglich. Der Genosse durch den Rechner geschickt hatte. Bereits
Mehrheitsgesellschafter der „Alpenbah- Trend jedoch ist erbarmungslos mit den die Jahre 1994, 2000, 2002 und 2003 waren
nen Spitzingsee GmbH“, und Erwin Hu- Freunden des alpinen Skilaufs. die wärmsten der vergangenen 500 Jahre.
ber, der Wirtschaftsminister des Freistaats Nach einer zum Saisonstart vorgelegten Natürlich kennen auch Investoren wie
Bayern. Sie haben sich in dicke Winter- Studie der Organisation für wirtschaftliche Schörghuber diese Daten. Mal abgesehen
mäntel gehüllt, auch wenn das Thermo- Zusammenarbeit (OECD) gefährdet die davon, dass sie gern daran erinnern, wie
meter auf 1504 Metern leichte Plusgrade Erderwärmung im schlimmsten Fall zwei sich zuweilen auch Klimaforscher wider-
anzeigt. Drittel aller Skigebiete in den Alpen. Die sprechen, handeln sie durchaus realitätsnah:
Unterwegs passieren sie ei- An der Wallbergbahn am Te-
nen nierenförmigen künstlichen gernsee (790 Meter) ließ Schörg-
Wasserspeicher mit einem Fas- huber Sessel- und Schlepplifte
sungsvermögen von 42 000 Ku- abbauen – und errichtete eine
bikmetern. Eine Pumpstation 6,5 Kilometer lange Rodelbahn,
bringt das reine Bergwasser zu die ab 10 Zentimeter Schneeauf-
den 25 Schneekanonen, die die lage die Touristen anlocken soll.
Pisten „schneesicher“ machen Die weiße Pracht spielt für den
sollen. Alpentourismus von morgen
Der Politiker Huber ist vom möglicherweise nur noch eine
Konzernchef Schörghuber an Nebenrolle. Der Konzern setzt
FRANK MÄCHLER / PICTURE- ALLIANCE / DPA
D
Die Stammtischparolen, wonach die grü- ie kleine Gemeinde Gatersleben in klärt, warum dieser Freilandversuch
nen Klimaforscher „ein Schmarrn“ ver- Sachsen-Anhalt ist stolz auf ihre „außergewöhnlich“ sei.
breiten würden, werden seltener. Die weit zurückreichende Geschichte. „Erstmals soll der Beweis erbracht wer-
Kundschaft hat bereits auf die erschwerten Steinzeitliche Werkzeuge wurden hier ge- den, dass grüne Gentechnik herkömm-
Verhältnisse reagiert. „Kürzere Aufent- funden, Waffen, Knochen und mit Band- lichen Züchtungsmethoden überlegen sein
haltszeiten, spontane Umbuchungen, ski- Ornamenten verzierte Hausgeräte. Im Jahr kann.“ Die Chemikerin will den Protein-
ferne Aktivitäten“, fasst Garmisch-Parten- 964 wurde das Dorf erstmals urkundlich gehalt des Futterweizens verbessern, ohne
kirchens Tourismusmanager Peter Nagel erwähnt. Doch auch die Zukunft ist in dem dabei dessen Ertrag zu schmälern. An die-
den Trend zusammen: „Die Leute checken 2600-Einwohner-Ort präsent: Anno 2006 sem Ziel scheitern konventionelle Saat-
im Internet die Web-Kamera, ob heute ist Gatersleben wichtiger Stützpunkt für züchter seit Jahrzehnten.
Schnee gefallen ist, und fahren los.“ die Genforschung – als Heimat des Leib- Was Weschke als erfolgversprechendes
Die Entwicklung scheint nicht aufzuhal- niz-Instituts für Pflanzengenetik und Kul- Experiment auslobt, stößt anderen bitter
ten zu sein. Man kann sie allenfalls verzö- turpflanzenforschung (IPK). auf: Denn unter dem Dach des staatlich
gern, mit noch mehr Technik. Es gibt näm- Dieser Tage schießen ganz besonders finanzierten Instituts lagert auch Deutsch-
lich das Bakterium „Pseudomonas Syrin- gehegte Triebe aus der Schwarzerde der lands größte Pflanzensamen-Bank, mit
gae“. Das abgetötete Bakterium lässt als Magdeburger Börde: Winterweizen mit 148 847 Saatgutmustern, darunter 28 622
Kristallisationskern Wasser schon bei rund Genen aus der Gerste und aus der Acker- vom Weizen. Der „schwarze behaarte
fünf Grad plus zu Schnee gefrieren. Mit bohne. „Hosut“, „XAP“ und „Sutap“ Winteremmer“ etwa ist dabei, ein robuster,
ihm produzieren Schweizer Dörfer im Wal- nennen die Wissenschaftler ihre drei im standfester Weizen mit schwarzer Ähre,
lis und im Berner Oberland Schnee auch Labor erzeugten Forschungslinien. Ein „Kuwerts Ostpreußischer Dickkopf“ oder
bei Plustemperaturen – ein echter Wettbe- Schäferhund, ein Wachmann mit Schwarz- „Strubes Roter Schlanstedter“ – ein letzt-
werbsvorteil in der alpinen Aufrüstung. rotgold-Aufnäher auf dem Sweater und mals 1960 in Nordostdeutschland ange-
Ob die biologische Wunderwaffe scha- zwei Kameras bewachen den 1200 Qua- bautes Getreide mit sperrig begrannter ro-
det, ist in der Forschung umstritten. In dratmeter großen Acker. Stolz steht ter Ähre.
Deutschland ist das Schneedoping jeden- Winfriede Weschke, die Erfinderin des Damit sie ihre Keimfähigkeit nicht ver-
falls verboten. Noch. Sebastian Knauer Projekts, in der Spätherbstsonne und er- lieren, müssen die wertvollen Körner aus
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der Tiefkühltruhe geholt werden, um sich schen Bauern im Nacken sitzen, nicht der Universität Louisiana neben konven-
im Freiland zu vermehren. Nur 500 Meter lassen: Die Forscher dürfen ein bisschen tionellem Saatgut freigesetzt und danach
von den genmanipulierten Hosut-, XAP- mehr im Freien experimentieren. Für die komplett aus dem Verkehr gezogen – so
und Sutap-Organismen entfernt wächst Bauern aber sollen weiterhin die strengen dachte man.
derzeit herkömmlicher Winterweizen her- Haftungsregeln gelten, die noch Seehofers Jahre später wurde das Malheur offen-
an: „Stella“ und „Faktor“ aus der IPK-Sa- grüne Vorgängerin Renate Künast erlas- sichtlich: Genveränderter Samen tauchte
menbank. sen hatte. bei etlichen US-Reisbauern auf, belastete
Nicht alle sehen darin eine gute Nach- Die Folgen marodierender Genmani- Ernten waren bereits in aller Welt verkauft.
barschaft: „Es ist fahrlässig, wenn ausge- pulationen will kaum ein Ackersmann Wie das geschehen konnte, ist bis heute
rechnet in einer solchen Schatztruhe der auf die eigene Kappe nehmen. Seit der ein Rätsel.
Menschheit genveränderte Samen ausge- ersten landwirtschaftlichen Zulassung für Die Rückrufaktion des kontaminierten
bracht werden“, schimpft der Biologe Hen- genverändertes Saatgut vor einem Jahr Nahrungsmittels kostete die Branche in
ning Strodthoff von Greenpeace. „Wer Deutschland rund zehn Millionen Euro.
trägt den Schaden, wenn sie in die alten Allein der Hamburger Großhändler Eury-
Weizensorten auskreuzen? Diese Sorten za, in dessen Sorte „Oryza Ideal Reis“ be-
gingen für immer verloren.“ lastete Körner gefunden wurden, musste
Das sei alles nur Panikmache, wehren 400 Tonnen zurückrufen; rund 10 000 Ton-
die Gaterslebener Forscher ab: „Wir er- nen Reis wurden insgesamt vom deutschen
halten hier seit Jahrzehnten Samen. Obers- Markt genommen.
tes Prinzip ist, dass die sich nicht vermi- Würde für derlei Fälle in Deutschland
schen dürfen“, sagt IPK-Direktor Ulrich künftig der Staat haften?
Wobus. „Deshalb treffen wir alle notwen- Nur bedingt, sagt Wolfgang Köhler,
digen Sicherheitsvorkehrungen, so dass die Referatsleiter für Gentechnik beim Bun-
transgene Saat nicht auskreuzen kann.“ deslandwirtschaftsministerium. Keinesfalls
Hundertprozentige Sicherheit gebe es in werde der Bund teure Rückrufaktionen
der Biologie freilich nie. „Wer auf absolu- bezahlen müssen. Er werde lediglich für
te Gentechnik-Freiheit pocht, muss den „unmittelbare Schäden“ einer Auskreu-
Anbau von genveränderten Pflanzen ganz zung von Freilandversuchen aufkommen:
WOLFGANG KUMM / AP
verbieten.“ wenn etwa ein benachbarter Landwirt die
Der Professor und seine Mitstreiter eigene Ernte nicht vermarkten kann, weil
fühlen sich seit Ende November ermutigt: diese nach einer unbeabsichtigten Bestäu-
Überraschend genehmigte ihnen das Bun- bung mit Genpollen nicht mehr als gen-
desamt für Verbraucherschutz und Le- technisch unbelastet gilt.
bensmittelsicherheit die Freisetzung ihres Obstbäuerin, Minister Seehofer (in Berlin) Sollte allerdings erst bei einer späteren
genetisch veränderten Saatguts. Auch der Verunglückter Spagat Lebensmittelkontrolle die Genverschmut-
zeitgleich von Bundeslandwirtschaftsmi- zung auffliegen, könnte der Bauer der An-
nister Horst Seehofer (CSU) vorgelegte UMFRAGE: GENTECHNIK geschmierte sein. Er haftet immer dann für
Entwurf für ein neues Gentechnik-Recht die Kosten einer Rückrufaktion aus den
sei „ein gutes Signal“. „Würden Sie ohne Bedenken Supermarktregalen, wenn er seinem Ab-
Das ist verständlich, kommt der Entwurf gentechnisch veränderte nehmer – also zum Beispiel der Mühle –
doch den Wissenschaftlern in vielerlei Hin- vorher schriftlich garantiert hatte, dass sei-
sicht entgegen: So sollen die Felder expe- Lebensmittel kaufen?“ ne Ware frei von Gentechnik sei.
rimentierfreudiger Anbauer nicht mehr Weil solche Garantien nicht selten ver-
so eindeutig ausgewiesen werden wie bis- JA 13 % langt werden, fordert die Bauernlobby eine
her, um sie vor Gegnern der Gentechno- klare Ergänzung in Seehofers
logie besser zu schützen. Außerdem soll
die Forschung in Labor und Freiland er-
NEIN 76 % Novelle: „Es muss geregelt
werden, dass derjenige, der
leichtert werden. genveränderte Organismen
Kern der geplanten Gentechnik-Novelle 6% nur wenn sie billiger sind testet, auch die Felder des Nachbarn vor
ist indes eine Neuregelung der Haftungs- der Ernte beprobt“, sagt Jens Rademacher
garantie. Sie trägt die Handschrift von TNS Forschung für den SPIEGEL vom 5. bis 7. Dezember; vom Deutschen Bauernverband. Bislang
1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“/
Forschungsministerin Annette Schavan keine Angabe müssen die Landwirte selbst für die Kos-
(CDU), einer glühenden Verfechterin der ten derartiger Nachweise aufkommen –
grünen Gentechnik. zum Beispiel, wenn sie den Babykost-
Danach will der Bund die Risiken öf- für eine schädlingsresistente Maissorte hersteller Claus Hipp aus Pfaffenhofen
fentlich finanzierter Forschung künftig ab- wird diese gerade mal auf 1800 Hektar beliefern wollen, der ganz auf Bio-
sichern. Risiken sind das, die nicht einmal angebaut – also auf 1 Promille der dafür kost setzt.
die Versicherungsbranche für kalkulierbar geeigneten Anbaufläche. Denn wenn ein „Ein Unding“, erklärt Ulrich Kelber,
hält. Nun soll der Steuerzahler einstehen, Bauer mit seiner Gensaat Pech hat, haften Vizevorsitzender der SPD-Fraktion, „wer
wenn etwas schiefgeht: Es werde „ange- weder der Bund noch die Hersteller – auf Gentechnik verzichtet, darf doch
strebt, Haftungsfälle aufgrund von Aus- Chemiemultis wie Monsanto, BASF oder nicht für den Nachweis zur Kasse gebeten
kreuzungen durch den Bund abzudecken“, Syngenta. werden, dass seine Produkte gentechnik-
heißt es in Seehofers Entwurf. Wie teuer bereits ein wissenschaftlicher frei sind.“ Zumal derlei Nachweise teuer
Was nach einem weitgehenden Ein- Gen-Unfall auf überschaubarer Fläche sind: Eine einzige Genanalyse kostet an
knicken Seehofers gegenüber Forschungs- werden kann, zeigte sich jüngst in den Ver- die 300 Euro.
ministerin Schavan aussieht, ist ein ver- einigten Staaten. Die Ausgangssituation Verbraucherminister Seehofer sieht das
unglückter Spagat. Denn von seiner kri- war ähnlich wie in Gatersleben beim IPK: Dilemma, ist aber ratlos: „Uns ist nicht
tischen Haltung will der CSU-Minister, Gensaat wurde zwischen 1999 und 2001 eingefallen, wie wir das Problem realistisch
dem die gentechnikfeindlichen bayeri- von einer staatlichen Reisforschungsstation lösen können.“ Annette Bruhns
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Deutschland
E
s war gegen 3 Uhr früh in der Nacht reits seit gut einem Jahr akribisch vorbe-
vom ersten auf den zweiten Weih- reitet. Im August 2005 meldete sich eine
nachtstag, als die besinnliche Ruhe Hamburger Gruppe in der Szene-Postille
Der Anschlag auf Mirows Haus ist der subishi des Chefs des Hamburgischen
jüngste einer ganzen Serie von militanten Weltwirtschaftsinstituts, Thomas Straub-
Aktionen gegen Politiker und Unterneh- haar, ab;
mer in Berlin und Norddeutschland. Weil • bewarfen Unbekannte Ende August 2006
die zunehmende Zahl der Attacken im Soldaten in Heiligendamm* das Haus des mecklenburg-vorpommer-
Vorfeld des Treffens der Staats- und Re- Showdown an der Ostsee schen Ministerpräsidenten Harald Rings-
gierungschefs der acht wichtigsten Indu- torff mit Steinen und Farbe.
strienationen den Sicherheitsbehörden Zu dem Anschlag auf Mirow bekannte Seit Monaten schon ist das Treffen der
mehr und mehr Sorge bereitet, hat Gene- sich denn auch auf drei engbeschriebenen internationalen Polit-Prominenz das do-
ralbundesanwältin Monika Harms den Seiten eine Gruppe „Kolonialismus und minierende Thema der außerparlamenta-
Hamburger Fall übernommen und das Krieg in der militanten Anti-G-8-Kampa- rischen Linken. Mitte November trafen
Bundeskriminalamt (BKA) mit den Er- gne“, die mit ihrer Aktion „ein klares Zei- sich rund 450 Globalisierungskritiker in
mittlungen betraut. „Die bisherigen Straf- chen“ setzen wollte – sowohl für die „Mo- Rostock, um über dezentrale Blockaden,
taten geben Anlass zu großer Besorgnis“, bilisierung für Juni 2007, wie auch in den Großdemonstrationen und andere Formen
warnt BKA-Präsident Jörg Ziercke, es ge- Tagen des Gipfels selbst“. des Protestes zu beraten. Für die Sicher-
be unter den Protestlern ein Die Gruppe stellte ihre Tat heitskräfte bedeutet der 90 Millionen Euro
„großes Gewaltpotential“. in eine Reihe mit dem Feuer, teure Gipfel eine der größten Herausfor-
Eine Woche lang wird der das „Autonome Gruppen“ im derungen der Nachkriegsgeschichte.
Luxuskurort Heiligendamm Oktober 2005 im Berliner Der Showdown an der Ostsee gilt als
Anfang Juni im Mittelpunkt Gästehaus des Auswärtigen eine Art „Wiederbelebungsprogramm für
der Weltöffentlichkeit stehen. Amts legten und das einen eine eigentlich kriselnde militante Linke“,
Kamerateams aus allen Kon- Millionenschaden verursach- wie ein Ermittler formuliert. Im optimalen
tinenten werden nicht nur fil- te, sowie mit dem Brandan- Fall, hoffen die nächtlichen Brandstifter,
men, wie Angela Merkel ihre schlag im Oktober 2006 auf springe der Funke auch auf die vielen Glo-
Amtskollegen empfängt, son- den Sitz der Deutschen balisierungskritiker über, die bislang nicht
ULRICH PERREY / DPA
dern auch, wie bis zu 100 000 Afrika-Linien in Hamburg mit Gewalttaten aufgefallen seien: „Ob aus
Demonstranten jenseits eines wegen deren Rolle in der den dezentralen Blockaden ein Sturm auf
weiträumigen Hochsicherheits- deutschen Kolonialgeschich- die Rote Zone wird“, heißt es in einem
zauns gegen die international te. Sicherheitsexperten ver- jüngst veröffentlichten Protestaufruf, hän-
höchst umstrittene Zusam- Staatssekretär Mirow ge „von den Kräfteverhältnissen vor Ort
menkunft protestieren. „Keine Hinweise“ * Nach dem Bush-Besuch im Juli 2006. ab“. Holger Stark, Andreas Ulrich
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Deutschland
S
tephan Bliemels Start stand unter kei- Mitarbeiterin Seidels im Juli ver-
nem guten Stern. Am 27. November fasst hat, belegt jedoch ein auffäl-
trat er seinen Job als Sprecher des lig geringes Interesse der Ministe-
Finanzministeriums von Mecklenburg-Vor- rialen, die illegale Selbstbedienung
pommern an. Nur einen Tag später durch- zu stoppen: Demnach hatte die
FOTOS: J. KOEHLER / BILDERMEER.COM
suchten Staatsanwälte aus Rostock und OFD bereits im April 2001 über
Beamte des Landeskriminalamtes auf der „Probleme in den Finanzämtern“
Insel Rügen das Finanzamt Bergen, die des Landes berichtet. In „einer
Verwaltung der Hafenstadt Sassnitz sowie Reihe von Fällen“ bestünden
Büros und Wohnungen diverser Bauherren „Zweifel an der Richtigkeit der Be-
– und brachten eine Affäre ins Rollen, die scheinigungen“. Es folgte ein Brief-
den 28-Jährigen seitdem in Atem hält. wechsel zwischen Finanz-, Bau-
Der Verdacht der Ermittler: Subven- und Innenministerium, in dem das
tionsbetrug und „Beihilfe hierzu“. Seit Politiker Holtz, Keler: Hauptsache, das Geld fließt Problem beschrieben wurde. Straf-
1999 soll das Sassnitzer Bauamt Unter- anzeige gestellt hat keiner.
nehmer mit Gefälligkeitsbescheinigungen gen: Der großzügige Umgang mit Beschei- Selbst als der münstersche Steuerfahn-
versorgt und Bauvorhaben „in den Wohn- nigungen, der Investoren ermöglichte, zehn der Anfang 2006 das Schweriner Finanz-
und Außenbereichen“ der Stadt „fälschli- Prozent der Baukosten aus der Bundes- ministerium über seine Recherchen infor-
cherweise“ als Projekte im Kerngebiet kasse abzuzocken, war nicht nur in Sassnitz mierte, bat der zuständige Referent im Mi-
deklariert haben. Mit den frisierten Doku- üblich und seit 2001 im Finanzressort nisterium mehrere Finanzämter im Lande,
menten sollen die Bauherren dann bei den bekannt. Auch im Bau- und im für die bei Fällen im eigenen Beritt „von einer
Finanzämtern Investitionszulagen ergau- Kommunalaufsicht zuständigen Innen- Rückforderung der Investitionszulage bzw.
nert haben – es geht um viele Millionen, ministerium war den Verantwortlichen damit in Zusammenhang stehenden Er-
die laut Gesetz nur für Immobilien in seitdem klar, wie und in welchem Maße mittlungen zunächst abzusehen“.
Kerngebieten gewährt werden durften. abgeräumt wurde. Doch dem illegalen Trei- Erst jetzt soll die Kommunalaufsicht die
Ein Fall mit Symbolcharakter, der weit ben Einhalt geboten haben sie nicht. Bescheinigungspraxis – zumindest in Sass-
über Rügen hinausweist. Denn er verdeut- Dass es mit der Ruhe der Beamten jetzt nitz – rückwirkend prüfen und zu Unrecht
licht, in welchem Maße Abzockerei offen- vorbei ist, haben sie einem Steuerfahnder gezahlte Investitionszulagen zurückfor-
bar zum Alltag im Armenhaus der Repu- aus Nordrhein-Westfalen zu verdanken. dern. Das aber geht nur bis zum Jahr 2002.
blik zählt und mit wie viel Langmut sie Der war bei seinen Ermittlungen gegen ei- Der Rest ist verjährt. Gunther Latsch
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Deutschland
KIRCHE
B
laue Stunde im Duisburger Stadtteil jubelten deutschen Papstes. In Marxloh be- Früher hatte das Ruhrbistum einmal ei-
Marxloh. Ein paar Tage vor Weih- stätigt sich das, was Bundesinnenminister nen Kirchenführer, der sich ein Stück Koh-
nachten hat der katholische Pfarrer Wolfgang Schäuble (CDU) anlässlich der le in den Bischofsring einfassen ließ. Er
Michael Kemper, 45, zum abendlichen Ker- Islamkonferenz im Herbst beschrieb: „Der sollte die Einheit von Arbeiterschaft und
zengottesdienst in die altehrwürdige Kirche Islam ist Teil Deutschlands und Europas“, Kirche demonstrieren. 60 000 Katholiken
St. Peter eingeladen. Das Gotteshaus bietet erklärte er und forderte unmissverständ- zählten in den siebziger Jahren allein zu
300 Besuchern Platz, gekommen sind zwölf lich, sich dieser Realität zu stellen. Der Is- den drei Marxloher Gemeinden, jetzt sind
Gläubige, zumeist Rentner. Die kleinen lam „ist Teil unserer Gegenwart und unse- es gerade mal 3300. Im Jahr 2004 gab es
Kerzen in den Händen der Anwesenden rer Zukunft“. nur noch 30 Taufen und eine einzige kirch-
wirken wie Irrlichter im riesigen, dunklen Doch was Schäuble als Mahnung für die liche Trauung, die Braut war katholisch,
Kirchenschiff. kommende Epoche verstanden wissen der Bräutigam konfessionslos. „Eine be-
Ein paar hundert Meter weiter drängen wollte, erweist sich in Duisburg-Marxloh stimmte Sozialgestalt der Kirche geht zu
sich die Besucher in die Merkez-Moschee. nur als verspäteter Versuch, einen Prozess Ende“, sagt der katholische Bischof von
Früher war hier ein Tapetengeschäft. Jetzt zu beschreiben, der längst unumkehrbar Essen, Felix Genn.
sind selbst Nebenräume, Flur und Eingang ist. Mehr noch: In diesem Stadtteil zeigt Der Bischofsring mit dem Stück Kohle ist
bis auf den letzten Zentimeter belegt, als sich, dass es auch gelingen kann, ihn zum inzwischen im Museum gelandet. Doch das
Imam Sadik Çaglar, 41, mit dem Vorbeten Nutzen von Alteingesessenen und Zuge- Pfarrhaus neben St. Peter steht noch heute
beginnt. Im nächsten Sommer will er mit wanderten gleichermaßen zu gestalten. für die Zugehörigkeit der Kirchengemein-
seiner Gemeinde umziehen in ein würdi- Denn das Besondere an der neuen Mo- de zur Ortsgemeinde. Es wurde aus dem
geres Domizil, in dem sich dann gut 1200 schee ist nicht die Größe, sondern die ge- gleichen roten Backstein errichtet wie die
Menschen versammeln können – in plante interreligiöse Begegnungsstätte mit Bergmannshäuser von Marxloh, in denen
Deutschlands größter Moschee. Bistro, Bibliothek, Bildungswerk und Be- einst Steiger und Hauer lebten.
Die muslimische Gebetsstätte wird in sucherräumen für Marxloher Katholiken Pfarrer Kempers Schreibtisch quillt über
Sichtachse von Pfarrer Kemper liegen – – einer der Gründe dafür, dass der Bau von Papieren, sein Tag ist voller Termine:
aber auch in seinem Visier? Wie eine der Moschee hier nicht wie anderswo auf Hausbesuche, Seelsorgegespräche, hinzu
Machtdemonstration wirkt der Bau: 34 Ablehnung stößt. Und das Außergewöhn- kommt der Kampf um die Stellen des Kir-
Meter hoch ist das Minarett der im osma- liche an den Katholiken vor Ort ist, dass sie chenchorleiters und seiner Pfarrsekretärin.
nischen Stil gehaltenen Moschee mit ihren sich der Veränderung stellen und sie nicht Er muss eine, vielleicht sogar zwei seiner
2500 Quadratmetern Nutzfläche. Der Sie- einfach nur über sich ergehen lassen. drei Kirchen aufgeben. St. Paul, ein paar
ben-Millionen-Euro-Bau entsteht auf dem Ein Gleisbett führt von der alten christ- Straßen weiter, wurde bereits geschlossen.
einstigen Kantinengelände der Zeche Wal- lichen zur neuen muslimischen Glaubens- Sie gehört zu den rund hundert Gottes-
sum. stätte. Einst wurden die Schienen von häusern, die auf der Streichliste der
Die schrumpfende Christenschar auf der Zeche und Stahlwerk genutzt, von der Bistumszentrale in Essen stehen. „Die Kir-
einen, die wachsende muslimische Ge- Industrie, die den Menschen mehr als nur che verabschiedet sich mit ihren Gebäuden
meinde auf der anderen Seite, das ist die Arbeit gab. Nun könnte die Moschee zum strukturell aus der Fläche“, sagt Kemper.
raue Wirklichkeit im Heimatland des be- Symbol einer neuen Zeit werden. 897 Briefe hat er vor Weltjugendtag und
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Merkez-Moschee*
„Glauben macht mitmenschlich“
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Finanzmanagerin, eine Sozialwissen-
schaftlerin bei der Duisburger Stadtent-
wicklungsgesellschaft, eine der muslimi-
schen Frauen hat evangelische Theologie
studiert – die einzige, die zum Treff mit
Kopftuch erscheint.
Ihre Blechbaracke dient als Begeg-
nungsstätte, in der auch Deutschkurse an-
geboten werden. Die in Duisburg gebore-