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DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung
30. Dezember 2006 Betr.: Titel, SPIEGEL-Gespräch, Somalia

V iele Jahrhunderte lang waren Frauen und Männer, die angeblich in die Zukunft
sehen und, bestenfalls, vor Katastrophen warnen konnten, anerkannte Intellektuelle:
Propheten und sogenannte Sibyllen, wie sie auch Michelangelo Buonarroti im 16. Jahr-
hundert auf das Deckengewölbe der Sixtinischen Kapelle in Rom gemalt hat. Die
„Delphische Sibylle“, eine von fünf Wahrsagerinnen, gilt
als eindrucksvollste Gestalt unter ihnen, fragend schaut
sie in die Ferne, als habe sie in der Schriftrolle etwas gele-
sen, das ihr Sorgen macht. Das vatikanische Fresko inspi-
rierte den US-amerikanischen Illustrator Tim O’Brien, 42,
zum Titelbild dieser Ausgabe. SPIEGEL-Autor Mathias
Schreiber, 63, hat zurückverfolgt, mit welch bisweilen selt-
samen Methoden Menschen seit je versuchen, die großen
und kleinen Katastrophen des Lebens im Voraus zu erfah-
ren oder nachträglich zu deuten. Wahrsagen, Sterndeutung
und Alltagsmagie zählen dazu – und das große Wort vom
Walten des Schicksals, so Schreiber, habe „noch immer

AKG
seine Berechtigung“. Es könne helfen, „das Unerklärliche
zu ertragen“ (Seite 100). „Delphische Sibylle“

S eine Meinung sagt er öfter und lauter als manch einer seiner Vorgänger, und nicht
selten wagt sich Bundespräsident Horst Köhler, 63, bis in die Tagespolitik vor – was
früher als Tabubruch galt. Auf Parteien und die Befindlichkeiten ihrer Würdenträger
nimmt er dabei keine Rücksicht: Gleich zweimal verweigerte er, zum Verdruss von
Kanzlerin Angela Merkel, 52, seine Unterschrift unter Gesetze. Wie sehr sich Köhler
dazu bekennt, „notfalls unbequem“ zu
sein, wurde deutlich, als er im Berliner
Schloss Bellevue die Redakteure Stefan
Aust, 60, Jan Fleischhauer, 44, und Ga-
bor Steingart, 44, empfing. Rasch geriet
das SPIEGEL-Gespräch zur politischen
WERNER SCHUERING

Tour d’Horizon, doch der Bundespräsi-


dent machte auch seinem Unmut über
handwerkliche Fehler bei der Gesetz-
gebung Luft. So wundere er sich, „wenn
Aust, Köhler, Steingart, Fleischhauer mir ein Gesetz vorgelegt wird, für das
bereits ein Korrekturgesetz in Arbeit ist“.
Ob ihm der Wind besonders scharf ins Gesicht wehe, wenn er die Arbeit der Großen
Koalition kritisiere? Köhler blieb gelassen. Er habe einen Amtseid geleistet, „Wind-
messungen überlasse ich anderen“ (Seite 22).

R echerchen in Somalia sind gefährlich – das Land versinkt im Chaos. Als Thilo Thiel-
ke, 38, Afrika-Korrespondent des SPIEGEL mit Sitz in Nairobi, in die von islamis-
tischen Milizen beherrschte Hauptstadt Mogadischu reiste, folgte er der Empfehlung sei-
ner schwerbewaffneten Eskorte, wegen der Gefahr von Anschlägen „nie länger als fünf
Minuten an einem Ort zu bleiben“. Radikale Islamisten lassen Mitbürger exekutieren,
die in Cafés Sportsendungen sehen, andere werden ausgepeitscht. Die international
anerkannte, von Äthiopien und den USA unterstützte somalische Übergangsregie-
rung residiert in der Stadt Baidoa, aber auch dort sei die Lage, so Thielke, „äußerst
angespannt“. Als Politiker sich im Parlament prügelten, geriet der SPIEGEL-Mann
beinahe in Haft; als es zu teils militanten Demonstrationen kam, fand er gerade noch
auf sicherem Uno-Gelände Zuflucht. Nun kämpft Äthiopien mit der Übergangsregie-
rung gegen die Islamisten. Es drohe, sagt Thielke, „ein langer Krieg“ (Seite 80).

Im Internet: www.spiegel.de d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 7 3
In diesem Heft
Titel
Zufall oder Schicksal? Seit Jahrtausenden
beschwören die Menschen die höhere Macht
von Vorsehung und Verhängnis ............................ 100

Deutschland
Panorama: Elitetruppe KSK hat Nachwuchs-
sorgen / Zuwanderung Hochqualifizierter soll

JOERG MUELLER / VISUM


erleichtert werden / Islamische Organisation
baut Netz an deutschen Universitäten aus ............. 13

PEMAX / IMAGO
Konjunktur: Warum die heimische Wirtschaft
2007 schwächer wachsen wird ................................ 16
Reformen: Kurt Beck entdeckt die Langsamkeit ... 18
Staatsoberhaupt: SPIEGEL-Gespräch
mit Bundespräsident Horst Köhler über seinen Berliner Kaufhaus Arbeiter (bei VW in Wolfsburg)
Reformehrgeiz und sein Plädoyer für eine
umfassende Entwicklungspolitik ............................ 22
Regierung: Aus Gleichstellung wird
„Gender Mainstreaming“ ...................................... 27
CSU: Parteichef Stoiber in Bedrängnis .................. 30
Wie viel Wachstum schafft das Land? Seiten 16, 58
Tourismus: Schlechte Aussichten Die deutsche Wirtschaft wird auch 2007 wachsen, wenn auch langsamer. Höhere
für bayerische Wintersportorte .............................. 32 Steuern und Abgaben dürften die Kauflust dämpfen, auf dem Jobmarkt blüht vor
Gentechnik: Wie viel Schutz vor allem die Zeitarbeit, der Osten des Landes fällt weiter zurück. Damit die Konjunk-
manipuliertem Saatgut ist nötig? ........................... 34 tur auf Trab kommt, müsste die Große Koalition mehr tun als bisher.
Radikale: Der G-8-Gipfel in Heiligendamm
im Visier militanter Linker .................................... 36
Affären: Wie Beamte in Mecklenburg-Vorpommern
mit Bundessubventionen mauschelten ................... 38
Kirche: Das verblüffende Miteinander von
Katholiken und Muslimen in Duisburg-Marxloh ... 40
Humanitäre Hilfe: Humedica-Projektleiter
Nachfolgedebatte
Hans Musswessels über seine Geheimdiplomatie
mit den Rebellen in Darfur und die Not
um Stoiber Seite 30
in den Flüchtlingslagern ........................................ 43 Von dem Ansehensverlust nach

DANIEL KARMANN / PICTURE-ALLIANCE/ DPA


seiner Entscheidung gegen einen
Gesellschaft Ministerposten in Berlin hat sich
Szene: Internet als Nachbarschaftshelfer / Doku- Edmund Stoiber nie richtig er-
mentation über das Alltagsleben der Deutschen ... 44 holt – durch die Schnüffelaffäre
Eine Meldung und ihre Geschichte ........................ 45
Schiffbruch: Wie drei verschollene
um die Fürther Landrätin Ga-
briele Pauli landete der CSU-

SEYBOLDT-PRESS
Fischer dem Meer entkamen und nun
von Hollywood entdeckt werden ........................... 46 Chef nun auf einem neuen Tief-
Ortstermin: In Regensburg darf ein EU-Beamter punkt. Die Frage, wer Stoiber
die Folgen Brüsseler Vorschriften kennenlernen .... 52 nachfolgen könnte, wird in der
Partei heftig diskutiert. Stoiber Pauli
Wirtschaft
Trends: Finanzminister Steinbrück muss
weniger Schulden aufnehmen / Rente mit 67
schmälert Rendite / ABM kaum noch gefragt ........ 54
Geld: Der Dax gehört zu den globalen Gewinnern /
Chancen und Risiken auf den Rohstoffmärkten ..... 57
Arbeitsmarkt: Weshalb die Boombranche
Die Gleichmacher Seite 27
Zeitarbeit eine neue Zweiklassengesellschaft Ein Begriff macht Karriere: Das Schlagwort „Gender Mainstreaming“ sickert in den
schaffen könnte ..................................................... 58 politischen Betrieb ein und entwickelt sich zum bürokratischen Großprojekt. Gleich-
Unternehmer: Die Drogeriemarkt-Größe Götz stellungspolitiker aller Couleur lassen sich damit auf ein Erziehungsprogramm ein,
Werner entwickelt sich zum Wanderprediger ........ 62 das nicht nur die Lage der Menschen ändern will, sondern den Menschen selbst.
Steuern: Der deutsche Fiskus hat
eine halbe Milliarde Euro verschenkt .................... 64
Immobilien: Die überraschenden Bahnpläne
für den Berliner Flughafen Tempelhof ................... 65
Spielbanken: Ein österreichischer
Casino-Profi versucht, den deutschen
Glücksspielmarkt aufzurollen ................................ 68
Kalkofe: „Unser Fernsehen ist am Ende“ Seite 72
Innovationen: Ein Bremer Mittelständler feiert Oliver Kalkofe hat sich mit Spott übers
mit Sexspielzeug internationale Erfolge ................. 69 Fernsehen selbst einen festen Platz im
TV gesichert. Sein Urteil über das Pro-
Medien gramm 2006 – mit einer Flut von Teleno-
Trends: Interview mit dem Deutschland-Chef von velas wie „Sturm der Liebe“ – fällt bitter
JO BISCHOFF / ARD

Universal Music, Frank Briegmann, über die Chancen aus: „Unser Fernsehen ist am Ende.“
seiner kriselnden Branche / Journalistenverband Immerhin weiß er, wie’s besser ginge.
fürchtet um Informantenschutz ............................. 70
Fernsehen: Vorschau / Rückblick .......................... 71
Polemik: Der TV-Macher und -Kritiker Oliver ARD-Telenovela „Sturm der Liebe“
Kalkofe über die Krise des deutschen Fernsehens ... 72
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Ausland
Panorama: Marokkos Machthaber wollen Wahlsieg
der Islamisten verhindern / Eine EU-Vorschrift zum
Terrorschutz beunruhigt Europas Spediteure ........... 77
Somalia: Krieg am Horn von Afrika .................... 80
Turkmenistan: Der Turkmenbaschi ist tot,
es lebe Turkmenbaschi .......................................... 82
Polen: Warschau fordert, die deutschen Heimat-
vertriebenen endlich in die Schranken zu weisen ... 83
Naher Osten: Christen auf der Flucht .................. 84
Norwegen: Ministerpräsident Jens Stoltenberg
über die Erschließung des Nordmeers ................... 88
Liberia: Wie Afrikas erste Präsidentin verhindern
will, dass ihr Land erneut ins Chaos stürzt ............ 90
Global Village: Das Gedächtnis von Shanghai ..... 94

PETER CASOLINO / CORBIS


Kultur
Himmelszeichen Meteoriten-Regen Szene: Der dänische Künstler Jan Egesborg über
seine Aktion gegen den iranischen Präsidenten
Ahmadinedschad / Starke deutsche Kinoindustrie ... 97
Das Wirken des Schicksals Seite 100 Schauspieler: SPIEGEL-Gespräch mit
dem britischen Star Michael Caine über seine
Neben Propheten, Sterndeutern und Handlesern haben auch große Geister wie Karriere und seinen neuen Film „Prestige“ .......... 114
Aristoteles oder Goethe das Wirken des „Schicksals“ für ungeheuerliche Wendun- Film: Ken Loachs melancholisches Epos
„The Wind That Shakes the Barley“ ..................... 117
gen des Lebens in Anspruch genommen. Auch heute noch glauben, laut SPIEGEL-
Debatte: Der niederländische Schriftsteller
Umfrage, 52 Prozent der Deutschen, dass eine „höhere Macht“ ihr Leben beeinflusst. Leon de Winter über die Zukunft Israels ............. 118
SPIEGEL-Edition: Isabel Allendes latein-
amerikanische Familiensaga „Das Geisterhaus“ ... 120
Jahresbestseller ................................................ 121
Verlage: Skurriler Guerilla-Krieg
Ungeliebte Christen bei Suhrkamp ....................................................... 122
Nahaufnahme: Existenzkrise bei der legendären
Musikzeitschrift „Spex“ ....................................... 124
Seite 84
Gewalt, Terror und der wachsende Wissenschaft · Technik
Einfluss der Islamisten bedrohen die Prisma: Englisch-Unterricht vom Handy /
im Nahen Osten als Minderheit le- Frösche als Hochstapler ....................................... 126
benden Christen. Viele von ihnen Luftfahrt: Luxusjets für Superreiche ................... 128
AXEL KRAUSE / LAIF

verlassen deshalb ihre Heimatländer Tiere: Nilpferdschwemme in Kolumbien .............. 131


in der arabischen Welt. Medizin: Warum erreichen Erkenntnisse der
klinischen Forschung so spät die ärztliche Praxis? ... 132
Futurologie: Interview mit dem
Prozession ägyptischer Kopten Zukunftsforscher Karlheinz Steinmüller
über die Technologien des 21. Jahrhunderts ......... 134

Sport
Extrembergsteigen: Eine 83-Jährige führt
Liberias Hoffnung S. 90 eine Chronik über die Himalaja-Expeditionen ..... 136
Vatikan: Der Kirchenstaat entdeckt den Fußball ... 139
Ellen Johnson-Sirleaf ist die erste Prä-
sidentin Afrikas. Nach 14 Jahren Ge-
CANDACE FEIT / WPN / AGENTUR FOCUS

metzel in ihrem Heimatland muss sie Briefe ...................................................................... 6


Impressum, Leserservice ................................. 140
verhindern, dass Liberia wieder ins Chronik ............................................................... 141
Chaos abrutscht. Denn noch immer Register .............................................................. 142
haben Warlords viel Macht, eine Personalien ........................................................ 144
ganze Generation kennt nichts ande- Hohlspiegel /Rückspiegel ................................ 146
res als Gewalt. Titelbild: Illustration Tim O’Brien für den SPIEGEL

Johnson-Sirleaf
Gutes neues Jahr
Wer wird die Hitparaden stür-
men, die Bestsellerliste an-
Die Technik der Zukunft Seite 134 führen, einen Oscar gewin-
nen? Der KulturSPIEGEL, das
Biologische Fabriken, spirituelle Erlebnisse im Supermarkt, die Verschmelzung von Magazin für Abonnenten,
Mensch und Maschine – im SPIEGEL-Interview wagt der Zukunftsforscher Karl- stellt 50 Menschen vor, die
heinz Steinmüller einen Ausblick auf technologische Trends des 21. Jahrhunderts. 2007 von sich reden machen.

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Briefe

artiger Betrügereien durch blutrünstige


Priester und Propheten zu reduzieren ist
„Alle Gottheiten sind von Menschen ebenso dumm wie unsachlich. Die Reli-
gemachte Konstrukte, die der Identitätsstiftung gionsgeschichte des Judentums und beson-
ders des Christentums ist ganz sicher auch
dienen und die somit alle gleich wahr eine Kriminalgeschichte – aber gleichzeitig
oder besser: gleich falsch sind. Diese Erkennt- auch eine Geschichte der Hoffnung, der
nis würde unseren Planeten zu einem Befreiung, der Zuwendung und der Begeg-
nung mit einem liebenden Gott.
friedlicheren, sichereren und lebenswerteren Mauer (Bad.-Württ.) Dr. Thomas Löffler
Ort machen!“
Selten habe ich einen sprachlich so tenden-
Michael Dienstbier aus Freiburg zum Titel „Gott kam aus Ägypten – ziös gegen das Judentum gerichteten Text
Pharao Echnaton und die Geburt des Monotheismus“ in einer deutschen Zeitschrift gelesen wie
SPIEGEL-Titel 52/2006 Ihren Titel, in dem es heißt: „Der Mohel
nahm das Baby, ritzte mit dem Fingernagel
dessen Vorhaut ein und riss sie ab – ein blu-
Identität als sein auserwähltes Volk zu be- tiges Attentat, das sich wie ein Mal in den
Alleinherrscher im Himmel wahren. Wären die Israeliten damals noch Körper einbrannte … Es ist dieser Ritus,
Nr. 52/2006, Titel: Gott kam aus Ägypten – Pharao Anhänger einer polytheistischen Religion der zur Ausbildung einer kollektiven kulti-
Echnaton und die Geburt des Monotheismus gewesen, sie hätten ihre Götter und sich schen Identität der Juden führte.“ Später
selbst an die fremde Vorherrschaft assimi- heißt es, „jenes blutige Werk“ präge „die
Kann man tatsächlich monotheistische ge- liert und wären vermutlich im Lauf der jüdische Seele bis heute“ – von dieser Theo-
genüber polytheistischen Religionen als Zeit im fremden Volk aufgegangen. rie gibt es keine positive Lesart!
potentiell gewalttätiger charakterisieren? Wiesbaden Dr. Traugott Flamm Gelsenkirchen Chajm Guski
Mal ganz abgesehen davon, dass man sich
an einem derart umfassenden universalhis- Das Ärgerliche am diesjährigen Feldzug des
torischen Vergleich leicht verhebt, ist es SPIEGEL gegen die Religion ist, dass er ver-
doch unstrittig, dass sich erst mit dem Mo- kennt, dass das Destruktive, das den mono-
notheismus moralische, zivilisatorische und theistischen Religionen unleugbar anhaftet,
auch rationale Dimensionen in den Reli- seine Ursachen ja nicht in dem Gedanken an
gionen ausbildeten, die die archaischen einen letzten liebenden und sinngebenden
Religionen in der Form gar nicht kannten. Ursprung allen Seins hat, sondern in der
Wenn man das ausblendet und demge- Konkretisierung dieser Gottesvorstellung,
genüber das angebliche Gewaltpotential des der der Mensch eigentlich nur schweigend
Monotheismus hervorhebt, kommt man und anbetend begegnen soll, die er aber
zwangsläufig zu einem gänzlich unhistorisch immer wieder in eine triviale Weltwirklich-
argumentierenden, wertindifferenten post- keit umzusetzen versucht. Dann wird der
modernen Unfug! Monotheismus allerdings zum Gegenteil des
Hannover Werner Nienhaus Suchenden im Judentum, des Liebenden im
Christentum und der Hingabe im Islam. Und
Ob Zeus, Gottvater, Allah oder Buddha, dann wird Gott zu einer Trivialität wie die
alle sind letztlich Produkt evolutionärer Ent- Teile einer Kaffeemaschine – und nicht zu
wicklung im Rahmen aufsteigender Ver- einem alles umfassenden Sinn, der verur-
nunft des Menschen zur Beantwortung der sachte, dass alles ist und nicht nichts.
Frage nach Herkunft, Werden und Verge- Clausthal-Zellerfeld Thomas Gundermann
AKG

hen. Ihre originäre Bedeutung liegt sicher in


einer Art mentalem Schutzmechanismus Echnaton-Büste Der gut recherchierte Bericht zeigt auf,
zur Bewältigung seines universalen Ver- Nur Produkte evolutionärer Entwicklung? dass viele Menschen durch die Religio-
lorenheitsgefühls. Dies ist dem Menschen nen einen Realitätsverlust erleiden. Hinzu
dienlich, daher durchaus vernünftig. Das ei- Dass das Alte Testament ein vielstimmiger kommt oft noch eine zynische Ignoranz
gentliche Elend begann stets mit der Insti- Chor ist, bei dem weiß Gott nicht jede der Naturgesetze. Alle Regierungen, die
tutionalisierung sogenannter Religionen, de- Stimme angenehm und/oder sympathisch mit Hilfe der Religionen ihre Macht erhal-
ren Verselbständigung zwecks Erhaltung ist, ist nun wahrlich keine grundstürzende ten wollen, werden am Ende von macht-
von Macht und Einfluss und der hierzu Erkenntnis. Aber die gesamte jüdische Re- gierigen Religionsführern abgelöst werden.
dienenden Manipulation von Religionszu- ligionsgeschichte auf eine Anhäufung bös- Holzwickede (Nrdrh.-Westf.) Klaus Jakob
gehörigen bis hin zur Verfolgung Anders-
gläubiger. Halten wir uns deshalb im Inter-
esse des irdischen Friedens an den Spruch,
den man meines Wissens Friedrich dem
Vor 50 Jahren der spiegel vom 2. Januar 1957
Boni für Pensionäre Ruheständler des Bauministeriums werden als Ange-
Großen zuschreibt: Chacun à sa façon! stellte weiterbeschäftigt. Europäische Nuklearallianz Frankreich will Atom-
Bedburg (Nrdrh.-Westf.) Leonhard Köhlen bomben bauen. Erdöl Der Tiger von Kum. Italienische Riten Neofaschisten
führen das Duell wieder ein. Klaus Manns „Mephisto“ Schlüsselroman
Für die religiösen Führer der aufsässigen is- erscheint mit 20-jähriger Verspätung auf Deutsch – in Ost-Berlin. Ungarn-
Serie Teil 8. Rhein-Überquerung Erste asymmetrische Großbrücke geplant.
raelitischen Stämme war dieser strenge, Luftaufklärung Amerikanische Enttarnungstechnik deckt Tricks auf.
unerbittliche Jahwe absolut notwendig. Sie Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter www.spiegel.de
brauchten diesen Alleinherrscher im Him- oder im Original-Heft unter Tel. 08106-6604 zu erwerben.
mel ganz besonders während der langen Titel: Verteidigungsminister Franz Josef Strauß
Babylonischen Gefangenschaft, um ihre
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Briefe

Keine Täuschung
Nr. 36/2006, Adressbücher: Geflutete Briefkästen

In Ihrem Beitrag schreiben Sie, das „MR-


Formular mit Branchenbuch-Briefkopf“
sehe aus, als käme es von den „Gelben
Seiten“. Durch das Wort „Korrekturab-
zug“ werde zudem suggeriert, dass bereits
ein geschäftlicher Kontakt bestehe. Hierzu
zitieren Sie einen Juristen, der dies für
„arglistige Täuschung“ hält. Sie erwecken
so den Eindruck, wir würden versuchen,
unseren Kunden durch die Gestaltung un-
serer Formulare vorzutäuschen, diese kä-
men von den „Gelben Seiten“. Dies ist un-
zutreffend. In dem – in Ihrem Artikel nicht
abgedruckten – Teil der Vertragsbedin-
gungen wird daher ausdrücklich darauf
hingewiesen, dass wir mit den Gelben Sei-
ten Verlagen in keiner geschäftlichen Ver-
bindung stehen. Auch schreiben Sie, dass
ich mich zu den Vorwürfen nicht äußern
wollte. Tatsächlich hatte ich aber eine Fra-
ge beantwortet und wegen der übrigen um
Fristverlängerung gebeten.
Rostock Herbert Rossa
MR Branchen und Telefon Verlagsgesellschaft

Der Sozialstaat frisst seine Kinder


Nr. 50/2006, Wohlstand: Geteilte Republik – Oben sollen
die Löhne steigen, unten wächst der Armutssockel

Wer mit wachen Augen durch die Stadt


geht, sieht klar und deutlich, dass die Armut
auch in den Städten nicht mehr zu leug-
nen ist. Menschen, die auf Bänken hocken,
abgeschrieben von der Gesellschaft, lange

HECHTENBERG / CARO
Demonstration gegen Sozialabbau
Viele haben resigniert

Schlangen vor den Suppenküchen und


Frauen und Kinder, die voller Scham ihre
Armut verbergen. Eine gute fachliche Kin-
derbetreuung und Ganztagsschulen sind
unabdingbar, damit unsere Kinder in der
„globalen Welt“ gleiche Chancen haben
wie Kinder in den Nachbarstaaten.
Lübeck Helga Lietzke

Die vom SPIEGEL sehr markant beschrie-


bene Zwei-Klassen-Gesellschaft gibt es
schon lange. Der Unterschied ist nur, dass es
der ersten Klasse heute noch besser geht,
während die zweite Klasse in jeder Bezie-
hung verarmt. Es ist verdammt schwer
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geworden, sich emporzuarbeiten. Deshalb
haben viele resigniert. Sie sehen für sich Einzigartiges Schmierentheater
und ihre Kinder keine Perspektive jenseits Nr. 51/2006, Gesundheit:
von Hartz IV mehr. Sie beteiligen sich Wie die Große Koalition vor den Rauchern einknickte
nicht mehr am kulturellen Leben, weil sie
dafür kein Geld haben. Sie beteiligen sich Nein, so war es bestimmt nicht. Richtig ist
nicht mehr an Wahlen, weil sie keine Hoff- vielmehr, dass sich in der Koalition verstärkt
nung auf Besserung haben. jene zu Wort gemeldet haben, die bei einem
Dresden Andreas Meißner Rauchverbot die Rentenkassen vollends vor
dem Kollaps sahen, da die Bevölkerung dann
Der deutsche Sozialstaat frisst seine Kinder noch älter werden könnte. Deshalb gibt es
und dabei gezielt die Kinder aus unteren bestimmt bald neue Slogans auf den Schach-
sozialen Schichten mit niedrigem Bildungs- teln wie „Zug für Zug die Rente sichern“.
niveau. Er frisst sie, indem er sämtliche Gel- Mulfingen (Bad.-Württ.) Hartmut Tiemann
der vernichtet, die benötigt würden, um ih-
nen Chancengleichheit zu ermöglichen, und
indem er ihnen eine Zukunft hinterlässt,
die er mit äußerster Brutalität und Rück-
sichtslosigkeit ausbeutet. Erstaunlich, dass
es gerade „Sozial“-politiker sind, die diesen

ULRICH BAUMGARTEN / VARIO IMAGES


„Sozial“-staat so vehement verteidigen.
Göttingen Jens Hansen

Vermögensteuer zum 1. Januar 1997 von


der Regierung Kohl ausgesetzt, Steuern auf
„unverdientes“ Vermögen (Erbschaften) im
internationalen Vergleich nach wie vor auf
niedrigem Niveau, Talkshows, die sich dem
Thema Armut mit der Fragestellung „Reich Raucher in einer Kneipe
durch Hartz IV?“ nähern („Sabine Chris- Minderheitsverträglicher Kompromiss?
tiansen“). Dazu eine negative Reallohnent-
wicklung bei gleichzeitig explodierenden Diese unsägliche Posse, mit der – offen-
Kapitaleinkünften in den vergangenen zehn sichtlich von Anfang an – in voller strategi-
Jahren. Sich über die Spaltung des Landes scher Absicht und wider jedes bessere Wis-
zu empören ist mehr als angebracht – nur sen über die Gesundheitsgefährdung durch
wundern sollte sich nun wirklich niemand! Passivrauchen selbst die elementarsten
Köln Tim Engartner Rechte einer Mehrheit der Bevölkerung mit
Füßen getreten werden, steht bei mir nun
Das neue alte Opulentiat aus Bossen, Ban- ganz oben auf einer Liste von 27 Gründen,
kiers, Beratern und Entertainern genießt warum ich von meinem Wahlrecht keinen
die wohlstandsmehrenden medialen Insze- Gebrauch mehr machen werde.
nierungen, während das gemeine Volk im Haltern (Nrdrh.-Westf.) Werner Bednarzik
Parkett beeindruckt applaudiert. Es kauft
und konsumiert und wird ob seiner klein- Das ist eine perfekte Blamage und ein ein-
karierten Neidgefühle gemaßregelt – schließ- zigartiges Schmierentheater, was die Re-
lich müssen naturgegebene Tüchtigkeit und gierungskoalition da inszeniert. Da hat es
außergewöhnliche Leistung sich auszahlen. die Bundesregierung doch tatsächlich ge-
Das Prekariat sollte sich was schämen. schafft, das umzusetzen, was ihr die Ziga-
Bonn Prof. Dr. Dr. Theo R. Payk rettenindustrie vorgeschrieben hat. War
das zu erwarten? Ich glaube, ja. Wir haben
Auf diesen Artikel habe ich wohl 15 Jahre hier das gleiche Affentheater wie beim
gewartet. In meiner nordostdeutschen Um- Dosenpfand, der LKW-Maut, der Recht-
gebung musste ich nach dem Fall der Mau- schreibreform oder beim Rußfilter.
er zusehen, wie auf der einen Seite die Bil- Radolfzell (Bad.-Württ.) Rudi Stierle
dungseinrichtungen verwahrlosten und auf
der anderen überdimensionierte Konsum- Wie die Regierung seit dem Antidiskrimi-
tempel mit Hilfe von Landesförderungen in nierungsgesetz mit dem Thema „Nichtrau-
die Höhe gezogen wurden. Ein gut funktio- cherschutz“ umgegangen ist, löste bei vielen
nierendes Bildungsmodell, das ideologiebe- Bürgern gefühlte Diskriminierungsängste
reinigt mit dem heutigen in Finnland iden- aus. Assoziationen in Richtung Ausgrenzen
tisch war, wurde abgeschafft und stattdessen und Wegsperren kamen auf. Nun aber er-
ein bayrisches Modell eingeführt, das ge- wächst eine neue Zuversicht, die auf dem
nau die heutigen Probleme mit sich bringt. Bremspotential der Länderfürsten Althaus,
Ich wünsche mir eine Regierung, die die Müller und Wulff – und hoffentlich auch von
üppigen Steuereinnahmen dazu aufwendet, Herrn Oettinger – basiert; eine Zuversicht,
die Bildungseinrichtungen und Kitas auf die auch einen minderheitsverträglichen
Vordermann zu bringen. Die nächste Ge- Kompromiss mit den militanten Flügeln der
neration wird es uns danken. Nichtraucher-Community einschließt.
Rostock Siegfried Wittenburg Karlsruhe Dr. Bernhard Kuczera

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Briefe

Das Gezerre darum, welches Bundes- oder darum gehen, dass einem Kunden ein Bild Nahrungsaufnahme und -umsetzung nicht
Landesgesetz denn nun anwendbar sei, um gefällt, als dass es großen Gewinn verspricht. für alle möglichen Reparatur- und Restau-
das Rauchen zum Beispiel in Restaurants zu Wiener Neudorf (Österr.) Dr. Peter Mitmasser rationsprozesse der Zellen und -verbände
verbieten, kann ich nicht begreifen. Im ihrer Geschöpfe adäquat nutzbar gemacht
Grundgesetz heißt es im Artikel 2, Absatz (1): Wenn Sie wüssten, dass viele Galeristen hätte.
„Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung nebenbei Taxi fahren oder als Kellner im Bochum Prof. Dr. Hermann Unger
seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Restaurant arbeiten müssen, um ihre Ga-
Rechte anderer verletzt …“ und in Ab- lerie finanzieren zu können. Wenn Sie Das bahnbrechende Ergebnis einer ameri-
satz (2): „Jeder hat das Recht auf Leben und wüssten, dass jedes Jahr eine große Zahl kanischen Ernährungsstudie an Affen: Wer
körperliche Unversehrtheit …“ Wenn es von Galerien aus Deutschland ins Ausland maßhält, bleibt auch im Alter länger jung
dann noch weiter heißt: „In diese Rechte abwandert, weil sich bei uns die Arbeits- und fit. Müssen für solche Binsenweisheiten
darf nur auf Grund eines Gesetzes einge- konditionen stetig verschlechtern. Wenn wirklich Affen, unsere nächsten Verwand-
griffen werden“, so ist die Situation sogar Sie wüssten, dass viele Galeristen ihr Herz- ten, mehr als 15 Jahre lang in einen fens-
umgekehrt: Raucher dürften also nur dann blut hergeben für ein paar tausend Euro terlosen Raum gesperrt werden? Und: Eine
und dort in Anwesenheit von Nichtrauchern Monatsumsatz. Wenn Sie wüssten, dass die Pille soll selbst das Maßhalten überflüssig
rauchen, wenn ihnen ein Gesetz dies aus- meisten Galerien aus Überzeugung und machen? Diese funktioniert natürlich nur
drücklich erlaubt, oder? Wenn die Politik Idealismus bestehen, weil sie an die Kunst bei Mäusen und auch nur in Megadosie-
meine Grundrechte nicht schützen will, soll- und deren Inhalte glauben und ihre Arbeit
te man eine Klage beim Verfassungsgericht in fortsetzen, solange sie es finanziell durch-
diesem Sinne einreichen. halten können. Wenn Sie wüssten, wie
Köhlen (Nieders.) Sigrid Steffens viele Galerien jedes Jahr in Deutschland
schließen – vielleicht wäre Ihnen dann ein
Was ist dies denn bloß wieder für eine interessanter Artikel gelungen. Wenn Sie
Weicheier-Regierung, die nicht in der Lage behaupten, dass eine Galerie es sich sogar
ist, endlich einmal ein richtig vernünftiges leisten kann, Kunst zu verschenken, kann
Gesetz auf den Weg zu bringen und damit ich Ihnen als ehemaliges Vorstandsmitglied
Tatsachen zu schaffen, die in anderen Län- und Schatzmeister des Bundesverbands

JEFF MILLER
dern längst gang und gäbe sind? Wo bleiben Deutscher Galerien versichern, dass es
denn die verfassungsrechtlichen Bedenken, nichts umsonst gibt.
wenn es darum geht, als Nichtraucher un- Berlin Rafael Vostell Versuchsaffen Canto, Owen
behelligt in ungetrübter Luft sein Essen ge- Der Natur ein Schnippchen schlagen
nießen zu wollen, ohne gleichzeitig über das Die Kunst und der Künstler haben keine
aufgezwungene passive Mitrauchen einer ge- Macht. Aber Mächte bedienen sich ihrer. rungen. Wirkung und Nebenwirkung beim
sundheitlichen Gefährdung ausgesetzt zu Kunsterwerb, Kunstbesitz, Mäzenaten- und Menschen unbekannt. Wozu sollen solche
sein, dieser legitime Anspruch aber durch Sammlertätigkeit schaffen Prestige und Tierversuche gut sein? Glauben die Götter
das rücksichtslose Qualmen der ewig Unbe- Imagepflege und bei einigem Geschick im in Weiß tatsächlich, man könnte der Natur
lehrbaren immer wieder unterminiert wird? Hochpreissegment sogar materiellen Ge- auf so simple Weise ein Schnippchen schla-
Berlin Rainer Wiesner winn. Es hat sich die Klientel der Kunst- gen und einen so komplexen Vorgang wie
verwerter und -benutzer geändert, nicht die das Altern beim Menschen aufhalten?
Mechanismen und Interessen. Der eine Braunschweig (Nieders.) Dr. Corina Gericke
Einen Vorteil hat das Ganze kauft sich einen Londoner Fußballverein, Ärzte gegen Tierversuche

Nr. 50/2006, Kunstmarkt: Hedgefonds entdecken das um zu demonstrieren, wer in den Top Ten
Milliardengeschäft mit der Malerei der illustren, globalen Gesellschaft spielt, Es gibt eine einfachere Erklärung für die le-
der andere einen Neo Rauch. Sobald der bensverlängernde Wirkung des Hungerns:
Wenn jetzt Hedgefonds ins Geschäft mit der bildende Künstler im Geschäft ist und seine Dass pflanzliche Inhaltsstoffe giftig oder
bildenden Kunst einsteigen, wird es bald Werke auf dem Markt sind, ist es aus mit akut gesundheitsschädlich sein können, ist
nur noch um Show und nicht mehr um seiner Macht. Öffentlich gemachte Kunst durch Erfahrung längst bekannt. Dane-
„Kunst“ – so schwierig die auch zu definie- dient einzig und allein der Steigerung des ben enthält pflanzliche Nahrung unter der
ren sein mag – gehen. Einen Vorteil hat das Nutzens der Kunstbesitzer. Das war so, das Unzahl sonstiger Bestandteile mit hoher
Ganze: Die vielen „kleinen“ lokalen Künst- ist so, und das wird auch so bleiben. Aber Wahrscheinlichkeit auch solche, deren
ler werden einen besseren Markt vorfinden besser, sie kaufen Kunst statt Kanonen! nachteilige Wirkung nicht sofort oder nach
als bisher, weil die „große“ Kunst längst un- Hamm/Sieg Volker Niederhöfer kurzer Zeit evident wird, sondern erst
leistbar geworden ist. Es wird wieder mehr nach jahre- oder jahrzehntelanger Auf-
nahme zu erkennbaren Gesundheitsschä-
BRABYN/SIPA/DE KOONING FOUND./VG BILDKUNST, BONN 2007

Zu schmaler Kost ist zu raten den oder Alterungsprozessen führt. Es ist


dann faktisch unmöglich, bestimmte Nah-
Nr. 50/2006, Medizin:
US-Forscher entwickeln eine Jungbrunnen-Pille rungsbestandteile als Ursache dafür zu
identifizieren und den Menschen vor ihnen
Es wäre ein Irrtum, zu glauben, dass die zu warnen. In diesem Dilemma kann man
Menschheit diese Fakten in ihrer nach zig nur zu schmaler Kost raten.
Jahrtausenden zählenden geistigen und Frankenthal (Rhld.-Pf.) Dr. Josef Peterhans
kulturellen Entwicklung ignoriert hätte.
Vielmehr gibt es zum Beispiel in den Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit An-
schrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen.
großen Religionen durchweg die meist Die E-Mail-Anschrift lautet: leserbriefe@spiegel.de
jahreszyklisch angeordneten Fastenzeiten.
Schließlich ist es auch schwer vorstellbar,
In einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe befinden
dass die Evolution die Gelegenheit für die sich Beilagen des SPIEGEL-Verlags/Abo, Hamburg, SPIE-
Auktion bei Christie’s in New York Nutzung der – freiwillig oder unfreiwillig – GEL-Verlag/Studiosus Lesereisen, Hamburg, sowie die Ver-
Prestige, Imagepflege, materieller Gewinn zu durchlebenden Ruhezeiten zwischen legerbeilage SPIEGEL-Verlag/KulturSPIEGEL, Hamburg.

10 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 7
Panorama Deutschland
AU S L A N D S E I N S ÄT Z E Kämpfer plus rund 600 Mann Unterstüt-
zungskräfte – wird deutlich unterschrit-

Elite ohne Nachwuchs ten. Bisher sind nur gut 35 Prozent der
Posten für Kommando-Soldaten besetzt.
Dabei rechnet das Verteidigungsministe-

D ie Bundeswehr hat erhebliche Pro-


bleme, geeignete Soldaten für ihre
Eliteeinheit Kommando Spezialkräfte
tere Auslandseinsätze in Krisen- und
Kriegsregionen kaum schaffen kann. Die
Sollstärke des im baden-württembergi-
rium allein für die Beteiligung an der
Anti-Terror-Operation „Enduring Free-
dom“ in Afghanistan mit einem Bedarf
(KSK) zu finden, so dass die Truppe wei- schen Calw stationierten Verbandes – 400 von bis zu 100 Elitesoldaten. Zu den
Spezialitäten der besonders geschulten
KSK-Soldaten gehören Geiselbefreiun-
gen, Terrorabwehr sowie Informations-
beschaffung. Wie schwierig es ist, für der-
art gefährliche Einsätze Nachwuchs zu
rekrutieren, zeigte das jüngste Auswahl-
verfahren. Von rund 350 Interessenten
wurden gerade einmal 9 nach harten Eig-
nungstests zu der dreijährigen Ausbildung
zugelassen. Etlichen der Freiwilligen
mangelte es an körperlicher Leistungs-
fähigkeit, die meisten wurden aber von
den Psychologen aussortiert: Gefragt sind
ruhige und rationale Soldaten. „Rambo-
HANS-JUERGEN BURKARD / BILDERBERG

Typen können wir nicht gebrauchen“, so


Heeresinspekteur Hans-Otto Budde. Er
will trotz des Personalmangels „keine Ab-
striche“ bei den äußerst strengen Aus-
wahlkriterien machen.

KSK-Soldaten im Wüstentraining

Z U WA N D E R U N G mann den Vorstoß. So hätten 2005 bun- SPD


desweit gerade einmal 900 Hochqua-
Ausländer rein lifizierte eine Niederlassungserlaubnis
erhalten, Selbständige so gut wie gar
Ost-Sozialdemokratin
M it einer Bundesratsinitiative will
Niedersachsen das Zuwanderungs-
nicht. Mit der gleichen Bundesratsini-
tiative strebt Niedersachsen aber auch
geißelt Lebenslügen
recht ändern lassen, um Hochqualifi-
zierte und Selbständige aus dem Aus-
land nach Deutschland zu locken. Nach
erhebliche Verschärfungen im Auslän-
derrecht an. So sollen geduldete Aus-
länder für Maßnahmen, die etwa der
N ach der Union droht nun auch der
SPD eine Debatte um vermeintli-
che Lebenslügen. Die Sprecherin der
dem von Innenminister Uwe Schüne- Feststellung ihrer wahren Identität die- ostdeutschen SPD-Bundestagsabgeord-
mann (CDU) ausgearbeiteten Gesetz- nen, 24 Stunden in Gewahrsam genom- neten, die aus Thüringen stammende
entwurf sollen Hochqualifizierte nicht men werden dürfen. Für das Schwänzen Iris Gleicke, bezeichnet in einem Dis-
mehr wie bisher mindestens 85 500 Euro von Integrationskursen sieht die Bun- kussionspapier zum Arbeitsmarkt „die
im Jahr verdienen müssen, um eine desratsinitiative Bußgelder vor; jugend- lange auch von Sozialdemokraten ver-
Niederlassungserlaubnis zu bekommen, liche Serienstraftäter sollen ihren Ab- fochtene Idee, Vollbeschäftigung durch
sondern nur noch 64 125 Euro. Bei schiebeschutz verlieren. Senkung der Lohnnebenkosten, durch
Selbständigen, die heute Entlastung der Unternehmen“ errei-
mindestens eine Million chen zu können, als „tatsächliche Le-
Euro investieren und zehn benslüge“. Zudem sei „der Glaube, al-
Arbeitsplätze schaffen müs- len Willigen“ lasse sich ein Job auf dem
sen, sollen die Grenzen auf regulären Arbeitsmarkt verschaffen,
fünf Arbeitsplätze und eine „Fata Morgana“. Der „Traum von
25 000 Euro gesenkt werden der klassischen Vollbeschäftigung“ sei
– das Stammkapital für die „ausgeträumt“. Deshalb plädiert
Gründung einer GmbH. Gleicke dafür, neben dem ersten Ar-
„Aus Angst, dass Auslän- beitsmarkt und dem auf Arbeitsbeschaf-
der unsere Sozialsysteme fungsmaßnahmen basierenden zweiten
belasten könnten, haben nun auch noch einen „dritten Arbeits-
wir die Hürden viel zu markt“ zu installieren. Bund, Länder
REA / LAIF

hoch gelegt. Das Ergebnis und Kommunen sollten „ein flächen-


ist die völlige Abschot- deckendes Angebot“ etwa im Pflegebe-
tung“, begründet Schüne- Indische Software-Spezialistin reich schaffen, so Gleicke.
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 7 13
Panorama
U N I V E R S I TÄT E N

Geld von Milli Görüs


D ie vom Verfassungsschutz beobach-
tete islamische Organisation Milli
Görüs baut mit Studentenkongressen
und Studienstipendien ihr Netz an deut-
schen Universitäten aus. So unterstützt
die Vereinigung strengreligiöse Frauen,
die wegen des Kopftuchverbots an türki-
schen Universitäten zum Studieren nach
Deutschland kommen. Milli Görüs ver-
gebe europaweit jährlich rund 250 Stu-
dienstipendien, davon etwa 150 an Frau-
en, die aufgrund von Kopftuchverboten
in ihrer Heimat in Deutschland oder
KLAR / ULLSTEIN BILDERDIENST

Österreich studierten, erklärte Mesud


Gülbahar, zuständig für Jugendarbeit in
der Milli-Görüs-Zentrale im rheinischen
Kerpen. Der Großteil aller Fördergelder
– in der Regel 300 bis 400 Euro monat-

Silvester im Hamburger Hafen

FEUERWERK

Explosive Witwenmacher
CARO / SÜDDEUTSCHER VERLAG

I m Jahr 2006 ist die Zahl der beschlag-


nahmten Feuerwerkskörper deutlich
angestiegen. 2005 hatte der Zoll zwi-
und -prüfung getestet und gelten als ge-
fährlich. Größter Fang der Fahnder war
2006 ein Chinese, der Ende November
schen Januar und November in 1086 Fäl- 185 Kartons mit chinesischem Feuer-
Studentin an der TU Berlin len insgesamt 21260 illegale Kracher und werk aus Belgien holte. Das Schmug-
rund 100 Kilogramm Sprengstoff sicher- gelgut war als Nudeln getarnt. Als Be-
lich – gehe an Studenten in Deutschland, gestellt, 2006 stieg die Zahl der Verfah- amte der Bundespolizei ihn stoppten,
die Stipendienzahl steige. Für März hat ren um rund 30 Prozent auf 1410. Die saß der Mann rauchend am Steuer des
Milli Görüs zu einem europaweiten Stu- geschmuggelten Kracher, überwiegend vollgepackten Lieferwagens. Die Kra-
dententreffen im nordrhein-westfäli- aus Polen und Tschechien mit Namen cher mit einem Gesamtgewicht von
schen Hagen eingeladen. „Wir erwarten wie „Super Szok“, „Gigant Maroon“ mehr als einer Tonne wurden vom Zoll
rund 1500 Studenten überwiegend aus oder „Witwenmacher“, sind nicht von beschlagnahmt und vom Kampfmittel-
Deutschland – allesamt Mitglieder oder der Bundesanstalt für Materialforschung räumdienst abtransportiert.
Sympathisanten“, so Gülbahar.

CASINOS no-Mitarbeiter die Ausweise


ihrer Gäste nur dann zeigen las-
Kontrolle für Zocker sen, wenn die bei ihnen Geld
abheben oder Roulette und

E ine Grundsatzentscheidung des


Oberlandesgerichts Hamm hat den
Schutz von spielsüchtigen Casino-Besu-
Baccarat spielen wollen. Um
solche Kontrollen zu umgehen,
hatte sich der spielsüchtige
chern erheblich verstärkt: Danach kön- Rentner das Geld zum Daddeln
nen Spieler, die trotz Spielsperre an die überwiegend an normalen EC-
Spielautomaten gelassen werden, dort Geräten rund um das Casino
MATTHIAS GROPPE

verzocktes Geld von der Spielbank besorgt.


zurückverlangen. Im jetzt entschiede- Die Spielbanken fürchten dras-
nen Fall erstritt ein Rentner, der sich tische Gewinneinbußen, sollte
selbst wegen Spielsucht hatte sperren das Urteil rechtskräftig werden.
lassen, vom Casino Bad Oeynhausen Casino in Bad Oeynhausen Viele Gäste würden sich von
aber nicht am Weiterspielen gehindert solchen Kontrollen „diskredi-
worden war, knapp 58 000 Euro nebst sucht zu befürchtenden wirtschaftlichen tiert fühlen und dann lieber in die
Zinsen. Die Sperre, so die Richter, ver- Schäden zu bewahren“ – sie müsse also Spielhallen abwandern“, so Matthias
pflichte die Spielbank, den zwanghaften auch den Zugang zu den Automaten Hein von der Interessen- und Arbeits-
Spieler vor den „aufgrund seiner Spiel- kontrollieren. Bislang müssen sich Casi- gemeinschaft Deutscher Spielbanken.
14 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 7
Deutschland
LEHRER SPIEGEL: Sollten die Schulbehörden dar-
aus nicht gleich Pflicht-Prüfungen ma-
„Falsche Vorstellungen“ chen?
Erdsiek-Rave: Nicht vor dem Studium.
Ute Erdsiek-Rave (SPD), 59, scheiden- Aber eine verpflichtende Eignungsprü-
de Präsidentin der Kultusministerkon- fung sollte am Ende der Bachelor-Phase
ferenz (KMK) und Bildungsministerin stehen, bevor die Studenten in den
in Schleswig-Holstein, über Eignungs- Masterstudiengang gehen, der direkt
tests für angehende Lehrer auf den Beruf vorbereitet.
SPIEGEL: Welche Eigenschaften sind
SPIEGEL: Eine Studie der Universität denn wichtig?
Potsdam hat ergeben, dass 30 bis 40 Erdsiek-Rave: Grundvoraussetzung ist,
Prozent der Lehramtsstudenten dass man Kinder mag. Man braucht zu-
für den Beruf nicht geeignet sind, etwa dem eine starke Persönlichkeit und
weil sie schüchtern und labil sind. Im muss natürliche Autorität ausstrahlen.
März soll sich die KMK mit diesen Er- SPIEGEL: Wie erklären Sie es sich, dass
kenntnissen beschäftigen. Was wollen so viele Menschen Lehrer werden
sie tun? möchten, die dafür ungeeignet sind?
Erdsiek-Rave: Die Auto- Erdsiek-Rave: Sie haben
ren dieser Studie haben vielleicht falsche Vorstel-
unter anderem auch ei- lungen von dem Beruf.
nen Test für angehende Der hat einerseits leider
Lehrer entwickelt. Ich ein negatives Image – an-
halte die Idee für gut dererseits erwarten aber
und gehe davon aus, dass auch viele, dass der Job
zumindest einige Länder nicht so schwer ist und
das aufgreifen werden. man viel Freizeit hat. Es
Wer Lehrer werden will, ist auch zu Unrecht der
könnte mit einem sol- Eindruck entstanden, der
chen Test schon am Ende Lehrerberuf sei ein Halb-
AXEL SCHMIDT / ACTION PRESS

der eigenen Schulzeit tagsjob, in dem man pri-


herausfinden, ob der Be- ma Beruf und Familie
ruf für ihn geeignet ist. vereinbaren kann. In der
Wir machen ja auch an- Praxis sind viele dann
dere Tests, um jungen geschockt, wie schwer
Leuten die Berufswahl und zeitintensiv die Ar-
zu erleichtern. Erdsiek-Rave beit tatsächlich ist.

KRANKENKASSEN nom den drohenden Anstieg der Kran-


kenkassenbeiträge aufhalten. Viele
Fusion in der Not AOK-Landesverbände gehören schon
heute zu den teuersten Krankenversiche-

K arl Lauterbach, Ex-Berater von Ge-


sundheitsministerin Ulla Schmidt
(SPD), fordert die Fusion aller 16 AOK-
rungen Deutschlands, mit Beiträgen von
bis zu 16,7 Prozent. Und sie würden,
prognostiziert Lauterbach, noch teurer
Landesverbände zu einem Bundesver- werden müssen, weil viele Landesver-
band. Damit will der Gesundheitsöko- bände sich mit Billigung der jeweiligen
Landesregierungen hoch-
verschuldet und keine Al-
tersrückstellungen gebil-
det hätten. „Die AOK
von Berlin, Mecklenburg-
Vorpommern und dem
Saarland“, so Lauterbach,
seien ohne Erhöhung der
JENS BÜTTNER / PICTURE-ALLIANCE / DPA

Beiträge oder Reduzie-


rung der Leistungen
„möglicherweise dem-
nächst nicht mehr lebens-
fähig“. Eine Fusion in der
Not hingegen würde Kos-
ten sparen, auch könne
ein Bundesverband bes-
ser mit Kliniken und Ärz-
AOK-Zentrale Schwerin ten verhandeln.
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 7 15
Deutschland

KON J U N KT UR

Auf ohne Schwung


Die deutsche Wirtschaft hat sich aus der Stagnation befreit. Von ihrer einstigen Top-Position als
Lokomotive Europas ist sie indes weit entfernt: Eine überdehnte Bürokratie lähmt viele Branchen,
der Osten fällt weiter zurück, neue Abgaben drohen. Kann das aktuelle Wachstum von Dauer sein?

D
er fränkische Spielzeugproduzent So macht auch das Regieren
Entlastung
Playmobil gehört zu jenen Fabri-
kanten, die Händler dem soge- Berliner Neujahrsgrüße der Bürger,
Spaß. Kanzlerin Angela Mer-
kel, die Deutschland im Som-
Neuregelungen ab 1. Januar 2007 in Mrd. ¤
nannten Premiumsegment zurechnen. Ein mer noch zum „Sanierungsfall“
einfaches Polizeiauto mit Besatzung kostet erklärte, sieht im aktuellen Auf-
24 Euro. Der Renner des Jahres 2006 war Arbeitslosenversicherung Der Bei- schwung nun einen Beleg für
das „Krankenhaus mit Einrichtung“ – 120 tragssatz sinkt von 6,5 auf 4,2 Prozent. 17,6 „die richtige Politik“ ihres Ka-
Euro teuer und in vielen Geschäften seit Elterngeld Mütter oder Väter können binetts. Ihr SPD-Vizekanzler
Mitte Dezember ausverkauft. bei der Geburt eines Kindes Elterngeld Franz Müntefering brüstet sich,
„Obwohl wir Überstunden und Sonder- beantragen, wenn sie bis zu 14 Monate die Große Koalition habe viel
schichten eingelegt haben, sind wir mit der die Ausübung ihres Berufs unterbrechen
0,7 „für Wachstum und Beschäfti-
Produktion nicht mehr nachgekommen“, (67 Prozent des letzten Nettolohns, maximal gung getan“. Wirtschaftsminis-
sagt Geschäftsführerin Andrea Schauer. 1800 Euro monatlich). ter Michael Glos (CSU) führt
„Die Nachfrage war einfach zu groß.“ die positiven Wirtschaftsdaten
Ob Spielzeug, Plasmafernseher oder Le- wie selbstverständlich auf die
dermöbel – ein solches Weihnachtsgeschäft politische „Erfolgsbilanz dieser
haben die Einzelhändler der Republik schon
Differenz aus
Ent- und Mehr-
25 Mehrbelastung
der Bürger, Bundesregierung“ zurück.
lange nicht mehr erlebt. Von Hamburg belastung Mrd. ¤ Wie gut die Konjunktur
in Mrd. ¤
bis München standen die Kunden Schlange läuft, hat die Politiker selbst
vor Drehtüren, Rolltreppen und Kassen. Die überrascht. Noch im Frühjahr
Warenhäuser meldeten Umsätze wie seit hatten sie für 2006 ein Wachs-
Jahren nicht. Marktforscher registrierten tum von 1,6 Prozent vorherge-
die Rückkehr von Luxus, Glanz und Gla- Mehrwertsteuer Sie erhöht sich 19,4 sagt. Jetzt rechnet Glos damit,
mour. Die Boulevardblätter fabulierten gar von 16 auf 19 Prozent. dass die Zahl am Ende wohl
vom „Abebben der Geizwelle“ und einem bei 2,5 Prozent liegen wird.
„Kaufrausch zu Weihnachten“. Krankenversicherung Der Beitrags- Ähnlich soll es 2007 weiter-
satz steigt von durchschnittlich 14,3 7,0
7,4
Das Weihnachtsgeschäft war der Höhe- gehen, hoffen die Berliner
punkt eines konjunkturellen Aufschwung- auf ca. 15 Prozent. Koalitionsspitzen.
jahres, das viele der hiesigen Wirtschaft Rentenversicherung Der Beitragssatz Die Konjunktur habe „Fahrt
schon gar nicht mehr zugetraut hatten. Jah- klettert um 0,4 Prozentpunkte auf 4,1 aufgenommen“, konstatiert
relang war das deutsche Wachstum an der 19,9 Prozent. SPD-Chef Kurt Beck und zeigt
Nulllinie entlanggedümpelt. In- und aus- sich überzeugt, dass die deut-
ländische Fachleute hatten den Standort Versicherungsteuer Ab 1. Januar sche Wirtschaft die Trendwen-
Deutschland als „kranken Mann Europas“ beträgt der Regelsatz nicht mehr 16, 1,7 de bereits geschafft habe. Auch
verspottet. Und nun das? sondern 19 Prozent. Kanzlerin Merkel sieht die
Auf den ausländischen Märkten melde- Steuersparmodelle Weitere Republik wieder auf dem Weg,
ten heimische Chemie-, Maschinenbau- Beschränkung der Verlustverrechnung. 1,6 sich als wirtschaftliche „Loko-
oder Elektrokonzerne einen Absatzrekord motive Europas“ zurückzu-
nach dem anderen. Im Inland legten sich Pendlerpauschale Die Entfernungs- melden.
die Unternehmen erstmals seit Jahren pauschale wird reduziert. Erst ab dem Wer würde was dagegen
21. Kilometer können Fahrtkosten mit 1,3
wieder in großem Stil neue Fabrikanlagen haben? Nach fünf Jahren
oder Werkhallen zu. Auch in notorischen 30 Cent je Kilometer abgesetzt werden. Stillstand und Zukunftsangst
Krisenbranchen wie der Bauindustrie Sparerfreibetrag Er reduziert sich von könnte das Land einen dauer-
brummte das Geschäft dermaßen, dass 1370 auf 750 Euro (Ledige).
0,6 haften Aufschwung gut ge-
mancherorts bereits Zement oder Dämm- brauchen. Doch die Experten
platten knapp wurden. Arbeitszimmer Die Absetzbarkeit wird sind skeptisch.
Selbst der seit Jahren in Agonie erstarr- erheblich erschwert.
0,1 Zwar präsentieren sich die
te Arbeitsmarkt sendete neue Lebenszei- Reichensteuer Der Spitzensteuersatz bundesdeutschen Unternehmen
chen: Zum Jahresende 2006 sank die Zahl nach jahrelangen Entlassungs-
der Erwerbslosen erstmals seit vier Jahren
für hohe, nichtgewerbliche Einkünfte 0,1 wellen so fit und wettbewerbs-
steigt um 3 Prozentpunkte auf 45 Prozent.
wieder unter die Vier-Millionen-Grenze. fähig wie lange nicht. Zum Ju-
Überrascht von der Serie guter Nach- Finanzauskunft Verbindliche Auskünfte bel aber bestehe „kein Anlass“,
ohne
richten, schwärmten die Volkswirte der US- der Finanzämter zu schwierigen Steuer- Angabe sagt Hans-Werner Sinn, Chef
Investmentbank Goldman Sachs von einer fragen sind zukünftig gebührenpflichtig. des Münchner Ifo-Instituts für
„Wiedergeburt der deutschen Wirtschaft“. sonstige: Wirtschaftsforschung.
7,4 Mrd. ¤
16 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 7
Kanzlerin Merkel*, Warenhaus (in Leipzig)
Erst Sanierungsfall, dann Kaufrausch

Was die Republik derzeit erlebt, nennen


er und andere Fachleute einen zyklischen
Aufschwung, wie er sich am Ende jahre-
langer Abschwungphasen fast zwangsläufig
einstellt. Die Wirtschaft stagniert nicht
mehr, doch von der Dynamik früherer Jah-
re ist das Land ebenfalls weit entfernt.

ROBERTO PFEIL / AP
Selbst im jüngsten Boom liegt die Zu-
wachsrate lediglich im europäischen Mit-
telfeld. Und in 2007, so prognostizieren die
Experten, dürfte der Aufstieg schon wieder
abgebremst werden. Das Wachstum geht
weiter, so lautet die Prognose, aber die Re-
publik erlebt einen Aufschwung ohne rech-
ten Schwung.
Grund sind die Steuern und Abgaben,
die zur Jahreswende in einem Umfang
erhöht wurden wie nie zuvor in der Ge-
schichte (siehe Grafik).
Noch in der Silvesternacht stellen Mil-
lionen Einzelhändler, Tankstellenpächter
und Restaurantbesitzer in ihren Kassen-
systemen den Umsatzsteuerprozentsatz von
„16“ auf „19“ um – und werden so im Lauf
des Jahres 2007 rund 20 Milliarden Euro zu-
sätzlich in die staatlichen Kassen lenken.
Die beschlossenen Einschnitte bei Pend-
lerpauschale, Eigenheimförderung und
Sparerfreibetrag belasten die Bürger mit
über drei Milliarden Euro, die Erhöhun-
gen von Renten- und Krankenkassenbei-
trägen schlagen mit weiteren elf Milliar-
den zu Buche.
Dass die Regierung im Gegenzug den
Beitrag zur Arbeitslosenversicherung senkt,
verbessert die Bilanz nur mäßig: Unterm
Strich, so die Prognose der Ökonomen,
wird der Staat Wirtschaft und Verbrau-
chern 2007 rund 25 Milliarden Euro ent-
reißen – und so den Konsum gleich auf
mehrfache Weise drosseln.
Zum einen haben die Bürger weniger
Geld im Portemonnaie und können ent-
sprechend weniger ausgeben. Zum an-
deren treibt die höhere Mehrwertsteuer
die Preise in die Höhe, was der Kauflust
gleichfalls schlecht bekommt. Und schließ-
lich fallen all jene Möbel, Autos und Heim-
computer, die viele Bürger im Vorgriff auf
die Steuererhöhung bereits in 2006 gekauft
haben, in 2007 als Umsatzbringer aus.
Ein schwieriges Jahr für den privaten
Verbrauch erwarten deshalb die Ökono-
men – und prognostizieren, dass der Steu-
erschock das Wachstum in 2007 deutlich
dämpfen wird. Wie tief der Einschnitt aus-
fällt, darüber freilich gehen die Meinungen
auseinander.
Während die Mehrheit der Konjunktur-
experten lediglich eine kleine Delle er-
WALTRAUD GRUBITZSCH / DPA

wartet, sagt beispielsweise die Global-Mar-


kets-Abteilung der Deutschen Bank einen
wahren Absturz voraus. Ihre Wachstums-

* Am 4. April 2006 bei der Begrüßung der Teilnehmer des


Innovationsgipfels im Berliner Kanzleramt.

d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 7 17
Deutschland

prognose: allenfalls ein Prozent. Wer recht


behält, wird sich weniger an den deutschen
Ladenkassen entscheiden als in den Im-

Stoppsignal aus Mainz mobilienbüros von New York und Los An-
geles, an den Börsen von Tokio oder Sin-
gapur und in den Fabrikhallen von Shang-
Mit seinem Plädoyer für weniger Reformen bringt SPD-Chef hai oder Guangdong.
Wie nie zuvor hat die deutsche Wirtschaft
Kurt Beck den Koalitionspartner gegen sich auf. in den vergangenen Jahren vom Wachstum

W
er Kurt Beck einen pfälzischen nungslos benannte, liegt nicht im der Weltwirtschaft profitiert. Wie nie zuvor
Gemütsmenschen nennt, wird Interesse der Kanzlerin. Auch des- hängen die verbliebenen Industriejobs hier-
wenig Widerspruch ernten, halb bemühte sich Regierungssprecher zulande nun vom Geschäftsgang in den glo-
schon gar nicht bei ihm selbst. Der ge- Thomas Steg vergangene Woche, Ta- balen Boomregionen ab.
wichtige SPD-Chef liebt Weinfeste und tendurst zu reklamieren: „Die Koali- Entsprechend nervös blicken die Mana-
Wochenmärkte, und wenn er eine poli- tion hat noch ausreichend Arbeit und ger bei DaimlerChrysler, Bayer oder
tische Botschaft unters Volk bringen wird sich über nicht ausreichende Ar- Siemens auf jedes Konjunktursignal aus
will, tut er dies am liebsten im breiten beit zu keinem Zeitpunkt beklagen ihren wichtigsten Auslandsmärkten, allen
Idiom seiner waldreichen Heimat. müssen.“ voran den USA. Die größte Volkswirtschaft
„Immer mal langsam mit de Leut“, Aber vielleicht waren damit ja auch der Welt hat in den vergangenen Jahren
befand Beck vergangenen Mittwoch im nur die Vorhaben gemeint, über die die einen ungewöhnlich langen Wachstums-
Interview mit der „Welt“ – und alle Koalition längst schon hatte Einigkeit zyklus erlebt. Das Bruttosozialprodukt
wussten sofort, was gemeint war. erzielen wollen. Bei der Gesundheits- stieg Quartal für Quartal um drei, vier, fünf
Schluss mit weiteren Reformen, signa- reform versteift sich der Widerstand Prozent. Das 300-Millionen-Einwohner-
lisierte der Mainzer Ministerpräsident der unionsregierten Länder.
den Deutschen. Die Politik habe ihnen Der geplante Krankenkassen-
in den vergangenen Jahren schon ge- fonds, so räumen inzwischen
nug zugemutet, jetzt seien die „Gren- viele Parlamentarier von CDU
zen der Belastbarkeit“ langsam er- und CSU ein, muss wahr-
reicht. scheinlich erneut verschoben
Becks volksnahe Einlassung löste im werden.
weihnachtlich dahindämmernden Re- Nicht weniger unsicher ist,
gierungsviertel umgehend hektische ob die verabredete Arbeits-
Betriebsamkeit aus. Kanzlerin Angela marktreform zustande kommt.
Merkel schickte ihren Regierungsspre- Im zuständigen Koalitionsgre-
cher zum Widerspruch an die Mikro- mium existieren bislang nur
fone, und führende Unionspolitiker unverbindliche Expertenpapie-
meldeten den erwünschten Protest an. re; dafür driften die Pläne der
„Das hieße Stillstand für Deutsch- Parteien seit Wochen ausein-
land“, erregte sich CSU-Landesgrup- ander. Die SPD will in mög-
penchef Peter Ramsauer. Und der lichst vielen Branchen Min-
baden-württembergische Ministerprä- destlöhne einführen, die Uni-

HENNING SCHACHT / ACTION PRESS


sident Günther Oettinger (CDU) on will genau dies verhindern.
schimpfte: „Es ist das falsche Signal, Für die SPD wiederum sind die
wenn Kurt Beck schon jetzt eine ab- Vorschläge des nordrhein-west-
schließende Liste mit Reformaufgaben fälischen Ministerpräsidenten
ausgibt.“ Er könne „vor politischem Jürgen Rüttgers (CDU) tabu,
Müßiggang nur warnen“. das Arbeitslosengeld für Ältere
Tatsächlich hat Beck nur ausgespro- länger laufen zu lassen.
chen, was in Berlin derzeit ohnehin Hinzu kommt, dass es auch Sozialdemokrat Beck: Volksnahe Einlassung
viele denken. Die Konjunktur läuft bes- zu den längst vereinbarten Re-
tens, die Arbeitslosenzahlen sinken: formen bei Rente und Unternehmen- Land wurde zum Motor der Weltkon-
Warum sollte die Regierung die gute steuern Vorbehalte gibt. Vor allem in junktur.
Stimmung durch neue Reformdrohun- der SPD gelten beide Projekte als ex- Zuletzt jedoch deutete vieles auf eine
gen verderben? trem unpopulär. Kurskorrektur hin: Der völlig überhitzte
Der Arbeitsplan des Berliner Partei- So stieß Becks Entdeckung der Immobilienmarkt kühlte deutlich ab. Weil
enbündnisses fürs kommende Jahr ist Langsamkeit im eigenen Lager auf die Importe vor allem aus Fernost weiter
schon jetzt überschaubar. Wenn die Re- ungeteilte Zustimmung, und zwar links rasant stiegen, kletterte auch das Außen-
gierung die noch ausstehenden Projek- wie rechts. „Mit den massiven Zu- handelsdefizit in dramatische Höhen. Chi-
te bei Rente, Gesundheit, Pflege und mutungen zum 1. Januar ist die Be- na, Japan und Co. halten amerikanische
Unternehmensteuern abgearbeitet hat, lastungsgrenze bei weitem über- Staatsanleihen in Billionenhöhe und haben
bleibt für die Große Koalition nicht schritten“, befand Juso-Chef Björn mit Washington den größten Schuldner der
mehr viel zu tun, der Vorrat an Ge- Böhning. Präsidiumsmitglied Martin Menschheitsgeschichte zum Handelspart-
meinsamkeiten wäre ausgeschöpft. Ei- Schulz, der eher den Pragmatikern in ner. Inflationsängste gingen um – und Sor-
gentlich könnte sie dann jederzeit aus- der SPD zuzuordnen ist, kommentier- gen vor explodierenden Energiepreisen.
einandergehen. te: „Beck hat recht – ja zu Reformen, Kurzum: Ein Abschwung schien eigentlich
Dass Beck die inhaltlichen Grenzen aber im Rahmen des sozial Verant- unausweichlich, im Grunde überfällig.
des Berliner Bündnisses derart scho- wortbaren.“ Doch bislang ist nichts dergleichen passiert.
Das US-Wachstum hat sich zwar deut-
lich abgeschwächt, doch mit zuletzt 2,9
18 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 7
Prozent ist es immer noch stärker
als in fast allen Ländern Europas.
An der Wall Street erklomm der
Dow-Jones-Index Spitzenwerte.
Und die Amerikaner strapazieren
ihre Kreditkarten nach wie vor.
Die häufig phantastischen Wert-
steigerungen ihrer Häuser und
Wohnungen haben viele genutzt,
um Kredit für weitere Einkäufe
aufzunehmen, Sparen bleibt wei-
terhin verpönt.
Der robuste Konsumrausch
der US-Bürger hat mittlerweile
auch die Anleger an der Wall
Street angesteckt. Noch vor eini-
gen Monaten blickten sie wegen
des schwächeren Wachstums der
JÖRG MODROW / LAIF

Volkswirtschaft zurückhaltend in
die Zukunft. Jetzt macht sich
wieder gute Laune breit.
Monat für Monat erforscht
Merrill Lynch die Stimmung unter Containerhafen in Hamburg, Druckmaschinenmontage (in Würzburg): Wie nie zuvor vom Wachstum der
Managern von Investmentfonds.
Rund 60 Prozent von ihnen glauben schon spürbar gestiegen sind – trotz niedrigerer es folglich im aktuellen Jahresausblick von
wieder, dass die Wirtschaft in 2007 ähnlich Wachstumsraten. Zudem legten die Expor- Goldman Sachs. Die Bank erwartet sogar
stark oder stärker wächst als 2006. Noch im te zu, und die Inflationsängste milderten eine „erneute Beschleunigung der Wachs-
Oktober teilten nur 32 Prozent von ihnen sich ab: Seit Juni hat die US-Notenbank tumsraten“, sobald die Anpassung des
diese Einschätzung. Lediglich 8 Prozent er- Fed die Zinsen nicht mehr erhöht. Etliche Immobilienmarkts erfolgt ist. Die Unter-
warten aktuell, dass das Land in eine Re- Analysten erwarten, dass die Währungs- nehmensfinanzen seien in fast allen In-
zession rutschen könnte. hüter auch in absehbarer Zukunft keinen dustrien grundsolide. Das Gesamtbild der
Für vorsichtigen Optimismus spricht Grund zum Einschreiten sehen. Eine „Re- US-Wirtschaft, so der Bericht, sei „auf ver-
auch, dass die Beschäftigtenzahlen zuletzt zession scheint unwahrscheinlich“, heißt nünftige Art erfreulich“.
Im Dezember meldeten die Fir-
men wichtiger Industriebranchen,
dass rund 20 Prozent ihrer offenen
Stellen nicht besetzt werden kön-
nen. Der Fachkräftemangel beein-
trächtige bereits heute das Wirt-
schaftswachstum, so der Deutsche
Industrie- und Handelskammertag.
An den sogenannten Problem-
gruppen des Arbeitsmarkts dage-
gen geht der aktuelle Aufschwung
weitgehend vorbei. In kaum ei-
nem anderen Land Europas ist der
Anteil der Langzeitarbeitslosen so
hoch wie hierzulande. Nirgendwo
sonst ist die Arbeitslosenquote bei
den über 55-Jährigen so hoch wie
in der Bundesrepublik.

OLIVER LANG / DDP


Doch anstatt die Probleme an-
zupacken, haben die Mitglieder des
Kabinetts Merkel die Arbeiten auf
der Reformbaustelle Deutschland
Weltwirtschaft profitiert weitgehend eingestellt. Den Bür-
gern seien keine Veränderungen
Behalten die Analysten recht, bleibt der Bürokratie hierzulande weite Teile des Bin- mehr zuzumuten, befand SPD-Chef Kurt
US-Konjunktur ein Einbruch erspart. Da- nenmarkts lahmlegt. Von der Handwerks- Beck vergangene Woche (siehe Seite 18).
mit verbessern sich auch die Aussichten ordnung über das Baurecht bis zu den Ho- Schon fühlen sich viele Beobachter an
für jene Länder, die Amerikas Konsumen- norarvorschriften für Freiberufler greift der die fatale „Regieren macht Spaß“-Periode
ten mit Waren beliefern. Allen voran sind Staat deutlich stärker in die Wirtschaft ein der rot-grünen Vorgänger-Regierung er-
das die Exportgiganten aus Asien, die nun als in vielen anderen Industrieländern. innert. Kaum hatte der damalige Kanzler
ebenfalls mit einer Fortsetzung des Auf- Deutlich zurückgeblieben dagegen sind Gerhard Schröder sein Amt angetreten,
schwungs rechnen. die Aufwendungen für Forschung und Bil- belebte der Internet-Boom der New Eco-
Chinas Wirtschaft soll nach dem Willen dung. Länder wie Finnland oder Schweden nomy die Wirtschaft kräftig.
der Regierung in 2007 um nicht weniger als haben allein die öffentlichen Investitionen in Überrascht von den unerwartet günsti-
acht Prozent zulegen. Aber auch den japa- Schulen oder Universitäten in den vergan- gen Konjunkturdaten, verschob die Regie-
nischen Konzernen geht es so gut wie lange genen Jahren auf rund 6 Prozent ihres Brut- rung geplante Reformen am Arbeitsmarkt
nicht. Nippons Banken trugen ihre gigan- toinlandsprodukts gesteigert. In Deutsch- und im Gesundheitswesen – und wandte
tischen Berge von faulen Krediten weit- land liegt der Anteil bei 4,4 Prozent. sich lieber den angenehmen Seiten des
gehend ab. Einige Institute treten neuerdings Auch der Aufbau Ost kommt nicht vor- Berliner Politikbetriebs zu. Es lief ja auch
wieder als Investoren auf dem Weltmarkt an. In 2006 wuchs die Wirtschaft in den ohne schmerzhafte Schnitte.
auf, von dem sie sich Anfang der neunziger neuen Ländern erneut schwächer als in Kurz darauf stürzte die Konjunktur ab –
Jahre gedemütigt zurückgezogen hatten. den alten. Statt aufzuholen, fällt der Osten und die rot-grüne Regierung geriet völlig
Bleibt die weltweite Konjunktur 2007 ökonomisch weiter zurück. aus dem Tritt. Die Arbeitslosenzahlen ex-
tatsächlich auf Kurs, können auch die deut- Vor allem aber gehen die jüngsten Ver- plodierten, die öffentliche Verschuldung
schen Unternehmen aufatmen. Je mehr besserungen bei der Beschäftigung an den stieg, die SPD-Basis rebellierte. Die eilig in
Aufträge sie aus Amerika und Asien in ihre eigentlichen Problemgruppen des Arbeits- Gang gebrachten Hartz-Reformen kamen
Bücher holen, desto eher können sie mög- markts vorbei. Laut Statistik suchen fast dann viel zu spät, um kurzfristig etwas aus-
liche Ausfälle durch den Steuerschub zu vier Millionen Deutsche einen Arbeits- richten zu können.
Hause ausgleichen. platz. Doch für eine Tätigkeit in den flo- Damit sich die Geschichte nicht wiederholt,
Nach der jüngsten, noch unveröffentlich- rierenden Branchen der Exportindustrie will die neue Regierung nun zumindest den
ten Jahresprognose des Deutschen Instituts ist ein großer Teil von ihnen nicht geeignet. Anschein von Handlungsstärke erwecken.
für Wirtschaftsforschung wird das Brutto- Noch im Januar möchte sich das
inlandsprodukt in 2007 um 1,7 Prozent Merkel-Kabinett in Berlin zu einer
zulegen. Das wäre zwar ein guter halber
3,2
Zartes Pflänzchen Klausursitzung zusammensetzen.
Prozentpunkt weniger als 2006, würde aber DIW-Prognose Ob dabei die anstehenden Projekte
ausreichen, damit sich auch der Aufwärts- Aufschwung bei Arbeitsmarkt, Rente und Ge-
trend auf dem Arbeitsmarkt fortsetzt. Wenn Veränderung des sundheit vorangetrieben werden, ist
nichts Unvorhergesehenes geschieht, so das deutschen Bruttoinlands- noch nicht absehbar. Doch darauf
Institut, werden Deutschlands Firmen 2007 produkts gegenüber 2,3 kommt es den führenden Koali-
rund 400 000 Jobs schaffen. dem Vorjahr in Prozent tionspolitikern auch gar nicht an.
Das wäre eine deutlich bessere Bilanz als 1,7 Die Hälfte des Geschäfts ist
in den Stagnationsjahren nach dem Absturz Psychologie, haben sie von der
der New Economy. Eine echte Trendwende 1,2 1,2 Wirtschaft gelernt. Deshalb soll
aber ist derlei noch immer nicht. Der Auf- 0,9 bei dem Treffen, so ein Vertrauter
schwung verdeckt nur die strukturellen von Vizekanzler Müntefering, vor
Schwächen der deutschen Wirtschaft, an allem „das Binnenklima in der
denen sich seit Amtsantritt der neuen Re- 0 –0,2 Großen Koalition verbessert wer-
gierung wenig verändert hat. Seit langem 2000 2001 2002 2004 2005 2006 2007 den“. Stimmung ist alles.
2003 Schätzung
kritisieren Experten, dass die überbordende Frank Hornig, Michael Sauga

d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 7 21
Deutschland

SPI EGEL-GESPRÄCH

„Ich weiche nicht aus“


Bundespräsident Horst Köhler, 63, über seinen kritischen Blick auf die Gesetzgebung der Großen
Koalition, die Reformbereitschaft der Deutschen und seine Forderung, militärische
Einsätze wie in Afghanistan oder im Irak stärker mit Entwicklungspolitik zu verzahnen

WOILFGANG KUMM / DPA


Staatsoberhaupt Köhler: „Mir geht es um die Treue zum Grundgesetz“

SPIEGEL: Herr Bundespräsident, die Große SPIEGEL: Sie haben gerade zum zweiten Mal SPIEGEL: Es gebe in diesem Fall verschie-
Koalition reibt sich an Ihnen. Der Prä- innerhalb weniger Wochen die Unterschrift dene Rechtsstandpunkte, sagt die Bundes-
sident nervt, heißt es bis hinauf in die unter ein Gesetz verweigert, das Ihnen zur kanzlerin. Auch die Regierung habe das
Spitzen der Regierungsfraktionen. Erle- Ausfertigung vorgelegt wurde. Die Situa- Gesetz sehr sorgfältig prüfen lassen, ohne
ben wir nun das Unbequem-Sein, das tion ist mit dem Wort „notfalls“ genügend dass verfassungsrechtliche Bedenken vor-
Sie zu Beginn Ihrer Amtszeit angekündigt gekennzeichnet? gebracht wurden. Wie zwingend war die
hatten? Köhler: Das Verbraucherinformationsge- Ablehnung?
Köhler: Ich habe gesagt, ich werde offen setz, auf das Sie sich beziehen, wurde mir Köhler: Im Zuge der Föderalismusreform
sein und notfalls unbequem. Das war mei- im Oktober zur Ausfertigung zugeleitet. sind im September Änderungen des
ne Einstellung von Anfang an, und das Ich habe es sorgfältig geprüft. Dabei stell- Grundgesetzes in Kraft getreten. Seither
wird auch so bleiben. te sich heraus, dass dieses Gesetz nicht mit darf der Bund keine Aufgaben mehr an
den Vorschriften des Grundgesetzes im die Kommunen übertragen, genau dies
Das Gespräch führten die Redakteure Stefan Aust, Jan Einklang stand. Deshalb war ich an der aber sah das Gesetz vor. Die Bundesregie-
Fleischhauer und Gabor Steingart. Ausfertigung gehindert. rung konnte die verfassungsrechtlichen
22 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 7
Bedenken nicht ausräumen. Damit war die selbstverständliche Standards in der Ge- eine arbeitsmarktpolitische Kurskorrektur
Lage klar. setzgebung sein. verbunden, die jetzt zu wirken beginnt.
SPIEGEL: Fällt es Ihnen schwer, einem Ge- SPIEGEL: Es gibt die Auffassung, dass dem Dazu hat auch der Paradigmenwechsel
setz die Unterschrift zu verweigern? Bundespräsidenten in Ermangelung einer bei der Auszahlung des Arbeitslosengel-
Köhler: Das macht keine Freude. Und ich ernsthaften, starken Opposition in einer des beigetragen. Für mich ging es nicht
weiß, dass die Bundesregierung und der Großen Koalition eine besondere Rolle zu- ums Tagesgeschäft, sondern es geht um
Gesetzgeber nicht das Grundgesetz ab- kommt, dass er also eine Kontrollfunktion Stetigkeit und Beharrlichkeit, damit wir
sichtlich unterlaufen wollen. ausübt, die er sonst so nicht hätte. den Durchbruch zu mehr Beschäftigung
SPIEGEL: Karlsruhe sei die richtige Instanz, Köhler: Das Institutionengefüge hat Be- schaffen.
die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen zu stand unabhängig von den Mehrheitsver- SPIEGEL: Steckt dahinter eine generelle Kri-
klären, nicht der Bundespräsident, sagen hältnissen im Parlament. Und die Opposi- tik an Tempo und Tiefe des Reformpro-
Regierungsvertreter. tion, das ist auch in Zeiten einer Großen zesses in Deutschland?
Köhler: Nach meinem Amtsverständnis hat
der Bundespräsident nicht nur ein Prü-
fungsrecht, sondern auch eine Prüfungs-
pflicht. Er ist nach dem Grundgesetz Teil
des Gesetzgebungsverfahrens. Das hat das
Bundesverfassungsgericht schon vor lan-
ger Zeit bestätigt. Im Übrigen ist der Weg
nach Karlsruhe offen, auch wenn der Bun-
despräsident ein Gesetz nicht unter-
schreibt.
SPIEGEL: Wir erleben also einen selbstbe-
wussten und damit auch machtbewussten
Präsidenten.
Köhler: Einen pflichtbewussten. Mir geht
es um die Treue zum Grundgesetz. Der
Bundespräsident ist kein Unterschriften-

ULLSTEIN BILDERDIENST / DDP


automat. Von den Bürgern wird erwartet,
dass sie sich an die Gesetze halten. Dann
sollten sie sich auch darauf verlassen kön-
nen, dass der Bundespräsident prüft, ob
die Gesetze nach den Vorschriften des
Grundgesetzes zustande gekommen sind.
SPIEGEL: Verbirgt sich hinter Ihrer Weige- Kabinettsmitglieder im Bundestag
rung auch die Einschätzung, dass in einer „Die notwendige grundlegende Erneuerung
Großen Koalition, die sich immer einer
übermächtigen parlamentarischen Mehr- Deutschlands haben wir noch nicht geschafft.“
heit gewiss sein kann, eher nachlässig, viel-
leicht sogar schlampig regiert wird? Koalition die Opposition im Bundestag. Köhler: Wir schaffen kein Vertrauen, wenn
Köhler: Gesetze regeln oft komplexe Sach- Wenn im Zuge des Gesetzgebungsverfah- wir zwei Schritte vor und anschließend
verhalte. Das bringt viele technische rens dem Bundespräsidenten mehr Arbeit wieder einen oder zwei zurück machen.
Schwierigkeiten mit sich. Und nicht selten auf den Tisch gelegt wird, weiche ich die- SPIEGEL: Ist das Reformtempo nach der
kommen Gesetze leider auch unter erheb- ser Arbeit nicht aus. Wahl unter der Großen Koalition schneller
lichem Zeitdruck zustande, das erhöht SPIEGEL: Kann es auch umgekehrt sein, dass oder langsamer geworden?
Fehlerrisiken. Aber für eine solide Gesetz- dem Bundespräsidenten bei einer Großen Köhler: Die Große Koalition hat vor allem
gebung ist Sorgfalt ein zwingendes Gebot. Koalition der Wind besonders scharf ins mit der Föderalismusreform und der Ren-
SPIEGEL: Die Direktorin des Instituts für Gesicht weht, wenn er sich kritisch zur po- te mit 67 Handlungsfähigkeit bewiesen.
Steuerrecht an der Universität Köln, Jo- litischen Arbeit äußert? Damit knüpft sie an die historisch wich-
hanna Hey, hat neulich vorgerechnet, dass Köhler: Der Bundespräsident muss sein tige Kurskorrektur der früheren Bun-
heute 20 Prozent aller Gesetze dazu die- Amt pflichtgetreu und glaubwürdig aus- desregierung an, die unter dem Titel
nen, Vorgängergesetze zu reparieren. Das üben. Er hat einen Amtseid geleistet. Agenda 2010 stand. Ich halte diese Linie
ist doch keine akzeptable Zahl. Windmessungen überlasse ich anderen. für richtig.
Köhler: Ich weiß nicht, ob diese Rechnung SPIEGEL: Sie sagen, Sie weichen der Arbeit SPIEGEL: Wird sie genügend fortgesetzt?
stimmt. Allerdings will ich auch nicht ver- nicht aus. Sie haben sich aber auch zu- Köhler: Es ist zu früh für ein endgültiges Ur-
hehlen, dass ich mich wundere, wenn mir sätzlich Arbeit aufgehalst. Anlässlich des teil.
zum Beispiel ein Gesetz vorgelegt wird, CDU-Parteitages in Dresden äußerten Sie SPIEGEL: Da sind Sie also noch nicht über-
für das bereits ein Korrekturgesetz in Ar- sich sehr kritisch zu einem Vorschlag des zeugt?
beit ist. Ich denke dann an die Bürger, die nordrhein-westfälischen Ministerpräsiden- Köhler: Die notwendige grundlegende Er-
das alles verstehen sollen. ten Jürgen Rüttgers, die Bezugsdauer des neuerung Deutschlands haben wir noch
SPIEGEL: Das heißt, Sie unterzeichnen vie- Arbeitslosengeldes für Ältere zu erhöhen. nicht geschafft. Da stehen wir erst am An-
le Gesetze, die Sie eigentlich für un- Haben Sie sich da nicht zu weit ins politi- fang. Wir haben allen Grund, uns über den
zulänglich halten? sche Tagesgeschäft vorgewagt? starken Wirtschaftsaufschwung zu freuen.
Köhler: Ich frage mich, ob wir nicht auch ei- Köhler: Arbeitslosigkeit ist das soziale Vor allem die deutsche Industrie hat ihre
nen Blick auf die Gesetzgebungskultur Grundproblem in Deutschland. Und diese Wettbewerbsfähigkeit deutlich verbessert.
werfen sollten, wenn wir uns auf die Suche Arbeitslosigkeit hat sich auch aufgrund von Das ist aber kein Grund, sich schon wieder
nach den Ursachen für die Distanz zwi- politischen Versäumnissen über Jahrzehn- zurückzulehnen.
schen Bürgern und Politik machen. Gründ- te aufgebaut und verfestigt. Mit der SPIEGEL: Im Augenblick muss man den Ein-
lichkeit und Transparenz sollten jedenfalls Reformpolitik der vergangenen Jahre war druck haben, dass die guten Wirtschafts-
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 7 23
Deutschland

zahlen eher zur Selbstzufriedenheit der Dem Land mangelt es weder an Ideen Hartz-IV-Empfänger. Führen wir hier die
politischen Klasse beitragen. noch an Bürgern, die bereit sind, sie um- richtige Diskussion, wenn wir über eine
Köhler: Das ist Ihre Benotung. Ich sage, wir zusetzen. Das ist nicht das Problem. Aufstockung der Lohnersatzleistungen
sollten den Aufschwung nutzen, um weiter SPIEGEL: Sondern? reden?
voranzukommen: zum Beispiel bei der Köhler: Der Staat überfordert sich selbst mit Köhler: Es ist jedenfalls eine Diskussion,
nachhaltigen Absenkung der Lohnneben- dem Anspruch, dem Einzelnen jedes Risiko die sich noch nicht genügend der Realität
kosten, bei der Neugestaltung der Finanz- und jede Unsicherheit abzunehmen. Ich fin- und der Ehrlichkeit verpflichtet sieht. Ich
beziehungen zwischen Bund und Ländern de, die Menschen sollen Freiheit erfahren empfinde Hochachtung für die Frau an der
und bei einer nationalen Kraftanstrengung und Unterstützung bei der Verwirklichung Kaufhauskasse. Was sie an Steuern zahlt,
für Bildung sowie Forschung und Ent- ihrer eigenen Ideen erleben. Damit können finanziert auch den Sozialstaat. Menschen
wicklung. Im Aufschwung steckt eine wir am besten Kreativität mobilisieren. Des- wie sie sollten nicht das Gefühl haben
Chance für alle. halb ist es zum Beispiel auch richtig, den müssen: Eigentlich ist es ökonomisch irra-
SPIEGEL: Auch für die Armen in Deutsch- Weg vom betreuenden und nachsorgenden tional für mich, überhaupt noch arbeiten
land? Ausweislich einer gerade vom Statis- Sozialstaat hin zum vorsorgenden – ich sage zu gehen.
tischen Bundesamt veröffentlichten Studie lieber investiven – Sozialstaat zu gehen. Das SPIEGEL: Erwarten Sie von den Bürgern all-
leben Millionen unterhalb der Armuts- ist für mich ein Sozialstaat, der den Men- gemein mehr Kraftanstrengungen?
grenze. schen vor allem Chancen eröffnet, der aber Köhler: Die große Mehrheit der Bürger
Köhler: Wenn wir weniger Langzeitarbeits- auch ihre Verantwortung sieht. strengt sich an, und das verdient alle An-
lose hätten, gäbe es auch weniger Armut in SPIEGEL: Muss man dann nicht aber auch erkennung. Es muss nur klar sein: Es
Deutschland. Wir haben einfach zu lange über die Höhe staatlicher Transferleistun- braucht eine große Anstrengung der Ge-
darüber hinweggeschaut, dass da inzwi- gen reden? Was das verfügbare Einkom- sellschaft insgesamt, unseren Wohlstand zu
schen Millionen Menschen in einer Situa- men angeht, gibt es keinen großen Unter- halten, und eine noch größere, ihn weiter
tion verharren, in der sie für sich keine schied zwischen einem Arbeitslosen und zu steigern. Die Regierung in Dänemark
Perspektive sehen oder nicht mehr sehen demjenigen, der in einer der unteren zum Beispiel hat das erkannt. Sie hat eine
wollen. Lohngruppen arbeitet, ein Umstand, den Strategie formuliert, wie ihr Land aus der
SPIEGEL: Aber können Sie eine Kraftan- die Experten seit Jahren bemängeln. Globalisierung bestmöglich Nutzen ziehen
strengung der Politik erkennen, daran et- Köhler: Derjenige, der arbeitet und auch kann. Im Vorwort steht, dass es Dänemark
was grundlegend zu ändern? Arbeit unter schwierigen Bedingungen an- gutgeht – und genau deshalb sei jetzt der
richtige Zeitpunkt, sich für die Zukunft zu
wappnen. Die Dänen sagen also: Wenn du
stark bist, nutze deine Kraft, um dich auf
das Kommende vorzubereiten. Die meisten
Reformvorschläge gelten übrigens For-
schung und Bildung.
SPIEGEL: In den skandinavischen Staaten,
Finnland vorneweg, sind die Sozialausga-
ben gesunken. Dafür haben sie das Geld in
die Bildung investiert.
Köhler: Eine Studie im Auftrag der Hans-
Böckler-Stiftung hat gerade festgestellt,
dass wir in Deutschland europaweit an der
Spitze stehen bei der Höhe unserer So-
zialaufwendungen im Verhältnis zur volks-
wirtschaftlichen Leistung, aber weit hin-
ten in Bezug auf die Wirksamkeit dieser
Aufwendungen. Unsere Sozialpolitik ist
demnach in hohem Maße ineffizient. Wir
könnten mehr für die Bürger tun, mit den
MARGARET MOLLOY

gleichen Ausgaben.
SPIEGEL: Es gibt in Deutschland 26,5 Millio-
nen Empfänger von Transferzahlungen, ge-
nauso viele, wie als Beschäftigte in die So-
Totenehrung für im Irak gefallene US-Soldaten (in Kalifornien) zialkassen einzahlen. Ein Präsidiumsmit-
„Die Europäer haben den Amerikanern Erfahrung bei glied der CDU hat uns vor kurzem gesagt,
dass die Politik der Volksparteien sich zu-
der Begegnung mit anderen Kulturen voraus.“ nehmend auf die Verschiebung der Mehr-
heitsverhältnisse einzustellen beginnt.
Köhler: Ich erkenne viel Bewegung im nimmt, soll besser dastehen als jemand, Köhler: Wenn eine Demokratie nur nach
Land. Den Preis für die beste Schule der von Lohnersatzleistungen lebt. Das dem Gesetz der größeren Zahl funktioniert,
Deutschlands zum Beispiel bekam eine sollte auch ein durchgehendes Leitprinzip trägt sie möglicherweise den Keim ihres
Grundschule in Dortmund, weil sie für bei der geplanten Neuordnung des Nied- eigenen Niedergangs in sich. Deswegen
Kinder aus 26 Nationen ein vorbildliches riglohnsektors sein. braucht es eben auch politische Führung.
Klima für kreatives Lernen geschaffen hat. SPIEGEL: Armut beginnt laut den jetzt vor- SPIEGEL: „Mehrheit ist der Unsinn, Ver-
Die Schulleiterin hat gesagt, wir brauchen gelegten Zahlen im Falle einer vierköpfi- stand ist stets bei wen’gen nur gewesen“,
für unsere Schule eine Vision, und wir gen Familie in Deutschland bei einem ver- sagte einst Friedrich Schiller.
brauchen Spielraum für eigene, praktische fügbaren Einkommen von 1798 Euro netto. Köhler: Da bin ich ein bisschen optimisti-
Lösungen vor Ort. Im Grunde lautete ihre Eine Frau, die heute an einer Kaufhaus- scher. So viel Wissen und Informiertheit in
Botschaft: Lasst uns bitte machen. Und auf kasse sitzt und mit ihrem Verdienst ihre der Breite gab es historisch noch nie. Das
diese Haltung stoße ich überall im Land. Familie durchbringt, hat weniger als ein gibt mir Zuversicht. Es will mir nicht in
24 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 7
den Kopf, dass es nicht möglich sein soll, kämpften Süden zu gehen, zumindest nicht Köhler: Es hängt davon ab, wie wichtig uns
eine Politik zu definieren, bei der ich zwar mit Bodentruppen. Einige Nato-Partner eine wirksame internationale Stabilitäts-
dem einzelnen Menschen Veränderung zu- haben sehr deutlich gemacht, dass sie das politik ist, die über das Militärische hin-
mute, aber doch auch die vernünftige Aus- nicht akzeptabel finden. Ist das eine kluge ausreicht. Politisch ist es geboten, dass sich
sicht habe, dass es hinterher allen insge- oder eher eine ärgerliche Entscheidung des der Westen darüber klar wird, welche Rol-
samt nachhaltig bessergeht. deutschen Parlaments? le Afghanistan für weitergehende Fragen
SPIEGEL: In der Politik hat sich die Auffas- Köhler: Die Bundeswehr ist mit gutem internationaler Stabilität spielt.
sung durchgesetzt, dass mit dem Wort „Re- Grund eine Parlamentsarmee. Deshalb SPIEGEL: Die westliche Interventionspoli-
form“ keine Wähler zu gewinnen sind. Der habe ich diese Entscheidung nicht zu be- tik hat einen eindeutig militärischen
Impetus zur Veränderung rückt damit im- werten. Für mich wirft die Situation in Schwerpunkt …
mer weiter in den Hintergrund. Afghanistan eine grundsätzlichere Frage Köhler: … was ich kritisch sehe. Das mi-
Köhler: Das wäre schlecht, denn wir kön- auf, nämlich: Was wollen wir eigentlich mit litärische hat leider das zivile Element zu-
nen vieles nur bewahren, wenn wir auch
vieles ändern. Im Gespräch mit den Bür-
gern kann ich nicht erkennen, dass man
mit dem Thema Reform von vornherein
scheitern muss. Aber man braucht über-
zeugende Erklärungen, was sich warum in
Deutschland ändern sollte, was der welt-
weite Wandel für uns bedeutet und welche
Chancen er für uns birgt. Die meisten Bür-
ger wollen Ehrlichkeit und können sie auch
verkraften, selbst wenn sie mit Zumutun-
gen verbunden ist. Sie sagen mir: „Es muss
gerecht zugehen, dann machen wir auch
mit.“ Und mit Gerechtigkeit meinen sie
nicht das kleinliche Berechnen kurzfristi-
ger Vor- und Nachteile, sondern sie mei-
nen: Gerechtigkeit bei den Chancen. Also:
Die Leute können mit Freiheit umgehen,
und vernunftbegabt sind sie auch.
SPIEGEL: Stimmt der Eindruck, dass Sie in

SHAH MARAI / AFP


letzter Zeit verstärkt das Gefühl hatten,
Sie müssten als Bundespräsident etwas
deutlicher werden?
Köhler: Ich finde, die Bürger haben ein
Recht zu wissen, was der Bundespräsident Deutsche Soldaten in Afghanistan
über bestimmte Dinge denkt. „Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass es
SPIEGEL: Derzeit bewegen auch eine Reihe
von schwerwiegenden außenpolitischen immer auch um Leben oder Tod gehen kann.“
Fragen die Bürger. Vor allem die Türkei
sorgt für Unmut, die ihre Häfen nicht für dem Nordatlantikpakt? Die Nato ist das nehmend überlagert. Dabei liegt für Af-
das EU-Land Zypern öffnen will. Ist die Bündnis des Westens. Ich glaube, dieses ghanistan seit 2001 ein integriertes Kon-
Türkei für Sie ein europäisches Land? Bündnis sollte nach innen gestärkt, ja re- zept für den Wiederaufbau vor, und
Köhler: Geografisch liegt nur ein Zipfel der vitalisiert werden. Das verlangt aber auch Deutschland war daran maßgeblich be-
Türkei auf dem europäischen Kontinent, eine Neugewichtung zwischen den mi- teiligt. Ich weiß, wie schwierig die Um-
und überwiegend gehört das Land einem litärischen und den politischen Aufgaben setzung dieses Konzepts gerade im Süden
anderen Kulturkreis an. der Nato. ist. Ein zentrales Problem bleibt der
SPIEGEL: Was bedeutet das für die Frage SPIEGEL: Die Deutschen müssen das Töten Mohnanbau. Bis heute hat niemand einen
eines Beitritts zur Europäischen Union? lernen, wurde dem Koordinator der Plan entwickelt, wie zum Beispiel den
Köhler: Dass die Beschlusslage der eu- deutsch-amerikanischen Beziehungen Drogenbaronen Einhalt geboten werden
ropäischen Staats- und Regierungschefs Karsten Voigt kürzlich bei einem Wa- kann.
weiter gilt, nämlich mit der Türkei über ei- shington-Besuch gesagt. Stimmt das? SPIEGEL: Sie plädieren also für einen Neu-
nen Beitritt zu verhandeln, ergebnisoffen. Köhler: Wir müssen uns darüber im Klaren anfang?
SPIEGEL: Dabei bleibt es? sein, dass es bei Auslandseinsätzen der Köhler: Ich glaube, wir benötigen einen in-
Köhler: Das wäre mein Rat. Die Verhand- Bundeswehr immer auch um Leben oder tegrierten Ansatz mit einem entwick-
lungen werden dabei noch viele Jahre dau- Tod gehen kann. Und es muss unser Inter- lungspolitischen und einem diplomatischen
ern. Ein Blick auf die Krisenherde der Welt esse sein, dass militärischen Einsätzen im- Überbau. Das Militärische ist dann nur
und besonders auf den Nahen Osten zeigt, mer eine Friedenslogik übergeordnet ist. noch ein Element einer Gesamtstrategie
dass es nicht im Interesse Deutschlands und Die Menschen in Afghanistan müssen also und kann im Erfolgsfall zunehmend in den
Europas ist, wenn sich die Dinge dort noch erkennen können, dass die Anwesenheit Hintergrund treten. Die Erneuerung der
mehr komplizieren. In jedem Fall sollten fremder Soldaten einer besseren Zukunft Nato sollte dahin gehen, Friedenspolitik
wir peinlich darauf achten, dieses große für sie selbst dient. Die Bundeswehr hat stärker als Entwicklungspolitik zu definie-
und wichtige Land nicht vor den Kopf zu dies mit ihrer Unterstützung der zivilen ren. Das erfordert auch eine enge Zusam-
stoßen. Aufbauarbeit etwa bei Schul- und Straßen- menarbeit zwischen Nato und Vereinten
SPIEGEL: Der deutsche Bundeswehreinsatz bau gut vermittelt. Aber hierüber muss in Nationen. Wenn das Bündnis eine solche
in Afghanistan ist in die Kritik geraten. der Nato insgesamt Klarheit geschaffen Zielsetzung glaubwürdig und mit Nach-
Deutschland hat sich festgelegt, im Nor- werden. druck vermittelt, dann gibt es Hoffnung
den zu bleiben und nicht in den um- SPIEGEL: Können wir noch gewinnen? für einen Neuanfang im Verhältnis zwi-
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 7 25
Deutschland

schen dem Westen und den anderen Na- Köhler: Ich glaube, dass die Menschen im Köhler: Die russische Demokratie wird
tionen der Welt. Nahen und Mittleren Osten dem Grund- möglicherweise nie ganz unseren Vorstel-
SPIEGEL: Ist so auch dem Irak-Schlamassel satz nach dasselbe wünschen wie die lungen entsprechen. Das ist aber auch
zu entkommen? Menschen bei uns: dass sich das Leben nicht zwingend für eine gute Zusammen-
Köhler: Die Grundaussage, dass ohne eine lohnt. Nur wer nichts zu verlieren hat, ist arbeit.
entwicklungspolitische Dimension, die empfänglich für Extremisten. Das geht SPIEGEL: Ist Präsident Wladimir Putin eher
glaubwürdig am Wohlergehen der Be- über das Religiöse weit hinaus. Der Be- ein Opfer der Umstände oder einer der
völkerung ausgerichtet ist, kein militä- völkerungswissenschaftler Gunnar Hein- Drahtzieher hinter den jüngsten Turbu-
rischer Einsatz mehr vielversprechend sohn aus Bremen sieht zum Beispiel lenzen?
ist, gilt für den Irak genauso wie für Af- nicht so sehr in einem aggressiven Islam Köhler: Ich verfüge nicht über Informatio-
ghanistan. das größte Konfliktpotential, sondern in nen, die über das hinausgehen, was auch
SPIEGEL: Hat nicht derjenige, der von vorn- dem raschen Anwachsen einer perspektiv- Ihnen zugänglich ist. Ich kann Ihnen aber
herein seine Teilnahme ausschließt, sein losen Jugend in vielen arabischen Län- sagen, wie ich Präsident Putin bei früheren
Recht verwirkt, in der Irak-Debatte das dern. Begegnungen erlebt habe: als einen außer-
große Wort zu führen? SPIEGEL: Ihre Schlussfolgerung? ordentlich sachkundigen Politiker mit der
Fähigkeit, sich auf das Nächstliegende zu
konzentrieren. Und das war am Ende der
neunziger Jahre zunächst einmal die Wie-
derherstellung von staatlicher Ordnung und
Handlungsfähigkeit. Später erlebte ich ihn
auch als ernsthaften Reformer mit wachsen-
dem machtpolitischem Selbstbewusstsein.
SPIEGEL: Putin, der Gute?
Köhler: Das Verhältnis, das die russische
Führung bisweilen etwa zu Pressefreiheit
oder zu anderer Leute Eigentum ent-
wickelt, kann man kritisch beurteilen. Das
veranlasst mich aber nicht, mich an Spe-
kulationen und Verdächtigungen zu betei-
ligen, die darüber weit hinausgehen.
SPIEGEL: Nochmals unsere Frage: Putin ist
aus Ihrer Sicht also ein Opfer, kein Täter?
Köhler: Manche sagen, was wir derzeit er-
leben, sei bereits Teil des Machtkampfes
um die Nachfolge des Präsidenten. Ich
weiß es nicht. Es ist richtig, dass Außen-
minister Steinmeier die russische Führung
ITAR-TASS / REUTERS

aufgefordert hat, eine rasche Aufklärung


der jüngsten Morde an Kritikern der Re-
gierung herbeizuführen.
SPIEGEL: Nun ist Russland ein Land, mit
Russischer Präsident Putin (im Hauptquartier des Militär-Geheimdienstes im November 2006) dem wir eine Art Energiepartnerschaft ein-
„Die russische Demokratie wird möglicherweise nie gehen. Außenminister Frank-Walter Stein-
meier denkt sogar an eine europäisch-rus-
ganz unseren Vorstellungen entsprechen.“ sische Freihandelszone. Sind das Überle-
gungen, die Sie teilen?
Köhler: Ich glaube nicht, dass irgendjemand Köhler: Ein Grundpfeiler jeder sinnvollen Köhler: Wir müssen konstruktiv mit Russ-
in Deutschland oder Europa hier das große Strategie des Westens lautet für mich, jedem land sprechen. Ich finde, der Bundeaußen-
Wort führen will. Es wird im Westen ins- Bürger dieser Völker das Gefühl zu geben: minister verfolgt eine vernünftige Linie.
gesamt darum gehen, gemeinsame politi- Wir wollen, dass auch er die Möglichkeit SPIEGEL: Auch Sie sind Präsident, aber ei-
sche Ziele zu definieren und dann Zusam- hat, frei von Not und Furcht zu leben. Wenn ner mit sehr eingeschränkter Machtbefug-
menarbeit zu organisieren. Eine Haltung, es gelingt, in dieser Frage Glaubwürdigkeit nis. Guckt man da bewundernd auf einen
die da heißt: Wer es sich eingebrockt hat, zu gewinnen, dann trocknet den Funda- Präsidenten wie Putin?
muss es auch allein auslöffeln, ignoriert mentalisten der Nährboden aus. Köhler: I wo. Ich bin unserem Land und
langfristige deutsche und europäische In- SPIEGEL: Schauen wir nach Russland: Wie seinem Grundgesetz treu. Und ich glaube,
teressen. ist Ihr Blick heute auf einen Staat, der im dass Deutschland in den vergangenen 60
SPIEGEL: Das ist die Haltung in großen Tei- Moment vor allem dadurch auffällt, dass er Jahren demokratische Reife und politische
len der SPD. brutale Methoden gegenüber den Kritikern Statur gewonnen hat.
Köhler: Das ist nicht mein Eindruck. Ich des Präsidenten anwendet? SPIEGEL: Und das wird uns vom Ausland
glaube, die Europäer haben den Amerika- Köhler: Russland ist ein bedeutendes Land gutgeschrieben?
nern Erfahrung bei der Begegnung mit an- mit ganz eigener Kultur und Geschichte. Köhler: Draußen in der Welt haben die
deren Kulturen voraus. Das wird zuneh- Wir haben allen Grund, dieses Land mit Deutschen einen guten Ruf. In Afrika und
mend erkannt. Und die Erfahrung von Respekt und großer Aufmerksamkeit zu Lateinamerika sagen die Leute: Ihr seid
Transformation haben wir in der Europäi- behandeln. Deshalb müssen wir dennoch leistungsfähig. Ihr seid fair. Jetzt sagen die
schen Union selbst gemacht. Das kann Menschenrechtsfragen oder Mordfälle wie Leute sogar in London und New York: Ihr
doch hilfreich sein. in der jüngsten Vergangenheit offen an- habt Humor. Das zeigt mir: Das Land ist
SPIEGEL: Viele gehen davon aus, dass ein sprechen. Es wird aber möglicherweise auf einem guten Weg.
aggressiver Islam keinerlei Aussöhnung noch lange dauern, bis wir sagen können … SPIEGEL: Herr Bundespräsident, wir dan-
sucht. Eine Fehleinschätzung? SPIEGEL: … das sind lupenreine Demokraten. ken Ihnen für dieses Gespräch.
26 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 7
UWE LEIN / AP
Politikerin von der Leyen (in einer Kita in München): „Gleichstellung als Erfolgsstrategie“

ihn vor kurzem in die 24. Ausgabe aufge-


REGIERUNG
nommen hat?
Hinter dem sperrigen Anglizismus steckt

Der neue Mensch mehr als klassische Frauenförderung, wie


sie die Gleichstellungsbeauftragten im Sinn
haben, die es heute in jeder größeren Ver-
waltung gibt. Gender Mainstreaming will
Unter dem Begriff „Gender Mainstreaming“ haben Politiker nicht nur die Lage der Menschen ändern,
ein Erziehungsprogramm für Männer und Frauen sondern die Menschen selbst.
gestartet. Vorn dabei: Familienministerin Ursula von der Leyen. Das englische Wort „Gender“ beschreibt
die erlernte Geschlechterrolle, es drückt

D
er Nationalpark Eifel ist ein schö- Man könnte die Sache für das Ergebnis die Vorstellung aus, dass Männer und
ner Flecken Erde zwischen Bonn einer übereifrigen Bürokratie halten, wäre Frauen sich nur deshalb unterschiedlich
und Aachen. Lichte Buchenwälder da nicht diese merkwürdige Wendung verhalten, weil sie von der Gesellschaft
wechseln sich ab mit duftenden Heidewie- „Gender Mainstreaming“. Die Spitzenleu- dazu erzogen werden. Das ist kein neuer
sen. Es ist ein Ort, an dem alle Menschen te im Kanzleramt kennen sie ebenso wie Gedanke, Simone de Beauvoir schrieb
gleichermaßen Ruhe und Erholung finden, die Angestellten in Rathäusern und schon 1949: „Man kommt nicht als Frau
Männer wie Frauen; ein Ort, so möchte Kreisämtern, sie ist eingedrungen in die zur Welt, man wird es.“
man meinen, wo der Geschlechterkampf Verwaltung des Staates, leise, aber mit be- Neu ist, dass die Idee Eingang in die
pausiert. trächtlicher Wirkung. Gender Mainstrea- Politik gefunden hat, und dort entfaltet sie
Das Umweltministerium Nordrhein- ming ist Leitprinzip für alle Bundesbehör- eine tiefgreifende Wirkung. Denn wenn
Westfalen traute dem Frieden nicht und den, so steht es in der Geschäftsordnung das Geschlecht nur ein Lernprogramm ist,
schickte ein Expertenteam los, eine Sozio- der Regierung, zwölf Bundesländer sind dann kann man es im Dienst der Ge-
login, eine promovierte Ökotrophologin, mit ähnlichen Regelungen nachgezogen, schlechtergerechtigkeit auch umschreiben.
sie hatten einen wichtigen Auftrag: „Gen- das CSU-regierte Bayern genauso wie der Das ist ein Ziel des Gender-Mainstrea-
der Mainstreaming im Nationalpark Eifel – rot-rote Berliner Senat. ming-Konzepts. Nach dem Antidiskrimi-
Entwicklung von Umsetzungsinstrumen- Vor allem Bundesfamilienministerin Ur- nierungsgesetz ist dies nun das zweite ge-
ten“. Das klingt kompliziert, aber dahinter sula von der Leyen (CDU) ist die Sache ein sellschaftspolitische Projekt von Rot-Grün,
stand die Überzeugung, dass Sexismus Anliegen. In ihrem Haus gibt es ein eigenes das unter der neuen Bundesregierung mit
nicht vor den Grenzen eines Naturschutz- Referat Gender Mainstreaming und Anti- Elan weiterbetrieben wird.
gebiets haltmacht. diskriminierung, das Thema nimmt auf der Wer eine Vorstellung davon bekommen
Nach elf Monaten Arbeit legte das For- Internet-Seite des Ministeriums breiten möchte, wie Gender Mainstreaming in der
scherteam einen 67-seitigen Abschlussbe- Raum ein. Gleich zu Amtsbeginn beklagte Praxis funktioniert, muss bei Ralf Puchert
richt vor. Es empfahl zum Beispiel, Bilder die neue Ressortchefin: „Mit Gender vorbeischauen. Puchert hat es sich zur
von der Hirschbrunft möglichst aus Wer- Mainstreaming hinken wir der internatio- Lebensaufgabe gemacht, einen anderen
bebroschüren zu streichen, denn so etwas nalen Entwicklung hinterher.“ Mann zu formen, er verfolgt den Gedan-
fördere „stereotype Geschlechterrollen“. Was aber bedeutet Gender Mainstrea- ken, seit er in den achtziger Jahren an der
Die Landesregierung überwies 27 000 Euro ming, ein Begriff, der inzwischen so ver- TU Berlin studiert hat. 1989 schloss er sich
für die Studie. breitet ist, dass die Redaktion des Duden mit vier anderen Pädagogen aus seiner
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 7 27
Männergruppe zusammen
und gründete „Dissens“, ei-
nen Verein für eine „aktive
Patriarchatskritik“.
Inzwischen sind die meis-
ten Männergruppen im Or-
kus der Zeitgeschichte ver-
schwunden, Dissens aber ist
ein florierender Betrieb mit
20 Mitarbeitern, eine Art
Allzweck-Anbieter für pro-
gressive Geschlechterarbeit.
Die späte Blüte verdankt der
Verein auch dem Umstand,
dass Gender-Mainstreaming-
Projekte seit einigen Jah-
ren großzügig gefördert wer-
den; Aufträge kamen schon
von der Stadt Berlin, der
Bundesregierung, der EU-
Kommission.
Spezialgebiet des Vereins
ist Jungenarbeit. Von dieser
J. H. DARCHINGER

hat Dissens eine sehr eigene


Vorstellung, denn es geht da-
bei auch darum, Jungs früh
zu Kritikern des eigenen Ge-
schlechts zu erziehen. Es gibt Feministinnen (1975 in Bonn): „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“
ein einprägsames Beispiel,
wie die Gender-Theorie Eingang gefunden wie sie schreiben. Das Ziel einer „nicht- „Neue Wege für Jungs“, eine Art Berufs-
hat in die angewandte Pädagogik. identitären Jungenarbeit“ sei „nicht der beratung für männliche Teenager. Es ist
So spielten Dissens-Mitarbeiter bei ei- andere Junge, sondern gar kein Junge“. eine Reaktion auf den „Girls’ Day“, den es
ner Projektwoche mit Jungs in Marzahn Gender Mainstreaming ist eine Reak- schon länger gibt und mit dem junge
einen „Vorurteilswettbewerb“, an dessen tion auf die Klage vieler Feministinnen in Mädchen dazu gebracht werden sollen, Be-
Ende die Erkenntnis stehen sollte, dass den neunziger Jahren, dass die traditio- rufe wie Ingenieur oder Techniker zu ler-
sich Männer und Frauen viel weniger un- nellen Instrumente der Frauenförderung nen und sich nicht auf klassische Frauen-
terscheiden als gedacht. Es entspann sich nicht ausreichten. Deswegen sollen nun berufe wie Altenpflegerin oder Friseurin
eine heftige Debatte, ob Mädchen im Ste- Gleichstellungsbemühungen in alle Be- zu beschränken. Es ist eine sinnvolle Sache.
hen pinkeln und Jungs Gefühle zeigen reiche des öffentlichen Lebens Einzug Auf den ersten Blick erscheint auch
können, Sätze flogen hin und her. Am halten, man will in den „Mainstream“ „Neue Wege für Jungs“ durchaus vernünf-
Ende warfen die beiden Dissens-Leute staatlichen Handelns und dabei auch tig, die Macher werben mit Postern, auf de-
einem besonders selbstbewussten Jungen Männer dazu bringen, auf Macht und nen lässige Teenager einer fröhlichen Zu-
vor, „dass er eine Scheide habe und nur so Einfluss zu verzichten. „Gender Main- kunft entgegenblicken. Eigenartig ist nur,
tue, als sei er ein Junge“, so steht es im streaming“ sei ein Projekt, „das die Pri- dass „Neue Wege für Jungs“ den männ-
Protokoll. vilegien von Männern als sozialer Gruppe lichen Schulabgängern genau jene Pflege-
Einem Teenager die Existenz des Ge- in Frage stellt“, sagt Sabine Hark, eine der und Sozialberufe empfiehlt, zu denen man
schlechtsteils abzusprechen ist ein ziem- führenden Gender-Theoretikerinnen in Mädchen nicht mehr raten will, weil sie zu
lich verwirrender Anwurf, aber das nah- Deutschland. geringe Karriereaussichten bieten.
men die Dissens-Leute in Kauf, ihnen ging Seit gut anderthalb Jahren finanziert das Es ist unbestritten, dass in Deutschland
es um die „Zerstörung von Identitäten“, Bundesfamilienministerium die Aktion von echter Gleichberechtigung keine Rede
Deutschland

sein kann. In den Vorständen der 30 Dax- „Kompetenzzentrum“ eingerichtet, in dem


Unternehmen sitzt keine einzige Frau, nur acht Wissenschaftler darüber wachen, dass
acht Prozent der Professuren in der höchs- Gender Mainstreaming korrekt in den
ten Besoldungsgruppe sind weiblich be- Staatskörper eingepflanzt wird. In jedem
setzt, und Männer verdienen in vergleich- Berliner Bezirksamt hängt am Schwarzen
baren Positionen in Großunternehmen im Brett inzwischen ein Fortschrittsbericht der
Schnitt immer noch 23 Prozent mehr als „Gender-Geschäftsstelle“.
ihre Kolleginnen. Vor allem der Bund sorgt dafür, dass die
Die Frage ist nur, ob Gender Mainstrea- Experten zu tun haben. Das Verkehrs-
ming die richtige Antwort darauf ist. Denn ministerium zahlte 324 000 Euro für das
es ist ein Unterschied, ob der Staat sich Papier „Gender Mainstreaming im Städte-
darum bemüht, Benachteiligungen mit ge- bau“, und dabei kam unter anderem
zielter Förderung zu beseitigen – oder ob er heraus, dass sich die Herren der Stadt
sich herausnimmt, neue Rollenbilder für Pulheim bei Köln gern eine Boulebahn
die Menschen zu entwickeln und dabei beim Neubau des Stadtgartens wünschen.
schon Jugendliche in den Dienst eines Das Bundesumweltministerium hat 180 000

M. MITCHELL
sozialpädagogischen Projekts zu stellen, Euro für die Studie „Gender Greenstrea-
das auf einer zweifelhaften theoretischen ming“ übrig, zu deren Ergebnissen gehört,
Grundlage steht. Mediziner Money dass es geschlechterpolitisch sinnvoll wäre,
Der amerikanische Mediziner John Die Realität beugte sich nicht der Theorie wenn es auch mal „Motorsägenkurse für
Money war einer der Ersten, die wissen- Frauen“ gäbe.
schaftlich zu beweisen versuchten, dass fessorin Judith Butler. Für Butler ist die Und das nächste Projekt steht schon auf
Geschlecht nur erlernt ist, er war einer Geschlechtsidentität der meisten Men- der Tagesordnung. Seit März liegt im Bun-
der Pioniere der Gender-Theorie. Money schen eine Fiktion, eine „Komödie“, die desfamilienministerium eine „Machbar-
ging bei seiner Forschung nicht zimperlich aufzuführen sie von frühester Kindheit an keitsstudie Gender Budgeting“, sie hat
vor: Im Jahr 1967 unterzog er den knapp eingebläut bekommen. Das Zusammenle- 180 000 Euro gekostet, der Haushalt etli-
zwei Jahre alten Jungen Bruce Reimer ei- ben von Mann und Frau und das sexuelle cher Ministerien wurde dafür untersucht.
ner Geschlechtsumwandlung; dessen Penis Begehren zwischen den unterschiedlichen Würde es umgesetzt, müsste jeder einzel-
war zuvor bei einer Beschneidung ver- Geschlechtern betrachtet sie als Ausdruck ne Finanzposten danach abgeklopft wer-
stümmelt worden. Schon bald zeigte sich, eines perfiden Repressionssystems, der den, ob er geschlechterpolitisch korrekt
dass sich die Realität nicht Moneys Theo- „Zwangsheterosexualität“. ausgegeben wird. Es wäre der Sieg der
rie beugen wollte. Schon als kleines Kind Es ist leicht, Butler für das Produkt eines Bürokratie über die Vernunft, denn es ist
riss sich Brenda, wie Bruce nun hieß, die etwas überdrehten amerikanischen Uni- schwer zu klären, ob nun eher Frauen oder
Kleider vom Leib, um Mädchenspielzeug versitätsbetriebs zu halten. Aber das hie- Männer einen Vorteil haben, wenn die Re-
machte sie einen weiten Bogen. Als Bren- ße, ihre Wirkung zu unterschätzen. An je- gierung Steinkohlesubventionen zahlt oder
da mit 14 erfuhr, dass sie als Junge auf der der zahlreichen deutschen Hochschu- einen neuen Kampfhubschrauber bestellt.
die Welt gekommen war, ließ sie die Ge- len, die Gender-Studien anbieten, gehört Inzwischen dämmert es vielen in der
schlechtsumwandlung rückgängig machen. Butler zum Kanon, und für die Studenten Union, dass ein Projekt wie Gender Main-
Im Frühjahr 2004 erschoss sich Bruce Rei- bieten sich immer mehr Möglichkeiten, streaming kaum mit der Programmatik
mer mit einer Schrotflinte. das Erlernte in die Praxis umzusetzen. einer konservativen Partei zu vereinbaren
Noch heute führt jede neue Den Gender-Theoretikern ist ist. „Ich frage mich wirklich, ob wir damit
Studie über die Gründe für es gelungen, aus ihrer akade- den richtigen politischen Schwerpunkt set-
das unterschiedliche Verhalten mischen Nischendisziplin ein zen“, grummelt der Unionsfraktionsvize
der Geschlechter zu heftigen bürokratisches Großprojekt zu Wolfgang Bosbach. Bisher war es immer
Debatten. Das liegt vor allem machen. Position der Union, sich aus dem Privatle-
daran, dass es eine politische Bis in die Provinz sind ben der Menschen möglichst herauszuhal-
Frage ist, ob Natur oder Kul- die Gender-Arbeiter schon ten; sie wollte den Staat nach ihrem Willen
tur den Menschen zu Mann vorgedrungen. Für die Dorf- formen, aber nicht die Bürger.
MARKUS KIRCHGESSNER / LAIF

oder Frau macht. Würden erneuerung von Jützenbach, Ursula von der Leyen hat sich eine
Gene und Hormone das Ver- einer 550-Einwohner-Gemein- Doppelstrategie überlegt, um der Kritik
halten der Menschen steuern de im Südharz, gab das Erfur- auszuweichen. Öffentlich wird die Minis-
wie eine Fernbedienung, dann ter Landwirtschaftsministeri- terin das Wort Gender Mainstreaming
könnten Gegner einer echten um einen „Gender-Check“ für nicht mehr in den Mund nehmen, in einer
Gleichstellung der Geschlech- 15000 Euro in Auftrag, der un- Leitungsbesprechung in ihrem Haus
ter es zu einer Art Naturgesetz Professorin Butler ter anderem zu der Erkenntnis wurde verfügt, dass künftig die Formel
erklären, dass Frauen ihr Le- Radikale Vertreterin führte, dass in der freiwilligen „Gleichstellungspolitik als Erfolgsstrategie“
ben in Sorge um Kind und Feuerwehr nur eine einzige zu verwenden sei. Aber das ändert nichts
Heim verbringen müssen. Das erklärt wie- Frau Dienst tut. Die Freiburger Stadtver- an ihrer Linie.
derum, warum viele Feministinnen und waltung hat einen Leitfaden für Erzieher Wer den „Newsletter zu Gleichstel-
Gender-Theoretiker so vehement bestrei- herausgegeben, damit „negativen Einwir- lungspolitik“ des Ministeriums abonniert,
ten, dass es überhaupt einen Unterschied kungen jungmännlicher Dominanz“ schon findet unter der Rubrik „Neues aus dem
gibt zwischen Mann und Frau außer Pe- im Kindergarten begegnet wird. GenderKompetenzZentrum“ weiterhin
nis und Vagina. Sie fürchten, dass alles Kaum ein Bürger weiß, was Gender regelmäßig Erfolgsmeldungen. Von der
andere als Rechtfertigung benutzt wird, Mainstreaming heißt, die deutschen Staats- Leyen hat schon zu Beginn ihrer Amtszeit
um Frauen Rechte und Lebenschancen diener aber bekommen immer ausgeklü- klargemacht, dass sie sich im Gegensatz
vorzuenthalten. geltere Leitfäden dazu auf den Tisch, es zur Kanzlerin nicht mit einer Politik der
Die wohl einflussreichste und radikalste gibt Pilotprojekte, Lehrgänge und Mach- kleinen Schritte begnügen will. „Ich möch-
Vertreterin der Gender-Theorie ist die barkeitsstudien. An der Berliner Humboldt- te in diesem Land etwas bewegen“, sagte
im kalifornischen Berkeley lehrende Pro- Universität hat die Regierung eigens ein sie. René Pfister

d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 7 29
Deutschland

vor zwölf Tagen, als die Fürther Landrätin


Gabriele Pauli, 49, dem Ministerpräsiden-
CSU
ten bei einer CSU-Vorstandssitzung vor-
warf, er lasse sie bespitzeln. Das gesamte

Blockade der Kandidaten Führungspersonal der CSU erstarrte. „So


wichtig sind Sie nicht“, sagte Stoiber nur.
Früher wäre die Sache damit erledigt ge-
wesen. Früher wäre auch Frau Pauli erle-
Ministerpräsident Edmund Stoiber geht angeschlagen aus der digt gewesen.
Spitzelaffäre hervor, in der Partei wird überlegt, ihn aus Stattdessen trug sie den Sieg über ihren
dem nächsten Landtagswahlkampf möglichst herauszuhalten. Parteichef davon. Stoibers Büroleiter Mi-
chael Höhenberger, der im Um-

I
n den vergangenen Wochen wurde Ed- feld Paulis geschnüffelt haben
mund Stoiber häufiger von politischen soll, musste vier Tage später ge-
Erinnerungen übermannt. Dann sah er hen. Er war einer der engsten
sich selbst, vor 13 Jahren, als schneidigen Vertrauten des Ministerpräsi-
Innenminister, dem in München die Zu- denten, er ist seit rund drei
kunft gehörte. Der bayerische Minister- Jahrzehnten an seiner Seite.
präsident Max Streibl war tief in einen Fi- In der Partei wird seither
nanzskandal verstrickt, der als Amigo-Af- ziemlich ungehemmt über Stoi-
färe in die Geschichte eingehen sollte. Die bers politische Zukunft disku-
CSU steckte in einer ernsten Krise, die tiert. Immer mehr Landtags-
nächste Landtagswahl rückte näher. abgeordnete zeigen ihre Sym-
Alles wartete auf eine Entscheidung, da pathie für die Forderung der
trat Stoiber vor die CSU-Abgeordneten Landrätin Pauli, den Spitzen-
und sagte: „Wenn Max Streibl aufhören kandidaten für die Landtags-
sollte – ich traue mir das zu.“ Es war das wahl 2008 nach einer Urabstim-
Signal zum Sturz des Ministerpräsidenten. mung in der Partei zu benen-
Streibl musste zurücktreten, Stoiber wurde nen. Selbst der bayerische Um-
sein Nachfolger. weltminister Werner Schnapp-
Wenn der CSU-Chef an das Entschei- auf lehnt eine Mitgliederbefra-
dungsjahr 1993 zurückdenkt, dann bleibt gung nicht mehr grundsätzlich
ihm ein Trost: Der 65-Jährige sieht gegen- ab – für die Stoiber-Getreuen
wärtig niemanden, der ihn stürzen könnte. das Zeichen, dass die Gruppe
Denn eigentlich wäre es wieder Zeit für der Stoiber-Kritiker bis ins Ka-
einen Führungswechsel. Das ist die andere binett Fuß gefasst hat.
Botschaft der Putschgeschichte, die Stoiber Alles kommt nun wieder
in diesen Tagen im kleinen Kreis reminis- hoch: der Ärger über Stoibers
zierend zum Besten gibt. sprunghafte Art, Politik zu be-
Seit er sich vor einem Jahr zu der Ent- treiben, der Unmut über sein
scheidung durchrang, doch lieber Minis- ewiges Zaudern und über einen
terpräsident in Bayern zu bleiben, als Mi- Führungsstil, der ihm als CSU-
nister in Berlin zu werden, hat er es in der Generalsekretär einst den
Heimat schwer. Stoibers Ansehen hat sich Beinamen „blondes Fallbeil“
von der Absage an Kanzlerin Angela Mer- einbrachte.
kel, die viele als Flucht vor der Verant- Stoiber war nie zimperlich,
wortung verstanden, nie mehr richtig wenn es darum ging, Widersa-
erholt. In einer am Donnerstag veröffent- cher zu Fall zu bringen. Schon
lichten Umfrage äußerten sich deutlich we- früh hat er einen Kreis von Ver-
niger als die Hälfte der Befragten zufrieden trauten um sich geschart, die
mit seiner Arbeit. In der Staatskanzlei wer- sich in der Kunst des politischen
tet man die 43 Prozent schon als Erfolg. Armdrückens verstanden und
Die Auftritte Stoibers auf der Bundes- dabei auch vor Drohungen
bühne werden allenthalben mit Kopf- nicht zurückschreckten.
schütteln verfolgt. Zweimal hat der CSU- Der frühere CSU-Chef Theo
Chef 2006 in Nachtsitzungen mit den Spit- Waigel denkt noch immer mit
zen von SPD und CDU Kompromisse zur Wut an jene Wochen zurück,
Gesundheitsreform ausgehandelt, jedes als er den glücklosen Streibl
Mal hat er hinterher den Beschluss wieder als Ministerpräsidenten ablösen
in Frage gestellt. „Ganz blöd sind die Leu- wollte. Plötzlich setzte es An-
te nicht“, sagt ein Mitglied der CSU- rufe bei den Chefredaktionen
Führung. „Ich kann mich nicht damit brüs- der Münchner Lokalzeitungen,
ten, dass in Berlin keine Beschlüsse gegen in denen, mit der Bitte um
die CSU gefällt werden, und gleichzeitig Quellenschutz, darauf hinge-
kritisieren, was die da in Berlin für einen wiesen wurde, dass Waigels
SEYBOLDT-PRESS

Unsinn machen.“ Frau krank sei und er seit län-


Wie brüchig Stoibers Stellung auch par- gerem eine Geliebte habe.
teiintern ist, weiß die Öffentlichkeit spätes- Bis heute ist unklar, wer hin-
tens seit jenem verhängnisvollen Montag Regierungschef Stoiber: Beamte für die Drecksarbeit ter der Verbreitung der Gerüch-
30 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 7
te steckte. Klar ist, dass Stoiber deutlich, und jeder wusste, dass
davon profitierte. damit nicht nur Höhenberger ge-
Die Drecksarbeit lässt Stoiber meint war.
gern von seinen Beamten erledi- Herrmann ist der aussichts-
gen. Der jetzt geschasste Höhen- reichste Kandidat für die Stoiber-
berger war sein bevorzugter Mann Nachfolge, aber er ist beileibe
fürs Grobe. Höhenberger gehört nicht der einzige. Bundesver-
zu den Menschen, die sich am braucherschutzminister Horst
wohlsten im Hintergrund fühlen, Seehofer, 57, hat ebenfalls Pläne.

ASTRID SCHMIDHUBER / IMAGO


enorm fleißig, mit einem Blick fürs Er ist an der Basis der beliebteste
Detail, dabei erstaunlich ruchlos, CSU-Politiker, er rechnet sich

MARC-STEFFEN UNGER
wenn es der Sache dient. Nach sei- gute Chancen aus, Parteichef zu
ner Wahl zum CSU-Chef 1999 werden.
schickte ihn Stoiber in die Partei- Auch Wirtschaftsminister Er-
zentrale, zunächst als Büroleiter, win Huber, 60, hat seine Hoff-
2001 dann als Geschäftsführer. Er Kandidaten Herrmann, Seehofer: Die Zeit ist nicht reif nungen auf das Amt des Minis-
sollte Generalsekretär Thomas terpräsidenten noch nicht auf-
Goppel kontrollieren. Höhenberger leiste- dass die Landrätin ihm nicht wirklich ge- gegeben; Thomas Goppel, 59, inzwischen
te ganze Arbeit. Goppel erhielt eines Tages fährlich werden kann, dafür hat sie zu we- Wissenschaftsminister, werden ebenfalls
einen Brief, der seine eigene Unterschrift nig Gewicht im Partei-Establishment. Ambitionen nachgesagt. Sie alle belau-
trug. Er hatte den Brief nie zuvor gesehen. Die Wortführer halten sich bislang ern und blockieren sich gegenseitig. Das
Höhenberger, so wird berichtet, hatte ihn zurück. Es gibt eine Reihe von Leuten mit ist im Augenblick Stoibers Lebensversi-
in Goppels Namen aufgesetzt. Unter- Ambitionen, daran liegt es nicht. Frak- cherung.
schrieben hatte ein Automat. tionschef Joachim Herrmann, 50, will Stoi- Das ist auch der Grund dafür, dass die
Als Stoiber voriges Jahr die Flucht aus bers Nachfolger als Ministerpräsident wer- Chance einiger Stoiber-Gegner, mit ihrer
Berlin antrat und politisch so geschwächt den, das wissen alle. Aber er kann sich Forderung nach einer Urwahl des Spitzen-
war wie noch nie zuvor, richtete sich der nicht offen gegen Stoiber stellen, dafür ist kandidaten durchzukommen, nicht sehr
Zorn der Abgeordneten als Erstes gegen die Zeit noch nicht reif. Andererseits muss groß ist. Beim CSU-Parteitag im Oktober
seine Mitarbeiter. Vor allem Stoibers Re- er den Abgeordneten zeigen, dass er ihm wiesen die Delegierten einen entspre-
gierungssprecher Martin Neumeyer stand gegenüber eigenständig auftritt. Ein Duck- chenden Antrag mit überwältigender
plötzlich im Zentrum der Kritik. Neumey- mäuser kann nicht bayerischer Minister- Mehrheit zurück. Jetzt schlägt Pauli eine
er war im System Stoiber am Ende so ein- präsident werden. Mitgliederbefragung vor, die den Parteitag
flussreich geworden, dass er sogar Minister Als die Spitzelaffäre losbrach, schwieg nicht bindet. Doch Führungsfragen regeln
zurechtweisen konnte. Auf ihn hörte Stoi- Herrmann zunächst. Als die Empörung die Mächtigen in der CSU gern unter sich.
ber mehr als auf die politische Führung immer größer wurde, sagte er: „Die Staats- Eine Urabstimmung wäre unkontrollierbar
der CSU. kanzlei sollte sich auf gute Politik kon- – allerdings sieht die Satzung die Möglich-
Einige Abgeordnete forderten seinen zentrieren und nicht auf die Suche nach keit einer derartigen Befragung der Par-
Kopf. Stoiber versetze Neumeyer – nach Gegnern von Edmund Stoiber.“ Das war teibasis bisher auch nicht vor.
oben. Er ist nun Amtschef in der Staats- In der Staatskanzlei macht man
kanzlei, mächtiger als je zuvor. „Es ist wie sich damit Mut, dass nur noch we-
früher“, stöhnt ein CSU-Spitzenmann. nig Zeit für einen Führungswech-
„Neumeyer weist die Ministerien an, wel- sel bleibt. Im Frühjahr 2008 sind
che Pressemitteilungen sie herausgeben die wichtigen Kommunalwahlen.
sollen.“ Nichts fürchten Kommunalpoliti-
Daran wird auch die Pauli-Affäre nichts ker mehr als eine Führungsdebat-
ändern. Stoiber ist nach seinem Rückzug te zur Unzeit, Uneinigkeit wird
aus Berlin noch abhängiger von seinen vor allem von konservativen
Mitarbeitern als zuvor. Es gibt nicht mehr Wählern hart bestraft.
viele, denen er wirklich vertrauen kann, In der Parteizentrale, die wie
genau besehen sind da nur noch die Leu- die Staatskanzlei noch fest in der
te, die mit ihm stehen und fallen. Hand des CSU-Chefs ist, rechnen
Höhenberger wird in Stoibers Nähe deshalb alle damit, dass der Minis-
bleiben, in welcher Funktion auch immer. terpräsident des Freistaats auch
Stoiber hatte seinen Mann partout halten nach der Landtagswahl im Herbst
wollen. Erst als Höhenbergers Gesprächs- 2008 wieder Edmund Stoiber
partner, der Fürther Wirtschaftsreferent heißen wird.
Horst Müller, bei dem sich der Büroleiter Es gibt bereits erste Überlegun-
über das Privatleben Paulis erkundigt hat- gen für den Wahlkampf, abge-
te, die Vorwürfe bestätigte, kam man in stimmt auf die schwierige Lage.
der Staatskanzlei zu der Einschätzung, „Diesmal sollen die Inhalte im
dass Höhenberger nicht mehr zu halten Vordergrund stehen“, sagt ein
sei. Das sei ein „Aushorchen auf einem Wahlkampfmanager, was vor-
DANIEL KARMANN / DPA

Niveau gewesen, das nicht das meine ist“, nehm umschreiben soll, dass ein
sagte Müller. reiner Personenwahlkampf als un-
Für Stoiber geht es jetzt darum, Zeit zu geeignet gilt. „Das Land mit Stoi-
gewinnen und den Kreis der Gegner klein ber-Plakaten zupflastern, das wird
zu halten. Bislang haben sich Kommunal- nicht mehr gehen“, sagt der Par-
politiker und Hinterbänkler öffentlich auf Bespitzelte CSU-Landrätin Pauli teistratege bedauernd.
die Seite Paulis geschlagen. Stoiber weiß, Früher wäre sie erledigt gewesen Ralf Neukirch

d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 7 31
Gefährdete Winterwelt Höhenlage ausgewählter Skigebiete in den Bayerischen Alpen Oberstdorf SCHWEIZ
815 m
Ober-
Zugspitze 2962 m Hindelang maiselstein
825 m 859 m LIECHTENSTEIN
Ö STE R R E ICH
Garmisch-
Spitzing Partenkirchen
1085 m 720 m
Nord

Mit Schneekanonen beschneite in Hektar


Mittenwald Fläche in den Bayerischen Alpen 400
Ober-
920 m ammergau 300
840 m Nesselwang
Wallbergbahn/ Lenggries/ 867m 200
Sudelfeld Tegernsee Brauneck
1090 m 790 m 100
700 m D E U T S C H L A N D
0
1998 99 2000 01 02 03 04 05 06

Gruppe die Modernisierung rund 14 Mil- bayerischen Orte erwischt es demnach fast
TOURISMUS
lionen Euro kosten lassen. komplett: Schon bei zwei Grad Tempera-

Petrus und Die Investitionsfreude mag erstaunen


angesichts der Perspektiven, die dem Win-
tersport in den deutschen Alpen drohen.
turanstieg sind 87 Prozent der Pisten zu-
künftig nicht mehr als „schneesicher“ ein-
zustufen. Schon in einigen Jahrzehnten

Kanonen Wer die Skier, die er unter dem Christ-


baum gefunden hatte, gleich ausprobieren
wollte, der musste sich schon in Hoch-
lagen begeben, um auf einer ordentlichen
dürften Abfahrten unterhalb von 1500 Me-
tern schlicht unmöglich sein.
Als „schneesicher“ definiert die OECD
Örtlichkeiten, die pro Jahr an mindestens
Über Weihnachten konnten sich die
Schneedecke zu carven. Orte wie Leng- 100 Tagen eine Schneedecke von rund 30
bayerischen Wintersportorte gries oder Bayrischzell meldeten über Zentimetern aufweisen. In den Alpen sind
mit der Zukunft vertraut machen – Weihnachten: Ski und Rodel mies. das derzeit rund 600 Skigebiete. Nur ein
Ski fahren war allenfalls Dass es irgendwann im neuen Jahr Grad weitere durchschnittliche Erwärmung
in höheren Lagen möglich. schneit, davon gehen selbst die lautesten werde ihre Zahl auf 500 mindern. Und jedes
Mahner unter den Klimaforschern aus. So- weitere Grad bedeutet das Aus für weitere

F
rohgelaunt schweben zwei Männer gar mächtig weiße Winter wie der vorige, 100 Skigebiete. Der Klimaexperte Shardul
im gepolsterten Vierersessellift auf als viele Hausbesitzer um ihre papp- Agrawala kam auf diese bedrohlichen Pro-
den Stümpfling. Es sind der Münch- schneebelasteten Dächer fürchteten, sind gnosen, nachdem er riesige Datenmengen
ner Unternehmer Stefan Schörghuber, immer mal wieder möglich. Der Genosse durch den Rechner geschickt hatte. Bereits
Mehrheitsgesellschafter der „Alpenbah- Trend jedoch ist erbarmungslos mit den die Jahre 1994, 2000, 2002 und 2003 waren
nen Spitzingsee GmbH“, und Erwin Hu- Freunden des alpinen Skilaufs. die wärmsten der vergangenen 500 Jahre.
ber, der Wirtschaftsminister des Freistaats Nach einer zum Saisonstart vorgelegten Natürlich kennen auch Investoren wie
Bayern. Sie haben sich in dicke Winter- Studie der Organisation für wirtschaftliche Schörghuber diese Daten. Mal abgesehen
mäntel gehüllt, auch wenn das Thermo- Zusammenarbeit (OECD) gefährdet die davon, dass sie gern daran erinnern, wie
meter auf 1504 Metern leichte Plusgrade Erderwärmung im schlimmsten Fall zwei sich zuweilen auch Klimaforscher wider-
anzeigt. Drittel aller Skigebiete in den Alpen. Die sprechen, handeln sie durchaus realitätsnah:
Unterwegs passieren sie ei- An der Wallbergbahn am Te-
nen nierenförmigen künstlichen gernsee (790 Meter) ließ Schörg-
Wasserspeicher mit einem Fas- huber Sessel- und Schlepplifte
sungsvermögen von 42 000 Ku- abbauen – und errichtete eine
bikmetern. Eine Pumpstation 6,5 Kilometer lange Rodelbahn,
bringt das reine Bergwasser zu die ab 10 Zentimeter Schneeauf-
den 25 Schneekanonen, die die lage die Touristen anlocken soll.
Pisten „schneesicher“ machen Die weiße Pracht spielt für den
sollen. Alpentourismus von morgen
Der Politiker Huber ist vom möglicherweise nur noch eine
Konzernchef Schörghuber an Nebenrolle. Der Konzern setzt
FRANK MÄCHLER / PICTURE- ALLIANCE / DPA

diesem Dezember-Mittag einge- auf Wandern, Wälder und Well-


laden, den neuen Skizirkus ein- ness, auf „einen Mix von Som-
zuweihen. Die Beförderungska- mer- und Winteraktivitäten“,
pazität in dem Skigebiet ober- wie Schörghuber-Sprecher Hol-
halb des Schliersees wurde von ger Lösch formuliert. Einerseits.
stündlich 1700 auf 4800 Perso- Andererseits kann sich die
nen erhöht. Inklusive Beschnei- Wintersportindustrie auf die
ungsanlagen, Berghütten und Standortpolitik der bayerischen
Ausgleichsmaßnahmen für die Regierung verlassen. Der Land-
Natur hat sich die Schörghuber- Minister Huber, Investor Schörghuber: Verpulverte Fördergelder? tag lockerte 2004 die Beschrän-
32 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 7
Deutschland

kungen zum Betrieb von Beschneiungsan-


lagen – seitdem wuchs die Fläche der
künstlich beschneiten Pisten um fast ein
Fünftel (siehe Grafik Seite 32).
Und so wird munter geklotzt, in Hin-
delang, in Garmisch-Partenkirchen, wo we-
gen der Ski-WM 2011 rund 100 Millionen
Euro in die Infrastruktur gesteckt werden,
oder eben am Spitzingsee. Nicht mal die
enormen Kosten für Wasser, Energie und
die Pistenraupen, die jeden erzeugten Ku-
bikmeter Schnee drei bis fünf Euro teuer
machen, schrecken ab: Pro Pistenkilometer
kalkulieren die Betreiber rund 200000 Euro.
Geradezu manisch reiste Wirtschaftsmi-
nister Huber im gemäßigten Frühwinter
von einem Liftausbau zur nächsten Eröff-
nung einer Batterie von Schneekanonen –
als ob er sich persönlich gegen den Klima-
wandel stemmen könnte. „Es reicht leider
nicht, zu Petrus zu beten“, argumentiert
Huber, „mutiges Handeln ist das Gebot
der Stunde, ich befürworte Investitionen in
Beschneiungsanlagen.“
Dass Huber bei seinen politischen Geg-
JOERG MUELLER / VISUM

nern damit Widerspruch herausfordert,


wird ihn nicht erschrecken. Christine
Markgraf vom Bund Naturschutz fordert
angesichts der Erderwärmung einen sofor-
tigen Stopp des „bayerischen Ausbau-
wahns“, die Grünen im Münchner Landtag Weizenzucht in Gatersleben: „Wer trägt den Schaden, wenn sie auskreuzen?“
klagen über „verpulverte“ Fördergelder:
„Mit Schneekanonen kann man nicht den
GENTECHNIK
Klimawandel bekämpfen.“
Unangenehm für den Wirtschaftsminis-
ter ist hingegen, dass schon Kabinettskol-
legen offen Front machen. Umweltminister
Werner Schnappauf hält den Ausbau tiefer
gelegener Skigebiete „ökonomisch und
„Hosut“ gegen „Dickkopf“
ökologisch“ für unsinnig: „Das sind Fehl-
Gentechnische Forschung an Pflanzen soll nach dem Willen von
investitionen der Zukunft.“ Agrarminister Horst Seehofer künftig erleichtert werden –
Es sind Leute wie Schnappauf, die die für die Bauern aber gelten weiterhin strenge Haftungsregeln.
Stimmung am Berg allmählich verändern.

D
Die Stammtischparolen, wonach die grü- ie kleine Gemeinde Gatersleben in klärt, warum dieser Freilandversuch
nen Klimaforscher „ein Schmarrn“ ver- Sachsen-Anhalt ist stolz auf ihre „außergewöhnlich“ sei.
breiten würden, werden seltener. Die weit zurückreichende Geschichte. „Erstmals soll der Beweis erbracht wer-
Kundschaft hat bereits auf die erschwerten Steinzeitliche Werkzeuge wurden hier ge- den, dass grüne Gentechnik herkömm-
Verhältnisse reagiert. „Kürzere Aufent- funden, Waffen, Knochen und mit Band- lichen Züchtungsmethoden überlegen sein
haltszeiten, spontane Umbuchungen, ski- Ornamenten verzierte Hausgeräte. Im Jahr kann.“ Die Chemikerin will den Protein-
ferne Aktivitäten“, fasst Garmisch-Parten- 964 wurde das Dorf erstmals urkundlich gehalt des Futterweizens verbessern, ohne
kirchens Tourismusmanager Peter Nagel erwähnt. Doch auch die Zukunft ist in dem dabei dessen Ertrag zu schmälern. An die-
den Trend zusammen: „Die Leute checken 2600-Einwohner-Ort präsent: Anno 2006 sem Ziel scheitern konventionelle Saat-
im Internet die Web-Kamera, ob heute ist Gatersleben wichtiger Stützpunkt für züchter seit Jahrzehnten.
Schnee gefallen ist, und fahren los.“ die Genforschung – als Heimat des Leib- Was Weschke als erfolgversprechendes
Die Entwicklung scheint nicht aufzuhal- niz-Instituts für Pflanzengenetik und Kul- Experiment auslobt, stößt anderen bitter
ten zu sein. Man kann sie allenfalls verzö- turpflanzenforschung (IPK). auf: Denn unter dem Dach des staatlich
gern, mit noch mehr Technik. Es gibt näm- Dieser Tage schießen ganz besonders finanzierten Instituts lagert auch Deutsch-
lich das Bakterium „Pseudomonas Syrin- gehegte Triebe aus der Schwarzerde der lands größte Pflanzensamen-Bank, mit
gae“. Das abgetötete Bakterium lässt als Magdeburger Börde: Winterweizen mit 148 847 Saatgutmustern, darunter 28 622
Kristallisationskern Wasser schon bei rund Genen aus der Gerste und aus der Acker- vom Weizen. Der „schwarze behaarte
fünf Grad plus zu Schnee gefrieren. Mit bohne. „Hosut“, „XAP“ und „Sutap“ Winteremmer“ etwa ist dabei, ein robuster,
ihm produzieren Schweizer Dörfer im Wal- nennen die Wissenschaftler ihre drei im standfester Weizen mit schwarzer Ähre,
lis und im Berner Oberland Schnee auch Labor erzeugten Forschungslinien. Ein „Kuwerts Ostpreußischer Dickkopf“ oder
bei Plustemperaturen – ein echter Wettbe- Schäferhund, ein Wachmann mit Schwarz- „Strubes Roter Schlanstedter“ – ein letzt-
werbsvorteil in der alpinen Aufrüstung. rotgold-Aufnäher auf dem Sweater und mals 1960 in Nordostdeutschland ange-
Ob die biologische Wunderwaffe scha- zwei Kameras bewachen den 1200 Qua- bautes Getreide mit sperrig begrannter ro-
det, ist in der Forschung umstritten. In dratmeter großen Acker. Stolz steht ter Ähre.
Deutschland ist das Schneedoping jeden- Winfriede Weschke, die Erfinderin des Damit sie ihre Keimfähigkeit nicht ver-
falls verboten. Noch. Sebastian Knauer Projekts, in der Spätherbstsonne und er- lieren, müssen die wertvollen Körner aus
34 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 7
der Tiefkühltruhe geholt werden, um sich schen Bauern im Nacken sitzen, nicht der Universität Louisiana neben konven-
im Freiland zu vermehren. Nur 500 Meter lassen: Die Forscher dürfen ein bisschen tionellem Saatgut freigesetzt und danach
von den genmanipulierten Hosut-, XAP- mehr im Freien experimentieren. Für die komplett aus dem Verkehr gezogen – so
und Sutap-Organismen entfernt wächst Bauern aber sollen weiterhin die strengen dachte man.
derzeit herkömmlicher Winterweizen her- Haftungsregeln gelten, die noch Seehofers Jahre später wurde das Malheur offen-
an: „Stella“ und „Faktor“ aus der IPK-Sa- grüne Vorgängerin Renate Künast erlas- sichtlich: Genveränderter Samen tauchte
menbank. sen hatte. bei etlichen US-Reisbauern auf, belastete
Nicht alle sehen darin eine gute Nach- Die Folgen marodierender Genmani- Ernten waren bereits in aller Welt verkauft.
barschaft: „Es ist fahrlässig, wenn ausge- pulationen will kaum ein Ackersmann Wie das geschehen konnte, ist bis heute
rechnet in einer solchen Schatztruhe der auf die eigene Kappe nehmen. Seit der ein Rätsel.
Menschheit genveränderte Samen ausge- ersten landwirtschaftlichen Zulassung für Die Rückrufaktion des kontaminierten
bracht werden“, schimpft der Biologe Hen- genverändertes Saatgut vor einem Jahr Nahrungsmittels kostete die Branche in
ning Strodthoff von Greenpeace. „Wer Deutschland rund zehn Millionen Euro.
trägt den Schaden, wenn sie in die alten Allein der Hamburger Großhändler Eury-
Weizensorten auskreuzen? Diese Sorten za, in dessen Sorte „Oryza Ideal Reis“ be-
gingen für immer verloren.“ lastete Körner gefunden wurden, musste
Das sei alles nur Panikmache, wehren 400 Tonnen zurückrufen; rund 10 000 Ton-
die Gaterslebener Forscher ab: „Wir er- nen Reis wurden insgesamt vom deutschen
halten hier seit Jahrzehnten Samen. Obers- Markt genommen.
tes Prinzip ist, dass die sich nicht vermi- Würde für derlei Fälle in Deutschland
schen dürfen“, sagt IPK-Direktor Ulrich künftig der Staat haften?
Wobus. „Deshalb treffen wir alle notwen- Nur bedingt, sagt Wolfgang Köhler,
digen Sicherheitsvorkehrungen, so dass die Referatsleiter für Gentechnik beim Bun-
transgene Saat nicht auskreuzen kann.“ deslandwirtschaftsministerium. Keinesfalls
Hundertprozentige Sicherheit gebe es in werde der Bund teure Rückrufaktionen
der Biologie freilich nie. „Wer auf absolu- bezahlen müssen. Er werde lediglich für
te Gentechnik-Freiheit pocht, muss den „unmittelbare Schäden“ einer Auskreu-
Anbau von genveränderten Pflanzen ganz zung von Freilandversuchen aufkommen:

WOLFGANG KUMM / AP
verbieten.“ wenn etwa ein benachbarter Landwirt die
Der Professor und seine Mitstreiter eigene Ernte nicht vermarkten kann, weil
fühlen sich seit Ende November ermutigt: diese nach einer unbeabsichtigten Bestäu-
Überraschend genehmigte ihnen das Bun- bung mit Genpollen nicht mehr als gen-
desamt für Verbraucherschutz und Le- technisch unbelastet gilt.
bensmittelsicherheit die Freisetzung ihres Obstbäuerin, Minister Seehofer (in Berlin) Sollte allerdings erst bei einer späteren
genetisch veränderten Saatguts. Auch der Verunglückter Spagat Lebensmittelkontrolle die Genverschmut-
zeitgleich von Bundeslandwirtschaftsmi- zung auffliegen, könnte der Bauer der An-
nister Horst Seehofer (CSU) vorgelegte UMFRAGE: GENTECHNIK geschmierte sein. Er haftet immer dann für
Entwurf für ein neues Gentechnik-Recht die Kosten einer Rückrufaktion aus den
sei „ein gutes Signal“. „Würden Sie ohne Bedenken Supermarktregalen, wenn er seinem Ab-
Das ist verständlich, kommt der Entwurf gentechnisch veränderte nehmer – also zum Beispiel der Mühle –
doch den Wissenschaftlern in vielerlei Hin- vorher schriftlich garantiert hatte, dass sei-
sicht entgegen: So sollen die Felder expe- Lebensmittel kaufen?“ ne Ware frei von Gentechnik sei.
rimentierfreudiger Anbauer nicht mehr Weil solche Garantien nicht selten ver-
so eindeutig ausgewiesen werden wie bis- JA 13 % langt werden, fordert die Bauernlobby eine
her, um sie vor Gegnern der Gentechno- klare Ergänzung in Seehofers
logie besser zu schützen. Außerdem soll
die Forschung in Labor und Freiland er-
NEIN 76 % Novelle: „Es muss geregelt
werden, dass derjenige, der
leichtert werden. genveränderte Organismen
Kern der geplanten Gentechnik-Novelle 6% nur wenn sie billiger sind testet, auch die Felder des Nachbarn vor
ist indes eine Neuregelung der Haftungs- der Ernte beprobt“, sagt Jens Rademacher
garantie. Sie trägt die Handschrift von TNS Forschung für den SPIEGEL vom 5. bis 7. Dezember; vom Deutschen Bauernverband. Bislang
1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“/
Forschungsministerin Annette Schavan keine Angabe müssen die Landwirte selbst für die Kos-
(CDU), einer glühenden Verfechterin der ten derartiger Nachweise aufkommen –
grünen Gentechnik. zum Beispiel, wenn sie den Babykost-
Danach will der Bund die Risiken öf- für eine schädlingsresistente Maissorte hersteller Claus Hipp aus Pfaffenhofen
fentlich finanzierter Forschung künftig ab- wird diese gerade mal auf 1800 Hektar beliefern wollen, der ganz auf Bio-
sichern. Risiken sind das, die nicht einmal angebaut – also auf 1 Promille der dafür kost setzt.
die Versicherungsbranche für kalkulierbar geeigneten Anbaufläche. Denn wenn ein „Ein Unding“, erklärt Ulrich Kelber,
hält. Nun soll der Steuerzahler einstehen, Bauer mit seiner Gensaat Pech hat, haften Vizevorsitzender der SPD-Fraktion, „wer
wenn etwas schiefgeht: Es werde „ange- weder der Bund noch die Hersteller – auf Gentechnik verzichtet, darf doch
strebt, Haftungsfälle aufgrund von Aus- Chemiemultis wie Monsanto, BASF oder nicht für den Nachweis zur Kasse gebeten
kreuzungen durch den Bund abzudecken“, Syngenta. werden, dass seine Produkte gentechnik-
heißt es in Seehofers Entwurf. Wie teuer bereits ein wissenschaftlicher frei sind.“ Zumal derlei Nachweise teuer
Was nach einem weitgehenden Ein- Gen-Unfall auf überschaubarer Fläche sind: Eine einzige Genanalyse kostet an
knicken Seehofers gegenüber Forschungs- werden kann, zeigte sich jüngst in den Ver- die 300 Euro.
ministerin Schavan aussieht, ist ein ver- einigten Staaten. Die Ausgangssituation Verbraucherminister Seehofer sieht das
unglückter Spagat. Denn von seiner kri- war ähnlich wie in Gatersleben beim IPK: Dilemma, ist aber ratlos: „Uns ist nicht
tischen Haltung will der CSU-Minister, Gensaat wurde zwischen 1999 und 2001 eingefallen, wie wir das Problem realistisch
dem die gentechnikfeindlichen bayeri- von einer staatlichen Reisforschungsstation lösen können.“ Annette Bruhns

d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 7 35
Deutschland

muten deshalb, dass zumindest einige die-


RADIKALE
ser Gruppen untereinander in Kontakt ste-

Klares hen. Bei den Tätern könnte es sich um eine


Mischung aus altgedienten Antiimperialis-
ten und aktionsorientierten Autonomen

Zeichen handeln. Sollte die klandestine Allianz


tatsächlich existieren, nötigt ihre Konspi-
ration den Ermittlern ein gewisses Maß an
Respekt ab. „Wir haben zwar eine Vorstel-
Mit Anschlägen auf Unternehmer
lung von dem Profil der Täter, aber keine
und Politiker bereitet sich die konkreten Hinweise auf einzelne Personen
militante Linke auf den G-8-Gipfel oder Gruppen“, räumt der Hamburger
im Juni in Heiligendamm vor. Verfassungsschützer Manfred Murck ein.
Das Bundeskriminalamt ist besorgt. Dabei wird der „Gipfelsturm“ (Pro-
testaufruf) von linksradikalen Gruppen be-

E
s war gegen 3 Uhr früh in der Nacht reits seit gut einem Jahr akribisch vorbe-
vom ersten auf den zweiten Weih- reitet. Im August 2005 meldete sich eine
nachtstag, als die besinnliche Ruhe Hamburger Gruppe in der Szene-Postille

MAURIZIO GAMBARINI / DPA


im feinen Hamburger Stadtteil Winterhude „Interim“ zu Wort und schlug jene „mili-
empfindlich gestört wurde: Vor einer ge- tante Kampagne zu G-8“ vor.
diegenen Backsteinvilla ging ein Mini in Und als hätte es eines Beweises der
Flammen auf. Flaschen, gefüllt mit Farbe, Ernsthaftigkeit bedurft, erläuterte die Grup-
flogen im Schein des Feuers gegen die Fas- pe seitenlang, warum sie zuvor den Dienst-
sade, zerbarsten und hinterließen blaue wagen von „Hamburgs wichtigstem Indu-
Flecken am roten Stein. Anschlagsziel Mirow-Haus strieboss“ („Bild“) Werner Marnette abge-
Herr des Hauses ist Thomas Mirow, 53, „Sturm auf die Rote Zone“ fackelt hatte: weil Marnettes Norddeutsche
Staatssekretär im Bundesfinanzministeri- Affinerie in der ausbeuterischen Tradition
um und dort zuständig für internationale des Kolonialismus stehe.
Finanzmärkte. Der einstige Hamburger Seitdem beteiligen sich diverse Unter-
Wirtschaftssenator und Bürgermeisterkan- grundzellen vor allem aus den beiden
didat der Sozialdemokraten ist in der Großstädten Hamburg und Berlin an der
Steinbrück-Behörde beauftragt, den G-8- Kampagne. So
Gipfel im Juni im Nobelbadeort Heili- • deponierte in Berlin die „militante
gendamm an der Ostsee zu organisieren. Gruppe“ im Deutschen Institut für Wirt-
Mirow sitze an „strategischen Schalthebeln schaftsforschung im November 2005 ei-
der Macht“, heißt es in dem Bekenner- nen Brandsatz;
schreiben, das am nächsten Tag bei der • fackelte Ende April 2006 eine Gruppe
„Hamburger Morgenpost“ einging. „fight 4 revolution crews“ den Mit-
JAN WOITAS / DPA

Der Anschlag auf Mirows Haus ist der subishi des Chefs des Hamburgischen
jüngste einer ganzen Serie von militanten Weltwirtschaftsinstituts, Thomas Straub-
Aktionen gegen Politiker und Unterneh- haar, ab;
mer in Berlin und Norddeutschland. Weil • bewarfen Unbekannte Ende August 2006
die zunehmende Zahl der Attacken im Soldaten in Heiligendamm* das Haus des mecklenburg-vorpommer-
Vorfeld des Treffens der Staats- und Re- Showdown an der Ostsee schen Ministerpräsidenten Harald Rings-
gierungschefs der acht wichtigsten Indu- torff mit Steinen und Farbe.
strienationen den Sicherheitsbehörden Zu dem Anschlag auf Mirow bekannte Seit Monaten schon ist das Treffen der
mehr und mehr Sorge bereitet, hat Gene- sich denn auch auf drei engbeschriebenen internationalen Polit-Prominenz das do-
ralbundesanwältin Monika Harms den Seiten eine Gruppe „Kolonialismus und minierende Thema der außerparlamenta-
Hamburger Fall übernommen und das Krieg in der militanten Anti-G-8-Kampa- rischen Linken. Mitte November trafen
Bundeskriminalamt (BKA) mit den Er- gne“, die mit ihrer Aktion „ein klares Zei- sich rund 450 Globalisierungskritiker in
mittlungen betraut. „Die bisherigen Straf- chen“ setzen wollte – sowohl für die „Mo- Rostock, um über dezentrale Blockaden,
taten geben Anlass zu großer Besorgnis“, bilisierung für Juni 2007, wie auch in den Großdemonstrationen und andere Formen
warnt BKA-Präsident Jörg Ziercke, es ge- Tagen des Gipfels selbst“. des Protestes zu beraten. Für die Sicher-
be unter den Protestlern ein Die Gruppe stellte ihre Tat heitskräfte bedeutet der 90 Millionen Euro
„großes Gewaltpotential“. in eine Reihe mit dem Feuer, teure Gipfel eine der größten Herausfor-
Eine Woche lang wird der das „Autonome Gruppen“ im derungen der Nachkriegsgeschichte.
Luxuskurort Heiligendamm Oktober 2005 im Berliner Der Showdown an der Ostsee gilt als
Anfang Juni im Mittelpunkt Gästehaus des Auswärtigen eine Art „Wiederbelebungsprogramm für
der Weltöffentlichkeit stehen. Amts legten und das einen eine eigentlich kriselnde militante Linke“,
Kamerateams aus allen Kon- Millionenschaden verursach- wie ein Ermittler formuliert. Im optimalen
tinenten werden nicht nur fil- te, sowie mit dem Brandan- Fall, hoffen die nächtlichen Brandstifter,
men, wie Angela Merkel ihre schlag im Oktober 2006 auf springe der Funke auch auf die vielen Glo-
Amtskollegen empfängt, son- den Sitz der Deutschen balisierungskritiker über, die bislang nicht
ULRICH PERREY / DPA

dern auch, wie bis zu 100 000 Afrika-Linien in Hamburg mit Gewalttaten aufgefallen seien: „Ob aus
Demonstranten jenseits eines wegen deren Rolle in der den dezentralen Blockaden ein Sturm auf
weiträumigen Hochsicherheits- deutschen Kolonialgeschich- die Rote Zone wird“, heißt es in einem
zauns gegen die international te. Sicherheitsexperten ver- jüngst veröffentlichten Protestaufruf, hän-
höchst umstrittene Zusam- Staatssekretär Mirow ge „von den Kräfteverhältnissen vor Ort
menkunft protestieren. „Keine Hinweise“ * Nach dem Bush-Besuch im Juli 2006. ab“. Holger Stark, Andreas Ulrich

36 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 7
Deutschland

von den Regierenden geduldet wird: nen Immobilienunternehmer aus dem


A F FÄ R E N Hauptsache, das Geld aus der Bundeskas- Raum Münster auf falsche Bescheinigun-
se fließt. gen des Bauamts Sassnitz gestoßen, mit

Frisierte Was die Ermittlungen brisant macht, ist


die Tatsache, dass auch „leitende Mitar-
beiter der Finanzverwaltung“ zu den Be-
deren Hilfe der Mann Fördermittel in Höhe
von gut 600 000 Euro kassiert hatte.
Weil er den Verdacht hatte, dass sein

Dokumente schuldigten zählen, so Oberstaatsanwalt


Peter Lückemann. Sie stehen im Verdacht,
die illegalen Praktiken gekannt und nichts
Fall nur einer von vielen ist, informierte
der Fahnder seine Vorgesetzten, die die
Akten nach Mecklenburg-Vorpommern
In Mecklenburg-Vorpommern dagegen unternommen zu haben. schickten. Darin findet sich die Schilde-
ermitteln Staatsanwälte gegen rung einer Dienstbesprechung in der Ober-
„Das ist haltlos“, sagt Ministeriumsspre-
Unternehmer und hohe cher Bliemel. Ein gewagtes Statement, finanzdirektion (OFD) Rostock, die die
Ministerialbeamte. Ihr Verdacht: denn nun gerät auch Finanzministerin Verantwortlichen schwer belastet.
Sigrid Keler (SPD) in den Sog der Ermitt- Im Oktober 2002 habe der Leiter der
Subventionsbetrug und Untreue. lungen. Bislang unbekannte Akten bele- OFD-Steuerabteilung die Teilnehmer der
Runde „zur Zurückhaltung bei der Über-
prüfung gemeindlicher Bescheinigungen
aufgefordert; insbesondere sollten straf-
rechtliche Maßnahmen unterbleiben, um
kommunale Vertreter nicht unnötig in
Schwierigkeiten zu bringen“.
Einer dieser Vertreter, gegen den die
Rostocker Staatsanwaltschaft dank der
Amtshilfe aus dem Münsterland nun er-
mittelt, ist der Sassnitzer Bürgermeister
Dieter Holtz (Die Linke.PDS). Er soll Mit-
arbeiter seines Bauamtes angewiesen ha-
ben, Kerngebietsbescheinigungen „inves-

KLAUS GRABOWSKI / PICTURE-ALLIANCE / DPA


torenfreundlich“ auszustellen. Holtz be-
streitet die Vorwürfe.
Auch Hinrich Seidel, Leiter der Steuer-
abteilung im Schweriner Finanzministe-
rium, weist die Darstellung der Ermittler
zurück. Seines Wissens habe es im fragli-
chen Zeitraum keine Dienstbesprechung
in der OFD gegeben. Und: „Der zuständi-
ge Beamte hat sich auch zu keinem ande-
Hafenstadt Sassnitz (Rügen): Abzockerei im Armenhaus der Republik ren Zeitpunkt so geäußert“.
Ein interner Vermerk, den eine

S
tephan Bliemels Start stand unter kei- Mitarbeiterin Seidels im Juli ver-
nem guten Stern. Am 27. November fasst hat, belegt jedoch ein auffäl-
trat er seinen Job als Sprecher des lig geringes Interesse der Ministe-
Finanzministeriums von Mecklenburg-Vor- rialen, die illegale Selbstbedienung
pommern an. Nur einen Tag später durch- zu stoppen: Demnach hatte die
FOTOS: J. KOEHLER / BILDERMEER.COM

suchten Staatsanwälte aus Rostock und OFD bereits im April 2001 über
Beamte des Landeskriminalamtes auf der „Probleme in den Finanzämtern“
Insel Rügen das Finanzamt Bergen, die des Landes berichtet. In „einer
Verwaltung der Hafenstadt Sassnitz sowie Reihe von Fällen“ bestünden
Büros und Wohnungen diverser Bauherren „Zweifel an der Richtigkeit der Be-
– und brachten eine Affäre ins Rollen, die scheinigungen“. Es folgte ein Brief-
den 28-Jährigen seitdem in Atem hält. wechsel zwischen Finanz-, Bau-
Der Verdacht der Ermittler: Subven- und Innenministerium, in dem das
tionsbetrug und „Beihilfe hierzu“. Seit Politiker Holtz, Keler: Hauptsache, das Geld fließt Problem beschrieben wurde. Straf-
1999 soll das Sassnitzer Bauamt Unter- anzeige gestellt hat keiner.
nehmer mit Gefälligkeitsbescheinigungen gen: Der großzügige Umgang mit Beschei- Selbst als der münstersche Steuerfahn-
versorgt und Bauvorhaben „in den Wohn- nigungen, der Investoren ermöglichte, zehn der Anfang 2006 das Schweriner Finanz-
und Außenbereichen“ der Stadt „fälschli- Prozent der Baukosten aus der Bundes- ministerium über seine Recherchen infor-
cherweise“ als Projekte im Kerngebiet kasse abzuzocken, war nicht nur in Sassnitz mierte, bat der zuständige Referent im Mi-
deklariert haben. Mit den frisierten Doku- üblich und seit 2001 im Finanzressort nisterium mehrere Finanzämter im Lande,
menten sollen die Bauherren dann bei den bekannt. Auch im Bau- und im für die bei Fällen im eigenen Beritt „von einer
Finanzämtern Investitionszulagen ergau- Kommunalaufsicht zuständigen Innen- Rückforderung der Investitionszulage bzw.
nert haben – es geht um viele Millionen, ministerium war den Verantwortlichen damit in Zusammenhang stehenden Er-
die laut Gesetz nur für Immobilien in seitdem klar, wie und in welchem Maße mittlungen zunächst abzusehen“.
Kerngebieten gewährt werden durften. abgeräumt wurde. Doch dem illegalen Trei- Erst jetzt soll die Kommunalaufsicht die
Ein Fall mit Symbolcharakter, der weit ben Einhalt geboten haben sie nicht. Bescheinigungspraxis – zumindest in Sass-
über Rügen hinausweist. Denn er verdeut- Dass es mit der Ruhe der Beamten jetzt nitz – rückwirkend prüfen und zu Unrecht
licht, in welchem Maße Abzockerei offen- vorbei ist, haben sie einem Steuerfahnder gezahlte Investitionszulagen zurückfor-
bar zum Alltag im Armenhaus der Repu- aus Nordrhein-Westfalen zu verdanken. dern. Das aber geht nur bis zum Jahr 2002.
blik zählt und mit wie viel Langmut sie Der war bei seinen Ermittlungen gegen ei- Der Rest ist verjährt. Gunther Latsch

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Deutschland

YAVUZ ARSLAN / DAS FOTOARCHIV


Pfarrer Kemper, Kindergartengruppe in der St.-Peter-Kirche: „Der Nikolaus ist ein Türke“

KIRCHE

Das Wunder von Marxloh


Kohle und Kirchen gehörten einst zusammen in Duisburg.
Das Bild hat sich dramatisch gewandelt: Wo die Zahl der Katholiken
merklich schrumpft, entsteht Deutschlands größte
Moschee. Doch die Christen stellen sich auf die Nachbarn ein.

B
laue Stunde im Duisburger Stadtteil jubelten deutschen Papstes. In Marxloh be- Früher hatte das Ruhrbistum einmal ei-
Marxloh. Ein paar Tage vor Weih- stätigt sich das, was Bundesinnenminister nen Kirchenführer, der sich ein Stück Koh-
nachten hat der katholische Pfarrer Wolfgang Schäuble (CDU) anlässlich der le in den Bischofsring einfassen ließ. Er
Michael Kemper, 45, zum abendlichen Ker- Islamkonferenz im Herbst beschrieb: „Der sollte die Einheit von Arbeiterschaft und
zengottesdienst in die altehrwürdige Kirche Islam ist Teil Deutschlands und Europas“, Kirche demonstrieren. 60 000 Katholiken
St. Peter eingeladen. Das Gotteshaus bietet erklärte er und forderte unmissverständ- zählten in den siebziger Jahren allein zu
300 Besuchern Platz, gekommen sind zwölf lich, sich dieser Realität zu stellen. Der Is- den drei Marxloher Gemeinden, jetzt sind
Gläubige, zumeist Rentner. Die kleinen lam „ist Teil unserer Gegenwart und unse- es gerade mal 3300. Im Jahr 2004 gab es
Kerzen in den Händen der Anwesenden rer Zukunft“. nur noch 30 Taufen und eine einzige kirch-
wirken wie Irrlichter im riesigen, dunklen Doch was Schäuble als Mahnung für die liche Trauung, die Braut war katholisch,
Kirchenschiff. kommende Epoche verstanden wissen der Bräutigam konfessionslos. „Eine be-
Ein paar hundert Meter weiter drängen wollte, erweist sich in Duisburg-Marxloh stimmte Sozialgestalt der Kirche geht zu
sich die Besucher in die Merkez-Moschee. nur als verspäteter Versuch, einen Prozess Ende“, sagt der katholische Bischof von
Früher war hier ein Tapetengeschäft. Jetzt zu beschreiben, der längst unumkehrbar Essen, Felix Genn.
sind selbst Nebenräume, Flur und Eingang ist. Mehr noch: In diesem Stadtteil zeigt Der Bischofsring mit dem Stück Kohle ist
bis auf den letzten Zentimeter belegt, als sich, dass es auch gelingen kann, ihn zum inzwischen im Museum gelandet. Doch das
Imam Sadik Çaglar, 41, mit dem Vorbeten Nutzen von Alteingesessenen und Zuge- Pfarrhaus neben St. Peter steht noch heute
beginnt. Im nächsten Sommer will er mit wanderten gleichermaßen zu gestalten. für die Zugehörigkeit der Kirchengemein-
seiner Gemeinde umziehen in ein würdi- Denn das Besondere an der neuen Mo- de zur Ortsgemeinde. Es wurde aus dem
geres Domizil, in dem sich dann gut 1200 schee ist nicht die Größe, sondern die ge- gleichen roten Backstein errichtet wie die
Menschen versammeln können – in plante interreligiöse Begegnungsstätte mit Bergmannshäuser von Marxloh, in denen
Deutschlands größter Moschee. Bistro, Bibliothek, Bildungswerk und Be- einst Steiger und Hauer lebten.
Die muslimische Gebetsstätte wird in sucherräumen für Marxloher Katholiken Pfarrer Kempers Schreibtisch quillt über
Sichtachse von Pfarrer Kemper liegen – – einer der Gründe dafür, dass der Bau von Papieren, sein Tag ist voller Termine:
aber auch in seinem Visier? Wie eine der Moschee hier nicht wie anderswo auf Hausbesuche, Seelsorgegespräche, hinzu
Machtdemonstration wirkt der Bau: 34 Ablehnung stößt. Und das Außergewöhn- kommt der Kampf um die Stellen des Kir-
Meter hoch ist das Minarett der im osma- liche an den Katholiken vor Ort ist, dass sie chenchorleiters und seiner Pfarrsekretärin.
nischen Stil gehaltenen Moschee mit ihren sich der Veränderung stellen und sie nicht Er muss eine, vielleicht sogar zwei seiner
2500 Quadratmetern Nutzfläche. Der Sie- einfach nur über sich ergehen lassen. drei Kirchen aufgeben. St. Paul, ein paar
ben-Millionen-Euro-Bau entsteht auf dem Ein Gleisbett führt von der alten christ- Straßen weiter, wurde bereits geschlossen.
einstigen Kantinengelände der Zeche Wal- lichen zur neuen muslimischen Glaubens- Sie gehört zu den rund hundert Gottes-
sum. stätte. Einst wurden die Schienen von häusern, die auf der Streichliste der
Die schrumpfende Christenschar auf der Zeche und Stahlwerk genutzt, von der Bistumszentrale in Essen stehen. „Die Kir-
einen, die wachsende muslimische Ge- Industrie, die den Menschen mehr als nur che verabschiedet sich mit ihren Gebäuden
meinde auf der anderen Seite, das ist die Arbeit gab. Nun könnte die Moschee zum strukturell aus der Fläche“, sagt Kemper.
raue Wirklichkeit im Heimatland des be- Symbol einer neuen Zeit werden. 897 Briefe hat er vor Weltjugendtag und
40 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 7
Merkez-Moschee*
„Glauben macht mitmenschlich“

zurück, wo einst das Firmenschild prangte.


In einer der heruntergekommenen Wohn-
anlagen wurden einige Nachkriegsszenen
von Sönke Wortmanns Fußball-Melodram
„Das Wunder von Bern“ gedreht.
Doch inzwischen glauben viele an ein
Wunder von Marxloh, und zwar nicht nur
die Politiker, die es bei der Grundstein-
legung und beim Richtfest der Moschee
beschworen. Das liegt entscheidend an
den Führern der Merkez-Gemeinde. Sie
gehören zum Ditib, dem größten muslimi-
schen Dachverband in Deutschland. Er ist
den laizistischen Prinzipien des türkischen
Staates verpflichtet, eng mit dem Präsidi-
um für religiöse Angelegenheiten der Tür-
kei verbunden. Ditib-Vertreter nahmen an
der Islamkonferenz teil, Ditib-Gemeinden
legen Wert auf „interreligiösen Dialog“,
sie sind nicht im Visier der Verfassungs-
schützer.
Die Gegend sei nicht auffälliger als an-

CHRISTIAN BAUER / ACTION PRESS


dere Stadtteile, so die Polizei, die auch hier
nur eine Tagwache betreibt, die um 23 Uhr
schließt. „Marxloh“, lobt der Integrations-
minister von Nordrhein-Westfalen, Armin
Laschet (CDU), „ist ein Beispiel, wie der
Bau eines Gebetshauses Integration und
Dialog fördern kann. Das Klima ist keines
der Abgrenzung, sondern der Offenheit.“
Papstbesuch an die verbliebenen jungen sche Außenministerium. „Angst“, sagt der Schon die Idee zum Neubau der Mo-
Katholiken zwischen 16 und 30 Jahren ver- Imam beim Tee, „Angst sollte man vor schee war ein Gemeinschaftswerk. Sie ent-
teilt – und ihnen das Angebot gemacht, Menschen haben, die nicht glauben. Denn stand tausend Meter unter Tage im Berg-
nach Köln mitzufahren. „Die Resonanz“, wenn man an Gott glaubt, wird man nie werk beim Gespräch zwischen deutschen
sagt er, „war gleich null.“ die Rechte anderer verletzen.“ Sein ka- und türkischen Arbeitskollegen. Der
Stellvertretend für seine 2000 Jahre alte tholischer Kollege formuliert es ähnlich: Marxloher Katholik Wolfgang Köhler, 62,
Institution will er sich in Marxloh auf Rea- „Glauben macht mitmenschlich“, und war dabei, als seine Kollegen darüber dis-
litäten einstellen, die in Berlin-Neukölln dann erzählt Kemper davon, wie sich in kutierten, eine Moschee zu bauen. Inzwi-
oder in der Kölner Südstadt kaum anders Marxloh alles auf eine geradezu irritierend schen ist Köhler Rentner, in seiner Frei-
aussehen. „Wenn hier das Zusammenleben harmonische Weise vernetzt und verwebt: zeit hat er Türkisch gelernt. Überall wird er
von Christen und Muslimen nicht klappt“, das Katholische mit dem Muslimischen, mit Handschlag begrüßt – auch auf einem
fragt Pfarrer Kemper, „wo denn dann?“ das Deutsche mit dem Türkischen – und Dachboden in der Kaiser-Wilhelm-Straße,
Rund 60 000 Muslime leben in Duisburg, wie aus dem alten allmählich das neue wo sich acht zwölfjährige Mädchen ver-
in Marxloh rund 9000. „Die bauen jetzt Ruhrgebiet Gestalt annimmt. schiedenster Herkunft einen „internatio-
die großen Moscheen wie wir vor 40 Jah- Natürlich gilt auch der Stadtteil Marxloh nalen Club“ eingerichtet haben.
ren die Kirchen im Ruhrgebiet“, stellt Ka- als Problemviertel. „Wer kann, ist schon Die 75 Kinder des kirchlichen Kinder-
tholik Kemper fest und zieht daraus den weggezogen“, sagt die Postbotin auf der gartens kommen inzwischen aus mehr
Schluss: „Marxloh muss ein Stadtteil wer- Hauptstraße. Von vielen Unternehmen als 20 Nationen. Besonders gern bringen
den, in dem sich Menschen begegnen.“ blieb nur ein Schatten auf der Hauswand muslimische Eltern ihre Kinder in den ka-
Vor Jahren machte ein evangelischer tholischen Kindergarten, „weil
Kollege aus einem anderen Duisburger dort wenigstens religiöse Werte
Stadtteil bundesweit Schlagzeilen, weil er vermittelt werden“, wie eine Mut-
vehement den Bau einer Moschee ver- ter erklärt. Neulich habe ihm,
hindern wollte. Kemper dagegen wurde erzählt Kemper, eine muslimi-
Mitglied im Beirat der Moschee-Begeg- sche Mutter amüsiert berichtet,
nungsstätte und war beim Richtfest im Sep- dass ihr Ibrahim am Mittagstisch
tember dabei. Vorbeter Çaglar und dessen ein Kreuzzeichen geschlagen und
liberaler muslimischer Gemeinde über- ein christliches Gebet gesprochen
brachte er Segenswünsche: „Wir freuen habe, wie es im Kindergarten
YAVUZ ARSLAN / DAS FOTOARCHIV

uns, dass eine Gebetsstätte entsteht.“ üblich sei.


Çaglar stammt aus Bolu am Schwarzen Eine andere Mutter erzählt von
Meer, für vier Jahre ist er nach Duisburg ihrem Sohn Mohammed, der nach
entsandt, bezahlt wird er über das türki- einem Gottesdienst aufgeregt nach
Hause kam. „Wisst ihr was?“, sag-
Moschee-Kuppel, Kirche St. Peter
Das neue Ruhrgebiet nimmt Gestalt an * Beim Richtfest am 8. September 2006.

d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 7 41
Finanzmanagerin, eine Sozialwissen-
schaftlerin bei der Duisburger Stadtent-
wicklungsgesellschaft, eine der muslimi-
schen Frauen hat evangelische Theologie
studiert – die einzige, die zum Treff mit
Kopftuch erscheint.
Ihre Blechbaracke dient als Begeg-
nungsstätte, in der auch Deutschkurse an-
geboten werden. Die in Duisburg gebore-

FOTOS: YAVUZ ARSLAN / DAS FOTOARCHIV


ne Zülfisiyah Kaykin wird den künftigen
Treff leiten. Natürlich weiß sie, dass eine
Moschee auf Bedenken und Widerstände
trifft, besonders weil sie die größte
Deutschlands werden soll: „Wir wollen
einen offenen Ort mit Nachbarschaftstref-
fen. Wir wollen unsere eigene Heimat mit-
gestalten.“ Leyla Özmal, die Sozialwissen-
schaftlerin, ist sicher, dass die Moschee zur
Imam Çaglar, Brautmodengeschäft in Marxloh: „Wir wollen unsere Heimat mitgestalten“ Revitalisierung des gesamten Ortes beitra-
gen wird: „Jetzt ist die Zeit, gemeinsam
te er, „der Nikolaus ist ein Türke.“ Zur Auf dem Boden vor ihnen ausgebreitet Regeln und Werte zu entwickeln.“
Weihnachtszeit sind die Gottesdienste für liegt die Berufskleidung des katholischen Sie hoffen auch, dass der neue Bau Be-
die Kindergartenkinder zum Thema Niko- Bischofs Nikolaus von Myra, wie der Pfar- sucher anlockt. Ein Dorado für türkische
laus ein Renner. Leyla, eine junge musli- rer erklärt. Das Nikolauslied wird gesun- Hochzeitspaare ist Marxloh schon jetzt. Im
mische Mutter mit Kopftuch, hält die gen. Mittendrin sitzen Mütter mit Kopf- Zentrum des Stadtteils reiht sich ein orien-
schwere Eingangstür zur katholischen Kir- tuch auf den Kirchenbänken. Der ge- talisches Brautmodengeschäft an das an-
che auf. Eine Erzieherin kommt herein und mischte Kreis um Kemper sieht aus wie dere. Familien reisen aus Belgien, den Nie-
erregt sich über die Nachrichten, die sie eine Kinderversammlung der Uno. derlanden oder dem Saarland an, um hier
aus Köln vernommen hat. „Was wir hier „Yapilim – mal sehen, was abgeht“, Goldschmuck und Abendkleidung in gro-
machen, soll also nach dem Willen von rufen sich die Halbwüchsigen mit ihren ßem Stil zu erwerben.
Kardinal Joachim Meisner nicht mehr Basecaps in der Hauptstraße zu, bevor sie Entsteht so mitten im Ruhrgebiet ein
stattfinden. Gut, dass wir zum Bistum spätabends in den Internet-Cafés ver- Kontrastprogramm zu gescheiterten Dia-
Essen gehören!“ Mitte Dezember hatte schwinden. Die Macher der neuen Begeg- logversuchen? Eine weise Entscheidung
Meisner gegen solche multireligiösen Fei- nungsstätte wollen genau an diese Jugend- der Moschee-Erbauer nahm den Deut-
ern gewettert. Kinder hätten, meint er, ei- lichen heran, mit Freizeit- und Bildungs- schen ein Gutteil ihrer Ängste. Sie ver-
nen Anspruch darauf, ihren Glauben un- angeboten locken. Dabei werden sie mit zichteten auf ein Recht, das ihnen eigent-
vermischt kennenzulernen. den Katholiken zusammenarbeiten. lich niemand hätte streitig machen kön-
Die Kinder des katholischen Kindergar- Zum harten Kern der Optimisten vor nen: Der Muezzin-Ruf wird hier nicht
tens St. Peter und ihre Erzieherinnen feiern Ort zählt auch eine Gruppe türkischer erschallen. Und noch zu einer zweiten
das muslimische Zuckerfest wie das christ- Frauen, derzeit untergebracht in einem symbolischen Geste waren die Bauherren
liche Weihnachten, Ostern oder Fasten- mit Rosen bemalten, vergitterten Con- bereit. Das Minarett wurde auf exakt
brechen gemeinsam. Es ist die nächste Ge- tainer gleich neben dem Moschee-Bau. 34 Meter beschränkt –