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Verfassungsrecht und Verfassungsrealität: Beiträge zur Ontologie der Verfassungen

Author(s): Karl Loewenstein


Source: Archiv des öffentlichen Rechts, Vol. 77 (N.F. 38), No. 4 (1951/52), pp. 387-435
Published by: Mohr Siebeck GmbH & Co. KG
Stable URL: https://www.jstor.org/stable/44303218
Accessed: 07-02-2019 08:43 UTC

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ABHANDLUNGEN

Verfassungsredit und Verfassungsrealität


Beiträge zur Ontologie der Verfassungen

Von Karl Loewenstein

I. Die „ontologische" Betrachtungsweise

Seit dem Zweiten Weltkrieg hat sich eine wahre Flutwelle von Ve
fassungen über die Welt ergossen. Beginnend etwa um die Mitte
vierziger Jahre, haben sich einige fünfzig Völker neue Verfassu
zugelegt 1. In einer Reihe von Ländern besiegelt die neue Verfa
1 Die nachfolgende Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollstän
keit. Deutschland : Je eine Verfassung für die Bundesrepublik Deutsc
und die Deutsche Demokratische Republik (1949), je eine für die vier L
der US-Zone (1946/47), die vier in der britischen Zone (1949 - 1951), di
in der französischen Zone (1947), dazu die Saar (1947), und die fünf L
in der Sowjetzone (1946/47). In Berlin wurden zwei Verfassungen erl
(1946 und 1950). In Frankreich gibt es zwei Verfassungen seit 1946;
erste vom (27. April 1946) wurde von einer Volksabstimmung verwor
ein in der bisherigen Verfassungsgeschichte einzigartiger Vorgang. W
neue Verfassungen in Westeuropa: Italien (1947), Island (1944). Im ost
ropäischen Sowjetkreis sind zu erwähnen: Jugoslawien (1946), Albanie
(1946; ob, wie verlautete, eine neue Verfassung dort im Jahre 1950 in
trat, konnte nicht festgestellt werden); Bulgarien (1947), Tschechoslowak
(1949), Rumänien (1948) und Ungarn (1949). Polen begnügte sich mit
Revision der alten Verfassung von 1920. In Latein- Amerika gab es neun
neue Dokumente allein seit 1945, nämlich Bolivien (1945), Brasilien (1946),
Ekuador (1946), El Salvador (1945), Guatemala (1945), Haiti (1946), Nica-
ragua (1948), Panama (1946), Venezuela (1947). In Asien sind zu nennen:
China (1946), Japan (1946), Siam (Thailand) (1949), Südkorea (1948). Über
die nordkoreanische Verfassung, die es wahrscheinlich gibt, ist mir nichts
bekannt. Im britischen Einflußgebiet: Ceylon (1947), Indien (1949), Burma
(1948). In Pakistan und Indonesien sind neue Instrumente in Vorbereitung.
Israel brachte einen kompletten Entwurf heraus (1948), an dessen Stelle
aber dann eine sogenannte Zwischenverfassung in Kraft gesetzt wurde
(1949). Jordanien legte sich 1946 eine Verfassung zu.
Außer für Westeuropa und Latein-Amerika sind Verfassungstexte nicht

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388 Karl Loewe ix stein

die erlangte Unabhängigkeit und Eig


lebte die Grundordnung, mochte sie s
wiesen haben, den Orkan der autoritären Zeit nicht und mußte voll-
ständig erneuert werden; in anderen wiederum verursachte die im
Gang befindliche Weltrevolution eine derartige Verlagerung des Stand-
orts der politischen Macht, daß die staatliche Organisation von Grund
auf umgestaltet werden mußte.
Fast ausnahmslos folgte das Verfahren der Verfassunggebung dem
klassischen demokratischen Muster: In Ausübung der dem Souverän
zustehenden verfassunggebenden Gewalt veranstaltete das Gesamtvolk
allgemeine Wahlen - die überall als frei und unbeeinflußt gestempelt
wurden - für eine verfassunggebende Nationalversammlung oder
einen Verfassungskonvent, welche letztere ihrerseits das Verfassungs-
instrument ausarbeiteten und annahmen. Eine nachträgliche Bestäti-
gung durch eine Volksabstimmung (Ratifikation) kam vor, wie etwa in
Frankreich und in einigen deutschen Ländern, blieb aber die Aus-
nahme. In nur wenigen Fällen wurde von dem üblichen Schema abge-
wichen, indem man in das Verfahren anstatt der volksgewählten eine
regierungsseitig ernannte Körperschaft einschob. Zumindest was ihre
äußeren Formen anbelangt, will die Verfassunggebung unserer Zeit als
ein Triumph der Ideologie der demokratischen Legalität angesprochen
sein.

Es ist zwar historisch gerechtfertigt, „Familien" von Verfassungen zu


unterscheiden, die einem in der Regel ähnlichen oder selbst identischen
Verfassungstypus folgen 2, wie etwa die Gruppen, die der französischen
Charte von 1814 oder der belgischen Charte von 1831 oder auch der
Weimarer Verfassung nachgebildet sind. Trotzdem überrascht die Fest-
stellung, daß so gut wie alle neuesten Verfassungen eine erstaunliche
strukturelle Ubereinstimmung aufweisen; sie arbeiten durchgehend mit

leicht zugänglich. Ubersetzungen der in den weniger gebräuchlichen spra-


chen abgefaßten Dokumente sind nicht immer zuverlässig. Gute englische
Übersetzungen der Texte von Latein-Amerika finden sich in Russell H.
Fitzgibbon, The Constitutions of Latin America (Chicago 1948); für die
arabische Welt siehe die Sammlung von Helen Miller Davies, Constitutions,
Electoral Laws, Treaties in the Near and Middle East (Durham N. C. 1947).
Das anspruchsvoll aufgezogene dreibändige Unternehmen von Amos J.
Peaslee, Constitutions of Nations (Concord N. H. 1950) ist völlig mißlungen.
Die Übersetzungen sind oft schief und ungenau, selbst die Daten sind ge-
legentlich falsch angegeben, die Literaturangaben sind wahllos, die vom
Herausgeber beigesteuerten Einführungen schlechthin dilettantisch.
Eine wirklich brauchbare Sammlung aller derzeit geltenden Verfassungs-
texte wäre eine dankenswerte Aufgabe für die UNESCO.
2 Siehe Karl Loewenstein, Political Reconstruction (New York 194b)
S. 317 ff.

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Verfassungsrecht und Verfassungsrealität 389

der herkömmlichen Dreiteilung in gesetzgeberische, ausführende und


richterliche Funktionen. Dies gilt bis zu einem gewissen Grade selbst
von den neuartigen Verfassungsinstrumenten des Ostens, wo unter dem
Einfluß der Sowjet-Theorie die Gewaltentrennung bewußt abgelehnt
wird. Streicht man aus der Sowjetverfassung von 1936 die Kapitel Ï
und X, so würde man in ihr schwerlich die Verkörperung einer revolu-
tionären Sozialordnung erkennen. Außerdem sind alle Verfassungen
mit umfassenden und anspruchsvollen Rechteerklärungen ausgerüstet,
die sich über das klassische liberale Vorbild der Freiheit von Staatsein-
mischung hinaus zu dem Ideal sozialer Gerechtigkeit bekennen, und
sie tun dies mit einer solchen Einheitlichkeit, daß man geneigt ist von
Standardisierung zu sprechen.
Ist nun aus dieser sichtlich allgemeinen Aufgeschlossenheit der Zeit
gegenüber der Demokratie nach Verfahren und Inhalt der Schluß zu
ziehen, daß nunmehr überall nach der finsteren Nacht rechtloser
Despotie der helle junge Tag des demokratischen Konstitutionalismus
angebrochen sei? Bedeutet die Universalität der formalen Konstitutio-
nalisierung, daß alle Völker, alle Gesellschaftsordnungen, ihr den glei-
chen absoluten Wert beilegen? Oder ist die Verfassungsepidemie, die
in der Welt ausgebrochen ist, lediglich auf den unwiderstehlichen
Zwang zurückzuführen, der dem alle Sozialerscheinungen beherrschen-
den Gesetz der kulturellen Nachahmung und Anpassung entspringt?
Und weiter: Sind diese Instrumente „lebendig", „wirklich", „existen-
tiell" in dem Sinn, daß der Konkurrenzkampf der sozialen Kräfte um
die politische Macht sich tatsächlich innerhalb des von der Verfassung
gezogenen Rahmens, auf dem von ihr geschaffenen Boden, abspielt?
Oder ist vielleicht der Rahmen von der oder den herrschenden Klassen

listig-bewußt so gezogen worden, daß die derzeit nicht an der politi-


schen Macht beteiligten Klassen dauernd davon ausgeschlossen bleiben
sollen? Mit anderen Worten: Abgesehen von der rein technischen Auf-
gabe, für die Abwicklung der Tätigkeit der staatlichen Hoheitsträger
eine verläßliche Ordnung zu schaffen, - welchen Wert für die Inte-
gration der Gemeinschaft haben die Verfassungen in unserer Zeit?
Diese und ähnliche Fragen werden selten gestellt. Die Handhabung
und Auslegung einer Verfassung unterliegt in der Regel dem Monopol
einer verhältnismäßig kleinen Gruppe von technischen Spezialisten -
den Juristen, Politikern und Beamten - , für die in unserer von kon-
kurrierenden Machtgruppen betriebenen pluralistischen Gesellschafts-
ordnung die Verfassung meist Mittel zum Zweck: der Erlangung und
Erhaltung von Sondervorteilen der Gruppe oder Schicht ist, deren In-

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390 Karl Loe w enstein

teressen sie jeweils dienen. In Europa u


man noch immer vielfach unter dem Einfluß der klassischen französi-
schen Tradition steht, ist die Verfassungswissenschaft entweder die
Manege rationaler Geistesakrobatik, sozusagen ein Spiel des l'art pour
l'art, oder die Werkstatt der politischen Ingenieure, die versuchen, be-
stimmte wirtschaftliche oder politische Interessen in das Verfassungs-
gefüge einzupassen oder es so zurechtzubiegen, daß sie hineinpassen.
Man hat dabei kaum Anlaß, die Grundfrage zu stellen: Was bedeutet
innerhalb einer bestimmten nationalen Gemeinschaft die geschriebene
Verfassung für die Massen, für den „Kleinen Mann", für den „Mann
auf der Straße", in dessen Zeitalter wir dem Vernehmen nach einge-
treten sind?

Fragen dieser Art, die auf Wesen und Wirklichkeit einer Verfas-
sungsordnung und nicht nur auf den viel leichter erfaßbaren Verfas-
sungs betrieb abstellen, bedingen eine neuartige Betrachtungsweise3,
die hier als „ontologisch" bezeichnet werden soll. Die nachfolgenden
„Betrachtungen zur Verfassungsontologie" sind ein erstmaliger und
daher durchaus tastender - Versuch, an Stelle der herkömmlichen
positivistisch-juristischen oder funktionellen Analyse ausfindig zu ma-
chen, inwieweit die formale Geltung der geschriebenen Verfassung
unserer Zeit mit ihrer materiellen Gültigkeit für die Massen der Ge-
meinschaftsglieder übereinstimmt und inwieweit sich ideologische
Zielsetzung und politische Wirklichkeit decken.
3 Wer aus dem Flachland des stereotypen Vertassungsiegaiismus nin-
auskommen will, muß auf Max Weber zurückgreifen, wenn er nicht über-
haupt zu Montesquieu zurückgehen will. Auch Guglielmo Ferreros groß-
artige Trilogie : Bonaparte in Italy (London 1939), The Reconstruction of
Europe (New York), The Principles of Power (New York 1943, das letztere
auch in deutscher Übersetzung unter dem Titel ,, Macht erschienen) ist
durchaus ontologisch orientiert. Nicht nur wegen ihres umfangreichen Ma-
terials sind zu nennen: John A. Hawgood, Modern Constitutions since
1787 (New York 1939) und Karl Loewenstein, The Balance between Legis-
lative and Executive Power, Chicago Law Review, Bd. 5 (1938) S. 566 ff.
Die neue Einstellung herrscht auch vor in Georges Burdeau, Traité des
Sciences Politiques, bisher drei Bände (Paris 1949, 1950), von denen Bd. 3
die hier einschlägige allgemeine Verfassungslehre enthält; siehe ferner
Maurice Duverger, Manuel de Droit Constitutionnel et de la Science Politi-
que (Paris 1949); Dietrich Schindler , Verfassungsrecht und soziale Struktur
(Zürich 1932); J. Allen Smith, The Growth and Decadence of Constitutional
Government (New York 1930).
Der Verfasser möchte nicht unterlassen, zu sagen, wieviel er für die
ontologischen Analysen von den verschiedenen Abhandlungen über das
Wesen der politischen Macht gelernt hat, so, außer von Ferrero , von Lord
Acton, Bertrand de Jouvenel, Bertrand Russell, Charles M. Merriam und
anderen. Von den deutschen Beiträgen dringt weder Friedrich Meineckes
Idee der Staatsraison (München-Leipzig 1924), noch Gerhard Ritters Dämo-
nie der Macht (München 1948) in das Kernproblem ein.

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V er fassungsrecht und Verfassungsrealität 391

Zwischen Verfassungsnorm und Verfassungs Wirklichkeit zu unter-


scheiden, ist natürlich nichts Neues. Man denke nur etwa an den bei
allen geschriebenen Verfassungen vorhandenen Unterschied und oft
Gegensatz zwischen Verfassungsänderung und Verfassungs Wandlung,
oder an die amerikanische Praxis der implied powers, die eine Aus-
dehnung der Bundeszuständigkeiten weit über den Verfassungstext
hinaus zuließ. Die „ontologische" Fragestellung dagegen interessiert
sich dafür, ob die Verfassung die Gemeinschaft integriert, oder, etwas
anders ausgedrückt, ob sie geeignet und in der Lage ist, den Bedürf-
nissen und Erwartungen des unter ihr lebenden Volkes gerecht zu
werden.

Man wird hier einwenden, wen dies interessiere, der könne sich ja
der heute so beliebten Meinungsbefragungen bedienen. Eine auf die
verschiedenen Klassen und Volkskreise geschickt abgestimmte Reihe
von Fragen würde sicherlich ganz lehrreiche quantitative Einblicke
bringen, etwa dahin lautend, daß ein bestimmter Klassenquerschnitt
die bestehende Verfassung besser kennt als ein anderer. Aber selbst die
psychologische raffinierteste Statistik könnte nicht zu wesentlichen
qualitativen Ergebnissen kommen, da die Wechselbeziehung oder Kau-
salität zwischen der Verfassungsordnung und dem wirtschaftlichen und
politischen Wohlbefinden einer Klasse, Gruppe oder Einzelperson für
die Adressaten einer solchen Meinungsbefragung einfach nicht zugäng-
lich sind.

Man wird auch - und hier mit Recht - einwenden, daß eine solche
Fragestellung nur dann Wert hat, wenn sie sich auf ein bestimmtes
Land oder Volk und eine bestimmte Verfassung erstreckt. Die Brauch-
barkeit und Nützlichkeit einer Verfassung, die Wertschätzung, die sie
bei den breiten Massen genießt, sind von zuvielen Variabein abhängig,
wie nationale Traditionen, Stand der politischen Bildung und Erfah-
rung, Berufsschichtung und anderen mehr, als daß Verallgemeinerun-
gen zulässig erscheinen. Dieses Bedenken ist durchaus ernst zu nehmen.
Wenn es aber hier als nicht durchschlagend erachtet wird, so liegt der
Grund darin, daß die der jüngsten Vergangenheit entstammenden Ver-
fassungen eine solch erstaunliche Stereotypizität ihrer konkreten politi-
schen Einrichtungen und Verfahrenstechniken aufweisen, daß durch-
aus allgemeine Schlußfolgerungen auf die Integration der Verfassungen
gezogen werden können. Der Zugang zur Bewertung der einzelnen Ver-
fassung führt also einstweilen durch eine rechtsvergleichende Analyse
der den meisten Verfassungen gemeinsamen politischen Einrichtungen
und Techniken. Die quantitative und qualitative Koinzidenz in der

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392 Karl Loewenstein

jüngsten Verfassungsschöpfung l
Es ist vielleicht nicht unbillig, den
über sie zurückzuhalten, bis er sich
macht hat.

II. Das „Klima" der Verfassungs-Schöpfung

Ihrem ursprünglichen Sinngehalt nach ist die Verfassung nicht m


und nicht weniger als ein System rational erdachter und dementspr
chend formulierter Regeln oder Normen für die Dynamik der p
schen Macht, deren Ausübung damit gleichzeitig einer sie beschrän
den Kontrolle unterworfen wird. In diesem Sinne sind Verfassungen
in der Erlebnis weit des homo politicus etwas relativ Neues. Solange
die Staatsgewalt auf den traditionalen Formen der Staatsmystik be-
ruhte - dem göttlichen Ursprung der Herrschermacht bestimmter erb-
lich legitimierter Dynastien und der mit ihnen verbundenen Herr-
schaftsklassen - , bestand keine Notwendigkeit, das, was in Frankreich
les lois fondamentales du royaume waren oder in England bis in die
neuere Zeit die Beschränkung der Royal Prerogative durch Konven-
tionalregeln, zu formalisieren und damit, gleich einem Zwölf taf elge-
setz, auf dem Marktplatz sichtbar zu machen. Sie zu beobachten, war
der traditionale Machtinhaber auch ohne Rationalisierung infolge seines
von Gott verliehenen Amtes verpflichtet. Die Idee der geschriebenen
Verfassung war schließlich die Frucht des sich lange hinziehenden
Kampfes um die Säkularisierung der politischen Gewalt. Sie ist vor-
züglich eine Entdeckung der Engländer in der Puritanischen Revolu-
tion 4, als die Mittelklassen - untere gentry und die besitzbürgerliche
Schicht - dem Absolutismus der Stuarts ihren Anteil an der politischen
Gestaltung abzwangen. Bei Cromwell, der in religiöser Demut sich der
moralischen Begrenzungen jedweder, auch der politischen Macht be-
wußt war, ergab sich daraus ein selbstbeschränkendes „Instrument of
Government" anstatt einer „Verfassung". Für England erübrigte sich
nachher eine geschriebene Verfassung zur Normalisierung der Machtbe-
ziehungen zwischen der Krone und den neuen wirtschaftlich führenden
Klassen, weil diese pragmatisch und ohne Zuhilfenahme naturrecht-
licher Vorstellungen, die später für die mehr spekulativen Franzosen
4 Siehe in der deutschen Literatur Egon Zweig , die Lehre vom Pouvoir
Constituant (Tübingen 1909), Walther Rothschild, Der Gedanke der ge-
schriebenen Verfassung in England (Tübingen-Leipzig 1903), Richard
Schmidt , Zur Vorgeschichte der geschriebenen Verfassung (Leipzig 1916).

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Verfassungsrecht und Verfassungsrealität 393

unentbehrlich waren, sich den ihnen gemäß ihrer wirtschaftlichen Stel-


lung gebührenden Anteil am Staatsapparat sichern konnten.
Auf dem Kontinent dagegen gewann die naturrechtliche Weltan-
schauung derart an Gewicht, daß man sich eine wohlgeordnete Gesell-
schaft ohne die rationale Grundlage einer geschriebenen Verfassung
nicht mehr vorstellen konnte. Das Ziel wurde zuerst in Nordamerika
erreicht, hier mehr aus praktischer Notwendigkeit denn als Erfüllung
theoretischer Voraussetzungen, dann in Frankreich, damals der Schlüs-
selstaat Europas und der Welt. Hier ergab sich die Verfassungsschöp-
fung auf der moralisch-metaphysischen Grundlage der volonté générale,
die, an sich eine Formel für den Gesellschaftsvertrag, ihrerseits in das
Recht der Verfassungsschöpfung, den pouvoir constituant , mündete.
Diese Begriffe waren übrigens im Lichte der geltenden Sozialordnung
nicht minder „subversiv" und „revolutionär" als der Marxismus ein
Jahrhundert später. Der spekulativen Sozialphilosophie der Zeit galt die
Verfassung als die feierliche Kundbarmachung des Gesellschaftsver-
trags und die funktionelle Verkörperung des imaginären Eides, den der
Allgemeinwille auf sich selbst geschworen hatte.
Es ist alles andere als zufällig, daß das Zeitklima, in dem die ge-
schriebene Verfassung geboren wurde, das 18. Jahrhundert war. Nicht
nur stand es unter dem Zauber dessen, was es als die zwingenden Ge-
bote des Naturrechts ansah; es glaubte sich auch berechtigt, die Natur-
gesetze auf die Sozialwelt anzuwenden. Die Wissenschaft der Mechanik
wurde auf das Gebiet des Politischen übertragen und damit zur politi-
schen Wissenschaft. Die wohl-ausbalanzierte Verfassung, mit ihren
freiheit-schützenden Hemmungen und Gegengewichten (checks and
balances), sollte durch die funktionelle Trennung der Gewalten das
ideale Gleichgewicht der gesellschaftlichen Kräfte herstellen und er-
halten. 5. Im ambiente der Aufklärung war die Verfassung vorzüglich
eine moralische Notwendigkeit, in zweiter Linie aber die technische
Voraussetzung einer auf Harmonie abgestellten Gesellschaftsordnung.
Wer sich heute in die Literatur dieser Zeit versenkt, wird entdecken,
daß für sie die Verfassung selbst und das Verfahren ihrer Gestalt-
werdung von einer Art kollektiver Magie umgeben waren, die man
dem angeblich rationalen Klima der „Aufklärung" kaum zugetraut
hätte. Man könnte fast sagen, daß, was Gott und das Religiöse damals
einbüßten, sich in den Glauben an die Vernunft in der staatlichen

5 So der Federalist Nr. 5. Siehe auch die Bemerkungen in Hans J. Mor-


genthau, Politics among Nations (New York 1949) S. 125 ff. Vgl. auch über
das politische Gleichgewicht Carl Schmitt , Verfassungslehre (München- Leip-
zig 1928) S. 183 ff.

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Ordnung umsetzte. In ihrem uns h


mismus nahmen die politischen T
an, alles, was eine wohlgeordnete G
konstruierte Verfassung, was in
menheit der Zeit wohl-equilibiert bedeutete. In Unkenntnis oder in
Mißachtung des irrationalen Elements, der Dämonie der Macht,
glaubte man, die geschriebene Verfassung werde automatisch alle
Lösungen der sozialen Spannungen bieten und damit die Glückselig-
keit der unter ihr lebenden Gesellschaft gewährleisten. Um die har-
monische Zusammenarbeit aller Kräfte der Staatsgesellschaft zu er-
reichen, brauche man nichts weiter als eine „gute", das heißt: gut-
ausgewogene Verfassung, die von einem „guten" Volk gehandhabt
würde. Das erste Ergebnis dieser unrealistischen Metaphysik war die
völlig unbrauchbare Verfassung von 1791, der allerdings das groß-
artigste Seminar in der politischen Theorie vorausging, das es bisher
gegeben hat 6.
Die französische Revolution nahm keinen Anstand, den Glauben
ihrer Väter an die Gutartigkeit der menschlichen Natur Lügen zu stra-
fen. Sie bewies mit Strömen von Blut, daß die funktionelle Zweck-
mäßigkeit einer Staatsordnung nicht ungestraft vernachläßigt werden
könne und daß politische Macht und politische Freiheit fast unver-
söhnliche Gegensätze sind. In der Suche nach der magischen Formel,
wie Autorität und Freiheit sich verbinden könnten, ohne daß sie sich
gegenseitig vernichten, demonstrierte das politische Laboratorium der
Revolution der Welt alle denkbaren „Regierungsformen" vor, wenn
man darunter die funktionelle Zusammenarbeit der Gewalten ver-

steht: die verfassungsmäßige beschränkte Monarchie, die Anfänge der


parlamentarischen Regierung und ihrer Verkehrung in die Herrschaft
der Legislativversammlung ( gouvernement conventionnel ), die verwik-
kelte Maschinerie der Gegengewichte im Direktorialsystem und schließ-
lich das Beispiel der „verfassungsmäßigen" Diktatur des Ersten Kon-
suls. Aber darüber ging, was bei einem so rationalen Volk wie den
Franzosen nicht Wunder nimmt, der ursprüngliche Zauber der Heilig-
keit der Verfassung als der Bekundung des Allgemeinwillens auf
Nimmerwiedersehen verloren. Nur bei den Amerikanern ergab sich
mit der Zeit - unter sozialpsychologischen Voraussetzungen, die an-

6 Die Debatten der Constituante von 1789 sind verfassungstheoretisch


fast unerschöpflich und gerade heute wieder aktuell. Siehe auch Robert
Redslob, Die Staatstheorien der französischen Nationalversammlung von
1789 (Leipzig 1912) ; Karl Loewenstein , Volk und Parlament nach der Staats-
theorie der französischen Nationalversammlung von 1789 (München 1922).

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Verfassungsrecht und Verfassungsrealität 395

derwärts nirgends gegeben sind - die Überzeugung, daß das Grund-


gesetz „unverbrüchlich" und, obzwar Menschenwerk, mythisch gehei-
ligt ist.

Die Verfassungen im Î9. Jahrhundert

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts „konstitutionalisierten"


sich alle Staaten der westlichen Welt, wobei sie bestimmten, als be-
sonders gelungen angesehenen Modellen folgten, wie der Verfassung
der Vereinigten Staaten in Latein- Amerika, der halb-autoritären fran-
zösischen Charte Constitutionnelle (1814) im Bereich des monarchi-
schen Legitimismus und der belgischen Charte von 1831, welche die
vom liberalen Bürgertum geforderte parlamentarisch-konstitutionelle
Lösung war 7. Aber ein transzendentaler Charakter, wie er im 18. Jahr-
hundert der Verfassung angehaftet hatte, war weder bei der Verfas-
sungsschöpfung noch bei ihrer praktischen Anwendung ersichtlich.
Was sich vollzog, war, daß die industrielle und kommerzielle Bour-
geoisie zur ausschlaggebenden Klasse aufstieg und daß, wo immer sie
sich ihren Anteil an der politischen Macht nahm, oder wo er ihr von
der absterbenden Feudalgesellschaft widerwillig überlassen wurde,
die Verfassung lediglich die soziale Umschichtung bestätigte, die sich
vorher bereits vollzogen hatte. Aller semantischen Ideologie zum Trotz
war die Volkssouveränität nur eine Verkleidung, welche die Reprä-
sentativ- Einrichtungen benutzte, um einer wirtschaftlichen Oligarchie
der Besitzklassen schließlich das Monopol der politischen Macht zuzu-
spielen. Das zu erkennen braucht man kein geeichter Marxist zu sein.
Der Machtkampf spielte sich zuerst zwischen der aufsteigenden
Bourgeoisie und der königlichen Prärogative ab, und, als die letztere
gezähmt war, zwischen der Besitz-Oligarchie einerseits, den unteren
Mittelklassen und der Arbeiterschaft andererseits. Der Angelpunkt in
beiden Fällen war weniger die Verfassung als das Wahlrecht, das in
der überwiegenden Mehrzahl der Fälle in der Verfassung offen ge-
lassen war. Daß dabei die Verfassungen mehr oder minder den Rah-
men bildeten, innerhalb dessen der Machtkonflikt sich in angemesse-
nen rechtlichen Formen abspielen konnte, ohne andauernd zu revolu-
tionären Ausbrüchen zu führen, ist darauf zurückzuführen, daß die
Verfassungen sich auf eine relativ geschlossene und innerlich einheit-

7 Vgl. John A. Hawgood aaO S. 93 ff . und 131 ff., der für die Staatstypen
die Ausdrücke , »condescended" und „negotiated" verwendet, die man viel-
leicht mit „von oben gewährt" und „aus Verhandlung hervorgegangen"
übersetzen kann.

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396 Karl Loewensłein

liche Gesellschaft bezogen. Sie wa


nungen ausgesetzt, wo starke sozial
teilung als solche bekämpfen und
verfassungsmäßigen Umbildung ver
Das 19. Jahrhundert beweist, daß
nieren, wenn der Kampf um die po
Gruppen ein und derselben sozialen Klasse beschränkt, daß sie aber
bis zum Bruch verbogen werden, wenn es sich zeigt, daß die herr-
schende Klasse ihre Normen dazu benutzt, um eine aufsteigende Klasse
von ihrem Anteil an der politischen Seinsgestaltung fernzuhalten.
Außerdem war die verhältnismäßige Achtung, die das 19. Jahrhundert
seinen Verfassungen entgegenbrachte, auch darauf zurückzuführen,
daß man inzwischen gelernt hatte, sie ohne emotionale oder transzen-
dentale Uberspannung ihrer Ziele an die tatsächlichen Verhältnisse
funktionell anzupassen. Das Nützlichkeitselement hatte sich gegenüber
dem Idealstaatlichen und Transzendentalen durchgesetzt. Verglichen
etwa mit der nüchternen Sachlichkeit der Bismarckschen Verfassung
von 1871, die eben für absolut kein anderes Staatswesen passen konnte
als für das autoritäre Kaiserreich, liest sich die amerikanische Verfas-
sung von 1787 wie ein staatsphilosophischer Traktat.

Die Verfassungen nach dem Ersten Weltkrieg

Der magische Zauber der Verfassungs-Schöpfung wurde auf einen


flüchtigen Augenblick nach dem Ersten Weltkrieg wieder eingefangen.
In einigen der älteren Staaten erlebte die geistige Erbschaft der fran-
zösischen Revolution, die Volkssouveränität, eine Spätblüte und sie
konnten sich von den letzten Eierschalen der monarchischen Feudal-
tradition freimachen. Für die neuen Staatswesen, die auf den Ruinen
des zaristischen, des österreichisch-ungarischen und des ottomanischen
Reichs entstanden, gewann die Verfassung den Symbolwert der erlang-
ten Unabhängigkeit und Eigenstaatlichkeit, im Einklang mit Wilsons
politischem Schlagwort von der nationalen Selbstbestimmung. Nach-
dem der demokratische Parlamentarismus Englands und Frankreichs
den Krieg gewonnen - Amerika zählte damals nicht mit - , und die
autoritäre Monarchie ihn verloren hatte, wurde die konstitutionelle
Demokratie zur überall angerufenen Zauberformel, gleichgültig wie
wenig die Massen und die Berufspolitiker auf sie sozial, moralisch
und politisch vorbereitet waren. Diesmal waren die Verfassungen das
Werk der breiten bourgeoisen Mittelschichten, die im Unterbewußt-
sein hofften, die besitzlosen Klassen dadurch zähmen zu können,

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Verfassungsrecht und Verfassungsrealität 397

daß man sie in den demokratischen Konstitutionalismus eingliederte.


Die Arbeiterschaft ging mit, einmal weil sie an den Köder der in den
Rechteerklärungen gebotenen sozialen Rechte anbiß, zum anderen
weil sie erwartete, durch das allgemeine gleiche Wahlrecht über kurz
oder lang die politische Macht legal erobern zu können. Für einen
flüchtigen Augenblick also bedeuteten die Verfassungen wirklich, was
sie bedeuten wollten, nämlich das Mittel zum friedlichen Machtaus-
gleich zwischen den sozialen Kräften der Gesellschaft. Durch die Doku-
mente dieser Zeit weht ein frischer Wind. Nicht mehr ausschließlich
mechanistisch oder vorwiegend funktional, scheuen sie nicht von Ver-
suchen mit neuen Techniken zurück 8, wie der Volksabstimmung und
korporativen Einrichtungen, und ihre Rechteerklärungen beginnen ein
verstärktes soziales Verantwortlichkeitsgefühl zu zeigen. Die Weima-
rer Verfassung und die mexikanische Verfassung von 1917 sind Bei-
spiele dieser Gestaltung. Was die Gruppe dieser Verfassungen außer-
dem auszeichnet, ist, daß sie nichts dem Zufall überlassen wollen. Ver-
fassungslücken werden, wenn möglich, gefüllt, Verfassungs,, klemmen",
wenn möglich, vermieden oder ein Ausweg aus ihnen gezeigt. Sie sind
durchweg bestrebt, alle Elemente und Organe politischer Machtaus-
übung in gesetzliche Normen einzufangen. Man kann den Verfassungs-
gebern auch nicht zum Vorwurf machen, daß sie die immanente
Dämonie der politischen Macht vernachlässigt hätten; im Gegenteil,
es wird ein Maximalversuch gemacht, sie durch „Konstitutionalisie-
rung" in Schach zu halten.
Der Altweibersommer der verfassungsmäßigen Demokratie dauerte
nicht einmal ein Jahrzehnt. Fast ohne Ausnahme fielen die neuen Ver-

fassungen der Revolution der Massen zum Opfer. Die Praxis der nack-
ten Gewalt, die in der Zwischenzeit zum Rang einer vollgewichtigen
politischen Theorie erhoben worden war und damit dem Machtele-
ment der Geschichte einen unerhörten Auftrieb gab, triumphierte über
das juste milieu des bürgerlichen Rationalismus. Gestehen wir es zu:
Die Verfassungen nach dem Ersten Weltkrieg waren schon überholt,
als sie in Kraft gesetzt wurden. Die Selbsttäuschung der Bourgeoisie
bestand darin, zu glauben, sie könne die hungernden Massen der Be-
sitzlosen, zu denen sich bald die unteren Schichten des Bürgertums ge-
sellten, mit sozialen Versprechungen oder dem allgemeinen Stimmrecht
abspeisen, während die Besitzschichten des bürgerlichen Kapitalismus
ihre Stellung als die herrschende Klasse beibehalten würden. Für eine

8 Siehe Arnold J. Zürcher, The Experiment with Democracy in Central


Europe (New York 1933).

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398 Karl Loewenstein

verfassungs-ontologische Betrach
fassungen, technisch ungefähr die
waren, versagten und zerbrachen, weil sie für die Massen wertlos
waren. Intention und Wirklichkeit ließen sich nicht versöhnen.

Das kurze Zwischenspiel der konstitutionellen Demokratie endete


mit ihrer völligen Verdrängung und damit auch der Verdrängung des
Verfassungstyps, den sie sich geschaffen hatte. Die Massen lernten, daß
die Verfassung sie nicht wirtschaftlich befriedigen und schützen konnte
und daß das, was die Intellektuellen ihnen von ihrer Unverbrüchlich-
keit erzählt hatten, leeres Gerede gewesen war. Dem seit der Erfin-
dung der Verfassung bestehenden Mythos von ihrer absoluten Geltung
war ein Stoß versetzt worden, dessen Tragweite erst heute voll er-
sichtlich wird. Der über mehr als ein Jahrhundert genährten Über-
zeugung, daß Staat und Verfassung identisch seien, geschah schwerer
und vielleicht unheilbarer Abbruch. Die verfassungslose Diktatur ver-
breitete sich über Europa mit der Unwiderstehlichkeit eines Prärie-
feuers, dabei nur die Staaten verschonend, wo die eingewurzelte Tradi-
tion des politischen Kompromisses dem Massen-Emotionalismus
standhielt, und ebenso über Latein-Amerika, dessen Scheinkonstitutio-
nalismus ebenso oberflächlich war. Der Faschismus bedurfte keiner
Formalisierung der Ausübung politischer Macht; im Gegenteil, selbst
eine restlos autoritäre Verfassung wäre dem staatlichen Machtmono-
pol nur hinderlich gewesen. Wo, wie in Polen (1935) das autoritäre
Regime sich zu einer Verfassung herbeiließ, geschah dies nur, um die
bestehende Machtkonzentration der herrschenden Offiziersclique ver-
fassungsmäßig unantastbar zu machen.

Die Verfassungen nach dem Zweiten Weltkrieg

Von dem Trauma, das die brutale Vergewaltigung des Rechts durch
die Macht der Diktatur bedeutete, hat sich das Bewußtsein der davon
betroffenen Völker bis heute nicht erholt. Die Erwartung, die vom
faschistischen Joch befreiten Völker würden mit Jubel in den Ver-
fassungsstaat zurückkehren, hat sich nicht verwirklicht. Zwar erfolgte
die Rückkehr; wie hätte es auch anders sein können? Aber von dem
Elan, der die Verfassungsgebung nach 1918 beflügelt hatte, war nichts
zu spüren. In einigen Staaten von marginaler Bedeutung, wie den
Benelux-Ländern und Norwegen, wurde die vorher geltende Verfas-
sungsordnung, die die Exilregierungen wenigstens formalrechtlich

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Verfassungsreclit und Verfassungsrealität 399

aufrecht erhalten hatten, ohne Änderungen wieder in Gang gesetzt;


hier bewahrte sich auch die monarchische Kontinuität 9.
In den kontinentalen Schlüsselstaaten Frankreich, Deutschland und
Italien aber wurden die vorfaschistischen Instrumente gewogen und
zu leicht befunden; man schritt daher zu einer Neuschöpfung. Pflicht-
gemäß, doch ohne Enthusiasmus unterzog man sich der Aufgabe. Wer
die Arbeiten der verfassungsgebenden Nationalversammlungen etwa
in Frankreich oder Westdeutschland verfolgt hat, wird finden, daß
hier brave Bauhandwerker sich betätigt haben, aber keine kühnen
Architekten. Es wird nicht viele Leute in Westeuropa geben, die glau-
ben, daß das, was dabei herauskam, als „höheres" Recht gelten könne,
außer in dem rein technischen Sinn, daß die Verfassungen verbindliche
Normen für die Vornahme der Regierungsgeschäfte aufstellen. Die
bürgerliche Gesellschaft des europäischen Westens hat seit dem Krieg,
unter der Einwirkung der Nachkriegsschwierigkeiten, Substanzver-
lust ihres Besitzes, Inflation und Geldumstellung, ihren Glauben an
absolute oder höhere Werte und damit ihre seelische Balance ver-
loren. Überfüttert mit Politik in dem Jahrzehnt der Diktatur, ist sie
politisch müde, entzaubert und zynisch geworden. Selbst der Nationa-
lismus, der ihr früher Zusammenhalt und Auftrieb gab, ist angenagt
Man bedarf keiner umfangreichen sozialpsychologischen Statistik, um
zu erkennen, daß Wert und Bedeutung der Verfassung als einer höhe-
ren Gesellschaftsordnung für das politische Bewußtsein verblaßt sind
Und erst in den östlichen „Volks "-Demokratien, wo die offizielle Pro
paganda sich nicht genug tun kann die Symbolik der neuen Verfa
sungen hervorzuheben - wer wollte behaupten, sie verkörperten das,
was die Demokratie erst zur Demokratie macht, nämlich die Identität
von Regierung und Regierten?
Auch der Verfassungs jurist ohne berufliche Scheuklappen wird den
neuen Verfassungen beträchtliche Skepsis entgegenbringen. Gegenüber
denjenigen im Sowjetkreis kann er sich des Mißtrauens nicht erweh-
ren, daß sie technisch zu simpel, funktionell zu geradlinig sind, um
einen wirklich fairen Austrag der Kämpfe um die politische Macht
zu ermöglichen. Er weiß, daß der moderne Staatsbetrieb zu kompli-
ziert geworden ist, als daß er mit der Oberflächentechnik der Satelliten-
verfassungen gemeistert werden könnte; etwas muß dahinter vorgehen,
wovon die Verfassung schweigt. Was aber die westlichen Dokumente
anbelangt, so wird er sie, als Gesamtgruppe angesehen, erstarrt und

9 Vgl. Karl Loewenstein, Political Reconstruction (New York 1946) S. 138 ff.,
168 ff. Eine Studie des Verfassers „Die Monarchie im modernen Staat"
wird demnächst im Verlag Wolfgang Metzner in Frankfurt a. M. erscheinen.

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400 Karl Loe w enstein

sonderbar nach rückwärts gewendet f


und kompliziert, und doch von einer
entschiedenheit gehenden Behutsam
Konstruktiven. Das gilt besonders für
sung von 1946 und das Bonner Grun
sind als das Echo auf Fehler, die in
den. Man wird allerdings Verständn
Zukunft zu vermeiden. Beispiele sin
gebung in Frankreich (Art. 15), das
nicht standhielt, oder in Westdeut
Präsidialgewalt durch Parlaments wähl statt durch das Volk selbst
(Art. 54). Man wird auch anerkennen, daß Versuche nützlich sind, den
wilden Parlamentarismus durch erschwerte Anforderungen für das
Mißtrauensvotum und die Auflösung zu zügeln und damit zu einer
stabileren Regierung zu gelangen. Andererseits zeigen die Verfassun-
gen ein tiefes Mißtrauen gegen das Volk selbst, mit dem kaum unbe-
absichtigten Ergebnis, daß die politische Macht in Wirklichkeit in die
Hände der parlamentarischen Oligarchie gespielt wird. Wieviel wäre
für die Klärung der Außenpolitik gewonnen worden, könnte man die
Frage der deutschen Aufrüstung einer Volksabstimmung unterwerfen,
oder welche Entspannung der französischen Innenpolitik würde sich
ergeben, wenn die Wählerschaft über die leidige Frage der konfessio-
nellen Schulen selbst entscheiden könnte! Verglichen mit Westdeutsch-
land und Frankreich ist dagegen die italienische Verfassung von 1947
wesentlich optimistischer und selbstsicherer, was darauf zurückzu-
führen sein mag, daß diese Verfassungsschöpfung nicht mit einer
Hypothek der Vergangenheit belastet war und die Italiener nach der
Ausbootung der Monarchie von Grund auf neu bauen konnten.

III. Staatsformen und Verfassungsontologie

Die sogenannte „Staat s form" 10

Unter „Staatsform" versteht die herkömmliche Lehre die Unter-


scheidung von republikanischen und monarchischen, neuerdings auch
von demokratisch-konstitutionellen und autoritär-diktatorialen Staa-
ten. Diese Unterscheidungen sind aber heute vielfach bedeutungslos
und geradezu irreführend, da bekanntlich ein monarchischer Staat

10 Eine systematische Darstellung der Nachkriegstypen der Regierungs-


form findet sich bei Karl Loeivenstein, Der Staatspräsident, AöR Bd. 75
(1949) S. 130 ff.

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Verfassungsrecht und Verfassungsrealität 401

demokratisch und eine Republik diktatorial sein können. Viel ange-


messener ist der Ausdruck „Regierungsform", wenn dabei auf das
Zusammenspiel - entweder Unterordnung oder Gleichordnung - der
für die Bildung des Staatswillens maßgebenden Staatsorgane abge-
stellt wird. In der Regelung dieses Zusammenspiels sehen die Ver-
fassungen naturgemäß ihre vorzüglichste Aufgabe. Unter diesem Ge-
sichtspunkt hat die jüngste Welle von Verfassungsschöpfungen an dem
herkömmlichen Repertoire nichts hinzugefügt.
Was die „Staats"form im klassischen Sinn anbelangt, so ist die
monarchische Gestaltung völlig außer Mode gekommen. Keine der
neuen Verfassungen bekennt sich zu ihr. In Italien und Bulgarien
wurde die Monarchie durch Volksabstimmung offiziell abgeschafft, in
anderen Balkanstaaten verschwand sie sang- und klanglos. Indien
(1949) zerschnitt nicht nur das Band mit der britischen Krone, das die
Mitgliedschaft im British Commonwealth bedingt hätte, sondern ent-
ledigte sich auch kurzerhand der Überbleibsel der Feudalmonarchie
seiner mehr als fünfhundert einheimischen Fürstentümer. Alle Ver-
fassungen, die hinter dem Eisernen Vorhang nicht ausgenommen, be-
kennen sich zu den Grundlagen der demokratischen Republik, alle
folgen, wenn auch mit verschiedenen Betonungen, der funktionellen
Dreiteilung der Gewalten (jedoch nicht ihrer Trennung).
Die Regierungsform des sogenannten Präsidialsystems erfreut sich
außerhalb der westlichen Erdhälfte geringer Beliebtheit. Selbst in La-
tein-Amerika zeigt sich neuerdings eine unverkennbare Tendenz zur
Annäherung an den europäischen Parlamentarismus, während in den
Vereinigten Staaten alle wohlgemeinten Vorschläge dieser Art auf un-
absehbare Zeit hoffnungslos erscheinen. Nur China (in der Chiang
Kaischek- Verfassung von 1947) und Südkorea (1948) schlössen sich
dem Präsidialsystem an; in beiden Staaten allerdings diente es von
Anfang an als brüchige Schutzfarbe einer unverfälschten Präsidial-
diktatur.

Die Standard-Regierungsform ist die parlamentarische , wenn dar-


unter verstanden wird, daß die Regierung vom anhaltenden Vertrauen
einer Mehrheitspartei oder einer Mehrheitsparteienkoalition abhängig
ist. Dies gilt in Westdeutschland, Frankreich, Italien, Indien, Israel
und anderswo. Bonn steuerte eine interessante Variante bei, die man
füglicherweise als ,,demo-autoritär" bezeichnen kann: der Bundes-
kanzler kann nur dann durch ein Mißtrauensvotum aus dem Amt ver-
drängt werden, wenn der Bundestag mit absoluter Mehrheit aller Mit-
glieder gleichzeitig seinen Nachfolger wählt (Art. 67). Dies bedeutet
praktisch, daß der Bundeskanzler während der vierjährigen Wahl-

AöR 77 Heft 4 26

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402 Karl Loe w enstein

periode des Parlaments so gut wie un


Regierungskoalition auseinanderbrich
von sich der Opposition zugesellt. D
noch wesentlich dadurch verstärkt, d
auflösbar gemacht wurde. Analoge Ein
einmal ans Ruder gekommenen Regier
deutschen Länderverfassungen und, a
in der Verfassung der Deutschen D
Abs. 2).
Die in Großbritannien und den von
entwickelte Spielart des klassischen
Namen des Kabinettssystems bekannt
als die wirksamste Regierungsform
mierminister, kraft der absoluten Pa
henden Drohung mit der Auflösung,
die politische Macht unangefochten a
aber in solchem Maß von der Zweipar
der neuen Verfassungen daran denk
festzulegen.
Die überraschendste Neuerung ist aber die Wiederbelebung einer
historisch übelbeleumundeten und halbvergessenen Regierungsform
im Sowjetkreis, der Konventsregierung (gouvernement conventionnel ,
assembly government ); es gilt in der UdSSR selbst (seit 1936) und in
fast allen Satelliten 11 einschließlich Ostdeutschlands (Demokratische
Republik und Länder). Wie die Sowjets dazu kamen, sich von der in
ihren vorherigen Verfassungen (1918, 1923) niedergelegten proletari-
schen Diktatur ab- und einer eher orthodoxen Regierungsform zuzu-
wenden, kann im Rahmen dieser Abhandlung nicht untersucht wer-
den. Aber, wie an anderer Stelle nachgewiesen 12, das ur-demokratische
Muster der Allmacht einer volksmäßig gewählten Versammlung,
die von allen Hemmungen und Gegengewichten und damit auch von
der Gewaltentrennung befreit ist, eignete sich vollkommen für das
Herrschaftsmonopol der Staatspartei. Damit wurde die historische Er-
fahrung mit dieser Regierungsform voll bestätigt. Die Konventsregie-
rung stellt eine bestechende Verkleidung der Diktatur einer Einzelper-
sönlichkeit, Gruppe, Partei oder Herrschaftsschicht dar. Da hierbei die

11 Albanien, Jugoslawien, Bulgarien, Rumänien und Ungarn. Polen und


die Tschechoslowakei gehören nicht dazu; ersteres setzte, mit erheblichen
Reparaturen, die Verfassung von 1920 wieder in Kraft (Verfassungsgesetz
vom 19. Februar 1947), letztere adaptierte die Verfassung von 1920 in einer
Revision von 1948.
12 Siehe AöR 75 S. 162 ff.

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Verfassungsrecht und Verfassungsrealität 403

Versammlung in der Regel nur formal souverän ist - sie versammelt


sich selten und in großen Abständen - , steigt ihr Präsidium als die
dauernd aufgestellte Aktionsgruppe logischerweise zum wesentlichen
Machtträger auf 13. In Ostdeutschland, wo man bisher aus politischen
Gründen Wert darauf legte, die äußere Mechanik des Mehrparteien-
systems aufrechtzuerhalten - was wohl in absehbarer Zeit abgeschafft
wird - , wurde die Konventsregierung mit dem sogenannten „Block-
system" unterbaut14. Die von vornherein zielbewußt - durch Über-
redung, Druck oder andere Mittel - herbeigeführte „Einstimmigkeit"
der Kabinette und Parlamente läuft auf dasselbe hinaus wie das Vor-
handensein eines ausgesprochenen Einparteienstaats. Die Technik und
die ihr unterliegende Theorie entbehren nicht der Schläue, weil sie die
„freiwillige" Ausschaltung der Opposition ermöglichen und den Gläu-
bigen das Bild einer „monolitischen" Demokratie, wenn es so etwas
geben sollte, vorspiegeln. In der Deutschen Demokratischen Republik
ist diese Erfindung sogar in der Verfassung selbst „verankert" (Art.
92); jede Partei mit 40 Abgeordneten muß ihrer Stärke in der Volks-
kammer nach in der Regierung vertreten sein. Unterdrückung der Op-
position ist natürlich nichts Neues; aber die Koalitionsregierung ver-
fassungsmäßig zwingend vorzuschreiben, ist immerhin etwas Neues
unter der Sonne, was Ben Akiba nicht vorausgesehen hat.

Versuch einer ontologischen Begriffsbildung

Eine ontologische Bewertung der Verfassungen muß sich bewußt


sein, daß die tatsächliche Geltung des in ihr enthaltenen Machtaus-
gleichs wesentlich von der gesellschaftspolitischen Situation bedingt
ist, auf die sie zur Anwendung kommt. Der politisch vorgeschrittenere
Westen geht von der Annahme aus, daß eine Verfassungsordnung, die
sich ein Volk gegeben hat, nicht nur rechtlich gültig ist, sondern auch
in dem Sinne „gilt", daß sie mit der politischen Wirklichkeit überein-
stimmt. Wo dies der Fall ist, kann man von einer normativen Verfas-
sung sprechen. Um dies mit einem etwas hausbackenen Vergleich aus-
zudrücken: Die Verfassung ist ein Maßanzug, der auch tatsächlich ge-
tragen wird. Diese Unterstellung bedarf aber in jedem Einzelfall der
Bestätigung.
Andererseits gibt es Fälle, wo eine Verfassung zwar positiv-recht-
13 Siehe Ungarn (Art. 19-22), wo es Präsidialrat genannt ist. Die Ver-
fassung der Deutschen Demokratischen Republik hat davon Abstand ge-
nommen, und es scheint auch in Polen und der Tschechoslowakei weniger
Macht zu haben als in Rußland selbst und anderen Satellitenstaaten.
" Alfons òteiniger, Das Blocksystem (Berlin 1949).

26*

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404 Karl Loewenstein

lich gültig ist, aber nicht oder nich


kommt. Damit sollte aber nicht der hinreichend beachtete Tatbestand
verwechselt werden, daß die geschriebene Verfassung von der Verfas-
sungspraxis abweicht. Beispielsweise ist allgemein bekannt, daß sich
eine Verfassung nicht nur durch Verfassungsänderungen, sondern
ebensosehr durch politische Übung wandeln kann. Worauf hier abge-
stellt wird, ist der Gegensatz zwischen formeller Gültigkeit und wirk-
licher Geltung. Die amerikanische Bundesverfassung „gilt" überall,
aber das vierzehnte Amendment, das die Gleichstellung der farbigen
Bevölkerung zum Gegenstand hat, gilt nicht völlig etwa in den Staaten
Mississippi oder Alabama. Um bei dem früher gebrachten Vergleich zu
bleiben: Der Anzug ist Konfektion und überdies hängt er im Schrank.
In diesen Fällen kann man von der Verfassung als nur nominal spre-
chen.

Schließlich gibt es Fälle, wo eine Verfassung zwar vollständig zur


Anwendung kommt, aber nichts anderes ist als die dauernde Fest-
legung des augenblicklich bestehenden Machtzustandes. Es fehlt ihr das,
was das Wesen aller Verfassungen ausmachen sollte, nämlich den ob-
jektiven Rahmen für das Kräftespiel und den Machtausgleich aller
politischen Bestrebungen zu bilden. Statt dessen „gefriert" die Verfas-
sung die bestehende Machtsituation im Interesse des augenblicklichen
Machtinhabers. An der wirklichen „Geltung" einer solchen internen
Ordnung im positiven Sinn ist dabei nicht zu zweifeln. Aber da die
Verfassung die Möglichkeit eines friedlichen Machtausgleichs verbal
vortäuscht ohne ihn in Wirklichkeit zuzulassen, kann man diesen Typ
vielleicht mit dem Ausdruck „semantisch" bezeichnen. Wiederum in
der Sprache unseres Vergleiches: Die Verfassung ist gar kein Anzug,
der getragen werden soll, sondern eine Maskerade oder ein Umhang
über der nackten Gewalt.

Mit diesen terminologischen Andeutungen muß hier einstweilen vor-


lieb genommen werden.
Die normative Verfassung ist im Westen die Regel; sie ist wirklich
in dem Sinn, daß sie den Verfahrensrahmen abgibt, innerhalb dessen
sich auf friedlichem Weg der Konkurrenzkampf um die politische
Macht abspielt und wo diese nach der Sachlage auch eine Teilung der
Macht zwischen verschiedenen sozialen Kräften zuläßt. Von den neuen
Verfassungen, abgesehen natürlich von denen Frankreichs, Italiens,
Westdeutschlands, fallen in diese Klasse auch diejenigen von Israel -
hier wird sie von einem Volk gehandhabt, das intellektuell westlich
orientiert ist - , aber auch von Ceylon und Indien, in diesen Fällen
führt eine politische Elite die Zügel, die ihr Handwerk von den Briten

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Ver fas sung st e cht und Verfassungsrealität 405

gelernt hat. Burma (Verfassung von 1947) kann man kaum dazu rech-
nen; dazu ist das Land politisch zu wenig vorgeschritten.
Auf der anderen Seite ist die Verfassung, die hier nominal genannt
wird, bestenfalls ein politisches Programm oder ein Vordruck, der in
Zukunft Wirklichkeit werden soll. Alles, was gehofft werden kann, ist,
daß die politische Wirklichkeit sich eines Tages in die Verfassung ein-
leben wird. Man findet diesen Typus meist dort, wo der westliche
Konstitutionalismus in eine koloniale, das heißt in der Regel eine
agrarfeudale Sozialordnung eingepflanzt ist. Das Element der Volks-
bildung spielt naturgemäß eine ausschlaggebende Rolle. Aber auch, wo
diese eine verhältnismäßig hohe Stufe erreicht hat, scheint die Ratio-
nalität des westlichen Konstitutionalismus im Sozialmilieu Asiens und
Afrikas, wenigstens derzeit noch nicht, genügend anzuschlagen. Das
gilt für die bisher despotisch regierten Staaten China (Verfassung von
1947), Südkorea (1948) und Siam, mehr oder minder auch für die Phi-
lippinen und die Mehrzahl der neuen arabischen Staaten. In Latein-
Amerika, dessen Verfassungen zu den ehrgeizigsten und modernsten
gehören, die es gibt, sind Brasilien, Argentinien, Uruguay, Chile, Me-
xiko und (jedenfalls bis zur Revolution von 1948) auch Kolumbien
dem normativen Typ zuzurechnen. Andere, wie Ecuador oder die
zentral-amerikanischen Staaten, befinden sich derzeit in einem Über-
gangsstadium zwischen dem Nominalen und dem Normativen; die
Grenzlinie ist oft nicht leicht zu ziehen. Die Verfassungen sind dort
vielfach kurzlebig, werden häufig umgemodelt oder suspendiert je nach
den Bedürfnissen der gerade am Ruder befindlichen Clique, die über
die bewaffnete Macht verfügt 15. Wie wenig Verfassungen im latein-
amerikanischen Milieu bedeuten, zeigt sich am Barometer des Ge-
schäftslebens, das in der Regel nur dann beeinflußt ist, wenn die neue
Verfassung sich zu Nationalisierungsprinzipien bekennt. Auch die Mas-
sen kümmern sich nicht viel um das, was oben vorgeht. Es mag be-
zeichnend für die heutige Kluft zwischen Verfassungs Wortlaut und so-
zialpolitischer Wirklichkeit erscheinen, daß die im Gang befindliche
Sozialrevolution in Argentinien, wo sie von der volksgetragenen Dik-
tatur Peróns bewerkstelligt wird, in der Verfassungsurkunde selbst
keinen Ausdruck gefunden hat. Die jüngste Verfassungsänderung
(1948) bezog sich nur auf technische Dinge, die allerdings so gestaltet
wurden, daß das diktatoriale Regime stabilisiert wurde.
Japan läßt sich allerdings in diesen Kategorien nicht recht unter-
bringen. Die ältere Kaiserliche Verfassung (1889) war nicht normativ
15 Venezuelas Verfassung von 1947, derzeit suspendiert, ist die 22. in 13G
Jahren.

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406 Karl Loewenstein

in dem Sinn, daß sie die fortschrittl


Gesellschaft ermöglicht hätte; ihre w
nicht, zu einem willfährigen Instrument der industriell-agrarischen
Feudalklassen und der Armee zu werden. Die neue Verfassung von
1946 ist von der amerikanischen Besatzungsbehörde inspiriert, diktiert
und manipuliert. Das demokratisch gewählte Parlament mußte sich
damit abfinden, und fand sich damit ab. In dem durch die Fremd-
besatzung geschaffenen leeren Raum, unter einem fremden General
als Pseudo-Mikado und mit einem von ihm völlig kontrollierten Par-
teibetrieb konnte bisher selbst ein so gescheites und anpassungsfähiges
Volk wie die Japaner das aufoktroyierte Instrument nicht zur erlebten
Wirklichkeit gestalten.
Dort schließlich, wo die Verfassung nichts anderes ist als die ein-
malige Festlegung, in „legaler" Form, der bestehenden Machtkonstel-
lation, kann sie nicht gleichzeitig als der elastische Rahmen dienen,
innerhalb dessen sich der politische Machtkampf in der Folgezeit ab-
spielen soll. Darin liegt vielleicht das wesentliche Charakteristikum
der autoritären Verfassung, wie man etwa an den Napoleonischen Ver-
fassungen der Jahre VIII und X oder, in neuerer Zeit, an der Pilsud-
ski-Verfassung in Polen ersehen kann. Sie waren letztlich unabänder-
bar. Daß sie überhaupt vorhanden waren, ist nicht viel mehr als eine
Verbeugung der augenblicklichen Machthaber vor der zeitalterlich be-
dingten Legitimität; Hitler war jedenfalls ehrlich genug, das faktische
Machtmonopol seiner allmächtigen Führergewalt nicht durch eine
schriftliche Formulierung zu begrenzen. Bestenfalls dienen solche Fi-
xierungen dem Bedürfnis eines jeden Staates, das Zusammenspiel der
obersten Staatsorgane zu regeln. Aus der Nähe betrachtet, sind sie
nichts anderes als Versuche - die allerdings niemals von Dauer sind
- , die bestehende Machtsituation rechtlich zu positivieren. Ontolo-
gisch gesehen, sind sie nur semantische Verkleidungen.
In diese Klasse fallen alle Sowjet-Satelliten-Verfassungen 16, aber
auch etliche in der noch feudalen arabischen Welt (Ägypten, Iran,
Irak), wo nicht einmal der Versuch gemacht wird oder der Wille be-
16 Vgl. Samuel L. Sharp , New Constitutions in the Soviet Sphere (Wa-
shington 1950); derselbe, Communist Regimes in Eastern Europe, Foreign
Policy Reports, Bd. XXVI Nr. 16 (1. Jan. 1951). Damit erklären sich die
sonst nicht verständlichen Unterschiede zwischen den einzelnen Satelliten -
verfassungen; sie spiegeln nicht nur den jeweils erreichten Stand der politi-
schen Kommunisierung wieder, sondern auch den Grad der Annäherung an
das Modell der UdSSR. Die zeitlich letzte Formulierung, die ungarische
Verfassung von 1949, ist darin am weitesten vorgeschritten und verzichtet
auf jeden Schein der Objektivität. Wenn die Verfassung der Deutschen
Demokratischen Republik von 1949 wenigstens äußerlich dein Schema des

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Verfassungsreclit und Verfassungsrealität 407

steht, ihnen nachzuleben. Es soll aber nicht verkannt werden, daß in


politisch und wirtschaftlich zurückgebliebenen Ländern der Unter-
schied zwischen der (noch) semantischen und der (schon) nominalen
Verfassung sich nicht immer einwandfrei feststellen läßt.

IV. Betrachtungen zur Verfassungsstruktur

1. Die Beziehung zwischen Regierung und Legislative

Was man ungenau die „Staats"form heißt und was eigentlich d


„Regierungs"form ist, wird nach der klassischen Lehre von der Wech
selbeziehung - Gleichordnung oder Unterordnung - der Staatsle
tung (Regierung) und der gesetzgebenden Gewalt (Parlament) be
stimmt. Das ist heute allerdings nur mehr mit Einschränkungen rich
tig. Die Regierung, die die politischen Entscheidungen trifft, hat sich
auch in den parlamentarisch gefügten Staaten in beträchtlichem Um-
fang der Gesetzgebung bemächtigt. Politische Führung der Regierung
ist ja nichts anderes, als dafür zu sorgen, daß die für die Staatspolitik
notwendigen Gesetze geschaffen werden. Die Anordnung der beid
Funktionen enthält in charakteristischer Weise den Unterschied zwi-
schen dem Normativismus des Westens und dem Sematizismus des

Ostens. In der völlig durchgebildeten „Volksdemokratie - an sich


schon ein wegen seiner Verdoppelung des Begriffes „Volk" ein Stü
Semantik - , wie sie etwa die ungarische Verfassung (1949) darstell
ist der Gegensatz und selbst der Unterschied von Exekutive und Legis-
lative völlig verschwunden. An die Stelle der Gleichordnung und Z
sammenarbeit ist ein System der unbedingten hierarchischen Unte
ordnung aller Staatsorgane unter die Direktiven der kommunistischen
Partei getreten, womit, wie es für die Konventsregierung typisch ist,
der Wortlaut und Sinn der Verfassungsbestimmungen vollkommen
umgekehrt wird. Das Parlament, angeblich „das höchste Staatsorgan"
(Art. 10), wird vollkommen vom Präsidium (genannt Präsidialrat der
Volksdemokratie) beherrscht (Art. 20 und 21), das seinerseits den Mi-
nisterrat kontrolliert, der als das „höchste Organ der Staatsverwal-
tung" bezeichnet wird (Art. 22) und dem die örtlichen Verwaltungs-
behörden unterstellt sind. All dies ist aber nur auf dem Papier, da die
ganze Maschinerie von der Kommunistischen Partei gehandhabt wird,

westlichen Konslitutionalismus folgt, so hat dies im Lichte des absichtlichen


Gradualismus der Sowjets nicht mehr zu bedeuten, als daß man West-
deutschland nicht vor den Kopf stoßen und die Tür zu einer Einigung nicht
zuschlagen wollte.

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408 Karl Loeiueii stein

•worüber das Dokument natürlich m


wird zugeben müssen, daß, seit Ver
her ein System schriftlich formulie
direkte Lösung für die Ausübung de
brachte hätte.

Im Westen dagegen ist die Beziehung zwischen Regierung und Par-


lament nach wie vor das Kernproblem der Verfassungskonstruktion.
Allerdings, der naive Glauben der früheren Zeit, sie könnten in eine
harmonische Gleichgewichtslage gebracht und darin dauernd gehalten
werden, ist verschwunden. Man hat nur mehr die Wahl zwischen einer
starken Regierung, die dem Parlament überlegen ist, und dies zu La-
sten der Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber der öffentlichen
Meinung, oder aber einer Regierung, die andauernd dem unberechen-
baren Spiel der parlamentarischen Parteien ausgesetzt ist, und dies,
wie allgemein angenommen wird, auf Kosten der Stetigkeit der Staats-
leitung. In beiden Fällen wird auf die Kabinettskrisen abgestellt, die
sich bei Fehlen einer klaren Mehrheitspartei aus der mangelnden Ba-
lance der Koalitionsparteien ergeben müssen.
Die Autoren der neuen Verfassungen waren sichtbar beeindruckt
von den mehr als hundert Kabinetten, die die französische Dritte Re-
publik während der 65 Jahre ihres Bestehens aufgewiesen hat, und
wahrscheinlich auch von den zwanzig und mehr Regierungen, die sich
Weimar in nur 14 Jahren zugelegt hatte. Bei näherer Betrachtung zeigt
sich allerdings, daß in beiden Fällen eine nicht unbeträchtliche Zahl
der Kabinettswechsel auf politischen Zufällen beruhte und keine we-
sentlichen politischen Folgen hatte, also durch eine straffere parla-
mentarische Technik hätte vermieden werden können. Demgemäß
wurden nunmehr technische Verbesserungen angebracht, um die Ka-
binettskrisen zu vermindern, wie die Einschiebung einer „Abkühlungs-
pause'4 zwischen dem Antrag auf und der Abstimmung über ein Miß-
trauensvotum, das Erfordernis einer erhöhten Unterschriftenzahl für
die erstere (Italien Art. 94) und von absoluten Mehrheiten für die letz-
tere (Frankreich Art. 45, Bonn Art. 67, 68).
Man kann sich aber des Eindrucks nicht erwehren, daß die Gefahr
wiederkehrender Regierungskrisen einigermaßen überschätzt wurde.
Natürlich sind Kabinettskrisen der Stetigkeit des Staatsbetriebes ab-
träglich. Untersucht man sie weiter im einzelnen, so wird sich heraus-
stellen, daß viele davon, wenn nicht die Mehrheit, durch berechtigte
Wünsche der Oppositionsparteien nach Änderung der Regierungspoli-
tik veranlaßt waren, was dann auch durch die nachfolgende Regierung
geschah. Darin liegt schließlich die eigentliche Aufgabe der parlamen-

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Verfassungsrecht und Verfassungsrealität 409

tarischen Regierung. Alles in allem sind eben die Parteien der Volks-
meinung näher als die Regierung, die ihrerseits nur von den Parteien
abhängt. Außerdem sind viele der Kabinettskrisen nur halb so schlimm
wie sie aussehen, da sie oft nur einen Personen- und keinen Kurswech-
sel bedeuten, und überdies oft nicht einmal das, weil dieselben Parla-
mentarier, wenn auch in verschiedenen Ministerien, dem neuen Ka-
binett angehören, eine Erscheinung, die man unfreundlich, aber rich-
tig „Zusammenkleben" (replâtrer) heißt.
Die Situation in den Ausgangs jähren von Weimar, wo sich „hetero-
gene" Parteien von links und rechts zum Sturz der Regierung verban-
den, ohne gewillt oder in der Lage zu sein, ihrerseits eine Regierungs-
koalition zu bilden, war eine Ausnahmeerscheinung, die sich ander-
wärts kaum wiederholen dürfte und die man mit normalen parlamen-
tarischen Mitteln auch gar nicht unterbinden kann. In Frankreich ver-
suchte man es 1951 mit einer Wahlrechtsreform, die gleichmäßig gegen
die Gaullisten und die Kommunisten gerichtet war. Sie war nicht nur
nicht durchgreifend genug, sondern überdies ideologisch höchst an-
fechtbar. Zudem hat sie ihr Ziel nicht erreicht: Die Gaullisten sind in
den Wahlen vom Juni 1951 zur stärksten Partei aufgestiegen, und die
Kommunisten erlitten zwar eine Mandatseinbuße, aber keine wesent-
liche Stimmenverminderung.
Über all diesen letztlich technischen Dingen ist allerdings die Frage
offen gebieben: Sind die chronischen Kabinettskrisen nichts anderes
als abstellbare Defekte der parlamentarischen Regierungsform, tritt in
ihnen ein Wesensmangel dieser Regierungsform zutage: ist sie über-
haupt imstande, einen friedlichen Ausgleich zwischen politischen Ge-
genspielern herbeizuführen, die es grundsätzlich ablehnen, sich über
die sozio-politischen Ziele der Gemeinschaftsordnung zu verständigen?
Dies ist der Punkt, wo die ontologischen Zweifel einsetzen. Der Mann
auf der Straße, der für Parteien, Politiker, Parlamente nichts übrig hat,
denkt über dieses grundlegende Dilemma viel realistischer als die Pro-
fessionellen der Politik. Eine befriedigende Antwort ohne Vergewalti-
gung eines Teiles der Gemeinschaft gibt es offenbar nicht.
Wie dem auch sei, die Suche nach der Zauberformel, mit der eine
dem Volkswillen entsprechende und gleichzeitig krisenfeste Regierung
gebildet werden kann, geht weiter; aber die Quadratur des politischen
Zirkels bleibt bestehen. Wo, wie in Frankreich, das Mißtrauen gegen-
über einer starken Regierung historisch eingewurzelt ist, erscheint der
Parlamentarismus mit allen seinen Nachteilen als das kleinere Übel.
Wo, wie in Deutschland, der Gedanke einer starken Regierung zu den
nationalen Glaubensartikeln gehört, hat das Parlament, und mit ihm

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410 Karl Loe w enstein

die Demokratie, die Zeche zu bezahlen. Nur so ist es verständlich, daß


man in Westdeutschland die spontane Dynamik des Machtkampfes da-
durch abzubiegen hoffte, daß man den Bundeskanzler während der
vierjährigen Legislaturperiode des Bundestages gleichsam unabsetzbar
gemacht und seine Stellung überdies noch dazu mit dem „Gesetz-
gebungsnotstand'4 (Art. 81) verstärkt hat, dem der autoritäre dolus
eventualis auf die Stirne geschrieben ist. Es bedarf keiner besonderen
Gabe der politischen Prophetie, um vorauszusehen, daß diese odiose
Bestimmung nicht etwa einem verfassungstreuen Kanzler zugute kom-
men wird, sondern einer kommenden Regierung der radikalen Rech-
ten. Die geschichtlich weniger voreingenommenen Italiener haben mehr
Vertrauen in die natürliche Balance der politischen Kräfte, vielleicht
auch in die Geschicklichkeit ihrer Politiker, und ihre Verfassung ver-
hält sich in der Frage der Beziehung zwischen Regierung und Parla-
ment wirklich objektiv. Bisher haben sie damit keine schlechten Er-
fahrungen gemacht, wobei allerdings zu fragen wäre, ob die künst-
liche Mehrheit der Christlichen Demokraten auf die Dauer zusammen-
hält. Ihr Führer de Gaspari konnte im Juli 1951 sein siebentes Kabi-
nett bilden, in dem neben den Christlichen Demokraten nur eine ein-
zige andere Partei, die Republikaner, vertreten sind. Mit Ausnahme
von Frankreich ließ überhaupt die Stabilität der Regierung in parla-
mentarischen Staaten seit 1945 nichts zu wünschen übrig; die anomale
Situation in Belgien war durch die sich lange hinziehende Krise um
die Person König Leopolds III. bedingt, und in Griechenland haben
Bürgerkrieg und Ausnahmezustand, Inflation und die Einmischung der
angelsächsischen Protektoren den Normalablauf des parlamentari-
schen Betriebes einfach nicht zugelassen.
Der zu ziehende Schluß ist, daß Kabinettskrisen nun einmal der
Preis sind, den ein Volk für den Luxus des Mehrparteienstaates zah-
len muß. Ob sich durch Rückkehr zur strikten Mehrheitswahl auf dem
Kontinent ein Zweiparteiensystem erzielen läßt, ist eine offene Frage.

2. Die Parlamentsauflösung

Der Angelpunkt des „echten" parlamentarischen Systems 17 ist die


Parlamentsauflösung. Sie soll dazu dienen, eine eindeutige Entschei-
dung im Falle eines Konflikts zwischen Regierung und Parlament her-
beizuführen, wobei der Opposition die Rolle eines Mundstücks für
17 Robert Redslobs maßgebende Analyse in: Die Parlamentarische Re-
gierungsform (Tübingen 1919, französische Ausgabe: Le Regime Parlemen-
taire, Paris 1924), das nach dem Ersten Weltkrieg in der Hand aller Ver-
fassungsjuristen war, ist heute fast vergessen.

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Verfassungsreclìt und Verfassungsrealittit 411

einen behaupteten oder wirklichen Umschwung des Wählerwillens


zukommt. Die Wählerschaft wird damit zum Schiedsrichter zwischen
Parlament und Regierung und, wegen des inmitten liegenden plebis-
zitären Effekts, zum Richter über grundsätzliche politische Fragen.
Verglichen mit der Verfassungsstruktur nach 1918 kommt diese Ein-
richtung in den neuesten Verfassungen schlechter weg. Zwar haben
sich die Franzosen veranlaßt gesehen, die Auflösung wenigstens theo-
retisch aufzunehmen (Art. 51, 52). Aber sowohl hier wie in West-
deutschland unterliegt sie solchen Hemmungen, daß sie kaum als ein
normales Ventil für politische Spannungen angesehen werden kann.
Nur in Italien (Art. 88) erhält sie sich als echt plebiszitäre Einrichtung.
Während der fünfjährigen Lebenszeit des ersten Parlaments hatte die
französische Parteienoligarchie dieselbe Angst vor dem Volk wie unter
der Dritten Republik. Auch in Deutschland, wo die Auflösung unter
dem Kaiserreich und Weimar eine nicht seltene Erscheinung war, hat
man offensichtlich kein Vertrauen zu ihr. Überdies, wie F. A. Hermens
überzeugend nachgewiesen hat 18, verliert sie viel von ihrer plebiszi-
tären Wirkung, wenn sie der Verhältniswahl unterliegt, die die be-
stehende Parteienkonstellation „einfrieren" läßt. Mit der Konvents-
regierung ist die Auflösung der Legislative natürlich konstruktiv nicht
vereinbar, und die etwa in Ungarn (Art. 18 Abs. 1) vorgesehene Selbst-
auflösung ist Semantik reinsten - oder unreinsten - Wassers. Auch
der in Art. 95 Abs. 6 der Verfassung der Deutschen Demokratischen
Republik vorgesehene Fall der Auflösung steht lediglich auf dem Pa-
pier.
Die Schlußfolgerung ist, daß sich die neueren Verfassungen vom
Volks willen weiter entfernt haben als ihre Vorgänger, wozu man auch
die geradezu panische Angst rechnen mag, die die Berufspolitiker vor
dem Volksbegehren und der Volksabstimmung zu haben scheinen.

3. Der Staatspräsident

In dasselbe Kapitel gehört die offensichtliche Schwächung der Stel-


lung des Staatspräsidenten im Vergleich mit der Zeit nach dem Ersten
Weltkrieg. Seine Wahl durch das Volk ist nicht mehr beliebt, weil man
dem Volk mißtraut, außer natürlich in Latein- Amerika, wo das nord-
amerikanische System gilt. Im allgemeinen ist der Präsident auf die
den Staat integrierenden und die zeremoniellen Funktionen beschränkt.
18 Ferdinand A. Hermens, Mehrheitswahlrecht oder Verhältniswahlrecht?
(München 1949); derselbe, Demokratie oder Anarchie? (Frankfurt 1951).
Vgl. auch Maurice Duverger, L'Influence des Systèmes Electoraux sur la
Vie Politique (Paris 1950).

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412 Karl Loewenstein

Es verbleibt ihm aber das wichti


präsidenten (Frankreich, Italien,
obliegt diese Aufgabe dem Bunde
der ostdeutschen Republik stellt die stärkste Partei automatisch den
Ministerpräsidenten (Art. 92), was sich bei dem faktisch bestehenden
Einparteienstaat von selbst versteht. Die Bewegungsfreiheit des Prä-
sidenten bei der Parlamentsauflösung ist in Frankreich völlig ver-
schwunden; in Westdeutschland ist sie infolge der Mechanisierung des
ganzen Verfahrens (Art. 58, 63 Abs. 4) höchst eingeengt. Im Konvents-
system hat das Präsidialamt an sich keinen Platz; die technischen
Funktionen des Präsidenten sind an das Präsidium übergegangen.
Aus Opportunitätsgründen ist es aber in der UdSSR, in der Deutschen
Demokratischen Republik, Polen, der Tschechoslowakei und in Jugo-
slawien aufrecht erhalten worden.

4. Die Zweite Kammer

Außer in Bundesstaaten wird das Einkammersystem jetzt überall


bevorzugt (so in Israel). Was die Labour-Regierung mit der endgül-
tigen Entmannung des Oberhauses tat, als das suspensive Veto der Par-
lamentsakte von 1911 auf harmlose neun Monate beschnitten wurde
(1950), wiederholte sich bei dem machtlosen Conseil de la République
in Frankreich. Es gilt auch für den Bundesrat in Bonn, der zwar aus
föderalistischen Gründen die Rolle der Länder in den sie angehenden
Angelegenheiten verstärkte, sich aber in Bundesangelegenheiten in der
Regel mit einem aufschiebenden Veto zufrieden geben muß, also bun-
despolitische Maßnahmen nur verzögern und nicht verhindern kann.
Nur Italien behielt das uneingeschränkte Zweikammersystem bei, wo-
bei Kammer und Senat völlig gleichberechtigt sind. Bei dem letzteren
wird der recht künstliche Versuch gemacht, die Zusammensetzung auf
die „Regionen" als Wahlkörperschaften aufzubauen; der italienische
Senat kann, zumindest in der Theorie, auch die Regierung stürzen, wie
es in Frankreich unter der Dritten Republik der Fall war. In Konvents-
regierungsstaaten, die nicht föderativ gestaltet sind, ist die Zweite
Kammer völlig im Widerspruch mit der politischen Theorie; sie be-
steht demgemäß auch nirgends.
Wäre das „obere" Haus dazu bestimmt, als Bremse oder Ausgleich
der zufälligen Parteischwankungen innerhalb des anderen Hauses zu
dienen, so bedürfte es einer grundsätzlich anderen Zusammensetzung
seiner Mitglieder, unter Zugrundelegung etwa von korporativen Glie-
derungen, der sozialen Klassenschichtung, einer höheren Altersgruppe.

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Verfassungsrecht und Verfassungsrealität 413

oder mit Hilfe von verdienstvollen Einzelpersönlichkeiten. Damit


wurde in der Vergangenheit, auch der jüngsten, viel experimentiert
aber die neuesten Verfassungen sind dem Problem bewußt ausgewi-
chen. Die Ausnahme des bayerischen Senats (Verfassung von 1946,
Art. 34 ff.) verdient nur aus Kuriositätsgründen Erwähnung. Der Con-
seil Economique in der neuen französischen Verfassung ist schwacher
als seine Vorgänger etwa unter Weimar oder in der Tschechoslowakei.
Ist somit auch die Abkehr von der Technik der Zweiten Kammer eine
universale Erscheinung, so ist sie ontologisch gesehen bedauerlich. Zu-
gegeben, daß die totalitären Mißbräuche des Korporativismus von einer
Fortsetzung abrieten. Aber eine realistischere Verfassungsschöpfung
hätte doch den Versuch machen sollen, die heute das Staatswesen
in seiner Totalität erfassende Verbandsgliederung in die Verfassung
selbst einzubeziehen. Wenn es eine Wirklichkeit in Ländern mit freier
Wirtschaftsordnung gibt, so ist es die allumfassende Durch Wucherung
des gesamten sozialen und wirtschaftlichen Lebens mit Berufsverbän-
den, die vielfach die eigentlichen Machtträger geworden sind: die orga-
nisierten Machtgruppen der Unternehmer und Arbeiter, der Landwirt-
schaft und des Handels, der Beamten und Angestellten, der freien Be-
rufe und der Konsumenten, ganz zu schweigen von den Kartellen und
anderen Wirtschaftsverbänden, ohne die das Alltagsleben des heutigen
Industriestaates überhaupt nicht denkbar ist. Der verwandte Fragen-
kreis dessen, was man in den Vereinigten Staaten „lobbying" heißt -
der von den Interessentengruppen auf das Gesetzgebungspersonal aus-
geübte Druck, eine Erscheinung, die in allen technologischen Staaten
um sich greift - , ist anderwärts noch nicht in seiner Bedeutung er-
kannt worden, geschweige denn, daß sich die Verfassungen dafür in-
teressierten. Der legalen Mitwirkung bei den grundlegenden politischen
und wirtschaf tspolitischen Fragen beraubt, sind diese Interessenten-
gruppen nunmehr gezwungen, sich beim Machtkampf entweder der
politischen Parteien zu bedienen, was diese naturgemäß ihrer eigent-
lichen Aufgabe entfremdet, den Gesamtinteressen der Wähler zu die-
nen, oder sie verfolgen ihre Ziele außerhalb der Verfassung selbst. Es
gibt kaum einen anderen Punkt, wo sich die Unwirklichkeit und Le-
bensfremdheit der Nachkriegs Verfassungen in so grellem Licht zeigt,
wie bei der altmodischen Vernachlässigung und Nichtbeachtung des-
sen, was dem modernen Staatsbetrieb seinen pluralistischen Charak-
ter gibt.

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414 K ar l L o e w e n st e i n

5. Der Föderalismus

Der Föderalismus ist im Abstieg begriffen lö, und dies trotz verschie-
dentlicher Institutionalisier ungen im Westen wie im Osten. Dies ist
kaum zu verwundern. Selbst in den ältesten und am besten durch-

gebildeten Föderativstaaten, der Schweiz und USA, wo die Tradition


und die emotionale Einstellung der Aufrechterhaltung des bundes-
staatlichen Gedankens zugute kommen, hat sich gezeigt, daß die wirt-
schaftlichen Imperative des technologischen Staates eine einheitliche
Wirtschaftspolitik für das ganze Staatsgebiet verlangen und jenen
Wirtschaftsegoismus der Einzelstaaten nicht zulassen können, der den
eigentlichen Kern der Staatssouveränität im Bundesstaat darstellt. Die
Erfahrung der Schweiz ist dabei besonders lehrreich; die (partielle)
Verfassungsrevision von 1947 schränkte nicht nur die liberale Wirt-
schaftspolitik des laissez faire ein, sondern überantwortete das ge-
samte Wirtschaftsleben der Leitung des Bundes. Seither schlägt sich
die Schweiz mit dem Problem herum, wie die Bundeslasten gedeckt
werden sollen; das Volk war bisher nicht dazu zu bringen, die finan-
ziellen Konsequenzen zu ziehen und dem Bund zu geben, was des
Bundes ist. Man kann, und nicht nur für die Schweiz, in einer über-
spitzten Form sagen: Ein Staat mit einer Bundeseinkommensteuer ist
eben kein echter Bundesstaat mehr. Andererseits ist man sich dessen

bewußt geworden, daß selbst in einem verhältnismäßig kleinen Bun-


desgebiet - wie in Österreich oder der Schweiz - die Dezentralisatio
zur Verbesserung der Verwaltung beiträgt.
Der Föderalismus als organisatorisches Gestaltungsprinzip läßt sich
nicht von der allgemeinen politischen Theorie einer Zeit trennen. Das
ist bislang, wo man die föderative Form meist ausschließlich unter dem
Gesichtspunkt der verwaltungstechnischen oder politischen Werte be-
trachtet hat, nicht genügend erkannt worden. Der Föderalismus ist ein
Ergebnis liberalen Denkens, bei dem die (relative) Freiheit des Ein-
zelnen vom Staat auf die (relative) Freiheit des Einzelstaats vom Ober-
staat übertragen und gerechtfertigt wurde. Aber er kann von der Wirt-
schaftsstruktur nicht getrennt werden. Er gedeiht nur, solange es ein
wirklich freie Wirtschaft gibt. Wirtschaftsplanung und Föderalismus
sind unvereinbar. Verfassungen also, die sich aus traditi onalen oder
emotionalen Gründen zu weit auf den Föderalismus einlassen, werden
von selbst anachronistisch und unbrauchbar.

Wesentlich und unentbehrlich dagegen ist und bleibt die föderative

19 Zum gleichen Ergebnis gelangt Otto Kirchheimer, The Decline of Intra-


state Federalism in Western Europe, World Politics Bd. 3 (1951) S. 283 ff.

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Verfassungsrecht und Verfassungsrealität 415

Organisation dort, wo multi-nationale oder stammesmäßige („völki-


sche") Verschiedenheiten bestehen. Die indische Verfassung, die den
Versuch macht, einen wahren Kontinent mit zahllosen Nationalitäten
zu organisieren und zu regieren, könnte ohne eine Art von Über-Fö-
deralismus überhaupt nicht arbeiten. Sie gilt, nach Maßgabe der ersten
Anlage (schedule) zu Art. 1 für mindestens dreierlei Kategorien von
Staaten und territorialen Unterteilungen, die jeweils in ihrer Stellung
zur Union verschieden gestaltet sind. Dieser „quantitative" Föderalis-
mus ergibt sich als Notwendigkeit für ein Land, das beabsichtigt, buch-
stäblich Hunderte von sozial weit verschiedenen Gemeinschaftsgrup-
pen und einigen vierhundert verschiedenen Sprachen und Dialekten
zu einem Staat zusammenwachsen zu lassen. Der Föderalismus in In-
dien - und dies gilt auch für Burma, das gleichfalls eine „Union"
ist - ist demnach ein Mittel staatlichen Zusammenlebens und staat-

licher Vereinheitlichung und dient nicht, wie im Westen, zur Aufrecht-


erhaltung stammesmäßig gerechtfertigter Vielfältigkeit.
Unter den Verfassungen hinter dem Eisernen Vorhang folgt nur die
von Jugoslawien dem föderativen Vorbild der Sowjetunion. SowTeit
das unzureichende Informationsmaterial eine Schlußfolgerung zuläßt,
liegt dort, wie in der UdSSR, der Schwerpunkt mehr in der kulturel-
len Autonomie als in der politischen Selbstverwaltung. Allerdings
scheint sich im Zusammenhang mit Titos taktischer Annäherung an
den Westen auch auf letzterem Gebiet eine Wandlung anzubahnen,
indem die straffe Verwaltungszentralisierung Belgrads jetzt in der
Provinz gelockert wird. Die Frage bleibt allerdings offen, inwieweit
der Wirtschaftskollektivismus, der auf einer einheitlichen Planung be-
ruht, mit dem eingewurzelten Nationalismus und Unabhängigkeits-
streben der Kroaten, Montenegriner, Mazedonier und dem Widerstand
dieser Völkerschaften gegen die serbische Bevormundung wirklich
fertig geworden ist. Andererseits sind echter Föderalismus und natio-
nale Wirtschaftsplanung unvereinbare Gegensätze. Was immer das
zeitweise Nachlassen des zentralistischen Drucks in einem kommunisti-
schen Staat zu bedeuten hat, es ist nicht anzunehmen, daß der Kom-
munismus seiner vordringlichsten Programmaufgabe untreu würde.
Demgemäß ist der Föderalismus der fünf Länder in der ostdeutschen
Republik angesichts der durchaus unitarischen Struktur der Verfas-
sung dieser Republik rein semantisch.
Auch der vielberühmte Föderalismus in Westdeutschland ist künst-
lich und unfruchtbar, trotz der endlosen Arbeit, die Militärregierungen
und deutsche Politiker darauf verwenden zu müssen geglaubt haben.
Äußerlich gesehen ist das Grundgesetz sicherlich weniger unitarisch als

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416 Karl Loe w enstein

Weimar. Aber die unabdingbare Tats


gesamten Bundesgebiets läßt einen ec
mehr zu, und auch auf kulturellem Gebiet vollzieht sich eine unauf-
haltsame Nivellierung und Angleichung. Was bedeuten schon die aus-
führlichen und ehrgeizigen Länderverfassungen für das Volk? Die
wirklichen außenpolitischen, sozialen und wirtschaftlichen Entschei-
dungen fallen in Bonn, und nicht in München, Stuttgart oder gar in
Mainz oder Freiburg.
Auch in Italien stehen bislang die neuen „Regionen" 20 auf dem ge-
duldigen Papier, außer etwa in Sizilien, Sardinien und, in geringerem
Grade, im Alto Adige (Südtirol) ; die Gründe sind die gleichen wie an-
derswo, daß nämlich jedwede Lokalautonomie sich den sozialen und
wirtschaftlichen Gegebenheiten der Gesamtnation unterordnen muß.
Vollends in Latein- Amerika (Argentinien, Brasilien, Kolumbien, Ve-
nezuela und Mexico), wTo die neueren Verfassungen durchweg an ihm
festhielten, war der Föderalismus in der Praxis bislang ohne große
Bedeutung, da die häufig angewandte bundesstaatliche Intervention,
die die Verfassungen zulassen, die Einzelstaaten in den entscheidenden
Augenblicken immer wieder zentralistisch überspielte. Wo Diktaturen
bestehen, ist für den Föderalismus naturgemäß überhaupt kein Platz,
wie sich am strikt unitarischen Charakter des Hitler-Regimes und auch
in Latein- Amerika (Brasilien unter Vargas 21 und Argentinien unter
Perón) zeigte.

6. Wahlrecht , Wahltechniken und politische Parteien

Demokratische Gleichheit als Grundlage der Staatswillensbildung


regiert die Stunde. Von den natürlichen oder künstlichen politischen
Eliten scheint die Welt einstweilen genug zu haben. Das allgemeine
Wahlrecht für beide Geschlechter, manchmal mit erheblich verringer-
tem Mindestwahlalter, gilt überall. Von den früheren Besitz- oder Bil-
dungsqualifikationen ist nichts übrig geblieben. Sogar das Vorrecht der
Graduierten der „alten" Universitäten in Großbritannien, die Inhaber
der Universitätssitze zu wählen, ist von der Labour-Regierung (1948)
abgeschafft worden, zum Bedauern vieler, die damit eine letzte Mög-
lichkeit verschwinden sehen, parteimäßig nicht gebundene „Unabhän-
gige" von Statur ohne den üblichen Wahlkampf in das Unterhaus
zu bringen.

20 Siehe Pietro Virga , Le Regione (Mailand 1949) und Kirchheimer aaO


S. 293 ff.
21 Vgl. Karl Loewenstein, Brazil under Vargas (New York 1942).

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Verfassungsrecht und Verfassungsrealität 417

Dagegen ist der Kampf um das Wahlsystem aufs neue entbrannt.


Nach dem Ersten Weltkrieg war die Verhältniswahl in den neuen Ver-
fassungen Alleinherrscherin. Es ist ein unbestreitbares Verdienst der
Wissenschaft von der Politik - die im kontinentalen Europa neuer-
dings mehr Beachtung findet, als es die positivistische Tradition des
römischen Rechts früher zuließ - , den Völkern überzeugend vor
Augen zu führen, welches Unheil der Proporz in der Parteienstruktur
und damit in der Staatswillensbildung angerichtet hat. Mehr als jedes
andere Wahlsystem spielt die Verhältniswahl die wirkliche Ausübung
der politischen Macht in die Hände der Parteimaschinen und ihrer
Bürokratien. Rousseaus Wort, daß der Souverän nur am Wahltage
wirklich frei ist, wird dadurch Lügen gestraft: Selbst wenn es zur Urne
geht, ist der moderne Wähler nichts als der Leibeigene der Parteien.
Das Vorbild der amerikanischen Vorwahl war mit Recht nicht ver-
lockend genug, um zur Nachahmung zu reizen, selbst wenn die die
verfassunggebende Nationalversammlung beherrschenden Parteiinstan-
zen seine ernstliche Erörterung zugelassen hätten.
Das Ergebnis ist, daß der parlamentarische Betrieb sich überall so-
zusagen in einem leeren politischen Raum bewegt. Überall ist zu be-
obachten, wie wenig Respekt die Berufspolitiker beim Volk genießen,
und diese Nichtachtung mußte sich dann notwendigerweise auch auf
die Parlamente selbst übertragen. Einzig und allein im britischen Milieu
konnte sich das Parlament einen Teil seines früheren Prestiges erhal-
ten.

Der Entschluß, zum unverfälschten Mehrheitswahlrecht überzuge-


hen, ringt sich aber nur schwer durch. Ob er weise ist und die be-
stehende Parteienstagnation wieder in Fluß bringen könnte, kann im
Rahmen dieser Abhandlung nicht erörtert werden. In den weltpoliti-
schen marginalen Staaten - der Schweiz, Irland, Belgien, Holland etwa
- hat sich der Proporz verhältnismäßig gut eingelebt und blieb ohne
die nachteiligen Wirkungen wie in Deutschland oder Frankreich. Es
handelt sich dabei wohl auch in der Mehrzahl um politisch reife Na-
tionen, die sich ihre gesellschaftliche Geschlossenheit mehr oder min-
der bewahrt haben. Als Übergangsform wird jetzt vielfach mit einer
Mischung von Verhältnis- und Mehrheitswahltechniken experimentiert,
mit einstweilen unschlüssigen Ergebnissen. Die Mischung ist unge-
fähr wie die Verbindung von Himbeersaft und Schwefelsäure. Wie die
letztere, schlägt der Proporz durch. Italien, Israel, überraschender-
weise auch Japan, operieren nach wie vor mit dem unverfälschten
V erhältnis Wahlsystem.
Nichts beleuchtet aber die Spannung zwischen dem Nominalismus

AöR 77 Heft 4 27

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418 Karl Loe w enstein

der Verfassung und der politischen


schweigen der „Grundgesetze über
kein Wahlsystem und keine moderne Demokratie funktionieren
könnte. Politische Parteien werden allerdings in der Bonner (Art. 21)
und der italienischen (Art. 49) Verfassung als anerkannte Mittel zur
Bildung des Volkswillens erwähnt. Das ist aber auch alles. Der Hin-
weis auf die politischen Parteien als ein Sonderfall der Vereinigungs-
freiheit im Rahmen der Rechte-Erklärungen ist natürlich nur von
deklaratorisch-programmatischer Bedeutung.
Es soll unumwunden zugegeben werden, daß die Eingliederung der
politischen Partei in das eigentliche Verfassungsgefüge ein überaus
schwieriges Problem des verfassungstechnischen Neubaus und mög-
licherweise augenblicklich einer Formallösung unzugänglich ist. Aber
es muß nicht minder einleuchten, daß das Stillschweigen aller Verfas-
sungen gegenüber dem Hervortritt neuer politischer Eliten ihrer Wirk-
lichkeit schweren Abbruch tut: im Westen die Parteibosse und Büro-
kratien und die parlamentarischen Oligarchien, im Osten die macht-
vollen Schichten der Funktionäre der Einheitspartei und der techni-
schen Manager der staatseigenen Betriebe. Für die Massen haben sie
eine viel stärkere Realität als die überall gewissenhaft proklamierte
Volkssouveränität (Frankreich Art. 3 Abs. 1, Italien Art. 1 Abs. 2,
Bonner Grundgesetz Art. 20 Abs. 2). Wer sich fragt, wo der Standort
der politischen Souveränität ist, oder, anders gesehen, wo das Schwer-
gewicht der politischen Macht liegt, wird unfehlbar auf die Parteiolig-
archie deuten22. Die stereotype Behauptung der Bonner Verfassung
(Art. 38 Abs. 1), der Abgeordnete sei der Vertreter der Gesamtnation,
ist ein Stück fast unerträglicher Semantik.
Die Sachlage verschlimmert sich angesichts der offenkundigen Ab-
neigung der neuen Verfassungen, das Volk selbst am politischen Be-
trieb teilnehmen zu lassen. Was ihm verfassungsmäßig geblieben ist,
ist der Wahlakt bei den in regelmäßigen Zeitabständen stattfindenden
Wahlen oder bei gelegentlicher Parlamentsauf lösung. Volksbegehren und
Volksabstimmung sind fast völlig aufgegeben, außer die letztere in
Verbindung mit einer Verfassungsänderung (so etwa in Italien,
Art. 138, oder Frankreich, Art. 90), geschweige denn in politisch we-
niger durchorganisierten Staaten. Die Ergebnisse der unmittelbaren
22 Andererseits ist die Wichtigkeit der Parteistruktur der Verfassungs-
theorie keineswegs entgangen; siehe beispielsweise Arrighi, Le Statut des
Partis (Paris 1948), Pedro J. Frias , El Ordenamiento Legal des Los Partidos
Políticos (Buenos-Aires 1944); für Deutschland siehe Wilhelm Grewe, Zum
Begriff der politischen Partei, in der Festgabe für Erich Kaufmann (Stutt-
gart-Köln 1951), S. 65 ff.

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Verfassungsrecht und Verfassungsrealität 419

Demokratie nach 1919 mögen, oberflächlich gesehen, nicht allzu er-


mutigend gewesen sein; in Frankreich wirkt die Erinnerung an die
diktatorialen Plebiszite nach. Aber der letzte Grund ist eher die Angst
der Parteioligarchien, ihr politisches Monopol könne vom Volk außer-
halb der Partei-Cadres angetastet werden. Das Endergebnis ist, daß
die neuen Verfassungen weniger demokratisch sind als ihre Vorgänger.
In diesem Sinn ist die verfassungsmäßig verbriefte Monopolstellung
der Einheits- oder Staatspartei in den „Volksdemokratien des Ostens
viel ehrlicher, und sie konnten es sich wohl auch leisten, ehrlicher zu
sein. Die Verfassung ist dort nicht der Rahmen, innerhalb dessen sich
das Spiel der politischen Kräfte in der Zukunft frei entfalten soll, son-
dern sie verankert die wirkliche Machtsituation, die in dem betreifen-
den Land in diesem Zeitpunkt besteht. Hier braucht die Partei nicht
totgeschwiegen zu werden, im Gegenteil, ihre überragende Stellung
wird anerkannt und entsprechend unterstrichen. Sie ist hier keine Ab-
straktion, sondern eine unmittelbare Wirklichkeit und als solche ein
wesentlicher Bestandteil des Regierungssystems. Bereits in der Sowjet-
verfassung von 1936 ist die kommunistische Partei als „der Vortrupp
der arbeitenden Massen" ein anerkanntes Staatsorgan (Art. 126, 141).
Da die Verfassungen in einigen Satellitenstaaten geschrieben wurden,
als der Übergang zur Einheitspartei noch nicht ganz vollzogen war,
zieht man am besten die spätere (1949) ungarische Verfassung heran.
Hier gründet sich die „Volksdemokratie unmittelbar auf die „Organi-
sation der klassenbewußten Arbeiter" und die „führenden Kräfte in
politischen und sozialen Tätigkeiten" (Art. 56 Abs. 2). Von den ins-
gesamt 36 Stellen, an denen dieses Dokument „die Arbeiter", „die ar-
beitende Klasse" oder „die klassenbewußten Arbeiter" erwähnt, ver-
weisen nicht wenige auf sie als die Träger und nicht länger als die
Objekte der politischen* Macht. Und demgemäß konnte die Verfassung
der Deutschen Demokratischen Republik die Stellung des Minister-
präsidenten der stärksten Partei zuweisen, weil in der Zwischenzeit
der Machtapparat so entwickelt war, daß dies automatisch die Sozia-
listische Einheitspartei sein würde.

7. Die Verfassungsänderung

Kein Verfassungsinstrument unserer revolutionären Epoche kann


damit rechnen, daß seine Lösungen, so sorgfältig sie auch auf die Zu-
kunft abstellen, von Dauer sind. Darin unterscheiden sie sich von dem
optimistischen 18. Jahrhundert; die Direktorialverfassung von 1795
war im Grunde überhaupt nicht abzuändern. Dementsprechend ist das

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420 Karl Loewenstein

verfassungsändernde Verfahren f
elastisch gehalten, weder zu groß
sich ändernden Verhältnissen, einen revolutionären Bruch zur Folge
hätten, noch zu leicht gemacht, um grundlegende Änderungen ohne
die Zustimmung qualifizierter Mehrheiten zu erlauben. Das Verfahren
ist aber in dem Sinne straffer geworden, daß es nicht mehr leicht um-
gangen werden kann. In Frankreich stellt das Comité Constitutionnel
(Art. 91 ff.) fest, ob ein von der Nationalversammlung erlassenes Ge-
setz eine Verfassungsänderung enthält. Irgendwelche Bedeutung hat
die Einrichtung bislang allerdings nicht erlangt. In Westdeutschland
(und ebenso in einigen Ländern) erfordert die Verfassungsänderung
die ausdrückliche Änderung oder Ergänzung des Verfassungs Wortlauts
(Art. 79) 23. Um so unbegreiflicher ist die um sich greifende Illusion,
es könnten gewisse Grundsätzlichkeiten der Verfassungsordnung recht-
lich „unabänderbar" gemacht werden, indem verboten wird, daß sie
zum Gegenstand der Verfassungsänderung gemacht werden, wie die
republikanische Staatsform (Italien Art. 139, Frankreich Art. 95) oder
die Föderativorganisation und gewisse Grundrechte (Bonn Art. 79
Abs. 3). Dagegen ist die Vorschrift der indischen Verfassung (Sektion
305), daß bestimmten Minderheiten (wie den Moslems und den auf-
gezählten Kasten) während der Dauer von zehn Jahren ihre Sitze in
den Gesetzgebungskörperschaften der Union und der Staaten nicht
genommen werden dürfen, nur eine funktionelle Schutzvorschrift ohne
doktrinäre Absichten.

8. Die richterliche Gewalt und die Judizialisierung der politischen


Dynamik

Eine der unerschütterlichen und unerschütterten Grundlagen des


westlichen Konstitutionalismus ist die scharfe Trennung des richter-
lichen von den beiden anderen Gewaltenträgern und, im Zusammen-
hang damit, die richterliche Unabhängigkeit mit ihrer Garantie der
Unabsetzbarkeit. Dagegen verwirft die politische Theorie der Sowjets
die Gewaltentrennung, was immer ihre Form oder Verkleidung ist.
Unter der Konventsregierungsform ist daher die capitis diminutio der
souveränen Versammlung, die in einer unabhängigen richterlichen
Gewalt oder gar in der richterlichen Nachprüfung der Verfassungs-
mäßigkeit der Gesetzgebung läge, undenkbar. Einigen nichtssagenden
23 Damit hat das verfassungspolitische Ziel von Karl Loewenstein , Er-
scheinungsformen der Verfassungsänderung (Tübingen 1932) verspätete,
doch nicht zu späte Frucht getragen.

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Verfassungsrecht und Verfassungsrealität 421

Verbal vorbehalten zum Trotz ist daher in den Sowjetkreis-Verfassun-


gen die richterliche Gewalt der Legislative absolut unter- und nach-
geordnet, was in der Wahl des Richterpersonals durch das Parlament
und in dem Recht des letzteren zur Abberufung der Richter zum Aus-
druck kommt: Beispiele sind die Deutsche Demokratische Republik
(Art. 130) und Ungarn (Art. 39).
Im Westen dagegen wurde ernstlich versucht, eine sachlich nicht ge-
rechtfertigte Einflußnahme auf Anstellung und Beförderung des Rich-
terpersonals auszuschließen. Die Neutralisierung der Parteienpatro-
nage wird in Frankreich durch den Conseil Suprême de la Magistra-
ture (Art. 83 ff.) angestrebt, in Italien dadurch, daß die Magistratur
als autonome Körperschaft ausgestaltet ist, der die ausschließliche Ver-
antwortung für die Zusammensetzung und Überwachung des richter-
lichen Personals übertragen ist (Art. 104 ff.). Westdeutschland geht in
der Gleichstellung der richterlichen mit den beiden anderen Gewalten
am weitesten. Gegen die technische Seite dieser Vorschriften (Art. 92 ff.,
besonders Art. 97 und 98) ließe sich allerhand einwenden; aber der
wirkliche Fehler liegt darin, daß die Bestimmungen am eigentlichen
Problem vorbeigehen. In Deutschland sind die Richter traditions-
gemäß Staatsbeamte, daher können sie letztlich vom Staat nicht unab-
hängig sein. Die richterliche Unabhängigkeit ist über das Formal-
rechtliche hinaus ein soziologisches Problem, dem natürlich auch die
Entnazifizierung nicht hat gerecht werden können, weil sie nicht dar-
auf abgestellt war und auch nicht darauf abstellen konnte, den Kasten-
geist und die Staatsmentalität des Richtertums zu brechen. Auch der
amerikanische Bundesrichter ist vom Kastengefühl nicht frei; es ist
aber dort professionell bedingt und hat nichts mit Unterwürfigkeit
gegenüber dem Staat zu tun.
Das Recht des Richters, die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zu
überprüfen, das nach 1919 lediglich im bundesstaatlichen Bereich ge-
golten hatte, scheint sich nunmehr allgemeiner einbürgern zu wollen.
In Italien (Art. 134) und Westdeutschland (Art. 93) ist es einem eige-
nen Verfassungsgerichtshof zugewiesen. In Japan (Art. 76 Abs. 3
und 8) ist es in der richterlichen Funktion als solcher inbegriffen; in
Frankreich erscheint es, in starker Abschwächung, als die Aufgabe
eines speziellen Verfassungsausschusses, der, auf Verlangen des Prä-
sidenten der Republik und des Conseil de la République lediglich fest-
zustellen hat, ob ein von der Nationalversammlung erlassenes Gesetz
eine formelle Verfassungsänderung erfordere (Art. 91 ff.). Wie nach
der französischen Tradition zu erwarten war, ist die Einrichtung auf
dem Papier geblieben, was allerdings durch die herkömmliche und in

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422 Karl Loewenstein

ständiger Ausweitung begriffen


tungsakte durch den Conseil
d'Eta
Was dagegen als eine wirkliche
sungen angesehen werden kann, ist die Erscheinung, die sich als die
Judizialisierung der politischen Macht bezeichnen läßt; es handelt sich
um die Versuche, die politische Dynamik dadurch zu rationalisieren
und zu zähmen, daß man sie richterlichen Entscheidungen unterwirft24.
Dem Verfassungsgerichtshof ist in Italien (Art. 134 ff.) die Aufgabe
zugewiesen, „jurisdiktioneile Konflikte zwischen den Staatsgewalten",
oder, in Deutschland - Bonn (Art. 93), „Streitigkeiten über den Um-
fang der Rechte und Pflichten eines obersten Bundesorgans" zu ent-
scheiden. Soweit sich solche Konflikte - die meist in der Form von
Auslegungsdifferenzen vorkommen werden - durch positive Normen
des öffentlichen Rechts lösen lassen, mag die Judizialisierung ihr Gutes
haben. Diese Situation dürfte aber selten vorliegen. Wenn dagegen die
Kompetenzzuweisungen der Verfassung von den einzelnen Staats-
organen, die ja fast durchweg parteipolitisch orientiert sind, dazu be-
nutzt werden, um die Oberhand im politischen Machtkampf zu gewin-
nen - etwa in einem Konflikt zwischen dem Präsidenten und der Re-
gierung, oder zwischen Regierung und Parlament - , dann wird sich
erweisen, daß die Machtansprüche eines Staatsorgans nicht dadurch
beseitigt werden können, daß man sie auf das Prokrustesbett recht-
licher Formeln zwingt. Es liegt darin eine gefährliche Überschätzung
der richterlichen Gestaltungsmöglichkeiten, besonders in Ländern, wo
die richterliche Gewalt nicht das traditionelle Prestige hat wTie etwa im
angelsächsischen Milieu. In diesem Zusammenhang wird man sich
nicht ohne Unbehagen der fragwürdigen Figur erinnern, die der ehe-
malige Reichsstaatsgerichtshof im Preußen-Reich-Konflikt von 1932
machte, als der Versuch unternommen wurde, das Fell des Bären zu
waschen, ohne es naß zu machen. In älteren und darum gewitzigteren
Demokratien legen sich die Gerichte weise Selbstbeschränkung auf,
indem sie es ablehnen, über „politische Fragen" oder „actes de gou-
vernement" zu judizieren. In Deutschland hat umgekehrt der ein-
schlägige Begriff der „justizlosen Hoheitsakte" in der Vergangenheit
eine so unheilvolle Rolle gespielt - und scheint, wenn nicht die Anzei-
chen trügen, sie wieder spielen zu wollen - , daß man auf den Versuch,
sie der richterlichen Auslegung zu unterstellen, nicht allzu große Hoff-
nungen setzen wird. Die wirklichen Spannungen des Kampfes um die
politische Macht sind letzten Endes eben nicht justiziabel. Verläßt sich
24 Siehe u. a. Werner Weber, Weimarer Verfassung und Bonner Grund-
gesetz (Göttingen 1949).

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Verfassungsrecht und Verfassungsrealität 423

eine Verfassungsordnung zu sehr auf die normative Legalität, so kann


es leicht passieren, daß das, was eine Verfassung anstrebt und anstre-
ben sollte, unmöglich gemacht oder zumindest sehr erschwert wird:
den Ausgleich der politischen Machtspannungen der Parteien und In-
teressentengruppen durch gegenseitige Angleichung, das heißt durch
ein Kompromiß, zu erreichen. Auch für die Politik gilt, was jedem jun-
gen Anwalt ins Stammbuch geschrieben werden sollte: Ein magerer
Vergleich ist besser als ein fetter Prozeß.

9. Die Rechte- Erklärungen

Für eine ontologisch eingestellte Betrachtungsweise der neueren


Verfassungen sind offensichtlich Schein und Wirklichkeit, Anspruch
und Erfüllung der Rechte-Erklärungen von besonderer Bedeutung.
In der Frühzeit der geschriebenen Verfassung waren ihre liberalen
und egalitären Postulate ebenso wichtig, wenn nicht wichtiger als die
in der Verfassung verkörperte Struktur der öffentlichen Ordnung. In
Frankreich erlangte die Erklärung von 1789 im Laufe der Zeit eine
derartige über- und außerkonstitutionelle Geltung, daß sie wirklich
blieb, selbst wenn sie, wie es in der Verfassung von 1875 der Fall war,
nicht ausdrücklich rezipiert wurde. Die (zweite) französische Verfas-
sung von 1946 konnte sich daher auf die allgemeine Gültigkeitserklä-
rung der Deklaration von 1789 in der Präambel beschränken, unter
Hinzufügung einer Reihe von sozialen und wirtschaftlichen Rechten,
die die Revolutionsväter nicht hatten voraussehen können.
Während des 19. Jahrhunderts vollzog sich aber ein Bedeutungs-
wandel. Je mehr unter den Verfassungen des liberalen Bürgertums der
Liberalismus als selbstverständliche Voraussetzung der Staatsgestal-
tung galt, desto mehr verlagerte sich das Schwergewicht auf die funk-
tionelle Gestaltung. Vorausgesetzt, daß die letztere entsprechend ver-
nünftig eingerichtet war, konnte von ihr erwartet werden, daß in ihr
jede Sozial- und Wirtschaftsordnung Platz finden würde, welche die
Mehrheit auf verfassungsmäßigem Weg herstellen wollte. Wenn die
Bismarcksche Verfassung von einer Rechte-Erklärung Abstand nahm,
so geschah dies nicht etwa aus autoritärer Verachtung ihres Schöpfers
gegenüber den bürgerlichen Rechten, sondern weil damals der Kern
einer Verfassung in ihrer Gestaltung der politischen Ordnung lag; was
der Bürger an Individualrechten beanspruchen konnte, wurde ihm im
Rahmen der ordentlichen Gesetzgebung zuteil, und er fuhr dabei kaum
schlechter, als wenn er sich auf eine formelle Rechte-Erklärung hätte
berufen können. In Frankreich nach 1875 war es ähnlich.

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424 Karl Loewenstein

Die Wendung trat nach dem Er


die Sozialisten, die zum ersten Mal
darauf, den klassischen Katalog d
die Freiheit vom Staat garantier
lichen Sicherheit und sozialen G
aber auf halbem Wege stecken, in der, wie sich zeigen sollte, unge-
rechtfertigten Erwartung, die Ausfüllung des vorgezeichneten Pro-
gramms einer neuen Sozialordnung könne dem freien Wettbewerb der
sich im Rahmen der Verfassung betätigenden politischen Kräfte über-
lassen bleiben. Zwar wurde nach 1919 der wirtschaftliche und soziale
Gehalt der Rechte-Erklärungen mehr betont, aber noch immer bestand
die absolute Trennung von Rechte-Erklärungen und politischer Gestal-
tung der Gesellschaftsordnung. Die Regierungsstruktur war gegenüber
den programmatischen Anforderungen der Rechte-Erklärungen noch
immer neutral.

Es läßt sich kaum eine schärfere Ausprägung des Unterschieds und


Gegensatzes zwischen Westen und Osten finden als die Einstellung der
beiderseitigen Verfassungen zur Rechte-Erklärung. In den meisten
„Volksdemokratien ist das Verhältnis zwischen dem funktionellen
und dem ideologischen Inhalt der Verfassung verkehrt. Was verschie-
dentlich die sozio-ökonomische Struktur oder Organisation genannt
wird **, ist von den klassischen liberalen Rechten abgeschieden, die
ohnehin in einem Polizeistaat nur semantische Bedeutung haben. Dar-
über hinaus wird die neue Sozial- und Wirtschaftsordnung in den
funktionellen Teil der Verfassung verbindlich eingebaut. In den So-
wjet-Verfassungen sind Nationalisierung der Naturschätze, Staats-
eigentum an den Produktionsmitteln, Wirtschaftsplanung, staatliches
Monopol des auswärtigen Handels und all die damit verknüpften Be-
schränkungen des Privateigentums nicht mehr bloße Programm-Er-
klärungen; sie sind positives Verfassungsrecht und als solches mit der
Regierungsform unlöslich verbunden. Die politische Gestaltung der
Staatsordnung ist der Sozialordnung angepaßt, der klassische Dualis-
mus von Rechte-Erklärung und politischer Struktur aufgehoben.
Im Westen dagegen ist die Rechte-Erklärung weder als Programm
noch als Wirklichkeit wesentlich über den nach dem Ersten Weltkrieg

25 „Soziale Struktur" (Ungarn Art. 4 - 9), „Soziale und wirtschaftliche


Struktur" (Rumänien Art. 5 - 15), „Sozio-ökonomische Organisation" (Ju-
goslawien Art. 14 - 20), „Organisation der öffentlichen Wirtschaft" (Bulga-
rien Art. 6 - 14). Der Bruch ist weniger markant in der Verfassung der Deut-
schen Demokratischen Republik, wo die wirtschaftliche Ordnung (Art. 19
bis 29) mit den anderen Rechtekategorien noch in einem gemeinsamen Ab-
schnitt zusammengefaßt erscheint.

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Verfassungsrecht und Verfassungsrealität 425

erreichten Stand hinausgekommen. Man findet noch immer, wie bei-


spielsweise in der hier besonders altmodischen italienischen Verfas-
sung, den langen und prätenziösen Katechismus sozialer, wirtschaft-
licher, kultureller Forderungen oder Versprechungen, die nirgends
derart zu subjektiven Rechten erhoben sind, daß der Bürger sie gegen
den Staat erzwingen könnte, oder, was auf das gleiche hinausläuft, daß
sie dem Staat die Pflicht auferlegten, die Postulate gesetzgeberisch in
die Wirklichkeit umzusetzen. Und da diese Rechte gegenüber dem
Staat nicht erzwingbar sind, sind sie illusionär. Wer auf sie vertraut,
kann höchstens durch seine Stimme den Parteien zur Macht verhelfen,
welche sie gesetzgeberisch zu komplementieren versprechen. Das Pro-
blem ist vom Bonner Grundgesetz keineswegs verkannt worden; es
geht weiter als andere Instrumente, indem es die Grundrechte zum
„unmittelbar geltenden Recht" erhebt, die Gesetzgebung, Verwaltung
und Rechtsprechung „binden" (Art. 1 Abs. 3). Der nachfolgende Ka-
talog enthält aber fast nur die klassischen Freiheitsrechte. Aber was
bedeutet die Unverletzlichkeit der Wohnung dem, der keine Wohnung
hat, oder die Freiheit der Berufsausübung und der Wahl des Arbeits-
platzes dem, der keine Arbeit findet?
Macht man sich diese Dinge klar, so wird man sich der Unwirk-
lichkeit der Rechte-Erklärungen des Westens bewußt. Trotz ihrer oft
bis zur Geschwätzigkeit gehenden Ausführlichkeit gehen sie den kar-
dinalen sozial- und wirtschaftspolitischen Entscheidungen geflissent-
lich aus dem Weg. Dies gilt vor allem für die Beziehungen zwischen
Kapital und Arbeit und den Eigentumskomplex, der letztlich entschei-
det zwischen der marktwirtschaftlichen Freiheit des laissez faire und
staatswirtschaftlicher Planung und Lenkung, zwischen Privatkapita-
lismus und Sozialisierung, zwischen Individualismus und Kollektivis-
mus. Die Unentschiedenheit der Sozialstruktur geht natürlich auf die
Zusammensetzung der bürgerlichen Parteikoalitionen zurück, die für
die Verfassungen verantwortlich zeichnen. In den drei westlichen
Schlüsselstaaten Frankreich, Westdeutschland und Italien waren es die
Christlichen Demokraten, die, wie bekannt, an einer „liberalen" So-
zialordnung festhielten.
Hier wird man sich der eigentlichen Ursache des Auseinanderklaf-
fens von sozialer Absicht und Verwirklichung bewußt werden müssen.
Wie auf dem Gebiete des Politischen, sind auch im wirtschaftlichen Be-
reich Freiheit und Gleichheit schwer unter ein und dasselbe Dach zu
bringen. Eine Gesellschaftsordnung, der wirtschaftliche Sicherheit und
soziale Gerechtigkeit mehr sein wollen als wohlklingende Programm-
punkte, kann sich nicht auf die vielberühmte Gutheit der menschlichen

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426 Karl Loewenstein

Natur verlassen; ein Staat, der damit Ernst machen will, kann des
Zwangs nicht entraten. Der Liberalismus und die wirtschaftlich ge-
sicherte Existenz der Massen im Wohlfahrtsstaat sind vielleicht in der
Theorie, nicht aber in der Praxis vereinbar. Eine Gemeinschaftsord-
nung, die beispielsweise das Recht auf eine menschenwürdige Behau-
sung verwirklichen will, muß den Bau- und Wohnungsmarkt lenken;
der Staat, der ein Existenzminimum als ein Recht anerkennt, kann sich
nicht auf das Zufallsspiel von Angebot und Nachfrage des Arbeits-
marktes verlassen. Die Verwirklichung selbst der elementarsten sozia-
len Forderungen, geschweige denn ihre Festlegung als „subjektive
Rechte", führt unweigerlich zu Wirtschaftsplanung, zu Staatseingrif-
fen in so gut wie alle, zur Verstaatlichung vieler Wirtschaftsformen.
Diesen Rubikon zu überqueren, waren die Verfassunggeber nicht ge-
willt. Das gibt den „neutralen" Verfassungen seit 1945 ihren Zwitter-
charakter und konnte nicht verfehlen, den Massen den Gegensatz von
Schein und Wirklichkeit vor Augen zu führen.
Man kann allerdings von einer Verfassung nichts Unmögliches ver-
langen: sie kann weder Arbeit noch Brot verschaffen. Aber man kann
sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die westliche Verfassung an-
gesichts der Verwaschenheit ihres sozial wirtschaftlichen Programms
ihre Anziehungskraft für die Massen weitgehend eingebüßt hat. Es ist
nicht leicht, sich vorzustellen, daß etwa unter der westdeutschen Bun-
desverfassung oder der französischen Verfassung ein sozialistisches
oder kollektivistisches System verwirklicht werden könnte, vorausge-
setzt, daß die Linksparteien die politische Macht im Wege des Stimm-
zettels erlangen würden. Käme es so weit, so würde die Verfassungs-
ordnung in ihrer derzeitigen Gestalt gesprengt werden. Die Engländer
mit ihrer ungeschriebenen Verfassung sind da besser dran: An die
Stelle einer Verfassungsänderung trat das Plebiszit der allgemeinen
Wahlen von 1945, das eine Besitz- und Klassenumschichtung revolu-
tionären Ausmaßes einleitete, ohne daß es der Verbrief ung in einer
Rechte-Erklärung bedurft hätte. Ontologisch betrachtet, ist es das Ge-
biet der Grundrechte, auf dem sich die Kluft zwischen Schein und
Wirklichkeit am stärksten ausprägt.

10. Über die Redaktionstechnik der Verfassungsschöpfung

Der soziologischen Tragweite der redaktionellen Technik, die bei der


Abfassung des Verfassungstextes zur Anwendung kommt und die sich
nicht völlig mit dem deckt, was ein Meister des öffentlichen Rechts als

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Verfassungsrc vlit und Verfassungsrealität 427

den „Stil" bezeichnet hat 20, wird derzeit noch nicht genügend Auf-
merksamkeit geschenkt. Auch hier können nicht mehr als Andeutun-
gen gebracht werden. Beispielsweise leitet sich die Symbolkraft der
amerikanischen Bundesverfassung nicht weniger als von ihrer funk-
tionellen Nützlichkeit von der ungewöhnlich glücklichen sprachlichen
Verbindung von Inhalt und Form ab. Daß jemand, wie Stendhal , der
es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, allmorgendlich seinen Prosastil
an der Lektüre des Code Civil zu inspirieren, dazu den Text etwa der
französischen oder der Bonner Verfassung benutzen würde, ist recht
u n wah r scheinlich .

Das Handwerkliche in der Abfassung einer Verfassung hängt, neben


den nationalen Gewohnheiten, von den verschiedensten Faktoren ab,
von der soziologisch-beruflichen Zusammensetzung der verfassung-
gebenden Versammlung, von dem, was man das intellektuelle Zeit-
klima nennen könnte, von der Maßgeblichkeit fremder Einflüsse und
Muster, wozu auch in den besonderen Fällen Deutschlands und Japans
die Ein- und Mitwirkung der Besatzungsmächte gehört. Möglicherweise
ist die redaktionelle Aufgabe leichter für ein Volk, das ohne verfas-
sungs-historische Präzedenzien von vorne anfangen kann, obwohl hier
die Nachahmung fremder Muster besonders naheliegt. Meist ist die
neue Verfassung nur ein Glied in der Kette von Ausdrucksformen des
nationalen politischen Willens wie in Deutschland und Frankreich, wo
die Vergangenheit mächtig auf die Gegenwart einwirkte. Die mehr als
dürftige Redaktionstechnik der französischen Verfassung von 1875, be-
kanntlich nur ein höchst lose zusammengefügtes Bündel von Einzel-
gesetzen, war durch die attente monarchique bedingt und nur als Zwi-
schenlösung gedacht. Daß sich der rohgezimmerte Notbau trotzdem
fünfundsechzig Jahre erhielt, spricht sehr für den politischen Ver-
stand der Franzosen. Instrumente, die sich ein bestimmter politischer
Führer zum Eigengebrauch schafft, sind in der Regel innerlich kon-
sistenter und entsprechen der augenblicklich bestehenden Machtlage
mehr, was z. B. an der Napoleonischen Verfassung des Jahres VIII
und der Bismarckschen Verfassung von 1871 erkannt werden mag27.
Die Redaktionstechnik muß dagegen bei Verfassungen, die einer
26 Heinrich Trie pel, Vom Stil des Rechts (Heidelberg 1947). Die Frage ist
auch nicht ohne praktische Bedeutung, beispielsweise im Zusammenhang
damit, ob die Vorsprüche (Präambeln), mit denen jetzt die Mehrzahl der
Verfassungen ausgestattet ist, positives Recht sind.
" bine Ausnahmestellung in der Geschichte der Verfassungsschöpfung
nimmt die dichterische Vision ein, die Gabriele d'Annunzio kurz nach dem
Ersten Weltkrieg in der Verfassung für seinen „Staat" Fiume niedergelegt
hat; siehe „La Reggenza Italiana del Carnero", abgedruckt in II Popolo
d'Italia vom 1. September 1920.

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428 Karl Loewenstein

Parteienkoalition entstammen, zwang


politische Kompromiß auch formal
weiteres klar, daß eine Verfassung, die sich die Aufgabe setzt, den
Machtkonflikt durch die Einfügung von Hemmungen und Gegenge-
wichten zu regulieren oder einzudämmen, kompliziert sein wird, und
je komplizierter ein Dokument ist, desto größere redaktionelle Kunst
verlangt es. Da die Verfassungen hinter dem Eisernen Vorhang nichts
weiter sind als die formelle Festlegung der bestehenden Machtsituation,
das heißt der Herrschaft der Kommunistischen Partei und ihrer Tech-

niken und Ideologien, können sie es sich leisten, einfach, geradlinig


und unkompliziert zu sein, und sie können auf die verwickelte Mecha-
nik verzichten, die andere freie Verfassungen brauchen, um zu ver-
hindern, daß ein Staatsorgan auf Kosten der anderen zu sehr an Macht
gewinnt. Was das Handwerkliche ihrer Stilisierung anbelangt, so kann
nur der urteilen, dem die Originale zugänglich sind; in der Übersetzung
sind sie alle gleich und gleichmäßig langweilig und hohl. Die französi-
sche Verfassung von 1946 macht der Nationaltugend begrifflicher Klar-
heit kaum Ehre, wahrscheinlich weil sie auf ein vorhergegangenes Do-
kument aufgepfropft werden mußte. Die israelitische Verfassung ver-
dankt ihre vorbildliche Präzision dem Umstand, daß sie von einer klei-
nen Gruppe von Fachleuten ausgearbeitet wurde, die wußten, was sie
wollten, und die italienische ist durch Klarheit und logischen Aufbau,
neben bedeutender sprachlicher Gewandtheit, ausgezeichnet.
Ein verwandtes Problem ist das der Ausführlichkeit und Länge. Die
Idealverfassung wird nur die wesentlichen Elemente der nationalen
politischen Ordnung - Organe, Funktionen und deren jurisdiktioneile
Abgrenzung - enthalten, aber gleichzeitig auch alle solchen Elemente.
Soll eine Verfassung „krisenfest" gestaltet sein, so bedeutet das in der
Praxis, daß für alle „Klemmen" zwischen den an der Bildung des
Staatswillens beteiligten Faktoren Lösungen vor- und vorausgesehen
werden müssen. Die Folge allerdings ist, daß ein solches Dokument
nichts dem Spiel der politischen Dynamik überlassen kann, daß es
alle denkbar möglichen Auslegungen vorwegnehmen, daß es also sehr
detailliert gehalten werden muß. Im Streben nach Lückenlosigkeit, ein
Vorzug, oder, wenn man will, ein Laster sowohl von Weimar als auch
von Bonn, wird es damit zu einer Art Kodex, der die Lückenlosigkeit
mit Komplexität und Länge erkaufen muß. Verfassungen, die sich eher
auf die Weisheit, Mäßigung und Kompromißbereitschaft derer ver-
lassen, die damit umzugehen haben, brauchen weniger eingehend zu
sein, und das war ein allgemeines Charakteristikum der Verfassungen
des 19. Jahrhunderts. Die Satellitenverfassungen wiederum, die nicht

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Verfassungsrecht und Verfassungsrealität 429

Gefahr laufen, ernsthaften Spannungen der politischen Macht ausge-


setzt zu werden, haben den Vorteil der Kürze und, wenigstens äußer-
lich, der Präzision.
Als Ganzes gesehen, ist der jüngste Jahrgang der Verfassungen wort-
reicher und mehr auf Ausführlichkeit bedacht als frühere Verfassungs-
familien. Man darf aber hierbei die nationale „Stil"tradition nicht
übersehen. Die angelsächsische Gesetzgebungstechnik ist gewohnt, alle
vorhersehbaren Möglichkeiten schriftlich festzulegen; es soll dann so
wenig wie möglich hineininterpretiert werden. Was nicht geschrieben
ist, gilt eben nicht. Damit erklären sich die Länge und Vollständigkeit
der indischen Verfassung, deren oft überlange 315 Artikel und 8 An-
lagen ein ganzes Buch füllen, und die burmesische Verfassung mit
224 Artikeln tut es ihr fast gleich. Das ließ sich allerdings angesichts
der multinationalen Bevölkerung und der religiösen Gegensätze, die die
Verfassungen integrieren wollen, kaum vermeiden. Im Westen schlägt
die bayerische Verfassung alle Rekorde an Länge, ohne daß man ver-
sucht wäre, ihr auch den Preis redaktioneller Vollkommenheit zuzu-
gestehen.
Es ist kaum anzunehmen, daß irgendeine der neuen Verfassungen
mit der Zeit die Symbolkraft oder das Ansehen als ein Stück klassi-
scher Literatur erreichen wird, deren sich die amerikanische Verfas-
sung nicht mit Unrecht rühmen kann. Es sind Instrumente, die Juri-
sten geschrieben haben, damit Juristen sie anwenden. Das war viel-
leicht unvermeidlich und mag in unserer technologischen Zeit, wo nur
der Fachmann gilt, von Vorteil sein. Aber es versteht sich von selbst,
daß die juristische Überspitzung der Anziehungskraft für die Massen,
für die die Verfassung schließlich bestimmt ist, Abbruch tun muß und
daß beim Volk sich kein gefühlsmäßiges Verhältnis zu „seiner" Ver-
fassung bilden kann. Stichproben, die der Verfasser seither in Deutsch-
land, Frankreich und Italien machen konnte, lassen ihn hieran nicht
zweifeln. Diese Einstellung wiederum kann nicht verfehlen, die Inte-
gration der neuen Verfassungen beim Volk zu erschweren und es in
seiner Gleichgültigkeit ihnen gegenüber zu bestärken.

V. Das Volk und die Verfassung


Damit ist aber die Abhandlung an den Punkt gelangt, wo eine Ant-
wort auf die eingangs gestellte ontologische Gewissensfrage versucht
werden muß: Was bedeutet in unserer Zeit die geschriebene Verfas-
sung für das Alltagsleben des Volkes, für das Wohlergehen des „Klei-
nen Mannes", der ja in der Demokratie nicht mehr das willenlose Ob-

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430 Karl Loewenstein

jekt, auf dessen Rücken der Kampf


gen wird, sondern letzten Endes ihr
Ist die geschriebene Verfassung wes
und nicht mehr der Sportplatz fü
Berufspolitiker? Oder, um der Frag
dung zu geben: Was trägt die Verfassung zum Glück des Volkes bei?
Es wäre dabei ungerecht, sich die amerikanische Verfassung zum Vor-
bild zu nehmen. Sie ist eine einzigartige Erscheinung, nicht etwa we-
gen ihrer von der patriotischen Propaganda erzeugten Vergegenständ-
lichung einer nationalen Mythologie, sondern als eine in alle Schichten
gedrungene Lebenswirklichkeit, die es möglich gemacht hat, daß der
politische Machtkampf friedlich und oft geradezu sportlich ausgetra-
gen wird. Es ist natürlich eine Entstellung, zu behaupten, Amerika
verdanke es der Verfassung, daß es dort keinen Klassenkampf gibt.
Es ist eher umgekehrt richtig: Die fortdauernde Übereinstimmung von
Verfassungsstruktur und Gesellschaftsschichtung konnten sich im
Gleichgewicht erhalten, weil es keine soziale Klasse gab, welche die
Verfassung auf die Dauer dazu mißbrauchte, anderen Klassen ihren
legitimen Anteil an der politischen Macht vorzuenthalten. Außer im
Bürgerkrieg wurde die Verfassung keiner ernsthaften Zerreißprobe
ausgesetzt. Der New Deal, der im Grunde eine friedliche Sozialrevolu-
tion großen Stiles war, konnte sich ihrem Rahmen verhältnismäßig
leicht einpassen.
Die neuen Verfassungen - das kann gesagt werden, ohne daß der
Vorwurf unzulässiger Verallgemeinerung am Platze wäre - sind nicht
dem Volke entsprungen, und sie werden es nicht leicht haben, sich im
Volk zu verwurzeln. Für den Kleinen Mann, der sich zwischen den
mitleidslos mahlenden Mühlsteinen der Wirtschaft findet, auf deren
Gang er keinen Einfluß hat, bedeuten sie wenig oder nichts. Die Gleich-
gültigkeit, mit der er seiner Verfassung gegenübersteht, nicht zu reden
von einer gefühlsmäßigen Bindung, die sich erst im Laufe der Zeit
ergeben könnte, läßt sich mit der geistigen Ermüdung der Völker nach
Diktatur, Krieg, Nachkriegschaos und Besatzung nicht voll erklären.
Sicherlich weiß man die Rückkehr zur Gesetzessicherheit und zu einer
Verwaltung, die ohne erbitternde Willkür arbeitet, zu schätzen. Aber
das darf nicht überschätzt werden; denn in der Regel war es nicht der
Kleine Mann, der im Morgengrauen aus dem Schlaf geläutet und in
ein ungewisses Grauen verschleppt wurde. Und diese Generation hat
der Gorgo der nackten Gewalt zu lange ins Gesicht geschaut, um sich
unter dem Schutze eines papiernen Dokuments sicher zu fühlen; sie

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Verfassung sr e dit und Verfassungsrealität 431

braucht nur nach dem Osten zu sehen, um zu wissen, welche Bewandt-


nis es damit hat.
Überall, ausgenommen vielleicht die Schweiz und einige marginale
Staaten in Nordeuropa, sind die Massen dieser Generation ihren Re-
gierungen entfremdet. Dies gilt für die älteren Leute und erst recht für
die Jugend. Selbst in Großbritannien, wo sich der Unterschied zwischen
dem Parteipolitischen und dem Staatlichen noch am besten erhalten
hat, ist es die Hälfte der Bevölkerung. Das Volk mißtraut seinen Be-
amten, Gerichten, Behörden, Politikern, Parteien, Parlamenten und
damit seiner Verfassung selbst. Das gilt nicht nur für den intellektuel-
len Skeptizismus des Westens; es gilt erst recht für den Osten, wo die
Propaganda der neuen Erlösungs- und Befreiungsmythologie die ältere
Generation nicht hat vergiften können. Wenn die Verfassung dem Bür-
ger von Bordeaux, Frankfurt, Bologna nichts bedeutet, was kann sie
schon dem Kuli in Schanghai sein?
Worauf es wirklich ankommt, ist, daß die Verfassung sich bislang
als unfähig erwiesen hat, den Lebensbedürfnissen des Volkes gerecht
zu werden und ihm jenes Mindestmaß von wirtschaftlicher Sicherheit
und sozialer Gerechtigkeit zu verschaffen, auf das auch der Kleine
Mann Anspruch zu erheben sich für berechtigt hält. Die prätentiösen
Rechte-Erklärungen wird er mit gemischten Gefühlen, wenn über-
haupt, lesen. Luci a non lucendo. Und die Schicht des Kleinen Mannes
ist heute nicht mehr, was sie in der altväterlichen Gesellschaftsordnung
war, wo, was Knecht war, auch Knecht blieb. Sie hat sich weit in das
einstige Besitzbürgertum ausgedehnt. Krieg und Nachkrieg, Geldent-
wertung und Inflation haben eine revolutionäre Umschichtung der Ei-
gentumslage hervorgerufen. Verfassungen konnten etwas gelten und
galten etwas, solange eine Mark gestern, heute und morgen eine Mark
war. Weite Kreise des unteren und mittleren Besitzbürgertums stehen
heute am Rande der Proletarisierung, und es waren gerade diese Klas-
sen, die sich einst die geschriebene Verfassung schufen, um sich ihre
Besitz- und Klassenlage dauernd zu erhalten.
Dazu kommt, daß die eigentlichen politischen Entscheidungen, von
denen die Existenz und das Wohlergehen der Massen abhängt, nicht
mehr im Rahmen oder auf der Grundlage der geschriebenen Verfas-
sung getroffen werden. Sie werden von den allmächtigen Interessen-
gruppen außerhalb der Verfassung und nicht selten im Widerspruch
mit ihr ausgetragen. Die Politik selbst spielt sich im leeren Raum ab,
betrieben von Parteicliquen, Professionellen und den beamteten Ver-
tretern der Verbandsinteressen. Die sozialen Kräfte bewegen - und
bekämpfen - sich außerhalb der Verfassungen, weil diese nicht ein-

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432 Karl Loewenstein

mal den Versuch einer Lösung de


Probleme machen.

Beispiele gibt es in allen westlichen Staaten. In Westdeutschland


braucht man nur an das Mitbestimmungsrecht zu denken, das, wenn
nicht alle Zeichen trügen, einer neuen Wirtschaftsordnung die Bahn
brechen könnte, vorausgesetzt, daß Arbeiter und Unternehmer seine
Bedeutung begreifen und sich dementsprechend verhalten werden. Das
Bonner „Grundgesetz schwieg sich vorsichtigerweise darüber aus, das
Bonner Parlament war im Hinblick auf seine Mehrheitsverhältnisse
unfähig, irgendeine Lösung zu finden. Dann nahmen die nach der Ver-
fassung zwar zugelassenen, von ihr aber funktionell ignorierten In-
teressenvertretungen der Arbeiterschaft - sich dabei der Drohung mit
einem von der Verfassung nicht offiziell sanktionierten „politischen"
Streik bedienend - die Sache in die Hand, und dem Parlament blieb
schließlich nichts anderes übrig, als Ja und Amen dazu zu sagen. Kein
Wunder, daß die Nurjuristen den Einwand der Verfassungswidrigkeit
erhoben, was ungefähr dem pomologischen Wunsch gleichkommt, ein
Apfelbaum solle Bananen hervorbringen. Zugegeben, daß die Verfas-
sung letztlich den technischen Rahmen zur Realisierung bildet, da die
Gesetzgebung durch das Parlament das Tüpfelchen auf das i setzte
Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß die lebendige Dynamik
des Machtpolitischen die Verfassung einfach beiseite schob.
Nach der erhitzten Emotionalität der Diktatur jähre und - das sollte
nicht vergessen werden nach dem, was die Volksdiktaturen den
Massen wirklich geboten haben, klingen die Sätze der Verfassungen
matt. Freiheit konnten sie versprechen und das haben sie auch inner-
halb ihrer Grenzen gehalten, aber nicht Brot und Arbeit oder wirt-
schaftliche Geborgenheit. Sie können nichts daran ändern, daß es
reiche und arme Leute gibt. Was sagen die Verfassungen vom Brot-
preis, von der Wohnungsnot, von der ewigen Spanne zwischen Lebens-
haltung und Einkommen, oder gar vom Kalten Krieg? Wie könnten
sie es auch, da sie ihrem Wesen nach nur Kompetenzzuweisungsord-
nungen sind, dazu bestimmt, von vernünftigen Leuten zu sachlichen
Zwecken und im Interesse des Gesamtwohls benutzt zu werden? Der
italienische Barbier, jüngst vom Verfasser befragt, was er vorziehe: Mon-
archie oder Republik, Liberalismus, Faschismus oder Kommunismus,
Demokratie oder Diktatur, traf den Nagel auf den Kopf mit der klas-
sischen Antwort: „E lo stesso per me; io mangio sempre polenta " 28
Für die Massen sind die heutigen Verfassungen nichts mehr als faule
28 „Für mich ist das Jacke wie Hose, ich werde immer Polenta essen."

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Verfassungsrecht und Verfassungsrealitäl 433

Kompromisse von Zufallsmehrheiten im Parlament, weit entfernt vom


„Grundgesetzlichen". Kann es wunder nehmen, daß die Enttäuschten
und Verzweifelten unter ihnen sich den Sirenengesängen des Kom-
munismus öffnen, der, wie ihnen vorgeredet wird, die Klassenlage zu
ihren Gunsten umgekehrt hat? Und steigt man eine intellektuelle Stufe
höher, so wird man finden, daß an die Stelle des Optimismus des ver-
gangenen Jahrhunderts, das seinen Materialismus immerhin mit dem
Glauben an den „Fortschritt" rechtfertigen oder beschönigen konnte,
jene „Philosophie" des Pessimismus und der Gemeinschaftsabkehr ge-
treten ist, die sich schulmäßig als „Existentialismus" gibt und im
Grunde nicht viel mehr als primitive Selbstsucht und Selbstbetäubung
ist. Der Ausweg ins Religiöse, das in früheren Epochen dem Staatlichen
untrennbar verbunden war, ist für die meisten verrammelt. Die mora-
lische Krise dieser Zeit des Umbruchs muß notwendigerweise auch den
moralischen Wert und die Geltung der Verfassung in Mitleidenschaft
ziehen.

Sicherlich, der wirkliche Wert einer Verfassungsordnung kann sich


nur im Verschleiß der Spannungen erweisen, denen sie im Kampf um
die politische Macht ausgesetzt ist. Alle Voraussagen gehören daher in
den Bereich des Spekulativen. Nachdem die Verfassungen des Sowjet-
kreises nicht mehr sind als die Formalisierung der augenblicklichen
Machtposition der Einheitspartei und nicht dazu bestimmt, dem Spiel
des freien Konkurrenzkampfes zu dienen, werden sie den kommunisti-
schen Druck nicht um eine Stunde überdauern. Das mag lange dauern
und länger, als denen lieb ist, die darunter leben müssen. Was mit den
westlichen Verfassungen unter der Spannung einer ernstlichen wirt-
schaftlichen oder politischen Krise geschehen wird, läßt sich kaum vor-
aussagen. Trotz eindrucksvoller Bemühungen, sie krisenfest zu
machen, sind die dem parlamentarischen Repräsentativsystem anhaf-
tenden Defekte nicht geheilt worden. Der autoritäre Spuk ist nicht
gebannt worden, außer vielleicht im politischen Milieu eines Staates,
wo die parlamentarische Elite das Regieren gelernt hat. Auch darf der
Einfluß volksgeachteter Monarchen nicht ganz gering veranschlagt
werden.

Offenbar aber liegen die Gründe für die malaise des westlichen Kon-
stitutionalismus tiefer als in der institutionellen Unzulänglichkeit der
Verfassungsordnungen. Von dem groben Materialismus der Sowjet-
doktrin kann man immerhin lernen, daß eine bewußt gewählte soziale
„Gestalt der Gesellschaft eine ihr entsprechende Verwirklichung in
den Einrichtungen und Verfahrensweisen bedingt. Die kommunisti-
schen Theoretiker sind sich darüber klar, daß nicht eine jede beliebige

AöR 77 Heft 4 2g

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434 Loewenstein, Verfassungsrecht u. Verfassungsrealität

Verfassung für eine jede beliebige Gesellschaftsordnung paßt. Der Be-


griff einer Verfassung, die sich auf die jurisdiktionelle Abgrenzung der
Zuständigkeiten beschränkt und dadurch „neutral" oder „objektiv"
sein kann gegenüber dem Machtkampf und seinen Zielen, ist ein typi-
sches Nebenprodukt des liberalen Relativismus; der westliche Kon-
stitutionalismus ist eben ein Kind, vielleicht das Lieblingskind, des
liberalen Vernunftglaubens.
Aber so begrenzt auch unsere historische Erfahrung ist, es ist wahr-
scheinlich, daß eine innere Übereinstimmung zwischen politischer
Form und sozialem Inhalt besteht, deren Gesetzlichkeiten wir eben
noch nicht kennen.

Der Leser soll nicht nur mit einem Fragezeichen entlassen werden.
Um daher das Vorhergesagte beispielhaft, wenn auch nur andeutungs-
weise, zu veranschaulichen: Was als die unmittelbare Bürgerdemokra-
tie Athens gepriesen wird, war in Wirklichkeit eine sozial homogene
und dabei nicht sehr zahlreiche besitzende Oligarchie, aufgebaut auf
der nichttechnologischen Wirtschaftsordnung der Sklaverei. Die abso-
lute Monarchie der mittelalterlichen Feudalzeit mit ihrem ständischen

Unterbau entsprach der Schichtung von Grundbesitz und erblichen


Machtprivilegien einer gleichfalls oligarchischen Gesellschaft. Die par-
lamentarische Regierungstechnik, in ihrer Blütezeit gleichfalls mehr
oligarchisch als demokratisch, war die politische Herrschaftsform, die
sich Industrie und Finanzkapital der bürgerlichen Mittelklasse als Un-
terlage für den politischen und wirtschaftlichen Konkurrenzkampf im
Rahmen des laissez faire geschaffen hatten. Wir hängen deshalb so
sehr an dieser politischen Gestaltung, weil der liberale Konstitutiona-
lismus es sich leisten konnte, den Rechtsstaat, den er wirtschaftlich
brauchte, zum Rang eines absoluten Wertes zu erheben. Aber auch
diese Gesellschaftsform ist am Verblühen. Als die Arbeiterklassen,
nicht mehr länger gewillt, sich den Spielregeln des liberalen Kapitalis-
mus zu fügen, ihren Anteil an der wirtschaftlichen und politischen
Macht forderten, mußte der politische Rahmen der überlieferten Ord-
nung gesprengt werden. Da eine am Ruder befindliche und daher „legi-
time" Regierungsform sich niemals aus freien Stücken reformiert, ge-
schweige denn freiwillig sich den Machtansprüchen einer aufsteigenden
Klasse beugt, mußte sich die Umwandlung des liberalen Kapitalis-
mus in den Staatskapitalismus auf autoritärem Wege vollziehen. Len-
kung und Planung der Wirtschaft, Nationalisierung der Naturschätze,
der Produktionsmittel und des Güteraustauschs überantworteten die

Regierungstechnik an die neue herrschende Klasse der Parteibürokra-


tie und der technologisch geschulten Manager. Und es ist höchst un-

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Scheuerle, Sowjetrussische Theorie der Rechtsquellen 435

wahrscheinlich, daß diese neue, überall im Vormarsch befindliche Ge-


sellschaftsform das letzte Glied in der endlosen Kette der politischen
Gestaltung der Menschheit sein wird.
Hier liegt eine bedeutende Aufgabe der Wissenschaft von der Politik
vor. Sie hat noch nicht einmal angefangen, sich mit der ontologischen
Kausalität zwischen der Regierungsform, wie sie in einer Verfassung
niedergelegt ist, und der Sozialstruktur der Gesellschaft zu befassen,
für die sie gelten soll. Solchen Untersuchungen steht noch immer im
Wege, daß die Verfassungslehre eine Monopoldomäne der Juristen ist;
sie konnten sich nicht von dem Einfluß des naiven Positivismus des
vergangenen Jahrhunderts freimachen, der da glaubte, daß man nur
eine funktionell und institutionell gut gebaute Verfassung brauche, um
mit jedem Machtkonflikt friedlich fertig zu werden. Uns diese onto-
logische Kausalität klarzumachen, wird es des neuen Montesquieu be-
dürfen, der, hoffen wir es, zu gegebener Zeit erscheinen wird.

Sowjetrussische Theorie der Rechtsquellen

Von Wilhelm A. Scheueric

Die heute amtlich anerkannte 1 sowjetrussische Definition des objek-


tiven Rechtsbegriff s geht auf A. J. Vyshinskij 2 zurück. Hiernach wird
unter Recht die Gesamtheit der Verhaltensregeln (Normen) verstan-
den, welche, von der Staatsgewalt aufgestellt oder sanktioniert, den
Willen der herrschenden Klasse zum Ausdruck bringen, wobei die An-
wendung dieser Normen durch die Zwangsgewalt (prinuditieljnaia sila)
des Staates sichergestellt wird, um die gesellschaftlichen Beziehungen
und Ordnungen, die der herrschenden Klasse erwünscht ( ugodnyie ) und
vorteilhaft (uygodnyie) sind, zu schützen, zu festigen und zu entwik-
keln. Speziell das sowjetrussische Recht wird in analoger Weise defi-
niert als die Gesamtheit der Verhaltensregeln (Normen), welche, auf-
1 M. S. Strogovitsh im Sammelwerk Staats- und Rechtstheorie des Rechts-
instituts der Akademie der Wissenschaften der UdSSR (Moskau 1949), S. 113,
russisch.
2 A. J. Vyshinskij , Rechts- und Staatsprobleme bei Karl Marx (Moskau
1933), S. 367, russisch.

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