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ABHANDLUNGEN
Seit dem Zweiten Weltkrieg hat sich eine wahre Flutwelle von Ve
fassungen über die Welt ergossen. Beginnend etwa um die Mitte
vierziger Jahre, haben sich einige fünfzig Völker neue Verfassu
zugelegt 1. In einer Reihe von Ländern besiegelt die neue Verfa
1 Die nachfolgende Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollstän
keit. Deutschland : Je eine Verfassung für die Bundesrepublik Deutsc
und die Deutsche Demokratische Republik (1949), je eine für die vier L
der US-Zone (1946/47), die vier in der britischen Zone (1949 - 1951), di
in der französischen Zone (1947), dazu die Saar (1947), und die fünf L
in der Sowjetzone (1946/47). In Berlin wurden zwei Verfassungen erl
(1946 und 1950). In Frankreich gibt es zwei Verfassungen seit 1946;
erste vom (27. April 1946) wurde von einer Volksabstimmung verwor
ein in der bisherigen Verfassungsgeschichte einzigartiger Vorgang. W
neue Verfassungen in Westeuropa: Italien (1947), Island (1944). Im ost
ropäischen Sowjetkreis sind zu erwähnen: Jugoslawien (1946), Albanie
(1946; ob, wie verlautete, eine neue Verfassung dort im Jahre 1950 in
trat, konnte nicht festgestellt werden); Bulgarien (1947), Tschechoslowak
(1949), Rumänien (1948) und Ungarn (1949). Polen begnügte sich mit
Revision der alten Verfassung von 1920. In Latein- Amerika gab es neun
neue Dokumente allein seit 1945, nämlich Bolivien (1945), Brasilien (1946),
Ekuador (1946), El Salvador (1945), Guatemala (1945), Haiti (1946), Nica-
ragua (1948), Panama (1946), Venezuela (1947). In Asien sind zu nennen:
China (1946), Japan (1946), Siam (Thailand) (1949), Südkorea (1948). Über
die nordkoreanische Verfassung, die es wahrscheinlich gibt, ist mir nichts
bekannt. Im britischen Einflußgebiet: Ceylon (1947), Indien (1949), Burma
(1948). In Pakistan und Indonesien sind neue Instrumente in Vorbereitung.
Israel brachte einen kompletten Entwurf heraus (1948), an dessen Stelle
aber dann eine sogenannte Zwischenverfassung in Kraft gesetzt wurde
(1949). Jordanien legte sich 1946 eine Verfassung zu.
Außer für Westeuropa und Latein-Amerika sind Verfassungstexte nicht
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388 Karl Loewe ix stein
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Verfassungsrecht und Verfassungsrealität 389
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390 Karl Loe w enstein
Fragen dieser Art, die auf Wesen und Wirklichkeit einer Verfas-
sungsordnung und nicht nur auf den viel leichter erfaßbaren Verfas-
sungs betrieb abstellen, bedingen eine neuartige Betrachtungsweise3,
die hier als „ontologisch" bezeichnet werden soll. Die nachfolgenden
„Betrachtungen zur Verfassungsontologie" sind ein erstmaliger und
daher durchaus tastender - Versuch, an Stelle der herkömmlichen
positivistisch-juristischen oder funktionellen Analyse ausfindig zu ma-
chen, inwieweit die formale Geltung der geschriebenen Verfassung
unserer Zeit mit ihrer materiellen Gültigkeit für die Massen der Ge-
meinschaftsglieder übereinstimmt und inwieweit sich ideologische
Zielsetzung und politische Wirklichkeit decken.
3 Wer aus dem Flachland des stereotypen Vertassungsiegaiismus nin-
auskommen will, muß auf Max Weber zurückgreifen, wenn er nicht über-
haupt zu Montesquieu zurückgehen will. Auch Guglielmo Ferreros groß-
artige Trilogie : Bonaparte in Italy (London 1939), The Reconstruction of
Europe (New York), The Principles of Power (New York 1943, das letztere
auch in deutscher Übersetzung unter dem Titel ,, Macht erschienen) ist
durchaus ontologisch orientiert. Nicht nur wegen ihres umfangreichen Ma-
terials sind zu nennen: John A. Hawgood, Modern Constitutions since
1787 (New York 1939) und Karl Loewenstein, The Balance between Legis-
lative and Executive Power, Chicago Law Review, Bd. 5 (1938) S. 566 ff.
Die neue Einstellung herrscht auch vor in Georges Burdeau, Traité des
Sciences Politiques, bisher drei Bände (Paris 1949, 1950), von denen Bd. 3
die hier einschlägige allgemeine Verfassungslehre enthält; siehe ferner
Maurice Duverger, Manuel de Droit Constitutionnel et de la Science Politi-
que (Paris 1949); Dietrich Schindler , Verfassungsrecht und soziale Struktur
(Zürich 1932); J. Allen Smith, The Growth and Decadence of Constitutional
Government (New York 1930).
Der Verfasser möchte nicht unterlassen, zu sagen, wieviel er für die
ontologischen Analysen von den verschiedenen Abhandlungen über das
Wesen der politischen Macht gelernt hat, so, außer von Ferrero , von Lord
Acton, Bertrand de Jouvenel, Bertrand Russell, Charles M. Merriam und
anderen. Von den deutschen Beiträgen dringt weder Friedrich Meineckes
Idee der Staatsraison (München-Leipzig 1924), noch Gerhard Ritters Dämo-
nie der Macht (München 1948) in das Kernproblem ein.
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V er fassungsrecht und Verfassungsrealität 391
Man wird hier einwenden, wen dies interessiere, der könne sich ja
der heute so beliebten Meinungsbefragungen bedienen. Eine auf die
verschiedenen Klassen und Volkskreise geschickt abgestimmte Reihe
von Fragen würde sicherlich ganz lehrreiche quantitative Einblicke
bringen, etwa dahin lautend, daß ein bestimmter Klassenquerschnitt
die bestehende Verfassung besser kennt als ein anderer. Aber selbst die
psychologische raffinierteste Statistik könnte nicht zu wesentlichen
qualitativen Ergebnissen kommen, da die Wechselbeziehung oder Kau-
salität zwischen der Verfassungsordnung und dem wirtschaftlichen und
politischen Wohlbefinden einer Klasse, Gruppe oder Einzelperson für
die Adressaten einer solchen Meinungsbefragung einfach nicht zugäng-
lich sind.
Man wird auch - und hier mit Recht - einwenden, daß eine solche
Fragestellung nur dann Wert hat, wenn sie sich auf ein bestimmtes
Land oder Volk und eine bestimmte Verfassung erstreckt. Die Brauch-
barkeit und Nützlichkeit einer Verfassung, die Wertschätzung, die sie
bei den breiten Massen genießt, sind von zuvielen Variabein abhängig,
wie nationale Traditionen, Stand der politischen Bildung und Erfah-
rung, Berufsschichtung und anderen mehr, als daß Verallgemeinerun-
gen zulässig erscheinen. Dieses Bedenken ist durchaus ernst zu nehmen.
Wenn es aber hier als nicht durchschlagend erachtet wird, so liegt der
Grund darin, daß die der jüngsten Vergangenheit entstammenden Ver-
fassungen eine solch erstaunliche Stereotypizität ihrer konkreten politi-
schen Einrichtungen und Verfahrenstechniken aufweisen, daß durch-
aus allgemeine Schlußfolgerungen auf die Integration der Verfassungen
gezogen werden können. Der Zugang zur Bewertung der einzelnen Ver-
fassung führt also einstweilen durch eine rechtsvergleichende Analyse
der den meisten Verfassungen gemeinsamen politischen Einrichtungen
und Techniken. Die quantitative und qualitative Koinzidenz in der
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392 Karl Loewenstein
jüngsten Verfassungsschöpfung l
Es ist vielleicht nicht unbillig, den
über sie zurückzuhalten, bis er sich
macht hat.
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Verfassungsrecht und Verfassungsrealität 393
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394 Karl Loewenstein
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Verfassungsrecht und Verfassungsrealität 395
7 Vgl. John A. Hawgood aaO S. 93 ff . und 131 ff., der für die Staatstypen
die Ausdrücke , »condescended" und „negotiated" verwendet, die man viel-
leicht mit „von oben gewährt" und „aus Verhandlung hervorgegangen"
übersetzen kann.
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396 Karl Loewensłein
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Verfassungsrecht und Verfassungsrealität 397
fassungen der Revolution der Massen zum Opfer. Die Praxis der nack-
ten Gewalt, die in der Zwischenzeit zum Rang einer vollgewichtigen
politischen Theorie erhoben worden war und damit dem Machtele-
ment der Geschichte einen unerhörten Auftrieb gab, triumphierte über
das juste milieu des bürgerlichen Rationalismus. Gestehen wir es zu:
Die Verfassungen nach dem Ersten Weltkrieg waren schon überholt,
als sie in Kraft gesetzt wurden. Die Selbsttäuschung der Bourgeoisie
bestand darin, zu glauben, sie könne die hungernden Massen der Be-
sitzlosen, zu denen sich bald die unteren Schichten des Bürgertums ge-
sellten, mit sozialen Versprechungen oder dem allgemeinen Stimmrecht
abspeisen, während die Besitzschichten des bürgerlichen Kapitalismus
ihre Stellung als die herrschende Klasse beibehalten würden. Für eine
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398 Karl Loewenstein
verfassungs-ontologische Betrach
fassungen, technisch ungefähr die
waren, versagten und zerbrachen, weil sie für die Massen wertlos
waren. Intention und Wirklichkeit ließen sich nicht versöhnen.
Von dem Trauma, das die brutale Vergewaltigung des Rechts durch
die Macht der Diktatur bedeutete, hat sich das Bewußtsein der davon
betroffenen Völker bis heute nicht erholt. Die Erwartung, die vom
faschistischen Joch befreiten Völker würden mit Jubel in den Ver-
fassungsstaat zurückkehren, hat sich nicht verwirklicht. Zwar erfolgte
die Rückkehr; wie hätte es auch anders sein können? Aber von dem
Elan, der die Verfassungsgebung nach 1918 beflügelt hatte, war nichts
zu spüren. In einigen Staaten von marginaler Bedeutung, wie den
Benelux-Ländern und Norwegen, wurde die vorher geltende Verfas-
sungsordnung, die die Exilregierungen wenigstens formalrechtlich
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Verfassungsreclit und Verfassungsrealität 399
9 Vgl. Karl Loewenstein, Political Reconstruction (New York 1946) S. 138 ff.,
168 ff. Eine Studie des Verfassers „Die Monarchie im modernen Staat"
wird demnächst im Verlag Wolfgang Metzner in Frankfurt a. M. erscheinen.
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400 Karl Loe w enstein
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Verfassungsrecht und Verfassungsrealität 401
AöR 77 Heft 4 26
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402 Karl Loe w enstein
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Verfassungsrecht und Verfassungsrealität 403
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404 Karl Loewenstein
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Ver fas sung st e cht und Verfassungsrealität 405
gelernt hat. Burma (Verfassung von 1947) kann man kaum dazu rech-
nen; dazu ist das Land politisch zu wenig vorgeschritten.
Auf der anderen Seite ist die Verfassung, die hier nominal genannt
wird, bestenfalls ein politisches Programm oder ein Vordruck, der in
Zukunft Wirklichkeit werden soll. Alles, was gehofft werden kann, ist,
daß die politische Wirklichkeit sich eines Tages in die Verfassung ein-
leben wird. Man findet diesen Typus meist dort, wo der westliche
Konstitutionalismus in eine koloniale, das heißt in der Regel eine
agrarfeudale Sozialordnung eingepflanzt ist. Das Element der Volks-
bildung spielt naturgemäß eine ausschlaggebende Rolle. Aber auch, wo
diese eine verhältnismäßig hohe Stufe erreicht hat, scheint die Ratio-
nalität des westlichen Konstitutionalismus im Sozialmilieu Asiens und
Afrikas, wenigstens derzeit noch nicht, genügend anzuschlagen. Das
gilt für die bisher despotisch regierten Staaten China (Verfassung von
1947), Südkorea (1948) und Siam, mehr oder minder auch für die Phi-
lippinen und die Mehrzahl der neuen arabischen Staaten. In Latein-
Amerika, dessen Verfassungen zu den ehrgeizigsten und modernsten
gehören, die es gibt, sind Brasilien, Argentinien, Uruguay, Chile, Me-
xiko und (jedenfalls bis zur Revolution von 1948) auch Kolumbien
dem normativen Typ zuzurechnen. Andere, wie Ecuador oder die
zentral-amerikanischen Staaten, befinden sich derzeit in einem Über-
gangsstadium zwischen dem Nominalen und dem Normativen; die
Grenzlinie ist oft nicht leicht zu ziehen. Die Verfassungen sind dort
vielfach kurzlebig, werden häufig umgemodelt oder suspendiert je nach
den Bedürfnissen der gerade am Ruder befindlichen Clique, die über
die bewaffnete Macht verfügt 15. Wie wenig Verfassungen im latein-
amerikanischen Milieu bedeuten, zeigt sich am Barometer des Ge-
schäftslebens, das in der Regel nur dann beeinflußt ist, wenn die neue
Verfassung sich zu Nationalisierungsprinzipien bekennt. Auch die Mas-
sen kümmern sich nicht viel um das, was oben vorgeht. Es mag be-
zeichnend für die heutige Kluft zwischen Verfassungs Wortlaut und so-
zialpolitischer Wirklichkeit erscheinen, daß die im Gang befindliche
Sozialrevolution in Argentinien, wo sie von der volksgetragenen Dik-
tatur Peróns bewerkstelligt wird, in der Verfassungsurkunde selbst
keinen Ausdruck gefunden hat. Die jüngste Verfassungsänderung
(1948) bezog sich nur auf technische Dinge, die allerdings so gestaltet
wurden, daß das diktatoriale Regime stabilisiert wurde.
Japan läßt sich allerdings in diesen Kategorien nicht recht unter-
bringen. Die ältere Kaiserliche Verfassung (1889) war nicht normativ
15 Venezuelas Verfassung von 1947, derzeit suspendiert, ist die 22. in 13G
Jahren.
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406 Karl Loewenstein
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Verfassungsreclit und Verfassungsrealität 407
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408 Karl Loeiueii stein
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Verfassungsrecht und Verfassungsrealität 409
tarischen Regierung. Alles in allem sind eben die Parteien der Volks-
meinung näher als die Regierung, die ihrerseits nur von den Parteien
abhängt. Außerdem sind viele der Kabinettskrisen nur halb so schlimm
wie sie aussehen, da sie oft nur einen Personen- und keinen Kurswech-
sel bedeuten, und überdies oft nicht einmal das, weil dieselben Parla-
mentarier, wenn auch in verschiedenen Ministerien, dem neuen Ka-
binett angehören, eine Erscheinung, die man unfreundlich, aber rich-
tig „Zusammenkleben" (replâtrer) heißt.
Die Situation in den Ausgangs jähren von Weimar, wo sich „hetero-
gene" Parteien von links und rechts zum Sturz der Regierung verban-
den, ohne gewillt oder in der Lage zu sein, ihrerseits eine Regierungs-
koalition zu bilden, war eine Ausnahmeerscheinung, die sich ander-
wärts kaum wiederholen dürfte und die man mit normalen parlamen-
tarischen Mitteln auch gar nicht unterbinden kann. In Frankreich ver-
suchte man es 1951 mit einer Wahlrechtsreform, die gleichmäßig gegen
die Gaullisten und die Kommunisten gerichtet war. Sie war nicht nur
nicht durchgreifend genug, sondern überdies ideologisch höchst an-
fechtbar. Zudem hat sie ihr Ziel nicht erreicht: Die Gaullisten sind in
den Wahlen vom Juni 1951 zur stärksten Partei aufgestiegen, und die
Kommunisten erlitten zwar eine Mandatseinbuße, aber keine wesent-
liche Stimmenverminderung.
Über all diesen letztlich technischen Dingen ist allerdings die Frage
offen gebieben: Sind die chronischen Kabinettskrisen nichts anderes
als abstellbare Defekte der parlamentarischen Regierungsform, tritt in
ihnen ein Wesensmangel dieser Regierungsform zutage: ist sie über-
haupt imstande, einen friedlichen Ausgleich zwischen politischen Ge-
genspielern herbeizuführen, die es grundsätzlich ablehnen, sich über
die sozio-politischen Ziele der Gemeinschaftsordnung zu verständigen?
Dies ist der Punkt, wo die ontologischen Zweifel einsetzen. Der Mann
auf der Straße, der für Parteien, Politiker, Parlamente nichts übrig hat,
denkt über dieses grundlegende Dilemma viel realistischer als die Pro-
fessionellen der Politik. Eine befriedigende Antwort ohne Vergewalti-
gung eines Teiles der Gemeinschaft gibt es offenbar nicht.
Wie dem auch sei, die Suche nach der Zauberformel, mit der eine
dem Volkswillen entsprechende und gleichzeitig krisenfeste Regierung
gebildet werden kann, geht weiter; aber die Quadratur des politischen
Zirkels bleibt bestehen. Wo, wie in Frankreich, das Mißtrauen gegen-
über einer starken Regierung historisch eingewurzelt ist, erscheint der
Parlamentarismus mit allen seinen Nachteilen als das kleinere Übel.
Wo, wie in Deutschland, der Gedanke einer starken Regierung zu den
nationalen Glaubensartikeln gehört, hat das Parlament, und mit ihm
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410 Karl Loe w enstein
2. Die Parlamentsauflösung
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Verfassungsreclìt und Verfassungsrealittit 411
3. Der Staatspräsident
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412 Karl Loewenstein
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Verfassungsrecht und Verfassungsrealität 413
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414 K ar l L o e w e n st e i n
5. Der Föderalismus
Der Föderalismus ist im Abstieg begriffen lö, und dies trotz verschie-
dentlicher Institutionalisier ungen im Westen wie im Osten. Dies ist
kaum zu verwundern. Selbst in den ältesten und am besten durch-
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Verfassungsrecht und Verfassungsrealität 415
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416 Karl Loe w enstein
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Verfassungsrecht und Verfassungsrealität 417
AöR 77 Heft 4 27
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418 Karl Loe w enstein
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Verfassungsrecht und Verfassungsrealität 419
7. Die Verfassungsänderung
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420 Karl Loewenstein
verfassungsändernde Verfahren f
elastisch gehalten, weder zu groß
sich ändernden Verhältnissen, einen revolutionären Bruch zur Folge
hätten, noch zu leicht gemacht, um grundlegende Änderungen ohne
die Zustimmung qualifizierter Mehrheiten zu erlauben. Das Verfahren
ist aber in dem Sinne straffer geworden, daß es nicht mehr leicht um-
gangen werden kann. In Frankreich stellt das Comité Constitutionnel
(Art. 91 ff.) fest, ob ein von der Nationalversammlung erlassenes Ge-
setz eine Verfassungsänderung enthält. Irgendwelche Bedeutung hat
die Einrichtung bislang allerdings nicht erlangt. In Westdeutschland
(und ebenso in einigen Ländern) erfordert die Verfassungsänderung
die ausdrückliche Änderung oder Ergänzung des Verfassungs Wortlauts
(Art. 79) 23. Um so unbegreiflicher ist die um sich greifende Illusion,
es könnten gewisse Grundsätzlichkeiten der Verfassungsordnung recht-
lich „unabänderbar" gemacht werden, indem verboten wird, daß sie
zum Gegenstand der Verfassungsänderung gemacht werden, wie die
republikanische Staatsform (Italien Art. 139, Frankreich Art. 95) oder
die Föderativorganisation und gewisse Grundrechte (Bonn Art. 79
Abs. 3). Dagegen ist die Vorschrift der indischen Verfassung (Sektion
305), daß bestimmten Minderheiten (wie den Moslems und den auf-
gezählten Kasten) während der Dauer von zehn Jahren ihre Sitze in
den Gesetzgebungskörperschaften der Union und der Staaten nicht
genommen werden dürfen, nur eine funktionelle Schutzvorschrift ohne
doktrinäre Absichten.
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Verfassungsrecht und Verfassungsrealität 421
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422 Karl Loewenstein
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Verfassungsrecht und Verfassungsrealität 423
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424 Karl Loewenstein
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Verfassungsrecht und Verfassungsrealität 425
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426 Karl Loewenstein
Natur verlassen; ein Staat, der damit Ernst machen will, kann des
Zwangs nicht entraten. Der Liberalismus und die wirtschaftlich ge-
sicherte Existenz der Massen im Wohlfahrtsstaat sind vielleicht in der
Theorie, nicht aber in der Praxis vereinbar. Eine Gemeinschaftsord-
nung, die beispielsweise das Recht auf eine menschenwürdige Behau-
sung verwirklichen will, muß den Bau- und Wohnungsmarkt lenken;
der Staat, der ein Existenzminimum als ein Recht anerkennt, kann sich
nicht auf das Zufallsspiel von Angebot und Nachfrage des Arbeits-
marktes verlassen. Die Verwirklichung selbst der elementarsten sozia-
len Forderungen, geschweige denn ihre Festlegung als „subjektive
Rechte", führt unweigerlich zu Wirtschaftsplanung, zu Staatseingrif-
fen in so gut wie alle, zur Verstaatlichung vieler Wirtschaftsformen.
Diesen Rubikon zu überqueren, waren die Verfassunggeber nicht ge-
willt. Das gibt den „neutralen" Verfassungen seit 1945 ihren Zwitter-
charakter und konnte nicht verfehlen, den Massen den Gegensatz von
Schein und Wirklichkeit vor Augen zu führen.
Man kann allerdings von einer Verfassung nichts Unmögliches ver-
langen: sie kann weder Arbeit noch Brot verschaffen. Aber man kann
sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die westliche Verfassung an-
gesichts der Verwaschenheit ihres sozial wirtschaftlichen Programms
ihre Anziehungskraft für die Massen weitgehend eingebüßt hat. Es ist
nicht leicht, sich vorzustellen, daß etwa unter der westdeutschen Bun-
desverfassung oder der französischen Verfassung ein sozialistisches
oder kollektivistisches System verwirklicht werden könnte, vorausge-
setzt, daß die Linksparteien die politische Macht im Wege des Stimm-
zettels erlangen würden. Käme es so weit, so würde die Verfassungs-
ordnung in ihrer derzeitigen Gestalt gesprengt werden. Die Engländer
mit ihrer ungeschriebenen Verfassung sind da besser dran: An die
Stelle einer Verfassungsänderung trat das Plebiszit der allgemeinen
Wahlen von 1945, das eine Besitz- und Klassenumschichtung revolu-
tionären Ausmaßes einleitete, ohne daß es der Verbrief ung in einer
Rechte-Erklärung bedurft hätte. Ontologisch betrachtet, ist es das Ge-
biet der Grundrechte, auf dem sich die Kluft zwischen Schein und
Wirklichkeit am stärksten ausprägt.
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Verfassungsrc vlit und Verfassungsrealität 427
den „Stil" bezeichnet hat 20, wird derzeit noch nicht genügend Auf-
merksamkeit geschenkt. Auch hier können nicht mehr als Andeutun-
gen gebracht werden. Beispielsweise leitet sich die Symbolkraft der
amerikanischen Bundesverfassung nicht weniger als von ihrer funk-
tionellen Nützlichkeit von der ungewöhnlich glücklichen sprachlichen
Verbindung von Inhalt und Form ab. Daß jemand, wie Stendhal , der
es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, allmorgendlich seinen Prosastil
an der Lektüre des Code Civil zu inspirieren, dazu den Text etwa der
französischen oder der Bonner Verfassung benutzen würde, ist recht
u n wah r scheinlich .
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428 Karl Loewenstein
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Verfassungsrecht und Verfassungsrealität 429
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430 Karl Loewenstein
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Verfassung sr e dit und Verfassungsrealität 431
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432 Karl Loewenstein
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Verfassungsrecht und Verfassungsrealitäl 433
Offenbar aber liegen die Gründe für die malaise des westlichen Kon-
stitutionalismus tiefer als in der institutionellen Unzulänglichkeit der
Verfassungsordnungen. Von dem groben Materialismus der Sowjet-
doktrin kann man immerhin lernen, daß eine bewußt gewählte soziale
„Gestalt der Gesellschaft eine ihr entsprechende Verwirklichung in
den Einrichtungen und Verfahrensweisen bedingt. Die kommunisti-
schen Theoretiker sind sich darüber klar, daß nicht eine jede beliebige
AöR 77 Heft 4 2g
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434 Loewenstein, Verfassungsrecht u. Verfassungsrealität
Der Leser soll nicht nur mit einem Fragezeichen entlassen werden.
Um daher das Vorhergesagte beispielhaft, wenn auch nur andeutungs-
weise, zu veranschaulichen: Was als die unmittelbare Bürgerdemokra-
tie Athens gepriesen wird, war in Wirklichkeit eine sozial homogene
und dabei nicht sehr zahlreiche besitzende Oligarchie, aufgebaut auf
der nichttechnologischen Wirtschaftsordnung der Sklaverei. Die abso-
lute Monarchie der mittelalterlichen Feudalzeit mit ihrem ständischen
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Scheuerle, Sowjetrussische Theorie der Rechtsquellen 435
28 *
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