SCHRIFTSTELLER
EUGENE SUE
Alte Lust
G ctbseerotindch; Heute ist ni:
mand mehr Sue", s0 schrieb Georg
Lukes in einem Beitrag zur Geschich-
teder Asthetik— 1945.
Heute, 25 Jahre danach, soll Lukées
widerlege werden: Der Munchner
Hanser-Verlag hat das Hauptwerk des
franzbsisthen Sduiftetellers Eugene
Sue (1803 bis 1857), den Reman Die
Geheiranisse” von "Parle", in clner
even Ubersetzung » herausgebracht
tnd hofft nun, da® Sue wieder — und
nicht 2u knapp — seine Leser findet®
Das einst dheraus erfolgreithe, dann
lange unbeachtete Werk erdtfact eine
neve Hanser-Rethe, die Bibliothek
Ser Abenteuer, Geheimnisse und Ent-
Seccungen", und es verdankt seine
Ausgrabung — wie jene ,Bibliothek"
insgesamt ihre Begrindung — nicht
auletzt gewisson Mangelerecheinangen,
Ger modernen Literatur.
Bin Lesevergndgen ist verlorenge-
gangen: die alte, ungebrocvene
Schmdkertust", 50, umschrelbt eine
Hanser-Werbebroschtire dle Situation:
Die Entfhrung des Lesers durch das
Spannende Buch — sie glickt nur noch
selten.” Diesen Notstand 2u beheben,
hat Hanser algo welt zurdckgegritfen,
zuntiehst aul Sue tind suf den Roman
“Das Golstersehitt oder Der Hiegende
Hollander" des britisehen Kapitins
Frederick Marryat (1792 bis 1848).
Diese Bemihungen um die Wieder
entdeceung von spannenden Antiqui-
titen sind allerdings so neu und ein-
aigartig euch wieder nicht,
Befligelt vom ,Schmékerlust*-Man-
ko dor Literatur-Moderne und von der
Zuerst Sronisch, neuerdings auch ernst-
haft-theoretisch begrondeten’ Auf-
wertung der Triviailiteratur, haben
Seutsche Verlage in den letzten Jahren
schon Wilkie Collins und Emile Ga-
orleu, Jules Verne und Kerl Mays
;Waldréschen" wieder hervorgeholt
Hanser selbst hat sich bereits mit 3el-
ner Bibliotheca Dracule” einschligig,
verdient gemacht. Und. gerade jetzt
Setzt Diogenes seine ,Sammiung Klas-
sische Abenteuer" fit dem Roman
vSie des englischen Abentever-Klas-
Sikers Sir Henry Rider Haggard fort,
Brat Barmeler & Nikel die (Greilich
‘schon neuzeltlcheren) Tarzan-Schwar-
ton von Edgar Rice Burroughs aus,
Mit Rugéne Sues ,Geheimnissen von
Paris’ kommt nun frellich ein be-
sonders " Iteraturgesckicntstelchtiger
Schmbker wieder ans Licht
Der Vertasser, wohthabender Pari
ser Arzi-Sohn ‘und. Patenkind der
Kalserin Joséphine, hatte zunichst
Medizin studiert, mii 25 Jaheen jedoch
zu schreiben begonnen. Den ganz gro-
+ Busine Sue: Die Gebelmnisze von
vari Ubersett und bearbeltet von Boom.
fara oles. Hanser Verlag, Manchen’
Seiten: i Marie
190
Kuttur
a
ae
Romanautor Sue
Zur Enifohrung never leser
Ben Coup landete er erst 1882 mit den
pMystéres de Peris": Das ols unter
hialtsam-sozialkritische Schiderung
der Pariser Atmen- und Unterwelt
konziplerte Werk erschien als ciner
der ersten Forteetzungsromane in der
Pariser Tageszettung Journal des
Débats und machte Sue'20 elnem der
popullirsten Autoren seiner Zeit
2wel Jahre Jang, so berichten die
Nachwort-Autoren. der _Tenser-Aus-
gabe, Norbert Miller und Karl Riba,
‘war allmorgendiich nach Auslieferung
Ges Journal des Débats" far cine
Stunde ,an geregelte Arbeit im Parla-
ment so wenig zu denken wie bel der
Mlllabtukr, Tout Paris verschlang dle
sGehelmnisse", und in der Proving
“pflegien ganze Dorfschafien dem
Brieftriger entgegenzugehen*, der die
neue ,Débats"-Nummer brechte, und
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Zeitgendssisches Sue-Plokat
sin Seomaker vom Schurimann
sich die Romantortsetzung dana vom
Dorfechulmeleter voriesen zu. lassen.
Fur den Roman wurde mit Plakaten
geworben,
Dabel lag das Brfolgsgeheimnis der
aGehelmnisse” wohl nicht einmal
‘Yorwlegend in der reilerischen Hand-
lung dieses Bectsellors.
Inkognito spaziert in Sues Roman
ein Grogherzog Rudolf von Gerolsiein
dundh ‘dle verrufensten Gassea von
Paris, Er hat Barenkrafte in gen zar=
ten Hiinden und sorgt — ein deutscher
Gott in Frankreich — fir Recht und
Ordnung: So rettot er eine echéne Un~
schuld mamens Marie vor einem bru-
talen ,Schurimann” (Rotwelsch: Mes-
serstedher), der mit dem MEdehen ge-
rede ,Getinkel schwichen™ (Brannt-
‘wein_finken) will, Rudolf verdrischt
den Sdhurimann so lange, bis dieser
sich thm unterwirtt; dann schwhchen
alle dret gemeinsam Gefinkel.
Rudolf und Marie miissen unwahr-
scheinlleh “sehredkliche Gefaieen und
sehreddich unwahrscheinliche " Zovi-
schenfulle uberstehen. Der Edelmann
wird halbtot_geschlagen, in finstere
Keller gesperrt, von einer helratswi-
tigen Schoitin verfolgt, und belnahe
certrinkt er lich noch in den Pariser
Abwhssern.
Doch das Gute kommt immer wieder
hoch. Und Rudolf Kena weiterhin nach
elgenem Ermessen Lohn und. Strafe
ausiellen, hari, aber gerecht: Binem
Unhold beispielsweise IAgt er zwar sie
‘Augen ausstechen, schenkt ihm aber
aud einen Batzen Geld. Marie, le
Reine, entpuppt sich sehliesiich als Rae
dots Tochter.
‘Mebr noch als mit solchen grellen
Fabulier-Etfokten erregte Sue. seine
Leser-Zeltgenosson jedoch mit der rea
istisehen Schilderung eines bis danin
terarisch wenig erschlossenen Mic
Jieus. In den ,Gehelmnissen von Pac
ris", "so Jobte ein. zeltgendssischer
Kritiker, rit der Roman zum ersten
Male dem Blend des Volkes nahe."
Zuischen aller Kolportage formier~
ten sien Sues Pariser Szenen zu einem
"oo aer Literaturwiseenschattler Vol-
ker Klotz — ylautstarken Autruf um
Mitlelé und Verstindais fr die im
Dunkeln™: Sue ,prangerte den verrot-
feten, schidigenden Zustand. sozialer
Einrichtungen on; dle Verhtltnisse in
den Zuchthbusern, in den Krenkon-
hhiusern der Armen. Er beflrwortete
Arbeltslosenunterstitzung und. She-
scheldung, er kimptte gegen "Todes-
strafe und Schuldgetingnis.
Bim Zeltgenosse allerdings kritister-
te schon damals die Naivitat von Sues
‘Mitieldsappelien, die an den tieferen
soalalen Ursachen des Blends vorbel
ingen, und zerpfidckte irontsch die
Dirgerlich-christliche Moral des edlen
Sue-Helden Rudolf: Kar! Marx, 1885 in
seiner Schrift ,Die heilige Familie".
Die im Dunkela indes dankten dem
Autor der ,Gehelmnisse von Paris”
Noch der Revolution von 1848 wurde
Sus mit 130 000 Arbeiterstimmen in die
Nationalversammiung gewanit
Den Erfolg seiner .Mystirest hat
‘Suc mit epdteren Werken nicht mehrkuitur
enreleht. Aber dle literarischen Fin-
flsse, die von seinem Roman-Bild der
GroBstadt als “Dschungel ausgingen,
relchea noch bis zu Alfred Doblins
“Berlin Alexanderplatz"
Anspruchslose Nachahmer dagegen,
so berichten die Hanser-Nachworter,
Waren bald zur Stelle: Die letzte Fort
selzung der ,Mystéres de Paris" war
kaum erschienen, da kamen schon die
Geheimnisse von Rom heraus, die Ge-
hheimnisse von Wien tund die ‘Gehelm-
nisse von Prag, die Gekeimnisse von
Berlin und die Geheimnisse von Ham-
‘burg, Und ‘auch, belapielewelse, dle
von Konigsberg.
PHILOSOPHEN
RUSSELL
Telegramm nach Moskau
Dyecenes ist eentwie, unkotn-
lich", urtellte ‘vor Jahren ein
Freund des Philosophen und. strelt=
sUchtigen Pazifisten Bertrand Russell
(1872 bis 1970) ber dessen Verhiltnis
Sekrotér Schoenmon, Russell
liebor serben als dos schreiben’
zu seinem —Privatsekretir
Schoenrean.
Fast cin Jahrzehnt lang, von 1960 bis
1969, war “der ehemalige Princeton
Student der Sekretar und engste Ver-
traute Russells gewesen. Als Alter ogo
des gebrechlichen Lords hatte. der
junge Amerikaner die Aktionen der
biltischen Atomwaffengegner gema-
nagt, Demonstrationen gegen den
Krieg der Amerikaner in Vietnam an-
gefllbrt, in Paris, Honol, Peking und
Ost-Berlin verhandelt tnd scalieGiica
1067 in Stockholm das speletakulire
Russell-Tribunal gegen amerikanische
Flegsverbrechen” in Vietnam orga~
isiert (SPIEGEL 20/1967),
Fasziniert von der Tatkraft und dem
Organisationstalent des heute 35}ahri~
gen Schoenman, hatte Russell noch Im
vergangenen Jahr geschwarmt: ,Seine
Mitarbelt war wie eie Késtliche
sche Brise an einem schwilen Tag.”
Ralph
EB SPIEGEL, We. yN97D
Rewunderer des Philosophen hinge
gen hatlen sich Gber den groben,
‘manchmal unfldtigen Stil der Aufsitze
lund Flugschriften gewundert, die aus
Russells Refugium, einem Landhaus
bei Penrhyndeudracth | (Nordwales),
Kamen. ,Bertie wlirde Lieber sterben
‘das schreiben", erfuhr die ameri-
inische Journalistia Flora Lewis von
einem ‘Bokannten Russells. Und dic
eNew York Times* rétselte, ob das
Vietnam-Tribunal das Werk’ Russells
‘oder Schoenmans sel
Erst vorletute Woche, fast auf den
‘Tag genau _sieben Monate nach dem
‘Tode Russells, scheint das Unbeirliche
und" Ratselhafte im Verhaltnis von
Philosoph. und Sekretir autgedeakt.
Die ‘Londoner Underground-Zettung
Black Dwarf" ver6ffenilichte ein im
Dezember 1968 von Russell verfastes
sprivates Memorandum, betreffend
Ralph Schoenman.
Den cinst viel gelobten Sekretir, den
cer sogar adoptioren wollte, beschuldigt
Russell in seiner rund 7500 Worte
angen Erkdirung, er set ,ageressiv
und vallig disziplinios" gewesen. Seine
Stellung habe er nur dazu benutzt, um
sich selbst in den Vordergrund, zu
Ucken. So habe er ihn einmal zu elner
Anti-Vietnam-Demonstration tberre-
et, nurum sich wieder einmal mitshm
phctographieren laccen zu kénnen.
‘Schoenman habe ihn auch durch
unkorrelte Berichte irregefunrt, klagt
der Paflosoph welter, und durch sein
‘arrogantes"diktatorisches Auftreten
die Friedensbewegung in Midlredit
kebracht.
Hehepunkt in Russells Rechtferti-
gung: die Erklarung, nicht ex, sondern
Schoenman sei der Verfasser jenes
umstrittenen Telegramms gewesén, in
dem Russell wibrend der Kubs-Krise
Chruschtschow gebeten hatte, sich
nicht durch die unverantwortliche
‘Altion der Amerikaner in Kuba
rovozioren zu lascen*. Nach stunden-
Jangen Diskussionen mit Schoenman
sel or, Russell, oingeschlafen, und
‘wanrend dieser Zelt habe sein Sekre~
tar das Telegramm an den Sowlet-
Premier aufgeyeben. Ich wirde nie-
mals cin solcies ‘Telegramm abge-
Schickt haben”
‘Russell versucht zu motivieren, war-
um er sich trotzdem nicht schon friher
von Schoenman getrennt habe: Br habe
‘le Fenler und Trrtmer des jungen
Amerikeners fr unbedeutend gebal-
ten: —angesichts seiner Fahigieit,
Visionen in die Tat umzusetzen"
Erst als Schoonman Russells Bitel-
eit verletete, indem er in einem Briet
an die Direkioren der Russell-Frie-
densstittung ecklarte, alle bedeuten-
den politischen Aktionen Russells
Sselen ‘eigentlich sein Werk gewesen,
bbereute der Philosoph seine Anhang-
ehkeit und brach die Bezlehungen 2u
seinem Sekretir ab.
‘Am bittersten hatte thn Schoen
mans Behauptung getroffen, er, der
Gijanrige, sei senil. Ralph", | 50
sehimpfte er zurdck, ,mu wohl'end-
guitig dem GroSenwahn verfallen
sein
Beweglich-
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