1
Gehörlose haben eine andere Kul- nizieren direkt, was sie zu bestimm- zum Detail. Mindess nennt die Ge-
tur und einen anderen Kommuni- ten Themen denken. Hörende emp- bärdensprache „a storyteller’s dream“
kationsstil als Hörende. Worauf las- finden diese Direktheit häufig als ir- (2006, 106). Sie vertritt die Ansicht,
sen sich diese Unterschiede zurück- ritierend und unhöflich, sodass es in dass in keiner Sprache so anschau-
führen? Auf die Modalitätsunter- so manchen Situationen zwischen lich, detailliert und ausdrucksstark
schiede zwischen der verwendeten Gehörlosen und Hörenden zu Miss- erzählt werden kann, wie in der Ge-
gestisch-visuellen Gebärdensprache verständnissen kommt. Ein weite- bärdensprache. Gedichte, Geschich-
und der vokal-auditiven Lautspra- rer Punkt, den Mindess beschreibt, ten und Lieder in Gebärdenspra-
che? Und – falls dies zutrifft – ließe bezieht sich auf die Intensität der che sind oftmals atemberaubend
sich daraus ableiten, dass Gehörlose Kommunikation. Neue Informatio- und poetisch herausragend. Gebär-
anders denken? nen werden bei Gehörlosen sofort densprache ist eine beschreiben-
und an alle weitergegeben und in- de Sprache, d. h. Gehörlose neigen
tensiv diskutiert. Auch bei Entschei- dazu, Sachverhalte detailliert und
1. Einleitung dungen bezieht man andere Gehör- anschaulich zu beschreiben. Das ist
lose gerne mit ein, anstatt dass sie für die Poetik wunderbar, aber im
310 DZ 85 10 „Denken Gehörlose anders?“ Das ist alleine überdacht und getroffen wer- Alltag erscheint es gerade Hörenden
eine Frage, die sich sicherlich jeder, den. Hörenden erscheint diese Art der oft befremdlich und überflüssig.
der mit Gehörlosen arbeitet, schon intensiven Kommunikation oft als Worin liegen nun die Gründe für
einmal gestellt hat. Allerdings kann eine überflüssige und triviale Form den Hang Gehörloser zu einem de-
man sie nicht einfach mit „Ja“ oder der gesellschaftlichen Unterhaltung. taillierten und anschaulichen Kom-
„Nein“ beantworten, denn je nach- Mindess erklärt diesen spezifischen munikationsstil? Es ließe sich ver-
dem, welche Aspekte des Denkens Kommunikationsstil jedoch zum ei- muten, dass dies mit der Modalität
betrachtet werden, findet man unter- nen mit dem Bedürfnis nach um- der Gebärdensprache zu tun hat. Ge-
schiedliche Antworten. Grundsätz- fassender Information, da Gehörlo- hörlose kommunizieren gestisch-vi-
lich kann man nach heutigem For- sen der Zugang aufgrund mangeln- suell, Hörende hingegen vokal-au-
schungsstand davon ausgehen, dass der Schriftsprachkenntnisse oft ver- ditiv. Gebärdensprachen und Laut-
kognitive Fähigkeiten wie Aufmerk- sperrt ist, und zum anderen mit dem sprachen unterscheiden sich in der
samkeit, Erinnerung, Lernen, Planen nichtliteralisierten Status der Gebär- Modalität, d. h. die Materialität der
usw. universell sind und sich Ge- densprache.2 Es gibt keine Verschrift- Kommunikationsformen Gehörloser
hörlose in diesen Fähigkeiten nicht lichung der Gebärdensprache, sodass und Hörender ist eine andere. Aber
von Hörenden unterscheiden. Dies Informationen in erster Linie im di- kann die unterschiedliche Modalität
konnte in Untersuchungen mit dem rekten Gespräch ausgetauscht wer- der Deutschen Gebärdensprache und
Aachener Testverfahren zur Berufs- den müssen. Beide Erklärungen für der deutschen Lautsprache dazu füh-
eignung Gehörloser (ATBG) an mitt- den andersartigen Kommunikations- ren, dass Gehörlose und Hörende an-
lerweile mehr als 1.000 Testpersonen stil Gehörloser treffen zu, aber darauf ders kommunizieren und womöglich
europaweit gezeigt werden (Kramer soll an dieser Stelle nicht näher ein- anders denken? Diese Frage wurde in
et al. 2002). gegangen werden. einer Vielzahl von Experimenten von
Dennoch fällt auf, dass Gehörlose Ein weiterer Aspekt, den Mindess mir untersucht und soll im Folgenden
in ihrer Sprachgemeinschaft einen beschreibt, ist der Hang Gehörloser diskutiert werden.3
Kommunikationsstil pflegen, der sich
hinsichtlich Inhalt und Struktur von
1
dem Hörender unterscheidet. Min- Der Begriff „Gehörlose“ umfasst, wie er im Folgenden verwendet wird, auch die Gruppe
der hochgradig Schwerhörigen, die in ihrer Kommunikation ganz oder z. T. auf die Gebär-
dess (2006) hat dargelegt, wie sich
densprache zurückgreifen.
die Kommunikationskulturen hören- 2
Vgl. dazu auch Jäger 1997; 2000 und 2002 und Fehrmann 2001.
der und gehörloser Amerikaner un- 3
Die Untersuchungen wurden im Forschungskolleg SFB/FK 427 „Medien und kulturelle
terscheiden. So gebärden Gehörlose Kommunikation“ (1999–2008) unter der Leitung von Prof. Dr. Ludwig Jäger und Prof. Dr.
in der Regel sehr offen und kommu- Klaus Willmes-von Hinckeldey an der Universität Köln durchgeführt.
Beitrag aus: DAS ZEICHEN 85/2010 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (www.sign-lang.uni-hamburg.de/signum/zeichen/)
LINGUISTIK
Abb. 1: Schnelle
Artikulation von
inkorporierten
Inhalten
2. Modalitätsbedingte Unter- 2.1. Simultaneität gische Prozesse besteht. Die Zeit, die
schiede zur Produktion von gebärdensprach-
Schon seit Beginn der modernen Ge- lichen und lautsprachlichen Sätzen
Der linguistische Status und die bärdensprachforschung ist bekannt, bzw. Texten benötigt wird, ist des- DZ 85 10 311
Struktur von Gebärdensprachen ist dass sich die zentralen Artikulato- halb annähernd die gleiche (Sandler
in vielen Untersuchungen doku- ren für Gebärden, die Hände, relativ 1993; Emmorey 1995).
mentiert worden (Klima & Bellugi langsam im Raum bewegen, sodass So lässt sich bspw. der Satz in
1979; Bergman 1983; Kyle & Woll die Artikulation einer monomorphe- Abbildung 1: „Ein Auto fährt lang-
1985; Supalla 1986; Liddell & John- matischen Gebärde im Durchschnitt sam die kurvige Straße hügelauf-
son 1989; Sandler 1989; Lillo-Mar- doppelt soviel Zeit benötigt, wie die wärts und oben angekommen, ganz
tin 1991; Boyes Braem 1992; Eng- Artikulation eines monomorphema- schnell auf der anderen Seite wieder
berg-Petersen 1993). So konnte ge- tischen Wortes. Zur Artikulation von runter“ in der Gebärdensprache sehr
zeigt werden, dass Gebärdenspra- Gebärden werden ca. 1.000 ms be- viel schneller artikulieren als in der
chen auf den verschiedenen lingu- nötigt, wohingegen Wörter in nur Lautsprache, weil sich viele Informa-
istischen Ebenen (Phonologie, Mor- 500 ms artikuliert werden (Bellu- tionen inkorporieren, d. h. simultan
phologie, Semantik und Pragmatik) gi & Fischer 1972; Grosjean 1979a ausdrücken lassen.
den Lautsprachen strukturell ver- und b; Emmorey 1995). Dieser Nach- Das bedeutet also, dass der Nach-
gleichbar sind und auch der Sprach- teil in der motorischen Ausführung teil der langsamen Artikulation von
erwerb bei gehörlosen und hörenden wird jedoch kompensiert durch den Gebärden durch Simultaneität kom-
Kindern in vergleichbaren Lernstu- Vorteil, den der visuelle Modus bie- pensiert wird. Wo sich der vokal-au-
fen verläuft (Newport & Meier 1986; tet. In der gestisch-visuellen Moda- ditive Modus vor allem zur schnel-
Pizzuto & Volterra 2000). Wo liegen lität ist es möglich, bedeutungstra- len Wahrnehmung und Produktion
nun die Unterschiede zwischen Ge- gende Einheiten räumlich-simultan von sequenziell angeordneten Infor-
bärden- und Lautsprachen, die dazu zu artikulieren, d. h. unterschiedli- mationseinheiten eignet, bietet der
führen könnten, dass das begriffli- che Informationen werden systema- gestisch-visuelle Modus den Vor-
che Denken aufgrund der Verwen- tisch in simultan auftretende Struk- teil der räumlich-simultanen Arti-
dung von Gebärdensprache ein an- turschichten eingebettet. Die An- kulation von Sprachzeichen. Die be-
deres ist als bei der Verwendung ei- zahl linear angeordneter morpholo- schriebenen modalitätsspezifischen
ner vokal-auditiven Lautsprache? gischer Segmente ist in der Gebär- Unterschiede führen vermutlich in
Die wichtigsten modalitätsbeding- densprache wesentlich geringer als der gestisch-visuellen Modalität zu
ten Unterschiede zwischen Gebär- in der Lautsprache. So besteht in Ge- einer weniger ausgeprägten sequen-
den- und Lautsprache bestehen in bärdensprachen eine Präferenz für ziell angeordneten isolierenden Mor-
der Art der Artikulation und im Grad simultane Morphologie, wohinge- phosyntax und zu einer Bevorzugung
der Ikonizität von Gebärden- und gen in der vokal-auditiven Modalität von polymorphematischen Gebärden
Lautsprachzeichen. eine Präferenz für lineare morpholo- (Wallin 1994).
Beitrag aus: DAS ZEICHEN 85/2010 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (www.sign-lang.uni-hamburg.de/signum/zeichen/)
L I NGU I S T I K
2.2. Ikonizität lung erhalten. Die Ikonisierung pro- der Länge und Breite ausgedehnter
filiert den Formaspekt des Sprach- ist als in der Höhe und es ein „Vorne“
Neben der Simultaneität gibt es zeichens. Gleichzeitig wird das iko- und ein „Hinten“ gibt. Könnte diese
noch einen weiteren wichtigen Un- nische Zeichen durch seine Integra- Fokussierung Auswirkungen auf die
terschied zwischen Gebärden- und tion in das Netz des Sprachsystems in Stärke der semantischen Relationen
Lautsprache, der auf die Modalität eine sprachrelationale Opposition zu innerhalb des Konzeptes „Auto“ ha-
zurückgeführt werden kann. So un- anderen Sprachzeichen gebracht und ben?
terscheiden sich Gebärden und Wör- erhält durch seinen Wert im System
ter im Grad der Ikonizität, d. h. der eine spezifische Bedeutung. Im Pro- 3. Auswirkungen der Modalität
wahrgenommenen Ähnlichkeit zwi- zess der Symbolisierung des Ikoni-
schen dem Bezeichneten (Denotat) schen sind die medialen Formeigen- Wenn Simultaneität und Ikonizi-
und der materialen Form des Zei- schaften von Sprachzeichen weniger tät einen Einfluss auf die Organisa-
chens. Die räumlich-topologische relevant, da vornehmlich auf der Ba- tion und den Abruf von Wissen ha-
Struktur der Gebärdensprache bie- sis der sprachrelationalen Struktur, ben, wie würde dieser dann ausse-
tet ein gänzlich andersartiges Arti- in die das Sprachzeichen eingebettet hen? Unser Wissen ist – modellhaft
312 DZ 85 10 kulationsfeld als die lautliche Moda- ist, bewusste Bedeutung konstituiert betrachtet – in semantischen Netz-
lität. Der Anteil ikonischer und inde- wird. Ikonisierung hingegen ermög- werken organisiert (Collins & Lof-
xikalischer Sprachzeichen ist in der licht eine Fokussierung auf die Ma- tus 1975), d. h. Begriffe und Wör-
Gebärdensprache wesentlich ausge- terialität, indem das Zeichen aus sei- ter sind assoziativ miteinander ver-
prägter als der Anteil onomatopo- nem sprachsystematischen Zusam- knüpft. Diese Verknüpfungen zu an-
etischer, also lautmalerischer Wör- menhang gelöst wird. deren Begriffen haben eine gewis-
ter in der Lautsprache (Klima & Bel- Simultaneität und Ikonizität se Stärke, die je nach Art der Rela
lugi 1979). Verschiedene Wahrneh- bedingen einander, d. h. wenn Ge- tion und auch individuell verschie-
mungs- und Gedächtnisstudien be- bärden simultan gebärdet werden, den sein können. Wenn bspw. Pro-
legen, dass kompetente Gebärden- dann ergibt sich aufgrund der Ver- banden in einem Assoziationsexpe-
sprecher ikonische Gebärden ebenso wendung von Klassifikatoren immer riment das Wort „Vater“ dargeboten
wie nicht-ikonische Gebärden rein ein gewisser Grad an Ikonizität. Ge- wird, dann fällt den meisten von ih-
sprachlich verarbeiten (Bellugi, Kli- bärdensprachen haben linguistische nen als erstes das Wort „Mutter“ ein.
ma & Siple 1975; Siple, Caccamise Strukturen aus morphematischen Das heißt, Wörter stehen in einer Be-
& Brewer 1982; Hanson & Bellugi Elementen ausgebildet, die ver- ziehung zueinander, sie sind mitein-
1982; Shand 1982). Inwieweit kön- schiedene Form- und Bewegungs- ander verknüpft und diese Verknüp-
nen dann aber die ikonischen An- einheiten von Objekten und Subjek- fungen werden als semantische Rela-
teile eines Zeichens die Prozesse der ten klassifizieren (Klassifikatoren) tionen bezeichnet. Dabei unterschei-
Begriffsbildung und Wissensgene- und sich deshalb hervorragend zur det man zwei Arten von Relationen:
rierung beeinflussen? Generierung von neuen gebärden- 1. den paradigmatischen Relationen
Wenn man davon ausgeht, dass sprachlichen Zeichen und zur Inkor- und 2. den syntagmatischen Relatio-
Erkenntnisprozesse grundsätzlich poration verwenden lassen. Um auf nen (s. Abb. 2).
zeichenvermittelte Prozesse sind, unser Beispiel zurückzukommen: Die Begriffe, die in paradigma-
dann wird die Ähnlichkeitsbezie- Für den Begriff „Auto“ wird ein Klas- tischer Relation zueinander stehen,
hung zwischen Ikon und Referenz- sifikator verwendet, nämlich die fla- sind hierarchisch in Klassen geordnet.
objekt aktiv konstituiert. Das be- che Hand, und dieser wird entspre- Das Basis-Lexem „Auto“ hat bspw.
deutet, dass im Prozess der Ikonisie- chend der semantischen Inhalte be- den Oberbegriff „Fahrzeug“, die Ne-
rung auf bestimmte Eigenschaften wegt. Im Prozess der Ikonisierung benordnungen „Zug“ und „Bus“ und
des semantischen Konzeptes fokus- fokussiert der Klassifikator auf be- als Unterbegriffe „Cabriolet“ oder
siert wird, diese dadurch vermut- stimmte Eigenschaften des seman- „Kombi“. Syntagmatische Relationen
lich markiert werden und im seman- tischen Konzeptes „Auto“, nämlich entstehen aufgrund des gemeinsa-
tischen Netz eine exponierte Stel- auf die Tatsache, dass ein Auto in men Gebrauchs von Wörtern in Sät-
Beitrag aus: DAS ZEICHEN 85/2010 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (www.sign-lang.uni-hamburg.de/signum/zeichen/)
LINGUISTIK
Beitrag aus: DAS ZEICHEN 85/2010 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (www.sign-lang.uni-hamburg.de/signum/zeichen/)
L I NGU I S T I K
Beitrag aus: DAS ZEICHEN 85/2010 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (www.sign-lang.uni-hamburg.de/signum/zeichen/)
LINGUISTIK
1000,00
nuierliche Verwendung der Lautspra-
900,00
che führt zu tendenziell starken Ober-
800,00
begriffs- und Nebenordnungsrelatio-
Oberbegriffe Nebenordnungen Aktionen Attribut nen, was sich in niedrigen Reaktions-
Paradigmatische Relationen Syntagmatische Relationen zeiten für diese Gruppen von Relatio- DZ 85 10 315
nen ausdrückt.
Die Ergebnisse der bilingualen Hö-
zuerst in Gebärdensprache und zum men kostet Zeit und führt zu länge- renden im Vergleich zu den monolin-
späteren Zeitpunkt in Lautsprache ren Worterkennungszeiten. Insbe- gualen Hörenden sehen anders aus.
dargeboten oder umgekehrt. Die Er- sondere Compound-Bilinguale, wie Unter Berücksichtigung der längeren
gebnisse waren überraschend: Die die getesteten Probanden in diesem Worterkennungszeiten könnte man
bilingualen hörenden Probanden Experiment, aktivieren auf der pho- die Ergebnisse der bilingualen im Ver-
zeigten in beiden Experimenten die nologischen Ebene beide Formen gleich zu den monolingualen Laut-
gleichen Reaktionsmuster, d. h. hohe des Lexems, d. h. nicht nur die laut- sprachlern dahingehend interpre-
Reaktionszeiten für Nebenordnun- sprachliche Wortform wird aktiviert, tieren, dass beide Gruppen ähnliche
gen, niedrige für Aktionen und mitt- sondern gleichzeitig die gebärden- Reaktionszeiten in den paradigma-
lere für Oberbegriffe und Attribu- sprachliche (Costa et al. 2000, 1285; tischen Relationen zeigen, die bilin-
te.5 Im Vergleich von bilingualen hö- Dijkstra et al. 1998). Deshalb muss gualen Hörenden allerdings schnel-
renden zu monolingualen gehörlo- man davon ausgehen, dass die Re- ler in der Verifikation von syntagma-
sen Probanden finden sich entspre- aktionszeiten der bilingualen Hö- tisch verknüpften Begriffen sind.
chend andere Unterschiede, als zwi- renden für Wörter und Gebärden in Insgesamt betrachtet kann man
schen monolingualen Hörenden und diesem Experiment grundsätzlich diese Ergebnisse dahingehend inter-
Gehörlosen (s. Abb. 4). Bei der Inter- niedriger wären, wenn die gebärden- pretieren, dass bei den bilingualen
pretation der Ergebnisse muss man sprachlichen Lexeme nicht gleichzei- Hörenden beide Sprachen, d. h. so-
allerdings grundsätzlich davon aus- tig aktiviert werden würden. wohl die gestisch-visuelle Gebärden-
gehen, dass die Reaktionszeiten der Unter Berücksichtigung dieser sprache als auch die vokal-auditive
bilingualen Probanden höher liegen Überlegungen sind bilinguale Hö- Lautsprache, einen Einfluss auf die
als die der monolingualen Proban- rende im Vergleich zu monolingua- Ausbildung von semantischen Re-
den, weil die bilingualen in diesen len Gehörlosen schneller in der Veri- lationen haben. Die Gebärdenspra-
Arten von Experimenten in der Re- fikation von paradigmatischen und che stärkt syntagmatische Relatio-
gel beide Lexeme aktivieren, also die ähnlich schnell in der Verifikation nen, die Lautsprache paradigmati-
gebärden- und die lautsprachlichen. von syntagmatischen Relationen. sche. Diese Ergebnisse geben erste
Die Aktivierung beider Zeichenfor- Es könnte sein, dass hier der stärke- Hinweise darauf, dass die Modalität
einer Sprache die Stärke der seman-
5
Das Niveau der Reaktionszeiten ist für dargebotene Gebärden durchschnittlich höher tischen Relationen im mentalen Lexi-
als für dargebotene Wörter, da die Dauer der Videos länger ist als die Dauer der Audios. kon beeinflussen kann.
Beitrag aus: DAS ZEICHEN 85/2010 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (www.sign-lang.uni-hamburg.de/signum/zeichen/)
L I NGU I S T I K
Beitrag aus: DAS ZEICHEN 85/2010 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (www.sign-lang.uni-hamburg.de/signum/zeichen/)
LINGUISTIK
Verifikationsaufgabe mit Gebärden/Wörtern und Bildern Die Präferenz Gehörloser für Si-
multaneität und damit für polymor- Abb. 6: Ergebnisse
Gehörlose Hörende Bilinguale-Gebärden Bilinguale-Lautsprache phematische Gebärden führt – so der monolingu
die Ausgangsthese – zu einer Ver- alen gehörlosen
900
und hörenden so
stärkung der semantischen Relatio-
wie der bilingu
nen zwischen syntagmatisch verbun-
alen hörenden
denen Konzepten im semantischen
Reaktionszeiten in ms
Probanden im
Netzwerk. Die Relationsstärken zwi- Verifikations
schen paradigmatisch verbundenen experiment mit
800
Konzepten werden vom Mechanis- ikonischen Gebär
mus der Simultaneität nicht beein- den bzw. nicht-iko
flusst und deshalb durch die Materia- nischen Wörtern
lität der Sprache nicht verstärkt. Si- und Bildern
multaneität wird vorwiegend durch
700 die Verwendung von Klassifikatoren
Ikon-Korrespondenz Keine Ikon-Korrespondenz erzeugt. Diese provoziert vermutlich DZ 85 10 317
Bilder-Typ die reiche Verwendung syntagma-
tisch miteinander verknüpfter Kon-
rungsprozesse? Denken Gehörlose zwei Klassen besteht: den Manipula- zepte und ist ein Grund dafür, dass
in diesem Sinne anders? Ich würde toren und den Substitutoren (Schem- viele Gehörlose sehr anschaulich,
diese Frage vor dem Hintergrund der bri 2003). Klassifikatoren greifen be- bildhaft und beschreibend erzählen.
dargestellten Ergebnisse mit „Ja“ be- reits sprachlich eingeführte Diskurs- Die räumlich-visuelle Modalität bie-
antworten. objekte wieder auf und spiegeln de- tet ungemein vorteilhafte Möglich-
Und zwar wirkt sich die Ver- ren wahrnehmbare inhärente Eigen- keiten des ausdrucksstarken und an-
wendung von Gebärdensprache auf schaften, wie z. B. Form, Handhabung, schaulichen Erzählens. Simultanei-
die Stärke der syntagmatischen Re- Größe usw. Als morphologische Ein- tät und Ikonizität sind demnach ein
lationen im konzeptuellen System, heit sind Klassifikatoren syntagma- echter Vorteil der Gebärdensprache
d. h. auf die Begriffsbildung aus, was tisch von einem nominalen Bezugs- gegenüber der Lautsprache.
wahrscheinlich wiederum mit der wort abhängig und referieren ana- Lässt sich in zukünftigen Unter-
räumlich-simultanen und ikoni- phorisch auf das zu klassifizieren- suchungen weitere Evidenz dafür
schen Struktur der Gebärdensprache de Objekt. Die Mitteilung charakte- finden, dass die strukturellen Unter-
zu tun hat. Wie schon weiter oben ristischer Attribute des referenziel- schiede zwischen einem gebärden-
ausgeführt, kompensieren Gebärden- len Ausdrucks erfolgt demnach vor- sprachlichen und einem lautsprach-
sprachverwender die langsame Arti- zugsweise auf der Basis von Sprach- lichen Lexikon auf die Sprachmoda-
kulation von Einzelgebärden durch zeichen, die aufgrund ihrer Spezifizi- lität zurückzuführen sind, so wären
Simultaneität, d. h. es besteht ein tät eine enge Relationierung zum Be- erstmalig empirische Belege für den
gewisser Druck, möglichst viele ge- zugskonzept im semantischen Netz- Einfluss der Sprachzeichenmodalität
bärdensprachliche Konzepte simul- werk aufweisen. Allerdings ist Simul- auf die Organisation semantischer
tan zu artikulieren. Dies geschieht taneität, d. h. die ‚Verschmelzung‘ Konzepte gefunden.
in vielen Fällen durch die Modula- verschiedener semantischer Einhei-
tion einzelner Gebärdensprachpara- ten, nur für Konzepte möglich, die in Literatur
meter (Bewegung, Ausführungsort, einer syntagmatischen Beziehung
Handform, Handstellung und Mimik). zueinander stehen. Paradigmatisch Bellugi, Ursula & Susan D. Fischer
Der grammatische Mechanismus, der verbundene Konzepte können in der (1972): „A comparison of sign lan-
(soweit erforscht) allen Gebärden- Gebärdensprache – ähnlich wie in der guage and spoken language“. In:
sprachen gemein ist, basiert auf ei- Lautsprache – ausschließlich sequen- Cognition 1, 173–200.
nem Klassifikationssystem, das aus ziell vermittelt werden. Bellugi, Ursula; Edward Klima & Pa-
Beitrag aus: DAS ZEICHEN 85/2010 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (www.sign-lang.uni-hamburg.de/signum/zeichen/)
L I NGU I S T I K
tricia Siple (1975): „Remembering Frishberg, Nancy (1975): „Arbi- Jäger, Ludwig (2000): „Die Sprachver-
in signs“. In: Cognition 3, 93–125. trariness and Iconicity. Histori- gessenheit der Medientheorie. Ein
Bergman, Brita (1983): „Verbs and ad- cal Change in American Sign Lan- Plädoyer für das Medium Sprache“.
jectives: Morphological process- guage“. In: Language 51, 696–719. In: Werner Kallmeyer (Hg.): Spra
es in Swedish Sign Language“. In: Grosjean, François (1979a): „A study che und neue Medien. Berlin & New
Jim Kyle & Bencie Woll (Hg.): Lan of timing in a manual and a spoken York: de Gruyter 2000, 9–30.
guage in sign: An international per language: American Sign Language Jäger, Ludwig (2002): „Sprache und
spective on sign language. London: and English“. In: Journal of Psycho Schrift. Literalitäts-Mythos und
Croom Helm, 3–9. linguistic Research 8/4, 379–405. Metalanguage Hypothesis“. In: Vit-
Boyes Braem, Penny (1992): Einfüh Grosjean, François (1979b): „The pro- toria Borsò; Vera Viehöver; Gertru-
rung in die Gebärdensprache und duction of sign language: Psycho- de Cepl-Kaufmann; Sibylle Schön-
ihre Erforschung. Hamburg: Sig- linguistic perspectives“. In: Sign born & Tanja Reinlein (Hg.): Schrift
num. Language Studies 3, 317–329. gedächtnis – Schriftkulturen. Stutt-
Collins, Allan M. & Elizabeth F. Lof- Grote, Klaudia & Erika Linz (2001): gart & Weimar: J. B. Metzler, 197–
tus (1975): „A spreading activation „The Influence of Sign Language 217.
318 DZ 85 10 theory of semantic processing“. In: Iconicity on Semantic Conceptual- Keller, Rudi (1995): Zeichentheorie. Zu
Psychological Review 82, 407–428. ization Processes“. Paper presented einer Theorie semiotischen Wissens.
Costa, Albert (2005): „Lexical access in at the Third International Sympo- Tübingen und Basel: Francke.
bilingual production“. In: Judith F. sium on Iconicity in Language and Klima, Edward & Ursula Bellu-
Kroll & Annette M. de Groot (Hg.): Literature. Jena, Germany. gi (1979): The signs of language.
Handbook of Bilingualism: Psycho Grote, Klaudia & Klaus Willmes Cambridge, MA: Harvard Univer-
linguistic approaches. New York: (2003): „�������������������������
Do organizational princi- sity Press.
Oxford University Press, 308–325. ples in the mental lexicon influence Kramer, Florian; Wiebke Iversen;
Dijkstra, Ton; Walter van Heuven & the internal architecture of visu- Klaudia Grote; Ulla Louis-Nouvert-
Jonathan Grainger (1998): „Simu- al semantic categories?“. In: Anne né; Sandra Lintz; Isa Werth; Horst
lating cross-language competition Baker; Beppie van den Bogaerde & Sieprath; Uwe Zelle; Ludwig Jäger;
with the Bilingual Interactive Acti- Onno Crasborn (Hg.): Cross-linguis Walter Huber & Klaus Willmes
vation model“. In: Psychologica Bel tic perspectives in sign language re (2002): Aachener Testverfahren zur
gica 38 (3/4), 177–196. search. Selected papers from TISLR Berufseignung Gehörloser (ATBG).
Emmorey, Karen (1995): „Processing 2000. Hamburg: Signum. Psychologie Report. Berlin: Deut-
the dynamic visual-spatial mor- Hanson, Vicki L. & Ursula Bellu- scher Psychologen Verlag GmbH.
phology of signed languages“. In: gi (1982): „�����������������������
On the role of sign or- Kyle, Jim G. & Bencie Woll (1985):
Laurie Beth Feldman (Hg.): Mor der and morphological structure Sign Language: the study of deaf
phological Aspects of Language Pro in memory for American Sign Lan- people and their language. Cam-
cessing. Hillsdale, NJ: Lawrence Erl- guage sentences“. In: Status Report bridge: Cambridge University Press.
baum Associates, 29–54. on Speech Research 69, 171–188. Liddell, Scott K. & Robert E. Johnson
Engberg-Pedersen, Elisabeth (1993): Jäger, Ludwig (1997): „Die Mediali- (1989): „American Sign Language:
Space in Danish Sign Language: The tät der Sprachzeichen. Zur Kritik The phonological base“. In: Sign
semantics and morphosyntax of the des Repräsentationsbegriffs aus Language Studies 64, 195–277.
use of space in a visual language. der Sicht des semiologischen Kon- Lillo-Martin, Diane (1991): Universal
Hamburg: Signum. struktivismus“. In: Maria Lieber & Grammar and American Sign Lan
Fehrmann, Gabriele (2001): „Diskur- Willi Hirdt (Hg.): Kunst und Kom guage: Setting the Null Argument
sive Organisationsstrukturen in munikation. Betrachtungen zum Parameters. Dordrecht: Kluwer Ac-
‚strukturell mündlichen‘ Erzähl- Medium Sprache in der Romania. ademic Press.
texten der Deutschen Gebärden- Festschrift zum 60. Geburtstag von Mindess, Anna (2006): Reading Be
sprache (DGS)“. In: Sprache und Li Richard Baum. Tübingen: Stauffen- tween the Signs. Intercultural Com
teratur 88/32, 53–68. burg, 199–220. munication for Sign Language In
Beitrag aus: DAS ZEICHEN 85/2010 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (www.sign-lang.uni-hamburg.de/signum/zeichen/)
LINGUISTIK
terpreters. 2. Aufl. Boston: Intercul- Sandler, Wendy (1993): „Lineariza- Supalla, Ted (1986): „The classifi-
tural Press. tion of phonological tiers in ASL“. er system in American Sign Lan-
Newport, Elissa L. & Richard P. Meier In: Geoffrey R. Coulter (Hg.): Cur guage“. In: Colette G. Craig (Hg.):
(1986): „The Acquisition of Ameri- rent issues in ASL phonology. New Noun classification and categoriza
can Sign Language“. In: Dan I. Slo- York: Academic Press, 103–129. tion. Philadelphia: John Benjamins,
bin (Hg.): The Crosslinguistic Study Schembri, Adam (2003): „Rethinking 181–214.
of Language Acquisition. Bd. 1: The ‚classifiers‘ in signed languages“. In: Wallin, Lars (1994): Polysynthet
oretical Issues. Hillsdale, NJ: Law- Karen Emmorey (Hg.): Perspectives ic signs in Swedish Sign Language.
rence Erlbaum Associates, 881–938. on classifier constructions in sign Stockholm: University of Stock-
Pizzuto, Elena & Virginia Volterra language. Mahwah NJ: Lawrence holm.
(2000): „Iconicity and transparen- Erlbaum Associates, 3–34.
cy in sign languages: A crossling- Shand, Michael A. (1982): „Sign-based
i
uistic-crosscultural view“. In: Ka short-term coding of ASL signs and
ren Emmorey & Harlan Lane (Hg.): printed English words by congen-
The Signs of Language Revisited: An itally deaf signers“. In: Cognitive
Anthology in Honor of Ursula Bell Psychology 14, 1–12. Klaudia Grote ist Diplom-Psy- DZ 85 10 319
ugi and Edward Klima. Hillsdale, Siple, Patricia; Frank Caccamise & chologin und arbeitet am Insti-
NJ: Lawrence Erlbaum Associates, Laurie Brewer (1982): „Signs as tut für Sprach- und Kommuni-
261–286. pictures and signs as words: effect kationswissenschaft (Lehrstuhl
Sandler, Wendy (1989): Phonologi of language knowledge on mem- DPH, Prof. Dr. Ludwig Jäger) an
cal representation of the sign: Lin ory for new vocabulary“. In: Jour der RWTH Aachen.
earity and nonlinearity in Ameri nal of Experimental Psychology 8/6,
can Sign Language. Dordrecht: Fo- 619–625. E-Mail: k.grote@isk.rwth-
ris Publications. aachen.de
Terminankündigung
Beitrag aus: DAS ZEICHEN 85/2010 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (www.sign-lang.uni-hamburg.de/signum/zeichen/)