gen NOK 86,– Polen (ISSN00387452) ZL 33,– Slowakei € 6,80 Spanien € 6,80 Tschechien Kc 195,- Printed in
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#textilsharing
Gesundheit Deutschland
die Einnahmen nicht mehr so üppig. Datensicherheit Das Start-up
leidet an zu vielen Kranken- Prompt sprechen beide Seiten über ein politisches Teamviewer wurde
häusern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Tabuthema: Steuererhöhungen. Seite 26 Opfer chinesischer Hacker 74
Titelfotos [M]: Xander Heinl / Photothek / Getty Images; Action Press; Titelfoto Teilauflage Österreich [M]: Action Press 7
Das deutsche Nachrichten-Magazin
A
usgerechnet Emmanuel Macron! Ausgerechnet der Beispiel fragen, ob der CSU-Politiker, der noch nie Bürger-
Mann, der Europa bei der französischen Präsident- meister war, geschweige denn Bundesminister, genügend
schaftswahl vor Marine Le Pen bewahrte, ausgerech- Erfahrung mitbringt, um im Handelsstreit gegen Donald
net Frankreichs Präsident, der zum Glück nicht Trump zu bestehen. Auch die Frage, ob ausgerechnet ein
müde wird, die EU mit immer neuen Reformideen zu nerven. Deutscher an die Spitze der Kommission aufrücken muss,
Ausgerechnet dieser Mann also setzt sich kurz vor der Euro- also der Angehörige eines Mitgliedslandes, das in der EU
pawahl an die Spitze derer, die Europas Demokratie sabotie- ohnehin über den größten Einfluss verfügt, muss erlaubt
ren wollen. Er halte nichts vom Konzept des Spitzenkandi- sein (siehe SPIEGEL-Streitgespräch Seite 30).
daten, sagte Macron unlängst beim EU-Gipfel in Rumänien. Aber diese Fragen sollten nicht dazu missbraucht wer-
Auch Bundeskanzlerin Merkel bekräftigte in dieser Woche den, den Wahlsieger (und viele Millionen Wähler) nach der
eine »gewisse Skepsis gegen das Prinzip Spitzenkandidat«. Abstimmung zu diskreditieren. Wenn Weber oder Timmer-
Und Luxemburgs Regierungschef Xavier Bettel sagte: »Das mans gewinnt und es demjenigen gelingt, eine Mehrheit
war sowieso von Anfang an eine im Parlament zu finden, müssen
schlechte Entscheidung.« die Staats- und Regierungschefs
Es stimmt, noch haben sich ihn als Nachfolger Jean-Claude
nicht alle Hoffnungen erfüllt, die Junckers akzeptieren. Alles ande-
mit jener Idee verbunden waren, re wäre ein Demokratieabbau.
die erstmals bei der Europawahl Frankreichs Präsident will die
2014 zur Anwendung kam, als langjährige Vorherrschaft der
Martin Schulz und Jean-Claude Christdemokraten in der EU bre-
Juncker als Spitzenkandidaten ih- chen. Das ist sein gutes Recht.
rer Parteienfamilien ins Rennen Doch statt die Idee des Spitzen-
gingen. Der Sieger, das war die kandidaten infrage zu stellen,
Idee, sollte Chef der EU-Kommis- sollte er Webers EVP besser mit
PHILIPP GUELLAND / EPA-EFE / REX FEATURES
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TI S S OT WATC H E S .CO M
TISSOT, INNOVATORS BY TRADITION
Meinung So gesehen
Achtung, Spoiler!
Mittelalterrätsel endlich gelöst
Markus Feldenkirchen Der gesunde Menschenverstand
G Mehr als 200 Seiten mit rätsel-
Internet
Bundespolizei geht aus dem Entwurf einer Novelle des Darüber hinaus soll es ihr künftig
Mehr Befugnisse Bundespolizeigesetzes hervor, die im
Ministerium erarbeitet wird. Demnach
erlaubt sein, moderne Software mit bio-
metrischen Daten etwa für die Gesichts-
Bundesinnenminister Horst Seehofer soll die Bundespolizei unter anderem erkennung zu füttern. Hausintern
(CSU) will die Bundespolizei mit weite- mehr Telekommunikationsdaten spei- bemängeln Kritiker, dass Seehofer das
ren Befugnissen ausstatten, obwohl im chern dürfen. Außerdem soll sie mehr neue Musterpolizeigesetz nicht abgewar-
Koalitionsvertrag keine solche Kompe- Möglichkeiten bekommen, Wohnräume tet hat, welches alle Polizeigesetze in
tenzerweiterung vorgesehen ist. Das zu überwachen und Zeugen zu schützen. Deutschland harmonisieren soll. AUL
12
Rechtsextremisten Jugendgewalt res Land. Bereits die derzeitige Verbots-
Anti-Asyl-Demos out »Gefühlte Unsicherheit« diskussion schürt das Vorurteil, jeder
laufe mit einem Messer durch die
Proteste gegen Flüchtlinge scheinen Die Soziologin Marie Gegend. Dabei wissen wir wenig über
für die rechtsextreme Szene stark an Christine Bergmann, 31, die reale Gefahr, weil die Polizeistatistik
Bedeutung verloren zu haben. Wie aus vom Kriminologischen diese Tatwaffe nicht gesondert ausweist.
einer vertraulichen Analyse des Bun- Forschungsinstitut Wirklich erschreckend sind schlimme
desamts für Verfassungsschutz (BfV) Niedersachsen über Einzelfälle: Hier scheint es Handlungs-
hervorgeht, ist sowohl die Zahl der Waffenverbote bedarf zu geben.
Übergriffe auf Flüchtlingsunterkünfte SPIEGEL: Sie erforschen Jugendkrimina-
als auch der Anti-Asyl-Demonstratio- SPIEGEL: Einige Bundesländer wollen lität, was zeigen Ihre Studien?
nen seit einiger Zeit massiv rückläufig. Messerstechereien verhindern, indem sie Bergmann: Seit 2013 befragen wir jedes
Während es von Oktober bis Dezem- Waffenverbote an stark frequentierten Jahr 10 000 niedersächsische Neuntkläss-
ber 2015, auf dem Höhepunkt der öffentlichen Orten verhängen. Was hal- ler nach mitgeführten Waffen. Und da
Flüchtlingskrise, 365 entsprechende ten Sie davon? sehen wir tatsächlich einen starken
Protestversammlungen in Deutschland Bergmann: Grundsätzlich ist es positiv, Anstieg bei Messern. 2017 gab jeder fünf-
gab, finden laut BfV seit inzwischen wenn weniger Messer mitgenommen wer- te Jugendliche an, ab und zu eine Klinge
zwei Jahren nicht mehr als 3 Anti-Asyl- den. Bei Auseinandersetzungen werden dabeizuhaben: Jungen deutlich mehr als
Kundgebungen pro Monat statt. In den mitgeführte Waffen schnell gezückt – Mädchen; deutsche etwas mehr als aus-
vergangenen Monaten habe es gar kei- wenn man sich erst eine besorgen muss, ländische Schüler.
ne mehr gegeben. »Bundesweit ist der Affekt oft schon verpufft. SPIEGEL: Vielleicht gibt es ja eine neue
betrachtet, ist das rechtsextremistische SPIEGEL: Bewirken denn Verbote, dass Pfadfinderlust …
Demonstrationsgeschehen im Bereich Messer eher daheim gelassen werden? Bergmann: … wir haben zwar nach Waf-
Anti-Asyl praktisch zum Erliegen Bergmann: Das hängt ganz von der fen gefragt, Taschenmesser aber nicht
gekommen«, schreibt der Verfassungs- Umsetzung ab. Wenn etwa bei Konzer- ausgeschlossen.
schutz im aktuellen Papier. Das gelte ten bekanntermaßen viel kontrolliert SPIEGEL: Warum bewaffnen sich Jugend-
auch für die Gegenden Deutschlands, wird, dann bringen die Besucher auch liche, fühlen sie sich unsicher?
die zuvor häufig von solchen Protesten seltener Waffen mit. Bergmann: Unsere Befragungen zeigen,
betroffen gewesen seien. 2018 wurden SPIEGEL: Die Befürworter neuer Ver- dass ein Risikofaktor für die Bewaffnung
allerdings immer noch 1770 Straftaten botszonen wollen damit das Sicherheits- ist, wenn Jugendliche zu Hause Gewalt
gegen Asylbewerber verübt. JDL gefühl der Bürger steigern. erleben. Tatsächlich berichten auch mehr
Bergmann: Da bin ich skeptisch. Jedes Schüler als früher über Prügel daheim.
Mal, wenn die Polizei eine neue Krimina- In den Elternhäusern anzusetzen könnte
litätsstatistik präsentiert, wächst die also ein Präventionsansatz sein, ebenso
Twitterpropaganda gefühlte Unsicherheit. Auch wenn die wie das Einüben anderer Formen des
Russische Hashtags Zahlen zeigen: Wir haben ein supersiche- Umgangs miteinander: etwa Empathie. AB
DPA
Bundesjustizministerin Katarina Bar- die unbesetzte Referatsstelle seien Perso-
ley setzt sich für die Schaffung von nalengpässe; die Abteilung müsse »neu Bonner Umzugscontainer 1999
Schwerpunktstaatsanwaltschaften ein,
die »gezielt gegen Hass und Gewalt
gegen Juden vorgehen«. In einem Brief
an die Justizminister und -senatoren in Bundeswehr Verteidigungsministeriums verteidigt die
den Bundesländern drängt die SPD-
Politikerin zudem darauf, in der Ausbil-
Dumme Smartphones Technikposse mit den »jüngst deutlich
gestiegenen IT-Sicherheitsanforderungen«.
dung von Staatsanwälten und Richtern Die Anschaffung von neuen Dienst- Ohne wirksamen Schutz bestünde bei den
eine einheitliche Definition von Anti- handys sorgt in der Bundeswehr für Frust neuen Smartphones die Gefahr, dass über
semitismus zu verwenden. Diese könne und Spott. In den vergangenen Monaten ungeprüfte heruntergeladene Apps und
zur »Sensibilisierung« gegenüber dem sind in der Truppe 16 000 Samsung- sonstige Datentransfers auf die interne
Phänomen beitragen. Sie verwies auf Smartphones Galaxy S8 verteilt worden. Kommunikation zugegriffen werden kön-
die Begriffsbestimmung der Internatio- Die Geräte (Handelspreis rund 400 Euro) ne. Das Problem werde bald gelöst, ver-
nalen Allianz für Holocaust-Gedenken, sollten die alten Tastentelefone ablösen, spricht das Ministerium. Noch im Laufe
der sich auch die Bundesregierung ange- mit denen dienstlich telefoniert und SMS des Jahres wolle man geprüfte Apps zur
schlossen hat. Die Täter müssten mit verschickt werden konnten. Das Problem: Verfügung stellen, »z.B. Internetzugang
allen Mitteln des Rechtsstaats zur Verant- Mehr können auch die neuen Handys für dienstliche Recherchen oder auch eine
wortung gezogen werden, sagt die Minis- nicht. Die leistungsfähigen Geräte sind Wetter-App«. In der Truppe ist man nicht
terin. Die Zahl antisemitischer Straftaten von der Bundeswehr so eingerichtet wor- so geduldig. In vielen Einheiten werden
ist im vergangenen Jahr um knapp den, dass sie sich nicht mit dem Internet statt der neuen Geräte private Smart-
20 Prozent auf 1799 gestiegen. RAN verbinden können. Eine Sprecherin des phones benutzt – ohne Schutz. HAM
tanniens in Europa liege«. Über ihre ändern«, und fügte nach einer Kunstpause
Untertanen sagte sie: »Manche haben hinzu, »wenn sie dann noch da ist«. Als
dies hier noch nicht gemerkt.« Die Queen der Diplomat die Anpassungsfähigkeit
ist zu Neutralität verpflichtet, öffentlich Thatchers erwähnte, meinte die Königin
darf sie sich politisch nicht äußern. Laut spitz: »Ja, nun hat auch sie das Ozonloch
Wechmar erklärte sie ihm gegenüber entdeckt.« Das Institut für Zeitgeschichte
jedoch, dass die Briten noch immer ein wird den Vermerk im De Gruyter Verlag
reichlich insulares Volk seien. Unter dem veröffentlichen. KLW
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Regierung Kein anderer Bundeskanzler hat zum Ende seiner Amtszeit so düster
auf die Weltlage geblickt wie Angela Merkel. Sie sieht die Säulen der Weltordnung
zusammenbrechen und bleibt doch seltsam untätig. Von René Pfister
Viertelstündchen auf dem anschließenden In ihrer Spätphase hat sie einen Wandel Donald Trump im Oval Office. Die Reise
Empfang zu bleiben. vollzogen, den man erst auf den zweiten steht ganz im Zeichen der drohenden Straf-
Schnell bildet sich eine Traube um die Blick wahrnimmt. Nach außen redet sie zölle gegen deutsche Autos. Aber Merkel
Frau, auf der so übermenschliche Hoff- so unaufgeregt und nüchtern wie stets, nur beschäftigt vor allem, dass sich Trump aus
nungen ruhen. Es wird gedrängt und ge- manchmal, wenn man genau hinhört, be- den Vereinbarungen verabschiedet, die
knipst, auch Amanpour will ein Selfie mit kommt man eine Ahnung von ihrer dunk- über Jahre und Jahrzehnte mühsam ver-
Merkel, sie teilt es mit ihren knapp drei len Weltsicht. Abseits der Öffentlichkeit handelt werden mussten: aus dem Atom-
Millionen Followern auf Twitter. Später aber macht sie seit geraumer Zeit kein Ge- deal mit Iran und dem Klimaabkommen
gibt sie dem Fernsehsender n-tv ein Inter- heimnis mehr daraus, wie tief ihre Sorge von Paris. Nach dem Treffen mit dem Prä-
view. Als der Reporter anmerkt, dass man- ist. Ihre historischen Vergleiche können sidenten kommt Merkel wieder auf den
che Wähler in Deutschland die Kanzlerin apokalyptischer nicht sein. brüchigen Augsburger Religionsfrieden zu
kritisch sähen, weist ihn Amanpour zu- Je länger Merkel im Amt ist, desto mehr sprechen und sagt: »Ob wir aus der Ge-
recht: »Sprechen Sie nicht abfällig über dehnen sich die Linien, in denen sie denkt. schichte gelernt haben, wird sich in den
Angela Merkel, sie ist eine der wenigen, Am 17. April des vergangenen Jahres tref- nächsten Jahrzehnten zeigen.«
die noch stehen. Sie können sich glücklich fen sich die Abgeordneten der Unionsfrak- Zwei Wochen später spricht Merkel auf
schätzen, sie zu haben.« tion im Reichstag. Sie sollen die Gelegen- dem Katholikentag in Münster erstmals
Seit dreizehneinhalb Jahren regiert Mer- heit bekommen, einmal grundsätzlich öffentlich über ihre düstere historische
kel das Land, und wenn sie diese Wahl- über die EU und deren Zukunft zu reden. Analogie. Den Augsburger Frieden hatten
periode beendet, wird sie mit Helmut Kohl Nur gibt Merkel dem Treffen eine ganz ei- Männer verhandelt, die der Gewalt müde
gleichziehen, den man zum Schluss den gene Wendung und unternimmt einen Ex- geworden waren. Nur ein Menschenleben
ewigen Kanzler nannte. Von Kohl würden kurs in die Frühe Neuzeit. Sie spricht laut später aber seien neue Akteure an die
die Einheit und der Euro bleiben, das war Mitschrift von Teilnehmern von den bluti- Macht gelangt, sagt Merkel, Männer, »die
schon klar, als er, umgeben von einem letz- gen Konfessionskriegen, die der Reforma- gedacht haben: Hier kann ich noch eine
ten Häufchen Getreuer, im September tion folgen und erst mit dem Augsburger kleine Forderung mehr stellen, und da
1998 seine Wahlniederlage auf einer Bühne Religionsfrieden im Jahre 1555 ein Ende kann ich noch ein bisschen härter heran-
des Bonner Adenauer-Hauses einräumte. finden. Damals, sagt Merkel, hätten die gehen. Und schwupp – schon war die gan-
Bei Merkel liegen die Dinge komplizier- Menschen geglaubt, sie hätten Zwist und ze Ordnung im Eimer, und der Dreißig-
ter, das Vermächtnis ihrer Ära ist viel Gewalt hinter sich gelassen. jährige Krieg brach aus«.
schwerer zu fassen als das ihrer Vorgänger. »Aber dann war die Generation, die das Am 13. Juli 2018 empfängt Merkel den
Gibt es überhaupt eines? Merkel hat im- ganze Elend vor dem Religionsfrieden er- Politikwissenschaftler Herfried Münkler
mer beteuert, dass sie sich keine Gedanken lebt hatte, gestorben«, sagt Merkel. »Sie im Kanzleramt. Es ist nicht ganz einfach
um ihren Platz in der Geschichte mache. war weg. Und es kam eine neue Genera- gewesen, den Termin zu finden. Merkels
Aber sie hat ihre ganz eigene Art und Wei- tion, die sagte, wir wollen nicht so viele Kalender hat nur wenige Lücken, und
se gefunden, an ihrem Nachruhm zu ar- Kompromisse machen. Das ist uns alles zu Münkler ist zu jener Zeit Gastprofessor in
beiten. Sie weist es als »grotesk« und »ab- schwierig.« Was folgt, ist die Katastrophe Mainz, was die Sache zusätzlich verkom-
surd« zurück, wenn in der Zeitung steht, des Dreißigjährigen Kriegs, der 1618 be- pliziert. Aber Merkel hakt immer wieder
sie sei die Anführerin der freien Welt. Und ginnt. Er entfacht ein Inferno, das etwa nach, was dem Professor durchaus schmei-
doch ist das Thema ihrer Spätphase die ein Drittel der Bevölkerung auf dem Ge- chelt, und so sitzen die beiden schließlich
Verteidigung der liberalen Weltordnung, biet des heutigen Deutschlands auslöscht an jenem Sommernachmittag im Kanzler-
größer geht es kaum. Es ist ein Paradox, und von Städten wie Magdeburg nur Rui- büro und werfen einen Blick zurück in die
von dem sie am meisten profitiert. nen übrig lässt. Zeit der ersten großen europäischen Ka-
Wie jeder lang gediente Kanzler ver- »Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs tastrophe.
sucht auch Merkel, dem kleinteiligen Trüb- sind jetzt auch etwas mehr als 70 Jahre Münkler hat im Jahr zuvor ein mehr als
sinn der Innenpolitik zu entkommen, sie vergangen«, fährt Merkel fort. Damals 900-seitiges Buch über den Dreißigjähri-
ist da nicht anders als Adenauer und Kohl. habe man große Anstrengungen unter- gen Krieg veröffentlicht. Er erzählt Merkel
Aber was sie von ihren Vorgängern unter- nommen, damit sich ein solches Gemetzel von einem Klima der Hysterie und der Pro-
scheidet, ist ein tiefer Pessimismus, die Sor- nicht wiederholt; die Uno wird gegründet, vokation, das ein friedliches Zusammen-
ge, dass die Welt dem Abgrund entgegen- der Sicherheitsrat installiert, die Staaten- leben von Katholiken und Protestanten
schlittert. In ihrer Amtszeit hat sich die Tür- gemeinschaft einigt sich auf die Allgemei- immer schwieriger macht; wie im Jahr
kei von einer hoffnungsvollen Demokratie ne Erklärung der Menschenrechte. Doch 1607 Jesuiten die eigentlich braven Katho-
in ein autokratisches Regime verwandelt. wie sich die Menschen des beginnenden liken von Donauwörth aufstacheln und
Der saudische Kronprinz ist kein junger 17. Jahrhunderts in einer trügerischen Si- dazu ermuntern, stolz ihre Fahnen durch
Reformer, sondern ein grausamer Despot. cherheit gewiegt haben, genauso machen die Stadt zu tragen, woraufhin ein wüten-
Putin träumt seine Großmachtsfantasien. sich die Menschen heute wieder Illusionen der protestantischer Mob die Prozession
Und dann ist da noch Trump, dessen jüngs- über die Stabilität der Weltordnung – das angreift und Reliquien in den Straßen-
tes Projekt es ist, das schon einmal fürch- war die Botschaft Merkels. Der Firnis der dreck wirft.
terlich misslungene Experiment Regime Zivilisation ist dünn. Bei etwas gutem Willen hätte man den
Change nun an Iran auszuprobieren. Die Am 26. April 2018 bricht sie nach Wa- Fenstersturz zweier kaiserlicher Statthal-
Lunte brennt, so sieht es Merkel. shington auf, es ist ihr zweiter Besuch bei ter am 23. Mai 1618 in Prag als die unbe-
17. Juli 1954 1973 1978 Ende 1989 April 1990 August 1990
Merkels Angela Merkel wird in Hamburg Abitur im Physik-Examen an der Uni- Fall der Mauer, Vizeregierungs- Mitglied der CDU.
Weg als Tochter eines Pfarrers und
einer Lehrerin geboren. Im selben
branden-
burgischen
versität Leipzig, danach bis
1990 Mitarbeiterin an der Ost-
Merkel engagiert
sich beim
sprecherin der
letzten DDR-
Jahr übernimmt ihr Vater eine Templin. Berliner Akademie der Wissen- Demokratischen Regierung unter
Pfarrei in Ostdeutschland. schaften (Promotion 1986). Aufbruch. Lothar de Maizière.
18
GUIDO BERGMANN / BUNDESPRESSEAMT / REUTERS
Das letzte Abendessen Acht Tage nach der Wahl Donald Trumps 2016 speist Merkel mit dem scheidenden US-Präsidenten
Obama im Berliner Hotel Adlon. Er ermutigt sie, sich noch einmal zur Wahl zu stellen.
dachte Tat protestantischer Hitzköpfe ab- che, genauso wie heute Grenzlinien infrage ist lange genug im Geschäft, um zu regis-
tun können, zumal sich die Herren kaum gestellt werden, mit denen der französische trieren, wie die allgemeine Unruhe, die
ernsthaft verletzten. Aber an Beruhigung Diplomat François Georges-Picot und der düstere Erwartung ihr nutzt. Die Deut-
hat niemand ein Interesse, und so kann britische Politiker Mark Sykes im Jahr 1916 schen mögen keine Veränderungen, und
sich eine Feuersbrunst entwickeln, die den den Nahen Osten aufgeteilt haben. alles in allem hatten sie mit Merkel 13 gute
ganzen Kontinent erfasst. Im 17. Jahrhundert kämpfen die Habs- Jahre. Es gibt keinen Überdruss wie am
Denn es geht eben nicht nur um Glau- burger in Wien und Madrid, die Bourbo- Ende der Ära Kohl. Zwei Drittel der Wäh-
bensbekenntnisse. Was die Konfliktpartei- nen in Paris und der schwedische König ler wünschen sich, dass die Kanzlerin bis
en antreibt, ist eine Melange aus religiösem Gustav Adolf um die Vorherrschaft in zur Wahl im Herbst 2021 regiert.
Furor, hegemonialen Ambitionen und der Europa. Heute ist Syrien das Schlachtfeld Als Merkel im Februar auf der Münch-
Lust, dem Nachbarn das Land streitig zu eines Stellvertreterkrieges zwischen den ner Sicherheitskonferenz spricht, erhebt
machen. Zwei Stunden lang spricht Münk- USA, Iran, Saudi-Arabien, Russland und sich im Anschluss der ganze Saal und ap-
ler mit der Kanzlerin, häufig zieht er Pa- der Türkei. plaudiert. Die Kanzlerin hat eine für ihre
rallelen zur Gegenwart: Im Prager Fenster- Verhältnisse leidenschaftliche Rede gehal-
sturz bricht sich zunächst der Unmut von Furcht ist eine mächtige Waffe in der ten. Sie schlug den Bogen von Alexander
Protestanten Bahn, die sich immer stärker Politik. Sie kann Kriege auslösen und Re- von Humboldt, der versucht habe, »die
drangsaliert fühlen – genauso wie sich im volutionen entfachen, sie kann Politiker Welt als Ganzes zu verstehen«, wie Mer-
Arabischen Frühling die Wut gegen die aus dem Amt spülen, sie aber auch dort kel es formuliert, zu dem Nobelpreisträger
Machthaber in Tunis und Damaskus ent- halten. Es wäre unfair, Merkel vorzuwer- Paul Crutzen, der die Definition für das
lädt. Aber im Laufe des Dreißigjährigen fen, dass sie eine düstere Stimmung schüre, gegenwärtige Erdzeitalter lieferte, das An-
Kriegs geht es bald um territoriale Ansprü- um sich an die Macht zu krallen. Aber sie thropozän, in dem der Mensch unwieder-
Dezember 1990 Januar 1991 Dezember 1991 Juni 1993 November 1998 November 1999
Direktmandat bei der Ministerin für Merkel wird stell- Landesvorsitz CDU-Parteitag: Beginn der CDU-Spendenaffäre.
Bundestagswahl im Frauen und vertretende Bundes- der CDU im Wolfgang Schäuble Am 22. Dezember fordert Merkel
Wahlkreis Stralsund- Jugend im vorsitzende der CDU. Bundesland wird Parteichef, in der »FAZ« die Partei auf, sich
Rügen-Grimmen. Kabinett Kohl. Mecklenburg- Merkel General- von ihrem Ehrenvorsitzenden
Vorpommern. sekretärin. Helmut Kohl zu lösen.
Februar 2000 April 2000 Januar 2002 September 2002 Mai 2005 September 2005
Schäuble kündigt an, den Wahl zur CDU- Merkel verzichtet zugunsten Bundestagswahl: Die Präsidien der Vorgezogene
Parteivorsitz der Union Vorsitzenden. von CSU-Chef Edmund Stoiber Rot-Grün gewinnt knapp, Parteien CDU und Bundestagswahl:
niederzulegen. Merkel auf die Kanzlerkandidatur Merkel verdrängt Friedrich CSU bestimmen Die Union wird
wird als seine Nach- bei der Bundestagswahl. Merz vom Fraktionsvorsitz. Merkel zur Kanzler- stärkste Kraft.
folgerin designiert. kandidatin.
20
Titel
scheidungen fallen spät. Dann stehe ich »Trump lässt aus seiner Vorzeit nichts gel-
aber auch dazu.« ten«, sagt sie. Trump sei in dieser Hinsicht
Wie jedes Problem geht Merkel auch ein geradezu ahistorischer Präsident.
das Problem Trump mit Fleiß und Lektüre Merkel weiß, dass Trump bei einer Wie-
an. Sie liest ein Interview, das Trump im derwahl alle Möglichkeiten hätte, die Säu-
Jahr 1990 dem »Playboy« gab, in dem er len der Weltordnung zu zertrümmern: Der
sich über die vielen deutschen Luxusautos Präsident hat mehr als einmal klargemacht,
in den USA beklagte und Zölle als Gegen- dass er die Nato vor allem für einen Kos-
mittel empfahl. Sie sieht sich schon wäh- tenfaktor hält. Er hat die EU als »Feind«
rend des Wahlkampfs in den USA Auf- bezeichnet und sieht in ihr eine Bedrohung
zeichnungen der Show »The Apprentice« für den Wohlstand in den USA. Viele in
an, in der Trump elf Jahre lang aufgetreten Deutschland haben dies für die Sprüche
ist. Die Show basiert darauf, dass junge eines etwas überdrehten ehemaligen TV-
Kandidaten sich im Geschäftsleben bewäh- Entertainers gehalten. Merkel nicht.
ren sollen. Wer nicht überzeugt, wird von Trump werde, so glaubt sie, seine Agenda
Trump mit dem Spruch »You’re fired« aus Punkt für Punkt umsetzen.
der Show befördert. Trump, fällt Merkel
auf, setzt sich dabei gern über das Votum Im Gegensatz zu Trump hatte Merkel zu-
anderer hinweg. mindest ein paar Jahre lang eine gewisse
Merkel gehörte nie zu den Vertretern Freude an Wladimir Putin. Der russische
der Theorie, dass man den neuen Präsi- Präsident ist Merkel in jeder Faser fremd,
denten durch Demutsgesten und Schmei- ein ehemaliger KGB-Offizier, der auch im
cheleien besänftigen kann. Sie findet es fortgeschrittenen Alter mit freiem Ober-
merkwürdig, dass der japanische Premier- körper durch die Tundra reitet. Anderer-
minister Shinzo Abe Mitte November seits sieht Merkel in Putins kalter Intel-
2016 den noch nicht einmal vereidigten ligenz und in seiner Chuzpe auch einen
Präsidenten in der Plüschkulisse des New Ansporn, eine Art sportliche Herausfor-
YURI KOCHETKOV / DPA
22. November 2005 Oktober 2008 September 2009 Oktober 2009 März 2011 Juni 2011
Wahl zur Bundes- Merkel und Finanzminister Bundestagswahl: Erneute Wahl zur Das Bundes- Nach der Nuklearkatastrophe
kanzlerin einer Peer Steinbrück geben im CDU/CSU und FDP Bundeskanzlerin. kabinett beschließt im japanischen Fukushima
Großen Koalition von Rahmen der Finanzkrise eine bilden eine christlich- die Aussetzung beschließt das Kabinett den
CDU/CSU und SPD. Garantieerklärung für deut- liberale Koalition. der Wehrpflicht vorzeitigen Ausstieg aus
sche Spareinlagen ab. zum 1. Juli. der Atomkraft bis 2022.
nieren, dann reden sie in der Regel erst kümmert sich Merkel mit einer solchen
einmal ein paar Sätze Deutsch. Merkel Hingabe. Aber mit Fleiß kann sie Putin
kann passabel Russisch, aber Putins nicht zur Vernunft zwingen. Er hat kein
Deutsch ist deutlich besser. Doch in den Interesse an einem Frieden, weil sich eine
vielen Begegnungen und Telefonaten der stabile Ukraine dem Westen zuwenden
beiden sei nie ein privates Wort gefallen, könnte. Auf einer ihrer letzten Reisen zu
sagt ein hochrangiger Diplomat. »Putin Putin im Mai 2017 sagt Merkel, der russi-
hat nicht einmal erzählt, dass seine Kin- sche Präsident setze nun wieder ganz auf
der auf der Deutschen Schule in Moskau »vertraute Metiers«: auf Stärke, seine Ar-
waren.« mee und hybride Kriegsführung.
Merkel gab sich nie der Illusion hin,
dass Putin sein Land in eine Demokratie Merkel erlebt in ihrer Amtszeit, wie die
verwandeln wolle. Aber sie hatte die Hoff- Idee der Demokratie an Kraft verliert: in
nung, Putins Bewunderung für den Wohl- Europa, in Russland, aber auch in China,
stand und die Innovationskraft des Wes- einem Land, von dem viele geglaubt ha-
tens werde dafür sorgen, dass er eine ben, dass wirtschaftlicher Erfolg den
maßvolle Öffnung zulasse. Putin habe ge- Wunsch nach Freiheit beflügeln werde.
glaubt, dass er – ähnlich wie Lenin in den Es gehört zu den Widersprüchlichkeiten
Zwanzigerjahren mit seiner Neuen Öko- Merkels, dass sie über die Diktatur in Pe-
nomischen Politik – einen Aufschwung or- king immer mit einer gewissen Milde ur-
ganisieren könne, heißt es in der Regie- teilte. Natürlich, sie setzt sich für Dissiden-
rung. Dies sei fehlgeschlagen, und dazu ten ein. Kaum eine Reise nach China ver-
sei seit Beginn des Jahres 2014 der Verfall geht, ohne dass sie sich in der deutschen
des Ölpreises gekommen. In dieser Zeit Botschaft mit Bürgerrechtlern trifft. Aber
besetzt Putin die Krim. Der Krieg in der was bei Merkel immer überwiegt, ist der
Ukraine habe einen Wendepunkt mar- Respekt vor einer Regierungspartei, die es
kiert, sagt der Diplomat. Der Präsident geschafft hat, China innerhalb von vier
habe Merkel angelogen, was seine Solda- Jahrzehnten vom Entwicklungsland zur
ten auf der Krim betrifft. Natürlich sei da zweitstärksten Industrienation der Welt
etwas zerbrochen. Aber Merkel hatte zu formen. Ein chinesischer Politiker hat
über viele Jahre eben auch keine Strategie einmal zu Merkel gesagt, der beste Beitrag
im Umgang mit Russland, sie hat die zur Förderung der Menschenrechte sei
Ukrainepolitik der EU überlassen, was doch die Bekämpfung der Armut. Merkel
sich bitter rächt. fand das durchaus einleuchtend. Der Zertrümmerer
Die Kanzlerin schafft es, dass die Krise Sie hat sich wie kein anderer deutscher
in der Ukraine nicht eskaliert. Sie verhan- Kanzler um China bemüht, seit ihrem
delt federführend das Abkommen von Amtsantritt im Jahr 2005 war sie elfmal
Minsk, die Gespräche am 11. und 12. Feb- in Peking. China ist in Merkels Augen
ruar 2015 dauern insgesamt 17 Stunden. nicht in erster Linie ein Land, wo Kapita- kel auf dem Weg dahin. Heute überflute
Merkel sagt später, sie habe damals den lismus, Überwachungstechnik und Einpar- das Land den Westen mit Patenten. »Und
Wechsel der Tageszeiten daran erkannt, teienherrschaft eine ganz neue Form der in zehn Jahren werden wir Leute brau-
dass entweder Braten oder Marmelade auf Unterdrückung schaffen – sondern eine chen, die Patente auf Chinesisch lesen kön-
dem Tisch stand. Mahnung für die Deutschen, nicht schläf- nen, weil sie keine Lust haben, die auf Eng-
Mit dem Abkommen verhindert Mer- rig zu werden. lisch zu schreiben.«
kel, dass sich in den USA die Falken durch- Merkel hat häufig gesagt, dass China China ist für Merkel wie ein Kontrast-
setzen, die schwere Waffen in die Ukraine über Jahrhunderte hinweg eine Hochkul- mittel. Sie sieht dort die Kehrseiten der
liefern wollen. Das ist nicht wenig, viel- tur war, führend in Wissenschaft und Tech- Demokratie, an denen sie umso mehr lei-
leicht sogar die größte Leistung ihrer Kanz- nik. Sie erzählt das nicht, um die Versäum- det, je länger sie Kanzlerin ist: die quälen-
lerschaft. Wie hätte es geendet, wenn ame- nisse Chinas zu illustrieren, sondern um den Debatten, die endlosen Entscheidungs-
rikanische Raketen russische Panzer in Fet- zu zeigen, wie schnell Ordnung und Wohl- wege, die Unfähigkeit der demokratischen
zen gerissen hätten? stand zerrinnen können. Regierungen, sich einen langfristigen Plan
Doch das Abkommen von Minsk bringt Bei ihrer letzten Reise nach China im zu setzen. Shenzhen ist so etwas wie das
nie einen wirklichen Frieden. Merkel sagt Mai 2018 besucht Merkel Shenzhen, das Silicon Valley Chinas, sie besucht dort ein
einmal, sie kenne inzwischen fast jeden innerhalb von Jahrzehnten von einer Start-up, dessen Ziel es ist, mithilfe von
Baum an der sogenannten Kontaktlinie im Kleinstadt am südchinesischen Meer zu ei- künstlicher Intelligenz die Gesundheits-
Donbass, wo sich ukrainische Soldaten ner Hightechmetropole mit 12,5 Millionen vorsorge zu optimieren. Sie geht mit neu-
und prorussische Rebellen gegenüberste- Einwohnern wuchs. Vor zehn Jahren sei gierigen Augen durch die Firma, die man
hen und es immer wieder Tote gibt. Um es vielleicht noch so gewesen, dass China mit ihrer lässigen Inneneinrichtung sofort
kaum ein anderes außenpolitisches Thema westliche Ideen geklaut habe, erzählt Mer- nach Palo Alto beamen könnte.
September 2013 Dezember 2013 September 2015 März 2018 Oktober 2018 7. Dezember 2018
Wahl zum Bundes- Merkel wird Merkel lässt Flüchtlinge, Zähe Koalitionsverhand- Merkel kündigt an, nicht mehr Übergabe des Amtes
tag: Die Union ge- erneut Kanzlerin die längere Zeit am Bahn- lungen nach der Wahl vom für den CDU-Vorsitz zu kandi- der Bundesvor-
winnt, aber die FDP einer Großen hof in Budapest festge- September 2017; Merkel dieren und nach Ende der Legis- sitzenden der CDU
scheitert an der Koalition. sessen haben, nach wird erneut Kanzlerin laturperiode auch nicht erneut an Annegret Kramp-
Fünf-Prozent-Hürde. Deutschland einreisen. in einer Großen Koalition. als Kanzlerkandidatin anzutreten. Karrenbauer.
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95 000 Griechen, 24 000 Briten und 6200
Israelis. Dass Deutschland ein fremden-
feindliches Land sei, ist eine statistisch
eher schwer zu belegende Behauptung.
Merkel hat 13 skandalfreie Regierungs-
jahre absolviert, die Vorstellung, sie sei
käuflich, ist so plausibel wie die Annahme,
Trump nehme das eheliche Treueverspre-
chen ernst. Merkel weiß um ihre Bedeu-
tung, aber gerade deshalb ist sie peinlich
genau darum bemüht, jeden Anschein hö-
fischer Willkür zu vermeiden. Das Proto-
koll bei Staatsbesuchen im Kanzleramt
kenne bei ihr in aller Regel kein Pardon,
sagt Merkel auf einer Reise nach Washing-
ton: »Militärische Ehren, eine Stunde Ge-
spräch, Pressekonferenz, Ende.«
Sie ist die erste Frau, die Deutschland
regiert, und falls es vorher Zweifel gegeben
haben sollte, ob eine Kanzlerin das Macht-
bewusstsein, die Zähigkeit und die Akribie
für das Amt mitbringt, hat Merkel sie zer-
streut. Seit der vorigen Bundestagswahl
brauche eine »Neubegründung eines sou- Der letzte Deutsche, der ihn erhielt,
veränen, geeinten und demokratischen hieß Willy Brandt. Es war nicht zuletzt die
Europas«. feierliche Zeremonie im Dezember 1971
Macron hatte sich mit seiner Rede bis in Oslo, die den Sozialdemokraten zum
nach der Bundestagswahl geduldet, weil säkularen Heiligen der Bundesrepublik
er Merkel an seiner Seite haben wollte. machte. Brandt war der erste Bundeskanz-
Aber bis heute wartet er auf die deutsche ler, der mit diesem Preis geehrt wurde, vor-
Kanzlerin, ihre Antworten sind besten- her gab es überhaupt nur drei Deutsche,
falls kleinteilig, und an die Stelle von Un- die das Komitee für würdig erachtet hatte:
geduld im Élysée-Palast ist längst Unver- Gustav Stresemann, den Historiker Lud-
ständnis getreten, dass Merkel sich einfach wig Quidde und Carl von Ossietzky.
weigert, die Debatte über die Zukunft Im Kanzleramt heißt es, Merkel ver-
Europa zu führen. schwende keinen Gedanken an den Nobel-
»Diese Kanzlerschaft endet im Einschla- preis. Andererseits gehört Merkel schon
fen, Merkel macht das Licht aus und sagt: seit Jahren zum Kreis der Favoriten, und
gute Nacht«, sagt der Berliner Historiker natürlich wäre der Preis die Krönung ihrer
Henning Köhler, der sich sein ganzes Be- Kanzlerschaft, eine Weihe, die all die
rufsleben lang mit dem Vermächtnis deut- Schlechtredner und Schreihälse ins Un-
scher Kanzler beschäftigt hat. Er hat zwei recht setzen würde, die Merkels Flücht-
große Biografien geschrieben, eine über lingspolitik für eine Verirrung des Herzens
Kohl und eine über Adenauer. Beide hält halten.
er für große Kanzler, Merkel nicht. Von »Wir werden sie noch vermissen«, sagt
ihr werde bleiben, dass es in ihrer Amtszeit Herfried Münkler. Was von ihr bleiben
eine rechtspopulistische Partei in den Bun- werde? Das Ende der Wehrpflicht, sagt er,
destag geschafft hat. vielleicht auch der Ausstieg aus der Atom-
Ihre Macht ist brüchig geworden. Wenn energie. Aber während Münkler spricht,
PHILIPPE WOJAZER / REUTERS
die SPD nach den Europawahlen die Ner- kommen ihm schon Zweifel. Wird das
ven verliert, kann schnell alles vorbei wirklich Bestand haben über die Jahrzehn-
sein. Merkel weiß das. Sie klebt nicht am te? »Politik war für Merkel die Vermei-
Amt. Es gibt viele, die sie dazu bewegen dung des Falschen«, sagt Münkler, und
wollen, in der Politik zu bleiben. Kann dies habe ihre Politik so zögerlich erschei-
eine Frau mit ihrer Erfahrung nicht nach nen lassen. Außerdem sei Merkel nie eine
Brüssel wechseln? Immer wieder bedrän- große Rednerin gewesen.
liefern Bilder der Freundschaft, wie hier zum gen sie andere Regierungschefs. Aber Rhetorisch begabte Politiker setzten
Aber oft bleibt es bei der Inszenierung. Merkel will nicht. sich immer auch selbst unter Druck, weil
Manchmal scheint es, als begnügte sich die flammende Ansprache den Zwang zur
Merkel damit, die Sonne ihres späten Tat erzeuge. Dieses Problem hatte Angela
Ruhms zu genießen. Seit der Flüchtlings- Merkel nie.
Merkel weiß das alles. Sie redet zwar krise sammeln sich im Kanzleramt die Prei- In zwei Wochen wird die Kanzlerin in
theoretisch davon, dass Deutschland mehr se, die Merkel für ihren Dienst an der den USA sprechen, am 30. Mai soll sie die
tun müsse, aber was das praktisch heißt, Menschheit erhält. Abschlussrede für die Absolventen der
darüber verliert sie kaum ein Wort. Der damalige kolumbianische Präsident Universität Harvard halten. Die Universi-
Ein erster Schritt in Richtung mehr Ver- Juan Manuel Santos überreicht ihr im Mai tät hat einen fulminanten Trailer produ-
antwortung wäre eine Reform des deut- 2018 die »Lampe des Friedens«, eine Aus- zieren lassen, der Merkels Rede ankündigt.
schen Parlamentsvorbehalts für bewaff- zeichnung, die jährlich vom Franziskaner- Man sieht, unterlegt von dramatischer Mu-
nete Einsätze, der es im Moment schwer orden verliehen wird. Merkel habe »mit sik, Szenen aus der jüngeren deutschen
macht, schnell auf Krisen zu reagieren. richtigen, aber nicht immer populären Ent- Geschichte, am Ende taucht die Silhouette
Aber Merkel weiß, wie umstritten das ist, scheidungen« gezeigt, was Solidarität in Merkels, »the most powerful woman of
also lässt sie lieber die Finger davon. der Politik bedeute, lobt der Friedensno- the world«, aus dem Dunkel auf.
Das Gleiche gilt für den Militärhaushalt. belpreisträger. Der Film hat mit Merkel so viel zu tun
Verteidigungsministerin Ursula von der Ein halbes Jahr später hält Jordaniens wie ein Ferrari mit einem VW Käfer. Im
Leyen wollte erreichen, dass er bis zum Königin Rania die Laudatio bei der Ver- Kanzleramt haben sie sich amüsiert: ty-
Jahr 2024 wenigstens auf 1,5 Prozent der leihung der »Goldenen Victoria« des Ver- pisch Amerika eben, eine XXL-Portion
deutschen Wirtschaftsleistung steigt. Fi- bands der Deutschen Zeitschriftenverle- Pathos.
nanzminister Olaf Scholz aber plant bis ger. »Seit ihrer Amtseinführung hat sich Aber vielleicht würde ein bisschen Pa-
2023 nur mit 1,25 Prozent. »Diese Zahlen Kanzlerin Merkel die Bewunderung und thos, eine große Idee, Merkel auf ihren
kann man in den USA nicht einmal mehr den Respekt der Welt für ihr unerschütter- letzten Metern im Amt sogar guttun. Es
Leuten erklären, die Deutschland eigent- liches Engagement für Stabilität, Wohl- wäre etwas Neues. Im Moment sieht es
lich wohlgesinnt sind«, sagt Julianne stand, Freiheit und Frieden erworben«, eher so aus, als bliebe Merkel ganz die
Smith. sagt Rania. Alte: Sie läuft und läuft und läuft.
In der Theorie findet Merkel auch, dass Merkel ist auch Trägerin des Internatio-
Europa zusammenrücken muss, nicht nur nalen Karlspreises zu Aachen, sie hat die
militärisch, sondern auch, um der chinesi- Presidential Medal of Freedom aus den Video
Unterwegs mit
schen Konkurrenz gewachsen zu sein. Der Händen Barack Obamas erhalten und ist Angela
französische Präsident Emmanuel Macron 15-fache Ehrendoktorin. spiegel.de/sp212019merkel
verkündete am 26. September 2017 in ei- Was noch fehlt, ist der Friedensnobel- oder in der App DER SPIEGEL
ner Rede an der Universität Sorbonne, es preis.
25
Deutschland
Not verbindet
Doch obwohl Scholz mehrere Vorschlä-
ge vorlegte, über welche Abgaben der
Staat die Kassen füllen könnte, kam es
nicht zum Eklat. Die Unionsvertreter, so
Koalition Union und SPD wollen auch nach der Europawahl weiter- heißt es, lauschten geduldig, ohne Empö-
rung oder kategorische Zurückweisung.
regieren. Doch der Druck von innen und außen bleibt. Umgekehrt, so heißt es, habe sich die SPD
Deshalb wird sogar ein Tabuthema diskutiert: Steuererhöhungen. offen für die Wünsche der Union nach Ent-
lastung der Unternehmen gezeigt.
Beide Seiten haben keine andere Wahl.
ihnen ein kategorisches Nein nicht leicht- nenministerium kommt freilich zu einem Für Andrea Nahles birgt die engere Kas-
fallen dürfte: Verhindern sie die Anhe- anderen Ergebnis. senlage eigene Probleme. »Es läuft, es läuft,
bung, setzen sie sich dem Vorwurf aus, Das Konfliktpotenzial der Steuerthe- es läuft«, sagte Nahles am Mittwoch bei
nichts gegen eine gesundheitsgefährdende men reicht über die Koalition hinaus, sie einem Auftritt in Berlin, ganz so, als wäre
Sucht zu unternehmen. Stimmen sie zu, sind vor allem für CDU-Chefin Annegret sie die glücklichste Partei- und Fraktions-
würden sie bei ihrer Anhängerschaft wort- Kramp-Karrenbauer heikel. Ihre Position chefin der Welt. Tatsächlich muss Nahles
brüchig. ist nicht gefestigt, sie braucht Erfolge. dringend Projekte ausloten, mit denen ihre
An dem Abend im Kanzleramt blieb es Kramp-Karrenbauer hatte kürzlich ange- SPD in der Regierung punkten kann.
aber nicht bei Zumutungen für die Union. kündigt, auf einer Vorstandsklausur nach Die Grundrente sollte ein solches Pro-
Deren Vertreter trugen ihrerseits ihre Wün- der Europawahl die Prioritäten für den jekt sein, aber aufgrund der schwierigeren
sche vor, forderten wieder einmal niedri- Rest der Legislaturperiode festzulegen. Haushaltslage haben sich die beteiligten
gere Steuern für Unternehmen. Der Wirt- Dazu soll auf jeden Fall auch eine wirt- Minister, Vizekanzler Scholz und Sozial-
schaftsflügel von CDU und CSU fürchtet, schaftsfreundlichere Politik gehören. Die minister Hubertus Heil, hinter den Kulis-
dass der Standort Deutschland an Wettbe- Vorsitzende muss dringend das eigene sen so sehr in Finanzierungsfragen verhed-
werbsfähigkeit einbüßt. Profil und das ihrer Partei schärfen. Steuer- dert, dass das milliardenschwere Vorhaben
Zum allgemeinen Erstaunen lehnte die erhöhungen durch die Koalition würden plötzlich angreifbar scheint (SPIEGEL
SPD den Vorstoß nicht brüsk ab. Vielmehr dazu kaum passen. 20/2019).
zeigte sich Scholz aufgeschlossen. Aller- Kramp-Karrenbauer will zudem den Mit Sorge betrachtet die SPD-Spitze die
dings will er nicht, wie die Union fordert, skeptischen CDU-Wirtschaftsflügel be- Versuche der Union, das Projekt zu dis-
die Steuersätze senken. Er findet Ab- kreditieren, ehe überhaupt ein Ge-
schreibungserleichterungen besser. setzentwurf vorliegt. »Der Sozial-
Wie auch immer, beide Seiten kom- minister wird demnächst einen
men sich näher – die Not verbindet. guten, soliden Vorschlag vorlegen«,
Neben der Unternehmensteuer- sagte Nahles. »Es wird nicht gelin-
reform liegt der Union viel an gen, mit Falschmeldungen und -be-
einem weiteren Thema, für das hauptungen diese wichtige Sozial-
sich die Sozialdemokraten bislang reform zu stoppen.«
kaum begeistern können: Sie will Kluge Sozialpolitik sei immer
den Solidaritätszuschlag vollstän- auch gute Wirtschaftspolitik, so
dig abschaffen. Beim Koalitionsaus- Nahles. »Deswegen wird auch die
schuss legten die Unionsvertreter Grundrente kommen – ohne Wenn
noch einmal dar, warum der Soli und Aber: für alle, die 35 Jahre ge-
für alle Steuerzahler abgeschafft arbeitet, Kinder erzogen oder An-
werden sollte und nicht nur für gehörige gepflegt haben.« Nahles’
CARSTEN KOALL / DPA
rund 90 Prozent. Dies sei nämlich Sätze sind ein Beleg dafür, wie
grundgesetzwidrig. kompromisslos die SPD bei ihrem
Allerdings weiß die Unionsspit- Lieblingsprojekt bleiben will.
ze, dass die SPD in dieser Frage Doch anders als zunächst ge-
nicht über den Koalitionsvertrag plant, will die SPD den Gesetzent-
hinausgehen wird. CSU-Chef Mar- SPD-Politiker Nahles, Scholz: »Die Grundrente wird kommen« wurf wohl erst nach der Europa-
kus Söder hofft daher, dass das wahl präsentieren. Die Parteispitze
Bundesverfassungsgericht der Uni- hofft, die sich intern bereits anbah-
on zu Hilfe eilt. Der Soli sei zweckgebun- frieden. Fraktionschef Brinkhaus hat sie nende Debatte über den Kurs in der
den. Falle der Zweck weg, so müsse die dabei auf ihrer Seite. Er lehnt Steuererhö- Koalition kleinhalten zu können, wenn sie
ganze Abgabe entfallen, so die Argumen- hungen, vor allem eine nationale Finanz- unmittelbar nach dem Wahlsonntag ein
tation in München. Eine 90-Prozent-Lö- transaktionsteuer, entschieden ab. rotes Projekt präsentieren kann.
sung könne es nicht geben. Unklar ist, wie die Kanzlerin das Thema Letztlich haben beide Parteichefinnen
Schließlich kam noch ein dritter Streit- sieht. Bislang war es Merkel stets wichtiger, dasselbe Problem: Je schwieriger ihre
punkt auf den Tisch, der zwischen CSU den Fortbestand der Koalition zu sichern, Lage, desto größer müssen die Regierungs-
und SPD seit Wochen köchelt: die Reform als Forderungen der eigenen Leute nach- projekte sein, um die jeweilige Basis halb-
der Grundsteuer. Söder hat dem von zukommen. Sie dürfte sich kaum für wegs mitreißen zu können. Doch ange-
Finanzminister Olaf Scholz erarbeiteten Steuersenkungen verkämpfen, die mit der sichts der Kassenlage kann kein Koali-
Modell längst eine klare Absage erteilt. SPD ohnehin nicht zu machen sind. Fällt tionspartner dem anderen etwas gönnen.
Beim Koalitionsausschuss legte der baye- Kramp-Karrenbauers Forderungskatalog Und die Angst der Politikerinnen vor dem
rische Ministerpräsident nun ausführlich zu ambitioniert aus, riskiert sie, dass ihre Autoritätsverlust sorgt dafür, dass beide
dar, welche Lösung er für die beste hält – Machtlosigkeit erneut offenbar wird. sich gleichzeitig auch auf Kosten des an-
der Bund soll den Ländern die Ausgestal- Da die Kanzlerin noch immer in einer deren profilieren müssen. Das ist ein heik-
tung der Steuer überlassen. deutlich stärkeren Position ist als ihre Nach- ler Balanceakt.
Bayern könnte dann eine andere Rege- folgerin an der Parteispitze, darf Kramp- So dürfte sich die Koalition weiter
lung finden als ein finanzschwaches Land Karrenbauer sich politisch nicht zu weit durchwurschteln, mit ungeklärten Perso-
mit niedrigen Mieten und Grundstücks- von ihr entfernen. Jüngst musste sie bereits nalfragen und unerledigten Hausaufgaben.
preisen wie Mecklenburg-Vorpommern. Spekulationen entgegentreten, dass sie vor- Im Juni will man sich erneut treffen. Dann
Scholz wies eine solche Lösung am Diens- gezogene Neuwahlen anstrebe. Sie arbeite stehen auch der Haushalt und die Steuern
tag erneut zurück. Der Finanzminister ar- nicht auf einen »mutwilligen Wechsel« im auf der Tagesordnung – ganz offiziell.
gumentiert, das Grundgesetz lasse einen Kanzleramt hin, beteuerte die CDU-Che- Veit Medick, Ralf Neukirch,
Flickenteppich an Regelungen nicht zu. fin in der »Welt am Sonntag«. So zeigte Christian Reiermann
Ein Gutachten aus dem CSU-geführten In- sich, wer in der Union den Ton angibt.
www.ihre-chemie.de/jazueuropa
Europawahl 2019
das Ziel, bis 2050 in Europa klimaneutral
zu wirtschaften. Ich sage aber auch, dass
wir bei allen Ambitionen, den CO -Aus-
²
stoß zu senken, soziale Fragen nicht ver-
»Die wollen doch die gessen dürfen und die Wirtschaft auch
nicht. Nachhaltigkeit besteht nicht nur aus
ökologischer Nachhaltigkeit, sondern aus
EU zerbrechen«
einem Ausgleich.
Timmermans: Wir können aber auch
nicht sagen: Weil sich die Lasten nicht so-
zial gerecht verteilen lassen, verzichten
wir auf Klimaschutz. Ich will das umdre-
hen. Wir müssen dafür sorgen, dass wir
das sozial nachhaltig organisieren, damit
die Menschen schnell mitkommen. Wir ha-
ben nicht die Zeit, zu warten. Konkret bin
30
du dich hinstellst … wenn Sie sich
hinstellen …
SPIEGEL: Duzen Sie Herrn Tim-
mermans ruhig weiter, wenn Sie
das auch sonst tun.
Weber: Wenn die Angriffe kom-
men, wechsele ich immer aufs Sie,
daran sehen Sie, wie höflich ich
bin. Also: Wenn du dich hinstellst,
Frans, und sagst, ich habe eine lin-
ke Mehrheit, dann sind da doch
Politiker wie Jean-Luc Mélenchon
aus Frankreich dabei …
Timmermans: Der gehört nicht
zu uns.
Weber: Er ist Teil der Linken. So
eine abenteuerliche Koalition wäre
wie eine Zusammenarbeit von
Christian Lindner und Sahra Wa-
genknecht.
SPIEGEL: Sie müssen in Ihren Par-
teienfamilien ja beide mit schwie-
rigen Personen zurechtkommen,
fangen wir auf der Linken an. Je-
remy Corbyn, der Labour-Chef,
punktet in Großbritannien mit ex-
tremer Kapitalismuskritik, und Ju-
so-Chef Kevin Kühnert will BMW
enteignen. Wie wollen Sie, Herr
Timmermans, als Mann der Mitte,
sich da dagegenstellen?
Timmermans: Ich finde es zu-
nächst einmal toll, dass die euro-
päische Sozialdemokratie wieder
mit Leidenschaft und Energie über
grundlegende Zukunftsfragen dis-
kutiert. Dabei gibt es auch Vor-
schläge wie die von Kühnert, die
ich nicht teile. Trotzdem ist es rich-
tig und notwendig, danach zu fra-
MATTHIAS JUNG / DER SPIEGEL
unserer Zeit weiter mit den Rezepten von dass es einen ideologischen Unterschied SPIEGEL: Die FPÖ hat gezeigt, dass sie es
gestern beantworten. BMW enteignen – zwischen Konservativen und diesen Leuten mit der Pressefreiheit, einem Grundwert
ich bitte Sie! Es gibt kaum einen anderen gibt, und ich kann nur hoffen, dieser Unter- Europas, nicht so genau nimmt.
Arbeitgeber, der so sozial ist, so viel Be- schied bleibt auch deutlich. Ich weiß, Man- Weber: Die österreichische Regierung hat-
triebsrente zahlt, der die Mitarbeiter so fred Weber ist da persönlich durchaus klar, te den Ratsvorsitz der EU im zweiten
großzügig am Gewinn beteiligt. Zu Recht doch er muss dies dann auch in seiner Rolle Halbjahr 2018 inne, sie hat mehr als 50 Ge-
sagt der BMW-Betriebsratschef, dass die als Spitzenkandidat verdeutlichen. Und die setze der EU abgeschlossen, von der CO -
²
SPD nicht mehr wählbar ist. Natürlich neue Garde in seiner Partei, der EVP, die Gesetzgebung bis hin zum Plastikverbot.
müssen wir darüber reden, wie wir das, macht mir wirklich Sorgen. Ein Kurz hat Man kann doch nicht behaupten, dass die
was wir mit der sozialen Marktwirtschaft überhaupt keine Hemmungen mehr, mit die- österreichische Regierung die europäi-
erreicht haben, im Zeitalter der Digitali- sen Leuten zusammenzuarbeiten. schen Grundwerte nicht respektiere. Ich
sierung bewahren können. Mein Vorschlag Weber: Mal langsam. Die EVP ist die Eu- könnte fragen: Warum ist Pedro Sánchez
dazu ist, dass die EU einen Digitalisie- ropapartei schlechthin, und wir werden in Spanien gemeinsam mit Leuten, die Spa-
rungsfonds einrichtet. Aus diesem Fonds die Grundwerte Europas verteidigen. Wir nien spalten wollen, an die Macht gekom-
könnten Arbeitnehmer und Unternehmen haben das bewiesen: Wir haben für ein men? Ich könnte sagen, dass die rumäni-
Unterstützung erhalten, die Schwierigkei- Rechtsstaatsverfahren gegen Ungarn ge- schen Sozialdemokraten ein Riesenpro-
ten mit der Digitalisierung haben. stimmt, wir haben Viktor Orbáns Mitglied- blem mit der Rechtsstaatlichkeit haben,
Timmermans: Nur damit es kein Missver- schaft in der EVP suspendiert, und spä- aber das führt zu nichts.
ständnis gibt: Ich habe nicht gesagt, dass Timmermans: Die österreichische Bun-
ich mit Kühnerts Vorschlägen einverstan- desregierung hat sich in der Ratspräsident-
den bin. Das bin ich nicht. Ich war auch schaft ganz ordentlich benommen, aber
beim Betriebsrat bei BMW vor Kurzem, was Vizekanzler Strache von der FPÖ jetzt
auch mich hat das beeindruckt … sagt und tut, das spaltet eine Gesellschaft.
Weber: … dann sag doch nicht, dass das Strache begibt sich auf Audienz nach
ein kreativer Vorschlag ist, sag einfach: Budapest, kurz nachdem Matteo Salvini
Das sind olle Kamellen von gestern. dort gewesen ist. Er steuert gezielt Leute
Timmermans: Die Frage ist doch: Wer an, mit denen er eine Anti-EU-Koalition
profitiert heute vom Wirtschaftswachs- bilden kann. Diese Nationalisten wollen
tum? Die Antwort: die Aktionäre. Bei den doch nur die EU zerbrechen.
Gehältern spüren die Bürger noch immer Weber: Aber Frans …
viel zu wenig vom Wachstum. Ist das gut Timmermans: Nein, nicht »aber Frans«!
so? Ich finde, nein. Es gibt da also ein Pro- MATTHIAS JUNG / DER SPIEGEL
Das muss dir doch Sorge bereiten!
blem der Verteilung, das muss man auch Weber: Du weißt, wie menschenverach-
benennen. Verstaatlichung brauchen wir tend Robert Fico als Ministerpräsident der
nicht. Dass aber nur noch die Aktionäre Slowakei in der Flüchtlingsfrage argumen-
bestimmen, was in einer Gesellschaft ge- tiert hat. Und? Er ist Sozialdemokrat! Des-
schieht, das ist unerträglich. wegen haben wir doch ein Grundsatzpro-
Weber: Aber das ist doch gar nicht der blem auf diesem Kontinent und kein par-
Fall! Wichtig wäre mir, dass die Gewerk- teipolitisches. Hör auf, Schuldige zu suchen
schaften auf europäischer Ebene mehr Ein- und ein ganzes Land wie Österreich an den
fluss bekommen. Die Unternehmen arbei- »Wir müssen jenen Pranger zu stellen. Es gibt doch wohl kei-
ten längst international zusammen, aber Mitgliedstaaten, die die nen Zweifel, dass Österreich ein Rechtsstaat
die Gewerkschaften sind auf den nationa- ist. Kurz hat dafür gesorgt, dass Österreich
len Ebenen zu sehr gefangen. Wir brau- europäischen Werte auf einem proeuropäischen Kurs bleibt.
chen echte europäische Gewerkschaften. missachten, das Geld kürzen.« Timmermans: Aber er arbeitet mit Leu-
SPIEGEL: Auch die Christdemokraten ha- ten zusammen, die sich nicht von den Iden-
ben schwarze Schafe, Herr Weber, Stich- Manfred Weber titären distanzieren wollen. Da haben wir
wort Viktor Orbán. Zur Belastung werden doch ein moralisches Problem bei den
auch die österreichischen Konservativen, Konservativen. Antonio Tajani, der Präsi-
weil diese gemeinsam mit der rechtspopu- testens jetzt, wo Orbán gesagt hat, er dent des Europäischen Parlaments, hat die
listischen FPÖ regieren. unterstütze mich nicht mehr, ist meine Verbrechen des italienischen Diktators
Timmermans: Für die Konservativen in Positionierung sonnenklar. Mussolini relativiert, bloß damit Italiens
Europa ist es eine Schicksalsfrage, wie weit SPIEGEL: Gegenüber Österreich scheint Rechte Gefallen an ihm finden.
sie mit den Rechtsradikalen zusammenar- sie nicht so sonnenklar zu sein. Weber: Tajani macht als Parlamentsprä-
beiten wollen. Der frühere Bundeskanzler Weber: Was ich mir wünschen würde: dass sident gute und geachtete Arbeit. Wenn
Österreichs, Wolfgang Schüssel, hat die wir dieses Thema nicht mehr parteipoli- du ihn hier so diffamierst, dann ist das ge-
FPÖ noch einigermaßen kleingekriegt, in- tisch missbrauchen. In Österreich regiert nau die Grenzüberschreitung, die ich kri-
dem er sie ignoriert hat. Aber die Rechten die SPÖ im Burgenland doch auch mit der tisiere. Warum greifen wir uns da gegen-
sind inzwischen schlauer geworden, ge- FPÖ! Deswegen ist Frans’ Angriff auf Se- seitig so an?
schickter. Ich glaube nicht, dass es dem bastian Kurz völlig unglaubwürdig. Wir Timmermans: Aber lieber Manfred,
heutigen Bundeskanzler Sebastian Kurz ge- brauchen einen neuen Rechtsstaatsmecha- wenn jemand, der die europäische Ge-
lingt, die FPÖ in den Griff zu bekommen. nismus in der EU, mit dem wir im Extrem- schichte kennt, sagt, der Mussolini hat
SPIEGEL: Warum nicht? fall Sanktionen erteilen können, also jenen auch gute Dinge gemacht – wo kommen
Timmermans: Vizekanzler Heinz-Chris- Mitgliedstaaten das Geld kürzen, die die wir da hin? So geht man doch nicht mit
tian Strache von der FPÖ will sich nicht ein- europäischen Werte missachten. Die Kom- unserer europäischen Geschichte um!
mal von Rechtsradikalen wie den Identitä- mission muss da mehr Handlungsspiel- Weber: Du weißt, dass Tajani sich dazu
ren distanzieren! Ich würde wirklich sagen, raum bekommen. erklärt hat. Was willst du denn hier bezwe-
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cken? Wenn wir uns hier gegenseitig als nicht sehr bekannt sind, mit Ihrem zurück- kann, indem man Leuten wie Trump nach-
Rechte und Linke diffamieren, dann bleibt haltenden Stil damit umgehen? läuft, wird man scheitern. Dann wählen
von der Mitte nicht viel übrig. Dann gehen Weber: Ich werde meine Art, Politik zu die Leute das Original. Man muss sich statt-
wir den Radikalen auf den Leim. Ich möch- machen, nicht dem Zeitgeist opfern. Ich dessen klar bekennen zu einer sozialen
te, dass wir in der Mitte die Vergewisse- bin ein Mann, der den Kompromiss sucht, Politik, zu Nachhaltigkeit, zur Gleichheit
rung haben, dass wir auf gemeinsamem ich bin aber auch ein Politiker, der Lust zwischen Mann und Frau, zu den Werten
Grund stehen. auf Debatte und inhaltliche Abgrenzung der Demokratie, dann hat man eine Linie.
SPIEGEL: Wie erklären Sie sich, dass gera- hat. Ich bin, anders als die europäischen SPIEGEL: Mit Ihnen, Herr Weber, bewirbt
de in Staaten, die zu den Kernländern der Sozialdemokraten, gegen die europäische sich ein Deutscher auf den Posten des
EU gehören, eine solche Wut gegen die Arbeitslosenversicherung, weil die dazu Kommissionschefs. Spielen Vorbehalte aus
europäische Idee entstanden ist – auch führte, dass meinetwegen Tsipras in Grie- der Vergangenheit, der Zeit des National-
wenn die Gründe unterschiedlich sind: chenland Versprechungen und neue Schul- sozialismus, da noch eine Rolle?
Großbritannien, Italien, die Gelbwesten den machen und dann zu den Bulgaren Weber: Natürlich bin ich mit Herz und
in Frankreich, überall brodelt es. gehen und sagen kann, ihr müsst mir Seele Deutscher, aber ich möchte vor al-
Timmermans: Wir haben so viele Krisen helfen, meine Probleme in Griechenland lem als Kandidat der Europäischen Volks-
hinter uns, Finanzkrise, Eurokrise, Flücht- zu lösen. Zwischen mir und Frans gibt es partei wahrgenommen werden.
lingskrise, die Leute haben eine enorme klare Unterschiede. Und die machen wir Timmermans: Selbstverständlich gibt es
Unsicherheit erlebt. Alle Sorgen, alle Wut, sichtbar und geben den Menschen bei Kritik an Deutschland und auch an mei-
all das hat die Brexit-Abstimmung beein- nem Land, etwa wegen der Sparpolitik
flusst. Familien haben sich über dieser Fra- während der Eurokrise. Da sagt man im
ge so zerstritten, dass sie nicht miteinan- Süden oft: Uns wird ein Wirtschaftsmodell
der reden. Und eine gespaltene Gesell- auferlegt, um Deutschland und Holland
schaft bewegt sich nicht. Sie ist in der Zeit zum Exportweltmeister zu machen. Aber
eingefroren. Die Briten haben nichts mehr die Deutschen mit Krieg zu verbinden –
gemacht in der Infrastruktur, der Bildung, dieser Reflex, den es auch in meinem Land
der Gesundheit. Deswegen müssen wir noch lange gab, der ist weg.
den Leuten, die politisch in der Mitte sind SPIEGEL: Was hat dazu beigetragen?
und die sich lieber nicht äußern, weil es Timmermans: Natürlich die vielen Jahre
so viel Lärm gibt, Mut machen. Politik und Jahrzehnte, in denen Deutschland
hat die Aufgabe zu zeigen: Es gibt Vor- nun schon ein verlässlicher Partner in
schläge, die unsere Gesellschaft heilen und Europa ist. Aber auch Angela Merkel hat
weiterbringen. ihre Verdienste. Das zu sagen ist für einen
MATTHIAS JUNG / DER SPIEGEL
Liechtensteiner Erbe
werden, und würden davon auch einen
Führungsanspruch ableiten.
Timmermans: Bei allem Respekt, den ich
für Herrn Macron habe, aber was wir beim
jüngsten EU-Gipfel in Sibiu auch gehört ha- Karrieren Sachsens AfD-Vize und Europawahlkandidat Maximilian
ben, war die einstimmige Unterstützung al-
ler sozialdemokratischen Premierminister Krah managte einst Millionentransaktionen für die
für meine Kandidatur und für den Spitzen- ultrarechte Piusbruderschaft – mit trickreichen Methoden.
kandidaten-Prozess. Dieser Prozess macht
Europa demokratischer und gibt den Bür-
gerinnen und Bürgern mehr Macht. Ich
kann mir kaum vorstellen, wie der Europäi-
sche Rat einen Kandidaten ablehnen will,
der aus diesem Prozess hervorgegangen ist
und die Unterstützung der Mehrheit des Eu-
ropäischen Parlaments hinter sich hat.
SPIEGEL: Wir haben unser Gespräch mit
dem Thema Emotionen begonnen, wir wer-
den es damit auch beenden.
Weber: Sie wollen noch mehr Emotionen?
SPIEGEL: Ja, wollen wir. Sie sind Konkur-
renten und starten auch mit unterschied-
lichen Voraussetzungen. Herr Timmer-
mans hat hohe politische Ämter ausgefüllt,
er ist gut zehn Jahre älter als Sie, Herr
Weber, er ist international aufgewachsen,
spricht sieben Sprachen fließend. Sie kom-
men vom Dorf in Bayern, und Ihnen fehlt
die Amtserfahrung. Fühlen Sie sich Herrn
Timmermans manchmal unterlegen?
Weber: Jeder hat seine Persönlichkeit, je-
der seine Entwicklung, ich stehe zu meiner
Verwurzelung in meiner Heimat und im
Parlament. Was uns aber total verbindet:
dass wir für den European Way of Life
brennen. Ich freue mich aber auch, wenn
ich mit ihm streiten darf wie jetzt hier. Das
sind Prinzipien der demokratischen Poli-
tik, für die wir beide stehen. Insofern schät-
ze ich ihn und bleibe beim Du.
Timmermans: Wir führen hier nicht für
Sie auf, dass wir uns bei bestimmten The-
men nicht einig sind. Es gibt Unterschiede.
Aber es führt zum Verhängnis, wenn man
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geleien der wirtschaftlichen und politi- Bruderschaft, mit 28 Jahren, als frisch zu- kam dabei eine Schlüsselrolle zu: Zwischen
schen Eliten, wandte Krah Methoden an, gelassener Anwalt. Damals setzte er für 2008 und 2013 war er Mitglied sowohl des
die man genau aus solchen elitären Zirkeln die Brüder eine presserechtliche Gegen- Verwaltungsrats der Pacelli Anstalt als
kennt: So kümmerte er sich von 2008 an darstellung durch. Später war er für das auch des Stiftungsvorstands in Wien.
im Auftrag der Piusbruderschaft etwa um »Generalhaus«, das internationale Haupt- Nach langen Gesprächen mit den Fi-
die Übernahme einer Erbschaft in zwei- quartier der Brüder in der Schweiz, tätig. nanzbehörden, sagt Krah heute, sei das
stelliger Millionenhöhe. Dazu errichtete Dort hatte die Spitze der Bruderschaft ein Geld schließlich bei der Privatstiftung an-
der Rechtsanwalt eine diskrete Firma im Problem, bei dem sie juristischen Beistand gekommen – steuerfrei, wie geplant.
Fürstentum Liechtenstein, eine Privatstif- gut gebrauchen konnte. Offenbar sollte das Erbe ursprünglich
tung in Wien sowie eine kleine Aktienge- 2003 war in Genf die wohlhabende in Immobilien angelegt werden, am besten
sellschaft in der Schweiz. Ziel der Aktion Rosa Gutmann verstorben. Die 91-jährige in der Schweiz. Zu diesem Zweck hatte
war unter anderem, Steuern zu sparen. Millionärin, Eigentümerin großer Waldge- Krah, nur wenige Tage nach Gründung der
Krahs Nähe zu einer ominösen AfD- biete in Niederösterreich und passionierte Jaidhofer Privatstiftung, im Kanton Zug
Unterstützerorganisation, dem Verein zur Rehjägerin, hatte einen Teil ihres Vermö- eine kleine Aktiengesellschaft namens
Erhaltung der Rechtsstaatlichkeit und der gens der Piusbruderschaft vermacht – da- Dello Sarto AG gegründet. Giuseppe Mel-
bürgerlichen Freiheiten, könnte sich eben- runter Schloss Jaidhof, den einstigen Jagd- chiorre Sarto war der bürgerliche Name
falls als problematisch erweisen. Für den sitz der Familie, ein opulentes Ensemble von Papst Pius X. Doch zu dieser Anlage
Klub, der mithilfe der Schweizer Werbe- mit annähernd hundert Räumen. kam es offenbar nie: Die Firma, sagt Krah
agentur Goal AG jahrelang Stimmung für Doch das Erbe war kompliziert: Gut- heute, sei eine Fehlgründung gewesen.
die AfD machte, interessiert sich inzwi- mann hatte das Geld in eine Familien- Für seine Dienste im Zusammenhang mit
schen die Berliner Staatsanwaltschaft. Seit stiftung im Steuerparadies Liechtenstein dem Gutmann-Erbe sei er von den Pius-
April ermittelt die Behörde zu diversen eingebracht. In Stiftungsprotokollen war brüdern auf Honorarbasis entlohnt worden,
Werbeaktionen des Vereins – unter an- vermerkt, dass nach dem Ableben der Stif- mit 300 Euro pro Stunde. 2013 sei er
derem zu einer rechten Wochenzeitung schließlich aus der Jaidhofer Privatstiftung
namens »Deutschland Kurier« (SPIEGEL und der Liechtensteiner Pacelli Anstalt aus-
17/2019). Zu den eifrigsten Autoren des »Eine elegante und geschieden. Seither habe er sich nie wieder
Vereinsblatts zählte Krah: Zwischen Juli verschwiegene Möglich- um das Erbe gekümmert, sagt Krah.
2017 und September 2018 verfasste er min- Vorher hatte er jedoch noch ein publici-
destens 44 Kolumnen (»Hier kräht der keit, das Geld im Sinne tyträchtiges Mandat erhalten: Der briti-
Krah«). Auch als sich die AfD im Sommer der Brüder zu verwalten.« sche Piusbruder-Bischof Richard Wil-
2018 von dem Unterstützerklub distanzier- liamson hatte in einem Interview für das
te und später sogar gerichtlich gegen ihn schwedische Fernsehen die Existenz der
vorging, hielt Krah dem Verein die Treue. terin ein Teil des Geldes an den österrei- Gaskammern in NS-Konzentrationslagern
Noch im März besuchte er mit Vereinschef chischen Verein der Freunde der Priester- angezweifelt. Nachdem der SPIEGEL 2009
David Bendels einen Kongress in Italien, bruderschaft St. Pius X. gehen sollte. Es Williamsons Aussagen in Deutschland
seine Kommentare für die inzwischen ein- ging um eine ansehnliche Summe, in der öffentlich gemacht hatte, leitete die Staats-
gestellte Zeitung führt Krah als Video- österreichischen Presse war von 60 Mil- anwaltschaft Regensburg ein Ermittlungs-
kolumne im Internet fort. lionen Euro die Rede. verfahren wegen Volksverhetzung gegen
Die Goal AG, die die Kampagnen des Es sei damals darum gegangen, sagt ihn ein. Krah wirkte kurz als Verteidiger
Vereins organisierte, steht wiederum im Krah heute, »eine elegante und verschwie- Williamsons, dann gab er das Mandat ab.
Zentrum einer Spenden- und Strohmann- gene Möglichkeit zu finden, das Erbe im Der Piusbruderschaft diente er in der
affäre um mutmaßlich illegale Wahlkampf- Sinne der Bruderschaft zu verwalten«. Affäre Williamson weiter als Rechtsbera-
hilfen für weitere AfD-Spitzenpolitiker. Und zwar steuerfrei. Anwalt Krah ging ter. Am Ende wurde der Bischof zu einer
2016 und 2017 hatten sich Parteichef Jörg trickreich ans Werk. Zunächst gründete er Geldstrafe verurteilt.
Meuthen, der heute auf Platz eins der im September 2008 in Liechtenstein eine Im Jahr 2013, sagt Krah, habe er die
Europaliste kandidiert, sowie der zweit- Firma namens Pacelli Anstalt. Wenige Mo- Kontakte zur Piusbruderschaft schließlich
platzierte Guido Reil von der Goal AG teu- nate später errichtete er in Wien die ge- abgebrochen. Er sei damals ausgestiegen,
re Werbekampagnen spendieren lassen. meinnützige Jaidhofer Privatstiftung St. um sich politisch zu exponieren – zunächst
Maximilian Krah, der dritte Mann auf Josef und Marcellus. In die sollte das Gut- bei der Dresdner CDU, ab 2017 dann bei
der AfD-Europaliste, verteidigte hingegen mann-Erbe fließen, sie sollte das Schloss der AfD. Dort legte Krah eine rasante Par-
sein Engagement für den »Deutschland erhalten und das Vermögen verwalten. teikarriere hin: Im Februar 2018 wurde er
Kurier«. »Es ist ein wunderbares Zeitungs- Jetzt kam die Liechtensteiner Pacelli stellvertretender Chef des sächsischen
und Medienprojekt, das ich gern unterstüt- Anstalt ins Spiel. Juristisch wäre es näm- AfD-Landesverbands, im November aus-
ze«, erklärte er. Wer das Blatt finanziert, lich problematisch gewesen, wenn die Be- sichtsreicher Europakandidat.
wisse er nicht. Von seinem einstigen Auf- günstigten der Erbschaft – also die Pius- Der Papst lässt Krah auch im Endspurt
traggeber, der Piusbruderschaft, sei nie- brüder – auch den Vorstand der Stiftung vor der Wahl nicht los. Am Mittwoch teilte
mals Geld geflossen, beteuert er. besetzt hätten. Dank Krahs Konstruktion der AfD-Mann stolz ein Zeitungsinterview
Die Piusbruderschaft, 1970 gegründet, konnte das nun die Liechtensteiner Brief- auf seiner Facebook-Seite. Er halte Fran-
ist ein internationaler Zusammenschluss kastenfirma übernehmen. »Sämtliche Mit- ziskus für eine absolute Katastrophe und
katholischer Fundamentalisten. Ihre Mes- glieder des Stiftungsvorstands«, so heißt bestenfalls postkatholisch, sagte er dem
sen zelebrieren die Piusbrüder bis heute es in der Gründungsurkunde der Jaidhofer Wochenblatt »Die Tagespost«. Er könne
auf Latein, ihre Anhänger lehnen die Re- Privatstiftung, »werden von der Pacelli jeden Katholiken nur davor warnen, diesen
formen des Zweiten Vatikanischen Konzils Anstalt bestellt und abberufen.« Papst allzu ernst zu nehmen. Als Vorbild
ab. Einzelne Piusbrüder fielen bereits mit Wer also die Liechtensteiner Briefkas- empfahl er stattdessen: Donald Trump.
antisemitischen Äußerungen auf. tenfirma kontrollierte, kontrollierte auch Ann-Katrin Müller, Sven Röbel,
Maximilian Krah hatte nach eigenen die österreichische Stiftung – und damit Veronika Völlinger, Steffen Winter
Angaben erstmals 2005 Kontakt zu der das gutmannsche Millionenerbe. Krah
S
eit fünf Jahren steht ein Bauzaun mand. Frühestens im Jahr 2021 soll das Bürger von Bremen und Bremerhaven
vor der Bremer Bildungsbehörde. Kunstwerk instand gesetzt werden, zumin- mehr als 30 000 Euro an die Stadtkasse
Ein Fassadengestalter hat in den dest Teile davon. überweisen. Die Pro-Kopf-Verschuldung
Sechzigerjahren den Sockel des Das vergitterte Relief symbolisiert die des Stadtstaats ist – mit Abstand – bun-
Gebäudes im Bahnhofsviertel mit einem Probleme der Behörde, der Stadt und des desweit die höchste.
prächtigen Relief aus Muschelkalk verziert. ganzen Bundeslands. Und es erinnert Bil- Am 26. Mai wählen die Bewohner der
Bremen war damals so reich, dass es sich dungssenatorin Claudia Bogedan jeden Hansestadt ein neues Parlament. Erstmals
Kunst am Bau leistete und jedes Jahr Morgen an ihre größte Sorge: Es fehlt Geld. seit Ende 1946 ist die Macht der Sozial-
Millionen in den Länderfinanzausgleich Für die Renovierung des Kunstwerks, für demokraten ernsthaft bedroht, die CDU
einzahlte, für ärmere Bundesländer wie Klassenräume und Turnhallen, für Lehrer liegt in Umfragen leicht vor der SPD. Die
Bayern. und Erzieher. Genossen mit ihrem Bürgermeister Cars-
Heute ist das Ornament eine Gefahr für Den anderen Ressorts des Senats geht ten Sieling könnten ihre letzte Bastion ver-
Passanten, der Muschelkalk so marode, es nicht besser. Wäre die Stadt ein Unter- lieren. Darum blicken auch die Spitzen der
dass Teile herabstürzen können. Die nehmen, hätte sie wohl längst Insolvenz Bundes-SPD nervös in Richtung Weser.
Baustelle sieht aus, als rückten jeden Mo- anmelden müssen. Um die 21,6 Milliarden Die Bilanz der Regierungsarbeit fällt be-
ment Arbeiter an. Aber es kommt nie- Euro Schulden abzutragen, müsste jeder scheiden aus, in vielen Rankings hält Bre-
37
den Großstadtträumen. Die Hansestadt unterschätzt, dass Familien ins Umland
schrumpfte in den Achtzigerjahren um zogen – und mit ihnen die Steuern.
50 000 Einwohner auf 520 000. Rund 120 000 Menschen pendeln aus
Inzwischen wohnen wieder 565 000 dem niedersächsischen Umland in die
Menschen in der Stadt, denn auch Bremen Hansestadt, die sogenannte Einpendler-
und Bremerhaven haben vom Boom der quote liegt bei 42,7 Prozent, sie ist deutlich
vergangenen Jahre profitiert. Die Wirt- höher als etwa in Hamburg (36,4 Prozent)
schaft wuchs, 2017 sogar stärker als in und Berlin (21,8 Prozent). Allein bei Mer-
etlichen anderen Bundesländern. Viele cedes-Benz kommt etwa die Hälfte der
Start-ups haben sich angesiedelt. Die Wirt- Mitarbeiter aus der Peripherie. »Bremen
schaftskraft Bremens liegt über dem Bun- ist eine schmale, aber lange Stadt, die ent-
desschnitt, auch dank großer Arbeitgeber lang der Weser gewachsen ist«, sagt Jan
wie Mercedes-Benz. Die Arbeitslosen- Wedemeier vom Hamburgischen Welt-
einen Kitaplatz für die eigene Tochter, ob- Bogedans Erklärung ist nicht falsch. Kin- In Gröpelingen entstand eine Oberschu-
wohl sie versprochen hatte, dass jedes der mit Migrationshintergrund hinken im le, die nicht in einem Gebäude unterge-
Kind einen Platz bekomme. Schnitt den Leistungen ihrer deutschstäm- bracht ist, sondern ausschließlich aus Con-
Die Bremer hätten viel aufzuholen. Seit migen Mitschüler hinterher. Und in Bremen tainern besteht. »Normalerweise müssten
Beginn der Pisa-Tests im Jahr 2000 landet gibt es viele Kinder mit einer Zuwande- in Gröpelingen die besten Schulen stehen«,
das Bundesland regelmäßig ganz hinten. rungsgeschichte, allerdings ist deren Anteil sagt Michal Myrcik. »Diese Kinder bekom-
Die anderen Kellerkinder Hamburg und in Hamburg ähnlich hoch. Bremen kopiert men aber das Gefühl, sie hätten keine bes-
Berlin hielten meist den Anschluss zu den inzwischen ein Modell aus Hamburg und sere Schule verdient«, sagt der Sonder-
Flächenländern, Hamburg kämpfte sich in lädt alle Kinder im Jahr vor der Einschu- pädagoge, der an der Gesamtschule West
jüngster Vergangenheit sogar ins Mittel- lung zu einem Sprachtest. Kinder, die arbeitet, nur wenige Hundert Meter von
feld. Im IQB-Bildungstrend 2016, einer schlecht abschneiden, sollen zusätzliche der Containerschule entfernt. Bis vor Kur-
Art Deutschland-Pisa, verschlechterten Förderung erhalten. Doch ausgerechnet in zem war er Vorsitzender des Personalrats
sich die Leistungen der Bremer Schüler im Stadtteilen mit einem hohem Ausländer- der Bremer Schulen.
Vergleich zu 2011 sogar noch. anteil fehlen in Bremen Kindergartenplätze. »Viele Lehrer in Bremen sind frustriert«,
Mehr als ein Drittel der Bremer Viert- Fragt man andere Kultusminister, wa- sagt Myrcik, »weil es immer nur in ganz
klässler erreichte die Mindeststandards in rum Bremens Schüler so hinterherhängen, kleinen Schritten vorangeht.« Es gebe
Mathematik nicht – nirgendwo lag der An- wird die Schuld eher bei Lehrern und Poli- nicht genügend Pädagogen und Erzieher,
teil höher. Schon am Ende der Grundschu- tikern gesehen. Die Bremer, so heißt es, viele Kollegen seien überarbeitet, manche
le liegt die Leistung der Kinder im Schnitt hätten sich selbst aufgegeben. »Die glau- dauerhaft krankgeschrieben. Die Schulen
ein ganzes Schuljahr hinter den Spitzen- ben nicht mehr an sich«, sagt die Schul- in Niedersachsen genössen einen besseren
reitern aus Bayern und Sachsen. ministerin eines Flächenlands. Offen äu- Ruf. Deshalb gingen viele lieber dorthin.
Die Erklärungen der Bremer Schulpoliti- ßern will sich allerdings niemand. »Ich »Wer möchte schon freiwillig in einem ma-
ker klingen seit Jahren gleich. »Die Zusam- möchte in Bremen nicht Bildungssenator roden und unterfinanzierten System arbei-
mensetzung unserer Schülerschaft ist ex- sein«, sagt einer, »da kann man nur ver- ten?«, fragt Myrcik. Für einen Aufbruch
trem heterogen«, sagt Bogedan. Jedes dritte lieren.« fehle den Pädagogen die Kraft. »Ich habe
Kind, das in die Schule kommt, spricht nach Gute Bildung kostet Geld. Geld, das das Gefühl, wir können all die Defizite
Angaben der Schulbehörde nicht richtig Bremen nicht hat. Rund 6700 Euro gab überhaupt nicht mehr aufholen.«
Deutsch . »Wer kein Deutsch versteht, kann die Stadt im Jahr 2016 durchschnittlich pro Hubert Gude, Miriam Olbrisch
erst mal auch nicht lesen oder rechnen ler- Schüler aus – und damit deutlich weniger Mail: hubert.gude@spiegel.de,
nen«, sagt Bogedan. Es gebe Stadtteile, da als die beiden anderen Stadtstaaten: Berlin miriam.olbrisch@spiegel.de
liege der Anteil nahe 100 Prozent. 9200 Euro, Hamburg 9000 Euro.
Der auch.
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Deutschland
»Gorch Fock« im Bremerhavener Dock: »Darum meinen wir, dass der leere, nicht schwimmfähige Kasko unserem Hause gehört«
men derzeit der größte Gläubiger. Eigent- Die angestrebte Lösung: Die Summe
lich müsste die Werft – so wie die anderen sollte auf ein Treuhandkonto der Bremer
betroffenen Lieferanten und Unterauftrag- Aufbau-Bank gezahlt werden. Mit dieser
nehmer – das langwierige Verfahren ab- Sicherheit wollte sich die Bredo-Werft fri-
warten und darauf hoffen, dass sie am sches Geld leihen. Doch der Deal platzte.
Ende wenigstens einen Teil ihrer offenen Das Geld auf einem Treuhandkonto habe
Rechnungen erstattet bekommt. der Bank nicht zur Besicherung von Kre-
Für die Bremerhavener Werftchefs ist diten gereicht, heißt es.
das keine Option. Sie sehen sich als Opfer Wirtschaftssenator Günthner, der nicht
der Elsflether Werft und deren fragwürdi- an der Unterredung teilgenommen hatte,
gen Ex-Chefs. will nun, dass die Bundeswehr direkt zahlt.
Um seine Position zu untermauern, »Der Bund hat eine Verantwortung gegen-
schickte der Geschäftsführer der Bredo- über der Werft und sollte die drei Millio-
Werft einen farbigen Plan mit nach Ko- nen ohne Auflagen auszahlen.« Insgesamt
blenz. Von der Bredo-Werft neu herge- seien womöglich mehr als tausend Arbeits-
stellte Bereiche seien rot und grün kolo- plätze in Gefahr.
riert, heißt es da. Bis auf wenige Teile ist Auf eine solche Argumentation lässt
der Rumpf rot und grün eingefärbt. Da- sich das Verteidigungsministerium nicht
rum »meinen wir«, schreibt der Werftchef, ein. »Die Bundeswehr ist Auftraggeber der
»dass der von uns hergestellte, leere, nicht Instandsetzung der ›Gorch Fock‹. Lokale
schwimmfähige Kasko unserem Hause Standortpolitik gehört nicht zum Aufga-
gehört, bis wir vollständig bezahlt sind«. benspektrum der Streitkräfte«, teilte die
Zumindest stünden der Bredo-Werft Pressestelle mit. Die Beamten verlangten
»70 Prozent Miteigentumsanteile« des ultimativ eine schriftliche Zusage der Bre-
Rumpfs zu. do-Werft, dass die Arbeiten an der »Gorch
Natürlich, fügte der Geschäftsführer an, Fock« fortgesetzt werden könnten. Die
sei man an einer einvernehmlichen Lösung Frist: Dienstagnachmittag, 16 Uhr.
interessiert. Die Bundeswehr müsse aber Kurz vor Ende des Ultimatums beschlos-
verstehen, dass es um 500 Arbeitsplätze sen die Gesellschafter der Bredo-Werft,
auf der Werft gehe. mehrere Millionen Euro in das Unterneh-
Mit kleinen Machtdemonstrationen ver- men nachzuschießen. Nur so ließ sich of-
suchten die Bremerhavener schon früher, fenbar die Zahlungsunfähigkeit abwenden.
ihre Forderungen zu unterstreichen. Mal Gegenüber dem Bund versicherte die
stand ein Kran plötzlich still, was zur Folge Bredo-Werft, die Reparatur der »Gorch
hatte, dass die »Gorch Fock«-Stamm- Fock« könne weitergehen. Der Notfallplan
besatzung, die auf einem Wohnschiff ne- der Elsflether Führung, die »Gorch Fock«
ben dem Dock untergekommen ist, ihren Hals über Kopf zu Wasser zu lassen, ist
Wind voraus Müll nicht entsorgen konnte. Mal verwehr-
ten die Bredoer den Zugang zum Dock.
vorerst vom Tisch.
Eine Eskalation im Streit um das Segel-
Seit mehr als zehn Jahren fotografiert Nun hat sich Bremens Wirtschaftssena- schulschiff scheint damit nur verschoben.
der Künstler und Fotograf Ulrich tor Martin Günthner (SPD) eingeschaltet. Am 21. Juni könnte es in Bremerhaven
Sollte die Elsflether Werft die Bredo-Werft zum Showdown kommen. Dann soll die
Mertens Windkraftanlagen. Er beglei-
mit in die Insolvenz ziehen, fürchtet der »Gorch Fock« ausgedockt werden. Die
tet Arbeiter beim Aufbau der Gigan- Senator, dass in einer Kettenreaktion wei- Bredo-Werft will das verhindern, wenn
ten, sucht Orte auf, an denen alte und tere Firmen zahlungsunfähig werden. die Rechnungen bis dahin nicht bezahlt
neue Technologien, etwa Kohle- Am Dienstag vergangener Woche trafen sind.
und Windkraftwerke, aufeinander- sich Wirtschaftspolitiker aus Bremen und In einem internen Rundschreiben berei-
treffen und hält den Wandel der Land- Niedersachsen mit den Chefs der Werften tet die Geschäftsführung die Belegschaft
schaften fest. »Mein Ziel ist es, die in Konferenzraum 169 der Bremer Wirt- auf diesen Tag vor. »Gegen Zahlung von
Energiewende in Deutschland für schaftsbehörde. 4,3 Millionen Euro netto geben wir die Zu-
kommende Generationen in Bildern Es war eine hitzige Debatte, so berich- rückbehaltungsrechte auf und docken die
festzuhalten«, sagt er. ten es Teilnehmer. Man könne nicht wegen ›Gorch Fock‹ aus. Ohne Zahlung kein Aus-
ein paar Millionen Euro eine Werftenkrise docken!«
in Bremerhaven auslösen, mahnte der Bre- Wenn es keine Lösung gibt, »dann ste-
Sehen Sie die Visual Story im
mer Staatsrat. Schließlich einigte man sich hen hier im Dock mehr als 500 Mitarbeiter
digitalen SPIEGEL, oder scannen Sie darauf, dass die Bredo-Werft legitime For- und ihre Kinder, um zu verhindern, dass
den QR-Code. derungen in Höhe von 4,3 Millionen Euro das Schiff ins Wasser kommt«, sagt ein füh-
habe. Die Bredo-Geschäftsführung sagte render Mitarbeiter. »Die ›Gorch Fock‹ ist
zu, die »Gorch Fock« freizugeben, wenn unsere letzte Hoffnung.« Hubert Gude
sie diese Summe bekomme. Mail: hubert.gude@spiegel.de
Die Vertreter der Bundeswehr boten
3 Millionen Euro unter der Bedingung,
dass der Rumpf nicht gepfändet wird. Zu- Grafik
Der Aufbau der
dem sollten 1,13 Millionen Euro durch den »Gorch Fock«
Verkauf eines Grundstücks der Elsflether spiegel.de/sp212019gorch
Werft zusammenkommen und an die Bre- oder in der App DER SPIEGEL
JETZT DIGITAL LESEN do-Werft gehen.
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Deutschland
Krankes System
Gesundheit Deutschland hat im internationalen Vergleich besonders viele Kliniken. Das klingt
wie eine gute Nachricht – doch Experten warnen vor Gefahren für die Patienten.
H
erbert Wilke, 84 Jahre alt, hatte Im niedersächsischen Landkreis Nort- Helios-Klinik in Bad Gandersheim, ist mit
tagsüber noch Holz gehackt. Um heim existieren gleich drei Kliniken für 89 Betten nicht einmal halb so groß und
23 Uhr klagte er über Kopfweh, knapp 133 000 Einwohner, mehr als im verzeichnet prozentual noch höhere Ver-
plötzlich konnte er nicht mehr deutschen Durchschnitt. Was wie eine gute luste. Nummer drei schließlich, das Einbe-
sprechen. Der Rettungsdienst brachte den Nachricht für potenzielle Patienten klingt, cker Bürgerspital mit 103 Betten, quält sich
Mann ins Krankenhaus nach Northeim. ist laut Experten eine Gefahr für die Ge- schon durch seine zweite Insolvenz.
Dort legten sie ihn auf die Isolierstation, sundheit: Weil es zu viele und zu kleine Kliniken leben wesentlich von den Zah-
wegen seiner Durchfälle. Schon auf dem Häuser gebe, sei deren Qualität oft zu lungen der gesetzlichen Krankenkassen,
Flur, sagen die Angehörigen, seien seine schlecht. sie erhalten pro Behandlungsfall eine be-
Schreie zu hören gewesen. »Deutschland hat international eine sehr stimmte Summe. Größere Häuser können
Das war am 5. November 2018. Erst hohe Krankenhausdichte«, sagt der Ge- damit besser wirtschaften. Denn egal ob
drei Tage später wurde der Kopf des Pa- sundheitsökonom Jonas Schreyögg. Der eine Akutklinik 50 oder 500 Betten hat –
tienten untersucht. Seine Töchter sagen, Professor aus Hamburg gehört dem Sach- sie muss rund um die Uhr leistungsfähig
sie hätten abwechselnd auf einen Arzt ge- verständigenrat zur Entwicklung der Ver- sein, Ärzte und Schwestern bereithalten.
wartet, um auf den Zustand ihres Vaters sorgung im Gesundheitswesen an, den das Zudem sind die Kliniken immer mehr
hinzuweisen. Bei der Computertomografie Bundesgesundheitsministerium berufen dazu gezwungen, Mittel für Investitionen
habe sich die Ursache der Beschwerden hat. Er sagt: »Die Überkapazitäten sind selbst zu erwirtschaften, seitdem der Staat
gezeigt: eine massive Hirnblutung. ein riesiges Problem.« dieser Pflicht immer weniger nachkommt.
Herbert Wilke ist seitdem ein Pflege- Wohin das führen kann, zeigt sich im Auch das fällt größeren Häusern leichter.
fall – und seine Familie mit der Frage be- Landkreis Northeim mit seinen drei Kran- Die Niedersächsische Krankenhausge-
schäftigt, ob das so kommen musste. Man kenhäusern. Nummer eins, die Helios-Kli- sellschaft etwa beklagt einen Investitions-
könnte glauben, dass es hier auf dem Land, nik in der Kreisstadt, war beim Bau vor stau von 1,3 Milliarden Euro; das Land
im ehemaligen Zonenrandgebiet, einfach fünf Jahren für 275 Betten ausgelegt; im müsse doppelt so viel zahlen wie bisher,
zu wenige Kliniken gäbe und es deshalb aktuellen Bettenplan sind nur noch 210 um die Investitionskosten zu decken. Doch
zu lange gedauert hätte, bis Wilke einge- verzeichnet, das vergangene Geschäftsjahr statt Steuermittel gebündelt in rentable
liefert wurde. Unter allen denkbaren Ur- schloss das Haus mit einem Minus von große Kliniken zu investieren, schauen die
sachen scheidet diese allerdings aus. fünf Millionen Euro ab. Nummer zwei, die meisten Landesregierungen zu, wie sich
45
kliniken nicht genug Ärzte dafür entbehren
können, muss der Kreis nun seine Versor-
gung mit Notärzten selbst organisieren.
Reinhard Busse, Professor für Manage-
ment im Gesundheitswesen an der TU Ber-
lin, hält radikale Maßnahmen für notwen-
dig. Ginge es nach ihm, dürfte keines der
drei Northeimer Krankenhäuser so exis-
tieren: Er schlägt vor, dass alle Kliniken
künftig mehr als 300 Betten haben müs-
sen. Zwei Drittel der heute bundesweit
rund 1400 Akutkrankenhäuser würden da-
mit wegfallen. Die Versorgung, beteuert
Busse, würde dadurch besser. Dann könn-
ten es sich alle Kliniken leisten, ständig
einen Kardiologen vorzuhalten. Heutzu-
tage muss selbst in Großstädten der Fach-
arzt aus dem Bett geklingelt werden. In
Berlin sterben Menschen, die nachts einen
Herzinfarkt erleiden und im Krankenhaus
landen, deutlich häufiger als Infarkt-
patienten, die tagsüber eingeliefert werden.
Hierzulande werden dreimal so viele
Bluthochdruckpatienten stationär behan-
Das Nachrichten-Magazin
delt wie in anderen westlichen EU-Län-
dern. Die Kliniken füllen die Betten über
die Notaufnahmen selbst. »Jeder zweite
Notfallpatient wird dabehalten«, sagt Bus-
se, fast doppelt so viele wie anderswo.
46
Deutschland
Tödliche
Bohnen
Terrorismus Ein Islamistenpaar
aus Köln plante offenbar einen
Anschlag mit einer Giftbombe.
Ermittlungen zeigen, wie nah die
beiden ihrem Ziel schon waren.
Mail: juergen.dahlkamp@spiegel.de
Bahlsen-Zwangsarbeiterinnen in Hannover: Ersatz aus Polen
49
Deutschland
Bettina Schausten
Deutschland
53
Gesellschaft
»Es ist alles wunderbar erhalten, nur das Herz ist natürlich zerschossen.« ‣ S. 56
300
200
Junge, komm bald wieder. Seit der Mensch das Meer befährt, zeigt Kapitänen und Lotsen Geschwindigkeit, Größe und
weiß er, dass dieses Unterfangen voller Gefahren ist. Odysseus den exakten Kurs von Schiffen in ihrer Nähe. Moderne Tanker
und Robinson Crusoe, Sindbad und Kapitän Ahab; »Titanic«, haben überdies eine Doppelhülle, sodass die Ladung bei
»Pamir«, »München«: Seefahrergeschichten sind Geschichten Beschädigung nicht so leicht auslaufen kann. Dem technischen
vom Wagen, vom Kentern, vom Stranden, vom Untergehen – Fortschritt (und den Katastrophen der Vergangenheit) ist es
vom Scheitern. Noch die jüngere Geschichte ist voll von Un- vor allem zu danken, dass sich die Zahl der Verluste von Schif-
glücken. 1994 fanden 852 Menschen den Tod, als die »Estonia« fen mit mehr als hundert Bruttoregistertonnen von 1990 bis
in der kalten Ostsee sank. 1999 flossen 17 000 Tonnen Schweröl 2017 mehr als halbiert hat. Das stellt die Safety & Shipping
in den Atlantik, als der Tanker »Erika« vor der französischen Review der Allianz-Versicherung fest. Allerdings: Trotz aller
Küste auseinanderbrach. 2012 schlug die »Costa Concordia« vor Technik sind drei Viertel aller Havarien noch immer auf mensch-
Italien leck, 32 Menschen starben. Dennoch wird die Seefahrt liches Versagen zurückzuführen. So befährt der Mensch
immer sicherer. Moderne Radarsysteme stellen Ziele in der seit Jahrtausenden die See – und ist sich selbst das größte Risiko
Nähe präziser dar als die alten, das AIS-System zur Navigation dabei. Max Polonyi, gesellschaft@spiegel.de
Regelkunde sodass der andere dann acht Karten zie- SPIEGEL: Eine Schmeißpflicht?
Haben wir »Uno« hen muss. Aber so ist es nicht.
SPIEGEL: Haben wir Uno jahrelang falsch
Schäfer: Ob sie den Gegner wirklich
rausschmeißen müssen, wenn sie auf sein
jahrelang falsch gespielt, gespielt? Feld kommen.
Herr Schäfer? Schäfer: Manche ja, so scheint es. Vier
ziehen heißt vier ziehen, so sind die
SPIEGEL: Nicht wahr, oder?
Schäfer: Doch! Oder ob man bei »Mono-
Volker Schäfer, 51, Inhaber des Spiel- Regeln. Wenn jemand nach falschen poly« wirklich das ganze Steuergeld
warenladens »Allerlei Spielerei« in Regeln acht Karten aufnehmen muss, ist bekommt, wenn man auf »Frei Parken«
Hannover, über einen Kartenspielklassiker das Spiel ja ganz schnell vorbei. landet. Irgendjemand hat mal gesagt: In
Wo bleibt da der Spaß? Deutschland kann es keine
SPIEGEL: Die Firma Mattel sah sich SPIEGEL: Halten sich die Deut- Revolution geben, weil man
gezwungen, auf Twitter die Regeln von schen beim Spielen gern an dazu den Rasen betreten
»Uno« klarzustellen. Worum geht es? die Regeln? müsste.
Schäfer: Uno ist ein Kartenspiel, bei dem Schäfer: Das ist mein Ein- SPIEGEL: Zurück zu Uno:
gewinnt, wer als Erster alle Karten auf druck, ja. In Frankreich Wenn man korrekt spielt und
einem Stapel abgelegt hat. Man kann den etwa gibt es Spiele, die tole- einen »+4«-Schlag nicht mit
Gegnern das Leben schwer machen mit rieren Regelverstöße. In einem Gegenschlag kontern
»+2«- oder »+4«-Karten, dann muss der Hannover kommen Leute darf, dauert das Spiel doch viel
Gegenspieler zwei oder vier Karten auf- zu mir in den Laden und länger.
nehmen. Viele Spieler haben offenbar fragen, ob es bei »Mensch Schäfer: Ja. Aber machen Sie
gedacht, man könnte auf eine »+4«-Karte ärgere Dich nicht« eine doch, was Sie wollen, es ist ein
mit einer »+4«-Gegenkarte reagieren, Schmeißpflicht gibt. Spiel. Das soll Spaß machen! MAP
54
und aufklärt. Die Universität Stanford verlieh ihm einen Dok-
Eine Meldung und ihre Geschichte
tortitel in Politikwissenschaften. Er sagt, er beschäftige sich
jeden Tag mit dem Thema Diskriminierung; er habe ein feines
QUELLE: TWITTER
erkennen – etwa dann, wenn ein das seinen Hautton treffe. Pflas-
Schwarzer, nur weil er in einem ter seien kein Modestatement.
teuren Auto sitzt, irgendwo in Ein anderer Weißer schrieb, es
den USA von der Polizei angehal- sei doch egal, welche Farbe Pflas-
ten wird. Es kommt aber auch vor, Verletzter Finger, Apollon ter haben, wichtig sei nur, dass
dass etwas sehr Großes in etwas sie Wunden abdeckten. Wieder
sehr Kleinem sichtbar wird – ein anderer schrieb, Apollon solle
einem Pflaster beispielsweise. einfach seine Klappe halten.
Kann es tatsächlich sein, dass ein Dann twitterte eine Nutzerin
Klebestreifen die Geschichte der das Foto einer schwarzen Frau,
weißen Dominanz gegenüber die »Nude-Lipcolor«, also ver-
dem schwarzen Amerika erzählt? meintlich hautfarbenen Lippen-
Dominique Apollon jedenfalls stift, aufgetragen hatte. Auf dem
versorgte die Wunde zunächst Foto wirken ihre Lippen un-
und fuhr dann zur Arbeit. Als er Von der Website Jetzt.de natürlich schweinchenrosa. Eine
am Abend nach Hause kam, hat- andere postete einen Artikel aus
te sich das Pflaster voll Blut gesogen. In einer Küchenschub- dem britischen »Independent«, der darüber informiert, dass
lade fand er eine Packung Pflaster eines anderen Herstellers. erst seit dem Jahr 2018 Spitzenschuhe für schwarze Ballett-
Er hatte sie vor Monaten gekauft und wieder vergessen. Diese tänzerinnen in Großbritannien verkauft werden. Eine Nut-
Pflaster hatten eine dunkelbraune Farbe. Apollon entfernte zerin erzählte, dass sie als Kind keine Buntstifte gefunden
das weiße Pflaster von seinem kleinen Finger und überklebte habe, die ihrer Hautfarbe entsprächen. Das habe sie sehr
ihn mit einem braunen. Es hatte den gleichen Farbton wie traurig gemacht.
seine Haut. Apollon sagt, er habe es minutenlang betrachtet, Ballettschuhe, Lippenstift, Stifte, Pflaster – »es gibt so
er habe seinen Blick einfach nicht abwenden können. viele Produkte, die nur für Weiße gedacht sind«, sagt Apollon.
Das Pflaster fiel gar nicht mehr auf, sagt Apollon. »Es sah »Es geht nicht um die Farbe, es geht um das Gefühl von Aus-
einfach nur wunderschön aus.« Er fotografierte seine Hand grenzung.«
und twitterte das Bild. Zu dem Foto schrieb er, es habe 45 Jah- Seither sind vier Wochen vergangen. Persönlich, sagt er,
re gedauert, doch nun wisse er zum ersten Mal in seinem habe sich für ihn nichts verändert. Er hoffe, dass sein Foto die
Leben, wie es sich anfühle, ein Pflaster in seinem Hautton Leute dazu bewegt hat, darüber nachzudenken, dass ihre Nor-
zu tragen. »Man kann es kaum erkennen.« Und: »Ich muss malität andere diskriminieren könnte. »Mehr nicht«, sagt er.
wirklich meine Tränen zurückhalten.« Beim amerikanischen Amazon waren Pflaster in dunklem
Apollon arbeitet bei dem US-amerikanischen Zentrum Hautton nach Apollons Tweet zwischenzeitlich ausverkauft.
Race Forward, das zu Diskriminierung und Rassismus forscht Max Polonyi
Schützenfest
Freizeit Im Bundestag gibt es im Verhältnis deutlich mehr Jäger als in der Bevölkerung. Was treibt
Politiker auf den Hochsitz? Wie gehen sie damit um, dass sie freiwillig töten?
Drei Ausflüge mit drei Jägern – und drei Antworten. Von Marc Hujer und Dennis Williamson (Fotos)
CDU-Politiker Thies bei Klietz, Sachsen-Anhalt: »Wir Demokraten müssen endlich den Rotkäppchenblick ablegen«
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E
s gibt viele Gründe, Jäger zu wer- Für jemanden, der gewählt werden will, Strom, damit man nicht völlig das Gefühl
den. Die Liebe zur Natur, die Liebe ist es eine Frage des Mutes, sich von einem hat, in der Wildnis zu leben.« Seit 20 Jahren
zum Wald. Der eine hat sich einen Journalisten auf die Jagd begleiten zu las- kommt er hierher, immer wieder mal an ei-
Jagdhund angeschafft, der artge- sen. Er kann damit gewinnen, als jemand, nem Wochenende, wenn er nicht in seinem
recht gehalten sein will, der andere sucht der zu dem steht, was er tut. Er kann aber Wahlkreis in Nordrhein-Westfalen sein muss.
nach einer Freizeitbeschäftigung, nach Ge- auch scheitern: als jemand, der rücksichts- Thies setzt sich, seine Frau hat Kaffee
sellschaft. Status spielt eine Rolle, Prestige. los seiner Vorliebe nachgeht. Im Moment gekocht. Es gibt dazu Schichttorte mit Zu-
Manchen lockt die Aussicht auf eine öko- des Abdrückens liegen für den Jäger ckerguss. Er sagt: »Die hat meine Sekretä-
logisch korrekte Essensbeschaffung. Womit Erfolg und Blamage eng beieinander. rin gebacken.«
sich alle Jäger beschäftigen müssen: Nicht- Setzt er einen tödlichen Schuss, der das Thies ist Rechtsanwalt, er ist es gewohnt,
jägern die Lust am Schießen zu erklären, die Tier ohne Leiden zur Strecke bringt? Dinge von allen Seiten zu betrachten. Sei-
Faszination des archaischen Kampfs Mensch Oder entlarvt er sich als Stümper, der dem ne Frau zum Beispiel habe vor acht Jahren
gegen Tier. Wie rechtfertigt man heutzutage Tier nachspüren muss, weil er es nur ver- den Jagdschein erworben, sagt er, obwohl
eine Leidenschaft, zu der das Töten gehört? letzt hat? die Jagd ja Männersache gewesen sei. Din-
Früher zählte die Jagd wie selbstver- Können Politiker zu etwas stehen, das ge ändern sich. Nichts bleibt, wie es ist. Er
ständlich zum gesellschaftlichen und poli- keinen ungeteilten Applaus garantiert? müsse sogar zugeben, dass sie heute »eine
tischen Leben, systemübergreifend. Erich sauberere Kugel« als er schießen könne,
Honecker jagte ebenso leidenschaftlich jedenfalls beim Ansitzen vom Hochsitz
wie Franz Josef Strauß, Bundespräsident Der Romantiker aus. Er lächelt. Bei der Drückjagd, wenn
Walter Scheel war ebenso Jäger wie der Hans-Jürgen Thies, 63, CDU, Mitglied im man das Gewehr »mitziehen« müsse, sehe
rumänische Diktator Nicolae Ceauşescu. Ausschuss für Ernährung und Landwirt- es anders aus.
Längst jedoch hat die Staatsjagd einen schaft, Wahlkreis 146 (Soest). Jagdschein Thies schaut auf die Uhr. Er will das
zweifelhaften Ruf, wenigstens in Deutsch- seit 1975. »Büchsenlicht« abpassen, jene Zeit am
land. Das Sterben, das Töten Abend, wenn es für die Jagd ge-
überhaupt, ist weitgehend aus der rade noch hell genug ist. Bis da-
Gesellschaft verdrängt. Wer eine hin will er noch einiges schaffen:
Waffe gegen ein Lebewesen rich- erst eineinhalb Stunden auf dem
tet, muss sich erklären – zumal, Hochsitz am Großen Luch sit-
wenn er in der Politik tätig ist. zen, einem ehemaligen Moor-
Von den 709 Abgeordneten, gebiet, in dem er gern jagt. Dann
die im Deutschen Bundestag sit- mit seiner Frau im »Seeblick«
zen, sind nach einer Zählung der zu Abend essen, um schließlich
»Frankfurter Allgemeinen« rund noch einmal eineinhalb Stunden
30 Jäger; die genaue Zahl ist »anzusitzen«, sobald der Mond
nicht bekannt, weil Angaben zu aufgegangen ist. »Ich kann nicht
Hobbys freiwillig sind. Fast alle ausschließen, dass wir heute ei-
Jäger im Bundestag sind der nen Wolf sehen werden«, sagt
Zählung nach Männer, fast alle Thies.
gehören entweder der CDU, der Alle reden gerade über den
FDP oder der AfD an; einer ist Wolf: die Kanzlerin, seine Partei,
Sozialdemokrat. Jäger sind dem- die FDP, die SPD, vor allem aber
nach, wenn man es an ihrem An- Jagdtrophäen*: »Das Dunkle da, sehen Sie das?« die AfD, die, wie Thies findet,
teil an der Bevölkerung misst, im die Angst vor dem Wolf scham-
Deutschen Bundestag mehr als los für ihre fremdenfeindliche
neunfach überrepräsentiert. Als Hans-Jürgen Thies sein erstes Wild- Agenda nutzt. Die ganzen Begriffe, die
Vielleicht hat es damit zu tun, dass sich schwein erlegte, einen »mordsmäßigen sich so gut auf die Flüchtlingsdebatte über-
das Bild des Jägers gewandelt hat. Wäh- Keiler mit starkem Ebergeruch«, war er tragen ließen: Obergrenzen, Lebensraum,
rend die Staatsjagd in Verruf geriet, wurde 20 Jahre alt und völlig ratlos, was er damit wolfsfreie Zonen, Hybridisierung, Reinras-
die Freizeitjagd aufgewertet. Jäger sehen anfangen sollte. Er rief einen befreundeten sigkeit. »Die AfD muss nur sagen: ›Weg
sich immer stärker als Heger des Waldes, Koch an, der in einem Altenheim arbeitete. mit der Willkommenskultur beim Wolf!‹,
die dafür sorgen, dass die heimische Tier- Der holte den toten Eber ab, legte das und jeder versteht die Metapher.« Thies
und Pflanzenwelt vielfältig bleibt, dass be- Fleisch in Rotweinbeize, würfelte und findet, dass die CDU darauf eine Antwort
wahrt wird, was den Wald ausmacht. servierte es im Heim als Gulasch. »War geben müsse.
Jäger, so kann man das sehen, geben wahrscheinlich kein Viersternemenü«, »Wir haben jetzt ein Positionspapier zu
dem Leben im Wald eine Ordnung. Für sagt Thies, »aber die älteren Herrschaften dem Thema verfasst«, sagt Thies. Es ist
Politiker eine schöne Gelegenheit, konser- haben sich danach die Finger geleckt.« ein sechs Seiten langer Text, der rechtzei-
vativen Habitus mit einer grünen Haltung Thies empfängt in seiner Jagdhütte in tig vor den drei Landtagswahlen in Bran-
zu versehen. Klietz, einem Dorf im Elb-Havel-Winkel, denburg, Sachsen und Thüringen fertig ge-
Der SPIEGEL hat Bundestagsabgeord- wo Sachsen-Anhalt an Brandenburg worden ist. Dort habe das Thema, so habe
nete gefragt, ob sie bereit wären, sich auf grenzt, etwa zwei Autostunden von Berlin es die Kanzlerin genannt, »hohes Verhet-
der Jagd begleiten zu lassen. Drei haben entfernt. 3000 Euro Pacht zahlt er im Jahr zungspotenzial«.
zugesagt: einer aus der CDU, einer aus der für die Hütte. »Es ist nicht so komfortabel In dem Papier steht alles Mögliche drin,
FDP, einer aus der AfD. Die drei Abgeord- hier«, sagt Hans-Jürgen Thies, »aber zum Artenschutz, zur Notwendigkeit, dass
neten durften bestimmen, wie sie sich als zweckmäßig, so wie es für die Jagd sein es für jedes Tier Lebensraum geben müsse.
Jäger präsentieren wollten. Würden sie muss: Wir haben Wasser, Heizung und Und, dass der Wolf wieder zur Jagd frei-
sich dabei zuschauen lassen, wenn sie ab- gegeben werden müsse. Ein Positions-
drückten? * In der Jagdhütte des CDU-Politikers Hans-Jürgen Thies. papier, ganz im Sinne von Thies. »Wir De-
mokraten«, sagt er, »müssen endlich den strengere Hygieneregeln bei Lebensmit- Krankenhaus. Das ist der Maßstab, an
Rotkäppchenblick ablegen.« teln, für eine Beschränkung der Tabakwer- dem er jetzt andere misst.
Thies ist kein Eiferer. Er ist überzeugt bung. Nicht für ein Verbot, das wäre ihm Er finde, dass die Deutschen »einfach
davon, dass Wahlen in der Mitte gewon- zu radikal; Thies ist für die vernünftige, mehr rangenommen werden müssen«,
nen werden. Er kann mit allen Parteien die abgewogene Lösung, die immer ein sagt er. Dass es kein Arbeitslosengeld mehr
gut leben, der FDP, der SPD, den Grünen; bisschen langweilig wirkt. ohne Gegenleistung geben solle, dass im
nur mit den Extremen nicht, den Linken, Seine bisher längste Rede dauerte acht Prinzip jeder, der nicht krank sei, Spargel
der AfD. Wobei ihm manchmal schon Minuten. Es ging um Verbraucherschutz stechen gehen müsse, wenn er keine bes-
Leute in der eigenen Partei zu extrem bei Lebensmitteln. Bevor er seinen letzten sere Arbeit finde. Busen fordert, dass Schü-
sind. Satz gesagt hatte, unterbrach ihn die Bun- lerausflüge zu Schlachthöfen bundesweit
Friedrich Merz zum Beispiel, der ihm destagsvizepräsidentin: »Herr Abgeord- in Lehrpläne aufgenommen werden müss-
nah sein könnte, weil er aus Thies’ Gegend neter, kommen Sie bitte zum Schluss.« ten, damit die Kinder wieder wüssten, wo
stammt. Thies nimmt das Nachtsichtgerät zur ihre Wurst herkomme.
Kurz vor dem letzten Parteitag, sagt Hand. Die Bilder sehen ein bisschen so Deutschland ist ihm zu verwöhnt. In
Thies, habe ihn der ehemalige Deutschleh- aus wie die Nachtbilder aus dem Krieg, Deutschland klappe zu wenig.
rer von Merz in der Bürgersprechstunde diffuse Schatten überall. Aber er erkennt »Wir schaffen es nicht, einen Flughafen
aufgesucht und ihn gebeten, für Merz zu tatsächlich alle möglichen Tiere, die er mit zu bauen.«
stimmen. Beim Parteitag schlug er Merz seinem Fernglas niemals gesehen hätte: »Wir schaffen es nicht, Olympia nach
kurz auf die Schulter, richtete schöne Rehe am Waldrand, einen Hasen im Un- Deutschland zu holen.«
Grüße vom Deutschlehrer aus, dann wähl- terholz, Wildschweine außerhalb seiner »Wir schaffen es auch nicht, den Ryder
te er Annegret Kramp-Karrenbauer. Schussweite. Cup nach Deutschland zu holen«, ein Golf-
Thies steht auf, zieht den Jagdanorak »Wenn überhaupt, darf ich jetzt nur turnier.
an, greift sich das Gewehr, hängt sich sein Schwarzwild schießen«, sagt Thies. Wild- Als Politiker kämpft er für ein Land, das
Fernglas um und nimmt seinen Filzhut schweine also. Das übrige Schalenwild hat man wieder vorzeigen kann. »Wir brau-
vom Haken. jetzt Nachtruhe. chen mehr Ehrgeiz«, sagt er.
Das Große Luch ist eine weitläufige Eineinhalb Stunden sitzt Thies auf sei- Bald nach dem ersten Kontakt mit dem
Wiesenfläche, die an drei Seiten von Wald nem Hochsitz, schaut abwechselnd in die SPIEGEL hatte er seinen Jagdfreunden von
umgeben ist. Thies erzählt, aus wie vielen Nacht und durch sein Gerät. Immer wieder der Idee mit der Drückjagd erzählt. Die
Kräutern das Rehwild seine Mahlzeiten entdeckt er neue Tiere, die er leider nicht Jagdfreunde hielten es für keine gute Idee,
zusammensucht (aus 70), er weiß, wann schießen darf. An diesem Abend fällt kein sich von einem Journalisten auf der Jagd
die Eiruhe des Marders endet (im Februar), einziger Schuss. Thies macht nicht den Ein- begleiten zu lassen, und so ließ Busen lie-
er wünscht sich das Muffelwild zurück, er druck, als sei er übermäßig enttäuscht da- ber die Finger davon. Stattdessen schlug
wünscht sich neuen Lebensraum für Fasa- rüber. Er möge die Stille, sagt er, und den er ein paar andere Termine vor: Treffen
ne, Kaninchen, Rebhühner und Hasen. Blick durch das Nachtsichtgerät. in seinem Berliner Büro. Besuch eines
Für einen Moment sieht es so aus, als Vielleicht, sagt er, wäre so ein Gerät mal Stammtischs in seinem Wahlkreis. Besuch
reichte es Thies, von der Jagd nur zu er- ein schönes Geschenk zum Geburtstag. auf einem Bauernhof. Besuch seines An-
zählen. Eineinhalb Stunden wartet er ge- wesens. Und, weil es ja um die Jagd gehen
duldig, schaut durch sein Fernglas, reicht sollte, als Abschluss einen Abstecher in
es weiter, schaut wieder durch. Einmal Der Prestigejäger den Schießkeller des Jagdsportgeschäfts
spannt er seine Büchse, aber nichts pas- Karlheinz Busen, 68, FDP, Mitglied im Elsbernd, wo er sein Gewehr, einen 98er
siert. Kein Reh. Kein Hirsch. Kein Wild- Ausschuss für Ernährung und Landwirt- Repetierer, Kaliber 7,62 Millimeter, für die
schwein. Kein Wolf. schaft, Wahlkreis 126 (Borken II). Jagd- Drückjagd einschießen will.
»Bei Mondlicht kommen wir wieder«, schein seit 1982. »Schade, dass es mit der Jagd nicht ge-
sagt Thies. »Da sind die Chancen größer.« klappt hat«, sagt Busen. Er sagt es, als hät-
Drei Stunden später sitzt er wieder auf Eigentlich wollte sich Karlheinz Busen zu te höhere Fügung den Ausflug verhindert.
dem Hochsitz, nachdem er im »Seeblick« einer Drückjagd begleiten lassen. Dabei Er steht auf, um sein Anwesen zu zeigen,
eine ordentliche Portion Schweinebäck- scheuchen Treiber und Jagdhunde das Wild das Haupthaus, in dem sein Büro und eine
chen gegessen hat. Der Himmel ist zwar aus dem Unterholz, den Jägern entgegen. Kapelle untergebracht sind, die Reithalle,
wolkenverhangen, aber Thies hat ein Sein Mitarbeiter stellte ein abwechslungs- in der er Ponys hielt, als seine Kinder noch
Nachtsichtgerät dabei, das er sich bei sei- reiches Programm in Aussicht, das mit nicht erwachsen waren, die sogenannte
nem Jagdgeschäft in Nordrhein-Westfalen einem Treffen auf Busens Anwesen in Gro- Jagdhütte, in der er seine Trophäen aufge-
für diesen Abend ausgeliehen hat. Es kos- nau (Westfalen) beginnen sollte, zu dem hängt hat, und schließlich den Teich hinter
tet 2000 Euro. Er überlegt noch, ob er sich ein Hochsitz gehört. Es klang alles sehr viel- dem Haupthaus, wo sein Hochsitz steht,
das kaufen soll. versprechend. Vielleicht, sagte der Mitar- winterfest, plexiverglast. Von dort hat er
Er kann sich dafür begeistern, was heute beiter, komme ja schon beim ersten Treffen einen Blick über den Garten, zu dem eine
technisch alles möglich ist. All die Hilfs- das ein oder andere Tierchen vorbei. 7000 bis 8000 Quadratmeter große Rasen-
mittel, die der Mensch erfindet, um es mit Und dann sitzt Karlheinz Busen im Win- fläche gehört, die er an freien Wochen-
den Tieren aufzunehmen, denen er, was tergarten des Hauptflügels seines Hauses enden mit dem Aufsitzmäher stutzt.
die Sinne betrifft, natürlich absolut unter- und lässt erst einmal Schnittchen servieren. Unter dem Hochsitz hat Busen Spuren
legen sei. Kameras zum Beispiel, die durch Er trägt geschnürte Stiefeletten aus zweifar- entdeckt. Er bleibt stehen. »Das könnte die
Bewegungssensoren ausgelöst werden und bigem Leder, Jeans und eine Jagdjacke aus Ricke gewesen sein«, sagt Busen. Eine Ricke
einem die Fotos aufs Handy schicken. Loden, darunter ein weißes Hemd und eine ist ein weibliches Reh, es kommt hier immer
Dann wisse man, wo wann etwas los sei Wollweste mit Hornknöpfen aus Plastik. wieder vorbei, um an Busens Hausteich zu
im Revier. Busen ist Unternehmer, Bauingenieur, saufen. Busen geht ein paar Schritte, am
Als Abgeordneter kämpft Thies für die zweiter Bildungsweg, Selfmademan, der Teich vorbei, um zurück zum Haupthaus
kleineren Verbesserungen des täglichen älteste Sohn unter sieben Geschwistern. zu gehen, dann bleibt er stehen. Weiter hin-
Lebens, für mehr Verbraucherschutz, für Seine Mutter putzte bis zu ihrer Rente im ten hat er etwas entdeckt, etwas Dunkles.
Der Traditionsjäger
Peter Felser, 49, AfD, stellvertretender
Fraktionsvorsitzender, Mitglied im Aus-
schuss für Ernährung und Landwirtschaft,
Wahlkreis 256 (Oberallgäu-Kempten-
Lindau). Jagdschein seit 2002.
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händler, ein IT-Spezialist, eine Mitarbeite- falls er nicht richtig getroffen hat. Für den
PLAN B rin des Landratsamts und Felser. Jedem Fangschuss.
SAMSTAG, 18. 5., 17.35 – 18.05 UHR | ZDF wird ein Hochsitz zugewiesen. Felser be- »Schweiß«, sagt Felser. »Sehen Sie das?
kommt den über dem Ochsentobel, einer Schweiß!«
Europa in Bewegung – Senke, in der sich Suhlen befinden, »Ba- »Schweiß« ist Jägersprache. Gemeint ist
grenzenlos arbeiten, reisen, dewannen«, wie Felser das nennt. »Heute Blut.
leben kriegen Sie auch ’ne Wildwurst«, ver- Felser lässt sein Gewehr sinken.
13 Länder in sechs Wochen per spricht er. Vor ihm liegt das tote Kitz.
Interrail: Zwei Berliner wollen Euro- Felser steigt in seinen Geländewagen »Was Sie jetzt sehen«, sagt Felser, »ist
pa auf den Zahn fühlen. Welche und fährt die gewundene Straße zum Och- reine Materie.«
Chancen bietet die EU gerade jungen sentobel hinauf. Überall entdeckt er Idylle. Es ist ein weiter Weg bis zum Auto zu-
Europäern? »Bombastisch, dieser Wald!«, sagt er, »da rück, durch Brombeeren hindurch, den
hat der Hase wieder ’ne Chance.« Es ist Ochsentobel hinauf, selbst ein Kitz wird
seine Heimat. Es geht ihm auch darum, auf diesem Weg zur Last. Endlich liegt das
SPIEGEL GESCHICHTE das alles hier zu erhalten: »Schauen Sie Kitz neben Felsers Wagen.
SONNTAG, 19. 5., 20.15 – 21.05 UHR | SKY mal, was da an Weißtannen und Buchen Er geht zum Kofferraum, zieht sich
nachkommt, ohne dass da etwas gepflanzt ein paar weiße Einmalhandschuhe aus La-
Die Geburt der Bundesrepublik wurde, ein Paradies für Rehe!« tex an, für die Hygiene, und nimmt das
Am 23. Mai 1949 unterzeichnet Er ist kein Alexander Gauland, kein Pro- Wildmesser zur Hand. »Mit dem schneide
Konrad Adenauer in Bonn das vokateur. Er will die AfD als konservative ich auch die Wildwurst«, sagt Felser.
Grundgesetz der Bundesrepublik Partei etablieren, der es um mehr geht als Er beugt sich über das Kitz, das er noch
Deutschland. Zuvor wurde um Flüchtlinge. »aufbrechen« muss: Brust und Bauch auf-
ein Grundrechtekatalog erarbeitet, Für ihn gehört die Jagd zum Leben, schlitzen, die Speiseröhre abtrennen und
der die Würde des Menschen nicht zuletzt zur Lebensmittelversorgung. die Eingeweide in einem Stück heraus-
zum obersten Staatsziel erklärt. Fragt man ihn, warum seit Jahren die Zahl nehmen.
der Jagdscheininhaber steigt, sagt er: »Die »Ich muss verdammt aufpassen, dass ich
Sehnsucht zum Archaischen. Die Leute das Gescheide nicht aufschlitze«, sagt Fel-
SPIEGEL TV wollen sich wieder erden.« ser und setzt den Schnitt den Bauch ent-
MONTAG, 20. 5., 22.50 – 0.00 UHR | RTL Er parkt sein Auto in der Nähe des Och- lang, die Brust bis zum Hals hinauf, er
sentobels und holt sein Gewehr aus dem durchtrennt die Speiseröhre und öffnet die
Armenhaus Europa Kofferraum, eine Blaser R93, eine Allgäu- Bauchdecke, um das Gescheide herauszu-
Eine knappe Woche vor der Wahl er Marke. Funktionell, kein Schnick- nehmen. »Es ist alles wunderbar erhalten,
zeigt SPIEGEL TV in einer Sonder- schnack. Dazu ein Messer; eine Wildwan- nur das Herz ist natürlich zerschossen«,
sendung die Schattenseiten Europas. ne, die er für fünf Euro im Baumarkt ge- sagt Felser. Er nimmt das Herz in die Hand:
kauft hat; seinen Jagdschein, falls er in »Schauen Sie mal her, das hat nur noch
eine Kontrolle kommt. Und einen Gehör- den Schlag gespürt, einen Satz gemacht
schutz. und vielleicht noch einmal den Himmel
Es ist ganz still auf dem Hochsitz, Felser gesehen.«
sagt nur das Nötigste. Er flüstert. Er streift die Handschuhe ab. »Sie sehen
Nach ein paar Minuten erscheint eine also, dass ich das Handwerk halbwegs be-
Geiß im Ochsentobel. Felser legt kurz an, herrsche«, sagt Felser.
drückt aber nicht ab. Eine Geiß darf er Er steht auf, um sich nach einem Fich-
nicht schießen, schon gar nicht, solange er tenzweig umzusehen.
nicht weiß, ob sie ein Kitz hat, weil ein Es ist Jagdtradition, dem erlegten Wild
Kitz ohne Mutter bald verenden würde. einen Zweig ins Maul zu legen, den »letz-
Aber vielleicht kommt ja noch ein Kitz? ten Bissen«. Damit wollen Jäger dem ge-
SPIEGEL TV
Ein Rehkitz darf er schießen. schossenen Tier die letzte Ehre erweisen.
Ein Kitz zu schießen, wenn ein Journa- Es sei, sagt Felser, die letzte Verbeugung
Protestierende in Frankreich list danebensitzt, ist ein besonderes Wag- vor dem Leben, das man genommen habe.
nis. Wird man ihm das als Geradlinigkeit Felser legt dem Kitz einen Fichtenzweig
Rechtspopulismus in Italien und auslegen? Oder als Dummheit? ins Maul und senkt den Kopf. »Dein Kör-
Ungarn, Brexit-Frust in Großbritan- Es dauert nicht lange, da hat er in der per bleibt hier«, sagt er, »deine Seele lebt
nien, soziale Schieflage und Suhle tatsächlich ein Rehkitz entdeckt, es weiter.«
Politikverdrossenheit in Frankreich. steht nah an der Mutter. Ein Schuss wäre Drei Jäger, drei Ausflüge. Und ein totes
zu gefährlich. Der könnte die Mutter strei- Tier. Der Einzige, der zum tödlichen Schuss
fen, das will und darf Felser nicht riskieren. kam, war der Mann der AfD.
SPIEGEL TV REPORTAGE Sein Atem wird schwerer, seine Hand be- Möglich, dass die beiden anderen diesen
DIENSTAG, 21. 5., 23.10 – 0.15 UHR | SAT.1 ginnt zu zittern. Die Mutter macht einen Schuss für ein Wagnis halten. Möglich
Satz nach vorn. Das Kitz steht frei. auch, dass Felser es genau deswegen ge-
Feuerwache Berlin Neukölln – Felser drückt ab. macht hat. Twitter: @marc_hujer
Inferno im Hinterhof Einen Moment lang bleibt er sitzen. Es
Neun Autos stehen in einem Hinter- gehört sich, sagt er, fünf Minuten zu war-
hof in Flammen – ein Einsatz, ten, damit das Tier in Ruhe sterben kann. Video
Auf der Pirsch
der auch für erfahrene Feuerwehr- Dann verlässt er den Hochsitz und macht
männer nicht alltäglich ist. Der sich auf die Suche nach dem Rehkitz, das spiegel.de/sp212019jagd
Parkplatz gehört zum Ordnungsamt. er im Dickicht der Brombeersträucher ver- oder in der App DER SPIEGEL
War es Brandstiftung? mutet. Er hat das Gewehr im Anschlag,
60
Gesellschaft
Unsere Herzen
Sie bekommen Fragen gestellt, auf die niemand eine Ant-
wort hat.
Also antworten sie wie Fußballer nach einer Niederlage
oder wie Politiker in Talkshows. Die jungen Frauen erzählen
irgendwas, das sie aus dem Gestrüpp führen soll: ESC-Welt,
Leitkultur Alexander Osang über Deutsche auf die schönen, positiven Dinge fokussiert, große Familie,
beim Eurovision-Wettbewerb tolle Energie. Sie antworten an den tückischen Fragen vorbei.
Niemand gibt Antworten, weil Antworten gefährlich sind. Ant-
worten werden nur noch zu Hause gegeben, hinter verschlos-
Umwelt
Ein Bündnis namhafter Ökonomen fordert die Bundes- RWI-Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung in Essen, und
regierung dazu auf, eine City-Maut für Autos einzuführen. dem Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Bundeswirt-
»Die schrittweise Einführung einer Gebühr für die Fahrt mit schaftsministeriums Hans Gersbach. Die Forscher argumen-
dem Auto in eine Stadt ist anderen Regulierungsinstrumen- tieren, eine solche Gebühr sei sinnvoller als Fahrverbote für
ten wie etwa Fahrverboten deutlich überlegen«, schreiben Dieselfahrzeuge, die wegen der überhöhten Stickoxidwerte
die Wissenschaftler. Dadurch erhöhe sich »die Attraktivität in vielen deutschen Städten derzeit eingeführt werden. Zur
der Nutzung anderer Verkehrsmittel, etwa des öffentlichen Höhe der Maut geben die Wissenschaftler keine Empfehlung,
Nahverkehrs (ÖPNV) oder des Fahrrades«, heißt es in dem sie solle jedoch schrittweise erhöht und zunächst in einzelnen
Plädoyer an das Wirtschafts-, Verkehrs- und Umweltministe- Städten und Stadtvierteln eingeführt werden. Die Erfahrun-
rium. Unterzeichnet ist es unter anderem vom obersten Wirt- gen aus Städten wie Stockholm, London und Oslo bestärkten
schaftsweisen der Bundesregierung, Christoph Schmidt vom die Unterzeichner in ihrer Forderung. GT
Fluglotsen Vegan-Trend
2000 Euro extra pro Schicht Jedes dritte Steak aus
Die bundeseigene Deutsche Flugsiche- Kunstfleisch?
rung (DFS) könnte in diesem Sommer
erneut für erhebliche Verspätungen im Die Fleischbranche muss sich in den
49,81 Euro pro Ticket die ungarische Daten legte das DLR für Linien wie Luft-
Gesellschaft Wizz. Zudem ist die Zahl hansa vor, die nicht zum Segment der
der preisgünstigen Flüge insgesamt gestie- Billigfluglinien zählen. MUM Pflanzliche Burger
63
D-WAVE SYSTEMS
64
Wirtschaft
W
ie unendlich kompliziert muss zwei Werten speichern: null oder eins. Entwicklung von Batterien erheblich be-
eine Idee sein, dass Albert Quantencomputer dagegen arbeiten mit schleunigen. Um nur ein Beispiel zu nennen.
Einstein an ihr verzweifelt? Qubits, sie können 0 und 1 zugleich dar- Die Quanten zu beherrschen wäre ins-
»Spukhaft« seien diese Quan- stellen, genauso wie sich in der Quanten- besondere eine Revolution für die Indus-
ten, klagte Einstein, und nur zu verstehen, welt ein Elektron an zwei Orten gleichzei- trie, für Maschinenbauer, Chemiefabrikan-
wenn man glaube, dass der Herrgott »wür- tig befinden kann. ten, Autokonzerne. Es wäre eine Zeiten-
felt oder sich telepathischer Mittel be- Der Fachbegriff ist Superposition, Über- wende, mit Folgen für die gesamte Wirt-
dient«. So »unerträglich« schienen Ein- lagerung, sie ermöglicht erheblich mehr schaft. Und sie steht, so scheint es, kurz
stein die Mechanismen dieser kleinsten Be- Kombinationen. Und deswegen können bevor.
standteile des Universums, dass er lieber viel mehr Daten gleichzeitig bearbeitet »Die Fortschritte zuletzt waren gerade-
an seinem Lebenswerk zweifelte, als die und viel komplexere Rechenaufgaben ge- zu fantastisch«, sagt Michael Marthaler.
Gesetze der Quanten zu akzeptieren: löst werden. Er forscht seit über einem Jahrzehnt an
»Wenn schon, dann möchte ich lieber Wenn heute ein Ingenieur eine Idee für den Mechanismen der Quanten, und wer
Schuster oder Angestellter in einer Spiel- eine neue Batterie hat, muss er sie bauen seinen Lebenslauf liest, würde eher einen
bank sein als Physiker.« und dann testen. So werden im Jahr viel- professoralen Typ mit ergrautem Kinnbart
Die Welt der winzigsten aller Teile ist, leicht einige Dutzend Ansätze ausprobiert. erwarten: promoviert am Karlsruher In-
gelinde gesagt, eine seltsame Welt, das Quantenprozessoren aber sollen die kom- stitut für Technologie zu Quanteneffekten
lässt sich auch ohne Nobelpreis schnell er- plexen elektrochemischen Prozesse simu- in supraleitenden Materialien, dazu Dut-
kennen. Die Regeln der klassischen Physik lieren und so in der gleichen Zeit mehrere zende internationale wissenschaftliche
gelten hier nicht, erst recht nicht die der Millionen Ideen prüfen. Das würde die Veröffentlichungen. Aber Marthaler ist ein
menschlichen Intuition: Objekte selbstironischer Enddreißiger mit
können in mehreren Zuständen zu- skeptischem Blick und Turnschu-
gleich existieren, wie ein Fernseher, hen, und statt an der Uni theoreti-
der gleichzeitig an- und ausgeschal- sche Aufsätze zu schreiben, hat er
tet ist. Partikel verändern sich, gleich um die Ecke im Erdgeschoss
wenn sie beobachtet werden, als einer ehemaligen Brauerei ein
wäre der Himmel nur blau, wenn Start-up gegründet, um erste Quan-
man hinschaut – sonst aber rot. tenanwendungen für Unterneh-
CLEMENS BILAN / EPA-EFE / REX FEATURES
66
Wirtschaft
mehreren Sicherheitsschleusen am Ende lich, für die heutige Supercomputer mehr Auch die Deutsche Bank beschäftigt
eines verwinkelten Ganges versteckt, in als hundert Jahre brauchen würden: riesi- sich bereits mit dem Thema, weil die da-
den Tiefen des nordkalifornischen For- ge neue Moleküle zusammenstellen, Mars- tenfressenden Quantenalgorithmen viel-
schungszentrums der Nasa. Die US-Raum- kolonien planen, Maschinen entwickeln, leicht leisten könnten, worauf viele Invest-
fahrtbehörde und Google bündelten bereits die riesige Mengen Kohlendioxid aus der mentbanker schon lange hoffen: die un-
vor einigen Jahren ihre Expertise in Da- Luft filtern. sichtbaren Muster der Finanzmärkte zu
tenverarbeitung und Physik. Die Zusam- Google ist sicher, dass diese Welt kom- entschlüsseln. Viele führende Banken lo-
menarbeit liegt nahe, buchstäblich. Das men wird, der Konzern baut seine Quan- ten aus, wie ein Quantencomputer ihre
Nasa-Zentrum liegt nur wenige Kilometer tenabteilung ständig aus und hat bereits Handelsstrategien und Portfolios beein-
entfernt vom Google-Hauptquartier. Von verschiedene Ableger für Hardware, Soft- flussen würde.
außen wirkt der Quantencomputer wenig ware und Cloud-Anwendungen geschaf- Die vielleicht noch größere Frage aber
futuristisch, nur ein schwarzer Kasten, etwa fen. Die große Frage dabei: Lassen sich wird sein, was mit den Unternehmen ge-
so groß wie ein Gartenhäuschen. Doch in auch schon in den kommenden Jahren, be- schieht, die nicht auf die kommende Quan-
seinem Inneren liegt die Temperatur nahe vor die Quantenprozessoren ganz fehler- tenwelt vorbereitet sind. Ob etwa Banken,
minus 273 Grad Celsius, es herrscht abso- frei sind, Praxisanwendungen für die In- die nicht mit Quantenalgorithmen arbei-
lute Stille und totale Dunkelheit. Nur unter dustrie finden? »Wir glauben: ja«, sagt Ne- ten, ausmanövriert werden. Ob Maschi-
diesen Bedingungen, wenn sich keine Ma- ven. »Aber wir sind uns nicht völlig sicher.« nenbauer, die nicht ständig neue Proto-
terie mehr bewegt, funktioniert die bizarre Google lotet schon jetzt aus, welche An- typen am Quantenrechner simulieren, kei-
Welt der Quantenmechanik. wendungen interessierte Konzerne genau ne Chance mehr haben.
Der Kern, der eigentliche Quantenchip, brauchen, wie die Software aussehen muss, »Wir müssen jetzt schon quantenbereit
ist kaum fingernagelgroß. Er sitzt fast un- wie die Hardware. Noch in diesem Jahr sein, um dann sofort loslegen zu können,
sichtbar am untersten Ende eines knapp
zwei Meter langen Gewirrs aus Kabeln, Me-
tallplatten und Leitungsbahnen. Einen Tran-
sistor gibt es nicht. »Das hier ist ein völlig
anderes Biest, gemacht für das Multiver-
sum«, sagt Neven. Deswegen werden Quan-
tencomputer auch nicht den normalen PC
auf dem Schreibtisch ablösen, sie werden auf
absehbare Zeit nur für spezielle, extrem kom-
plizierte Aufgaben zum Einsatz kommen.
Derzeit arbeiten alle Quantencomputer-
forscher auf ein Ziel hin: den Summit-
Supercomputer am amerikanischen Oak
Ridge National Laboratory zu schlagen,
den derzeit mächtigsten Rechner der Welt.
Die Google-Forscher haben sich dafür ein
konkretes Experiment vorgenommen. Ihr
Quantenprozessor soll eine Rechenaufga-
be in wenigen Sekunden lösen, für die der
herkömmliche Supercomputer eine Wo-
che braucht. Dann wäre erstmals die
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NIELS STARNICK / BILD AM SONNTAG
Künftiger Daimler-Chef Källenius
rer, seit er Mercedes-Fahrzeuge mit eige- Start-up-Kultur verbinden, wie sie Tesla Abschalteinrichtungen enthalten. Laut
nen, portablen Messgeräten untersuchte oder Google auszeichne. Daimler sind das »Spekulationen, die wir
und verräterische Werte aufdeckte, die Der neue Daimler-Chef selbst ist kein nicht kommentieren«. Doch die Droh-
auf illegale Abschalteinrichtungen hin- Ingenieur, sondern Betriebswirt. Das kann kulisse schien Wirkung zu entfalten.
deuteten. von Vorteil sein, weil er zu Kompromissen Zetsche sagte Scheuer zu, der Konzern
Källenius störte das nicht. Er diskutierte bereit sein dürfte, die für seine Vorgänger werde jeden Autofahrer, der einen Daim-
mit Friedrich über seine E-Mobilitätsoffen- kaum vorstellbar waren. Und zu neuen ler nachrüsten lasse, mit 3000 Euro un-
sive – und über die Widerstände, auf die Bündnissen. terstützen. Gleichzeitig beließ es das
er im Konzern stößt. Källenius trägt bei Källenius tauscht sich sogar mit dem Verkehrsministerium beim Rückruf von
solchen Gelegenheiten übrigens meist Le- Erzrivalen BMW intensiv aus. Während europaweit rund 700 000 Autos. Ein
derschuhe, keine Sneakers. die Konkurrenten unter Zetsche oft im schmutziger Deal? Daimler bestreitet das:
Friedrich kommt seither nur Lob über Clinch lagen, kann Källenius die Partner- »Eine solche Absprache gab es nicht.«
die Lippen. Der neue Mann höre zu, wolle schaft gar nicht weit genug gehen. Die Die Verstimmung jedenfalls blieb, auf
die Sichtweise der Umweltverbände ver- Autokonzerne arbeiten bereits bei Mobi- beiden Seiten. Erst kürzlich kündigte
stehen. »Er ist nicht arrogant oder von litätsdiensten zusammen, künftig auch Daimler an, kein Geld mehr für Parteien
oben herab«, sagt der Daimler-Kritiker – beim autonomen Fahren. zu spenden. Von vielen wird das als
Wesensmerkmale, die er von Zetsche und Seine Sparringspartner bei BMW müs- Retourkutsche gewertet. Thomas Bareiß
seinen Leuten gewohnt war. sen Källenius’ Eifer manchmal geradezu (CDU), Staatssekretär im Bundeswirt-
Die Fähigkeit zum Ausgleich wird Käl- bremsen. Schließlich stehe man immer schaftsministerium, bezeichnete den
lenius brauchen. Ihm stehen Konflikte noch im Wettbewerb. Gemeinsame Fahr- Schritt als »verantwortungslos, demokra-
ins Haus. Um die milliardenschweren In- zeugplattformen, die der künftige Daim- tiegefährdend, dumm«.
vestitionen in E-Mobilität und Digitalisie- ler-Chef sich vorstellen kann, soll es erst Zumal der Abgasskandal für den Kon-
rung stemmen zu können, muss gespart einmal nicht geben. Doch klar ist: Das Ver- zern längst nicht ausgestanden ist. Die
werden, wohl auch bei den Jobs. Rund hältnis der beiden Premiumhersteller wird Stuttgarter Staatsanwaltschaft ermittelt
10 000 Stellen könnten wegfallen, wurde sich grundlegend ändern. bislang zwar nur gegen Mitarbeiter unter-
zuletzt spekuliert. Konzernkenner glau- Auch mit dem chinesischen Großaktio- halb des Vorstands. Das könnte sich indes
ben, dass nicht einmal das ausreichen när Li Shufu wird Daimler wohl enger zu- ändern, sollten die Ermittler die gleiche
wird. sammenrücken. Der Kleinwagen Smart ist Strategie einschlagen wie ihre Münchner
»Die Produktionsstruktur ist nicht mehr künftig eine deutsch-chinesische Gemein- Kollegen im Fall Audi: Dort musste Vor-
zeitgemäß«, sagt Fondsmanager Floss- schaftsproduktion. Li und Källenius haben standschef Rupert Stadler in Untersu-
bach. Alle müssten Opfer bringen – Ar- bereits ausgelotet, wie sich die Zusammen- chungshaft. Unter seiner Ägide sollen
beitnehmer, Management und Aktionäre. arbeit noch vertiefen ließe. auch dann noch Autos verkauft worden
»Angesichts des hohen Investitionsbedarfs Die größte Altlast aus der Ära Zetsche sein, als jedem klar sein musste, dass sie
wäre eine niedrigere Dividende angemes- wird Källenius jedoch nicht mit ein paar unzulässige Software enthielten. Stadler
sen«, so Flossbach. Die Aktionäre kritisie- netten Treffen beiseiteräumen können: die beteuert seine Unschuld.
ren auch die hohen Pensionslasten, allein politischen und juristischen Verwerfungen Einen ähnlichen Vorwurf könnten die
Zetsche hat als Rentner Ansprüche im aus der Dieselaffäre. Das Verhältnis von Staatsanwälte nun gegen das Daimler-Ma-
Wert von 42 Millionen Euro. Daimler zur Politik bleibt angespannt, ein nagement erheben. Schließlich ist die Lis-
Die Spargerüchte versetzen Betriebs- Insider nennt es sogar »total vermurkst«. te der betroffenen Mercedes-Modelle lang,
räte und Gewerkschafter in Alarmbereit- Was vor allem an Zetsche liegt. Autos mit zweifelhafter Software wurden
schaft. »Plumpes Kostenschrubben ist Der hatte noch im Januar 2016 erklärt, zum Teil noch 2018 produziert. Daimler
noch keine Strategie«, sagt Daimler-Be- »bei uns wurden keine Abgaswerte mani- bestreitet, gegen Gesetze verstoßen zu ha-
triebsratschef Michael Brecht. »Sparen ist puliert«. Wenige Monate später entdeckte ben. Der Konzern hat Widerspruch gegen
nicht das einzig Entscheidende dafür, ob das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) Abschalt- den Rückruf des KBA eingelegt.
es uns künftig noch gibt oder nicht.« Daim- einrichtungen, die aus Sicht der Behörde Källenius hat eigentlich keine Zeit, sich
ler beteuert, konkrete Zahlen stünden unzulässig waren. Die Daimler-Vertreter mit der Vergangenheit zu beschäftigen.
noch nicht fest. stritten jegliches Fehlverhalten ab. Die Aktionäre treiben ihn an, wollen Er-
Noch schwieriger wird Vergangenes Jahr wurde gebnisse sehen. Ihnen schwebt ein Kon-
es für Källenius, die Kultur es selbst dem autofreundli- zern vor, in dem die einzelnen Sparten
zu ändern. Bei Daimler do- Innovationsschub chen Verkehrsminister An- eigenständiger agieren können. So wie es
minieren wie in der gan- Forschungs- und Entwicklungs- dreas Scheuer zu bunt. Im die von Zetsche angestoßene Holding-
zen Branche immer noch ausgaben bei Mercedes-Benz*, Herbst versuchte der CSU- struktur ermöglicht. Als ersten Schritt for-
die Ingenieure. Dabei weltweit in Mrd. € Politiker, die Konzernbosse dern sie einen Börsengang der Lkw-Sparte.
braucht die Firma zuneh- 13,8 zu Nachrüstungen zu drän- Geht alles gut, könnte Zetsche in zwei
mend IT-Experten, die das gen, um Dieselfahrverbote Jahren zu Daimler zurückkehren. Dann
Auto mit dem Internet ver- zu verhindern. Um den will er Chef des Aufsichtsrats werden.
knüpfen. Druck auf Daimler zu er- Voraussetzung ist, dass er nicht noch stär-
Ein Unternehmensbera- höhen, griff er auf die Er- ker in den Sog der Dieselaffäre gerät.
ter, der selbst im Konzern 8,2 kenntnisse des KBA zu- Einen mächtigen Fürsprecher hat der
gearbeitet hat, beschreibt rück. Manager bereits gefunden: Großaktionär
die Kultur bei Daimler als Der Minister signalisier- Li Shufu, heißt es in seinem Umfeld, soll
einen »langsam dahinflie- te Zetsche angeblich, dass sich kürzlich für Zetsche als Chefkontrol-
ßenden Strom«, geprägt seine Leute keinen Diesel leur stark gemacht haben.
»von langen Zyklen und aus dem Hause Daimler Simon Hage, Martin Hesse,
Solidität«. Diese alte Inge- für legal erachteten. Der Gerald Traufetter
nieursdenke müsse Källe- 2014 2018 Verdacht: Mehrere Millio- Mail: simon.hage@spiegel.de
nius mit der aggressiveren *inkl. Sachinvestitionen nen Fahrzeuge könnten
71
Wirtschaft
Haakon, 45, wohnt nicht im Königlichen Haakon: Oh ja, das tut man, zum Glück. schen müssen ihren eigenen Weg finden.
Schloss in Oslo, das ist seinen Eltern vorbe- Ich fahre gern Auto. Ich kann Ihnen aber sagen, wie es Norwe-
halten, Norwegens Monarchen Sonja und SPIEGEL: Ihr Land ist in Europa die Num- gen gemacht hat. Wer ein E-Auto kauft,
Harald. Aber der Kronprinz hat ein Ar- mer eins, was die Elektromobilität angeht. muss darauf keine Steuer zahlen. Das
beitszimmer in dem klassizistischen Bau, Haakon: Voriges Jahr war in Norwegen je- macht ziemlich viel aus, denn in Norwe-
im zweiten Obergeschoss mit Blick zur der dritte verkaufte Neuwagen ein E-Auto. gen geben wir bis zum Doppelten von
Stadtseite. Über den weißen Flügeltüren Dieses Jahr könnte es fast jeder zweite dem, was ein Neuwagen kostet, noch ein-
prangen goldverzierte Bögen. Auf einem sein. Das Ziel der norwegischen Regierung mal ans Finanzamt ab. Wer ein Elektro-
Regal steht ein Schwarz-Weiß-Bild seiner ist es, dass 2025 alle verkauften Neuwagen auto fährt, darf auch die Busspur benutzen
Frau Mette-Marit, an der Wand hinter dem emissionsfrei sein werden. und kostenlos parken. Außerdem hat die
Schreibtisch hängen Fotos der Kinder. Am SPIEGEL: Es ist irritierend, hier in Oslo Regierung ein landesweites Netz von La-
kommenden Freitag wird der Kronprinz spazieren zu gehen. Wegen der vielen Elek- destationen errichtet. Aber das ist nur ein
zum Greentech Festival nach Berlin reisen, troautos ist der Verkehr auffallend leise. Teil des Verkehrskonzepts. Wir setzen
wo es um Nachhaltigkeit und grüne Mobi- Haakon: Das ist schön, oder? auch auf Züge, Straßenbahnen, Busse.
lität geht. SPIEGEL: Allerdings ist Oslo vermutlich Oder auf Fahrräder. Am besten ist es na-
nicht repräsentativ für Norwegen. türlich, zu Fuß zu gehen.
SPIEGEL: Königliche Hoheit, wir möchten Haakon: Das stimmt. Wir haben in den SPIEGEL: Norwegen hat mehr grüne Ener-
mit Ihnen über Elektroautos reden. Städten weitaus mehr E-Autos als auf dem gie, als es benötigt. Es könnte einmal so
Haakon: Ich muss gestehen, dass ich kein Land. Und es gibt immer noch große Fahr- etwas wie die Batterie Europas werden.
typischer Autonarr bin. Es gibt Menschen, zeuge mit Verbrennungsmotoren, die sehr Was halten Sie von der Idee?
vorwiegend sind es wohl Männer, die alles laut sind. E-Autos machen selbst in Nor- Haakon: Das ist auf jeden Fall eine Per-
über die Leistung von Autos wissen. Ich wegen bislang nur acht Prozent aller Fahr- spektive. Deutschland und Norwegen ar-
gehöre nicht dazu. Aber ich mag Elektro- zeuge aus. Wir haben noch einiges zu tun. beiten ja bereits zusammen. In der Nord-
autos, sehr sogar. SPIEGEL: Was kann Deutschland von Nor- see wird gerade ein Stromkabel verlegt,
SPIEGEL: Woher kommt das? wegen lernen, wenn es um Elektromobili- das die Länder verbindet …
Haakon: Als ich klein war, fand ich es tät geht? SPIEGEL: … Nordlink.
wahnsinnig aufregend, ferngesteuerte Au- Haakon: Länder lernen ständig voneinan- Haakon: Es soll grünen Strom über Gren-
tos zusammenzubauen. Ich habe dabei der, Norwegen von Deutschland wie hof- zen hinweg transportieren. Wenn Deutsch-
viel gelernt: wie Einzelteile zu einem Gan- fentlich auch umgekehrt. Allerdings möch- land gerade viel Wind und Sonne hat, im-
zen werden und was am Ende Tolles dabei te ich ungern Ratschläge geben, die Deut- portieren wir Energie nach Norwegen.
herauskommt. E-Autos bringen mir dieses Währenddessen speichern wir mehr Was-
Gefühl aus meiner Kindheit zurück. ser in unseren Becken. Hat Deutschland
SPIEGEL: Besitzen Sie ein E-Auto? Fossile Power mal wenig Wind und Sonne, kann es un-
Haakon: Seit 15 Jahren schon. Mein erstes Deutschlands Erdöl- und Erdgaslieferanten, sere Reserven für Wasserkraft nutzen. Ein
kam aus Norwegen, es war ziemlich klein Anteile in Prozent Kabel ist nicht genug, aber es ist ein An-
und hieß Think. Es brachte mich morgens fang.
Erdöllieferanten Erdgaslieferanten
zum Königlichen Schloss, ich wohne 20 2018 1. Halbjahr 2018 SPIEGEL: Norwegen gewinnt 95 Prozent
Minuten entfernt von hier, und an guten seines Stroms aus Wasserkraft. Das ist be-
Tagen auch zurück. Jedenfalls in den ers- merkenswert.
ten Jahren, als es neu war. Später musste Haakon: Wir sind mit erneuerbaren Res-
ich es zwischendurch aufladen, um sicher- 36,3 Russland 39,0 Russland sourcen gesegnet. Mit Wasserkraft hat die
zugehen, dass es den Heimweg schafft. Es Industrialisierung Norwegens begonnen.
hatte seine Tücken. Ich wäre mehrere Male Norwegische Unternehmen investieren
beinahe auf der Autobahn stehen geblie- 11,8 Norwegen auch in die Entwicklung von Solarenergie.
ben. Seither hat sich zum Glück einiges 8,5 Libyen 31,2 Niederlande Ebenso fließt Geld in Windkraft, und ein
geändert. Es gibt wirklich gute Alternati- 8,0 Kasachstan beträchtlicher Teil der Forschung beschäf-
ven zu Autos mit Verbrennungsmotoren. 7,8 Großbritannien tigt sich mit der Entwicklung von Offshore-
SPIEGEL: Sitzt man als Kronprinz eigent- Windanlagen. Bislang sind sie vergleichs-
lich selbst am Steuer?
27,6 sonstige 26,3 Norwegen weise teuer, aber wir hoffen, dass sich das
ändern wird.
Das Gespräch führten die Redakteure Alexander Jung 3,5 sonstige SPIEGEL: Andererseits gehört Ihr Land zu
und Alexander Kühn in Oslo. Quelle: Bafa Europas größten Exporteuren von Öl und
72
JEPPE BØJE NIELSEN / DER SPIEGEL
Thronfolger Haakon in seinem Arbeitszimmer: »Ich bin kein Aktivist«
Gas. Norwegen ist ein grünes Vorbild, ver- rung aus. Verzeihen Sie bitte, aber: Nor- geschehen sollen. Es wäre besser gewesen
dankt seinen Reichtum aber fossilen wegen, das Öl und Gas liefert, selbst je- für die Welt.
Brennstoffen. Das ist ein Widerspruch. doch von erneuerbarer Energie lebt – das SPIEGEL: Sie klingen jetzt wie ein Akti-
Haakon: Ich verstehe, was Sie meinen. erinnert uns an einen Drogendealer, der vist.
Der Handel mit Öl und Gas gehört seit gefährlichen Stoff verkauft und die Erlöse Haakon: Ich bin kein Aktivist.
vielen Jahren zur norwegischen Wirt- dafür nutzt, sich und seine Familie gesund SPIEGEL: Wie sehen Sie eigentlich Ihre
schaft. Die Welt ist noch immer abhängig und fit zu halten. Rolle als Kronprinz: ein grünes Vorbild,
von fossiler Energie, aber wir müssen da- Haakon: Ich denke nicht, dass das ein ge- der oberste Umweltschützer des Landes?
von wegkommen. Wir brauchen den Wan- eigneter Vergleich ist. Haakon: Meine Rolle ist nicht politisch.
del hin zu erneuerbaren Energien, und SPIEGEL: Aber sehen Sie nicht auch eine Aber natürlich versucht die königliche Fa-
Norwegen arbeitet daran, ihn zu beschleu- gewisse Doppelmoral, wenn ein Land, des- milie, ihren Beitrag zu leisten. Auf dem
nigen. Wir müssen als Weltgemeinschaft sen Wohl von Öl und Gas abhängt, die grü- Dach des Königlichen Schlosses hier in
eine Lösung finden, aber wir können auch ne Wende vorantreiben soll? Oslo haben wir Solarzellen anbringen las-
als Nationalstaaten eine Menge tun. Haakon: Die Position der Regierung ist, sen. Es gibt eine Umweltgruppe, die von
SPIEGEL: Heißt das, Norwegens Öl- und dass wir die Energiewende wollen. Ich meiner Frau geleitet wird. Diese Gruppe
Gassektor wird an Bedeutung verlieren? selbst finde es fantastisch, dass Wind- und überlegt, wie wir nachhaltiger wirtschaften
Haakon: Ja, das wird so kommen. Sonnenenergie in den vergangenen Jahren können, es geht um die Vermeidung von
SPIEGEL: In fünf Jahren, in zehn? immer wettbewerbsfähiger geworden sind. Müll und ums Energiesparen. Dasselbe tun
Haakon: Wir fördern heute schon weniger In vielen Fällen ist Solarstrom billiger zu wir auf Gut Skaugum, wo wir wohnen. Im
Öl als früher. erzeugen als Kohlestrom. Wir sind an dem vergangenen Jahr hat meine Frau angeregt,
SPIEGEL: Die Industrie aber will in den Punkt angelangt, an dem die Preise uns dass wir bei uns zu Hause auf Plastik ver-
nächsten Jahren neue Ölfelder erschließen. helfen. Ich bin überzeugt, dass die Wende zichten sollten.
Das sieht nicht nach einer Richtungsände- kommen wird. Das hätte schon viel früher SPIEGEL: Mit Erfolg?
Zugriff aus
Haakon: Plastik ganz aus unserem Leben wusst. Andererseits ist es auch wichtig,
zu verbannen ist schwer. Das fängt beim Menschen persönlich zu treffen, wenn
Essen an, das in Plastik verpackt ist. Im- man etwas bewirken will.
Fernost
merhin haben wir es geschafft, unseren SPIEGEL: Ist Fliegen Ihre größte Umwelt-
Verbrauch drastisch zu reduzieren. sünde?
SPIEGEL: Ihre Tochter Ingrid Alexandra Haakon: Vermutlich ja. Außerdem lebe
ist jetzt 15, Ihr Sohn Sverre Magnus 13 Jah- ich in einem ziemlich großen Haus, auch
re alt. Erziehen Sie und Ihre Frau die bei- mein Büro befindet sich in einem großen Datensicherheit Das Erfolgs-
den zum Umweltschutz? Haus. Ich würde gern komplett nachhaltig Start-up Teamviewer wurde Op-
Haakon: Sie erziehen uns. In der Schule leben. Davon bin ich um einiges entfernt.
lernen sie zum Glück viel darüber. Ich bemühe mich aber, meinen CO2-Fuß- fer eines Cyberangriffs. Experten
SPIEGEL: Haben Ihre Kinder schon mal abdruck zu verkleinern. vermuten dahinter Hacker im
die Idee geäußert, freitags für den Klima- SPIEGEL: Haben Sie eine Ahnung, wie
Auftrag des chinesischen Staates.
schutz auf die Straße zu gehen anstatt zum groß er ist?
Unterricht? Haakon: Vermutlich größer als jener der
Haakon: Unsere Kinder gehen freitags zur
Schule, der Klimaschutz liegt ihnen trotz-
dem am Herzen. Weltweit protestieren
junge Leute gegen die bisherige Klimapoli-
meisten anderen Menschen.
SPIEGEL: In früheren Jahrhunderten war
der Adel berühmt für seine Dekadenz.
Heute geben sich Mitglieder europäischer
F ür die Softwareschmiede Team-
viewer aus Göppingen liefen die
Geschäfte in den vergangenen Jahren
prächtig. Das 2005 gegründete Start-up
Königshäuser als grüne ist eines der wenigen deutschen »Tech-Uni-
Pioniere. Hilft das auch corns« – jener jungen Unternehmen also,
dem royalen Image? die es auf eine Bewertung von mehr als
Haakon: Ich betrachte mich einer Milliarde Dollar bringen.
nicht als Pionier. Ich bin auch Der Clou seiner Software: Man kann
kein Politiker. Wir haben damit von jedem Rechner auf andere End-
eine konstitutionelle Monar- geräte und deren Inhalte zugreifen. Viele
chie in Norwegen. Es ist an Anwender nutzen das kostenlose Privat-
den Politikern, die knappen angebot, etwa um sich mit dem eigenen
Ressourcen zu verteilen, Rechner zu Hause zu verbinden. Unter-
nicht an der königlichen Fa- nehmenskunden organisieren damit unter
milie. Meine Rolle gestattet anderem ihren IT-Support. Techniker aus
es mir nicht, mich an politi- der Zentrale greifen per Teamviewer auf
schen Debatten zu beteili- die Computer von Angestellten überall auf
gen, aber ich kann meine dem Globus zu. Das spart Zeit, Nerven
Stimme erheben, wenn es und Reisekosten. Insgesamt, so wirbt das
um die großen Herausforde- Unternehmen, sei die Software auf knapp
rungen der Menschheit geht. zwei Milliarden Geräten aktiviert worden.
SPIEGEL: Wenn es also da- Der Zugriff auf entfernte Rechner ist
rum geht, ob in der Arktis komfortabel – aber anfällig für Missbrauch.
nach Öl oder Gas gebohrt Sicherheit gehört deshalb zu den wichtigs-
werden soll, halten Sie sich ten Produktversprechen der Schwaben.
SOCIALMEDIASERVICE / DDP
IT-Sicherheitsexperten wird es von Grup- gehabt haben, den Quellcode zu verändern ten Drittparteien war eine breite Informa-
pen genutzt, die im Auftrag des chine- und eigene Zugänge einzubauen – um spä- tion an die Kunden hier nicht angezeigt.«
sischen Staates operieren. Wie bei Netz- ter bei denjenigen ein Einfallstor zu haben, Intern nahm man die Sache offenbar
angriffen typisch, ist eine zweifelsfreie die sich die Software des Unternehmens ernst. Ende des Jahres 2016 gab Teamvie-
Zuordnung kaum möglich. Die Indizien herunterladen. wer eine Generalüberholung der eigenen
seien aber erdrückend, sagt Andreas Rohr, Die Gruppen, die Winnti einsetzen, IT-Infrastruktur in Auftrag. Es handle sich
technischer Direktor der Deutschen Cyber- sind schon früher durch ein solches Vor- um einen »radikalen Schnitt«, schrieb der
Sicherheitsorganisation (DCSO), die von gehen aufgefallen. Sie manipulierten etwa Dienstleister über seinen Großauftrag bei
Teamviewer beim Herausdrängen der den Code von Onlinespielen; wer die lud, Teamviewer, die IT-Landschaft werde
Angreifer eingebunden wurde. »Die Schad- holte sich eine gefährliche Hintertür auf »komplett neu aufgesetzt«, um für mehr Si-
software stammt mit hoher Wahrschein- den Rechner. cherheit zu sorgen: »Hintertüren im Quell-
lichkeit von einer chinesischen Söldner- Bei Teamviewer heißt es dazu, die eige- code werden ebenfalls ausgeschlossen.«
gruppe, welche gegen Bezahlung ziel- nen Systeme hätten den Angriff »rechtzei- Das Unternehmen spricht auf Anfrage
gerichtete Angriffe und Kampagnen im tig genug entdeckt, um größere Schäden zu von einer »Vorsichtsmaßnahme«, bei der
Internet ausführt.« Ihr Zielspektrum folge verhindern«. Man habe interne und exter- man alle »Systeme einmal komplett
den Vorgaben des aktuellen Fünfjahres- ne Spezialisten sowie Ermittlungsbehörden überprüft, bereinigt und neu aufgestellt«
plans der chinesischen Regierung, die Vor- eingeschaltet und »keine Belege dafür ge- habe – so sei das eigene Rechenzentrum
gehensweise der Täter sei identisch mit der funden, dass Kundendaten entwendet« neu aufgebaut worden. Über die durch
bei den beiden Dax-Konzernen: »Wir sind oder »Computersysteme von Kunden infi- den Angriff entstandenen Kosten wollte
sicher, dass es sich um dieselbe Angreifer- ziert wurden«. Auch habe man »keinen Be- Teamviewer keine Angaben machen. Ins-
gruppe handelt.« leg dafür, dass der Quellcode manipuliert, gesamt sei in die IT-Sicherheit seither ein
Der Fall ist politisch auch deshalb brisant, entwendet oder in anderer Form miss- hoher einstelliger Millionenbetrag geflos-
weil darum gerungen wird, wie westliche bräuchlich genutzt wurde – selbst wenn Tei- sen, heißt es in Unternehmenskreisen.
Regierungen mit dem chinesischen Tele- le davon gesehen worden sein sollten«. Die Mittel sind sicher gut investiert, denn
kommunikationsgiganten Huawei umge- Deshalb habe man sich auch dagegen Teamviewer will künftig noch stärker im
hen sollen. Die US-Regierung drängt ihre entschieden, die Kunden zu warnen: »Nach Internet der Dinge mitmischen – schon jetzt
Partner seit Langem, den Konzern vom übereinstimmender Meinung aller relevan- nutzen Kunden die Software etwa zur Fern-
Aufbau der neuen 5G-Netze auszuschlie- steuerung von Windkraftanlagen. Seit 2014
ßen – mit Verweis auf Spionagerisiken. Erst ist der Finanzinvestor Permira Eigentümer
am Mittwoch erließ US-Präsident Donald Die Fern-Steuerung der Firma, die er damals für rund eine Mil-
Trump ein Dekret, das Geschäfte zwischen Mit Software des Tech-Unternehmens Teamviewer liarde Dollar erwarb. Der Investor drängt
Huawei und US-Unternehmen weiter er- kann aus der Ferne auf Rechner und andere Geräte auf weiteres Wachstum. Zuletzt gab es in
schwert. Die Winnti-Attacken scheinen die zugegriffen werden. der Finanzbranche Hinweise darauf, dass
Kritiker zu bestätigen: Wie einem staatsna- ein Börsengang vorbereitet wird.
hen Konzern wie Huawei vertrauen, wenn Einen Teil der aktuellen Wachstums-
chinesische Hacker in staatlichem Auftrag strategie kann man dabei durchaus als
deutsche Unternehmen ausspionieren? Gegenangriff interpretieren, allerdings mit
Aus der Perspektive eines fremden Der Computer zu Hause lässt sich von
legitimen Mitteln. Teamviewer soll näm-
Nachrichtendienstes ist Teamviewer ein überallher bedienen. Unternehmen wickeln lich vor allem in Asien zulegen. Im März
interessantes Ziel. Wie bei vergleichbaren ihren IT-Support über die Software ab, auch eröffnete dafür ein Büro in Shanghai. Man
früheren Angriffen kann es um klassische Onlinekonferenzen sind möglich. wolle so »die Expansion im Schlüssel-
Industriespionage gegangen sein – also um Firmen steuern über Teamviewer markt China vorantreiben«.
das Stehlen von Geschäftsgeheimnissen. Bei Geräte und Anlagen, etwa Bewässerungs- Marcel Rosenbach
Teamviewer ist indes auch ein weiteres systeme, Kassen in Filialgeschäften oder Mail: marcel.rosenbach@spiegel.de
Motiv denkbar: Die Angreifer könnten vor- Windenergieanlagen.
75
Ausland
»Ihr Idioten habt den Brexit verbockt! Runter von meiner Straße!« ‣ S. 86
Analyse
Gewinnen um jeden Preis. Das ist die Parole, die der türkische Erdoğan jedoch radikal mit den Kurden. Er ließ PKK-Stellungen
Präsident Recep Tayyip Erdoğan für die Neuwahl in Istanbul am bombardieren und Demirtaş verhaften. Nun will Erdoğan die
23. Juni ausgegeben hat. Die reguläre Wahl vom 31. März hat er Kurden bei der Istanbul-Wahl wieder auf seine Seite ziehen. Laut
annullieren lassen, nachdem seine AK-Partei Oppositionskandidat Schätzungen stellen diese in Istanbul mindestens 15 Prozent der
Ekrem Imamoğlu unterlegen war. Erdoğans Problem ist, dass er etwa zehn Millionen Wähler. Erdoğan schickt seine Funktionäre
nicht weiß, wo er die Stimmen für ein besseres Ergebnis herneh- in mehrheitlich kurdische Viertel in Istanbul. Das Besuchsverbot
men soll. Zwar lag Imamoğlu im März nur mit knapp 14 000 Stim- gegen den inhaftierten PKK-Führer Abdullah Öcalan wurde am
men vorn. Das Wählerpotenzial der AKP aber scheint erschöpft. Donnerstag aufgehoben. Gerüchten zufolge könnte HDP-Chef
Mehrere Oppositionspolitiker haben angekündigt, zugunsten Demirtaş noch vor der Wahl aus dem Gefängnis freikommen.
Imamoğlus auf eine Kandidatur zu verzichten. Ob Erdoğans Werben verfängt, ist fraglich. Die HDP hat bei
Die Verzweiflung im Präsidentenpalast in Ankara ist offenbar der Wahl im März in Istanbul indirekt Imamoğlu unterstützt.
so groß, dass sich Erdoğan um neue Verbündete bemüht – die Co-Parteichefin Pervin Buldan hat angekündigt, dass sie dies bei
Kurden. Erdoğan eröffnete einst Friedensverhandlungen mit der der Neuwahl genauso halten will. Erdoğans AKP befindet sich
PKK und räumte Kurden neue Freiheiten ein. Als sich die linke, in einem Bündnis mit der rechtsextremen MHP. Stimmen, die sie
prokurdische Partei HDP unter ihrem Co-Vorsitzenden Selahat- bei den Kurden gewinnt, könnte sie bei den Nationalisten wieder
tin Demirtaş zur Konkurrentin für die AKP entwickelte, brach verlieren. Maximilian Popp
76
Balkan Weg in die EU zurückgelegt. Die Opposi- balkan ein Vakuum hinterlassen, dann sto-
»Nun müssen wir liefern« tion gefährdet mit ihrer Obstruktionspoli-
tik die Würdigung dieser Erfolge.
ßen da Mächte hinein, deren Auffassungen
von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie wir
Serbien und Kosovo denken darüber nach, SPIEGEL: Nach den Europawahlen sollte nicht teilen: China, Russland, die Türkei.
Grenzen neu zu ziehen. In Albanien geht über den Beginn von Beitrittsverhandlun- SPIEGEL: Die Regierungen Serbiens und
die Opposition auf die Straße. Michael gen mit Albanien und Nordmazedonien des Kosovo überlegen, die Grenze neu zu
Roth, 48, Staatsminister für Europa im entschieden werden. Einige zögern, etwa ziehen; die EU-Kommission hat sich dafür
Auswärtigen Amt (SPD), fordert mehr Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. offen gezeigt. Was halten Sie davon?
Engagement von der EU in der Region. Roth: Wir haben Zusagen gemacht, nun Roth: Nichts. Dieser Vorschlag befriedet
müssen wir liefern. Nordmazedonien und nicht, er ruft neue Spaltungen hervor.
SPIEGEL: Herr Roth, macht Ihnen der Bal- Griechenland haben mit der Lösung des Wir sollten keinerlei Zweifel daran lassen,
kan Sorge? Namensstreits Geschichte dass die Zukunft der Gesellschaf-
Roth: Wir sollten uns stärker engagieren. geschrieben. Welcher Politiker in ten auf dem Westbalkan multi-
Die EU ist bei aller Kritik der größte einem EU-Staat würde sich trau- ethnisch und multireligiös ist. Es
Friedens- und Stabilitätsanker der Welt. en, gegen deutliche gesellschaft- kann keine neuen Grenzziehun-
GETTY IMAGES
Aber unsere eigenen Probleme verstellen liche Widerstände einen Versöh- gen entlang von Ethnien geben.
uns bisweilen den Blick auf unsere un- nungsprozess einzuläuten, nach- SPIEGEL: Es wird wohl Monate
mittelbare Nachbarschaft. dem man sich 28 Jahre lang mit dauern nach den Europawahlen,
SPIEGEL: In Albanien demonstriert die Verachtung begegnet ist? Wir erle- bis sich Rat und Parlament auf
Opposition gegen Korruption in der ben ja im Kosovo, was es bedeutet, wenn einen Kommissionspräsidenten verstän-
Regierung. Geraten dadurch die Beitritts- ein Land hingehalten wird. digen. In dieser Phase werden kaum Bei-
gespräche in Gefahr? SPIEGEL: Sind Sie für die Visaliberalisie- trittsverhandlungen beschlossen.
Roth: Proteste sind eine Selbstverständ- rung zwischen der EU und dem Kosovo? Roth: Wir können den Weltlauf nicht von
lichkeit in einer Demokratie. Aber Gewalt Roth: Wir werben dafür nicht als generöses Wahlterminen in der EU abhängig
und Hass, der Boykott von Wahlen, der Geschenk, sondern weil das Kosovo die Be- machen. Der Zeitplan gibt vor: Im Juni
Auszug der Opposition aus dem Parla- dingungen der EU erfüllt hat. Es darf nicht 2019 entscheidet der Rat. Nach allem, was
ment sind absolut inakzeptabel. Albanien der Eindruck entstehen, dass wir immer wie- aus der EU-Kommission zu vernehmen
hat bereits eine große Strecke auf dem der draufsatteln. Wenn wir auf dem West- ist, sind die Bedingungen erfüllt. CSC
Japan
Ziemlich blamiert
Mehrere Kabinettsmitglieder der
konservativen Regierungspartei (LDP)
mussten in den vergangenen Monaten
zurücktreten. Sie hatten sich mit
ziemlich unsensiblen Aussagen bla-
miert – zuletzt etwa der Minister für
die Olympischen Spiele 2020 in Tokio,
Yoshitaka Sakurada, der »enttäuscht«
war über die Leukämieerkrankung
einer japanischen Schwimmerin, da
»Joschi, mach
das jetzt klar«
Affären Heimlich aufgenommene Videos von 2017 zeigen,
wie der heutige Vizekanzler Österreichs,
Heinz-Christian Strache (FPÖ), in eine Falle tappt und einer
angeblichen russischen Millionärin für ihre mögliche
Hilfe im Wahlkampf öffentliche Aufträge in Aussicht stellt.
E
in schneeweißes Ferienhaus auf ei- Kurz und seiner Österreichischen Volks-
nem Hügel, wenige Kilometer von partei (ÖVP).
Ibiza-Stadt entfernt. Drei Schlaf- Knapp sechs Stunden lang sitzen sie
zimmer, vier Bäder, ein Außen- schon beisammen an diesem warmen
pool, ein separates Gästehaus, auf rund Abend, da beschleicht den FPÖ-Vorsitzen-
500 Quadratmeter Wohnfläche kostet die den Strache ein böser Verdacht: »Falle, Fal-
Nacht knapp tausend Euro. le, eine eingefädelte Falle«, flüstert er sei-
Die Runde, die hier am Abend des nem Nachbarn Gudenus zu. Doch schnell
24. Juli 2017 auf der Terrasse bei Cham- scheinen die Bedenken wieder verflogen.
pagner, Thunfischtatar und Sushi zusam- »Des is ka Falle«, beruhigt der Parteifreund.
menkommt, diskutiert heikle Fragen: Wie Letztlich behält der FPÖ-Chef mit sei-
können einer russischen Investorin Aufträ- ner Vermutung aber recht. Das Treffen ist
ge der österreichischen Wirtschaft und des eine Falle. Die Villa ist verwanzt und mit
Staates zugeschanzt werden? mehreren Kameras ausstaffiert, die ver-
Große Würfe werden erwogen, nichts deckt alles aufnehmen.
scheint unmöglich. Es geht um Casino- Die angebliche Russin Aljona Makaro-
lizenzen, den Verkauf eines alten Luxus- wa, die auch die lettische Staatsbürger-
hotels, Aufträge am Autobahnbau, alles schaft besitzen will, spielt die investitions-
für die Investorin aus Russland. Sogar von willige Nichte eines reichen Oligarchen.
einer Übernahme der »Kronen Zeitung« Ihre Legende: Sie wolle mehr als eine Vier-
ist die Rede. Sie zählt zu den auflagen- telmilliarde Euro in Österreich anlegen, als
stärksten Blättern des Landes. Kapital, das »nicht auf die Bank darf«, weil
Es mischen mit: eine angebliche Russin, es »eigentlich nicht ganz legal« sei, wie
eine Österreicherin mit serbischen Wur- der Begleiter der Frau freimütig erzählt. SPIEGEL und »Süddeutsche Zeitung«
zeln und Masterabschluss, drei Österrei- In anderen Worten: Schwarzgeld. dazu entschlossen, die Inhalte der Gesprä-
cher in Freizeitkleidung. Die Videos von jenem langen Abend che zu veröffentlichen.
Zwei von ihnen sind zu diesem Zeit- auf Ibiza wurden dem SPIEGEL und der Die Quelle ist den Redaktionen be-
punkt bereits auf dem Sprung ins Zentrum »Süddeutschen Zeitung« zugespielt. kannt, sie besteht darauf, anonym zu blei-
der politischen Macht: Heinz-Christian Die Aufnahmen bergen politischen ben. Ungeklärt ist, auf wessen Betreiben
Strache, Chef der Freiheitlichen Partei Sprengstoff, sie offenbaren höchst fragwür- die FPÖ-Politiker in die Falle gelockt wur-
Österreichs (FPÖ), und Johann Gudenus, dige Ansichten von Politikern, die heute den und welches Motiv dahinterstand.
Mitglied des Bundesvorstands der FPÖ, Österreich mitregieren. Sie belegen, dass Die Bild- und Tondokumente wurden
ehemaliger Vizebürgermeister von Wien, diese Politiker sich dazu bereit zeigten, von zwei externen Gutachtern forensisch
der Mann der gebürtigen Serbin. mithilfe russischen Geldes das Wahlergeb- geprüft. Es fanden sich keine Hinweise,
Knapp drei Monate später wird in Öster- nis ihrer Partei, der FPÖ, nach oben zu dass die Aufnahmen nachträglich mani-
reich ein neuer Nationalrat gewählt werden. treiben. Versprechen, die an diesem puliert wurden. Dem SPIEGEL liegt ein
Strache wird fünf Monate nach dem Abend gemacht, und Praktiken, die offen- Foto der Rechnung für die Villa auf
Treffen in der Villa als Vizekanzler Öster- bart wurden, wären für politische Amts- Ibiza vor. Sie wurde demnach vom 22. bis
reichs vereidigt werden, Gudenus zum inhaber womöglich strafrechtlich relevant. zum 25. Juli 2017 gebucht, Kosten
Fraktionschef aufsteigen. Auf Ibiza, beim Wegen der politischen Bedeutung und 2936 Euro. Die Bilder auf der Website der
feuchtfröhlichen Feilschen um millionen- des öffentlichen Interesses haben sich Vermietungsagentur zeigen nachweislich
schwere Deals, wirken die beiden noch
wie Zechkumpane in Urlaubslaune. Doch
seit Dezember 2017 bestimmen sie mit »Journalisten sind ja sowieso die größten Huren
über den Kurs der Regierung in Wien: als
Koalitionspartner und Mehrheitsbeschaf-
auf dem Planeten.«
fer des konservativen Kanzlers Sebastian Strache zum angeblichen Übernahmeplan der »Krone«
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FPÖ-Chef Strache (r.), Vertrauter Gudenus mit Ehefrau bei Treffen auf Ibiza 2017 (Videostandbild): »Drei, vier Leute, die müssen abserviert werden«
dieselben Räume, die im Video zu sehen Der jungen Russin aus Lettland wird Die erfundene Behauptung der letti-
sind. nahegelegt, die Hälfte des Verlags der schen Russin, sie erwäge, die Hälfte der
Die Abschriften der Gespräche wurden »Krone« diskret zu erwerben. Wenn diese »Krone«-Anteile zu kaufen, und sei dafür
abgeglichen und in wesentlichen Auszügen Zeitung vor der Wahl »auf einmal uns bereits mit zwei der vier Erben des ver-
beglaubigt, ein vereidigter Dolmetscher pusht«, begeistert sich Strache und speku- storbenen »Krone«-Herausgebers Hans
hat zentrale Stellen der russischen Dialoge liert in Prozenten, »dann machen wir nicht Dichand in Kontakt, erstaunt den FPÖ-
übersetzt. Am Ende wurden die beteilig- 27, dann machen wir 34«. Jeder Artikel, Chef anfangs noch. »Das hätt ich nicht er-
ten Politiker mit den Inhalten konfrontiert. der »uns zugutekommt, treibt Rot und wartet«, sagt er. Nach und nach aber
Die Videos aus Ibiza wirken wie der Schwarz die Weißglut ins Gesicht«. Er schwinden offenbar die Zweifel, und es
Werkstattbericht aus einer Bananenrepu- meint die seit Kriegsende in Österreich siegt der Appetit auf einen Deal, der Stra-
blik: Ungeniert erzählen zwei führende meist gemeinsam regierenden Sozial- und che dem Ziel der Kanzlerschaft näher brin-
Politiker aus Österreich einer ihnen fast un- Christdemokraten. gen könnte, aber natürlich »immer rechts-
bekannten Frau, wie sie sich das Leben an Die »Krone« erreicht mehr als ein konform«, wie er betont.
den Schalthebeln der Macht vorstellen. Viertel aller Österreicher. Dem Politprofi Mit dieser Zeitung, so wirbt Strache,
Und wie sie dieser Frau für Hilfestellung Strache, Parteichef seit 2005, dürfte klar spiele sie »mit bei den zehn mächtigsten
auf dem Weg nach ganz oben entgegen- sein, dass es mit der Rückendeckung Leuten Österreichs«. Zwar gebe es in der
kommen würden. durch Österreichs Sturmgeschütz der De- »Krone«-Redaktion noch Querköpfe,
An jenem Abend geht es nach zwei magogie leichter werden würde, ins Kanz- »drei, vier Leute, die müssen abserviert
Stunden um das Boulevardblatt »Krone« leramt am Wiener Ballhausplatz einzu- werden«, aber »wir holen gleich noch mal
und dessen Einfluss auf die anstehende ziehen. fünf neue herein«. Ob das so einfach ist?
Wahl. Die Runde beschließt, das Gespräch Genau das ist Straches Ziel im Sommer »Journalisten sind ja sowieso die größten
von der Terrasse nach drinnen zu verlegen. 2017. Damals hat der junge ÖVP-Aufstei- Huren auf dem Planeten«, sagt Strache.
Heinz-Christian Strache will wissen: »Was ger Sebastian Kurz die in Umfragen lange Die junge Frau fragt, was für sie persön-
ist da scho’ vorangeschritten?« führende FPÖ bereits abgehängt. lich bei dem Investment herausspringen
bauen.«
Heinrich Pecina sagt auf Anfrage, er
habe mit der »Krone« nie etwas zu tun ge-
habt: »Auf jeden Fall hatte und habe ich
keine Möglichkeiten, die ›Kronen Zeitung‹
in welcher Weise auch immer zu kontrol-
lieren oder zu beeinflussen. Was ich des-
halb auch niemals behauptet habe.« Kanzler Kurz: Druck erheblich erhöht
Neben der »Krone« sei nur der öffent-
lich-rechtliche Sender ORF wirklich wich-
tig, führt Strache in dem Video weiter aus. sitz im ORF-Stiftungsrat führt heute Nor- Die FPÖ hat heute nicht nur im öffent-
Denkbar sei dessen teilweise Privatisie- bert Steger, ehemals Parteichef der FPÖ. lich-rechtlichen Rundfunk Macht, sondern
rung, etwa zugunsten des Unternehmers Steger wurde vor drei Wochen mit einem auch in vielen anderen Bereichen des Lan-
Dietrich Mateschitz, Chef von Red Bull Angriff auf den bekanntesten ORF-Jour- des. Sie führt zum Beispiel die Schlüssel-
und dem dazu gehörigen Medienunterneh- nalisten über Österreich hinaus bekannt: ministerien für Äußeres, für Inneres, für
men: »Wir könnten uns vorstellen, den Sarkastisch empfahl er Armin Wolf, dem Verteidigung und Soziales.
ORF völlig auf neue Beine zu stellen.« Sich Moderator der Hauptnachrichtensendung Alle drei österreichischen Geheimdiens-
selbst nennt Strache den »Red Bull des ORF, nach einem FPÖ-kritischen In- te unterstehen Ministerien, die von der
Brother from Austria«. terview: »Ich würde ein Sabbatical neh- FPÖ geführt werden, einer Partei, die
Immer wieder stellt die angebliche Rus- men, auf Gebührenzahler-Kosten durch durch ein 2016 besiegeltes Kooperations-
sin die Frage nach einer Gegenleistung. die Welt fahren und mich neu erfinden.« abkommen mit der Kremlpartei »Einiges
Wenn sie die »Krone« noch vor der Wahl Es ist nicht so, dass politisch motivierte Russland« verbandelt ist. Die Angst, Mos-
übernehme und »uns zum Platz eins Interventionen beim ORF etwas Neues wä- kau höre nun überall mit, hat bei west-
bringt«, sagt der FPÖ-Chef schließlich, ren. Sie sind seit Jahrzehnten die Regel. lichen Geheimdiensten dazu geführt, dass
»dann können wir über alles reden«. Doch seitdem die FPÖ in der Regierung sie ihr Wissen nur noch beschränkt mit
Es ist der größte Offenbarungseid, den ist, wird die redaktionelle Unabhängigkeit Wien teilen.
Strache an diesem Abend leistet: Man kön- des Senders massiv infrage gestellt. »Wie Die Affinität der Partei zu Russland
ne über alles reden. Über alles. ein Löwe«, versprach Vizekanzler Strache spielt auch beim Treffen auf Ibiza eine
Was auf Ibiza noch Wunschdenken ist, auf Facebook, werde er sich dafür einset- entscheidende Rolle. Johann Gudenus,
wird unter der Koalition von ÖVP und zen, dass die »ORF-Zwangsgebühren« ab- der für die angebliche Russin dolmetscht,
FPÖ nach und nach Wirklichkeit. Den Vor- geschafft werden. belegte Kurse an einer Universität in
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Ausland
Moskau. Der Sohn eines früheren FPÖ- Summen gebe es einen Verein, der gemein- land auch die NPD verwendet. Sie punk-
Parlamentariers und verurteilten Holo- nützig sei und nichts mit der Partei zu tun tete bei den letzten Wahlen überdurch-
caust-Leugners ist seit seiner Jugend im habe. »Dadurch hast du keine Meldungen schnittlich unter Arbeitern und einfachen
freiheitlichen Lager verankert. Mittlerwei- an den Rechnungshof«, doziert Strache Angestellten. Wer den volksnahen Vize-
le gilt Gudenus als einer der wichtigsten und holt dabei weit mit den Armen aus, kanzler Strache zuletzt erlebte, etwa am
Kontaktleute der FPÖ nach Russland. in den Fingern fast immer eine Zigarette. 1. Mai im Linzer Bierzelt, und wer weiß,
Vom tschetschenischen Gewaltherrscher Gudenus ergänzt auf Russisch, über diesen wie Strache schwierige Sachverhalte auf
Ramsan Kadyrow ließ sich Gudenus Verein wisse niemand etwas. Er werde von simple Nenner zu bringen versteht, der
nach Grosny einladen und von den rus- drei Rechtsanwälten geführt, sagt Strache. staunt über das, was auf Ibiza über den
sischen Besatzern auf die annektierte Spenden an politische Parteien unter- tatsächlichen Umgang des FPÖ-Chefs zur
Halbinsel Krim. In der Moskauer Christ- liegen in Österreich ähnlichen Regeln wie Sprache kommt.
Erlöser-Kathedrale wetterte er 2014 gegen in Deutschland: Überschreiten sie den Be- Von Abenden mit Kaviar und Austern
die EU als Hort einer »Homosexuellen- trag von 50 000 Euro, müssen sie ans für 1600 Euro pro Tisch schwärmt Strache
lobby«. höchste Finanzkontrollorgan des Bundes da, »so teuer war’s ned«. Auch von einem
Parteichef Strache sieht in »Joschi« sei- gemeldet werden. Spenden von Auslän- Freund, der eine Diamantenmine in Afrika
nen Mann fürs Grobe. Beide Männer sind dern dürfen nur bis zu einer Höhe von gekauft habe, und von einem Geschäfts-
seit Jahren vertraut: In der Studentenver- 2641 Euro angenommen werden. mann, der in seinem schwer bewachten
bindung Vandalia in Wien war der junge Strache behauptet, es gebe zehn poten- Büro in Tel Aviv angeblich Diamanten im
Gudenus Straches »Leibfuchs«. Nun ist zielle FPÖ-Großspender, die er alle per- Wert von 400 Millionen Euro hortet.
Gudenus der Mann für Russland, er hat sönlich aufsuchen wolle: Gaston Glock In der Öffentlichkeit gibt Strache gern
das Treffen in der Villa mit Strache einge- zum Beispiel, sagt er, während Gudenus den Kämpfer gegen das Establishment. In
fädelt. stehend die Hände zu einer Pistole formt, der Villa klingt es nun so, als stünde der
Dem jungen FPÖ-Funktionär war ge- um Aljona zu verdeutlichen, womit der FPÖ-Vorsitzende mit Österreichs Milliar-
raume Zeit zuvor die vermeintlich reiche Kärntner Waffenhersteller sein Geld ver- dären seit Langem auf Du und Du. Mit dem
Russin angepriesen worden. Sie wolle dient. Heidi Horten, die milliardenschwere vermögenden, von jeher der Linken nahe-
Grundbesitz in Österreich kaufen, Gude- Kaufhauserbin. Außerdem gebe es Unter- stehenden Wiener Händler Martin Schlaff
nus’ Familie gehören Ländereien in Nie- stützer, erzählt Strache weiter, die an den habe er »eine gute Gesprächsbasis«, den
derösterreich. Man traf sich in Wien. Im
Video hört man Gudenus sagen, dass die
Frau den fünffachen Preis für ein Grund- »Da stehen Leute dahinter, die nicht wollen,
stück bieten würde. In den Gesprächen
entstand offenbar der Plan für einen grö- dass Österreich islamisiert wird.«
ßeren Coup.
Österreich solle künftig »die Visegrád- Strache zu potenziellen Großspendern
Gruppe« ansteuern, sagt Strache in einem
der Videos, die informelle Länderkoope- heutigen Kanzler Sebastian Kurz »und Immobilienmogul und Karstadt-Eigentü-
ration der osteuropäischen EU-Staaten uns« zahlten oder vielleicht zu zahlen be- mer René Benko habe er angeblich auf Ibi-
Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn. absichtigten, wie angeblich der Milliardär za getroffen, der sei dort auf der 62-Meter-
Das Land müsse sich »sehr stark Richtung und Immobilienkrösus René Benko. Und Jacht »Roma« gewesen. Auch dem Salzbur-
Osten öffnen«, nach Russland. »Wir haben »ein paar Big Player« wie den Glücksspiel- ger Red-Bull-Produzenten und Betreiber
die Dekadenz im Westen«, sagt Strache, konzern Novomatic, einer von Österreichs von Servus TV, Mateschitz, ist Strache ver-
»im Osten sind sie normal.« größten Steuerzahlern: »Die zahlen an alle bunden. Der sei »lieb«, sagt Strache, aber
Er sei ja oft in Moskau gewesen, erzählt drei«, so behauptet Strache, also an die verstehe das Mediengeschäft nicht. Von
der FPÖ-Chef, bereits vor mehr als zehn konservative ÖVP, an die sozialdemokra- ukrainischen und russischen Freunden mit
Jahren habe er sich mit einem Putin-Bera- tische SPÖ und an die FPÖ. viel Geld spricht Strache, von Kontakten
ter getroffen und Pläne geschmiedet, »wie Alle genannten Firmen und Personen zu einem Milliardärsclan in China. »Die
wir strategisch zusammenarbeiten«. Auch teilen auf Anfrage mit, dass sie niemals di- Hunde«, sagt der heutige Vizekanzler in
Serbien sei ein fantastisches Land, einige rekt oder indirekt an die FPÖ gespendet dem Video, »haben dicke Kohle.«
seiner Freunde hätten dort kräftig inves- haben. Nach den angeblichen Spendern Straches eigener Weg nach oben war
tiert. Er selbst sei in Umfragen in dem gefragt, bestätigen auch Strache und Gu- steinig. Von der Mutter, einer Drogistin,
Land fast so beliebt wie Putin. denus schriftlich, dass von den »genannten allein erzogen, geriet der junge Wiener
Neben vielen Eitelkeiten des Parteichefs Personen und Unternehmen keine Spen- über eine schlagende Schülerverbindung
ist Geld das bestimmende Thema dieses den an die FPÖ« eingegangen seien. schnell in Kontakt mit Rechtsextremen.
Treffens. Es geht auch darum, wie die FPÖ Auf Ibiza allerdings sagt Strache, Aljo- Fotos zeigen ihn später bei Wehrsport-
finanziell unterstützt wird. Strache offen- na sei herzlich eingeladen und könne »uns übungen mit Neonazis. Vom äußersten
bart der angeblichen Russin einen Weg, jederzeit über den Verein spenden«, vo- rechten Rand des politischen Spektrums
wie sie ihr Geld womöglich an gesetzlichen rausgesetzt, sie sei »positiv gestimmt«. wandte sich der gelernte Zahntechniker
Hürden vorbei an die FPÖ bringen könnte. Die Sponsoren der Partei seien in der Re- erst Anfang der Neunziger ab. Als Strache
Sollte das, was Strache schildert, tatsäch- gel Idealisten, sagt Strache und wendet 2005 Vorsitzender der von Jörg Haider
lich existieren, wäre es offensichtlich ein sich an seinen Freund Gudenus. »Joschi« heruntergewirtschafteten FPÖ wurde, la-
Modell der illegalen Parteienfinanzierung. möge der Frau erklären, »dass da Leute gen die Freiheitlichen in Umfragen bei
»Es gibt ein paar sehr Vermögende, die dahinterstehen, die nicht wollen, dass etwa vier Prozent. Innerhalb der nächsten
zahlen zwischen 500 000 und anderthalb Österreich islamisiert wird; sie wollen zwölf Jahre aber gelang es dem FPÖ-Chef,
bis zwei Millionen«, behauptet Strache. nicht, dass ihre Kinder und Enkelkinder die Zustimmungsrate für seine Partei zu
Geflossen sei das Geld noch nicht, verrecken«. versechsfachen.
schränkt er an anderer Stelle ein, er habe Die FPÖ versteht sich als »soziale Hei- Strache versucht gar nicht erst zu ver-
aber bereits Zusagen erhalten. Für solche matpartei«, ein Slogan, den in Deutsch- bergen, wie stolz er darauf ist. Seine wie-
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Ausland
ligen Oppositionsführer Strache wenige Die Koalition der ÖVP mit der FPÖ stand
Tage vor seinem Abflug nach Ibiza so sehr,
dass er seiner Wut öffentlich auf Facebook
zuletzt ohnehin unter Spannung. Die Ver-
bindungen der Freiheitlichen zu rechts-
Ein SPIEGEL-
Luft macht.
So scheint ihm die Frage der angebli-
extremen Gruppen wie der »Identitären
Bewegung«, rassistische Äußerungen und
Gespräch live –
chen lettischen Russin und ihres männ- Publikationen im Umfeld der Partei, ihr
lichen Begleiters nach Aufträgen beim
Autobahnbau gerade recht zu kommen.
Umgang mit kritischen Berichterstattern
des ORF, all das wurde in Österreich zu- über Fantasie
Wenn sie der FPÖ entscheidend helfe vor
der Wahl, »dann brauchen wir gar nicht
letzt heftig diskutiert.
Im Umfeld von Kurz hieß es dennoch, und Fake News
reden, tschuldige, tschuldige, dann sag ich zu einem Bruch der Koalition in Wien wer-
ihr: Dann soll sie eine Firma wie die de es nicht kommen. Zwar wünsche man
Strabag gründen. Alle staatlichen Aufträ- sich lieber eine andere Koalition, zugleich
© Ingo Pertramer
© Reto Klar
ge, die jetzt die Strabag kriegt, kriegt sie sei die FPÖ derart inhaltsleer, dass die
dann.« ÖVP mehr oder weniger durchregieren
Für einen Vizekanzler wäre es vermut- könne. Ob Kurz bei dieser Haltung blei-
lich strafbar, eine solche Auftragsvergabe ben kann, wenn sich sein Vizekanzler zu-
in Aussicht zu stellen. Damals, 2017, war mindest in der Vergangenheit für Geschäf-
Strache aber noch in keinem Amt, das ihm te mit illegalem Geld offen gezeigt hat, ist
erlaubt hätte, Bauaufträge zu vergeben. fraglich.
Strafbar dürften seine Aussagen deshalb Mehr als sechs Stunden dauert das Tref-
wohl nicht sein, ethisch bedenklich sind fen in der Villa, gegen Ende entwickelt sich
sie allemal: Als eine Art Gegenleistung eine Atmosphäre, die Strache misstrauisch
für Unterstützung im Wahlkampf öffentli- werden lässt. Aljona habe schmutzige Ze-
che Aufträge zu offerieren hat zumindest hennägel, fällt dem FPÖ-Chef plötzlich
den Beigeschmack von Korruption. auf, »das passt nicht zum Gesamtbild«,
Nach dem Treffen in der Villa gefragt, murmelt er irritiert. Bereits zuvor hatte Joachim Meyerhoff Volker Weidermann
erinnert sich Heinz-Christian Strache da- er geklagt, seine aufstrebende rechtspopu-
ran, dass eine »vermeintlich lettische listische Partei müsse ständig auf der
Staatsbürgerin« mit ihrem Vertrauten zu Hut sein: »Wir wissen, dass wir 24 Stun-
einem Abendessen eingeladen habe. Es den beobachtet werden, dass man uns bei Der Schriftsteller und Schauspieler
sei ein »rein privates« Treffen in »lockerer, jeder Kleinigkeit vernichten will.« Doch Joachim Meyerhoff und SPIEGEL-
ungezwungener und feuchtfröhlicher At- sein Vertrauter Gudenus wiegelt ab. Stra- Autor Volker Weidermann sprechen
mosphäre gewesen«, teilt Strache per che trinkt und plaudert schließlich munter und lesen über die weltverändernde
WhatsApp mit. »Auf die relevanten gesetz- weiter. Macht von Literatur.
lichen Bestimmungen und die Notwendig- Weit nach Mitternacht drängen die Be- Motto des Abends:
keit der Einhaltung der österreichischen sucher zum Aufbruch. Sie wollen noch in
»Die Realität schwindelig schreiben,
Rechtsordnung wurde von mir in diesem einen Klub, ins »Hï Ibiza« im wenige Kilo-
bis sie ohnmächtig wird und sich
Gespräch bei allen Themen mehrmals hin- meter entfernten Playa d’en Bossa.
erzählen lässt.«
gewiesen.« Das gelte auch für »allenfalls Beim Hinausgehen redet Strache dem
in Aussicht gestellte Parteispenden bzw. Vertrauten der Russin und Gudenus noch
Spenden an gemeinnützige Vereine im Sin- einmal zu. Sie solle das »Gescheite und
ne der jeweiligen Vereinsstatuten«. Er Richtige« machen und die »Krone« kau-
oder die FPÖ hätten »niemals irgendwel- fen. Der Komplize von Aljona aber warnt:
che Vorteile« von diesen Personen erhal- »Sie fliegt morgen weg, wenn ihr es ma- Montag, 27. Mai, 19.00 Uhr,
ten oder gewährt. »Im Übrigen«, rechtfer- chen wollt, müsst ihr es machen, bevor sie
tigt sich Österreichs Vizekanzler, »gab es weg ist.« Spiegelsaal
neben dem Umstand, dass viel Alkohol im Bevor sie ins Auto steigen, schickt Stra-
Clärchens Ballhaus – Spiegelsaal,
Laufe des Abends gereicht wurde, auch eine che seinen Günstling Gudenus nochmals
hohe Sprachbarriere, wo ohne einen pro- zurück. »Joschi, mach das jetzt klar!« Auguststraße 24, 10117 Berlin
fessionellen Übersetzer von Russisch, Eng- Gudenus und Aljona verziehen sich in
lisch auf Deutsch übersetzt wurde.« die Küche. Auch dort filmt eine Kamera
Karten im Vorverkauf, an der Abendkasse und unter
Ähnlich äußert sich Johann Gudenus, mit.
www.spiegel-live.de
der sagt, er habe die lettische Staatsbürge- Der FPÖ-Mann flüsterte der Frau in Eintritt: 15 Euro, ermäßigt 12 Euro,
rin schon länger gekannt. Sie habe sich für leicht holprigem Russisch zu: »Wir sind zu Abonnenten 12 Euro zzgl. Gebühren.
einen Jagdgrund von ihm interessiert. Die 100 Prozent bereit zu helfen, egal was Einlass ab 18 Uhr. Änderungen vorbehalten.
Frau habe erzählt, dass sie mit ihrer Toch- kommt.« Verpassen Sie keine Veranstaltung mehr,
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wirtschaftlich Fuß fassen und investieren Martin Knobbe, Walter Mayr, Alexandra unter spiegel-live.de an.
wolle. Beide Politiker geben an, nach dem Rojkov, Wolf Wiedmann-Schmidt
Treffen keinen Kontakt mehr zu der Frau
gehabt zu haben.
Die fragwürdigen Äußerungen des Video
Die Falle
österreichischen Vizekanzlers und seines
engen Vertrauten dürften trotz der Erklä- spiegel.de/sp212019oesterreich
rungen den Druck auf Österreichs Bundes- oder in der App DER SPIEGEL
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von acht Wochen, beginnend mit dem Belastungsdatum, die Erstattung des belasteten Betrags verlangen. Es gelten dabei die mit meinem Kreditinstitut vereinbarten Bedingungen.
Europawahl 2019
für die Internationale Metaphysische Uni-
Geisterstunde
versität, sie trugen Titel wie »Was ist para-
normal?«, »Was ist nicht paranormal?«
oder »Fische, die aus dem Nichts fallen«.
Glaubt er das alles selbst, was er da
Großbritannien Den regierenden Konservativen droht bei der schreibt? So gefragt, fuchtelt Matthews mit
einem Schinkensandwich und antwortet:
EU-Wahl ein womöglich folgenschweres Debakel – in ihrer »Nun, ich habe mit Hunderten Menschen
Not setzen sie auch auf die Hilfe eines Experten für Übersinnliches. gesprochen, die überzeugt davon sind,
Geister gesehen zu haben – schwer zu sa-
gen, wie man das einschätzen soll.« Per-
87
Ausland
R
ahul Gandhi war 14 Jahre alt, als der USA und Südafrikas allesamt zeit- ten Belege dafür, dass die Demokratie in
zwei Leibwächter seine Großmut- gleich dazu aufgerufen, über die Zukunft Indien funktioniere, sei der Fakt, dass Ra-
ter erschossen. Er war kaum 21, ihres Landes zu entscheiden. hul Gandhi noch immer nicht Premier ist.
als eine Bombe seinen Vater zer- Am 23. Mai wird sich herausstellen, Seit vier Generationen lenkt die Nehru-
riss. Heute ist er 48 und tut genau das, was ob Premier Narendra Modi eine zweite Gandhi-Familie nun schon mit Unter-
sein Vater tat, als er starb: Er macht Wahl- Chance erhält: ein 68 Jahre alter, stolzer brechungen die Geschicke der größten
kampf. Hindu-Nationalist, der vor Machtwillen Demokratie der Erde. Ihre Mitglieder
Der Hubschrauber setzt auf dem Sand- strotzt. Der sich vor den Indern als »Wäch- haben Indien in die Unabhängigkeit ge-
platz auf. Eine Staubwolke wirbelt auf, ter« stilisiert, als letzte Instanz zwischen führt, aber auch zeitweise in die Auto-
zwei Rauchbomben explodieren, und he- gierigen Politikern, islamistischen Ter- kratie. Sie haben dem Land den Sozia-
raus steigt – wie immer in weißer Kurta roristen und dem Staat. Oder ob Rahul lismus gebracht und schließlich auch ein
und weißer Hose – der Kandidat Rahul Gandhi die alte Kongresspartei mit ihrer wenig Kapitalismus.
Gandhi. Die Zuhörer klettern auf Plastik- großen Tradition, die bis ins 19. Jahrhun- Rahul Gandhi ist der Sechste aus der
stühle. Sie schwenken Fahnen und rufen dert und zum Befreiungskampf zurück- Nehru-Gandhi-Dynastie an der Spitze der
seinen Namen. Rahul Gandhi er- Kongresspartei, wenn man seinen
klimmt die Bühne und winkt. Am Ururgroßvater mitrechnet – den
Rand flattern die Poster seiner Ver- Staatsgründer Jawaharlal Nehru.
wandten im Wind: Sonia, die Mut- Trotz der Namensgleichheit ist die
ter. Priyanka, die Schwester. Und Familie mit dem Nationalhelden
er selbst: Rahul, der Sohn. Mahatma Gandhi nicht verwandt.
Jahrelang hatten sich die Gan- Es galt als geradezu vorbe-
dhis davor geziert, in die Politik stimmt, dass Rahuls Leben ihn und
zurückzukehren. Drei indische seine Schwester in die Politik füh-
Premiers hat die Familie in der Ver- ren würde und einen der beiden
gangenheit hervorgebracht, zwei eines Tages an die Spitze der
Gandhis starben bei Attentaten. Regierung.
Ihre Geschichte ist die einer Fa- Es ist der letzte Sonntag im März,
JITENDRA ARYA / CAMERA PRESS / PICTURE PRESS
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Wahlkämpfer Gandhi (M.), Schwester Priyanka in Lucknow: »Wer so aufwächst, der läuft nicht davon«
ganz in der Nähe. Vor ihm drängen sich für ihren Bruder nie tun würden. Sie strei- Familien der Oberschicht zu Hause ge-
die Massen, der Premier brüllt: »Wer hat cheln ihre Wangen, drücken ihre Hände. sprochen haben.
Pakistan das Fürchten gelehrt?« Und die April, ein Donnerstag in Uttar Pradesh, Es gibt viele Gründe für den Erfolg von
Menge schreit: »Modi, Modi, Modi!« im Norden des Landes. Die ersten beiden Dynastien in Indien. Seien es die Yadavs
Rahul Gandhi sei intelligent, warmher- Wahltage sind gelaufen. Fünf Männer sit- in Uttar Pradesh, die Abdullahs in Jam-
zig und belesen, sagen seine Freunde. Ein zen in einem Teehaus. Der Chai blubbert mu und Kaschmir oder die Patnaiks in
eher stiller Charakter, der sich nicht in den auf dem Gaskocher. Rahul sei neulich vor- Odisha – die Macht befindet sich hier seit
Vordergrund dränge. Der Kampfsport beigefahren, sagt einer. Das Fenster sei je in den Händen von Söhnen, Töchtern,
mag, einen Pilotenschein besitzt und viel hochgekurbelt gewesen. »Ich glaube, der Cousins und Witwen. Und zunehmend
joggt. Es sei ihm ernst, wenn er sagt, er war eingenickt.« Eine Woche später sei auch in denen von Kricket- und Bollywood-
wolle den Schwachen helfen. Aber Rahul Priyanka auf der Durchreise gewesen, sie stars. Das hat viel mit Vetternwirtschaft
Gandhi ist vor allem dafür bekannt, was sei ausgestiegen und habe jedem die Hand zu tun, aber auch mit Wiedererkennbar-
er nicht ist. Er ist kein Visionär. Er reißt geschüttelt. keit. In einem Land mit Hunderten Mil-
SUBHANKAR CHAKRABORTY / HINDUSTAN TIMES / SIPA USA / DDP
die Massen nicht mit. Ihm fehlt der unbän- Es gibt keinerlei Grund anzunehmen, lionen Wählern und 23 Landessprachen
dige Wille, es nach oben zu schaffen, wahr- dass Priyanka Gandhi mehr von Sozial- ist es nicht leicht und billig, einen Kandi-
scheinlich weil er schon immer oben war. hilfeprogrammen oder Wirtschaftsrefor- daten bekannt zu machen.
Er ist nicht Modi. Und was viele besonders men versteht als ihr Bruder. Sie kandidiert Modi gilt als der starke Mann. Priyanka
schmerzt: Er ist nicht seine Schwester. nicht einmal. Sie betreut nur den Wahl- Gandhi ist eine Frau und damit immer
Es ist kein Geheimnis, dass viele Inder kampf im Osten des wichtigen Bundes- auch potenziell eine zweite Indira. Ganz
lieber sie gehabt hätten: die 47-jährige Pri- staats Uttar Pradesh. Seit ihrer Heirat hat besonders dann, wenn sie die Haare so
yanka Gandhi. Stattdessen ging ihrer Mei- sie auch einen neuen Namen. Aber das trägt wie die legendäre Großmutter und
nung nach der falsche Gandhi in die Politik, interessiert kaum jemanden. Sie hat, was die gleichen Saris. Und Rahul Gandhi?
dieser »Pappu«, wie ihn seine Gegner bö- sich nicht lernen lässt: Charisma, Leich- »Rahul hätte einen guten Professor in
serweise getauft haben, die Koseform für tigkeit, Schlagfertigkeit. Sie spricht Hindi den USA abgegeben«, sagt einer, der mit
einen kleinen Jungen. Priyanka Gandhi hin- besser als ihr Bruder, dem das Reden ihm gearbeitet hat. Er durchdringt die Pro-
gegen lässt sie schwärmen. Wo sie auftaucht, auf Englisch leichter fällt – weil das die bleme intellektuell, hat aber nicht das Cha-
strömen die Menschen herbei, wie sie es Sprache ist, die die Gandhis wie viele risma, Menschen von der Lösung zu über-
In Deckung
Analyse Der USA-Iran-Konflikt zeigt, wie sehr die EU in außenpolitische Schockstarre verfallen
ist. Die Europäer geben sich Kriegsängsten hin, haben aber keine Antwort auf Donald Trump.
E
s war vor etwas mehr als einem Jahr, als sich Europa Leben zu erhalten, hat die EU vor vier Monaten die Grün-
in eine der größten außenpolitischen Schlachten der dung von Instex angekündigt, einem Mechanismus, mit dem
vergangenen Jahre warf. Diplomaten aus Großbri- die US-Sanktionen gegen Banken umgangen werden sollen.
tannien, Frankreich und Deutschland belagerten die Geschehen ist seither wenig. Nichts ist für die Glaubwürdig-
US-Regierung von Donald Trump in der Absicht, jenes Atom- keit der EU-Außenpolitik aber fataler als hohle Zusicherun-
abkommen mit Iran zu bewahren, das Trump kippen wollte. gen. Selbst wenn am Ende nur wenige Unternehmen den
In einem letzten verzweifelten Appell reisten Frankreichs Mechanismus nutzen würden, muss er umgesetzt werden.
Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzlerin Angela Drittens: Die Gefahr ist gering, aber sie existiert, dass die
Merkel nach Washington, aber auch das half nicht. Am Hardliner im Weißen Haus den US-Präsidenten in einen Kon-
8. Mai 2018 kündigte Trump den Ausstieg an. flikt hineintreiben, den er nicht steuern kann. Europa muss
Ein Jahr später ist die Lage so: Der Konflikt zwischen den zumindest an einer Option arbeiten, um Trump eine diplo-
USA und Iran heizt sich auf, täglich gibt es Berichte über matische Tür zu öffnen. Iran lehnt eine Neuverhandlung und
angebliche Provokationen. Aber Europa wirkt ratlos. Der Erweiterung des Atomabkommens bislang ab; Europa muss
Kampfgeist von vorigem Jahr ist auch in der Bundesrepublik daher als Mittler dem Regime in Teheran deutlich machen,
verflogen, die Energie verpufft. Stattdessen macht sich in dass die Alternative – eine militärische Eskalation mit den
Deutschland Panik breit, die USA und womöglich dessen
schon einen neuen Krieg im Verbündeten in der Region –
Nahen Osten heraufziehen mehr Risiken birgt. Europa
sieht, ohne dass jemand eine sollte dazu beitragen, Iran
Antwort auf die Gefahr hät- als Hegemonialmacht einzu-
te. Sind die Europäer, die dämmen.
Deutschen wirklich so ohn- Die Situation wird für Ber-
mächtig, wie sie wirken? lin und Brüssel nicht einfa-
Zugegeben, die Europä- cher dadurch, dass in Tehe-
ische Union steckt in einer ran ein theokratisch-militäri-
AHMAD HALABISAZ / XINHUA / DPA
schwierigen Lage. Aus Wa- sches Regime an der Macht
shington schickt ein unbere- ist, das Israels Existenzrecht
chenbarer, unsicherer Präsi- bedroht, Milizen von Syrien
dent einen Flugzeugträger bis in den Jemen ausstattet
zum Persischen Golf und und die Region seit Jahren –
droht mit Sanktionen, soll- ähnlich wie Saudi-Arabien –
ten europäische Firmen mit destabilisiert. Es zeigt sich
Iran weiterhin Geschäfte ma- Iranische Patrouille in der Straße von Hormus hier das große Dilemma deut-
chen. Trumps Sicherheits- scher Außenpolitik im Nahen
berater John Bolton, der die Osten. Einerseits hat Merkels
USA 2003 mit in den Irakkrieg geführt hat, träumt wieder Regierung viel Personal, Zeit und politisches Kapital in das
von »regime change«; schon kursieren Pläne, die Zahl der Atomabkommen investiert. Andererseits schreckt die Bun-
Soldaten in der Region auf 120 000 zu erhöhen. Teheran wie- desrepublik jetzt, da es ernst wird, auch aus Rücksicht auf Is-
derum warnt, Teile des Atomprogramms hochzufahren, soll- rael vor einer Politik zurück, die allzu iranfreundlich ist.
ten die Europäer den Deal nicht bewahren. Die Lage ist besonders heikel für Außenminister Heiko
Es ist an der Zeit, aus der Defensive zu kommen – in Brüs- Maas, der bei seinem Amtsantritt sagte, »wegen Auschwitz«
sel, aber auch in Berlin, Paris und London. Zwar sind die sei er in die Politik gegangen. Maas wirkt derzeit überfordert,
Handlungsoptionen beschränkt, aber es gibt sie. und es ist nicht der einzige Krisenherd der deutschen Außen-
Erstens: Trotz der Drohungen hat keine der beiden Seiten politik. Omid Nouripour, der Außenexperte der Grünen,
ein Interesse an einer Eskalation, weder die USA noch Iran. empfahl Maas, nach Teheran zu reisen. Er hatte recht. Wenn
Trump könnte seinen Wählern einen neuen Krieg im Nahen die Deutschen wegen einer Eskalation um Iran besorgt sind,
Osten nicht verkaufen – es gehörte zu seinen wichtigsten sollten sie sich umso intensiver bemühen, diplomatische Ka-
Versprechen, mit Amerikas Kriegen Schluss zu machen. Das näle zu öffnen. Die gibt es momentan nicht ausreichend.
Regime um Revolutionsführer Ali Khamenei weiß wiederum, Viele Europäer klammern sich an die Hoffnung, dass
dass es bei einem Militärkonflikt viel mehr zu verlieren als Trump nächstes Jahr abgewählt wird und sein Nachfolger
zu gewinnen hätte. Einen Krieg wird es dann geben, wenn dann vieles besser macht. Doch das genügt in der gegen-
die Lage aus Versehen außer Kontrolle gerät. wärtigen Lage nicht. Die Diplomatie in Deutschland und
Zweitens: Es hilft, einen kühlen Kopf zu bewahren und Europa ist, so scheint es, angesichts des Dauerfeuers aus Wa-
Diplomatie zu betreiben, das heißt, engen Kontakt zu beiden shington in einen Zustand der Schockstarre verfallen. Davon
Seiten zu halten. Europa hat ein Interesse an einem atom- profitieren diejenigen in Washington, Teheran und Riad, die
waffenfreien Iran, es muss aber mehr tun, als Worte der Er- einfache Lösungen anbieten – die Hardliner, die mit dem
mutigung nach Teheran zu schicken. Um den Iran-Deal am Feuer spielen. Christoph Scheuermann
91
Ausland
Hangover
bar so zugeneigten Paar – dem jungen, man auch die Minimalversion eines Bud-
überzeugten Europäer Macron und der gets zur Stabilisierung der Eurozone ver-
mächtigsten Politikerin Europas – an einem worfen habe. Der Widerstand der Nieder-
im Élysée
Tiefpunkt angekommen. länder und die deutschen Zögerlichkeiten
Schon Monate war die schleichende Ent- gegenüber Macrons Vorschlägen hätten
fremdung spürbar. Macron hatte seit Be- dazu geführt, dass der Präsident, der ver-
ginn seiner Präsidentschaft wie keiner sei- sprach, Europa neu zu gestalten, nun kurz
Frankreich Das Verhältnis ner Vorgänger auf die bilaterale Beziehung vor den Europawahlen dastehe wie je-
zwischen Berlin und Paris ist an zu Deutschland gesetzt, um schnelle Erfol- mand, der nicht mehr in der Lage ist, seine
einem Tiefpunkt angekommen. ge für sein europäisches Reformprojekt Pläne durchzusetzen.
vorweisen zu können. Zwei Jahre später Das schwächt Macron in einer ohnehin
Präsident Macron setzt nicht mehr ist die Bilanz mager, sieht man von der im- schwierigen Lage. In Umfragen liegt seine
nur auf die Deutschen. mer wieder zitierten Entwicklung gemein- Partei La République en marche mit dem
samer Kampfflugzeuge und Panzer ab. rechtspopulistischen Rassemblement Na-
Der große Wurf blieb aus. Macrons Sor- tional Marine Le Pens gleichauf. Demnach
Ausfalltage
pro Spieler 27,6 Tage 15,6 Tage 22,9 Tage 29,8 Tage
Quelle:
VBG-Sport-
pro Team 726,4 Tage 198,8 592,9 report 2018 586,8
Die härteste Mannschaftssportart ist: Fußball! In den beiden Gesundheit. Dagegen spiegelt sich das Vorurteil über Basketball
höchsten Profiligen gab es in der vergangenen Saison knapp als »körperlose Sportart« in den Zahlen der Versicherung wider.
2600 Verletzungen. Die Spieler fielen deshalb mehr als 26 000 Fouls werden rigoroser geahndet, Spieler geraten weniger häufig
Tage aus. Diese Zahlen der Berufsgenossenschaft überraschen, aneinander. Auch deshalb muss ein Basketballer im Schnitt zwölf
galten doch bisher Eishockey und Handball als riskanter für die Tage weniger wegen einer Verletzung aussetzen als ein Kicker.
es diesmal gereicht? Der fünfte Satz musste entscheiden. »Per Spoor« von meinem niederländi-
Van Daelen: Wir haben die Erfahrungen schen Landsmann Guus Meeuwis.
aus den letzten Jahren mitgenommen wie in Der Song handelt von einer Zug-
einem Rucksack und sind daran als Team fahrt, also gab es Polonaise durch
gewachsen – wir sind also aus den Nieder- die Halle, ich vorneweg mit
lagen gestärkt hervorgegangen. Zudem hat- Trommel, alle haben mitgemacht.
ten wir in dieser Saison mentales Coaching, Später haben wir den VIP-Be-
führten Gruppen- und Einzelgespräche. Wir reich abgerissen, danach ging es
haben uns in den Play-offs nur von Spiel zu mit Freunden, Fans und Familien
TOM BLOCH / BEAUTIFUL SPORTS
Spiel fokussiert, auch wenn die Erwartungs- in die Stadt. Wir konnten drei
haltung von außen war, dass wir als Tabel- Monate nicht feiern, nun kam die-
lenerster durch die K.-o.-Runden spazieren. se ganze Anspannung raus.
SPIEGEL: Sie schafften es in die Finalserie SPIEGEL: Wer ist die Partyqueen
gegen Schwerin, das Team, dem Sie in im Team?
den vergangenen zwei Jahren unterlegen Van Daelen: Ich bin die Kapi-
waren. Nach vier Partien stand es 2:2, es tänin, ich gehe auch beim Feiern
kam zum Entscheidungsspiel in Stuttgart. MTV-Frauen (blaues Trikot) im Entscheidungsspiel voran! TNE
93
Sport
N
ur einen Tag lang währte das Die Fußballwelt sah tatenlos zu. Einer- Klub spontan die Vertragssummen mit
Glücksgefühl der Fans von Man- seits fasziniert. Aber auch zunehmend skep- Abu-Dhabi-Firmen und datierte sie auf
chester City. Am Sonntag hatte tisch, weil ein solch rasanter Aufstieg nur den Saisonbeginn zurück.
ihr Kapitän Vincent Kompany möglich schien, indem Regeln der Branche Manchester City verschaffte sich da-
nach 14 gewonnenen Spielen hintereinan- ausgehebelt wurden. Die Berichte des durch einen einmaligen Wettbewerbsvor-
der den Meisterpokal in die Höhe gewuch- SPIEGEL und seiner europäischen Partner- teil. Was soll’s, kommentierten die »Man-
tet. Jeden einzelnen Sieg hatte sein Team redaktionen vom Recherchenetzwerk Eu- chester Evening News« nach den SPIEGEL-
gebraucht, um in der Abschlusstabelle ropean Investigative Collaborations Enthüllungen, es seien doch nur Regeln
der Premier League einen Punkt vor leisteten den Zweifeln Vorschub. eines Sportverbands gebrochen worden:
Jürgen Klopps FC Liverpool zu Interne Dokumente der Ent- »Niemand stirbt, niemand leidet.«
stehen. hüllungsplattform Football Leaks Offenbar hat der attraktive Pep-Fußball
Den englischen Supercup hat legen nahe, dass Manchester City vielen Zuschauern die Sicht vernebelt.
City, wie der Verein kurz ge- systematisch gegen die Uefa- Denn die Einhaltung von Regeln ist We-
nannt wird, diese Saison bereits Finanzregeln verstoßen hat. Die sensmerkmal des Sports. Auch oder erst
gewonnen. Ebenso den Ligapokal. Uefa will mit dem sogenannten Fi- recht im Profifußball. Denn was ist mit Jür-
Am Samstag könnte auch noch der nancial Fair Play die Chancengleichheit gen Klopp, dessen FC Liverpool nach der
FA-Pokal dazukommen. Doch ausgerech- sichern, sie möchte verhindern, dass besten Saison der Vereinsgeschichte nur
net in diese Siegesfeiern hinein verbreitet Klubs wesentlich mehr Geld ausgeben, auf dem zweiten Platz steht? Was ist mit
sich die Schreckensbotschaft. als sie einnehmen. Doch Manchester City Vereinen, die den Mittelfeldstar Kevin De
Seit Montag berichten Medien aus gut hielt sich offenkundig nicht daran. Der Bruyne verpflichten wollten, den deut-
informierten Kreisen, dass die Ermittlungs- Klub musste keine Spieler verkaufen, um schen Nationalspieler Leroy Sané, aber an
kammer des europäischen Verbands ihre sich neue Stars leisten zu können. Citys Zahlungskraft abprallten? Und was
Untersuchungen gegen den Klub abge- Die Milliarden flossen aus Abu Dhabi, ist mit Vereinen der Bundesliga, die sich
schlossen habe. Am Donnerstag bestätigte der Heimat von Scheich Mansour. Dessen an die Satzungen halten, aber inzwischen
die Uefa, dass der Fall nun an die für Recht- Halbbruder war unter anderem der Chef abgehängt sind?
sprechung zuständige Kammer weiterge- der Airline Etihad, deren Name auf den Die augenscheinlichen Schummeleien
leitet wurde. Geht es nach den Ermittlern, himmelblauen Trikots prangt. Doch die des Scheichklubs betreffen Millionen Fans
soll der englische Meister, trainiert von Sponsoringdeals mit Etihad sowie mit wei- europäischer Vereine, die gegen City in der
Startrainer Pep Guardiola, wohl für min- teren Förderern aus Abu Dhabi waren Champions League ausgeschieden sind.
destens eine Saison aus der Champions wohl nur Maskerade, wie Football-Leaks- Citys Siegeszug war wohl ein fauler Zauber.
League ausgeschlossen werden. Dokumente vermuten lassen. Dabei ging es Scheich Mansour um mehr
Es wäre ein bisher einzigartiger Vor- Offenbar bezahlte Mansour einen Groß- als nur Fußball. City ist ein Imageprojekt
gang: Nie zuvor wurde ein Verein dieser teil des angeblichen Sponsorings selbst für Abu Dhabi, die »Citizens« sind gewis-
Strahlkraft aus dem wichtigsten europäi- und ließ die Gelder lediglich durch die Un- sermaßen die inoffizielle Nationalmann-
schen Wettbewerb geschmissen. ternehmen seiner Vertrauten schleusen. schaft der Vereinigten Arabischen Emirate.
City ist erst seit wenigen Jahren Dauer- Und wenn City zum Ende einer Saison Das Führungspersonal entstammt dem Ver-
gast in der europäischen Königsklasse. trotz der exorbitanten Förderung dennoch trauenszirkel des Kronprinzen Mohamed
Jahrzehntelang verfügte der Verein nur an finanzielle Grenzen stieß, erhöhte der bin Zayed Al Nahyan, der wiederum eng
über ein unspektakuläres Mittelklasseteam mit dem saudischen Kronprinzen verbün-
im Schatten des Stadtrivalen United. Dann det ist, im Jemen Krieg führt und Regime-
übernahm Scheich Mansour bin Zayed Al kritiker unterdrückt. Als Anfang des Jahres
VICTORIA HAYDN / MANCHESTER CITY FC VIA GETTY IMAGES
Nahyan, 48, den Klub. Konkurrenten in den Emiraten der Asian Cup ausgetragen
fürchteten schnell, dass das Mitglied der wurde, war es den Zuschauern unter An-
Herrscherfamilie von Abu Dhabi Milliar- drohung von Gefängnisstrafe verboten, für
den in den Verein pumpen und ihn künst- das verfeindete Katar zu jubeln. Fußball
lich aufblasen würde, um ihn in die Elite- und Politik sind in Abu Dhabi untrennbar
Etage des europäischen Fußballs zu kata- miteinander verbunden.
pultieren. Der Fall des Briten Matthew Hedges of-
Sie sollten recht behalten. Kein engli- fenbart, wie das Fußballprojekt den Emi-
scher Verein kann mit Citys Investitionen raten nutzt. Hedges, ein Wissenschaftler
mithalten. In den vergangenen zehn Jah- an der englischen Universität Durham,
ren hat der Klub 1,2 Milliarden Euro mehr war vor einem Jahr festgenommen wor-
in Spieler investiert, als er durch Verkäufe den, nachdem er zwei Wochen lang in den
eingenommen hat. Dazu kommen Aus- Emiraten geforscht hatte. Er wurde einge-
gaben für Infrastruktur, Gehälter und Part- Trainer Guardiola, Geldgeber Mansour sperrt und von einem Gericht in Abu Dha-
nerschaften mit anderen Klubs. »Niemand stirbt, niemand leidet« bi wegen angeblicher Spionage zu lebens-
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SHAUN BOTTERILL / GETTY IMAGES
Spieler von Manchester City bei der Meisterfeier am Sonntag: Inoffizielle Nationalmannschaft der Vereinigten Emirate
langer Haft verurteilt. Erst nach Interven- formationen ließen sich wie Puzzleteile zichten. Allein für diese Saison summieren
tion des britischen Außenministers wurde zusammensetzen. sich diese für den Verein auf etwa 93 Mil-
Hedges begnadigt. Trotz dieses augen- Niemand bekommt normalerweise einen lionen Euro. Zudem würde dem Klub Ärger
scheinlichen Willkürakts ergriffen Fans solchen Einblick in Klubinterna. Erst recht mit seinen Stars drohen, die sich um eine
von Manchester City während der Krise nicht die Uefa-Ermittler, die keine Doku- Europokalsaison beraubt fühlen könnten.
in sozialen Netzwerken Partei für das Emi- mente beschlagnahmen können und des- So wird seit geraumer Zeit unter Spieler-
rat Abu Dhabi. Diese Reaktionen bestäti- halb darauf angewiesen sind, dass Klubs auf beratern erzählt, dass die möglichen Uefa-
gen, was Experten »soft-power diplomacy« ihre Anfragen wahrheitsgetreu antworten. Sanktionen ein durchaus gewichtiger Grund
nennen: Über den Erfolg im europäischen Bereits 2014 hatte sich die Uefa mit dafür sein könnten, dass einige der Stars,
Fußball züchtet sich die Führung von Abu Manchester City angesichts von Verstößen etwa die deutschen Nationalspieler Ilkay
Dhabi Unterstützer im Westen. gegen das Financial Fair Play auf ein soge- Gündoğan und Leroy Sané, derzeit nicht
Und für diese Mission war Manchester nanntes Settlement geeinigt. Doch die Ent- bereit sind, ihre Verträge zu verlängern.
City offenbar bereit, sich über Regeln hin- hüllungen des SPIEGEL und seiner Partner Doch selbst wenn City ein Jahr lang aus-
wegzusetzen. ließen den Verband erneut aufmerken. setzen muss, ist das Investitionsprojekt
Am Dienstag ließ der Klub verlautba- Sollte die Uefa nun anhand der Bericht- schon zu weit vorangeschritten, als dass
ren, dass man der Uefa »umfassende Be- erstattung zu dem Schluss kommen, dass der Klub ernsthaft bedroht wäre. Er ist glo-
weise« für seine Unschuld vorgelegt habe. Manchester City vor fünf Jahren die Er- bal expandiert und hat sich ein interna-
Den Vorwurf, »finanzielle Unregelmäßig- mittler bewusst getäuscht hat, könnte der tionales Fußballimperium aufgebaut, mit
keiten« begangen zu haben, bezeichnet Verband den Klub allein deswegen bestra- Beteiligungen und Partnerklubs auf allen
City als »komplett falsch«. Am Donners- fen. Der Ermittlungschef, der ehemalige Kontinenten. Der Verein wird seine Mann-
tag droschen die Vereinsverantwortlichen belgische Premierminister Yves Leterme, schaft weiter verstärken und den europäi-
in einem Statement auf die Regelhüter ein. hält Citys Verstöße jedenfalls für so gra- schen Fußball dominieren können.
City sprach von Fehlern und Fehlinterpre- vierend, dass er keine Chance für ein er- Der Scheichklub ist längst zu groß ge-
tationen der Kammer und unterstellte den neutes Settlement sieht. Er hätte eine Geld- worden, um sich von der Uefa aufhalten
Ermittlern, einen feindlichen, unrechtmä- strafe von bis zu 100 000 Euro verhängen zu lassen.
ßigen Prozess zu führen. können, doch offenbar reichte ihm auch Rafael Buschmann, Christoph Winterbach
Auf den Inhalt der SPIEGEL-Recher- das nicht. Darum hat Leterme den Fall nun
chen ging der Klub öffentlich bislang kaum an die rechtsprechende Kammer weiterge-
ein. Über Monate hinweg hatten die Journa- reicht, die in ihrem Urteil unabhängig ist. Video
Finanzielle Fouls
listen an ihren Recherchen gearbeitet. Die Ein Ausschluss aus der Champions
Football-Leaks-Daten enthielten E-Mails, League würde die Klubführung in mehrerer spiegel.de/sp212019mancity
unterschriebene Verträge, Bilanztabellen Hinsicht treffen. City müsste auf die Teil- oder in der App DER SPIEGEL
und interne Vereinspräsentationen. Die In- nahmeprämien der Champions League ver-
»Lebt sparsamer«
trainiert Spieler kaputt – auch Felix Ma-
gath nicht. Aber Fußballer müssen im Spiel
den inneren Schweinehund überwinden,
sie müssen ihren Gegnern hinterherlaufen,
obwohl es wehtut. Wenn sie das im Trai-
Fußball Friedhelm Funkel, dienstältester Trainer der Bundesliga, ning nie geübt haben, machen sie es in
über Hip-Hop in der Kabine und seine einer Partie auch nicht.
verhinderte Entlassung bei Fortuna Düsseldorf SPIEGEL: Siezen die Spieler Sie bei Fortu-
na Düsseldorf?
Funkel: Generell ja. Die umgehen das
SPIEGEL: Herr Funkel, ist ein Trainer im ge der Sprints. Wenn einer körperlich im manchmal, sagen lieber: Trainer. Und wenn
Alter von 65 Jahren für seine Spieler roten Bereich ist, kommt der Athletiktrai- einer mal duzt, egal, nicht so schlimm. Man
manchmal auch ein Ratgeber? ner zu mir, deutet auf seinen Laptop und kann nicht nur Vorschriften machen, man
Funkel: Ich denke schon. Ich unterhalte sagt: Friedhelm, guck, der ist überbelastet. muss sich anpassen oder Dinge, die nicht
mich mit meinen Jungs oft über private Also gibt’s ’ne Pause. ganz so wichtig sind, hinnehmen.
Dinge, und da sage ich ihnen durchaus, SPIEGEL: Sie klingen, als wären Sie von SPIEGEL: Wo mussten Sie sich anpassen?
wenn mir etwas auffällt. dieser Maßnahme nicht immer überzeugt. Funkel: Ich gehe zum Beispiel am Spieltag
SPIEGEL: Was fällt Ihnen auf? Funkel: Manchmal sage ich dem Athletik- vor dem Aufwärmen nicht in die Mann-
Funkel: Ich bin von meinen Eltern zur trainer schon: Ach komm, lass mal. Weil schaftskabine.
Bescheidenheit erzogen worden. Deshalb es mir zu viele Pausen gibt. Kein Trainer SPIEGEL: Warum?
kommt es vor, dass ich frage: Warum
brauchst du so ein teures Auto? Brauchst
du Schuhe, die über tausend Euro kosten?
SPIEGEL: Was erhalten Sie als Antwort?
Funkel: Meist sagen sie: Weil ich es mir
leisten kann. Dann sage ich: Geld auszu-
geben geht schneller, als es zu verdienen.
Lebt sparsamer.
SPIEGEL: Sie haben als Spieler und Trainer
mehr als 45 Jahre im deutschen Profifuß-
ball erlebt. Nur Jupp Heynckes und Otto
Rehhagel haben mehr Erfahrung als Bun-
desligatrainer. Wie erleben Sie die aktuelle
Spielergeneration?
Funkel: Die Sportler sind selbstsicherer,
professioneller als wir früher. Die bereiten
sich auf jedes Training vor, sie ernähren
sich richtig. Ich habe als Spieler 1975 mit-
tags bei meiner Mutter Sauerbraten mit
Rotkohl und Kartoffeln gegessen. Zwei
Stunden später habe ich 90 Minuten Bun-
desligafußball gespielt.
SPIEGEL: Ist Ihnen nicht aufgefallen, dass
so ein Braten beim Sport schwer im Magen
liegt?
Funkel: Nein. Aber das Spiel damals war
ja langsamer. Schnelligkeit, Athletik, das
hat in den vergangenen Jahren enorm zu-
genommen. Schauen Sie sich die Spieler
an. Die haben alle ein Sixpack. Wenn die
das Trikot ausziehen, guckt jede Frau hin,
derart durchtrainiert sind die.
SPIEGEL: War das zu Ihrer Zeit als Fuß-
baller nicht so?
Funkel: Wir haben uns nicht getraut, das
Trikot auszuziehen, weil sonst jeder die
Ringe um die Hüfte gesehen hätte (lacht).
SPIEGEL: Wären Sie lieber heutzutage
Profi gewesen?
MATTHIAS JUNG / DER SPIEGEL
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Funkel: Es ist mir dort zu laut. SPIEGEL: Tut Kovač Ihnen leid?
Diese Musik, dieses Bumbumbum. Funkel: Er ist bisher mit einer ab-
Furchtbar. soluten Ruhe mit der Situation um-
SPIEGEL: Viele Fußballer mögen gegangen. Wie er diesen Stress
Hip-Hop. letztendlich verarbeitet, ob das ge-
Funkel: Ich mag Helene Fischer, sund ist, das weiß ich nicht. Ich
Andrea Berg. Aber gut, die Jungs weiß ja nicht, wie sehr er das alles
putschen sich mit ihrer Musik auf. in sich hineinfrisst.
Gott sei Dank gibt es in heutigen SPIEGEL: Sie werden jetzt als Trai-
Stadien eine Kabine für den Trai- ner der Saison gefeiert, weil Sie mit
Einwurf
Kirschen im Kopf
Was Modern Talking mit unserer sinkenden Aufmerksamkeitsspanne zu tun hat
Ein aktueller Hit in den deutschen Charts heißt »Cherry Lady«, es Großbritannien und Dänemark nachgewiesen, dass die kollektive
ist ein Cover des legendären Modern-Talking-Songs aus dem Jahr Aufmerksamkeitsspanne generell kürzer geworden ist – zum Bei-
1985 und dauert nur 2.15 Minuten. Das ist schnell überstanden. spiel bei Büchern, Filmen und sogar Tweets. Die Hypothese der
Den Coversong hat der 24-jährige Berliner Rapper Capital Bra Wissenschaftler: Es werde heute mehr produziert und mehr konsu-
gemacht, einer der derzeit erfolgreichsten Musiker Deutschlands. miert als früher; weil aber die Aufnahmefähigkeit des Menschen
Mit seiner musikalischen Kurzatmigkeit folgt er einem allgemei- grundsätzlich begrenzt sei, verlagere sie sich angesichts des Über-
nen Trend: Hits sind in den vergangenen Jahren immer kürzer ge- flusses an Angebot in immer kürzeren Abständen auf etwas Neues.
worden. So hat ein Datenanalyst vor einiger Zeit alle Songs unter- Überträgt man diese These auf die Musik, stellt sich die Frage:
sucht, die ab dem Jahr 2000 in den US-amerikanischen Billboard Lohnt es sich heutzutage nicht mehr, einen allzu langen Song
Hot 100 Charts auftauchten. Im Schnitt betrug die Länge eines zu produzieren? Zumindest wohl nicht, wenn man einen Hit lan-
Songs im Jahr 2000 noch mehr als vier Minuten, im Jahr 2017 den möchte. Aber das muss kein kultureller Verlust sein. Viele
nur noch knapp über dreieinhalb. Insgesamt sind heutige Hits also Songs ersparen uns durch ihre Kürze Schlimmeres. Das Cover von
rund eine halbe Minute kürzer als noch vor knapp 20 Jahren. »Cheri, Cheri Lady« nervt auch so schon – und das will etwas
Woran liegt das? Für eine Studie, die im Journal »Nature Com- heißen, schließlich quälte die Originalfassung von Modern Talking
munications« erschienen ist, haben Forscher aus Deutschland, die Zuhörer ganze 3.45 Minuten. Yannick Ramsel
GETTY IMAGES
aus dem Inland« hauptungen werden oft binnen weniger
Minuten rausgehauen, während seriöse
Medien oft Stunden brauchen, bis sie die
Die Kommunikationswissenschaftlerin Lage einigermaßen zuverlässig einschät- Festung vor Ischia
Lisa-Maria Neudert, 27, erforscht am zen und Fakten verifizieren können, etwa
Oxford Internet Institute die Verbreitung darüber, wer hinter einem Schusswaffen- Linguistik
von Fake News im Netz. angriff wie dem in Las Vegas 2017 steht.
SPIEGEL: Empfehlen Sie eine stärkere
Doch keine Aliens
SPIEGEL: Frau Neudert, versucht Russ- Regulierung von Social Media? Das Ding war einfach nicht zu kna-
land, mit Desinformationen im Netz die Neudert: Die aktuelle Gesetzgebung und cken. Seit hundert Jahren versuchen
Europawahl zu manipulieren? die Regeln im Umgang mit politischen Wissenschaftler, das »Voynich-Manu-
Neudert: Es gibt viel Gerede und Angst- Inhalten müssen an das digitale Zeitalter skript« zu entziffern, das aus der ersten
macherei. Derzeit haben wir noch keine angepasst werden. Bei der Wahlwerbung Hälfte des 15. Jahrhunderts stammt.
Hinweise auf eine massive Einflussnah- im Fernsehen etwa gelten in vielen Län- Einige Fantasten hielten den Text gar
me. Das kann natürlich noch kommen. dern Regeln: Sender müssen offenlegen, für eine Hinterlassenschaft Außer-
Bei der französischen Präsidentschafts- wer einen Werbespot geschaltet hat. In irdischer. Jetzt will Gerard Cheshire von
wahl 2017 wurden 20 000 E-Mails, Deutschland gelten strenge Regeln, was der Universität Bristol das mehr als
die den damaligen Kandidaten Em- etwa die jeweilige Sendezeit der Parteien 200-seitige Rätsel gelöst haben, wie er
manuel Macron belasteten, erst unmittel- angeht, und ein Verbot der Wahlwerbung im Journal »Romance Studies« schreibt.
bar vor dem Wahltermin veröffentlicht, kurz vor den Wahlen. Für Facebook und Der Forscher hat die Sprache des Ma-
um eine größere Wirkung zu entfalten andere Netzkonzerne dagegen gelten nuskripts als Proto-Romanisch identifi-
und Verwirrung zu stiften. derlei Regeln nicht in derselben Form. ziert, eine Übergangsform zwischen
SPIEGEL: Wie gehen Sie dem Lateinischen und den romanischen
bei Ihrer Spurensuche Sprachen, zu denen Spanisch und Por-
vor? tugiesisch gehören. Bisher habe es keine
Neudert: Wir haben bis- Zeugnisse dieser Übergangssprache
lang mehrere zehn gegeben, weil offizielle Dokumente
Millionen Posts auf Twit- damals fast nur in Latein verfasst wor-
ter, Facebook und Ins- den seien, so Cheshire. Das »Voynich-
tagram durchforstet. Manuskript« stamme aus einer Festung
Wir teilen die Posts vor der italienischen Insel Ischia, ver-
dann in zwei Kategorien fasst von einer einfachen Person, in
ein: Nachrichten aus normaler Alltagssprache. Es gehe darin
seriösen Quellen einer- um Kräuterheilmittel, therapeutisches
seits und Junk News, Baden, Astrologie und Elternschaft.
also Posts, die einseitig »Eine der wichtigsten Entwicklungen
DAVID FISHER
5-mal
in Deutschland bei der vergangenen Bun- Neudert: Sawsan Cheblis Account wurde
destagswahl. Zur EU-Wahl läuft unsere von Twitter gesperrt, weil ihr Tweet
Auswertung noch, aber für die europäi- über den Vornamen Mohammed gegen
schen Länder rechnen wir mit einem die Regeln der Plattform »zum Ver-
ähnlichen oder sogar geringeren Anteil. öffentlichen von irreführenden Informa-
SPIEGEL: Wer steckt dahinter? tionen zu Wahlen« verstoßen haben soll. höher ist das Risiko, an Prostatakrebs
Neudert: In Deutschland stammt die Nachdem der Fall nochmals überprüft zu sterben, wenn dessen Zellen von
meiste Lügenpropaganda nicht von aus- wurde, wurde die Sperrung umgehend der normalen Chromosomenzahl
ländischen Akteuren, sondern von extre- wieder aufgehoben. Der Fall zeigt, wie abweichen. Das fanden US-Forscher in
mistischen politischen Gruppierungen schwierig es ist, politische Inhalte im einer Studie heraus, die im renommier-
aus dem Inland, die verwirren oder pola- Netz sinnvoll zu regulieren, aber auch, ten Journal »PNAS« erschienen ist.
risieren wollen. dass es an Transparenz und klaren Durch eine entsprechende Chromoso-
SPIEGEL: Warum ist der Anteil der Richtlinien mangelt. Hier müssen Politik menanalyse könnten Patienten künftig
Lügennachrichten so hoch? und Plattformen zusammenarbeiten, individueller behandelt werden. In
Neudert: Viele sind sehr geschickt opti- um Standards für das digitale Zeitalter Deutschland ist das Prostatakarzinom
miert auf virale Verbreitung; die Bilder zu setzen. HIL die häufigste Krebsart bei Männern.
99
GETTY IMAGES
100
Wissenschaft
Bienenstädte
Naturschutz Die Landwirtschaft lässt die Insektenbestände schrumpfen. Mit Blühstreifen und
Insektenhotels wollen Ökoromantiker den Artenschwund eindämmen. Dienen solche
Aktionen nur der Gewissensberuhigung? Oder liegt die Zukunft der Bestäuber gar im urbanen Raum?
I
m Süden der belgischen Univer- zugleich auch die Menschen, die diese ge- Einsatz von Dünger und Pestiziden, die
sitätsstadt Löwen haben sich an schaffen haben. den Insekten schaden.
diesem Frühlingsabend ein paar In Timmermans Heimatstadt sind sol- Ein paar Blühstreifen hier und da än-
Dutzend Menschen versammelt, che Initiativen gern gesehen. Löwens jun- dern an der Misere wenig. »Für eine hohe
um ihr Werk zu bewundern. Bislang ger Rathauschef Mohamed Ridouani setzt Artenvielfalt in der Agrarlandschaft
hatten die Männer, Frauen und Kinder auf Bürgerbeteiligung in allen Bereichen; brauchten wir dort rund zehn Prozent na-
nicht viel mehr gemeinsam als ihren die Stadt hat ehrgeizige Klimaziele. 2018 turbelassene Flächen«, sagt die Biologin
Wohnort im Stadtteil Heverlee, wo sie in gewann Löwen den European Green Leaf Alexandra-Maria Klein von der Univer-
meist weiß oder rot verklinkerten Ein- Award der EU-Kommission. sität Freiburg – illusorisch in Zeiten, in
familienhäusern hinter dem Bahndamm »Nachbarschaftsprojekte haben ein rie- denen fast jedes Stückchen Land intensiv
leben. Seit Kurzem aber eint sie ein heh- siges Potenzial«, sagt Ridouani. Seit Jah- genutzt wird.
res Ziel. ren vergibt er Fördermittel an Löwener, Klein erforscht vor allem das, was den
Die Aktivisten wollen etwas tun gegen die in ihrem Viertel etwas auf die Beine Bestäubern schadet. Gegenwärtig bereitet
den Schwund der Artenvielfalt, von dem stellen wollen. Das kann ein Spielplatz sie ein Großprojekt vor, das die Wechsel-
jetzt überall die Rede ist, gegen das Sterben sein oder ein Musikfestival, ein Kunstwerk wirkung verschiedener Chemikalien auf
der Bienen, Schmetterlinge und Schweb- oder eben ein Pflanzprojekt. Wildbienen untersuchen soll; denn vor
fliegen. Nicht nur die Belgier haben ein Herz einer Zulassung werden zum Beispiel Sub-
Auf einer Strecke von 300 Metern ha- für Biene & Co. US-amerikanische Städ- stanzen gegen Käfer oder Pilze isoliert ge-
ben die Anwohner vor ein paar Wochen te können sich als insektenfreundliche testet. »Wir wissen wenig darüber, wie die
den Bahndamm begrünt. Die Züge nach »Bee City« zertifizieren lassen, der Lon- Kombination sich auf Gesundheit und Ver-
Ottignies in der Nachbarprovinz brausen doner Stadtbezirk Brent kündigte Anfang halten der Bienen auswirkt«, sagt Klein.
künftig vorbei an Faulbaum und Hunds- Mai einen elf Kilometer lan- Doch auch die Bienen-
rose, Wolligem Schneeball und Ohr-Weide. gen Bienenkorridor an. expertin setzt auf Bürger-
Daneben steht ein sogenanntes Insekten- Auch in Deutschland wird Kribbelndes Thema projekte. Gemeinsam mit
hotel. Das Bauwerk aus Holz und Ziegel- in diesem Frühjahr aller- Wie wichtig den Deutschen Schülern des United World
steinen soll den Tieren Unterschlupf bie- orten gesät und gepflanzt der Schutz von Insekten ist College, einer internationa-
ten, das Grünzeug Nahrung. gegen den Artenschwund, »sehr wichtig« len Lehranstalt in Freiburg,
Die Heverleer sind gekommen, um zu die Bestäuberrettung gerät oder »wichtig« hat sie 350 Insektenhotels
schauen, wie es vorangeht mit ihrem zum Volkssport: Kreisver- gebaut und jeweils paar-
Projekt Weltrettung. Abwechselnd wol- kehre und Parkanlagen, weise an Schulen in ganz
len sie sich um Pflege und Schnitt der
Pflanzung kümmern. »Naturschutz muss
Hochhausdächer und Bal-
kone werden bienenfreund-
89% Deutschland verteilt. Eines
der beiden Häuser wird im
nicht nur von Regierungen oder Umwelt- lich gestaltet. Schulkinder Herbst zurückgeschickt, da-
organisationen geleistet werden«, sagt streuen unter wohlwollender mit Klein und ihr Team
Wim Timmerman, »auch Bürger können Begleitung der Lokalpresse 11 % schauen können, welche
viel erreichen.« Wildblumensamen an Feld- »nicht so wichtig« oder Arten sich je nach Standort
Timmerman gibt tagsüber Sprachkurse ränder oder zimmern Insek- »gar nicht wichtig« darin finden.
in verschiedenen Firmen, vor allem aber tenhotels. Manche Gemein- Forschungsgruppe Wahlen für das ZDF-
Die Ausbeute könnte in
bringt er gern Menschen zusammen. Er de will zum Schutz von Bie- »Politbarometer« vom 19. bis 21. Februar; den Städten ergiebiger sein
1226 Befragte
hat »Ecostrades« ersonnen, ein Kunstwort nen und Käfern artenarme als auf dem Land: Schon
aus Ökologie und dem flämischen »Auto- Steinvorgärten verbieten. jetzt, das berichtete Kleins
strades« (Autobahnen). Der Bahndamm Landwirte verkaufen auf ihren Flächen Kollegin Susanne Renner von der Münch-
ist ein Beispiel für eine solche »Schnell- Blühpatenschaften. ner Ludwig-Maximilians-Universität im
straße für die Migration von Fauna und Derlei Ökoromantik macht die Welt zwei- März im Fachblatt »Proceedings of the
Flora« (Timmerman). fellos bunter – doch bremst sie auch den Ver- Royal Society B«, finden Insekten in den
Seine Vision: Überall in der Stadt, ja im lust der Artenvielfalt? Oder dienen all diese Städten häufig bessere Bedingungen vor
ganzen Land könnten sich Menschen or- Aktionen vor allem dazu, das schlechte Ge- als außerhalb. Viele der mehr als hundert
ganisieren, Nachbarn oder Arbeitskolle- wissen zu beruhigen? Ist der Blühstreifen Wildbienenarten, die in deutschen Städ-
gen, und gemeinsam ihre Umgebung um- am Maisfeld am Ende nur ein Feigenblatt ten vorkommen, sind weniger gefährdet
gestalten. Bahndämme und Straßenränder, der Hochleistungslandwirtschaft? als Wildbienen in ländlichen Regionen.
Grünflächen auf Firmengeländen, Parks Tatsächlich kommen Studien zum Ver- Für die Bestäubung von Nutzpflanzen
und Gärten. Dereinst könnten solche Area- lust der Biodiversität zu einem klaren Be- auf den Äckern hilft das wenig. »Dafür
le überall dicht beieinanderliegen, hofft fund: Es sind vor allem der Schwund von fliegen die Wildbienen nicht weit genug
Timmerman, dann wären die Inseln der kleinteiligen Lebensräumen in der Agrar- bei der Nahrungssuche«, erläutert Biolo-
Biodiversität miteinander verbunden und landschaft und in den Wäldern sowie der gin Klein, »eigentlich müsste sich auch
Leerer
Planet
Demografie Bisher galt die
Bevölkerungsexplosion als eine
der größten Bedrohungen.
Doch womöglich schrumpft die
Menschheit schneller als erwartet.
BART DEWAELE
ihnen hausen in Elendsquartieren. Die
Menschen hungern, die Böden geben nicht
mehr genug her. Verzweifelt essen sie eine
Insektenhotel in Löwen: Faulbaum und Hundsrose, Wolliger Schneeball und Ohr-Weide geheimnisvolle Notnahrung. Doch was
nur Eingeweihte wissen – die grünliche
Substanz ist aus Leichen gemacht.
jedes Dorf bemühen, bienenfreundlicher Nachwuchs füttern die Tiere mit Pollen – Was war das für ein wohliger Grusel,
zu werden.« und das oft nur mit dem ganz bestimmter als der Science-Fiction-Schocker »Soylent
Aus diesem Grund will etwa Braun- Pflanzen. »Manche Wildbienen sind auf Green« 1973 in die Kinos kam! Und der
schweig zwar im großen Stil Wohnraum Pollen einer einzigen Pflanzenart speziali- Thriller hatte durchaus einen ernsten Hin-
für Bestäuber schaffen, ihnen zugleich siert«, erklärt Greil. Fehlt das Gewächs, fällt tergrund: Die Angst vor einer »Bevölke-
aber auch Verbindungen aus der Groß- bei vielen Arten die Fortpflanzung aus. rungsexplosion« war so allgegenwärtig
stadt hinaus eröffnen. Knapp sechs Mil- Zu wenig Nachwuchs gibt es auch, wenn wie heute die Furcht vor der »Klimakata-
lionen Euro kostet das Projekt »Bienen- die Tiere kaum noch Nistplätze finden. Ein strophe«, angefeuert durch einen teilweise
stadt Braunschweig« – am Ende sollen Insektenhotel, wie es in jedem Baumarkt alarmistischen Bericht des Club of Rome
rund 30 Hektar Stadtgebiet umgestaltet zu finden ist, demonstriert zwar Umwelt- mit dem Titel »Die Grenzen des Wachs-
sein, es wird artenreiche Wiesen geben bewusstsein, nützt aber jenen etwa drei tums«. Um die drohende Bevölkerungs-
und Blühstreifen, an städtischen Gebäu- Vierteln aller Wildbienenarten nichts, die explosion zu entschärfen, ordnete Chinas
den begrünte Dächer und Fassaden, Streu- Nester im Boden anlegen. Staatsführung ab 1979 die Einkindpolitik
obstwiesen und viele neue Bäume und Damit die Forscher ein passgenaues an, um die scheinbar nicht mehr zu kon-
Sträucher. Bienenbüfett gestalten können, läuft in trollierende Kinderflut einzudämmen.
Henri Greil, der das Modellprojekt am Braunschweig daher eine Wildbienen- Die Weltbevölkerung lag damals bei gut
Braunschweiger Julius-Kühn-Institut für inventur. Mithilfe von Insektenfallen im vier Milliarden Menschen, seither hat sie
Bienenschutz koordiniert, trifft sich regel- gesamten Stadtgebiet wollen Greil und sei- sich nahezu verdoppelt, und sie wächst
mäßig mit Landwirten aus der Region. ne Kollegen herausfinden, welche Arten weiter mit großer Geschwindigkeit. Die
»Wenn wir Korridore in die Außenbezirke in der niedersächsischen Großstadt über- Vereinten Nationen warnen deshalb auch
anlegen«, sagt der studierte Architekt, haupt heimisch sind. heute vor einer ungebremsten Bevölke-
»können sich Wildbienen auch zurück in Doch was ist am Ende gewonnen, wenn rungszunahme, die über das Jahr 2100
die ländlichen Gebiete ausbreiten.« Städte jenen Arten Asyl bieten, die ihre hinaus weitergehe, ohne dass ein Ende in
Schon häufiger hat sich Greil mit der ländliche Heimat verloren haben? Sicht wäre.
Frage beschäftigt, wie sich Architektur Bestäuberexpertin Klein hofft, dass »Bis zum Jahr 2100 wird die Weltbevöl-
und Artenschutz verbinden lassen, vor der Einsatz für die Stadtinsekten zumin- kerung mit großer Wahrscheinlichkeit auf
ein paar Jahren am Beispiel von Fleder- dest auf die Lage der Wildbienen, Fliegen 11,2 Milliarden Menschen anwachsen«,
mäusen. Bienen, das hat er erkannt, ha- und Schmetterlinge aufmerksam macht. sagt Frank Swiaczny, 52, Vizedirektor der
ben gegenwärtig eine größere Lobby: »Wenn unsere Kinder dadurch ein Be- zuständigen Statistikabteilung der Ver-
»Viele Bürger haben sich bei uns gemeldet wusstsein für Biodiversität entwickeln und einten Nationen, Population Division ge-
und gefragt, wie sie uns unterstützen kön- dafür, warum sie für uns alle lebenswichtig nannt.
nen.« Auch Firmen, Wohnungsbaugesell- ist«, sagt die Biologin, »dann haben wir Andere Experten aber sehen längst An-
schaften, ein Golfklub und eine Senioren- schon viel erreicht.« Julia Koch zeichen für eine bemerkenswerte Trend-
residenz machen mit bei der geplanten umkehr. »Die Vereinten Nationen liegen
Bienenstadt. falsch, die Zahlen basieren auf fehlerhaften
Gegenwärtig sind Greil und seine Kolle- Animation Annahmen«, kritisiert der Kanadier Dar-
Was hilft wilden
gen damit beschäftigt, für jede Fläche den Bienen? rell Bricker, 58, Manager bei der Markt-
bestmöglichen Pflanzenmix zu finden. Die spiegel.de/sp212019oeko
forschungsagentur Ipsos: »Die Bevölke-
schönste Blütenpracht hilft nichts, wenn sie oder in der App DER SPIEGEL rungszahlen werden viel niedriger aus-
Wildinsekten nur Nektar bietet; denn ihren fallen und sich ab Mitte des Jahrhunderts
102
an ein Plateau annähern. Ab 2070 wird
die Menschheit schrumpfen.«
Schrumpfungsthese die Bevölkerung stabil. Liegt die Zahl da-
runter, schrumpft die heimische Bevölke-
»Empty Planet« heißt Brickers im Fe- Bevölkerungsentwicklung nach dem rung sogar. In weiten Teilen der Industrie-
bruar erschienenes Buch, das er gemein- Wittgenstein Centre for Demography, nationen ist das längst der Fall. Gegen Mit-
sam mit dem Journalisten John Ibbitson in Milliarden te des Jahrhunderts erfasst der Schwund
geschrieben hat*. Immer neue Daten un- aber auch riesige Schwellenländer wie Chi-
terstützen demzufolge die Prognose, dass 5 na, Indonesien oder Brasilien.
wir bald spürbar weniger werden. Wie lässt sich eine solche Entwicklung
Eine dauerhaft schrumpfende Weltbe- erklären? »Das wichtigste Fortpflanzungs-
völkerung? Das hat es noch nie gegeben organ des Menschen ist das Gehirn, daher
in der Menschheitsgeschichte. Meist war ist die Schulbildung von Frauen entschei-
der Bevölkerungsrückgang örtlich und dend«, sagt der Mathematiker Wolfgang
zeitlich begrenzt – ausgelöst etwa durch Lutz, 62, Direktor des Wittgenstein Cen-
Seuchen, Kriege oder Naturkatastrophen. tre in Wien: »Sobald Mädchen Zugang zu
Wie kann es sein, dass die obersten Asien Schulbildung, Krankenversorgung und Ar-
Menschenzähler bei den Vereinten Natio- Die Demografen gehen beitsmarkt bekommen, gehen die Gebur-
nen diesen Gezeitenwandel übersehen? von einer stärker tenraten zurück. Und das gilt weltweit.«
Der Uno-Experte Swiaczny kennt Bri- sinkenden Geburtenrate Die Uno-Projektionen dagegen berück-
4
ckers Prognosen, hält sie aber für voreilig: u. a. in China aus. sichtigen das Bildungsthema kaum, was
»Eine Stabilisierung in diesem Jahrhun- zumindest teilweise die Unterschiede in
dert«, sagt er, »erscheint mit einer Wahr- den Vorhersagen erklärt.
scheinlichkeit von rund 27 Prozent zwar Lutz ist eine führende Stimme der
unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich.« Schrumpfungsthese. Geboren wurde er in
Alle zwei Jahre stellt der Statistiker, der Rom als Sohn des Historikers Heinrich
in Mannheim Geografie studiert und frü- Lutz, der dort in den Archiven des Vati-
her beim Bundesinstitut für Bevölkerungs- kans forschte. Irgendwann Anfang der
forschung gearbeitet hat, eine Aktualisie- Siebziger erzählte der Vater dem Teen-
rung der Uno-Zahlen vor; die nächste »Re- Afrika ager aufgeregt von der dystopischen Stu-
vision« wird er voraussichtlich Mitte Juni Stärker als die Uno die des Club of Rome. Und fügte bedau-
berücksichtigt die
präsentieren. »Die neuen Zahlen werden 3 ernd hinzu: Als Historiker könne er dazu
Prognose die
leicht unter der letzten Berechnung liegen, leider wenig sagen. Da entschied sich sein
zunehmende Bildung
aber nicht erheblich abweichen«, verrät der Frauen. Sohn, Zukunftsforscher zu werden.
er bereits gegenüber dem SPIEGEL. Wird nun also alles gut? Keineswegs,
Doch Bricker traut diesen Zahlen nicht. denn ein ungebremster Bevölkerungsrück-
»Die Uno schreibt einfach die Entwicklun- gang kann ähnlich große Herausforderun-
gen der letzten Jahrzehnte fort, und sie gen mit sich bringen wie ein ungebremster
unterschätzt dabei, wie rasch sich die Welt Babyboom.
verändert«, sagt er. Vor allem in Afrika Das lässt sich in Ländern wie Japan
schwäche sich das Bevölkerungswachstum erahnen, dessen Bevölkerung in den
stark ab, zum Beispiel in Nigeria oder nächsten Dekaden wohl um ein Viertel
Äthiopien falle die Fertilitätsrate viel schrumpfen könnte. Ähnlich sieht es in
schneller als von den Vereinten Nationen 2 Südkorea aus, wo die Kinderzahl pro Frau
erwartet. im vergangenen Jahr bereits unter eins ge-
Der kanadische Forscher steht nicht sunken ist. Oder in etlichen deutschen
allein mit seiner Kritik an den alarmie- Kleinstädten, wo Läden und Schulen
renden Uno-Zahlen. Ein kleines Daten- schließen und sich immer mehr Rentner
beben erschütterte die Demografenbran- ihr ergrautes Haupt zerbrechen über Al-
che im vorigen November, als in der medi- tersarmut und Pflegenotstand.
zinischen Fachzeitschrift »Lancet« ein Der Kanadier Bricker empfiehlt die ka-
globaler Überblick über das Wachsen nadische Lösung: die gezielte Anwerbung
und Schrumpfen von Ländern erschien von qualifizierten Zuwanderern, am bes-
und vor allem für Riesenländer wie China ten aus Ländern, die noch einen Gebur-
eine überraschend geringe Fertilitätsrate 1 tenüberschuss haben. So ließe sich ein
auswies. Die Autorenliste liest sich wie allzu plötzliches Schrumpfen abfedern.
ein Who’s who der Demografenbranche, Sein Buch wird derzeit ins Japanische,
ihre Namen füllen elf eng bedruckte Lateinamerika/Karibik Koreanische und Chinesische übersetzt.
Seiten. Europa Nicht jedes Land ist dazu bereit, sich
Im weltweiten Durchschnitt habe sich für Fremde zu öffnen. Doch selbst für
die Kinderzahl pro Frau seit 1950 fast hal- Nationen, die sich für die Einigelung
biert, von rund 4,7 auf nur noch 2,4 im entscheiden, sieht der Autor Vorteile:
Jahr 2017, so die Studie. Damit nähert sich Kleinstädte schrumpfen, Farmen veröden,
die Kinderzahl weltweit einer wichtigen Nordamerika Fabriken verstummen. Im Gegenzug er-
Grenze: Wenn auf ein Paar im Schnitt obern Wälder ihren Lebensraum zurück –
nicht mehr als 2,1 Kinder kommen, bleibt und die Natur atmet auf in der heilsamen
Leere. Hilmar Schmundt
* Darrell Bricker, John Ibbitson: »Empty Planet«. 1950 2015 2100 Twitter: @hilmarschmundt
Crown; 304 Seiten. Quelle: Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital 2018
D
er einflussreichste Rassenhygie- Als führender Mitarbeiter der Deut-
niker des »Dritten Reichs« fehlte, schen Forschungsanstalt für Psychiatrie
als in der Nacht des 16. Oktober (DFA) in München, des Vorläufers des heu-
1946 zehn der schlimmsten Ver- tigen Max-Planck-Instituts für Psychiatrie,
brecher des Naziregimes in der Sporthalle etablierte Rüdin nach dem Ersten Welt-
des Nürnberger Justizgefängnisses ge- krieg in Deutschland eine besonders men-
henkt wurden. schenverachtende Form der psychiatri-
Der in der Schweiz geborene Psychiater schen Genetik. Für das im Juli 1933
Ernst Rüdin war von den Alliierten zuvor von den Nationalsozialisten verabschie-
als Mitläufer aussortiert worden – obwohl dete »Gesetz zur Verhütung erbkranken
Tausende Tote auch auf das Konto dieses Nachwuchses« habe Rüdins DFA »wesent-
selbst ernannten Reformers gingen. Ledig- liche Argumente geliefert«, wie Roelcke
104
junge Gastwissenschaftler ausgebildet, die
seine radikalen Thesen von der »Rassen-
hygiene« künftig auch im Ausland verbrei-
ten konnten.
Einer davon war der Psychiater Eliot
Slater, der 1934 mit einem der letzten Ro-
ckefeller-Stipendien nach München ge-