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Aufstand gegen Nahles


Demontage einer Vorsitzenden
die deutsche Politik aufmischt
Die neue APO: Wie die Generation YouTube
Rezoluzzer
Nr. 23 / 1.6.2019
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Das deutsche Nachrichten-Magazin

Hausmitteilung
Betr.: Titel, Erntehelfer, Hochstaplerin

Eigentlich wollte sich der YouTuber Rezo,


nach eigenen Angaben Ende zwanzig, eine
Zeit lang von den Medien fernhalten, weil
ihm der Hype um sein Anti-CDU-Video
zu viel wurde. Für die SPIEGEL-Titelge-
schichte machte er eine Ausnahme. Redak-
teur Alexander Kühn traf ihn am Mittwoch
zu einem vierstündigen Gespräch in einem
Aachener Hotelzimmer, da Rezo öffent-
liche Cafés derzeit meidet und seine Woh-
nung für Journalisten tabu ist. Auf dem
Weg durch die Stadt hatte er sich mit Müt-
ze und Kapuze getarnt. Am Tag darauf
NICK HARWART / DER SPIEGEL

wurde er – zusammen mit einigen Pro-


tagonisten der Titelgeschichte – für das
Cover fotografiert. Seine Haare, Farbton
Lagunenblau, die im Stress der vergange-
nen Wochen etwas vernachlässigt wirkten,
hatte er extra nachkoloriert. In dem Titel-
Rezo, Kühn komplex beschreiben zwölf SPIEGEL-Kol-
leginnen und -Kollegen eine neue Protest-
generation, die spätestens bei der jüngsten Europawahl ihr politisches Potenzial
demonstriert hat. Die »19er«, wie Titelautor Lothar Gorris die Vertreter dieser Gruppe
in Anlehnung an die »68er« nennt, haben den Klimaschutz zur Existenz- und Ge-
rechtigkeitsfrage erklärt, und ihr Einfluss reicht, auch dank des Internets, weit über
ihre Altersgruppe hinaus. Union und SPD wurden bei der Wahl massiv abgestraft,
vor allem bei den Sozialdemokraten wankt nun die Parteichefin. Seite 12

Wie leben eigentlich unsere Bauern? Also die, die uns auch im Januar mit Erdbeeren
und Tomaten versorgen? SPIEGEL-Redakteur Nils Klawitter reiste ins spanische
Almería, um dieser Frage nachzugehen. Im Plastikmeer der Gewächshäuser traf
er erschöpfte Arbeiter und Tagelöhner. Menschen wie die Marokkanerin Charifa
Essamraoui, die in schiefer Haltung und mit ruiniertem Rücken Salat schneidet, der
auch in deutschen Läden im Regal liegt. Oder den Rumänen Iulian Vaduva, der die
vergangenen zwei Jahre lang mit einem kleinen Trecker Pestizide unter den Plastik-
planen ausbrachte und dem nun chronisch schlecht ist. Für viele dieser Erntehelfer,
so Klawitter, stehe Almería für die Hoffnung auf ein normales Leben in Europa.
»Aber es ist auch der Ort, wo dieser Traum zerplatzt.« Seite 74

Es gebe da eine erfolgreiche Bloggerin, die sich eine fiktive jüdische Identität be-
sorgt habe – mit dieser Information begann Redakteur Martin Doerry seine Recher-
chen über die in Dublin lebende deutsche Historikerin Marie Sophie Hingst. Der Fall
scheint paradox in einer Zeit, in der der Anti-
semitismus überall in Europa wieder deutlich
zutage tritt. Doch Hingst verschafft sich mit
dieser Legende Aufmerksamkeit, die wichtigste
Währung im Netz. Bei einem Treffen in Dublin
CLIONA O' FLAHERTY / DER SPIEGEL

in der vergangenen Woche stellte Doerry die


junge Frau erstmals zur Rede. Zunächst bestritt
sie entschieden, dass sie Fälschungen verbreitet
hätte, später behauptete sie, ihr Blog sei nur
Literatur, weit entfernt von jeder Realität.
»Marie Sophie Hingst hat sich in eine Parallel-
welt hineinfantasiert«, sagte Doerry nach dem
Gespräch, »zuweilen glaubt sie wohl sogar das,
was sie sich ausgedacht hat.« Seite 112 Doerry, Hingst

DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 5


Inhalt
73. Jahrgang | Heft 23 | 1. Juni 2019

Titel Militär Ein Soldat warnte vor


Rechtsextremen in der Truppe,
Bewegungen Eine junge jetzt will man ihn feuern . . . . 42
Protestgeneration kämpft
gegen den Klimawandel – Finanzen Dem Fiskus könnten
sie erinnert an die 68er, Milliarden entgehen, weil
ist aber viel wirkmächtiger 12 Steuerdaten nicht verarbeitet
werden können . . . . . . . . . . . . . 45
Jungwähler Sechs junge Erwach-
sene berichten, welche Anliegen Zeitgeschichte Abhörpro-
sie in der Politik haben . . . . . . 22 tokolle der Alliierten zeigen,
wie deutsche Soldaten die
Schlacht in der Normandie
Deutschland vor 75 Jahren erlebten . . . . . . 46

Leitartikel Noch hat die SPD Umwelt In Städten sollen


im Konkurrenzkampf mit Kleingärtner ihre Lauben

EMMANUELE CONTINI / IMAGO


den Grünen nicht verloren . . . 8 verlieren, damit neue
Wohnungen gebaut werden
Meinung Der gesunde können . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
Menschenverstand / So
gesehen: Neue Regeln Studium Zwei Hochschulen
gegen Meinungsmache . . . . . 10 bilden Mitarbeiter
für Geheimdienste aus . . . . . . 56
Missbrauchsopfer fordern Mil-
liarden von katholischer Kirche / Die Demontage
Altmaier schont Bauherren / Gesellschaft
AfD-Büro in Russland . . . . . . . 24 Andrea Nahles’ einsame Entscheidung, sich
vorzeitig erneut zur SPD-Fraktionschefin wählen Früher war alles schlechter:
SPD Wie hart die Bundestags- Tote in der Formel 1 /
abgeordneten nach der Wahl-
zu lassen, verstört ihre Partei. Das Manöver Sollten unsere Kinder mehr
schlappe mit ihrer Chefin spaltet die Sozialdemokraten im Bundestag. In Serien gucken? . . . . . . . . . . . . . . 60
Andreas Nahles umgingen 28 dieser Woche kam es zur Abrechnung. Seite 28
Eine Meldung und ihre
Union Schuld an der schlech- Geschichte Wie ein
ten Performance von CDU- kleiner Junge aus Ohio
Chefin Annegret Kramp- zum Helden wurde . . . . . . . . . 61
Karrenbauer ist auch ihr Team
in der Parteizentrale . . . . . . . . 32 Rhetorik SPIEGEL-Gespräch
mit Philip Collins, ehemaliger
Wahlen Porträt des Satirikers Redenschreiber von Tony Blair,
TOPFOTO / PICTURE-ALLIANCE / KPA

Nico Semsrott, der ins EU- über die Sehnsucht nach der
Parlament gewählt wurde 34 großen politischen Rede . . . . 62

CSU SPIEGEL-Gespräch mit Kolumne Leitkultur . . . . . . . . . 67


Alexander Dobrindt über die
Lehren der Europawahl
und die Angst der Union vor Wirtschaft
Blamagen im Netz . . . . . . . . . . 36
Kohlekraftwerk Datteln soll
Parteien Die bei der EU-Wahl Berichte aus der Hölle ans Netz gehen / UFO-Chef
erfolgreichen Ostverbände Baublies macht Lufthansa
der AfD fordern mehr Macht Vor 75 Jahren landeten die West-Alliierten in schwere Vorwürfe . . . . . . . . . . . 68
in der Bundespartei . . . . . . . . . 39 Frankreich, mit dem D-Day begann die Schlacht um
Handel Der Zollstreit zwischen
Europa Streit um Spitzenperso-
die Normandie. Abhörprotokolle von Gesprächen den USA und China
nal in der EU belastet deutsch- deutscher Soldaten in Gefangenschaft zeigen, durch eskaliert zu einem ökono-
französisches Verhältnis . . . . 40 welche Hölle die Männer damals gingen. Seite 46 mischen Kalten Krieg . . . . . . . 70

6 DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019


Landwirtschaft Auf spanischen Wissenschaft
Feldern werden Migranten
ausgebeutet, deutsche Ver- Wie Schimpansen neue
braucher profitieren . . . . . . . . 74 Techniken erfinden /
5G-Sendemasten aus Holz? /
Medien Der Axel-Springer- Einwurf: Kluger Eltern-
Konzern will sich von der streit tut Kindern gut . . . . . . 100
Börse zurückziehen, mithilfe
des Investors KKR . . . . . . . . . . 77 Verkehr Mit Biogas auf hoher

ANDREW PARSONS / I-IMAGES / POLARIS /STUDIO X


See – Kreuzfahrtreeder ent-
Finanzindustrie Die Deutsche decken die Nachhaltigkeit 102
Bank sucht verzweifelt nach
einem Befreiungsschlag . . . . 78 Luftfahrt Der erste Nonstop-
Atlantikflug zweier britischer
Piloten vor 100 Jahren geriet
Ausland zum Höllenritt . . . . . . . . . . . . . 105

Damaskus und Moskau ver- Religionssoziologie Eine neue


letzen im Kampf um Idlib das Großstudie erforscht den
humanitäre Völkerrecht / Der Glauben der Ungläubigen 106
chilenische Außenminister
Ampuero zur Venezuelakrise 80 Astronomie Der Himmels-
Der große Verführer archäologin Anna Frebel gelang
Großbritannien Der Tory es, Licht ins Dunkel des jungen
Boris Johnson ringt mit sich Polit-Hallodri Boris Johnson ist Favorit Universums zu bringen . . . . 108
und anderen um die Nachfolge für die Nachfolge der britischen Regierungschefin
von Theresa May . . . . . . . . . . . 82
Theresa May. Mit ihm würde ein harter Brexit
Kultur
SPIEGEL-Gespräch mit wahrscheinlicher. Aber der Volksverführer war schon
Oxford-Professor Danny immer für eine radikale Wendung gut. Seite 82 Mystery-Thriller »Burning« /
Dorling über die Schuld Der Schauspieler Joachim
der britischen Eliten am Meyerhoff wechselt nach
Brexit-Desaster . . . . . . . . . . . . . 84 Berlin / Kolumne: Zur Zeit 110

Analyse Kann es der gestürzte Gleichgewicht des Schreckens Hochstapler Die Bloggerin
Kanzler Sebastian Kurz Marie Sophie Hingst hat sich
zurück ins Amt schaffen? . . . 87 In den USA ist von einem neuen Kalten Krieg eine jüdische Familiengeschich-
die Rede: Seitdem Präsident Trump den te erfunden – inklusive falscher
USA Die Demokraten streiten, Opferdokumente, die sie
ob ein Amtsenthebungsverfah-
Technologieriesen Huawei von Teilen des US-Marktes in Yad Vashem einreichte 112
ren gegen Trump ihnen helfen ausgeschlossen hat, eskaliert der Kampf der
oder schaden würde . . . . . . . . 88 Wirtschaftsmächte Washington und Peking. Seite 70 Literatur Düsterer Roman des
russischen Schriftstellers
Emanzipation Warum Hunderte Jewgeni Wodolaskin über das
arabische Frauen jedes sowjetische Jahrhundert . . . 116
Jahr vor ihrer Familie aus den
Golfstaaten fliehen . . . . . . . . . 90 Ausstellungen Eine umfassende
Schau widmet sich der
neuen Welt der Drohnen 118
Sport
ILJA C. HENDEL / DER SPIEGEL

Kunstmarkt Johann König


Ansturm auf den Mount ist fast blind – und einer
Everest / Magische Momente: der erfolgreichsten deutschen
Trainer Ljubomir Vranjes über Galeristen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
ein perfektes Handballspiel 93
Filmkritik Die französische
Sommerspiele Olympia-Gast- Gesellschaftskomödie
geber Tokio leidet unter »Zwischen den Zeilen« . . . . 123
der Explosion der Kosten . . . 94 Auf Ökokurs
Fußball SPIEGEL-Gespräch Kreuzfahrtreedereien wollen sich vom Stigma Bestseller . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
mit Bayern-München-Vorstand des Umweltschädlings befreien, helfen sollen Impressum, Leserservice . . . 124
Karl-Heinz Rummenigge über Nachrufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
den Umgang mit Trainer
Hybridantriebe und Biogas als klimafreundlicher Personalien . . . . . . . . . . . . . . . . 126
Niko Kovač und die Zukunft Kraftstoff. Doch die Technik ist sehr Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
der Bundesliga . . . . . . . . . . . . . 96 teuer – und noch lange nicht ausgereift. Seite 102 Hohlspiegel / Rückspiegel . . . 130

Titelfoto: Nick Harwart für den SPIEGEL; von links: Simon Sumbert, Josy Zülke, YouTuber Rezo, YouTuberin Mirella, Sophie Thomas 7
Das deutsche Nachrichten-Magazin

Klimawandel
Leitartikel Sind die Grünen die neue SPD?

E
s gehört zum Drama der SPD, dass sie nicht aus ih- Insofern ist der Erfolg der Grünen verdient. Sie sind
ren Fehlern lernt. Der Aufstieg der Grünen Anfang die einzige Partei, die beim Thema Klimaschutz nicht
der Achtzigerjahre ist nicht denkbar ohne einen gewackelt hat, sie waren konsequent proeuropäisch, sie
Bundeskanzler Helmut Schmidt, dessen Glaube an zeigten eine Geschlossenheit, die man so zuletzt vor Jahr-
die abschreckende Wirkung von nuklearen Sprengköpfen zehnten in der Hessen-CDU bewundern durfte. Wird der
nur noch übertroffen wurde von der Zuversicht, dass Atom- Erfolg andauern? Es ist noch nicht ausgemacht, ob die
kraftwerke der Republik eine blühende Zukunft bescheren. Republik auf die Geburt einer neuen linken Volkspartei
Wer sich vor strahlendem Müll oder Havarien fürchtete, blickt – oder auf das Entstehen einer politischen Spekula-
dem sagte Schmidt einmal: Nichts im Leben sei ohne Risiko, tionsblase. Im Bund sitzen die Grünen seit mehr als 13 Jah-
»nicht einmal die Liebe«. Schmidt hat viele Verdienste, aber ren in der Opposition. Das erlaubt ihnen, jede Fantasie zu
mit seiner beeindruckenden Ignoranz für die Gefahren der bedienen. Wer sein Umweltgewissen nach einem Flug auf
Umweltzerstörung verprellte die Seychellen erleichtern
er eine ganze Generation will, wählt die Partei genau-
und wurde, wenn auch un- so wie Klimaaktivisten, die
freiwillig, zum Gründungs- in jedem Rinderfilet ein Ver-
vater der Ökopartei. Das gehen an künftigen Genera-
Jahr 1983 markierte die erste tionen sehen. Sie alle finden
große Zäsur in der Geschich- bei den Grünen gerade eine
te der deutschen Parteien- Heimat.
landschaft, damals zogen die Die einen blicken auf
Grünen in den Bundestag den grünen Ministerpräsi-
ein. Die Europawahl des Jah- denten Winfried Kretsch-
res 2019 ist wieder ein Wen- mann, der die SUV-Produ-
depunkt: Erstmals haben die zenten Daimler und Por-
ADAM BERRY / GETTY IMAGES

Grünen in einer bundeswei- sche im Südwesten hegt und


ten Wahl die SPD überholt. pflegt wie einen Kräuter-
Der Niedergang der SPD garten. Die anderen halten
hat viele Gründe: Da wäre sich an dem Satz von Partei-
Gerhard Schröder, der im chef Robert Habeck fest,
Frühsommer 2005 die Ner- wonach »radikal das neue
ven verlor und Neuwahlen Grünenpolitiker nach der Europawahl Realistisch« sei.
ankündigte, sodass seine Die SPD wird zerrieben
Nachfolgerin Angela Merkel von ihren inneren Wider-
die Früchte seiner Reformen ernten konnte. Da wäre die sprüchen. Den Grünen steht der Tag der Wahrheit noch
pathologische Neigung, die eigene Führung zu diskredi- bevor. In der Vergangenheit waren ihre Wähler durchaus
tieren, was sich gerade wieder am Umgang mit Andrea nachsichtig, wenn es darum ging, das Wahlprogramm an
Nahles zeigt. Vor allem aber wird die SPD aufgerieben die Realität anzupassen. Die Grünen gründeten sich als
zwischen einer AfD, die von der Angst vor Überfremdung Partei des Pazifismus und schickten dann unter Gerhard
profitiert, und den Grünen, die zur neuen Heimat des städ- Schröder die ersten Bundeswehrsoldaten in den Krieg.
tischen, aufgeklärten Publikums geworden sind. In Hessen gaben sie – Klimawandel hin oder her – ihren
Natürlich ist es nicht mehr so einfach wie in den Zeiten Widerstand gegen den Bau eines dritten Terminals am
Willy Brandts, den Bogen vom Kohlekumpel in Duisburg Frankfurter Flughafen auf.
bis zum Oberstudienrat in Freiburg zu spannen – schon Nun aber profitieren sie von einer Bewegung, die ihre
allein weil der Kumpel von damals heute Päckchen für Kraft aus der Dringlichkeit des Anliegens zieht. Wer darf
Amazon ausfährt, während der Freiburger Oberstudienrat noch Kompromisse machen, wenn das Haus schon in Flam-
nun die Grünen als intellektueller erscheinende Alternative men steht, wie Greta Thunberg meint? Die Grünenspitze
hat. Die Fragmentierung der Gesellschaft setzt beiden wird sich nicht mehr damit herausreden können, dass eine
Volksparteien zu. Aber die SPD hat ein morbides Talent, kleine Partei eben nur ein Korrektiv sei. Manche glauben
in schweren Zeiten auch die wenigen Chancen zu verspie- bereits, die Grünen könnten den nächsten Kanzler oder die
len, die sich ihr bieten. Zu Beginn der Legislaturperiode nächste Kanzlerin stellen. Aber sie wären nicht die Ersten,
besetzte sie das Umweltressort mit Svenja Schulze. Kaum die zum Opfer jener Erwartungen werden, die sie selbst
im Amt, wurde die Ministerin zur tragischen Figur, weil sie geweckt haben. René Pfister
gegen Wände lief, die ihre eigene Partei mit errichtet hatte. Twitter: @rene_pfister

8 DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019


kfw.de

hhaltigen
Mehr zum nac
der KfW:
Engagement
es/plastik
kfw.de/stori

Weiterdenker bekämpfen künstliche


Feinde: Tüten, Becher, Folien.
Die KfW fördert nachhaltige Projekte zur Reduzierung von Plastikmüll. Durch die Finanzierung
von Meeresschutzzonen und innovativem Abfallmanagement leistet die KfW einen wichtigen Beitrag gegen
die Verschmutzung der Meere. Schließlich bieten sie Nahrung für zwei Milliarden Menschen und sind von
elementarer Bedeutung für unser Klima und die Artenvielfalt. Plastik gefährdet dieses sensible Ökosystem –
und damit uns alle. Als nachhaltige und moderne Förderbank unterstützt die KfW Weiterdenker, die
zukunsweisende Lösungen zur Abfallvermeidung, -verwertung und -entsorgung in die Tat umsetzen.
Weitere Informationen unter kfw.de/stories/plastik
Meinung So gesehen

LOL @AKK
Markus Feldenkirchen Der gesunde Menschenverstand
Wie die CDU das Internet
regeln möchte
Dalai Habeck G Zur Vermeidung allgemeiner Kom-
munikationskatastrophen (AKK)
Nach dem guten Abschnei- Selbst Rosamunde Pilcher wäre bei sol- und zur Wiederherstellung langfristi-
den der Grünen bei der chen Sätzen übel geworden. ger Loyalität (LOL) zur Parteivorsit-
Europawahl haben die Verliebt zu sein ist ein wunderbares zenden ergehen folgende klarstellen-
Robert-Habeck-Festspiele Gefühl, ich gönne es jedem. Idealer- de Weisungen an alle Gliederungen
im deutschen Journalis- weise sollte man Berufliches und Priva- der Christlich Demokratischen Union
mus einen neuen Höhe- tes aber trennen. Jedenfalls müssen Deutschlands (CDU) bezüglich
punkt erreicht. »Was ist dieser Journalisten nicht gleich hinaustrompe- der Regulierung von Meinungsäuße-
Habeck-Faktor?«, fragte verzückt die ten, wenn sie sich verknallt haben. rungen im Internet vor Wahlen, ja
»Süddeutsche«. »Ist der nächste Kanz- Geht es um die Grünen, ist nicht nur oder nein:
ler ein Grüner?«, die »WAZ«. Der eine Verkitschung, sondern auch eine 1. Die CDU ist für die Meinungs-
»Stern« machte seinen Traum vom Infantilisierung der Berichterstattung freiheit, allerdings sind nicht alle
»Kanzler Habeck« gar zum Titel und zu beobachten. Zum Beispiel wenn die Meinungen gleich wertvoll. Unsere
bereicherte die Debatte um neue Argu- Kollegen von »Bild am Sonntag« eine in den Gremien abgestimmte For-
mente (»trennt den Müll, grüßt im Nachrichtenfassung eines Habeck- derung hierzu lautet daher: Internet-
Treppenhaus«). Habeck wird in deut- Interviews (mit Sperrfrist) verschicken, meinungen hierarchisch ordnen
schen Medien inzwischen alles zuge- in der, ohne Quatsch jetzt, folgende (IMHO)!
traut. Geht es so weiter, wird er bald Überschriften stehen: »Grünen-Chef
als US-Präsident ins Spiel gebracht. Habeck muss seit der Geburt seiner
Oder wenigstens als Dalai-Lama. Kinder bei kitschigen Filmen weinen«.
Schon vor der Europawahl konnten Und: »Für das Styling seiner Frisur
die Grünen nicht über einen Mangel braucht er ›zwei Sekunden‹«.
an Zuneigung klagen. »Er strahlt eine Die Grünen haben bei der Europa-
stabile Kuhwärme aus«, lobte die wahl 20,5 Prozent geholt, sie sind nun
»Süddeutsche« Habeck. Von einem zweitstärkste Kraft. Sie haben sich eine
»grünen Traumpaar« an der Spitze erwachsene Berichterstattung redlich
schwärmte die »taz«. Der »Stern« wur- verdient: einen Journalismus, der Fra-
de konkreter: »Als Annalena Baerbock gen an ihre Inhalte hat, gern auch kriti-
sich zum Paartanz mit Robert Habeck sche – und nicht zu ihrer Frisur oder 2. IMHO wird durchgeführt
entschied, war das wie ein Trommel- ihrem Grußverhalten im Treppenhaus. von neu zu gründenden subnationa-
wirbel, so unkonventionell, so uner- len Anstalten für Überwachung
schrocken und entschlossen, dass viele An dieser Stelle schreiben Jan Fleischhauer und (SNAFU). Vornehmlich sollen hier
spürten: Da fängt etwas Neues an.« Markus Feldenkirchen im Wechsel. junge Menschen Anstellung finden,
denn, so unsere zweite Forderung:
Wir wollen ihre werthaltige Teilhabe
fördern (WTF)!
3. Aus rechtlichen Gründen ist
stets darauf hinzuweisen, dass es sich
bei der Umsetzung von IMHO und
SNAFU mangels Kompatibilität mit
dem Grundgesetz um eine »Rege-
lung ohne festen Legalitätsbezug«
(ROFL) handelt.
4. Studien belegen, dass junge
Leute im Internet besonders gut mit
Abkürzungen zu erreichen sind.
Zur flächendeckenden Verbreitung
unserer Haltung in der jungen
Generation schreiben (»posten«)
alle Gliederungen der CDU unver-
züglich auf allen verfügbaren Kanä-
len folgende internetaffine Botschaft:
»CDU: IMHO SNAFU! Junge Leute
WTF! ROFL LOL @AKK«.
5. Bitte vergessen Sie nicht, das
Internet nach Benutzung ordnungs-
gemäß abzuschalten. Stefan Kuzmany

10 DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019


Jugendrevolten Aktivisten Thunberg (M.), Neubauer
(3. v. r.) auf Klima-Demo in Berlin 2019, Studentenführer
Dutschke auf Vietnam-Demo in Berlin 1968
STEFAN BONESS / IPON

Titel

Kinder der Apokalypse


Bewegungen Die Europawahl war nur der Anfang: Eine junge, politische,
lautstarke Generation macht das Klima zur neuen sozialen Frage.
Wie die 68er wollen die Protestierenden den radikalen Wandel – und das
Netz macht sie wirkmächtiger als ihre Vorgänger.

12
E
s gibt ein Foto, das Ende März Koch verglich die Klima-Demos mit dem
bei einer »Fridays for Future«-De- Einzug Jesu in Jerusalem, Greta in der Rol-
monstration in Berlin aufgenom- le von Jesus Christus. Andere feiern sie
men wurde. Zu sehen sind junge als eine neue Jeanne d’Arc, stark in ihrer
Leute, auffallend mehr Mädchen als Jungs, Schwäche, weise in ihrer Naivität.
die Münder sind weit geöffnet, sie schreien Demonstrationen können Spaß machen,
Slogans, ein paar von ihnen haben noch sie können Feste der Ekstase sein, manch-
Zahnspangen. Ein Mädchen hat, so wirkt mal auch Exzesse der Gewalt, aber dieses
es zumindest, voller Inbrunst die Augen Bild zeigt keine Fröhlichkeit, keine Lust
geschlossen. Vor sich her tragen sie ein an der Rebellion oder der Gewalt, sondern
Spruchband: »Our house is on fire.« Unser eher einen Moment der Verzweiflung, der
Haus brennt. Angst und Ohnmacht, der existenziellen
Nur eine der Demonstrantinnen scheint Bedrohung: Diese Welt muss gerettet wer-
nicht so richtig dazuzugehören, sie ist klei- den, unbedingt und absolut und sofort.
ner als alle anderen. Sie bildet das Zen- 25 000 Menschen nahmen im März an
trum des Bildes. Wie sie da so steht, mit- dieser Demonstration teil, es war ein
tendrin und doch allein, erinnert es ein we- machtvoller Auftritt, aber herrje, es waren
nig an Leonardo da Vincis Gemälde »Das ja nur Kinder. Jetzt jedoch, nach diesem
Abendmahl«. Ihr Blick ist abgewandt, ihr europäischen Wahlsonntag, wirkt dieses
Mund geschlossen, das Haar zu Zöpfen ge- Foto anders – als Prophezeiung und Mani-
flochten. Es ist Greta Thunberg mit ihrem festation einer neuer Protestbewegung, die
Greta-Thunberg-Gesicht, erhaben und ent- mit großer Wucht und Schnelligkeit das
rückt und fremdelnd und auch ein wenig Parteiensystem durcheinanderwirbelt und
spöttisch in ihrer heiligen Ernsthaftigkeit: deren Radikalität größere Antworten for-
Das hier, sagt dieses Gesicht, ist nur der dert als irgendeine CO²-Steuer oder ein
Anfang, und besser ist, ihr glaubt mir. mühsam in der Großen Koalition beschlos-
Es kann einem viel einfallen zu Greta senes Klimaschutzgesetz.
Thunberg. Der Berliner Erzbischof Heiner This house is on fire. Und dieses Land
nun auch.
Es gibt ein Bild von Rudi Dutschke, das
1968 bei einer Vietnamdemonstration in
Berlin aufgenommen wurde. Dutschke
trägt einen Helm in der einen Hand, in der
anderen lustigerweise eine Aktentasche,
als ob der Wortführer der Studenten nach
der Revolution noch ins Büro müsste. Er
läuft vorweg, angriffslustig, hinter ihm die
Reihen der jungen Männer, es sind fast aus-
schließlich Männer, die sich unterhaken.
Man hört sie geradezu laut rufen auf die-
sem Foto: Ho, Ho, Ho Chi Minh. Ein Foto,
das Geschichte erzählt, vom Aufbruch und
vom radikalen Umbau einer Gesellschaft,
es ist die Geschichte von der Neuerfindung
eines Landes. Das Dutschke-Foto erzählt:
So war das damals im Februar 1968.
Und so ist das nun im Frühjahr 2019.
Die Analogie zu 1968 ist noch relativ
frisch. Alte Fahrensmänner des Protests
wie der Ur-Grüne Ralf Fücks, er ist Jahr-
gang 1951, war also erst 17, als die Straße
erobert wurde, sehen die Ähnlichkeiten.
Er betreibt heute einen Thinktank in
WOLFGANG KUNZ / ULLSTEIN BILD

Berlin und war einer der Ersten, die sich


an 1968 erinnert fühlten. Und es waren
Hamburger Aktivisten von »Fridays for
Future«, die sich vor ein paar Wochen
selbst als Nachfolger der 68er-Generation
ausriefen.
Eigentlich gehört es zur Folklore dieses
Landes, ein neues 68 auszurufen, wann
immer eine Generation junger Leute auf
die Straße geht. Das war so bei den Pro-
testen gegen die Atomkraft und bei den

DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 13


Titel

Friedensdemonstrationen der Achtziger- weich, klug, zurückhaltend, so seltsam das Frage sein, wie sehr man auf den Erfin-
jahre, auch wenn die eher ein Ausläufer bei YouTube-Größen klingen mag. Er dungsreichtum der Menschheit baut und
der 68er waren. Oder bei der Attac-Bewe- wirkt durch die Effekte des Netzes, die ei- der Idee von Fortschritt vertraut. Aber
gung, die in den Nullerjahren gegen die nem Menschen ohne Funktion und Titel wahrscheinlich ist es das Recht der Jugend,
Globalisierung und den Kapitalismus auf- über Nacht ungeheure Macht geben kön- radikal zu sein und in Panik zu verfallen.
begehrte, aber genauso schnell wieder ver- nen. Mit einem Schlag gab er die CDU der In elf Jahren geht die Welt unter.
gessen wurde wie die »Occupy«-Bewe- Lächerlichkeit preis. Sie spricht weder die Es gab 68er, die ernsthaft glaubten, in
gung, die nach der Finanzkrise entstanden Sprache der Jugend, noch versteht sie die einem faschistischen Staat zu leben. An-
war. Die Suche nach den Nachfolgern von Kanäle, durch die diese Generation kom- ders aber als die Altvorderen, die eher Kin-
68 ist Ausdruck eines Wunschdenkens, ei- muniziert, sich organisiert. Die Effekte des der des Aufbruchs waren, sind die 19er die
ner Hoffnung, dass sich endlich etwas tut. Netzes sind es, die diese Generation so Kinder der Apokalypse, aufgewachsen in
Wahrscheinlich gibt es eine Art inneren schnell so stark und mächtig machen wie einem verrückten Jahrzehnt. Einem Jahr-
Drang, die Geschichte als Abfolge von keine zuvor. zehnt, das mit einer weltweiten Finanz-
Generationen zu erfassen, als einen sich Wenn die 68er den Aufstand gegen die krise und Rezession begann. Einem Jahr-
immer neu aufladenden Konflikt der Jun- Naziväter wagten, eine Rebellion gegen zehnt, in dem die Flüchtlingskrise von
gen gegen die Alten. Aber als sich im ver- die autoritären Strukturen der Nachkriegs- 2015 einen rechten Populismus produzier-
gangenen Jahr der Protest von 68 zum zeit, gegen den Muff und den Kleingeist te, eine Krise, die die Demokratien des
50. Mal jährte, blieb es seltsam still. Keine der Wirtschaftswunderjahre, und das alles Westens eher von innen als von außen
Feier der Revolte mehr und auch kein gro- auch ein Schrei war, nach Freiheit und bedroht. Einem Jahrzehnt, in dem ein neu
ßes Klagen über eine Jugend, die anschei- mehr Demokratie und mehr Sex, wer ge- gewählter amerikanischer Präsident sein
nend nichts will und nichts tut. nau sind dann die 2019er? Woher kommen Land in den Irrsinn treibt. Einem Jahr-
Millennials nennt man die Generation sie auf einmal – kamen sie überhaupt so zehnt, in dem die sexuellen Gewalttätig-
der jüngeren Leute, die ab den frühen überraschend, wie es vielen scheint? Und keiten eines amerikanischen Filmprodu-
Achtzigerjahren geboren wurden. Sie ha- können sie dieses Land, vielleicht den gan- zenten einen neuen Feminismus erzeugte,
ben nicht den besten Ruf. Sie galten als zen Westen, verändern? der Männlichkeit als solche infrage stellt.
ambitionslos, als ein wenig narzisstisch in Einem Jahrzehnt, in dem die digitale Tech-
ihrer angeblich dauerhaften Selbstbespie- Manchmal ist es nur eine Erkenntnis, die nologie eine neue Art von Öffentlichkeit
gelung und vor allen Dingen als desinte- alles in Gang bringt. Ein kleiner Satz, ein hat entstehen lassen, die neben viel Wissen
ressiert an politischen Prozessen und En- kurzer Fakt, eine kühne Prognose. In die- und Information und Austausch auch Hass
gagements. Es gibt auch schon eine Nach- sem Fall lautet dieser Satz: Entweder die und Fake News und Empörung im Über-
folgegeneration, Generation Z wird sie CO²-Emissionen sinken dramatisch bis maß produziert.
genannt oder auch iGen. Das sind die Jahr- 2030, oder die Welt wird nicht mehr zu Man muss weder besonders jung noch
gänge ab Ende der Neunzigerjahre. retten sein. besonders alt sein, um das alles ziemlich
Es ist die erste Generation, die mit dem Der Meeresspiegel steigt jetzt schon, Ex- beunruhigend zu finden.
Smartphone aufgewachsen ist, und auch tremwetter werden häufiger, Landstriche Angesichts der globalen, technologi-
sie hatte bislang keinen besonders guten werden nicht mehr bewohnbar sein, Hun- schen und gesellschaftlichen Umbrüche
Leumund: Teenager, die den ganzen Tag derte Millionen Menschen könnten in den wäre es eher erstaunlich, wenn es das nicht
am Handy daddeln oder Selfies auf Insta- Jahrzehnten danach ihre Heimat verlieren gäbe, eine überall in der westlichen Welt
gram posten. und sich auf die Flucht begeben. vorzufindende Protestbewegung, die eher
Und nun das – diese Jugend steht auf, Es ist ein ziemlich steiler Satz, er beruht weiblich ist und links, eher jung und digital
und sie hat Galionsfiguren, in denen sich auf Modellrechnungen einer höchst kom- und feministisch, gegen Rassismus und für
ihre Träume, Ängste, Wünsche bündeln: plexen Wissenschaft. Die Frage ist natür- Gerechtigkeit. Jede Ära hat den Protest,
Greta Thunberg, die 16 Jahre alt ist, in nur lich, wie absolut dieser Satz ist und was den sie verdient.
wenigen Monaten weltberühmt wurde, man aus ihm macht. Es könnte auch eine
vor dem Weltwirtschaftsforum in Davos Es ist schwierig, Greta Thunberg nahe-
spricht, vom Papst empfangen wird, für zukommen. Sie tut sich schwer im Um-
den Friedensnobelpreis vorgeschlagen ist 31 Grüne Verheißung gang mit Menschen. Vor ein paar Wochen
und Hunderttausende junge Menschen Wahlergebnis bei der Europawahl ist in Deutschland ein Buch über die Ge-
unter den 18- bis 29-Jährigen,
mobilisiert. Luisa Neubauer, 23 Jahre alt, in Prozent schichte der Familie Thunberg erschienen.
Mitinitiatorin der deutschen »Fridays for Es ist ein Selbstporträt. Geschrieben hat
Future«-Demos, so schlau und rhetorisch es Gretas Mutter Malena Ernman, im Na-
geschickt, dass Berufspolitiker wie CDU- men ihrer beiden Töchter und ihres Ehe-
Wirtschaftsminister Peter Altmaier im manns. »Szenen aus dem Herzen – Unser
Schlagabtausch (SPIEGEL 12/2019) nicht Leben für das Klima« heißt es.
gut aussehen. Die Thunbergs sind eine moderne
Und dann Rezo, keine 30 Jahre alt, In- 14 schwedische Familie mit den modernsten
formatiker und YouTuber aus Aachen, des- Ansichten in einem der modernsten Län-
sen Video »Die Zerstörung der CDU« über der dieser Welt. Was nicht heißen muss,
9
das Versagen der Volksparteien in der Kli- 8 dass man unbedingt mit ihnen tauschen
mapolitik kurz vor der Europawahl veröf- 7 7 7 möchte. Denn ihre Geschichte ist auch
fentlicht und fast 14 Millionen Mal ange- ein modernes Martyrium, die Geschichte
Zum Vergleich: Ergebnis in allen Altersgruppen
klickt wird. Es hat wohl dazu beigetragen, einer Überforderung, eines Leidens an
die Grünen zum Gewinner der Europa- 20,5 28,9 15,8 5,4 2,4 5,5 11,0 der Welt.
wahl in Deutschland zu machen. Die Mutter ist Opernsängerin, Ehe-
Grüne CDU/ SPD FDP Die Linke AfD
Rezo war Tage nach der Wahl ver- CSU Partei mann Svante Schauspieler und Produzent.
schwunden, der SPIEGEL hat ihn am Mitt- Sie besaßen einen Volvo, sind aufgewach-
woch aufgetrieben, einen jungen Mann, Quelle: Forschungsgruppe Wahlen Sonstige: 17 sen im liberalen Geist der Sechzigerjahre,

14
steigen und die Atmosphäre in eine gigan-
tische unsichtbare Müllhalde verwandeln.
Sie ist das Kind, wir sind der Kaiser. Und
wir sind alle nackt.«
Der Klimawandel, der Landstriche ver-
dorren und pazifische Inseln untergehen
lässt, die Stresserkrankungen, die Unge-
rechtigkeiten dieser Welt, die Krisen un-
serer ökonomischen und politischen Sys-
teme, die immer längeren Schlangen vor
den Kinder- und Jugendpsychiatrien, sie
alle seien Teil einer großen Nachhaltig-
keitskrise, die »zum Kern des Gesundheits-
zustands der Menschen« führe.
Wir alle sind krank, lautet die Diagnose,
sind Opfer einer falschen Welt, die wir uns
erschaffen haben. Und Greta ist das Kind
der Apokalypse, vor der sich die Mensch-
heit nur retten kann, wenn aus einem Mäd-
chen wie Greta, einem Opfer, eine Heldin
wird.
Die Geschichte der Thunbergs ist eine
moderne Erlösungsgeschichte, in der erst
die Krankheit dafür sorgt, dass Menschen
die Dinge so sehen, wie sie sind. Was rich-
tig ist und was falsch: Flugzeuge benutzen,
Volvo fahren, Fleisch essen, Kohlekraft-
werke laufen lassen, weil sie Arbeitsplätze
sichern – also all das, was zum Lebensstil
der Elterngeneration gehört.

»Die jungen Menschen«, sagt der Münch-


ner Soziologe Armin Nassehi, »kämpfen
heute nicht gegen ihre Eltern, sie versu-
chen, die Eltern auf ihre Seite zu ziehen
und mit ihnen gemeinsam zu kämpfen.«
Sie mahnen ihre Väter, nicht mehr mit dem
SUV zum Biosupermarkt zu fahren. Sie
fordern ihre Mütter auf, für Dienstreisen
NICK HARWART / DER SPIEGEL

auch mal die Bahn zu nehmen. Eben darin


liegt für Nassehi die Symbolkraft
der Geschichte Greta Thunbergs:
Dass sie als Erste ihre Eltern über-
Der YouTuber Rezo, Informatiker aus Aachen. zeugt hat – und nun mithilfe ihrer
Sein Video zur CDU wurde fast 14 Millionen Mal Eltern den Rest der Welt bekeh-
angeklickt. Er sagt: »Ich bin kein Aktivist.« ren will.
Viele der 68er sind auf die Stra-
sie reisten um die Welt, die ße gegangen und haben es genos-
Mutter ist Mitglied der Königlich sen, sich als Bürgerschreck zu in-
Schwedischen Musikakademie, szenieren. Es war Teil ihrer Stra-
sie besuchten klassische Konzerte in Ber- die alles richtig machen wollten, auch tegie, der Fachbegriff: subversive Aktion.
lin, und als Malena mit Greta schwanger nicht, und so entschieden sich die Thun- »Die jungen Aktivisten wollen kein Bür-
wurde, entschied sich Svante, Hausmann bergs, die Welt dort draußen zur Verant- gerschreck sein«, sagt Nassehi. »Der Bür-
zu werden. wortung zu ziehen: den schwedischen So- gerschreck kommt heute eher von rechts.«
Sie machten alles richtig, dann kam Gre- zialstaat, der versagt, eine Gesellschaft, Früher griffen Jugendliche ihre Eltern
ta in die fünfte Klasse und entwickelte eine die krank ist, eine Welt, die aus den Fugen an, deren politische Überzeugungen, Wert-
Essstörung. Nachdem sie eine Dokumen- geraten ist. »Greta«, schreibt ihre Mutter, vorstellungen, Lebensweisen. Sie entwi-
tation über eine riesige Plastikansamm- »hat eine Diagnose gestellt bekommen, ckelten ihre eigene Identität in Abgren-
lung gesehen hatte, die im Südpazifik aber das schließt nicht aus, dass sie recht zung zu Vater und Mutter. Zum Mythos
treibt, größer als Mexiko, wurde sie de- hat und wir anderen so falschliegen, wie der 68er-Generation gehört es, dass sie da-
pressiv. Die Diagnose für das aus der Bahn man nur falschliegen kann.« Greta sehe rin besonders radikal war. Junge Men-
geworfene junge Mädchen: Asperger-Syn- Dinge, die andere nicht sehen wollten. Das schen heute verstehen sich besser mit ih-
drom, hochfunktionaler Autismus, Zwangs- Mädchen gehöre zu den wenigen, die ren Eltern. Der Erziehungsstil ist nicht
störungen mit perfektionistischem An- unsere Kohlendioxide mit bloßem Auge mehr autoritär, sondern verhandlungsba-
spruch. erkennen könnten. »Sie sieht, wie die siert, Papa und Mama als beste Freunde.
Irgendjemand muss Schuld haben. Das Treibhausgase aus unseren Schornsteinen Wie schon andere Proteste kritisiert
Kind kann es nicht sein, die Eltern selbst, strömen, mit dem Wind in den Himmel auch der aktuelle Aufstand der Jugend die

DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 15


Titel

bestehenden Verhältnisse – und wird als Und die Rüge geht weiter. »In der einen hungswissenschaftlerin an der Universität
Kampf gegen tief empfundenes Unrecht Sekunde sagen Politiker: ›Der Klimawan- Hildesheim. »Der Protest wird innerfami-
legitimiert. Neu hingegen ist die Reaktion del ist wichtig, wir tun alles Denkbare, um liär und gesamtgesellschaftlich nicht als
der Eltern, der Lehrer und der etablierten ihn aufzuhalten.‹ Im nächsten Augenblick Generationenkonflikt ausgetragen, son-
bürgerlich-akademischen Kreise, die ihre aber wollen sie Flughäfen erweitern, neue dern ins Abstrakte ausgelagert: Die Politi-
aufständischen Kinder unterstützen und Kohlekraftwerke errichten, mehr Autobah- ker haben die großen Themen verschlafen,
gern auch Entschuldigungen für die Schule nen bauen, und die Firmenchefs fliegen die etablierten Parteien sind erstarrt.«
schreiben, wenn das Kind am Freitag de- im Privatjet zu ihren Meetings am anderen Manche, die früher für Frieden und gegen
monstrieren geht. Obwohl der Protest die Ende der Welt. So handelt man nicht in Atomraketen demonstriert haben, sähen
Lebensweise und den Konsum der Eltern- einer Krise!« sich gewissermaßen selbst wieder protes-
generation in Zweifel zieht, fühlen sich die Sie spricht zehn Minuten lang, genau so tieren. In Greta Thunbergs Familie, aber
Alten nur selten angegriffen. Dabei ist die hat es das Programm vorgesehen. Kaum auch in weniger prominenten Familien be-
Anklage der Jungen fundamental: Ihr zer- ist das letzte Wort gesprochen, läuft Thun- obachten Eltern wohlwollend, wie ihr
stört unsere Zukunft! berg von der Bühne, klettert auf ihren Stuhl, Kind nun eine Idee des Politischen entwi-
versinkt hinter der massigen Schulter ckelt, als wichtigen Entwicklungsschritt
Dass es trotzdem funktioniert, sah man Schwarzeneggers. »Greta«, ruft die Mode- auf dem Weg zu einer eigenständigen Per-
am vergangenen Dienstagmorgen, 10.20 ratorin von der Bühne, »wenn du dich um- sönlichkeit. Sie fühlten sich in ihrem Er-
Uhr, Hofburg Wien, Klimagipfel R20 Aus- drehst, kannst du sehen, dass alle Menschen ziehungsbemühen bestätigt: aufgeklärte
trian World Summit. Greta Thunberg sitzt hier im Saal für dich aufgestanden sind.« Eltern, die engagierte, couragierte und
bei dieser Veranstaltung in der ersten Rei- Doch Greta dreht sich nicht um. selbstbestimmte Kinder großziehen. De-
he, zu ihrer Linken: Arnold Schwarzen- »Diese breite Unterstützung ist erstaun- ren Protest sei der Nachweis des eigenen
egger, der die Konferenz organisiert hat. lich«, sagt Meike Sophia Baader, Erzie- Erfolgs.
Zu ihrer Rechten: Alexander Auch dass so viele Mädchen bei dem
Van der Bellen, Österreichs Bun- Aufstand den Ton angeben, lasse sich als
despräsident, der gekommen ist, Folge einer Post-68er-Erziehung interpre-
obwohl er zurzeit andere Sorgen tieren, sagt Baader. »Darin spiegelt sich
haben dürfte: »Ich danke dir für die Überzeugung, dass man Mädchen stär-
die Hoffnung, die du in so vielen ken müsse, damit sie einen gleichberech-
von uns geweckt hast«, sagt Van tigten Platz in der Gesellschaft einnehmen.
der Bellen in seinem Grußwort, Nun bestimmen sie als Aktivistinnen die
es gilt der jungen Schwedin. Richtung des Protests. Die Mädchen ha-
Der Österreichische Rundfunk ben den Klimawandel auch als ein soziales
überträgt, es gibt einen Live- Thema auf die Agenda der öffentlichen
stream im Internet. Die Kamera Aufmerksamkeit gesetzt.«
schwenkt zu Thunberg, die Es ist ein Aufstand, der keineswegs aus
schaut ruhig geradeaus, das dem Nichts kam. Ulrich Schneekloth, Mit-
Greta-Thunberg-Gesicht. Autor der »Shell Jugendstudien«, beob-
Schwarzenegger hatte sie
nach Wien eingeladen. Am
Abend zuvor twitterte er, er sei
»starstruck«, fasziniert nach ei-
ner Begegnung mit ihr. Als wäre
GÜNTER ZINT / PANFOTO

nicht er der Hollywood-Promi,


sondern sie. Sehr viele der rund
1200 Menschen im Publikum
könnten Thunbergs Eltern, man-
che sogar ihre Großeltern sein.
Sie tragen randlose Brillen und
Doktortitel. »Hi«, begrüßt Thun-
berg ihre Zuhörer. Sie trägt Turnschuhe
und eine Bluse in Fuchsia. Uno-General-
sekretär António Guterres ist da, der As-
tronaut Scott Kelly. »Die meisten Men-
schen haben keine Ahnung, in welcher
Notlage wir uns befinden«, sagt sie. Sie
spricht langsam und deutlich, geschliffenes
Englisch mit skandinavischem Akzent.
Der Zettel in ihrer Hand zittert etwas.
»Viele von Ihnen hier im Saal sind Füh-
rungspersönlichkeiten. Hier sitzen Präsi-
denten, Politiker, Firmenchefs, Prominen-
te, Journalisten. Die Menschen hören Ih-
nen zu, sie werden von Ihnen beeinflusst. Das Erbe von 68 Protestierende Studenten in Paris
Deshalb tragen Sie eine gewaltige Ver- 1968, Familienbild der Thunbergs: Der Protest
antwortung. Und wenn wir ehrlich sind, der Kinder ist der Nachweis des eigenen Erfolgs.
haben die meisten von Ihnen diese Ver-
antwortung bisher nicht übernommen.«

16
Die Politikerin US-Demokratin Alexandria Ocasio-
achtet schon seit einigen Jahren Cortez, Idol mit fast viereinhalb Millionen
die Repolitisierung der Jugend – Followern auf Twitter: Ihre Partei braucht sie,
wenn man »Politik« nicht mit aber sie braucht ihre Partei kaum noch.
»Parteipolitik« gleichsetzt.
Die Mitgliederzahlen der Ju-
gendorganisationen der Parteien
gehen seit Jahren zurück, die
Wahlbeteiligung bei Studierendenparla-
menten ist seit Jahren extrem niedrig. 13
Prozent waren es zuletzt etwa an den Uni-
versitäten Köln, Greifswald und Hamburg,
an der FU Berlin nur magere 9 Prozent.
»Politisierung beginnt immer mit per-
sönlichem Betroffensein«, sagt Schnee-
kloth. Mit Flüchtlingen, die im Mittelmeer
ertrinken. Mit einem Eisbären in der Ark-
tis, dem die Eisscholle unter den Pfoten
wegschmilzt. Mit hungernden Kindern
nach Dürreperioden in Afrika. Doch die
etablierten Parteien sind kein Ort für
Betroffenheit. Erst mal Mitglied werden,
dann Netzwerke spinnen, einen Posten
ergattern und irgendwann vielleicht mal
etwas verändern. Genau das schreckt die
allermeisten jungen Leute ab.
Das Interesse an »Zukunftsthemen« sei
seit der letzten Shell-Studie 2015 noch ein-
mal gewachsen, sagt Schneekloth. Dass
Klimaschutz und Nachhaltigkeit an Be-
deutung gewonnen haben, liege an einer
gewissen ökonomischen Sorglosigkeit der
Jugend. »Es gibt eine Entlastung, was die
wirtschaftliche und soziale Situation jun-
ger Menschen angeht«, sagt Schneekloth.
»Sie fühlen sich sicherer – und deshalb ver-
lagert sich die Sorge von der Gegenwart
auf die Zukunft.«

JOSHUA ROBERTS / REUTERS


Es geht vielen nicht mehr so sehr um
Geldsorgen, um Jobs, um soziale Gerech-
tigkeit im herkömmlichen Sinn, ihr eigenes
Hier und Jetzt. Die Jungen stellen die Ge-
rechtigkeitsfrage neu. Im Mittelpunkt steht
nicht mehr die Umverteilung von Vermö-
gen. Im Mittelpunkt steht das Klima. Die
Klimafrage ist die neue Systemfrage.
Wie kaum jemand im Politikbetrieb ver- sio-Cortez sucht Zuspruch durch Likes, sie
Die Europawahl hat gezeigt, dass die Ge- körpert AOC, wie sie genannt wird, die hat sich eine mächtige Basis aufgebaut. Sie
neration YouTube die Agenda zunehmend Ungeduld der Millennials und, ja, auch de- ist ein Idol geworden, eine globale Marke:
prägt: Bei der Bundestagswahl 2017 stimm- ren Narzissmus. AOC.
ten noch 25 Prozent der 18- bis 29-Jährigen Ocasio-Cortez ist die perfekte Politike- Mitte Mai trat Ocasio-Cortez auf eine
für die Union. Bei der Europawahl waren rin des Digitalzeitalters, teils linke Aktivis- Bühne der Howard University in Washing-
es nur noch 14 Prozent. Die Grünen hin- tin, teils Entertainerin. Mit ihren fast vier- ton, um für den »Green New Deal« zu
gegen haben ihr Ergebnis in dieser Alters- einhalb Millionen Followern auf Twitter werben – ein Klimaschutzprojekt und
gruppe mit 31 Prozent fast verdreifacht. und dreieinhalb Millionen bei Instagram gleichzeitig ein gigantischer Investitions-
Junge Leute brauchen die Parteipolitik erreicht sie mehr Menschen als viele Fern- plan. Kritiker sagen, es sei das größte Ver-
längst nicht mehr, um sich Gehör zu ver- sehsender. Fast jeder ihrer öffentlichen staatlichungsprogramm in der Geschichte
schaffen. Das Internet ist die größte Bühne Auftritte wird von Kameras festgehalten der Vereinigten Staaten.
der Welt, YouTube, Instagram, Twitter. und verbreitet, und wenn nicht ihre An- An den Deal glauben viele ihrer Partei-
Themen, Mitstreiter, auch Vorbilder fin- hänger filmen, macht sie es selbst. freunde nicht, viel zu groß, unrealistisch.
den sich in aller Welt. Die Figur, die sie auf Twitter und Insta- Trotzdem werben etwa Präsidentschafts-
Die Amerikanerin Alexandria Ocasio- gram spielt, ist nahbar, unsicher bis ver- bewerber um ihre Unterstützung, denn
Cortez ist seit Januar mit 29 Jahren die letzlich, man kann sich mit der Ocasio- AOC hat die Jugend hinter sich, es ist fast,
jüngste Abgeordnete der US-Geschichte, Cortez im Netz leicht identifizieren. Sie als brauchte sie ihre Partei kaum noch –
sie spricht für eine trotzige Jugend. In nicht kocht Nudeln oder Suppe, fotografiert die Partei hingegen sie.
mal einem Jahr hat sie es geschafft, zur ihren Einkaufskorb oder teilt das Video Für deutsche Politiker, vor allem für sol-
politischen Ikone aufzusteigen, die eine eines älteren Mannes, der ein Lied über che von Union und SPD, hat sich bei der
Bewegung anführt – dank sozialer Medien. sie und gegen den Klimawandel singt. Oca- Europawahl einerseits gerächt, dass sie

DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 17


Neubauer ist Mitglied bei den Grünen.
Sie postet über den Klimawandel, aber
auch über Mikroplastik in Kosmetika; sie
ist in diversen anderen Netzwerken aktiv,
von proeuropäischen Aktionen bis hin zu
Naturschutzblogs. Sie ist schon um die
halbe Welt geflogen, hat etwa in Tansania
Wasserleitungen installiert. Wegen der
vielen Reisen verpassten Kritiker ihr den
Spitznamen »#LangstreckenLuisa«.
»Die Europawahl war eine Schicksals-
wahl für uns junge Menschen«, sagt Neu-
bauer. Schülern, die noch zu jung zum
Wählen waren, riet sie zu einem Deal mit
den Großeltern – diese sollten doch ihre
Enkel entscheiden lassen, wo sie ihr Kreuz
setzen. Sie machte dabei keine Werbung
für die Grünen, aber sie schrieb: »Wählt
für das Klima.« Und: »Lasst uns die Wahl-
beteiligung von jungen Menschen einfach
so krass nach oben ziehen, dass sich alle
umdrehen und wünschten, diese jungen
Menschen wären wieder so bequem passiv,
wenn es ums Wählen geht.«
So funktionieren soziale Medien: Ein
Trend wächst exponentiell, sobald andere
einsteigen, die wieder andere mitziehen.
Bis sogar Modebloggerinnen mitmachen:
Auf einmal schien ein blauer EU-Hoodie
das Must-have der Frühjahrskollektionen
zu sein.
Die Beauty-und-Fashion-Bloggerin Dia-
na zur Löwen – 751 000 Instagram-Follo-
MICHAEL KAPPELER / PICTURE ALLIANCE / DPA

wer – unterstützte die Kampagne des EU-


Parlaments #diesmalwähleich und veröf-
fentlichte mehrere Videos, in denen sie
ihre Zuschauer aufforderte, wählen zu
gehen – zwischen Videos über
Neuheiten der Drogeriekette DM.
Auch Mirella Precek, 25, You-
Tuberin des Kanals mit dem schö-
Die Studentin Luisa Neubauer, Mitorganisatorin
nen Namen »Mirellativegal«, die
der deutschen »Fridays for Future«-Proteste:
sich früher nur um Mode und Un-
Die Jungen stellen die Gerechtigkeitsfrage neu,
terhaltung kümmerte, beschäftigt
im Mittelpunkt steht das Klima.
sich inzwischen auch mit Natur-
kaum Zugang zu jungen Wählern schutz und solidarisierte sich mit
finden. Das gilt besonders für den Rezo. Sie habe sich inspiriert ge-
neuen CDU-Generalsekretär, der fühlt von Klimademonstranten,
als ehemaliger Vorsitzender der Jungen Rolle. Dabei waren die Zeichen klar zu die noch jünger seien als sie: »Wir haben
Union eigentlich diese Gruppen anspre- sehen, etwa auf dem Instagram-Account gedacht, die wachsen mit dem Smart-
chen sollte. Auch den technologischen von Luisa Neubauer. phone auf, die werden nie etwas zustande
Wandel haben die großen Parteien immer Neubauer, 23, ist in Deutschland das Ge- kriegen. Jetzt legen sie das Smartphone
noch nicht verstanden. Noch zu Beginn sicht der »Fridays for Future«-Proteste. Sie beiseite und gehen auf die Straße.«
der Legislaturperiode gab es nicht einmal initiierte die ersten Demos in Berlin und Selbst jene, die mitverantwortlich ge-
in allen Büros rund um den Reichstag funk- kümmert sich immer noch wöchentlich um macht werden für die Klimakrise, haben ein-
tionierendes WLAN, aber irgendwo einen den Zusammenhalt, wenn auch ganz an- gesehen, wie mächtig etwa die Instagram-
Schredder für Disketten; Jungwähler ken- ders als das Mädchen aus Schweden. Frau Neubauer durch die Effekte des Netzes
nen die höchstens noch aus den Erzählun- Man sieht die Göttinger Geografiestu- werden kann. Als Rednerin bei der letzten
gen ihrer Eltern. dentin auf Instagram mit selbstbewussten Hauptversammlung des Energiekonzerns
Posen, die Haare fallen ihr locker über die RWE, der viele Kohlekraftwerke betreibt,
Wer eher im Gestern lebt, kann im Heute Schultern, auf ihren Lippen ein geheimnis- forderte sie: »Schalten Sie ab, noch dieses
alles verpassen. Die Christ- und Sozialde- volles Lächeln. Mehr als 34 000 Menschen Jahr!« Als wäre ihr ziemlich egal, dass das
mokraten räumten nach der Wahl ein, dass folgen Neubauer auf Instagram, auf Twit- so schnell kaum geht – auch das typisch für
sie unterschätzt hatten, wie sehr der Kli- ter sind es noch ein paar mehr. Die Akti- die neue Bewegung: Um den Kleinkram sol-
mawandel Jungwähler bewegt. Und dann vistin kettet sich nicht an Bäume oder Bag- len sich gefälligst die Profis kümmern.
viele zu den Grünen trieb, denn im Wahl- ger, sie postet. Meistens steht dabei sie Noch schlagkräftiger als Instagram ist
kampf der Union spielte das Thema keine selbst im Vordergrund. wohl YouTube, wo eben nicht nur Musik-

18 DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019


Titel

videos laufen. Die populärste Video- mand soll sein Gesicht sehen, auch nicht Rezo war schon vor der Europawahl
plattform der Welt ist zugleich die zweit- seine Haare. »Ich ducke mich auf der Stra- abgetaucht, auch medial, seither hat er kei-
größte Suchmaschine – und damit ein zen- ße weg«, sagt Rezo später, er ist Ende ne Interviews gegeben. Ihm war alles zu
traler Informationskanal. 90 Prozent der zwanzig, viel mehr will er nicht verraten. viel geworden. Die Aufmerksamkeit, die
Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren Rezo, das ist der YouTuber mit dem Presseanfragen. Mitte Mai war er noch
nutzen YouTube mehrfach in der Woche. orangefarbenen Hoodie und den blauen ein gewöhnlicher YouTuber gewesen, der
23 Prozent geben an, dass sie sich dort Haaren. Der mit dem Zerstörungsvideo. Karaoke sang oder seine Expertise in Mas-
mehrmals pro Woche über Nachrichten in- Der die CDU als Haufen von Dilettanten turbation kundtat. Nun ist er der Mann
formieren. und Lügnern beschimpft und Studien der Stunde, Plasberg, Lanz, Will, alle
Welche Mobilisierungsmacht die Video- zum Klimawandel und zur Bildungspolitik wollen ihn haben. Berichte in der »Tages-
plattform hat, zeigt sich vor allem, wenn zitiert. Fast 14 Millionen Mal wurde schau«, Prügel von der »FAZ«, Verständ-
es sich um Themen handelt, die der Gene- dieses Video bisher aufgerufen. Theore- nis von der »taz«. Dazu Verschwörungs-
ration YouTube nahegehen, die Regulie- tisch wäre das jeder sechste Bürger dieses theorien, er sei gesteuert, von guten Kräf-
rung des Netzes etwa. Dazu gehört Artikel Landes. ten, von bösen Kräften, von wem auch im-
13, der inzwischen Artikel 17 heißt und Er selbst sagt, sein Einfluss auf die Eu- mer. »Mein erster Impuls war: Ich würde
Teil einer EU-Urheberrechtsnovelle ist. Es ropawahl sei gering gewesen: »Ich denke gern einen großen Schild über mich halten,
geht darum, wer wann haftet bei Urheber- nicht, dass ich viel bewegt habe. Ich habe bis es vorbei ist. Aber ich habe verstanden,
rechtsverstößen im Netz, ein scheinbar nicht viel Energie aufgebracht. Wenn eine dass das nicht drin ist«, sagt er.
dröges Thema, das viele Erwachsene gar Bowlingkugel auf dem Schrank liegt, reicht Rezo will Missverständnisse ausräumen.
nicht verstanden. Entsprechend über- ein kleiner Schubs für eine krasse Auswir- Das Treffen findet in einem Hotelzimmer
rascht waren die Politiker von der Wucht kung.« Er habe nur ein Video drehen wol- statt. Er will nicht, dass man weiß, wo er
der Angriffe, schließlich wollten sie doch len, mehr nicht. wohnt. Und wie.
nur Urheberrechte schützen. Rezo sagt, er habe Angst, »dass ein
YouTube-Stars mit zahlreichen Spinner bei mir zu Hause die Scheiben ein-
Abonnenten wurden zu einfluss- schmeißt.« In der WhatsApp-Gruppe sei-
reichen Polit-Influencern und nes Abiturjahrgangs hat er darum gebeten,
Aktivisten, die zu Demonstratio- dass niemand mit der großen Zeitung spre-
nen aufriefen und dort auftraten. chen möge, die gerade sein Privatleben
Während Konservative die auskundschafte.
Wütenden als ahnungslose Ma- Quasi über Nacht ist Rezo zum Gesicht
rionetten darstellten, begegneten der Generation der unter Dreißigjährigen
immerhin die jungen Europapo- geworden. Einer, den man mit der »Fri-
litiker Tiemo Wölken (SPD) und days for Future«-Bewegung zusammen-
Julia Reda (Piraten) ihnen mit bringt, auch wenn er mit ihr nichts zu tun
Respekt: Auf YouTube erklärte hat. »Ich bin kein Aktivist, ich klettere
Wölken etwa, wann genau über nicht im Hambacher Forst auf Bäume oder
die Reform debattiert wird und marschiere jeden zweiten Tag bei Demos
wie es danach weitergeht. Reda
KLAUS MEHNER / BERLINPRESSSERVICES.DE

gab Hinweise, wohin die Nutzer


scrollen mussten, um den über-
setzten Gesetzestext zu finden.
Dann kam Rezo und sein Vi-
deo. Wenige Tage vor der Wahl
legte er nach, in einem zweiten
Video sprach er zusammen mit
Dutzenden anderer YouTuber
eine Wahlempfehlung aus:
»Wählt nicht CDU, und wählt
nicht die SPD, und wählt schon
gar nicht die AfD.« Die Reaktio-
nen der Politik waren desaströs. Die CDU
stellte eine elfseitige PDF-Datei als Ant-
wort auf Rezos erstes Video ins Netz, ihre
Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbau-
er brachte mit wirren Sätzen über »Mei-
nungsmache« im Internet die jungen Leute
weiter gegen sich auf.
Es gibt in Berlin die Angst, dass am
vergangenen Sonntag nicht nur eine Wahl
SEAN GALLUP / GETTY IMAGES

verloren wurde, sondern eine ganze Ge-


neration.
Aachen, am Mittwoch dieser Woche.
Eine gebückte Gestalt huscht über eine Die Medien Zerstörte Autos vor dem Springer-
Straße. Den Blick gesenkt, auf dem Kopf haus in Berlin 1968, YouTuber Rezo im Video
eine Kappe, darüber eine Kapuze, sicher »Die Zerstörung der CDU«. Er hat Angst, »dass
ist sicher. Es ist der Mann, der sich Rezo ein Spinner bei mir Scheiben einschmeißt«.
nennt. Er trägt seine Tarnkleidung. Nie-

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in der ersten Reihe mit. Ich glaube, dass Jüngste. »Es war manchmal ein ziemlicher Schmerzen spüren. Man kann sich auch
ich der Gesellschaft mehr diene, wenn ich Struggle«, sagt er. Mitschüler steckten ihn bei der Arbeit verausgaben.« In den ver-
meinen Job gut mache.« Er bezeichnet im Klassenzimmer in den Papierkorb oder gangenen zehn Jahren habe er nur einmal
sich als Unterhalter. Er sagt, dass er sich warfen seine Turnschuhe in die Toilette. Urlaub gemacht. Er arbeite fast jeden Tag,
nie die Frage gestellt habe, ob er ein poli- Als Teenager habe er daran gedacht, sich selbst am Wochenende. Von morgens um
tischer Mensch sei. umzubringen. Einmal habe er auf einem neun oft bis zum Schlafengehen. Am Com-
Rezo ist der perfekte Vertreter seiner Dach gestanden und überlegt zu springen. puter, vor der Kamera.
Generation. Ein Veganer. Einer, der findet, Rezo sagt, er erzähle das alles, weil es Es gibt einen Moment an diesem Nach-
dass man Plastikmüll vermeiden und zu ihm gehöre. Er wolle aber nichts über- mittag, da überwältigen ihn die Gefühle.
Flüchtlinge vor dem Ertrinken retten solle. Als er erzählt, dass er einmal im Jahr in
Er liest weder Zeitung, noch sieht er Fern- die Kirche gehe, an Heiligabend. Er be-
sehnachrichten. Er schaut Netflix. Was in »Abstand, damit die zeichnet sich nicht als christlich, aber die
der Welt passiert, erfährt er auf Twitter christlichen Werte bedeuten ihm etwas:
oder Instagram. Interessiert ihn etwas nä- Gesellschaft nicht nur aus »Ich habe stark verinnerlicht, was Jesus
her, googelt er. Manches bekommt er nur Menschen besteht, die für ein Dude war.« Rezo kommt aus einer
so ungefähr mit. Was die CDU-Chefin Theologenfamilie. Vater: Pfarrer. Mutter:
über sein Video gesagt hat, wie die Kanz- gerettet werden müssen.« Pfarrerin. Großvater, zwei Tanten, zwei
lerin danach die CDU-Chefin verteidigt Onkel ebenso. Und am Ende des Weih-
hat. Ungewöhnlich ist allenfalls seine nachtsgottesdiensts singen alle »O du
Obsession für die Bundespressekonferenz, dramatisieren, zumal es glücklich ausge- fröhliche«, was ihn jedes Mal in Strömen
deren Übertragung er, wie er sagt, seit Jah- gangen sei, »ich stell mich jetzt nicht als weinen lasse. »In diesem Moment frage
ren regelmäßig anschaut. »Weil sie etwas Opfer dar«. Er sei in Behandlung gewesen, ich mich immer: Ist das Leben, das ich
Menschliches hat: Du siehst dort sofort, nicht lange, »ein paar Talks mit Psycholo- führe, das richtige? Will ich das Ding
wenn dich jemand verarscht.« gen«. Gerettet habe ihn die Musik, er fing durchziehen? Ich weiß, meine Videos ge-
Und noch etwas an Rezo ist typisch an, in Bands zu spielen. Die Lust auf ben vielen Leuten etwas. Aber ist es das
für seine Generation: dass er an sich Selbstzerstörung veränderte sich, eine Zeit wert? Übers Jahr baut sich extrem viel auf,
und der Welt leidet – und es, anders als lang habe er sich noch geritzt. »Irgend- was sich an diesem Abend löst.« Rezo
Männer es früher gewohnt waren, auch wann habe ich gemerkt, dass ich das über- fängt an zu weinen.
zugibt. Rezo stottert, was in seinen flott tragen kann auf andere Bereiche. Man Rezo sagt, er liebe seine Eltern. »Sie
geschnittenen Videos nicht auffällt. In der muss sich nicht schneiden, um sich zu ver- sind offene, warmherzige Menschen, die
Schule war er häufig der Kleinste und letzen. Man kann auch auf andere Weise mir viel Liebe gegeben haben.« Kein 68er

1982
Flüssigkristalle bringen dem
Computer das Fahrradfahren
bei: im Display des ersten
digitalen Tachometers.

1888
Eine reife Leistung: Das
1992
Macht Gegenwind zum lauen
Vulkanisationsverfahren Lüftchen: Der Nickel-Cadmium-
macht luftgefüllte Gummi- Akku im ersten Pedelec gibt
reifen möglich und so das Radlern Extraschub.
Fahrradfahren bequemer.

Die Chemie macht das Rad zum


Titel

hätte so über seine Eltern geredet, das ist New Yorker Liberaler. Ihm war aufgefal- Bewegung wurde verbeamtet, dasselbe
ein wesentlicher Unterschied zu damals. len, dass sich ab 2013 das Klima an den wird auch dieser Bewegung widerfahren.«
Deren Ansatz ist Rezo auch »zu anti«. An- amerikanischen Universitäten änderte. Sie zwingt die Gesellschaft nur dazu, die
ders als die Revolutionäre damals habe er Als die ersten iGener auf die Colleges politischen Rahmenbedingungen zu ver-
die Gesellschaft nicht gespalten, sagt er. kamen. Einige von ihnen versuchten zu ändern. »Die Gesellschaft braucht manch-
Hat er Träume? Oh ja. »Ein Haus, zwei, verbannen, was ihnen nicht gefiel, sie mal solche Anstöße.«
drei Kinder, einen Hund.« So leben auch wünschten sich »trigger warnings«, »safe Ist ihm das sympathisch? »Viele Mei-
klassische CDU-Wähler. »Uns muss ja spaces« und dass politisch nicht konforme nungsäußerungen der jungen Protestler
nicht alles trennen«, sagt Rezo. Gastredner ausgeladen würden. Eine von sind wahnsinnig naiv«, sagt Nassehi.
Haidts Thesen lautet, dass die iGener »Aber wenn ich ehrlich bin: Ich möchte
Die 68er haben das Land neu erfunden, nicht nur das Produkt der Smartphone- nicht mit allem konfrontiert werden, was
in dem wir heute leben, jedenfalls zum Welt sind, sondern auch das ihrer Eltern. ich in dem Alter gesagt habe. Das ist ja
Teil. Ein aufgeklärtes, freies Land. Die Par- Einer Elterngeneration, die ihre Kinder der Segen: dass bei uns nicht alles aufge-
teien veränderten sich, die Grünen wurden zu ewig Schutzbedürftigen erzogen hat, zeichnet wurde.«
gegründet. Es ging alles langsamer, aber die keine anderen Meinungen ertragen. Doch vielleicht ging es damals, 1968,
nicht alles war nur dufte. Der Dogmatis- Was er meint: Ein bisschen Abstand und und heute nur so: laut sein, damit sich
mus der K-Gruppen, die in den Siebziger- Generationskonflikt mit den Eltern könn- etwas tut.
jahren die politische Subkultur prägten. te ganz sinnvoll sein, damit eine Gesell- Laura Backes, Tobias Becker,
Der Terrorismus der RAF, deren Mitglie- schaft nicht nur aus Menschen besteht, die Lothar Gorris, Judith Horchert,
der ihre Morde damit begründeten, dass gerettet werden müssen, vor dem Klima- Anna-Lena Jaensch, Alexander Kühn,
ein neuer Faschismus drohe. wandel, den Andersdenkenden, dem Ann-Katrin Müller, Miriam Olbrisch,
Die 19er sind womöglich genauso wir- Bösen. Maximilian Popp, Marcel Rosenbach,
Christoph Scheuermann, Katja Thimm
kungsmächtig, nur mit dem Unterschied, Das erklärt einen Teil der Rigorosität
dass alles nun viel schneller geschieht. Der der neuen Bewegung, ihren Hang, die Mail: lothar.gorris@spiegel.de
New Yorker Psychologe Jonathan Haidt Welt einzuteilen, hypermoralisch, in Gut
hat im vergangenen Jahr ein Buch über die und Böse.
Generation Z geschrieben. Es heißt »The Aber dass die Revolte, wie schon 1968, Video
Wie politisch ist die
Coddling of the American Mind«, die Ver- tatsächlich einen Zug ins Totalitäre be- Generation YouTube?
hätschelung der amerikanischen Seele. kommt, dafür sieht der Soziologe Nassehi spiegel.de/sp232019jugend
Haidt, Jahrgang 1963, ist keiner dieser keine Gefahr: Auch die 68er seien am oder in der App DER SPIEGEL
neuen rechten Intellektuellen, sondern ein Ende sozialdemokratisiert worden. »Die

2015
Hält die Hände am Lenker:
Mit der Chemie als Tandempartner
wird das Fahrradfahren dank neuer
Der Fahrradhelm mit integrierter
Funktechnologie macht das Werkstoffe und Verfahren immer
Smartphone auch unterwegs
nutzbar – dank Mikrochips
komfortabler und sicherer. Das Ziel:
aus hochreinem Silizium. eine gesunde und nachhaltige

2018
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Renner.
Titel

den Klimaschutz. Ich habe das Gefühl,

»Nehmt uns ernst!« wenn wir Jugendlichen nicht für unsere


Zukunft kämpfen, tut es niemand. Es ist
das erste Mal, dass ich mich engagiere,
Jungwähler Sie demonstrieren, sie machen Politik, auch das erste Mal, dass ich demonstrie-
ren gehe. Mir ist wichtig, dass jeder, der
sie bringen ihre Anliegen auf die Agenda: etwas verändern will, bei sich selbst an-
Junge Erwachsene erzählen, welche Themen sie umtreiben. fängt. Ich versuche, weniger Plastikmüll
zu verursachen, ordentlich zu recyceln
und weniger Fleisch zu essen. Die Frei-
tagsdemos können etwas verändern,
wenn wir Jungen das konsequent durch-
ziehen. In eine Partei einzutreten kann
ich mir nicht vorstellen, nicht mal bei den
Grünen. Ich bin sonst nicht so an Politik
interessiert.«

»Politik mit Satireansatz«


Hellen Siewert, 24 Jahre, studiert Compu-
terlinguistik in Potsdam und arbeitet als
Hilfskraft an einem Forschungszentrum für
künstliche Intelligenz
»Vor der Bundestagswahl 2017 habe ich
zum ersten Mal von Der Partei gehört –
und fand es sehr witzig, wie anders sie Poli-
tik macht, mit Satire. Gut gefallen haben

ERIC VAZZOLER / DER SPIEGEL


mir die Aktionen gegen die AfD, die ja hier
in Brandenburg recht präsent ist. Auf Face-
book haben Partei-Anhänger rechte Grup-
pen infiltriert und heimlich umbenannt,
›Heimatliebe‹ in ›Hummusliebe‹ zum Bei-
Simon Sumbert spiel. Durch die Facebook-Posts und Vi-
deos von Martin Sonneborn, dem EU-Spit-
zenkandidaten, habe ich erfahren, wie der
nauso der Umgang mit Geflüchteten. Ich Alltag im Europaparlament funktioniert –
»Die Älteren haben oft das Sagen« habe ein Freiwilliges Soziales Jahr in einer und wie sehr er von Lobbyisten bestimmt
Simon Sumbert, 21 Jahre, studiert Politik- Flüchtlingsunterkunft gemacht, und es wird, die überall auftauchen und Politiker
wissenschaften und Volkswirtschaftslehre macht mich traurig, wenn ich höre, wie beeinflussen möchten. Das war mir in dem
in Freiburg, auf dem Titelbild links. unwürdig einige konservative und natio- Ausmaß nicht bewusst. Ich finde es toll,
»Ich freue mich gerade sehr: Vor einer nalistische Politiker über diese Menschen dass Sonneborn diese Einblicke gewährt.
Woche wurde ich in den Stadtrat von Frei- sprechen. Wenn sie sagen, Seenotrettung Europapolitik kommt mir sonst sehr abge-
burg gewählt, ich bin das jüngste neue Mit- im Mittelmeer sei ein Verbrechen, macht schottet vor. Im Oktober bin ich aus Neu-
glied. Unser Bündnis heißt ›Junges Frei- mich das wütend. Die Grünen stehen in gier zu einem Stammtisch des Kreisver-
burg‹ – wir vertreten die Interessen der dieser Frage für Humanität und Mitgefühl. bands Potsdam gegangen, die lockere Stim-
jungen Menschen. In der Vergangenheit Trotzdem bin ich unsicher, ob ich richtig
hatte ich oft das Gefühl, dass meine entschieden habe. Wenn die Grünen jetzt
Josy Zülke
Altersgenossen und ich von den anderen so groß werden, rücken sie vermutlich im-
Parteien nicht ernst genommen werden. mer weiter in die Mitte, um möglichst viele
So geht es mir auch bei den ›Fridays for Wähler zu erreichen. Nicht, dass die ir-
Future‹, bei denen ich regelmäßig mitlaufe. gendwann werden wie die CDU.«
›Ihr seid die Zukunft‹, heißt es dauernd.
Und dann werden unsere Anliegen trotz-
dem kleingeredet. Wenn wir selbst in den »Vom Lehrer motiviert«
Stadtrat einziehen, dachten wir, wird uns Josy Zülke, 18 Jahre, auf dem Titelbild Zwei-
das nicht mehr so schnell passieren. Ich te von links, war vor zwei Monaten erstmals
würde aktuell nicht in eine der traditionel- bei »Fridays for Future«. Sie besucht die
len Parteien eintreten. Dort haben oft die zwölfte Klasse einer Schule in Berlin.
Älteren das Sagen, das nervt mich. Es war »Mein Lehrer im Biologie-Leistungs-
schon merkwürdig, mein eigenes Gesicht kurs hat uns motiviert, an den Demos teil-
auf Wahlplakaten zu sehen. Ein bisschen, zunehmen. Er hat uns schon vor Jahren
NICK HARWART / DER SPIEGEL

wie wenn man beim Friseur zu lange in erklärt, wie CO²-Emissionen und Klima-
den Spiegel schaut, irgendwann war ich wandel zusammenhängen, das hat mich
von mir selbst genervt. sehr beeinflusst. Wir haben ein Plakat ge-
Bei der Europawahl habe ich meine malt: ›Schule schwänzen kann man ver-
Stimme den Grünen gegeben. Nachhaltig- kraften, Klimawandel eher nicht so.‹ Die
keit und Klimaschutz sind mir wichtig, ge- Parteien kümmern sich nicht genug um

22
mung und die witzigen Ideen ha- so privilegiert zu sein wie
ben mir gefallen. So hatte ich mir ich? Diese Menschen gilt
Politik nicht vorgestellt. Seitdem es um jeden Preis zu
bin ich regelmäßig dabei und habe schützen.
auch im Wahlkampf mitgeholfen, Das versuche ich unter

MILOS DJURIC / DER SPIEGEL


Plakate aufzuhängen. Auch wenn anderem durch Aufklä-
viele denken, Die Partei mache vor rungsarbeit in den Insta-
allem Späße und wenig ernsthafte storys auf meinem Instag-
Politik, finde ich sie wichtig: Durch ramkanal, dem Podcast
den Satireansatz bekommen Men- ›Deine Homegirls‹ und in
schen Zugang zu politischen Dis- Helen Fares Diskussionen im echten

MARCUS SIMAITIS / DER SPIEGEL


kussionen, die sich sonst wenig da- Leben. Gegen Unwissen,
für interessieren. Das galt lange Ängste, Rassismus, Sexis-
Zeit auch für mich. Ich hatte in der Vergan- mus und andere ›-ismen‹ vorzugehen steht
genheit das Gefühl, dass junge Menschen im Zentrum meiner Arbeit.«
in der Gesellschaft eh nicht ernst genom-
men werden. Die Reform des Urheber-
rechts mit dem Artikel 13, inzwischen 17, »Lachen, tanzen, feiern« Moritz Bayerl
ist so ein Beispiel. Viele junge Menschen Sophie Thomas, 18 Jahre, auf dem Titelbild
haben über die sozialen Netzwerke ihre rechts, geht in Berlin zur Schule. Sie wurde
Bedenken geäußert und Argumente vorge- am Tag nach dem Wahlsonntag volljährig. da kann man schon mehr bewegen als nur
bracht, die allesamt ignoriert wurden. Und »Dass ich ausgerechnet am Tag nach der ein einzelner Schüler. Aber insgesamt ist
bei den ›Fridays for Future‹-Demonstratio- Europawahl 18 wurde, hat mich natürlich es leider so, dass man als junger Mensch
nen heißt es dann, die jungen Leute sollten ziemlich geärgert. Ich wäre gern wählen kaum ernst genommen wird. Bisher wurde
mal lieber in die Schule gehen. Das macht gegangen, ich hatte auch die Programme immer gejammert, die Jugend sei so unpo-
mich wütend – zumal die Bewegung von verschiedener Parteien durchgelesen und litisch. Als wir dann auf die Straße gingen,
vielen Wissenschaftlern, insbesondere Kli- den Wahl-O-Mat ausprobiert. Das Ergeb- bei ›Fridays for Future‹, sollten wir plötz-
maforschern, unterstützt wird.« nis hat mich nicht sonderlich überrascht, lich doch lieber in die Schule. Aber wieso
die Grünen waren bei mir ganz oben, da- sollte ich zur Schule gehen, wenn ich weiß,
nach die Linke. Nachdem ich auf einigen dass es in ein paar Jahrzehnten keine Schu-
»Gegen Rassismus und ›-ismen‹« Demos von ›Fridays for Future‹ war und len mehr geben wird – wenn wir jetzt nicht
Helen Fares, 24 Jahre, aus Leipzig studiert über YouTube viel erfahren habe, hätte auf die Straße gehen? Schülerinnen und
Psychologie und arbeitet als Moderatorin auch ich die Grünen gewählt, wenn ich hät- Schüler werden systematisch benachteiligt,
und Journalistin. te wählen dürfen. Dass man unser politischer Einfluss ist ge-
»Ich habe Die Linke gewählt. Das ist für erst ab 18 zur Wahl gehen ring, weil nur ein Bruchteil von
mich die einzige Partei, die Themen, die darf, finde ich ungerecht- uns überhaupt wählen darf.
mir wichtig sind, in den Mittelpunkt stellt: fertigt. Es geht doch um Dass wir laut werden, wird jetzt
Fluchtursachen bekämpfen durch den unsere Zukunft, warum wer- von vielen unterstützt. Meine
Stopp von Waffenexporten, die Seenot- den 16-Jährige ausgeschlos- Mutter würde am liebsten gleich
NICK HARWART / DER SPIEGEL

rettung entkriminalisieren, sichere Flucht- sen? Dass Jugendliche weni- mitdemonstrieren, so toll findet
wege schaffen und den schnellen Kohle- ger vernünftig oder schlech- sie das. Ich habe bei der Euro-
ausstieg in ganz Europa vorantreiben. Ich ter informiert sind, ist nicht pawahl die Grünen gewählt, da
fühle mich von der Politik in Deutschland wahr. sie klimapolitisch und sozial et-
in einigen Punkten alleingelassen, ich den- Jede Nacht lässt unsere was bewegen wollen. Dass die
ke da an Rassismus bei der Polizei. Aus Schule alle Lichter an, das Sophie Thomas CDU von jungen Menschen kei-
Bayern und Sachsen gibt es viel zu oft Be- ganze Gebäude ist erleuch- ne Ahnung hat, hat sich ja an ih-
richte über Racial Profiling und rassistisch tet. Mich regt das total auf, rer Reaktion auf das Rezo-Video
motivierte Beleidigungen. Es enttäuscht das ist so unnötig! Dass Erwachsene bes- gezeigt. Ein elfseitiges PDF-Dokument –
mich, dass der SPIEGEL früher Titelstorys sere Entscheidungen treffen, ist also kein ernsthaft?! Das liest sich doch kein junger
wie ›Mekka Deutschland‹, ›Blutiger Islam‹ gutes Argument. Vielleicht nehmen die Er- Mensch durch. Wir brauchen Politik, die
oder ›Der heilige Hass‹ gebracht hat. Un- wachsenen uns nicht ernst, weil wir eine uns zuhört und auf uns eingeht. Denn es
terlegt von furchteinflößenden Bildern andere Form gefunden haben, Politik zu ist unsere Zukunft, über die sie entschei-
schüren solche Berichte ohne Rücksicht machen. Auf den Freitagsdemonstrationen den. Da war ich von den Grünen auch ein
auf Muslime Ängste, Hass und infolgedes- wird gelacht, getanzt, gefeiert. Das heißt wenig enttäuscht, als ich hörte, dass sie
sen Rassismus. nicht, dass uns die Klimakrise weniger am sich nicht entschlossen gegen einen Uplo-
Dass jetzt in Sachsen so viele Menschen Herzen liegt, aber warum sollte man beim adfilter aussprechen. Viele unter 30 sind
die AfD gewählt haben, macht mich be- Protestieren keinen Spaß haben dürfen?« gegen Artikel 13, jetzt 17, und trotzdem
troffen, überrascht mich aber nicht. Ich wird er durchgesetzt. Ich hoffe, dass wir
verstehe, dass viele AfD-Wähler frustriert Schüler in Zukunft noch mehr bewegen
und deswegen empfänglich für Populismus »Meine Mutter findet das toll« können. Bei dem Rechtsruck, den es gera-
sind. Ich bin Deutschsyrerin, studiere, ar- Moritz Bayerl, 18 Jahre, besucht die zwölfte de in Europa gibt, ist es wichtig, einen Ge-
beite, zahle Steuern. Ich fühle mich, um- Klasse eines Gymnasiums in Köln. genpol zu bilden. Und das tun wir. In mei-
geben von 25,3 Prozent AfD-Wählern in »Für mich war die Europawahl ein ech- nem Freundeskreis gibt es niemanden, der
Sachsen, unwohl und missachtet, und ich ter Lichtblick. Endlich konnte ich auch nicht gewählt hat.«
habe vor allem eines: Angst. Wie soll sich wählen gehen, mich ins politische Gesche- Aufgezeichnet von Laura Backes,
also jemand fühlen, der nicht das Glück hen einbringen. Das versuche ich bereits Anna-Lena Jaensch, Miriam Olbrisch
hatte, in Bezug auf Bildung und Sicherheit bei der Landesschüler*innenvertretung,

DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 23


Deutschland
»Wer Kleingärtner quält, wird abgewählt«, ist ein Slogan, der in den Gartenkolonien kolportiert wird. ‣ S. 52

ARNE DEDERT / DPA


Katholische Kirche

Missbrauchsopfer fordern Milliarden


Ruf nach hohen Entschädigungen wegen psychischer Folgekrankheiten
 Bei einem von der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) orga- Der Studie zufolge wurden in den vergangenen Jahrzehnten
nisierten Arbeitstreffen haben prominente Vertreter von Miss- 3677 Kinder und Jugendliche von 1670 katholischen Klerikern
brauchsopferverbänden nach eigenem Bekunden Entschädi- missbraucht. Wissenschaftler gehen von einer Dunkelziffer von
gungszahlungen in Milliardenhöhe von der katholischen Kirche mehr als 100 000 Geschädigten aus. Bei dem Treffen in Bonn for-
gefordert. Am »Kick-off-Workshop« vergangenen Montag in derten Betroffene Einmalzahlungen von 300 000 Euro als Ent-
Bonn nahmen 28 Expertinnen und Experten teil – neben Betrof- schädigung – pro Opfer. Viele Missbrauchsbetroffene sind infolge
fenen auch Wissenschaftler, psychologische Berater und Mitar- psychischer Krankheiten nur bedingt arbeitsfähig. Die bislang
beiter des Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung. Als von der Kirche gewährten »Leistungen in Anerkennung zugefüg-
Vertreter der DBK war der Kölner Weihbischof Ansgar Puff ten Leids« von in der Regel maximal 5000 Euro werden von
zugegen. Der Workshop gilt als Auftakt zur Überarbeitung des Experten seit Langem kritisiert, genauso wie das bisher intrans-
Entschädigungsverfahrens für kirchliche Missbrauchsopfer, wie parente Entschädigungsverfahren. Nach dem Wunsch der Betroffe-
es der deutsche Episkopat nach der Veröffentlichung der bischöf- nenvertreter soll künftig eine interdisziplinäre Expertenkommis-
lichen Missbrauchsstudie im vergangenen Herbst zugesagt hatte. sion über die Gewährung der Einmalzahlungen entscheiden. BHR

Pflichtverteidigung verteidiger bewilligt werden. Diese Richt- Selbstverständlichkeit sein«, kritisiert


»Gebot der Fairness« linie hätte bis zum 25. Mai in deutsches
Recht umgesetzt werden müssen – was
Thomae das Versäumnis. Zwar könnten
einzelne Vorschriften der Richtlinie, wie
 Nach deutschem Strafrecht haben mittel- aber nicht geschah, wie das Bundesjustiz- das BMJV betont, von der Justiz auch ohne
lose Beschuldigte nicht von Anfang an ministerium (BMJV) auf Anfrage des FDP- Verankerung im deutschen Gesetz ange-
Anspruch auf einen Pflichtverteidiger, ob- Bundestagsabgeordneten Stephan Thomae wendet werden – dies sei aber, so Thomae,
wohl eine Europäische Richtlinie das einräumte. Die Länder hatten sich gegen »keinesfalls etwas, worauf sich ein Beschul-
vorsieht. Danach soll »unverzüglich und die kostspieligen EU-Vorgaben gewehrt. digter verlassen kann«. Nach der Strafpro-
spätestens vor einer Befragung durch »Die Pflichtverteidigung ab der ersten Stun- zessordnung gibt es einen Pflichtverteidiger
die Polizei« Prozesskostenhilfe und damit de ist ein Gebot der Fairness, für Beschul- in der Regel erst nach Anklageerhebung
ein bei Bedarf vom Staat bezahlter Pflicht- digte elementar und sollte rechtsstaatliche oder in der Untersuchungshaft. HIP

24
Sicherheitskonferenz heitskonferenz, vorausgegangen. Die eigentum Ischingers, der seine Anteile
Bund zahlt zwei Millionen gemeinnützige GmbH, die die Sicherheits-
konferenz ausrichtet, war bisher Privat-
inzwischen als Schenkung in die neue
Stiftung eingebracht hat, an der auch der
 Die Bundesregierung will sich voraus- Freistaat Bayern mit einer Million Euro
sichtlich mit zwei Millionen Euro an der beteiligt ist. Sobald die Bundesregierung
neuen Stiftung Münchner Sicherheitskon- gezahlt hat, kann die Bundeskanzlerin
ferenz beteiligen. Berlin sichert sich damit den Vorsitzenden des Stifterkreises nomi-
ein Mitspracherecht bei dem diplomati- nieren. Die neue Konstruktion sieht vor,
schen Großereignis, zu dem in jedem Fe- dass Ischinger, 73, selbst über den Zeit-
bruar auch Dutzende Staats- und Regie- punkt seines Abgangs bestimmen kann.
rungschefs in die bayerische Landeshaupt- Er nominiert seinen Nachfolger, allerdings

ANDREAS GEBERT / DPA


stadt kommen. Dem geplanten Einstieg im »Einvernehmen« mit dem Vorsitzen-
des Bundes waren monatelange Gesprä- den des Stifterkreises und damit der Bun-
che zwischen dem Politischen Direktor desregierung. Der Ex-Staatssekretär und
des federführenden Verteidigungsministe- frühere Botschafter in Washington hat
riums Géza von Geyr und Wolfgang klargemacht, dass er vorerst nicht die
Ischinger, dem Vorsitzenden der Sicher- Ischinger in München Absicht habe, sich zurückzuziehen. HAM

Bundestagsabgeordneter In seiner Antwort vom 15. Mai weist Klimaschutz


AfD-Büro in Russland Risse den AfD-Mann darauf hin, dass
Abgeordnetenbüros nur im Geltungs-
Regierung schont Häusle-
 Der AfD-Bundestagabgeordnete Robby bereich des Grundgesetzes zulässig seien. bauer und Eigentümer
Schlund will in Russland eine eigene Zudem verstoße die Einrichtung eines
Repräsentanz aufmachen. Ende April Büros »zur Kontaktpflege mit offiziellen  Ein Entwurf von Bundeswirtschafts-
schrieb der Parlamentarier aus Thüringen Stellen ausländischer Staaten« gegen die minister Peter Altmaier zum Gebäude-
an den Direktor des Bundestags, er Zuständigkeit der Bundesregierung für energiegesetz erspart Bauherren
beabsichtige, »auf dem Gebiet der Russi- den »Verkehr mit anderen Staaten«. Ein mehr Aufwand für den Klimaschutz.
schen Föderation ein persönliches Ab- persönliches Büro im Ausland sei eine Der Entwurf sieht entgegen der Erwar-
geordneten-Büro zu eröffnen«. Als Mit- »rein private Angelegenheit«. Dabei sei tung vieler Umweltschützer keine höhe-
glied der Deutsch-Russischen Parlamen- die Verwendung des Bundesadlers »in ren Standards für die Isolierung und
tariergruppe liege ihm das Verhältnis der jedweder Form« untersagt und jeder Hin- Beheizung von Neubauten vor. Auch
Länder am Herzen. Er wolle daher »mit weis auf die Mitgliedschaft im Bundestag will Altmaier keine verpflichtenden
offiziellen russischen Stellen« sowie in geschäftlichen oder beruflichen An- Energiesparmaßnahmen für die beste-
»gesellschaftlichen Organisationen und gelegenheiten unzulässig. Schlund, der henden Wohn- und Gewerbeimmo-
Privatpersonen« Beziehungen unterhal- mit einer Russin verheiratet ist, reiste bilien. »Eine weitere Steigerung der
ten. Die Kosten für dieses Büro würde er 2018 als einer von neun AfD-Wahlbeob- Bau- und damit auch der Wohnkosten
nicht aus Abgeordnetenbezügen bestrei- achtern auf Einladung Moskaus zu den wollen wir unbedingt vermeiden«,
ten, so Schlund, und bat den Chef der dortigen Präsidentschaftswahlen. »Wir erklärt der CDU-Politiker. »Wohnen
Parlamentsverwaltung, Staatssekretär machen uns im Bundestag stark für Russ- muss bezahlbar sein.« Damit sich Mie-
Horst Risse, um Hinweise, »falls mein land«, zitiert die russische Propaganda- ter und Kaufinteressierte darüber infor-
Vorhaben bundestagsseitig auf zwingen- Agentur »Sputnik« den Orthopäden und mieren können, wie klimafreundlich
de rechtliche Hindernisse stoßen sollte«. früheren NVA-Offizier. HAM eine Immobilie ist, muss künftig in den
Energieausweisen auch deren CO²-Aus-
stoß angegeben werden. Eigentümer,
die auf ihrem Grundstück Solarenergie
gewinnen, werden zudem bessergestellt
als bisher. Werden in einem Neubau-
gebiet Wärme und Strom zentral gewon-
nen, so soll sich dies künftig noch stär-
ker positiv auf die Energiebilanz der
Gebäude auswirken. Der Chef der Deut-
schen Unternehmensinitiative Energie-
effizienz, Christian Noll, vermisst im
Entwurf Anreize für die Sanierung von
Altbauten sowie die Kontrollpflicht, ob
Gebäude die im Energieausweis ausge-
wiesenen Werte tatsächlich erreichen.
Noll: »Ähnlich wie in Schweden könnte
die Regierung anordnen, dass nach Fertig-
stellung des Hauses der tatsächliche Ener-
ROBBY-SCHLUND.DE

gieverbrauch gemessen wird.« Derzeit


reicht in Energieausweisen lediglich ein
errechneter Wert, der vom echten Heiz-
bedarf einer Wohnung abweichen und
Farbenfrohe Schlund-Eigenwerbung für Niederlassung in Russland neue Mieter böse überraschen kann. GT

DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 25


Messerverbot Gentechnik
Bedrohte Brotzeit Streit um Sicherheit
 Bayern macht negative Auswirkun-  Am Freitag muss der Bundesrat über
gen auf sein Brauchtum geltend, falls schärfere Sicherheitsstandards bei
der Bundesrat eine von Niedersachsen bestimmten gentechnischen Arbeiten
und Bremen angestrebte Verschärfung entscheiden. Vorab gibt es Streit um die
des Waffengesetzes beantragen sollte. Empfehlungen der Agrar- und Umwelt-
»Von einer derartigen Regelung wären ausschüsse zur Novelle der entsprechen-
bereits Brotzeitmesser betroffen«, sagt den Sicherheitsverordnung. In einem
der Leiter der Staatskanzlei Florian Schreiben, das dem SPIEGEL vorliegt,
Herrmann (CSU). »Das ist ideologischer meldet Hermann Onko Aeikens, Staats-
gesetzgeberischer Aktivismus, den ich sekretär im CDU-geführten Bundes-
entschieden ablehne.« Die Nord-Bun- landwirtschaftsministerium »fachliche
desländer wollen verbieten, Messer mit Bedenken« gegen die Empfehlungen an.
einer feststehenden Klinge ab mehr als Ihnen zufolge sollen Experimente mit
sechs (bislang zwölf) Zentimetern mit- »Gene-Drive-Organismen« einer höhe-
zuführen; Ausnahmen für die Brauch- ren Labor-Sicherheitsstufe unterliegen,
tumspflege sollen bestehen bleiben. als die Regierung vorsieht. Der Bund
Trotz der Klausel ist der Bayerische möchte den Tagesordnungspunkt ver-
Trachtenverband besorgt. Die Trachtler tagen. Eine höhere Sicherheitsstufe
leiden nach eigenen Angaben bereits dürfte Mehraufwand für Gene-Drive-
unter den verschärften Sicherheitsvor- Experimente bedeuten. Mit der Methode
schriften auf Volksfesten. »Ein Trachten- wird das Erbgut von Organismen so ver-

JIM GATHANY / DPA


messer ist keine Waffe«, so Andreas ändert, dass sie bestimmte Erbinforma-
Oberprieler, Geschäftsführer des Ver- tionen an sämtliche Nachkommen weiter-
bands, »es hat Schmuckcharakter.« geben. Damit könnten ganze Popula-
Minister Herrmann erklärt, dass sich tionen etwa von Malaria- oder Gelb-
schon nach geltendem Recht Messerver- fiebermücken ausgelöscht werden – Malariamücken
botszonen einrichten ließen, es in indem zum Beispiel weibliche Exemplare
Bayern dafür aber noch keinen Bedarf unfruchtbar gemacht werden. »Die experte der Grünen. Es sei »erschre-
gegeben habe. Es drohe »ein Mehr an bisher geltenden Regeln können nicht ckend, dass dem Ministerium vorder-
Bürokratie«, so Herrmann. Der Innen- zuverlässig verhindern, dass solche Aus- gründige Interessen der Biotech-
ausschuss des Bundesrats hat das Thema rottungsorganismen in die Umwelt gelan- Industrie offenbar wichtiger sind als
auf Anfang September vertagt. FRI gen«, warnt Harald Ebner, Gentechnik- der Schutz des Ökosystems«. JKO

Justiz befehl akzeptiert, weil die dortigen Staats- nahme besteht. Das Weisungsrecht wird
»Politische Einflussnahme« anwaltschaften von der Exekutive un-
abhängig seien. Wie ist das in anderen
hierzulande zwar nur in den seltensten
Fällen ausgeübt. Die Kritik daran ist trotz-
Helmut Satzger, 52, Mitgliedstaaten der EU geregelt? dem nicht unberechtigt – gerade weil
Strafrechtsprofessor Satzger: Dort sind Staatsanwälte ent- es diese Option gibt, ist Einflussnahme
in München, zum weder wirklich unabhängig, oder jedenfalls nicht ausgeschlossen.
Urteil des Europäi- die Entscheidung liegt bei einem Richter. SPIEGEL: Das bayerische Justizministerium
schen Gerichtshofes, SPIEGEL: Auch der innerdeutsche Haft- hat SPIEGEL-Informationen zufolge
wonach deutsche befehl wird von einem Richter ausgestellt. veranlasst, dass Staatsanwälte künftig die
Staatsanwälte nicht Er wird ja nur vom Staatsanwalt zum Euro- Ausstellung solcher Haftbefehle bei
EU-Standards päischen Haftbefehl erweitert, wenn der Gericht beantragen. Ist das ein Ausweg?
genügen Beschuldigte im Ausland vermutet wird. Satzger: Vorerst – auch wenn ich daran
Satzger: Das genügt dem Gericht aber zweifle, dass dabei nun wirklich in jedem
SPIEGEL: Deutsche Staatsanwälte dürfen nicht. Vor allem geht es um die Frage, ob Fall eine tiefschürfende Prüfung erfolgt.
laut dem neuen Luxemburger Urteil keine im konkreten Fall eine Auslieferung Wird ein solcher Antrag vom Richter aber
Europäischen Haftbefehle mehr ausstel- wirklich angemessen ist. Das hätte ein nur abgenickt, ist das kein rechtsstaat-
len, weil sie politischer Einflussnahme Richter zu prüfen. licher Gewinn.
unterliegen können. Ist unsere Justiz nicht SPIEGEL: Zuletzt gab es Diskussionen um SPIEGEL: Was wird aus bereits bestehen-
rechtsstaatlich genug? den Europäischen Haftbefehl aus Spanien den Haftbefehlen?
Satzger: So pauschal kann man das nicht gegen den katalanischen Politiker Carles Satzger: Sie sollten schnellstmöglich von
sagen. Allerdings hat das Gericht klar- Puigdemont. Ein deutsches Gericht hatte einem Richter bestätigt werden. Irritatio-
gemacht, dass ein Europäischer Haft- seine Auslieferung wegen des Vorwurfs nen im Ausland, vor allem wenn man dort
befehl nur von einer strikt unabhängigen der Rebellion abgelehnt. Dabei war der bereits auf Basis des in Deutschland ausge-
Justizbehörde ausgestellt werden darf. Haftbefehl in Spanien von einem Richter stellten Haftbefehls tätig wurde, sind pro-
Und das ist die deutsche Staatsanwalt- ausgestellt worden. grammiert. Langfristig sollte man deshalb
schaft nicht, weil die Politik ein sogenann- Satzger: Gerade da wurde der politische bei uns an eine Reform der Stellung der
tes Weisungsrecht hat. Kontext solcher Verlangen deutlich. Umso Staatsanwälte denken. In den meisten Mit-
SPIEGEL: Die Luxemburger Richter wichtiger ist, dass zumindest keine recht- gliedstaaten der EU sind die Staatsanwalt-
hatten 2016 einen ungarischen EU-Haft- liche Möglichkeit zur politischen Einfluss- schaften unabhängig organisiert. HIP

26 DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019


TISSOT heritage visodate.
INSPIRIERT VON DER TISSOT VISODATE
KOLLEKTION AUS DEM JAHR 1950.

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TISSOT, INNOVATORS BY TRADITION
XINHUA / ACTION PRESS

Vorsitzende Nahles: »Eine glasklare Frage, die ich beantwortet haben will«

28
Deutschland

»Das bringt uns alle um«


Sozialdemokratie Am Mittwoch wurde Parteichefin Andrea Nahles ins Gesicht gesagt, dass sie es
nicht kann: Über Stunden hörte sie sich an, was die eigene Fraktion von ihr hält. Chronik eines
brutalen Tages, der die SPD noch beschäftigen wird. Von Christoph Hickmann und Veit Medick

E
s ist etwa Viertel vor fünf, als Sa- Vorsitzenden stünden, schreibt Groß. Der Chancen sondiert hat, verschickt eine Mail
scha Raabe das Wort ergreift. Die Brief verbreitet sich, wird öffentlich. an alle SPD-Abgeordneten: »Ich werde
SPD, sagt Raabe, sozialdemokra- Nahles sieht darin eine Attacke, mit der nicht für den Fraktionsvorsitz kandidie-
tischer Bundestagsabgeordneter sie schon länger gerechnet hat. Seit Wo- ren«, schreibt er. Das habe er Nahles kürz-
aus dem Wahlkreis Hanau, habe nach chen kursieren Gerüchte, im Fall schlech- lich in einem Vieraugengespräch gesagt.
außen vor allem zwei Gesichter: Andrea ter Wahlergebnisse drohe ihr ein Putsch. Über das Gespräch hat der SPIEGEL be-
Nahles und Olaf Scholz – und er erlebe Noch am Montagabend geht sie in die Of- richtet (22/2019), seither laufen in der SPD
nun einmal in seinem Wahlkreis, »so leid fensive: Sie will die für Ende September die Spekulationen, wer geplaudert habe,
es mir auch tut«, dass die beiden dort nicht geplante Wahl in der Fraktion vorziehen. Schulz oder Nahles oder beide. In seiner
ankämen. Sie sucht den Showdown, gegen den Rat Mail bezichtigt Schulz nun Nahles indirekt
Raabe sagt das am Mittwochnachmittag führender Genossen. Es ist ein Alleingang der Indiskretion: Er selbst habe sich an das
in der Sondersitzung der SPD-Bundestags- mit hohem Tempo. Sie will ihren Gegnern vereinbarte Stillschweigen gehalten. Da-
fraktion. Als er redet, läuft die Sitzung die Zeit zur Vorbereitung nehmen. mit erklärt er ihr offen den Krieg, doch für
schon eine Weile, es geht um den Plan von Der Bundestag hat sitzungsfrei, die Ab- die Runde im Jakob-Kaiser-Haus ist ent-
Andrea Nahles, in der kommenden Woche geordneten halten sich in ihren Wahlkrei- scheidend, dass Schulz seine Ambitionen
die Machtprobe zu suchen und die Wahl sen auf, doch für Mittwoch werden sie zur beerdigt hat. Der Abgeordnete Karamba
zum Fraktionsvorsitz vorzuziehen. Sondersitzung der Fraktion geladen. Die Diaby äußert sich in der Sitzung verärgert:
Raabe wendet sich an Scholz, Vizekanz- Diskussionen, die an diesem Tag geführt warum der Martin das nicht schon letzte
ler und Finanzminister: »Du wirst wahrge- werden, sind exemplarisch für den Zu- Woche klargestellt habe.
nommen als kaltherziger Technokrat.« stand dieser Partei, für das, was sie seit Dann sprechen die Abgeordneten wie-
Er wendet sich an Nahles, Partei- und Jahren bewegt, bedrückt. Aber auch dafür, der über Nahles’ Plan. Viele sind dagegen,
Fraktionsvorsitzende: »Ich mag dich von sie fürchten, dass die Vorsitzende mit ih-
Herzen gern, und ich werde immer sagen, rem Vorstoß die Fraktion erst recht spalten
dass du ’ne tolle Arbeitsministerin warst, »Was kommt dann? wird. Manche sind regelrecht verzweifelt
’ne tolle Fraktionsvorsitzende. Aber es ist
halt deine Tragik, dass du das nicht ver-
Was kommt danach? angesichts der Sturheit ihrer Chefin.
»Ich halte die Entscheidung, nächste Wo-
kauft bekommst.« Was heißt das che die Entscheidung herbeizuführen, für
Was Raabe da sagt: Es ist vorbei. Ein für die Fraktion?« falsch«, sagt Fraktionsvize Sören Bartol
Bruch muss her, ein Neuanfang. So kann aus Hessen nach übereinstimmenden An-
es nicht weitergehen. gaben. »Machtpolitisch entspricht das dem
Andrea Nahles, 48, hat schon viel hinter wie gnadenlos die SPD mit ihrem Füh- Lehrbuch. Ich glaube aber, dass das Ergeb-
sich. Sie hat einen Parteivorsitzenden ge- rungspersonal umgeht. nis uns alle umbringt.«
stürzt, Wahlniederlagen erlitten, persön- Die Diskussionen haben hinter ver- Er höre in fast allen Beiträgen »das Un-
liche Demütigungen ertragen. Aber dieser schlossenen Türen stattgefunden. Um sie behagen über diesen Prozess«, sagt Bartol.
Mittwoch dürfte einer der härtesten Tage zu rekonstruieren, hat der SPIEGEL mit »Was kommt dann? Was kommt danach?
in ihrer Karriere sein. mehr als zwei Dutzend Personen gespro- Was heißt das für die Fraktion?« Er könne
Als die SPD bei der Europawahl am chen, die an den Sitzungen beteiligt waren, »nur noch mal eindringlich appellieren,
Sonntag auf 15,8 Prozent abstürzte, hinter hat ihre zum Teil schriftlichen Schilderun- dass wir nächste Woche nicht diese Aus-
den Grünen auf Platz drei landete und erst- gen mit anderen Versionen abgeglichen, einandersetzung haben«.
mals in ihrem Stammland Bremen geschla- Widersprüche hinterfragt, Formulierungen Um 14.45 Uhr verlässt Andrea Nahles
gen wurde, standen sofort wieder die Fra- überprüft. Herausgekommen ist das Pro- kurz den Saal. Sie sieht einen Reporter
gen im Raum, die die SPD-Führung einen tokoll eines Tages, der die SPD noch be- draußen stehen und sagt: »Die Geier krei-
Wahlkampf lang zu verdrängen versucht schäftigen wird. sen.« Dann geht sie weiter.
hatte: Stehen noch die richtigen Leute an Mittwoch, 13 Uhr, Sitzungssaal 1302 im Kurz nach Nahles’ Rückkehr ist die
der Spitze? Stimmt die Programmatik? Jakob-Kaiser-Haus, einem Gebäude, das Abgeordnete Dagmar Schmidt an der Rei-
Und hat es noch Sinn, in der Großen zum Bundestagskomplex gehört. Der he – ebenfalls aus Hessen. Schmidt hasst
Koalition zu bleiben? Fraktionsvorstand tritt zusammen, er soll Illoyalitäten und Durchstechereien, wie es
Vor allem die Frage nach dem Personal Nahles’ Plan absegnen, die Wahl auf nächs- sie in den Wochen zuvor zuhauf gegeben
wollten Nahles und der Rest der Parteifüh- ten Dienstag vorzuziehen. hat, sie sagt: »Wenn wir so weitermachen,
rung umgehen, doch Michael Groß, ein Ihre Mitarbeiter sitzen mit todernsten bewegen wir uns absolut in den Abgrund.«
Abgeordneter aus dem Ruhrgebiet, verei- Gesichtern draußen. Drinnen geht es um Aber auch sie ist mit Nahles’ Plan
telt das. In einem Brief fordert er am Mon- die Frage, ob sich der Showdown nicht nicht einverstanden: »Irgendeine Macht-
tag nach der Wahl eine Sondersitzung der doch noch abwenden lässt. Da platzt in demonstration wird uns nicht weiterhel-
Fraktion. Es müsse »klargestellt werden«, die Runde eine Nachricht: Martin Schulz, fen«, sagt sie. Deshalb habe sie »große
ob die Abgeordneten noch hinter ihrer der in den vergangenen Wochen seine Sympathie dafür«, noch einmal nachzu-

DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 29


Deutschland

denken. »Wir sagen alle, es soll keine Per- und das »Netzwerk«, dessen Mitglieder Man brauche »einen Neuanfang ohne
sonaldebatten geben. Und dann kommt sich als pragmatisch bezeichnen. Parallel Andrea«, sagt ein Abgeordneter aus Nord-
am Abend das Gegenteil«, kritisiert sie. tagen auch noch Landesgruppen. rhein-Westfalen.
»Das sind Entscheidungen, die die Partei Die Seeheimer tagen im Europasaal des Ein Kollege, Axel Schäfer aus Bochum,
nicht zusammenführen in dieser Krise, Paul-Löbe-Hauses. Eigentlich sind sie stolz sagt, er könne Nahles nur raten, aus freien
sondern weiter orientierungslos zurück- darauf, stets loyal zur Führung zu stehen, Stücken den Übergang zu organisieren –
lassen.« selbst wenn es sich um eine Linke wie Nah- am besten mit einer Doppelspitze.
Ein paar Unterstützer von Nahles mel- les handelt. Seeheimer-Chef Johannes Kein Redner stellt sich vorbehaltlos und
den sich zu Wort, sie argumentieren etwa, Kahrs hat in den Tagen zuvor klargemacht, klar hinter Nahles, obwohl hier eigentlich
dass die Vorsitzende nach ihrer Ankündi- dass sich daran nichts ändern werde. Doch ihre Verbündeten sitzen. Sie kommt aus
gung nun ohnehin nicht mehr zurückkön- es kommt anders. diesem Flügel. Tatsächlich dürften die Re-
ne. Doch Matthias Miersch ist anderer Dagmar Freitag meldet sich zu Wort, debeiträge in der hastig abgehaltenen Sit-
Meinung. Miersch, Chef der Parteilinken Abgeordnete aus Nordrhein-Westfalen. zung nicht repräsentativ für die gesamte
in der Fraktion, gilt als möglicher Kandidat Seit 1994 sei sie nun dabei, sagt Freitag, Gruppe sein. Aber in diesen wenigen Mi-
für Nahles’ Nachfolge. Er sagt nun, dass sie habe viele Fraktionsvorsitzende kom- nuten ist es nach Schilderungen von Teil-
er in der nächsten Woche nicht gegen Nah- men und gehen sehen. »Aber ich habe nehmern nur Niels Annen, Staatsminister
les kandidieren werde. Er sagt aber auch, mich noch nie so unwohl in der Fraktion im Auswärtigen Amt, der sich voll für Nah-
dass er ihr Vorgehen für falsch halte. gefühlt.« Dass Nahles eine solche Ent- les reinhängt. Wie solle er denn aussehen,
»Andrea hat recht: Es braucht eine Klä- scheidung treffe und über die Medien der Neuanfang, hält er den Kritikern ent-
rung. Aber eine Klärung bis Dienstag mit kommuniziere, empfinde sie »als völlig gegen. Wie es denn jetzt weitergehen solle,
Ja oder Nein, Schwarz oder Weiß wird der inakzeptable Geringschätzung der Frak- ruft er dazwischen.
Fraktion nicht guttun«, sagt Miersch. Man tionsmitglieder«. Um kurz nach 16 Uhr trifft sich die ge-
solle sich mehr Zeit nehmen, alle sollten Freitag macht klar, was sie generell von samte Fraktion in ihrem Saal unter der
»miteinander sprechen und zu einer Klä- Nahles hält. Deren öffentliche Auftritte sei- Reichstagskuppel. Viele Abgeordnete feh-
rung kommen, bis September oder wann en »Gegenstand jeder Diskussion mit Bür- len, sie haben es nicht nach Berlin geschafft.
auch immer«. gern und Mitgliedern an der Basis mit dem Nahles eröffnet, leitet noch einmal ihre
Am Ende bedankt sich Nahles für die Tenor: Das geht gar nicht«. Entscheidung her. Seit Wochen und Mo-
»intensive und ehrliche Debatte«. Sie er- naten schon sei sie infrage gestellt worden,
klärt noch einmal ihre Entscheidung, sie sagt sie, hinter ihrem Rücken. Viele hier
sagt, sie stelle »eine glasklare Frage, die Man brauche wüssten, von wem sie rede. Einzelne Ab-
ich beantwortet haben will«. Die Situation »einen Neuanfang ohne geordnete hätten ihren Rücktritt sogar öf-
müsse jetzt aufgelöst werden. fentlich gefordert. Sie würde sich wün-
Es ist 15.23 Uhr, als abgestimmt wird. Andrea«, sagt schen, diese Kollegen würden nun auch in
Nahles fragt, wer dafür sei, die Wahl auf ein Abgeordneter. der Sitzung mal den Mund aufmachen.
Dienstag vorzuziehen. 19 Hände gehen Gemeint ist Florian Post, Abgeordneter
hoch. »Wer ist dagegen?« 9 Abgeordnete aus München, der sich seit Monaten so
melden sich. 3 Enthaltungen. »Dann be- Der Brandenburger Abgeordnete Ul- furcht- wie ruchlos an Nahles abarbeitet.
danke ich mich für die Unterstützung«, rich Freese bekennt: »Aus Überzeugung Er meldet sich als Zweiter zu Wort.
sagt Nahles. Ende der Sitzung. und aus strategischen Gründen habe ich Er habe im Europawahlkampf mit vie-
Nahles ist blass, als sie aus dem Saal sie damals nicht gewählt, und ich werde len Menschen gesprochen. »Kein einziger
kommt. Ihre Leute eilen zu ihr hin und das auch diesmal nicht tun.« hat die Meinung ausgedrückt, dass es mit
verschwinden mit der Chefin im Aufzug. Uwe Schmidt, gelernter Hafenfacharbei- dir an der Spitze gut läuft.« Post fordert
Spätestens jetzt muss ihr klar sein, auf wel- ter aus Bremerhaven, erzählt, er habe neu- Nahles zum Rücktritt auf.
ches Wagnis sie sich eingelassen hat: Neun lich bei einem missglückten Wahlkampf- Das weckt Widerspruch, einige Kolle-
Gegenstimmen in einem Gremium, das an- auftritt hinter Nahles gesessen. Er habe sei- gen fallen regelrecht über Post her. Ein Ab-
sonsten loyal zu ihr steht. Wie viele wären ne Sonnenbrille nicht abgenommen – »weil geordneter legt Post nahe, aus der Fraktion
es gewesen, wenn die Abstimmung geheim ich nicht erkannt werden wollte«. auszutreten. »Das wird keiner bedauern.
gewesen wäre? Auch im Europasaal sitzt ein Mann mit Es wird jeder sagen: Gott sei Dank, jetzt
Für den Widerstand gibt es zwei Haupt- Sonnenbrille. Es ist Martin Schulz. Hinter ist gut.«
motive. Da sind die einen, die sich schon der Brille sehe er aus »wie der Termina- Dann spricht Thomas Oppermann. Er
länger vorstellen können, Nahles zu stür- tor«, sagt er Kollegen. In seinem Auge sei- ist Nahles’ Vorgänger und als Vizepräsi-
zen, allerdings erst im September, mit Zeit en Adern geplatzt, man sehe nur noch Blut dent des Bundestags mittlerweile so etwas
zum Planen, Sammeln und Sortieren. De- und Pupille. wie der Elder Statesman der Fraktion. Er
ren Plan ist nun durchkreuzt, sie haben Am Ende der Sitzung, nach einem Wort- schlägt einen großen Bogen und redet über
nur noch eine Woche. Andere sind solcher beitrag von Kahrs, fährt Schulz aus der die Große Koalition. Es laufe nicht gut.
Putschgedanken unverdächtig. Sie treibt Haut. Kahrs hat gerade einen Vorschlag »Erfolge werden uns nicht zugeordnet«,
die Sorge um, dass die Fraktion und mit vom Tisch gewischt, wie sich der Show- sagt er. »Uns werden alle Misserfolge zu-
ihr die Partei bei einer offenen Abstim- down noch vermeiden ließe, nun geht gerechnet.« In den nächsten Monaten müs-
mung noch tiefer gespalten werden. Schulz ihn an, ein Wort gibt das andere, se man hart mit der Union verhandeln –
Die Abgeordneten verlassen den Sit- bis Schulz brüllt: »Du bist ein Arschloch!« und noch niemand habe behauptet, dass
zungssaal, sie haben es eilig. Sie wollen zu Die Parlamentarische Linke trifft sich Nahles schlecht verhandeln würde.
den Sitzungen der sogenannten Strömun- ebenfalls im Paul-Löbe-Haus, Raum E 400. »Wir müssen Trophäen einfahren, oder
gen, die sich vor dem Treffen der Gesamt- Seit 14 Uhr sitzen die meisten Abgeordne- wir werden Konsequenzen ziehen müs-
fraktion noch rasch beraten wollen. ten hier und warten darauf, dass ihre Kol- sen«, sagt Oppermann. »Das heißt, wir
Drei Strömungen oder Flügel gibt es in legen aus dem Fraktionsvorstand dazu- stehen vor der Frage: Gibt es die GroKo
der Fraktion: die »Parlamentarische Lin- kommen. Die treffen gegen 15.30 Uhr ein, Weihnachten noch?« In einer solchen
ke«, den konservativen »Seeheimer Kreis« die Sitzung wird nicht lange dauern. Situation sei es »keine schlaue Idee, die

30
Führung auszuwechseln«. Zumal sich Aber wer soll das sein? Schulz selbst Minister müsse sich Sorgen um seinen Pos-
dann sofort die Frage stelle, wie es an der hat abgewinkt, ebenso Matthias Miersch. ten machen.
Parteispitze weitergehe. Er bitte um »ein Bleibt der nordrhein-westfälische Abge- Damit ist endgültig klar: Für Nahles
bisschen Fairness« im Umgang mit der ordnete Achim Post, dessen Name in den geht es nun um alles oder nichts.
Fraktionsvorsitzenden. jüngsten Wochen immer wieder gefallen Es ist halb neun am Abend, die Sitzrei-
Doch der Ärger über Nahles’ Vorstoß ist. Der Abgeordnete Gustav Herzog aus hen sind ausgedünnt. Viele Abgeordnete
ist groß, und er entlädt sich. Rheinland-Pfalz fragt ihn direkt: ob er kan- aus Nordrhein-Westfalen sind vor Ende
»Ich fühle mich vergewaltigt«, sagt der didieren werde? der Sitzung zum letzten Zug in die Heimat
hessische Abgeordnete Martin Rabanus. Post drückt sich um eine Antwort he- gehastet. Manche Abgeordneten über-
Daniela De Ridder aus Niedersachsen rum. Er sagt, es gehe nun um die Zukunft nachten in Berlin. Und der Parteivorstand
nimmt Nahles zunächst in Schutz: Andrea der SPD als Volkspartei, er referiert die berät in einer Telefonschaltung über die-
sei eine Kämpferin, sagt sie. Es dürfe nicht Lage der sozialdemokratischen Parteien sen Tag. In der Schalte verkündet Nahles
gelten, dass der Erfolg viele Väter habe, in Europa. Zu seinen Ambitionen, so wird laut Teilnehmern, sie sehe in der Fraktion
der Misserfolg aber nur eine Mutter, näm- es geschildert, sagt er demnach nichts. eine klare Mehrheit für sich.
lich Andrea Nahles. Sollte Nahles aber bei Zwischendurch ergreift Nahles das Wie geht es nun weiter?
ihrem Plan bleiben, sagt De Ridder, fühle Wort. Sie liest aus der Onlineausgabe der Nach diesem Mittwoch ist kaum vorstell-
sie sich »genötigt«, würde sich zurückzie- »Bild«-Zeitung vor. »Es geht nicht mehr bar, wie die SPD mit Nahles weitermachen
hen und mit Nein stimmen. darum, wer es wird, sondern nur darum, soll, wie man all diese Verletzungen heilen
könnte, wie die Genossen zurückfinden
wollen in eine Art Arbeitsmodus.
Nur: Was wäre daran anders, wenn sich
ein Gegenkandidat durchsetzen würde?
Die Spaltung bliebe ja die gleiche, nur dass
ein anderes Lager enttäuscht wäre.
Dieser Tag wird auch über die SPD
hinauswirken. Ganz gleich, was in den
nächsten Tagen passiert, die Große Koali-
tion wird nicht mehr dieselbe sein wie vor
Nahles’ Alleingang.
Vielleicht setzt Nahles sich noch einmal
durch, mit Machtpolitik alter Schule. Doch
die Aussprache in der Fraktion, in den
Strömungen und im Vorstand hat offenge-
legt, wie leid viele Abgeordnete die ewige
Rationalität, die Disziplinierung sind, das
Basta, mit dem schon Gerhard Schröder
und Peter Struck durchgriffen. Diese Er-
fahrung wird den Regierungsalltag prägen.
MICHAEL KAPPELER / DPA

Am Donnerstag, an Christi Himmel-


fahrt, geht es schon los, es kommen erste
Rufe, das Bündnis zu beenden. Sie dürften
lauter werden, spätestens nach den drei
Landtagswahlen im Osten, nach der Som-
Galerie der SPD-Fraktionsvorsitzenden im Bundestag: Es geht nun um alles oder nichts merpause. Allerspätestens.
Fiele Nahles am Dienstag, wäre die Gro-
ße Koalition womöglich noch schneller am
Es folgt Martin Schulz. Er entschuldigt wer es nicht bleibt: Andrea«, so wird dort Ende. Verliert Nahles den Fraktionsvor-
sich für seinen »überemotionalen Wortbei- während der laufenden Sitzung anonym sitz, kann sie den Parteivorsitz gleich mit
trag« beim Seeheimer-Treffen. Auch bei ein Abgeordneter zitiert. Nahles’ Kom- niederlegen, ihre Machtbasis wäre weg –
Kahrs persönlich hat er sich da schon ent- mentar: »So viel zu unserer Vertrauens- und damit ein Eckpfeiler dieser Koalition.
schuldigt. Er wehrt sich noch einmal dage- kultur.« Auch Vizekanzler Olaf Scholz, den viele
gen, dass ihm ein Putschversuch und Indis- Aber sie hat auch Unterstützer. Der Ab- Genossen als Teil des Problems wahrneh-
kretionen unterstellt wurden. Er werde ja, geordnete René Röspel erklärt, er werde men, müsste dann um sein Amt fürchten.
sagt Schulz laut Teilnehmern, von manchen sie wieder wählen. Und Außenminister Nahles’ Unterstützer streuen das drohen-
mittlerweile mit Sigmar Gabriel verglichen. Heiko Maas wirft die Frage auf, ob man mit de Ende der Koalition als Schreckens-
Bei allem Respekt, aber das treffe ihn sehr, einem Mann auch so umgegangen wäre szenario. Doch es löst in der SPD immer
sagt Schulz. Klar, sagt Schulz, »ich quatsche wie mit Nahles. Nein, befindet Maas – be- weniger Schrecken aus.
manchmal auch dummes Zeug«. Aber seit stimmte Auftritte hätte man einem Mann In der Fraktionssitzung am Mittwoch hat
seinem Rücktritt habe er versucht, »hier nicht so vorgehalten. Dafür gibt es kräfti- sich auch ein junger, aufstrebender Abge-
loyal mitzuarbeiten«. gen Applaus. Den gibt es ansonsten kaum. ordneter zu Wort gemeldet, Falko Mohrs,
Es gehe, sagt Schulz, um eine Grund- Die Stimmung bleibt gedämpft. 34, aus Wolfsburg. Alle schauten auf den
satzentscheidung: Bekäme Nahles in der Das Schlusswort hat natürlich Andrea Dienstag, sagte Mohrs. Aber wie gehe es
nächsten Woche eine Mehrheit, hätte sie Nahles. Da kursiert bereits die nächste Zei- weiter? »Ich frage mich die ganze Zeit, was
Anspruch auf Unterstützung. Bekäme je- tungsmeldung, wonach sie einen Ausweg eigentlich am nächsten Mittwoch passiert.«
mand anderes eine Mehrheit, hätte auch finden und als Ministerin ins Bundeskabi- Wie, fragte er, wolle die SPD danach wie-
der darauf Anspruch. »In der Demokratie nett wechseln könnte. Das könne sie aus- der einen »Teamgeist« entwickeln?
setzt sich eben immer jemand durch.« schließen, sagt Nahles in der Fraktion, kein

DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 31


Deutschland

Wahnsinn und Klimbim D


ie Analyse der Wahlniederlage war
schonungslos. Die Partei sei derzeit
weder inhaltlich noch organisato-
risch noch personell in der Lage, einen
Wahlkampf zu führen, sagte Annegret
Union Annegret Kramp-Karrenbauer ist erst ein halbes Kramp-Karrenbauer am Montag vor den
Jahr im Amt, doch die Zweifel an der CDU-Vorsitzenden wachsen. Führungsgremien der CDU. Dann listete
Ausgerechnet ihr engster Vertrauter verschärft die Krise. sie nach Angaben von Teilnehmern eine
Reihe von Fehlern auf: Die Reaktion auf
das Video des YouTubers Rezo gegen die
CDU sei nicht gut gewesen. Beim Thema
Klimaschutz gebe die Union keine konsis-
tente Antwort. Und auf personeller Ebene
habe die Partei ebenfalls kein attraktives
Angebot, das Köpfe mit wichtigen The-
men verbinde.
Damit schob sie einen Teil der Verant-
wortung ihrer Vorgängerin zu, die 18 Jahre
lang für die Partei verantwortlich war.
Angela Merkel ließ sich jedoch nicht wi-
derspruchslos zur Mitschuldigen für das
schlechte Ergebnis bei der Europawahl ma-
chen. Mit Formulierungen wie »Gender-
wahnsinn« und »Sozialklimbim« gewinne
man keine jungen Leute, sagte sie in der
Präsidiumssitzung der CDU.
Sozialklimbim ist ein Wort des CDU-
Wirtschaftspolitikers Joachim Pfeiffer, das
auch in den eigenen Reihen Kritik ausge-
löst hatte. »Genderwahnsinn« verstanden
manche Anwesende als Anspielung Mer-
kels auf einen Scherz Kramp-Karrenbau-
ers, die sich bei einem Karnevalsauftritt
im Februar über Toiletten für das dritte
Geschlecht lustig gemacht hatte.
Beide Frauen haben recht, das ist das
Problem der CDU. Merkel hat ihrer Partei
die inhaltlichen Konturen abgeschliffen.
Zu den großen Themen, neben dem Klima
auch die Digitalisierung, hat die CDU we-
nig zu sagen, und Kramp-Karrenbauer hat
es nicht geschafft, der Partei wieder mehr
Profil zu verleihen. Bei der Europawahl
rutschte die Union um 6,5 Prozentpunkte
ab, auf nur noch 28,9 Prozent.
Knapp ein halbes Jahr nach ihrer Wahl
ist in der CDU eine Debatte darüber ent-
brannt, ob Kramp-Karrenbauer eine ge-
eignete Nachfolgerin Merkels ist. Bei dem
Versuch, die Partei von der Kanzlerin zu
emanzipieren, hat die neue Vorsitzende
Fehler über Fehler gemacht. Unter Merkel
war klar, dass die Union vor allem die
Wähler der liberalen Mitte ansprechen
wollte. Das fanden viele falsch, die sich
einen konservativeren Kurs gewünscht hät-
ten. Unter Kramp-Karrenbauer ist unklar,
ob es überhaupt eine Linie gibt.
Es habe sich der Eindruck verfestigt, es
gebe einen Rechtsruck in der CDU, sagte
die Parteivorsitzende am Montag. Das sei
STOCKI / ACTION PRESS

aber eine Fehlwahrnehmung. Zu dieser


hat sie selbst viel beigetragen.
Ihr wichtigster Beitrag zur Programm-
debatte war ein sogenanntes Werkstattge-
spräch zur Flüchtlingspolitik in der Partei-
Parteichefin Kramp-Karrenbauer: Was schiefgehen kann, geht schief zentrale, das ein Signal der Distanzierung

32
von Merkels Linie sein sollte. Kramp-Kar- »vermeintlicher Rechtsruck bei der JU so- halten ihn viele für ungeeignet. Hochran-
renbauer war das wichtig, um eine Spal- wie die medial sehr präsente, sogenannte gige CDU-Politiker haben dies Kramp-
tung der Partei zu verhindern und auch WerteUnion« hätten neben anderem zu Karrenbauer in den vergangenen Tagen
den Flügel an sich zu binden, der sich einer deutlichen Abkehr unter 30-jähriger auch mitgeteilt. Die Entscheidung, eigent-
Friedrich Merz an der Parteispitze ge- Wählerinnen und Wähler geführt, heißt es lich für die Klausurtagung des Vorstands
wünscht hatte. dort. Lange verärgerte damit gleichzeitig am Sonntag geplant, wurde verschoben.
Als sie weiter so agierte, als wollte sie die Konservativen und die Parteijugend. In Langes Wahlanalyse findet sich der
vor allem den Konservativen in der Partei Das Papier war auch eine Selbstrecht- Satz: »Bei dieser Europawahl trat erst-
gefallen, ärgerte das auch ihre Unterstüt- fertigung. Die Europawahlkampagne mit malig der zu erwartende Effekt eines Wahl-
zer. Das Gender-Witzchen fanden viele den Schlagworten »Wohlstand«, »Sicher- kampfes ohne Ausspielen des Bevölke-
Unionspolitiker unangemessen. »Wir dür- heit«, »Frieden« hat Lange konzipiert. Die rungsrückhaltes der Bundeskanzlerin ein.«
fen nicht den falschen Eindruck erwecken, Bedeutung des Themas Klimaschutz hatte Das kann man so lesen, als sei es ein Fehler
dass die CDU nach rechts rückt«, sagte die er unterschätzt. gewesen, Merkel durch Kramp-Karrenbau-
schleswig-holsteinische Bildungsministe- Es war nicht sein erster Schnitzer. Die er zu ersetzen. Die Kanzlerin sieht das
rin Karin Prien schon im April. Die Inte- missglückte Antwort der Partei auf das möglicherweise so.
grationsbeauftragte Annette Widmann- Video des YouTubers Rezo geht auf sein Merkel empfand das Werkstattgespräch
Mauz beschwor Kramp-Karrenbauer im Konto. Lange soll es gewesen sein, so be- als unnötig. Hätte Kramp-Karrenbauer
kleinen Kreis, endlich die Positionen zu richten Eingeweihte, der Bundestagsabge- eine mögliche Schließung der Grenzen als
vertreten, für die sie gewählt worden sei. ordneten davon erzählte, dass die CDU mit offizielle CDU-Position formuliert, hätte
Noch mehr schadete der Parteivor- einem Video des jungen Philipp Amthor Merkel sich öffentlich dagegengestellt,
sitzenden ein programmatischer Artikel auf Rezo antworten werde. Er gab auch ein heißt es in ihrer Umgebung. Im Lager der
zu Europa, den sie im März in der »Welt Foto der Aufnahmen an die »Bild«-Zeitung. Parteichefin nimmt man Merkel dagegen
am Sonntag« als eine Antwort auf die Vor- übel, dass sie sich aus den Wahlkämpfen
schläge des französischen Präsidenten Em- der Partei heraushält.
manuel Macron veröffentlichte. Mit For- 41,5 % Zeitenwende Die Schwäche Kramp-Karrenbauers
derungen wie der, das EU-Parlament nicht hat die Machtverhältnisse verändert. Vor
CDU/CSU
mehr in Straßburg tagen zu lassen, pro- wenigen Wochen debattierte die Partei
vozierte sie die Franzosen und verärgerte
32,9 % die Frage, ob die Vorsitzende Merkel zum
die Europapolitiker in den eigenen Reihen. 28,9 % Rückzug als Kanzlerin zwingen werde.
Kramp-Karrenbauer handelte bislang Nach dem Wahldesaster vom Sonntag
vor allem taktisch. Sie denkt als Partei-
25,7 % SPD bekannte sich Kramp-Karrenbauer im
vorsitzende. Der hätte man einen unaus- 20,5 % 20,5 % Präsidium zur Fortsetzung der Großen
gegorenen Zeitungsartikel oder einen Koalition. Merkel hatte keinen Zweifel da-
missglückten Karnevalsscherz vielleicht ran gelassen, dass sie bis zum Ende der
verziehen. Aber Partei und Öffentlichkeit Grüne Legislaturperiode regieren will.
interessiert die Frage, ob diese Frau auch 8,9 % 15,8 % Das bedeutet, dass Kramp-Karrenbau-
Kanzlerin könnte. Toilettenwitze gelten
8,4 % ers Dilemma sich verschärfen wird. Sie
vorläufiges
dabei nicht als Qualifikation. amtliches
kann sich nicht von der beliebten Kanzle-
Kramp-Karrenbauer muss nun eine Endergebnis rin absetzen, weil die eigenen Unterstüt-
Erfahrung machen, die ihre Amtskollegen zer das nicht mitmachen würden. Aber
von der SPD seit Jahren kennen: Wenn Bundestags- Bundestags- Europawahl wie soll sie dann Akzente setzen? Bislang
es erst einmal schlecht läuft, dann geht wahl 2013 wahl 2017 2019 hat sie auf diese Frage keine Antwort.
alles schief, was schiefgehen kann. Eine Eine offene Personaldiskussion will
unbedachte Äußerung über Regeln zum die CDU vermeiden. Kritiker äußern sich
Wahlkampf im Internet brachte ihr den Kramp-Karrenbauer erreichten bereits nur im Hintergrund. Das könnte sich nach
Vorwurf ein, sie wolle die Meinungs- Anrufe besorgter Landeschefs und Gene- den Landtagswahlen in Sachsen, Bran-
freiheit im Internet einschränken. Dass ralsekretäre, bevor sie von der Idee des denburg und Thüringen in der zweiten
Laschet und der Vorsitzende der Jungen Videos mit Amthor wirklich überzeugt Jahreshälfte ändern, sollte die AfD in ein
Union (JU), Tilman Kuban, darauf hinwie- war. Das mag sie auch dazu bewogen ha- oder zwei Ländern stärker als die CDU
sen, die Meinungsfreiheit sei ein hohes ben, die Veröffentlichung abzusagen. werden.
Gut, ließ sie noch schlechter aussehen. Wäre die Nachricht von dem Video nicht Die Debatte deutet sich bereits an. »Die
Viele Fehler sind der Unerfahrenheit dank Lange schon im Umlauf gewesen, Volksparteien haben in der Substanz zu
Kramp-Karrenbauers in der Bundespolitik hätte das nicht für Aufsehen gesorgt. So den großen Veränderungen, die vielen
geschuldet. Umso wichtiger wäre es für aber wirkte es, als lasse sich die Partei von Menschen Angst machen, kaum etwas an-
sie, erfahrene Berater an ihrer Seite zu einem jungen YouTuber vorführen. zubieten. Das schließt auch die CDU ein«,
haben. Doch ausgerechnet ihr wichtigster Auch die verhängnisvolle Antwort an sagt der Vorsitzende des Auswärtigen Aus-
Mann, CDU-Planungschef Nico Lange, Macron hat Lange verfasst. Er besprach schusses, Norbert Röttgen.»Schlagwörter
wirkt mit dieser Aufgabe überfordert. sich vorher weder mit Abgeordneten und Worthülsen sind keine Konzepte. Das
Lange, ein ehemaliger Zeitsoldat, war noch mit der Fachabteilung im Konrad- zu ändern ist die Aufgabe, an der sich die
für die Konrad-Adenauer-Stiftung in Adenauer-Haus, wie Mitarbeiter berich- Zukunft der Partei, aber auch die von An-
verschiedenen Ländern tätig. Sein Selbst- ten. Die hätte die Forderung, endlich EU- negret Kramp-Karrenbauer entscheiden
bewusstsein übertrifft seine Erfahrungen Beamte zu besteuern, wohl aus dem Text wird.« Dass ein CDU-Politiker, der Kramp-
in der Berliner Politikszene. Am Abend gestrichen. Eine Steuer gibt es längst. Karrenbauer gegen Merz unterstützt hatte,
der Europawahl verfasste er nach Anga- Lange galt als Favorit für die Nachfolge ihre Zukunft infrage stellt, dürfte ihr end-
ben von Mitarbeitern eine spontane Wahl- des scheidenden Bundesgeschäftsführers gültig den Ernst der Lage klarmachen.
analyse und verschickte sie an die Partei- Klaus Schüler. Damit würde seine Macht Ralf Neukirch
spitze, ein ungewöhnlicher Vorgang. Ein weiterwachsen. Doch im Parteipräsidium

DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 33


Deutschland

Die Weisheit des


sieben Jahren vorgestellten Programm gab
er den Titel »Freude ist nur ein Mangel
an Information«.

Maulwurfs
In der Rolle eines weisen, maulwurfs-
grummeligen Eremiten kombiniert Sems-
rott die Schilderung von privaten Mise-
ren – darunter Studienabbruch, Hilf-
losigkeit im Liebesleben und eine durch
Wahlen Nico Semsrott wird von vielen jungen Menschen als Satirestar keine Therapie kurierbare Schwermut –
verehrt. Nun hat er für »Die Partei« ein Mandat in Brüssel errungen. mit der Schilderung einer pathologischen
Gesellschaft. Den Leistungsdruck des
Kapitalismus, die mediale Über-

M an kann womöglich Fort-


schritt dazu sagen. Vor an-
derthalb Jahren, im Bun-
destagswahlkampf, trat der Satiri-
forderung, vor allem aber die Dau-
ererregung der Rechtspopulisten
und ihrer Anhänger kontert der En-
tertainer Semsrott mit maximaler
ker Nico Semsrott noch unter dem Lethargie.
Motto »Weil ich mir egal bin« an. Sein bislang grandiosester Streich
Auf Wahlplakaten blickte er bleich ist ein YouTube-Video, in dem er
und traurig, die Schrift verkündete: mit fast schon komatöser Seelen-
»Wir geben der Krise ein Gesicht.« ruhe das Weltbild der AfD zerlegt,
Es klappte nicht mit dem Mandat. indem er diverse AfD-Parolen vor-
Nun aber ist er mit dem Slogan trägt und sie durch Zuspitzung ent-
»Besser als nix« tatsächlich ins Eu- zaubert. »Ich sehe was, was du
ropäische Parlament gewählt wor- nicht siehst, und das ist die Islami-
den. Erbaulicher? Semsrott spricht sierung des Abendlandes«, heißt es
mit betont tonloser, leiernder Stim- in diesem Video, das seit August
me. »Das ist bei uns jetzt kein opti- 2016 mehr als 2,6 Millionen Mal
mistischer Ansatz wie bei den Grü- angeklickt wurde.
nen, so in der Art: ›Ey, die Blumen Das Paradoxe am scheinbar völ-
sprießen, die Schmetterlinge flat- lig ehrgeizfreien Spiel des Satiri-
tern, wir bauen jetzt das neue kers Semsrott, der lieber nicht Co-
Europa.‹ Nee, wir sagen: Eigentlich median genannt werden will (»Sa-
ist alles im Arsch. Aber wir schauen tire muss wehtun. Alles andere ist
mal, was wir noch rausholen kön- belanglos, also Comedy.«), ist der
nen, indem wir die letzten Kräfte aufklärerische Ehrgeiz, den er als
mobilisieren.« Bühnenheld wie als Politiker offen-
Der Unterhaltungskünstler Nico bart. Seine Arbeit als Komiker be-
Semsrott, 33, hat bei der Europa- schreibt er so: »Die Figur, die ich
wahl eines der beiden Mandate spiele, weiß zwar, dass alles schon
für die Satirepartei »Die Partei« er- Semsrott-Plakat verloren ist, aber sie setzt sich trotz-
rungen. Das andere ging an Martin »Die Figur, die ich spiele, weiß, dass alles schon verloren ist« dem zur Wehr. Weil sie die Arsch-
Sonneborn, 54. Sonneborn hat löcher und das Böse nicht gewin-
»Die Partei« im Jahr 2004 mit ein paar dent Sloweniens, ebenfalls ein Comedian – nen lassen will.« Über seine Pläne für die
Mitstreitern im Dunstkreis der Zeitschrift wie im Grunde ja auch Donald Trump. An- Abgeordnetenzeit in Brüssel sagt er: »Viel-
»Titanic« gegründet. 2,4 Prozent der Stim- tipolitiker sind gerade beliebte Politiker, leicht gehe ich am Ende enttäuscht raus
men holte »Die Partei« nun bundesweit und Humor ist eine scharfe Waffe. Oder aus der Politik. Mein Vorteil ist, dass ich
bei den Wahlen fürs Europäische Parla- wie Semsrott 2017 für sich warb: »Liebe schon enttäuscht reingehe.«
ment. Unter den Wählern, die jünger als Nichtwähler, wenn’s euch egal ist, wer im Solche Sätze sagt Semsrott in schneller
30 Jahre sind, brachte sie es zur viert- Bundestag sitzt, wäre es dann nicht schön, Folge, ohne dass man ihm irgendeine Mühe
stärksten Kraft hinter den Grünen, der von jemandem vertreten zu werden, dem’s anmerkt. Er ist in Hamburg aufgewachsen,
Union und der SPD, noch vor den Linken. egal ist, dass er im Bundestag sitzt?« hat nach dem Abitur tatsächlich ein Studi-
Semsrott selbst sagt bei einem Telefonat Auf der Bühne trägt Semsrott stets um abgebrochen und diverse Praktika, un-
am Dienstag nach der Wahl, das er aus einen dunklen Kapuzenpulli. Die Augen- ter anderem bei SPIEGEL ONLINE, absol-
Brüssel führt, wo er gerade die Lage er- lider auf halbmast, die Gesichtszüge blei- viert. Mit seinen Poetry-Slam-Auftritten,
kundet: »Ich bin ein lebendes Mahnmal ern, die Körperhaltung schlaff, so trägt er für die er bejubelt und preisgekrönt wurde,
für die vergessene Jugend in Europa.« vor, was er über eine traurige Welt und sei er »in eine Karriere reingescheitert«,
Und so überraschend der Erfolg der seine meist depressive Grundstimmung wie er das ausdrückt.
»Partei« ohnehin ist – noch erstaunlicher zu berichten hat. Er selbst nennt sich ei- Der Erfolg der Partei »Die Partei« habe
dürfte sein, wie sehr Satiriker gerade die nen »Demotivationstrainer«. Zunächst damit zu tun, glaubt Semsrott, »dass viele
europäische Politik verändern: Beppe Gril- bei Poetry-Slam-Wettkämpfen, dann auf der jüngeren Wähler sich einfach nicht von
lo und seine Fünf-Sterne-Bewegung in Kabarettbühnen und seit 2017 als wieder- den anderen Parteien repräsentiert fühlen«.
Italien, Jón Gnarr, der die isländische kehrender Gast der »heute-show« im ZDF Aber eben auch mit dem Auftreten der
Hauptstadt Reykjavík als Bürgermeister hat sich Semsrott ein großes Publikum »Partei«-Kandidaten und ihren Wahlwer-
regierte. Wolodymyr Selenskyj, der neue erspielt, das hingerissen seinen Vorträgen bespots, in denen zum Beispiel ein Höchst-
ukrainische Präsident ist immerhin ein Se- folgt. Seine Monologe sind fast immer wahlalter für Senioren gefordert wird. Für
rienstar, Marjan Šarec, der Ministerpräsi- Katastrophenberichte. Einem erstmals vor einen ihrer Spots zur EU-Wahl hatte »Die

34 DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019


Partei« der Flüchtlingshilfsorganisation
Sea-Watch den Sendeplatz freigeräumt, da-
mit sie Bilder eines im Mittelmeer ertrin-
kenden Jungen zeigen konnte. Semsrott
formuliert es so: »Wir machen ernste Poli-
tik, die manchmal auch Lust bereitet.«
Mit hörbarem Stolz berichtet er von
einer Studie, die ihm unter allen deutschen
EU-Parlamentskandidaten die größte
Reichweite und den größten Impact be-
scheinigt habe, was Instagram, Twitter
Jetzt im
oder YouTube angehe. »Wir haben eine
an die Zeit angepasste Kommunikation. Handel
Wir sind unterhaltsam. Man guckt sich
unsere Sachen freiwillig an, man schickt
sie an Freunde weiter.«
Die Leitartiklerfloskel, dass der Erfolg
der »Partei« ein Zeichen von Politikver-
drossenheit sei, bringt Semsrott in Rage.
»Das Wort ist falsch. Die Leute sind par-
teienverdrossen, aber politisch so interes-
siert und engagiert wie sonst was.« Er
selbst staune, sagt Semsrott, wie viele Bür-
ger in den vergangenen zwei Jahren im
Kampf um den Hambacher Forst und ge-
gen die schärferen Polizeigesetze, gegen
die Klimakatastrophe und gegen rechts
den Weg auf die Straße gefunden hätten.
»Das ist doch beeindruckend, wie sehr die-
se Zivilgesellschaft on fire ist«, findet der
Satiriker. »Große Teile der deutschen Be-
völkerung sind politischer als die Politiker
selbst.«
Regelrecht wütend mache ihn die Lei-
denschaftslosigkeit der Mächtigen in Ber-
lin, die zum Beispiel in der Bundespresse-
konferenz demonstriert werde, sagt Sems-
rott. »Wie unglaublich langsam unsere
Politiker ihre Debatten führen! Wie un-
fassbar zäh über erneuerbare Energien www.spiegel-geschichte.de
oder die mörderische Grenzpolitik der EU
geredet wird!«
Ein unter den Fans längst berühmter
Satz der Bühnenfigur Semsrott, die sich
nur schwer zu irgendeiner Aktion aufraf-
fen kann, lautet: »Jede Entscheidung ist X Auch als App für iPad, Android
der Tod von Milliarden Möglichkeiten.« sowie für PC/Mac. Hier testen:
An der Wählerentscheidung, Sonneborn
und ihn nach Brüssel zu schicken, gibt es geschichte.spiegel.de/digital
eines, was den Politiker Semsrott, wie er
sagt, »aufrichtig deprimiert«. »Die Partei«
wird mit zwei männlichen Abgeordneten
ins EU-Parlament einziehen, eine erst auf
Listenplatz drei gesetzte Kandidatin na-
mens Lisa Bombe hat es knapp nicht ge-
schafft.
»Natürlich ist es nicht gut, dass wir eine
männliche Doppelspitze haben«, sagt
Nico Semsrott. »Satire hin oder her. Mir
Lesen Sie in diesem Heft:
ist das peinlich.« Wolfgang Höbel
Goethe »Wo die Zitronen blüh’n«
Video
»Depressive
Antifa!«
Mafia Ein Pate aus dem Ruhrpott
spiegel.de/sp232019semsrott
oder in der App DER SPIEGEL
Wenn bei Capri …
35
Der Soundtrack zum Fernweh
»Wer auf YouTube zum Battle
gefordert wird, muss reagieren«
SPIEGEL-Gespräch CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt über die Angst der Union vor
Blamagen im Internet, seine Vorstellungen von ambitioniertem Klimaschutz und
zu der Frage, wie lange Annegret Kramp-Karrenbauer im Schatten der Kanzlerin stehen kann

Dobrindt, 48, Vorsitzender der CSU-Abge-


ordneten im Bundestag, eilt verspätet in
das Restaurant Vestibül im Wiener Burg-
theater. Soeben hat er Gespräche mit der
schwedischen Klimaaktivistin Greta Thun-
berg und mit Arnold Schwarzenegger ge-
führt, der für seine Klimainitiative »R20
Austrian World Summit« nach Wien einge-
laden hatte. Dobrindt ist mit dem Flugzeug
angereist, aber, das stellt er sofort klar, er
hat dafür eine Klima-Ausgleichsabgabe
gezahlt. Der CSU-Mann, früher schärfster
Kämpfer seiner Partei gegen grüne Ideo-
logen, erfindet sich in den Tagen nach der
Europawahlschlappe der Union und dem
Triumph der Grünen neu – als Klimaretter.

SPIEGEL: Herr Dobrindt, wie alt waren


Sie, als Sie in die CSU eingetreten sind?
Dobrindt: Ich bin mit 16 Jahren Mitglied
bei der Jungen Union geworden. Mitte der
Achtzigerjahre lag ich damit nicht wirklich
im Mainstream.
SPIEGEL: Wie kam es zu diesem Schritt?
Dobrindt: Es hat mich fasziniert, wie Hel-
mut Kohl mit dem Wechsel zur christlich-
liberalen Koalition die politische Wende
in Deutschland eingeleitet hat. An einen
Sitz im Bundestag habe ich damals nicht
gedacht. Ich wollte einfach mitgestalten
an politischen Entscheidungen.
SPIEGEL: Junge Leute unter 25 fühlen heu-
te anders: Nur zwölf Prozent haben bei
der Europawahl CDU oder CSU gewählt.
Ist die Union ein Klub für alte Leute?
Dobrindt: Nein. Wir sind in allen Alters-
gruppen ab 35 Jahren die stärkste Kraft und
damit nach wie vor breit aufgestellt. Das
muss uns jetzt auch wieder bei den Alters-
gruppen darunter gelingen. Es ist kein Na-
turgesetz, dass wir bei jungen Wählern von
den Grünen abgehängt werden. Bei der
Landtags- und bei der Bundestagswahl 2013
INGO PERTRAMER / DER SPIEGEL

waren wir als CSU die mit weitem Abstand


stärkste Kraft bei den Jungwählern in Bay-
ern. Dafür müssen im Wahlkampf die In-
halte und die Kommunikation stimmen.
SPIEGEL: Sie spielen auf den Umgang der
Union mit dem YouTuber Rezo an, der in
seinem millionenfach angeklickten Video
»die Zerstörung der CDU« betreibt? Abgeordneter Dobrindt: »Zur Instagram-Ikone taugen andere besser«

36
Deutschland

Dobrindt: Wenn man eine Woche vor dem nen Gesellschaft. Aber Gesellschaften, in SPIEGEL: Sie meinen den Klimaschutz?
Wahltermin auf YouTube zu einem Battle denen das Netz komplett staatlich über- Dobrindt: Klimaschutz, Naturschutz, die
herausgefordert wird, muss man reagieren. wacht wird, sind solche, in denen wir nicht Bewahrung der Schöpfung – genau diese
SPIEGEL: Wo sahen Sie die Gefahr? leben wollen. Themen machen den Gencode christlicher
Dobrindt: Das Video verdichtet in einer SPIEGEL: Kann unsere Demokratie Schritt Volksparteien aus. Ausgerechnet hier ha-
schnellen Abfolge komplexe Inhalte zu halten mit der Digitalisierung? ben wir aber im Wahlkampf – auf der Stra-
sehr einfachen Botschaften, sodass ein ver- Dobrindt: Wir erleben in ganz Europa, ße wie auch im Netz – zu wenig Angebote
tieftes Nachdenken über das Gesprochene dass die größten Profiteure von Meinungs- gemacht.
beim Zuschauer gar nicht stattfindet. Hän- freiheit und demokratischer Transparenz SPIEGEL: Ist das nicht auch Ihr Erbe? Als
gen bleibt, dass die Volksparteien versagen genau diese Werte infrage stellen. Manche CSU-Generalsekretär haben Sie Ökos und
oder falsch handeln. In Zeiten einer hoch ganz bewusst, weil sie wie die Rechtspopu- Vegetarier verspottet, als Verkehrsminister
dynamischen Kommunikation in den so- listen unsere Demokratie destabilisieren die Autoindustrie gehätschelt.
zialen Netzwerken und Plattformen muss und letztlich einen Systemumsturz wollen. Dobrindt: Ich mag Autos, das stimmt.
man auf so etwas reagieren, und zwar auf Andere unbewusst, weil ihnen zum Bei- Aber ich mag keine Betrügereien. Da habe
dem Feld, wo man attackiert worden ist. spiel die Dynamik des Föderalismus zu ich bei der Automobilindustrie im Diesel-
SPIEGEL: Hätte die Union mit einem Vi- langsam ist. Ich glaube, dass in Wahrheit skandal immer einen klaren Strich gezo-
deo antworten sollen statt mit einem elf- nur Demokratien in der Lage sind, tech- gen. Und ich finde es geradezu grotesk,
seitigen PDF-Dokument? nologische Umbrüche in der Gesellschaft wenn ein Konzern verkündet: Wir bauen
Dobrindt: Wenn der Gegner dich zum so zu steuern, dass sie zum Vorteil für alle Elektroautos, wenn die Politik es will. Ich
Schachspiel auffordert, kannst du jeden- und nicht zum Nachteil für viele werden. sage, ein Autokonzern hat die verdammte
falls nicht antworten: Okay, ich gehe mal SPIEGEL: Sie haben drei Handys vor sich Pflicht, sein Angebot so weiterzuent-
meine Würfel holen. Man kann Schlachten auf dem Tisch liegen, sind aber nicht auf wickeln, dass er auch in Zukunft die mo-
nur gewinnen, wenn man auf demselben Instagram oder Twitter. Wie weit her ist dernsten, innovativsten und besten Autos
Spielfeld steht wie der Angreifer. es mit ihrer Social-Media-Kompetenz? der Welt baut, und nicht einfach auf die
SPIEGEL: Wenn die CDU gegen einen Dobrindt: Ich bin auf Facebook, die CSU Ansage der Politik zu warten.
Schachgroßmeister aber nur Amateure im Bundestag ist auch auf Instagram und SPIEGEL: Sie haben hier in Wien mit Greta
aufbieten kann, dann war es vielleicht Thunberg und Arnold Schwarzenegger zu-
klug, dem Duell vorerst auszuweichen. sammengesessen und über Klimaschutz
Dobrindt: Wer zaudert, wird Debatten diskutiert. Was sagen Sie denen, welchen
nicht gewinnen können. Außerdem teile »Der Wahlkampf hat Beitrag Sie dazu leisten?
ich Ihren Vorhalt von Meister und Ama- gezeigt, dass wir beim Dobrindt: Wir haben alle kein Verständnis
teuren nicht. für Menschen, die sich einreden, der Kli-
SPIEGEL: Warum nehmen Sie die You- wichtigsten Thema zu mawandel würde sich irgendwie von allein
Tube-Community als Angreifer wahr und wenig präsent waren.« auflösen. Aufgeklärte Menschen können
nicht als Wählerschaft, mit der man viel- eigentlich nur noch über die Frage streiten,
leicht besser Frieden schließt? wie schnell und mit welchen Mitteln wir
Dobrindt: Ich unterscheide sehr wohl zwi- unseren CO -Ausstoß verringern können.
²
schen dem einzelnen Absender, der uns an- Twitter. Aber in einer breiten Volkspartei Und da ist meine Position seit Langem, da-
gegriffen hat, und den Millionen Empfän- wie der CSU muss nicht jeder alles bedie- für braucht es Anreize, Zwangsmaßnah-
gern, die wir als Wähler erreichen wollen. nen. Zur Instagram-Ikone taugen andere men fruchten nicht. Aus Bürgern, die sich
Die Volksparteien haben einen Nachhol- Kolleginnen und Kollegen besser. Doro- von gefühlten politischen Gängelungen für
bedarf beim Thema digitale Kommu- thee Bär zum Beispiel, unsere Staatsminis- den Klimaschutz ausgegrenzt fühlen, wer-
nikation. Die Dynamik der digitalen Kom- terin für Digitalisierung, leistet einen star- den mit Sicherheit keine überzeugten Kli-
munikation kann man nicht beklagen, ken Beitrag für unsere Wahrnehmung in maaktivisten. Die Klimawende gelingt
sondern man muss versuchen, sie zu nut- den digitalen Medien. durch Innovationen, nicht durch Verbote.
zen, um für unsere Politik zu werben. SPIEGEL: Ein CDU-Abgeordneter twitter- Öko muss Spaß machen, um die Menschen
SPIEGEL: Anders als CDU-Chefin Anne- te, dass die Jungwähler schon zur Vernunft in der Breite zu erreichen. Wir brauchen
gret Kramp-Karrenbauer sinnieren Sie kommen und konservativ wählen würden, deshalb eine Politik, die Anreize für Inno-
nicht über Regeln für die »Meinungsma- sobald sie ihr erstes eigenes Geld verdien- vationen setzt.
che« im Internet? ten. Sehen Sie das auch so? SPIEGEL: Sie selbst haben bislang prak-
Dobrindt: So habe ich sie nicht verstanden. Dobrindt: Je weniger man sich als junger tisch nichts für den Klimaschutz erreicht.
Fortschritt lässt sich auch nicht aufhalten. Wähler mit der Union identifiziert, desto Dobrindt: Schönes Vorurteil. Aber wir ha-
Genauso wie sich Arbeitnehmer auf die schwerer lässt man sich später von unseren ben zum Beispiel die größte Dynamik im
Veränderung ihrer Arbeitssituation durch politischen Inhalten überzeugen. Wir sind Aufwachsen der erneuerbaren Energien.
die Digitalisierung einstellen müssen, muss keine Partei für eine bestimmte Einkom- Bei der Mobilität haben wir die Halbie-
auch die Politik zu Veränderungen bei der mensgruppe oder Altersschicht. Wir sind rung der Dienstwagensteuer für Hybrid-
Wählerkommunikation bereit sein. eine Volkspartei, und als solche haben wir und Elektrofahrzeuge umgesetzt. Das war
SPIEGEL: Hinter der Plattform YouTube den Anspruch, uns nicht von jungen Wäh- meine Initiative, und sie zeigt auch schon
steht der Riese Google. Muss eine Regie- lern zu entkoppeln. Wirkung, aber dabei muss es nicht bleiben.
rung nicht neue Technologien genau beob- SPIEGEL: Welche Lehre soll die Union also Ich will einen Schritt weitergehen – mit ei-
achten und, wenn nötig, regulieren? aus dem Europawahlergebnis ziehen? ner Nullbesteuerung von reinen E-Dienst-
Dobrindt: Natürlich darf im Netz nicht al- Dobrindt: Die Erkenntnis kann doch nur wagen. So kann es uns gelingen, dass wir
les erlaubt sein. Deswegen gibt es zu Recht lauten: Volksparteien, überprüft eure zügig auch einen breiten Gebrauchtwagen-
das Hatespeech-Gesetz, das Beleidigun- Schwerpunkte. Der Wahlkampf hat ge- markt für E-Fahrzeuge bekommen. Das
gen, Diskriminierung und Rassismus un- zeigt, dass wir bei dem wichtigsten Thema, Gleiche gilt für steuerliche Förderungen
terbinden soll. Das ist der Rahmen für die das uns der Wähler vorgegeben hat, zu we- bei der energetischen Gebäudesanierung.
Kommunikation in einer freien und offe- nig präsent waren. Eines darf man allerdings auch nicht ver-

DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 37


gessen, wir retten in Deutschland das Welt- alle« und »alle Grenzen zu«, zwischen
klima nicht allein, Deutschland ist für zwei »Klimaschutz um jeden Preis« und »Klima-
Prozent der weltweiten CO -Emissionen wandel gibt es nicht«. Diese Konflikt-
²
verantwortlich. dimensionen spalten unser Land.
SPIEGEL: Was schließen Sie daraus? SPIEGEL: Was heißt das für die Union?
Dobrindt: Die »R20«-Klimaschutzkonfe- Dobrindt: Ich glaube, dass es den bürger-
renz hier in Wien zeigt doch, dass das alte lichen Volksparteien CSU und CDU gelin-
Motto »Think global, act local« unserer gen kann, das politische Angebot für den

INGO PERTRAMER / DER SPIEGEL


Verantwortung als Industrienation nicht gesellschaftlichen Ausgleich zu schaffen.
gerecht wird. Wir brauchen ein neues Pa- Wir haben in der zweiten Hälfte des vori-
radigma: »Think global, act global«. Denn gen Jahrhunderts den Konflikt zwischen
während Staaten wie Deutschland oder Markt und Staat gelöst mit der sozialen
Frankreich ihre Emissionen stetig reduzie- Marktwirtschaft und damit eine verbin-
ren, verschlechtert sich die weltweite Kli- dende bürgerliche Klammer gebildet, hin-
mabilanz, und dafür sind vor allem China, ter der sich die Mehrheit in unserem Land
Indien und die USA verantwortlich. Dobrindt, SPIEGEL-Redakteurinnen* versammeln konnte. Diese bürgerliche
SPIEGEL: Während Greta auf Sie zeigt, zei- »Öko muss Spaß machen« Klammer brauchen wir jetzt auch bei den
gen Sie auf China? neuen Konfliktdimensionen Ökologie und
Dobrindt: Ich sage ausdrücklich, unsere SPIEGEL: Der alte Alexander Dobrindt Identität. Beide Sehnsüchte, Umwelt-
Verantwortung für die Welt ist größer, als hätte die Schüler vielleicht »Klima-Kra- schutz und kulturelle Identität, sind übri-
nur auf die deutsche Energiewende zu wallos« genannt. Ihr neues Ich ist geradezu gens im Kern konservative Anliegen, weil
schauen. Wir können gar nicht so viele unheimlich verständnisvoll. sie Dinge bewahren wollen.
Kohlekraftwerke abschalten, wie gleich- Dobrindt: Letztlich fordern die Schüler SPIEGEL: Warum profitiert die Union
zeitig in Afrika neue geplant und gebaut ein, was wir im Pariser Klimaabkommen dann nicht von diesem neuen Zeitgeist?
werden. Wenn wir erneuerbare Energien vereinbart haben. Das Klimaabkommen Dobrindt: Vielleicht weil es noch nicht ge-
in Dritte-Welt-Ländern fördern und aus- hat auch meine Zustimmung. Ich kritisiere, nügend gelingt, den Wählern zu vermit-
bauen, nutzt das der globalen Klimabilanz wenn Ideologie vor der Vernunft steht, teln, dass nur eine Volkspartei beide An-
mehr als manche nationalen Maßnahmen. was ich den Grünen immer mal wieder an- liegen versöhnen kann. Zu diesem Kurs
SPIEGEL: Ganz schön clever, das Problem laste. gehört auch die harte Abgrenzung von der
Klimaschutz zu exportieren. SPIEGEL: Früher haben Sie die Grünen als AfD. Das Wesen der Rechtspopulisten, die
Dobrindt: Nein. Das heißt nicht, dass wir »Protestsekte« bezeichnet, als »verlänger- sich ein Land zur Beute machen wollen,
unsere Anstrengungen bei der Einsparung ten Arm von Brandstiftern und Steinewer- hat man jetzt auf schockierende Weise bei
von CO verringern sollten. Im Gegenteil: fern«. Sind Sie jetzt so diplomatisch, weil der FPÖ in Österreich gesehen.
²
Wir sollten schneller werden. Der Kohle- Sie sich den Grünen vielleicht demnächst SPIEGEL: Finden Sie eigentlich, um im
ausstieg bis 2038 könnte auch ambitionier- als Juniorpartner andienen müssen? YouTube-Sprech zu bleiben, dass die AfD
ter sein. Dobrindt: Gott bewahre. Aber es stimmt, »zerstört« gehört?
SPIEGEL: Sie wollen den Kohlekompro- dieses Zitat hat in die damalige Zeit ge- Dobrindt: Ich will sie überflüssig machen.
miss wieder aufschnüren? Laufen Sie jetzt passt, ich hab’s in letzter Zeit nicht wieder Wer glaubt, er könne die AfD einfach zer-
auch mit bei »Fridays for Future«? verwendet. Zwar habe ich selten einen stören, hat die Dimension dieser Aufgabe
Dobrindt: Der Fehler bei diesem Kompro- politischen Fehdehandschuh liegen lassen, nicht begriffen.
miss ist, dass er ohne eine breite Debatte aber alles hat eben seine Zeit, und man SPIEGEL: Angela Merkel trat im Europa-
zwischen Politik und Gesellschaft stattge- merkt, dass die Bevölkerung vieler Kon- wahlkampf fast nicht auf. Hat sie ihre Par-
funden hat. Wenn wir ein Bewusstsein für flikte überdrüssig ist und sich einen ande- tei im Stich gelassen?
die große Herausforderung, aber auch die ren Stil wünscht. Und was die Grünen an- Dobrindt: Die Union muss lernen, auch
enorme Chance schaffen wollen, dass wir geht – bei den Jamaikaverhandlungen zukünftig Wahlen zu gewinnen, ohne An-
als erstes Land der Welt gleichzeitig aus konnten sogar Toni Hofreiter und ich in gela Merkel.
der Kernenergie und der Kohle aussteigen der Verkehrspolitik Kompromisse erzielen. SPIEGEL: Die stiehlt als eine Art Königin
und die erneuerbaren Energien ausbauen, Ich will nicht ausschließen, dass eine neue von Europa derzeit ihrer Nachfolgerin An-
dann brauchen wir eine breite Debatte Jamaikaverhandlungsrunde ganz anders negret Kramp-Karrenbauer die Show. Wie
dazu. Das findet bisher nicht statt, weil ausgehen könnte als vor zwei Jahren. lange kann die neue Parteivorsitzende das
wir darüber nicht politisch streiten, son- SPIEGEL: Bei der Europawahl lag die durchhalten, bis sie verbrannt ist?
dern ein Expertenzirkel entschieden hat. AfD in zwei Bundesländern vorn. Steht Dobrindt: Die Union hat sich für eine Per-
SPIEGEL: Es saßen doch alle mit am Tisch. der größere Gegner für Sie rechts oder sonalaufstellung entschieden, zu der ich
Politik, Umweltverbände, Industrie und links? nur raten kann, eindeutig zu stehen. Wo
Gewerkschaften. Breiter geht es kaum. Dobrindt: Das klassische Links-rechts- man hinkommt, wenn man ständig Spit-
Dobrindt: Aber genau dieses Outsourcing Schema ist heute ergänzt worden durch zenpersonal infrage stellt, sieht man bei
von politischen Kompromissen an solche zwei neue Konfliktlinien: Ökologie und der SPD. Schuld am dortigen Wahldesas-
Runden führt doch dazu, dass Entscheidun- Identität. Auch hier geht es um Extrem- ter ist nicht Andrea Nahles, sondern es
gen am Schluss zwar mit allen erdenklichen positionen zwischen »Grenzen auf für sind jene Teile der Partei, die einen weite-
Lobbygruppen entstehen, aber nicht im ren Linksruck fordern. Wer Enteignungs-
Dialog von Bevölkerung und Politik. Ich gedanken und Sozialismusideen diskutiert
sehe auch nicht, dass die Anwesenheit von »Die Union muss und sich daraufhin wundert, dass das Wäh-
Greenpeace-Vertretern am Verhandlungs- lerstimmen kostet, leidet offensichtlich an
tisch die Schüler vom Streiken gegen den lernen, auch zukünftig politischem Realitätsschwund.
Kohlekompromiss abgehalten hätte. Wahlen zu gewinnen, SPIEGEL: Herr Dobrindt, wir danken Ihnen
für dieses Gespräch.
* Melanie Amann und Anna Clauß in Wien. ohne Angela Merkel.«
38
Deutschland

schätzen. Das ist jene Organisation rund lament gewählt, formuliert schon Ansprü-

Quote für um den Thüringer Landes- und Fraktions-


chef Björn Höcke, die vom Verfassungs-
schutz als »Verdachtsfall« eingestuft wird.
che an die Bundespartei: »Wir streben
zwei Plätze im Bundesvorstand an«, sagt
er. Aktuell hat Sachsen dort keinen Ver-

den Osten Während Jörg Meuthen, Parteichef und


Europa-Spitzenkandidat aus Baden-Würt-
temberg, die Partei als wirtschaftsliberal
treter, es dominieren Parteifreunde aus
westlichen Ländern, die zum Ärger des
»Flügels« eine Taskforce gegen rechtsex-
Parteien Die AfD ist in den und bürgerlich-konservativ bewirbt, wol- treme Umtriebe an der Basis einsetzten.
ostdeutschen Ländern stärker len die »Flügel«-Leute noch radikalere An- In der Brandenburger AfD gibt Andreas
sagen, »sozialpatriotische« Positionen zur Kalbitz, der auch im Bundesvorstand ist,
denn je. Nun wollen die rechten Parteiräson machen und quasi eine Quote den Ton an. Der »Flügel«-Koordinator, oft
Landesverbände die Ausrichtung für den Bundesvorstand. als »Mann hinter Höcke« beschrieben, war
der Bundespartei verändern. Mittwochabend, Dresden, Landesge- einer der Ersten, die bei der Wahlparty
schäftsstelle der AfD: Die Parteispitze sitzt am Sonntag stolz die Ost-Wahlergebnisse
zusammen und überlegt, ob man einen zitierten. Auch er meldet nun Ansprüche

T ino Chrupalla, Bundestagsabge-


ordneter und Vizechef der AfD-
Fraktion, sitzt im Restaurant Die
Eins unten im Gebäude des ARD-Haupt-
Ministerpräsidentenkandidaten aufstellen
soll. Teilnehmer der Runde berichten, dass
sie sich am Ende geeinigt hätten, auf den
Ausgang der Wahl zum Oberbürgermeis-
für die Vorstandswahlen Ende November
an. Sollte sich Alexander Gauland, der
auch Brandenburger ist, vom Parteivorsitz
zurückziehen, will Kalbitz neben seinem
stadtstudios und isst Haxe vom Schwein. ter in Görlitz zu warten – denn da ist einer eigenen weitere Posten für den Osten: »Es
Wenige Tage nach der Europawahl ist der ihren in der Stichwahl. ist richtig, wenn der Osten angemessen im
Chrupalla in Feierlaune: »Die AfD ist im Falls Sebastian Wippel nicht Oberbür- Bundesvorstand abgebildet ist«, sagt er.
Osten die Volkspartei, das haben die Wah- germeister wird, heißt es, würde er in Gör- Im Westen Deutschlands brauche es offen-
len am Sonntag gezeigt«, sagt bar noch ein bisschen Zeit, bis
er und grinst. die AfD so stark verwurzelt sei
Es sind gute Zeiten für Chru- wie in seiner Region.
palla, der aus Sachsen kommt. Zahlenmäßig sind die Westver-
Dort ist die AfD bei der Europa- bände der AfD freilich stärker,
wahl mit 25,3 Prozent stärkste deshalb scheiterten ostdeutsche
Partei geworden, mit gut zwei Kandidaten und Themen oft auf
Prozentpunkten vor der CDU. Parteitagen. Kalbitz wünscht
Bei den Kommunalwahlen lan- sich, dass die Kollegen im Wes-
dete sie in allen Landkreisen auf ten programmatisch von seiner
Platz eins oder zwei – nur nicht AfD-Region lernen: »Der sozial-
in den studentischen Groß- politische Fokus, den wir gesetzt
städten Dresden und Leipzig. haben, ist das Erfolgsrezept.«
SVEN DÖRING / DER SPIEGEL / AGENTUR FOOCUS
Chrupalla, der vor der Politik Vor allem wenn man das mit
als Malermeister gearbeitet hat, »klaren, pointierten Zielgruppen-
und seine Kollegen im Landes- ansprachen« kombiniere.
verband haben nun Großes Ähnlich klingt es bei Höcke.
vor – in Sachsen, wo sie am Wo- Nach den Wahlen teilt der
chenende direkt ein Regierungs- Thüringer mit, dass die Ergeb-
und nicht nur ein Wahlpro- nisse »die erneute Bestätigung
gramm verabschieden wollen, unseres Kurses in Thüringen,
aber auch auf Bundesebene. der Solidarität und Patriotismus
Die Europawahl, bei der die verbindet«, seien. Während
AfD bundesweit mit elf Prozent AfD-Abgeordneter Chrupalla: In Feierlaune »das bundesweite Ergebnis der
viel schlechter abschnitt als von AfD enttäuscht«, triumphiert
ihr selbst erwartet, verschiebt Höcke, habe man in seinem
die Machtbalance in der Partei gen Osten. litz zur Landtagswahl antreten dürfen. Land die »starken 22 Prozent« der Bun-
Während fast alle guten Europalistenplät- Sollte er aber gewinnen, würde der Bun- destagswahl verteidigen können.
ze mit westdeutschen Kandidaten besetzt destagsabgeordnete Chrupalla dort als Noch beschwichtigen die »Flügel«-Ver-
waren, schaffte die AfD im Westen nur Direktkandidat antreten – in jenem Wahl- treter, sie planten »keine Machtergreifung«
schwache Ergebnisse. In Sachsen und kreis, in dem auch Ministerpräsident Mi- in der Bundespartei. Doch gemäßigte AfD-
Brandenburg dagegen war sie stärkste Par- chael Kretschmer kandidiert. Chrupalla Vertreter sehen die Entwicklung mit Sorge.
tei, in Thüringen, Mecklenburg-Vorpom- hat Kretschmer schon einmal besiegt und »Der ›Flügel‹ marschiert mit jeder Wahl
mern und Sachsen-Anhalt direkt hinter den CDU-Mann aus dem Bundestag ver- mehr ins Zentrum der Partei, quasi wort-
der CDU. Da in drei Ostbundesländern im drängt. Dieser AfD-Mann, so die Gedan- wörtlich«, sagt ein Bundesvorstandsmit-
September und Oktober auch Landtags- kenspiele, könnte vielleicht als Kandidat glied. Auch Parteichef Meuthen zeigt sich
wahlen stattfinden, wächst der Einfluss für die Staatskanzlei aufgestellt werden. schon mal vorsichtig ablehnend, was den
der Sachsen, Brandenburger und Thürin- Landeschef Jörg Urban ist sich sicher, Anspruch auf Plätze im Bundesvorstand
ger in der AfD – mit erheblichen Folgen dass seine AfD im September die »mit angeht: »Wir haben keinen Regionalpro-
für den Kurs der gesamten Partei. Abstand stärkste Partei« in Sachsen wird. porz.« Aber: »Jeder, der sich berufen fühlt,
Die drei Ostverbände stehen deutlich Dann werde man im Parlament nach ist frei, dann zu kandidieren.«
weiter rechts als ihre Pendants im Westen, Mehrheiten suchen. Ziel sei »eine Re- Ann-Katrin Müller, Steffen Winter
und sie werden von Männern angeführt, gierung unter Führung der AfD«. Urbans Mail: ann-katrin.mueller@spiegel.de
die dem »Flügel« angehören oder ihn Vize Maximilian Krah, frisch ins EU-Par-

DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 39


Deutschland

Übler Rückfall
Und eine Kanzlerin im Abgang, die bis
zum Schluss die mächtigste Frau Europas
bleiben will. Anderthalb Stunden lang
haben Merkel und Macron am Abend der
Europawahlen telefoniert, aber von einer
Europa Brexit, Nord Stream, Eurozone: Das Verhältnis zwischen Annäherung beim Streit um das Spitzen-
Berlin und Paris ist angespannt. Jetzt droht personal ist nichts zu spüren.
auch noch Streit um das europäische Spitzenpersonal. Wenn Macron das Wort »Spitzenkandi-
dat« ausspricht, kann jeder hören, wie we-
nig er von der Idee hält. Er hastet durch

D er Raum, in dem die deutsche Kanz-


lerin den französischen Präsidenten
von ihrem Spitzenkandidaten über-
zeugen will, ist deutsch eingerichtet: eine
vertreten kann. Sie muss verhindern, dass
ein Kommissionspräsident gegen den Wil-
len der Deutschen bestimmt wird.
Macron dagegen hat sich mit den euro-
das lange deutsche Wort, Betonung auf
der dritten Silbe, die Konsonanten fallen
wie kleine Speere in den französischen
Satz. Aus dem Mund von Macron klingt
Sitzgruppe aus braunem Leder, am Fenster päischen Liberalen zusammengeschlossen »Spitzenkandidat« ein wenig wie Stachel-
eine einsame Topfpflanze. Auf dem Tisch und will, am liebsten gemeinsam mit den draht.
steht eine Plastikflasche mit Mineralwas- Grünen, die Dominanz der großen Blöcke, Nach dem gemeinsamen Essen der
ser und eine Thermoskanne mit Kaffee. der Konservativen und der Sozialdemo- Staats- und Regierungschefs erklärt Ma-
Kein Zweifel: mehr Kanzleramt als Élysée. kraten, ein für alle Mal beenden. Er lehnt cron zum wiederholten Male, wie wenig
Dorthin, in einen der deutschen Delega- das Spitzenkandidatenprinzip ab, vor al- er von diesem Auswahlprinzip hält, nach
tionsräume im vierten Stock des neuen lem aber den Mann, für den Merkel kämp- dem nur Kommissionspräsident werden
Ratsgebäudes in Brüssel, ziehen sich An- fen muss: Manfred Weber (CSU). kann, wer bei den Wahlen als Spitzenkan-
gela Merkel und Emmanuel Macron am So stehen sie sich gegenüber: ein frus- didat angetreten ist. Schon vor Wochen
Dienstagnachmittag zurück, bevor sie trierter Präsident, enttäuscht von Kleinmut hat er gesagt, es gebe keine rechtliche
45 Minuten später zu ihren Kollegen beim und Bedenkenträgerei der Deutschen, ent- Grundlage für das Verfahren. Nun, nach
informellen EU-Dinner stoßen. Merkels schlossen, Europa notfalls mit anderen Part- den Wahlen, ist das Verfahren für ihn erst
Sprecher postet noch davor ein Foto auf nern voranzubringen (SPIEGEL 21/2019). recht nicht mehr zeitgemäß, weil es die al-
Twitter, Angela Merkel und Emmanuel
Macron, beide lächelnd.
Doch der Schein trügt. Das Verhältnis
zwischen Berlin und Paris ist so ange-
spannt wie lange nicht mehr. Seit Macron
vor zwei Jahren in den Élysée-Palast ein-
gezogen ist, hat das deutsch-französische
Verhältnis eine neue, hitzigere Betriebs-
temperatur. Macron will Europa ver-
ändern, doch die Deutschen wiegeln ab.
Das ist die Ausgangslage.
Berlin hat Macrons Reform der Eurozo-
ne abgelehnt, man streitet über Rüstungs-
projekte und Waffenexporte, beim Brexit
gelang es mit Mühe, einen Kompromiss
zu finden, ebenso im Streit um die deutsch-
russische Gaspipeline Nord Stream 2.
Und jetzt, nach den Europawahlen, da
die EU ihre wichtigsten Posten neu besetzt,
droht wieder Ärger. Im Ringen um das
europäische Spitzenpersonal verfolgen Pa-
ris und Berlin unterschiedliche Interessen.
Macron will den Augenblick nutzen, um
die EU zu verändern, sie zu erneuern –
wie er es in so vielen Reden angekündigt
hat. Dafür braucht er einen tatkräftigen
Kommissionschef, der in seinem Sinne
agiert.
Merkel muss dagegen den deutschen
EVP-Spitzenkandidaten Manfred Weber
unterstützen. Das erwartet ihre Partei, die
ihr ohnehin vorwirft, sie im Europawahl-
kampf im Stich gelassen zu haben. Seit
Merkel den CDU-Parteivorsitz abgegeben
SIPA PRESS / ACTION PRESS

und ihren Rückzug aus der Politik ange-


kündigt hat, ist sie, was man eine »lame
duck« nennt, eine lahme Ente. Um zu ver-
hindern, dass ihre Macht weiterbröckelt,
muss die Kanzlerin beweisen, dass sie in
Brüssel immer noch deutsche Interessen

40 DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019


ten Machtverhältnisse, die Dominanz der Spitzenkandidatensystems. Sie hält Weber in der EVP, wehrten sich gegen Barnier.
einst großen Volksparteien, widerspiegelt. für einen akzeptablen Kandidaten, da ist »Bloß kein Franzose«, laute das Diktum
»Diese Wahlen markieren einen Wende- sie von der CSU Schlimmeres gewohnt. aus Berlin, so erzählt es ein führender
punkt für Europa«, sagt Macron in Brüssel. Vor allem aber weiß die Kanzlerin: CDU europäischer Konservativer. Als einen
Zum ersten Mal seit 1979 könnten die bei- und CSU in der Heimat erwarten von ihr, »üblen Rückfall in Nationalismen«, die
den großen Parteien zusammen keine dass sie Weber in Brüssel durchbringt. Die man eigentlich überwunden haben wollte,
Mehrheit bilden. »Da können wir nicht harte Opposition Macrons und anderer beschreibt ein Beobachter die Verhand-
einfach weitermachen wie gewohnt.« findet sie daher verstörend. lungen.
Die Gegenbewegung hat Macron gera- Aus Sicht der Deutschen verstößt Ma- Diese Gefahr sieht man auch in Paris:
de beim Dinner zu spüren bekommen, bei cron mit seinem kämpferischen Auftritt »Es geht jetzt zuallererst um Inhalte und
Schweinefilet mit Spargel und Bohnen gegen ein ungeschriebenes Gesetz der nicht um Nationalitäten, die Besetzung
stellte sich Merkel eindeutig hinter Weber, Gemeinschaft. Die »Chefs«, wie die Gip- des Kommissionsvorsitzes ist kein Kampf
die Chefs waren unter sich und konzen- felteilnehmer genannt werden, wissen um eine Landesflagge«, mahnt Amélie de
triert, es ging zur Sache, der Handyemp- voneinander, was zu Hause von ihnen Montchalin, Staatssekretärin für europäi-
fang war ausnahmsweise blockiert. erwartet wird, jeder kennt die Zwänge aus sche Angelegenheiten im französischen
Merkel wehrte sich gegen Macrons Argu- eigener Erfahrung, daher versuchen sie in Außenministerium. »Es geht hier nicht um
ment, Weber fehle die nötige Erfahrung. Das der Regel, Kompromisse nicht durch öffent- eine Auseinandersetzung zwischen Frank-
habe man über sie selbst auch gesagt, als sie liche Äußerungen unnötig zu erschweren. reich und Deutschland, das hat damit
vor 14 Jahren ins Amt gekommen sei, sagte Doch gerade das tut Macron. Er hat die nichts zu tun.«
sie. Der Abend endete mit einem Zwischen- Kanzlerin öffentlich unter Druck gesetzt Während Merkels CDU bei den Euro-
sieg der Kanzlerin, einer Atempause für We- und die Personalfrage damit zur Machtfra- pawahlen eine Niederlage einstecken
ber. Versuche von Franzosen und anderen, ge gemacht. Nun verteidigt Merkel Weber musste und ihrer Regierung durch die
bereits am Dienstag einen festen Kriterien- auch deshalb, weil ihr nicht gefällt, wie Selbstzerfleischung des Koalitionspartners
katalog für den künftigen Kommissionschef lautstark Macron in Brüssel auftritt. SPD eine Krise droht, kam Macron ge-
festzulegen, hatte Merkel abgewehrt. Macron ist der vierte französische Prä- stärkt nach Brüssel. Zwar erreichte La
Merkel war, das muss man wissen, ähn- sident, mit dem Merkel es in ihrer Kanz- République en marche, seine Regierungs-
lich wie Macron nie eine Anhängerin des lerschaft zu tun hat. Um den zappeligen partei, am Sonntag nur Platz zwei hinter
Nicolas Sarkozy zu verstehen, soll sie an- Marine Le Pens Rassemblement National.
geblich Louis-de-Funès-Filme angeschaut Aber der Abstand zu den Rechtspopulis-
haben, François Hollande wirkte dagegen ten war mit nur 0,9 Prozentpunkten ge-
neben der deutschen Kanzlerin wie eine ringer als befürchtet.
Schlaftablette. Macron aber bietet Merkel Vor allem aber sieht sich La République
Paroli. Er will Europa gestalten, er macht en marche durch die Wahl als neue politi-
ihr den Platz als unumstrittene Nummer sche Kraft im Land bestätigt. Die klassi-
eins in Europa streitig. sche Rechte, Merkels Verbündete in der
Merkel weiß, dass es einen Punkt geben EVP, ging mit 8,5 Prozent unter, ein histo-
könnte, an dem sie Weber vielleicht auf- rischer Tiefstand; die Sozialisten kamen
geben müsste. Dafür hat sie am Dienstag- knapp über 6 Prozent. Für En marche hat
abend vorgebaut: Die EU müsse »hand- dieser Wahlabend bestätigt, dass die Be-
lungsfähig« bleiben. Die Dinge, so sieht wegung die französische Parteienland-
es die Kanzlerin, dürfen sich beim Perso- schaft unumkehrbar verändert hat. Das
nal nicht so verkanten, dass gar nichts hat Konsequenzen auch für Brüssel. Wa-
mehr geht. Man solle »pfleglich miteinan- rum, so argumentiert En marche, sollten
der umgehen«, mahnt sie beim Gipfel. die Franzosen nun Weber, einem Vertreter
Doch Macron scheint entschlossen, das der klassischen Rechten, noch dazu der
zumindest befürchten Diplomaten in Brüs- CSU, die Europapolitik anvertrauen?
sel, die Mahnung zur Mäßigung als Zeichen Der Streit um die Spitzenposten ist nur
der Schwäche auszunutzen und Merkels Nie- einer der vielen Konflikte, die das deutsch-
derlage als seinen Sieg zu feiern. Entspre- französische Tandem lähmen. Derzeit neh-
chend deutlich mache Berlin in Richtung men Deutsche und Franzosen in Brüssel
Paris klar, so ist zu hören, dass Macron nicht immer öfter entgegengesetzte Positionen
darauf zu hoffen brauche, einen Franzosen ein. Für Europa, das geben auch Diploma-
auf einen der Topjobs zu hieven, wenn Mer- ten kleinerer Länder unumwunden zu, ist
kel keinen Deutschen durchbekomme. diese Entwicklung gefährlich.
Denn als Alternative zu Weber präfe- Der polnische Ratspräsident Donald
riert Macron entweder den Brexit-Unter- Tusk sprach das beim Abendessen am
händler Michel Barnier oder die liberale Dienstag hinter verschlossenen Türen aus:
Dänin Margrethe Vestager. Barnier ist, wie Eigentlich sähen die kleineren EU-Mitglie-
Weber, Mitglied der EVP – also der nach der es nicht besonders gern, wenn der
wie vor stärksten Fraktion – und außer- deutsch-französische Motor brumme,
dem natürlich: Franzose. denn dann hätten alle anderen nicht mehr
Genau das ist das Problem. Vor allem viel zu melden. Jetzt aber würden sich alle
die CDU, also die Deutschen, so heißt es wünschen, dass Deutschland und Frank-
reich sich endlich mal wieder einig wären.
Julia Amalia Heyer, Christiane Hoffmann,
Kanzlerin Merkel, Präsident Macron in Berlin Peter Müller, Britta Sandberg
»Pfleglich miteinander umgehen«

41
Deutschland

Auf verlorenem Posten


Militär Ein Soldat prangert Rechtsextremismus in den eigenen Reihen an, meldet zahlreiche
Verdachtsfälle an den Geheimdienst. Jetzt soll er gefeuert werden.

P
atrick J. wollte Deutschland die-
nen, er war bereit, sein Leben zu
riskieren, wenn es denn nötig sein
würde. Ihm schwebte vor, als Elite-
soldat weltweit im Einsatz zu sein. Doch
aus einer Karriere beim streng geheim agie-
renden Kommando Spezialkräfte wird
wohl nichts. Statt auf verdeckter Mission
im Ausland verbringt Patrick J. seine Tage
mit Fahrdiensten in Ostdeutschland. Die
Bundeswehr hat ihn kaltgestellt.
Die Führung wirft ihm unter anderem
vor, er habe vor zweieinhalb Jahren einen
Untergebenen in der Spezialausbildungs-
kompanie in Pfullendorf grundlos stramm-
stehen lassen. Vor allem aber habe er Dut-
zende Kameraden rechtsextremer Umtriebe
bezichtigt. In vielen Fällen hätten sich die
Vorwürfe jedoch »als übertrieben und halt-
los erwiesen«, heißt es in einem Schreiben
des Personalamts der Bundeswehr an ihn.
Das allerdings ist bestenfalls die halbe
Wahrheit. Denn Patrick J. hat neben zahl-
reichen Fällen, die in einer Grauzone lie-
gen, durchaus handfeste Hinweise auf
rechtsextreme Umtriebe in der Bundes-
wehr geliefert.
So führt der Militärische Abschirm-
dienst (MAD), der Geheimdienst der Bun-
deswehr, laut einem vertraulichen Schrei-
ben des Bundesverteidigungsministeriums
mehrere »nachrichtendienstliche Opera-
tionen zu Verdachtspersonen, die auf In-
formationen des Herrn J. zurückzuführen
sind«. Auch das Bundeskriminalamt prüfe
die Hinweise auf eine »mögliche strafrecht-
liche Relevanz«.
Dennoch wird der Unteroffizier vermut-
lich nur noch wenige Wochen Teil der
Truppe sein. Ende April hat er einen Brief
vom Personalamt bekommen, in dem ihm
seine Entlassung angekündigt wird.
Der Vorgang ist bemerkenswert. Er er-
zählt eine Menge über die Bundeswehr
und große Teile der militärischen Führung,
die Fehlverhalten in den eigenen Reihen
gern ohne großes Aufsehen klären würde
und regelmäßig als bedauerlichen Einzel-
fall abtut.
Zugleich illustriert der Fall die erstaun-
liche Wendung von Verteidigungsministe-
rin Ursula von der Leyen. Ihre Entschlos-
DOMINIK BUTZMANN

senheit zur Aufklärung rechter Tendenzen


in der Bundeswehr hat die CDU-Politike-
rin mittlerweile gegen politischen Pragma-
tismus eingetauscht.
Sollte die Bundeswehr Patrick J. raus-
werfen, würde das ein fatales Signal an all Unteroffizier J. vor dem Bundestag: »Ziemlich viele Einzelfälle«

42
jene Soldaten senden, die sich trauen,
Missstände in der Truppe anzuprangern.
Im Bundestag sorgt der Verdacht, dass
mit J. ein unliebsamer Whistleblower still
und leise entfernt werden soll, bereits für
Unruhe. Nächste Woche will das Parlamen-
tarische Kontrollgremium beraten, ob man
den Soldaten in den abhörsicheren Raum
des Geheimdienstgremiums einlädt, damit
er seine Sicht der Dinge schildern kann.
Patrick J., 31, ein kompakter Mann mit
breiten Schultern, erscheint zum Gespräch
im Berliner SPIEGEL-Büro mit Gepäck.

PATRICK SEEGER / DPA


Darin ist seine Uniform verstaut, akkurat
gefaltet. Für die Fotoaufnahmen vor dem
Reichstagsgebäude legt er sie stolz an.
Bevor er als Zeitsoldat zur Bundeswehr
kam, erzählt J., habe er überlegt, Polizist Wandschmuck*: Auf der Suche nach Wehrmachtdevotionalien
zu werden. Zwischendurch studierte er für
mehrere Jahre Jura. Er habe sich immer
eher dem konservativen Lager zugeordnet te, die Polizei habe Anweisungen, »je- Ähnlich hat Verteidigungsministerin Ur-
als dem linken. den, der sich gegen das antideutsche sula von der Leyen noch im Frühjahr 2017
Schon zu Wehrdienstzeiten vor bald Merkel-Regime stellt, hinzurichten«. argumentiert. Damals war gerade der rechts-
zehn Jahren habe er aber gemerkt, dass Anstatt den Wirrkopf zurechtzuweisen, radikale Soldat Franco A. aufgeflogen, der
einige Kameraden ein rechtslastiges Welt- verlor sich der Soldat selbst in Ver- sich als Flüchtling getarnt und womöglich
bild hätten, das über das hinausgehe, was schwörungstheorien: »Das einzigste über einen Anschlag nachgedacht hatte.
tolerierbar sei. Durch die Flüchtlingskrise was wir sind, sind dumme Arbeiter, die Schnell stand fest, dass es schon Jahre zu-
sei das Problem noch massiver geworden. einer großen GmbH angehören«; vor Hinweise auf die Gesinnung des Solda-
Im Sommer 2016 meldete Patrick J. zum ‣ einen Stabsunteroffizier, der schutzsu- ten gegeben hatte, die aber von Vorgesetz-
ersten Mal einen Verdacht an den MAD. chende Syrer »Fahnenflüchtige« ge- ten als Spinnereien abgetan worden waren.
Patrick J. ist ein Mann mit einer Mission: nannt haben soll. In einer WhatsApp- Von der Leyen blies daraufhin zum
»Die Bundeswehr muss ihr Rechtsextremis- Gruppe habe er ein Foto von einem mit Kampf gegen den »falsch verstandenen
musproblem endlich ernst nehmen«, sagt Nazitattoos übersäten Oberkörper ge- Korpsgeist«. Massiv unter Druck, attestier-
er. Weil sie das aus seiner Sicht bisher nicht postet. SS-Runen sind darauf zu erken- te sie ihrer Truppe ein »Haltungsproblem«.
genügend getan habe, begann er auf eigene nen, ein Porträt von Adolf Hitler und Die Befehlshaberin ordnete eine Durch-
Faust zu recherchieren, in den Kasernen der Schriftzug »Sieg Heil«. Wer der suchung der Stuben in allen Kasernen an
und in den sozialen Netzwerken. Heraus- Mann auf dem Foto ist, ist unklar; und ließ nach Wehrmachtdevotionalien
gekommen ist ein mehr als hundert Seiten ‣ einen Stabsunteroffizier, der auf Insta- fahnden. Generäle liefen Sturm gegen die
dicker Bericht, der inzwischen im Berliner gram mit rechter Szenekleidung sowie Befehlshaberin, viele Soldaten fühlten sich
Regierungsviertel die Runde macht. einem Tattoo posierte, das an einen zu Unrecht pauschal verurteilt. Von dem
Patrick J. hat darin zahlreiche Hinweise Reichsadler erinnert. Unter den Face- Vertrauensverlust in der Truppe hat sich
auf mögliche rechtsextreme Umtriebe in book-Freunden des Mannes fanden sich von der Leyen bis heute nicht erholt.
der Truppe zusammengetragen. Einiges Rechtsextremisten, die das KZ Ausch- Die Ermittlungen gegen Franco A. förder-
spielt sich in einem Graubereich ab, ist ver- witz mit Legosteinen nachbauen oder ten auch Verbindungen zu merkwürdigen
mutlich weder strafbar noch eindeutig ver- zum Geburtstag Hitlers eine Torte mit Chatgruppen zutage, in denen sich Soldaten
fassungsfeindlich. Ansatzpunkte, genauer der Zahl »88« posten, ein Neonazicode und andere Staatsdiener offenbar auf den
hinzusehen, liefert sein Dossier aber alle- für »Heil Hitler«. Zusammenbruch der Bundesrepublik vor-
mal. So entdeckte er etwa: Patrick J.s Material ist derart umfang- bereiteten. Derzeit untersucht der Geheim-
‣ einen Stabsgefreiten, der auf Instagram reich, dass er den Behörden eine CD er- dienstbeauftragte des Bundestags, ob sich
vor der preußisch-königlichen Kriegs- stellte, mehr als hundert Namen meldete ein bedrohliches rechtes Netz gebildet hat.
flagge posierte und sich mit seinen er. Einen Auftrag für die Recherchen hatte Die Ministerin aber hält sich seit ihrem
Hashtags als »Ibster« outete – als Sym- ihm niemand erteilt. Er ist überzeugt, et- harsch kritisierten Vorstoß öffentlich zu-
pathisanten der vom Verfassungsschutz was tun zu müssen, was andere aus fal- rück. Selbst als gut ein Jahr später eine
beobachteten »Identitären Bewegung«; schem Kameradschaftsgeist unterlassen. Abschiedsfeier des Kommandos Spezial-
‣ einen Hauptgefreiten, der sich in Chats »Wenn rechtsextreme Vorfälle in der Bun- kräfte öffentlich wurde, bei der rechte Mu-
als »durch und durch rechts« bezeich- deswehr bekannt werden, ist oft die Rede sik gespielt und der Hitlergruß gezeigt wor-
nete: Er kämpfe »gegen die komplette von bedauerlichen Einzelfällen«, sagt er. den sein sollen, beließ es von der Leyen
Selbstaufgabe der weißen Nationen« Natürlich sei nicht die ganze Truppe rechts- bei der lauwarmen Bewertung, das Spek-
und »den linken Schwachsinn, der ei- lastig, er erhebe keinen Generalverdacht. takel sei »geschmacklos« gewesen.
nem in der Schule, in den Nachrichten »Es sind aber ziemlich viele Einzelfälle.« Dem MAD hat Patrick J. mit seinem
und in den Medien eingeprügelt wird«; Report in den vergangenen Monaten viel
‣ einen Oberstabsgefreiten, der auf Face- Arbeit gemacht. Nie zuvor hat der Militär-
book mit der »Reichsbürgerbewegung« Vor zwei Jahren blies geheimdienst so viele detaillierte Hinweise
sympathisierte, die an der völkerrecht- von der Leyen zum Kampf
lichen Legitimität der Bundesrepublik
zweifelt. Im Netz tauschte sich der Sol-
gegen den »falsch ver- * Darstellung eines Wehrmachtsoldaten, Wehrmacht-
maschinenpistole in Aufenthaltsraum der Kaserne
dat mit einem Mann aus, der behaupte- standenen Korpsgeist«. Illkirch 2017.

DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 43


auf angeblich rechtsgesinnte Soldaten auf sein will. So soll im Frühjahr 2017, als am Heikel sind auch Grenzüberschreitun-
einmal bekommen. Anders als von der Bun- Zaun der Kaserne im thüringischen Son- gen, die Patrick J. in der Staufer-Kaserne
deswehr wird Patrick J. beim MAD nicht dershausen eine Gruppe mutmaßlicher in Pfullendorf vor etwa zweieinhalb Jah-
als übereifriger Nazijäger abgetan. Der Migranten vorbeilief, ein Oberfeldwebel ren mitbekommen haben will. So habe
Dienst prüft laut Ministerium jeden der sinngemäß gerufen haben: »Igitt, wo kom- dort das Gerücht von Scheinerschießun-
rund hundert Hinweise, er ermittelt gegen men die denn bloß alle her?« gen die Runde gemacht. Ein Kamerad
sieben Soldaten. Die Hinweise sind also kon- Als die Truppe beim Marschieren nicht habe auf seiner Stube rechtsextreme Mu-
kret genug, um eine nachrichtendienstliche die Formation eingehalten habe, habe ein sik gehört, zwei andere hätten unter ihrer
Beobachtung zu rechtfertigen. Die Hürden Unteroffizier angeblich gesagt: »Was wür- Feldbluse einen Ritteraufnäher mit dem
hierfür sind hoch. Zwei weitere Soldaten de Hitler sagen, wenn er euch marschieren einstigen Schlachtruf der Kreuzzügler ge-
hat der MAD ohnehin bereits im Visier. sehen würde?« Und ein Gefreiter habe den tragen, »Deus vult«, Gott will es. Und ein
In zwei der insgesamt neun Fälle wurde weiterer Soldat habe in der Kantine den
der Verdacht auf ein eindeutig rechtsextre- Spruch gemacht: »Wenn du nicht zu Hause
mes Weltbild oder fehlende Verfassungs- Will die Truppe mit bist, dann fickt der Neger deine Freundin.«
treue seit dem Frühjahr ausgeräumt. Die dem angeblichen Einzelne Teile seiner Aussagen bestätig-
anderen sieben Operationen aber laufen ten sich. So hatten Kameraden tatsächlich
noch. Daneben hat der MAD Informatio- Querulanten schnellen Kreuzritterabzeichen bei Ebay geordert.
nen über mehrere der durch Patrick J. ge- Prozess machen? Auch räumte einer der Männer ein, beim
meldeten Zivilisten, die sich in den sozialen Abendessen einen rassistischen Witz ge-
Medien als Rechtsextreme geoutet hatten, macht zu haben, allerdings habe er
an den Verfassungsschutz weitergereicht. Sprachassistenten Siri auf seinem iPhone »Schwarzer« gesagt, nicht »Neger«. Belege,
Für die Bundeswehr und das Verteidi- so eingestellt, dass es ihn mit »mein Füh- dass rechtsextreme Musik gehört wurde,
gungsministerium ist Patrick J. unange- rer« angeredet habe. gab es nicht. Und den schwersten Vorwurf,
nehm. Wie viele Whistleblower ist er kein Das Verteidigungsministerium teilte auf die angeblichen Scheinerschießungen, konn-
ganz einfacher Mensch, er wirkt bisweilen Anfrage mit, man begrüße es, wenn »cou- ten die bundeswehrinternen Ermittler eben-
getrieben. Man kann sich vorstellen, dass ragierte Angehörige der Bundeswehr Hin- falls nicht bestätigen. Die Staatsanwalt-
in der Truppe manche von seinen zahlrei- weise zu möglichen extremistischen Sach- schaft stellte ihre Ermittlungen ein.
chen Schriftsätzen genervt sind. Aber darf verhalten zur Meldung bringen«. Allen Konsequenzen gab es für die Soldaten of-
das ein Kriterium sein? Vorwürfen werde nachgegangen. Man fenbar nicht, für Patrick J. allerdings schon.
In seinem Bericht führt Patrick J.