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Hausmitteilung
Betr.: Titel, Erntehelfer, Hochstaplerin
Wie leben eigentlich unsere Bauern? Also die, die uns auch im Januar mit Erdbeeren
und Tomaten versorgen? SPIEGEL-Redakteur Nils Klawitter reiste ins spanische
Almería, um dieser Frage nachzugehen. Im Plastikmeer der Gewächshäuser traf
er erschöpfte Arbeiter und Tagelöhner. Menschen wie die Marokkanerin Charifa
Essamraoui, die in schiefer Haltung und mit ruiniertem Rücken Salat schneidet, der
auch in deutschen Läden im Regal liegt. Oder den Rumänen Iulian Vaduva, der die
vergangenen zwei Jahre lang mit einem kleinen Trecker Pestizide unter den Plastik-
planen ausbrachte und dem nun chronisch schlecht ist. Für viele dieser Erntehelfer,
so Klawitter, stehe Almería für die Hoffnung auf ein normales Leben in Europa.
»Aber es ist auch der Ort, wo dieser Traum zerplatzt.« Seite 74
Es gebe da eine erfolgreiche Bloggerin, die sich eine fiktive jüdische Identität be-
sorgt habe – mit dieser Information begann Redakteur Martin Doerry seine Recher-
chen über die in Dublin lebende deutsche Historikerin Marie Sophie Hingst. Der Fall
scheint paradox in einer Zeit, in der der Anti-
semitismus überall in Europa wieder deutlich
zutage tritt. Doch Hingst verschafft sich mit
dieser Legende Aufmerksamkeit, die wichtigste
Währung im Netz. Bei einem Treffen in Dublin
CLIONA O' FLAHERTY / DER SPIEGEL
Nico Semsrott, der ins EU- über die Sehnsucht nach der
Parlament gewählt wurde 34 großen politischen Rede . . . . 62
Analyse Kann es der gestürzte Gleichgewicht des Schreckens Hochstapler Die Bloggerin
Kanzler Sebastian Kurz Marie Sophie Hingst hat sich
zurück ins Amt schaffen? . . . 87 In den USA ist von einem neuen Kalten Krieg eine jüdische Familiengeschich-
die Rede: Seitdem Präsident Trump den te erfunden – inklusive falscher
USA Die Demokraten streiten, Opferdokumente, die sie
ob ein Amtsenthebungsverfah-
Technologieriesen Huawei von Teilen des US-Marktes in Yad Vashem einreichte 112
ren gegen Trump ihnen helfen ausgeschlossen hat, eskaliert der Kampf der
oder schaden würde . . . . . . . . 88 Wirtschaftsmächte Washington und Peking. Seite 70 Literatur Düsterer Roman des
russischen Schriftstellers
Emanzipation Warum Hunderte Jewgeni Wodolaskin über das
arabische Frauen jedes sowjetische Jahrhundert . . . 116
Jahr vor ihrer Familie aus den
Golfstaaten fliehen . . . . . . . . . 90 Ausstellungen Eine umfassende
Schau widmet sich der
neuen Welt der Drohnen 118
Sport
ILJA C. HENDEL / DER SPIEGEL
Titelfoto: Nick Harwart für den SPIEGEL; von links: Simon Sumbert, Josy Zülke, YouTuber Rezo, YouTuberin Mirella, Sophie Thomas 7
Das deutsche Nachrichten-Magazin
Klimawandel
Leitartikel Sind die Grünen die neue SPD?
E
s gehört zum Drama der SPD, dass sie nicht aus ih- Insofern ist der Erfolg der Grünen verdient. Sie sind
ren Fehlern lernt. Der Aufstieg der Grünen Anfang die einzige Partei, die beim Thema Klimaschutz nicht
der Achtzigerjahre ist nicht denkbar ohne einen gewackelt hat, sie waren konsequent proeuropäisch, sie
Bundeskanzler Helmut Schmidt, dessen Glaube an zeigten eine Geschlossenheit, die man so zuletzt vor Jahr-
die abschreckende Wirkung von nuklearen Sprengköpfen zehnten in der Hessen-CDU bewundern durfte. Wird der
nur noch übertroffen wurde von der Zuversicht, dass Atom- Erfolg andauern? Es ist noch nicht ausgemacht, ob die
kraftwerke der Republik eine blühende Zukunft bescheren. Republik auf die Geburt einer neuen linken Volkspartei
Wer sich vor strahlendem Müll oder Havarien fürchtete, blickt – oder auf das Entstehen einer politischen Spekula-
dem sagte Schmidt einmal: Nichts im Leben sei ohne Risiko, tionsblase. Im Bund sitzen die Grünen seit mehr als 13 Jah-
»nicht einmal die Liebe«. Schmidt hat viele Verdienste, aber ren in der Opposition. Das erlaubt ihnen, jede Fantasie zu
mit seiner beeindruckenden Ignoranz für die Gefahren der bedienen. Wer sein Umweltgewissen nach einem Flug auf
Umweltzerstörung verprellte die Seychellen erleichtern
er eine ganze Generation will, wählt die Partei genau-
und wurde, wenn auch un- so wie Klimaaktivisten, die
freiwillig, zum Gründungs- in jedem Rinderfilet ein Ver-
vater der Ökopartei. Das gehen an künftigen Genera-
Jahr 1983 markierte die erste tionen sehen. Sie alle finden
große Zäsur in der Geschich- bei den Grünen gerade eine
te der deutschen Parteien- Heimat.
landschaft, damals zogen die Die einen blicken auf
Grünen in den Bundestag den grünen Ministerpräsi-
ein. Die Europawahl des Jah- denten Winfried Kretsch-
res 2019 ist wieder ein Wen- mann, der die SUV-Produ-
depunkt: Erstmals haben die zenten Daimler und Por-
ADAM BERRY / GETTY IMAGES
hhaltigen
Mehr zum nac
der KfW:
Engagement
es/plastik
kfw.de/stori
LOL @AKK
Markus Feldenkirchen Der gesunde Menschenverstand
Wie die CDU das Internet
regeln möchte
Dalai Habeck G Zur Vermeidung allgemeiner Kom-
munikationskatastrophen (AKK)
Nach dem guten Abschnei- Selbst Rosamunde Pilcher wäre bei sol- und zur Wiederherstellung langfristi-
den der Grünen bei der chen Sätzen übel geworden. ger Loyalität (LOL) zur Parteivorsit-
Europawahl haben die Verliebt zu sein ist ein wunderbares zenden ergehen folgende klarstellen-
Robert-Habeck-Festspiele Gefühl, ich gönne es jedem. Idealer- de Weisungen an alle Gliederungen
im deutschen Journalis- weise sollte man Berufliches und Priva- der Christlich Demokratischen Union
mus einen neuen Höhe- tes aber trennen. Jedenfalls müssen Deutschlands (CDU) bezüglich
punkt erreicht. »Was ist dieser Journalisten nicht gleich hinaustrompe- der Regulierung von Meinungsäuße-
Habeck-Faktor?«, fragte verzückt die ten, wenn sie sich verknallt haben. rungen im Internet vor Wahlen, ja
»Süddeutsche«. »Ist der nächste Kanz- Geht es um die Grünen, ist nicht nur oder nein:
ler ein Grüner?«, die »WAZ«. Der eine Verkitschung, sondern auch eine 1. Die CDU ist für die Meinungs-
»Stern« machte seinen Traum vom Infantilisierung der Berichterstattung freiheit, allerdings sind nicht alle
»Kanzler Habeck« gar zum Titel und zu beobachten. Zum Beispiel wenn die Meinungen gleich wertvoll. Unsere
bereicherte die Debatte um neue Argu- Kollegen von »Bild am Sonntag« eine in den Gremien abgestimmte For-
mente (»trennt den Müll, grüßt im Nachrichtenfassung eines Habeck- derung hierzu lautet daher: Internet-
Treppenhaus«). Habeck wird in deut- Interviews (mit Sperrfrist) verschicken, meinungen hierarchisch ordnen
schen Medien inzwischen alles zuge- in der, ohne Quatsch jetzt, folgende (IMHO)!
traut. Geht es so weiter, wird er bald Überschriften stehen: »Grünen-Chef
als US-Präsident ins Spiel gebracht. Habeck muss seit der Geburt seiner
Oder wenigstens als Dalai-Lama. Kinder bei kitschigen Filmen weinen«.
Schon vor der Europawahl konnten Und: »Für das Styling seiner Frisur
die Grünen nicht über einen Mangel braucht er ›zwei Sekunden‹«.
an Zuneigung klagen. »Er strahlt eine Die Grünen haben bei der Europa-
stabile Kuhwärme aus«, lobte die wahl 20,5 Prozent geholt, sie sind nun
»Süddeutsche« Habeck. Von einem zweitstärkste Kraft. Sie haben sich eine
»grünen Traumpaar« an der Spitze erwachsene Berichterstattung redlich
schwärmte die »taz«. Der »Stern« wur- verdient: einen Journalismus, der Fra-
de konkreter: »Als Annalena Baerbock gen an ihre Inhalte hat, gern auch kriti-
sich zum Paartanz mit Robert Habeck sche – und nicht zu ihrer Frisur oder 2. IMHO wird durchgeführt
entschied, war das wie ein Trommel- ihrem Grußverhalten im Treppenhaus. von neu zu gründenden subnationa-
wirbel, so unkonventionell, so uner- len Anstalten für Überwachung
schrocken und entschlossen, dass viele An dieser Stelle schreiben Jan Fleischhauer und (SNAFU). Vornehmlich sollen hier
spürten: Da fängt etwas Neues an.« Markus Feldenkirchen im Wechsel. junge Menschen Anstellung finden,
denn, so unsere zweite Forderung:
Wir wollen ihre werthaltige Teilhabe
fördern (WTF)!
3. Aus rechtlichen Gründen ist
stets darauf hinzuweisen, dass es sich
bei der Umsetzung von IMHO und
SNAFU mangels Kompatibilität mit
dem Grundgesetz um eine »Rege-
lung ohne festen Legalitätsbezug«
(ROFL) handelt.
4. Studien belegen, dass junge
Leute im Internet besonders gut mit
Abkürzungen zu erreichen sind.
Zur flächendeckenden Verbreitung
unserer Haltung in der jungen
Generation schreiben (»posten«)
alle Gliederungen der CDU unver-
züglich auf allen verfügbaren Kanä-
len folgende internetaffine Botschaft:
»CDU: IMHO SNAFU! Junge Leute
WTF! ROFL LOL @AKK«.
5. Bitte vergessen Sie nicht, das
Internet nach Benutzung ordnungs-
gemäß abzuschalten. Stefan Kuzmany
Titel
12
E
s gibt ein Foto, das Ende März Koch verglich die Klima-Demos mit dem
bei einer »Fridays for Future«-De- Einzug Jesu in Jerusalem, Greta in der Rol-
monstration in Berlin aufgenom- le von Jesus Christus. Andere feiern sie
men wurde. Zu sehen sind junge als eine neue Jeanne d’Arc, stark in ihrer
Leute, auffallend mehr Mädchen als Jungs, Schwäche, weise in ihrer Naivität.
die Münder sind weit geöffnet, sie schreien Demonstrationen können Spaß machen,
Slogans, ein paar von ihnen haben noch sie können Feste der Ekstase sein, manch-
Zahnspangen. Ein Mädchen hat, so wirkt mal auch Exzesse der Gewalt, aber dieses
es zumindest, voller Inbrunst die Augen Bild zeigt keine Fröhlichkeit, keine Lust
geschlossen. Vor sich her tragen sie ein an der Rebellion oder der Gewalt, sondern
Spruchband: »Our house is on fire.« Unser eher einen Moment der Verzweiflung, der
Haus brennt. Angst und Ohnmacht, der existenziellen
Nur eine der Demonstrantinnen scheint Bedrohung: Diese Welt muss gerettet wer-
nicht so richtig dazuzugehören, sie ist klei- den, unbedingt und absolut und sofort.
ner als alle anderen. Sie bildet das Zen- 25 000 Menschen nahmen im März an
trum des Bildes. Wie sie da so steht, mit- dieser Demonstration teil, es war ein
tendrin und doch allein, erinnert es ein we- machtvoller Auftritt, aber herrje, es waren
nig an Leonardo da Vincis Gemälde »Das ja nur Kinder. Jetzt jedoch, nach diesem
Abendmahl«. Ihr Blick ist abgewandt, ihr europäischen Wahlsonntag, wirkt dieses
Mund geschlossen, das Haar zu Zöpfen ge- Foto anders – als Prophezeiung und Mani-
flochten. Es ist Greta Thunberg mit ihrem festation einer neuer Protestbewegung, die
Greta-Thunberg-Gesicht, erhaben und ent- mit großer Wucht und Schnelligkeit das
rückt und fremdelnd und auch ein wenig Parteiensystem durcheinanderwirbelt und
spöttisch in ihrer heiligen Ernsthaftigkeit: deren Radikalität größere Antworten for-
Das hier, sagt dieses Gesicht, ist nur der dert als irgendeine CO²-Steuer oder ein
Anfang, und besser ist, ihr glaubt mir. mühsam in der Großen Koalition beschlos-
Es kann einem viel einfallen zu Greta senes Klimaschutzgesetz.
Thunberg. Der Berliner Erzbischof Heiner This house is on fire. Und dieses Land
nun auch.
Es gibt ein Bild von Rudi Dutschke, das
1968 bei einer Vietnamdemonstration in
Berlin aufgenommen wurde. Dutschke
trägt einen Helm in der einen Hand, in der
anderen lustigerweise eine Aktentasche,
als ob der Wortführer der Studenten nach
der Revolution noch ins Büro müsste. Er
läuft vorweg, angriffslustig, hinter ihm die
Reihen der jungen Männer, es sind fast aus-
schließlich Männer, die sich unterhaken.
Man hört sie geradezu laut rufen auf die-
sem Foto: Ho, Ho, Ho Chi Minh. Ein Foto,
das Geschichte erzählt, vom Aufbruch und
vom radikalen Umbau einer Gesellschaft,
es ist die Geschichte von der Neuerfindung
eines Landes. Das Dutschke-Foto erzählt:
So war das damals im Februar 1968.
Und so ist das nun im Frühjahr 2019.
Die Analogie zu 1968 ist noch relativ
frisch. Alte Fahrensmänner des Protests
wie der Ur-Grüne Ralf Fücks, er ist Jahr-
gang 1951, war also erst 17, als die Straße
erobert wurde, sehen die Ähnlichkeiten.
Er betreibt heute einen Thinktank in
WOLFGANG KUNZ / ULLSTEIN BILD
Friedensdemonstrationen der Achtziger- weich, klug, zurückhaltend, so seltsam das Frage sein, wie sehr man auf den Erfin-
jahre, auch wenn die eher ein Ausläufer bei YouTube-Größen klingen mag. Er dungsreichtum der Menschheit baut und
der 68er waren. Oder bei der Attac-Bewe- wirkt durch die Effekte des Netzes, die ei- der Idee von Fortschritt vertraut. Aber
gung, die in den Nullerjahren gegen die nem Menschen ohne Funktion und Titel wahrscheinlich ist es das Recht der Jugend,
Globalisierung und den Kapitalismus auf- über Nacht ungeheure Macht geben kön- radikal zu sein und in Panik zu verfallen.
begehrte, aber genauso schnell wieder ver- nen. Mit einem Schlag gab er die CDU der In elf Jahren geht die Welt unter.
gessen wurde wie die »Occupy«-Bewe- Lächerlichkeit preis. Sie spricht weder die Es gab 68er, die ernsthaft glaubten, in
gung, die nach der Finanzkrise entstanden Sprache der Jugend, noch versteht sie die einem faschistischen Staat zu leben. An-
war. Die Suche nach den Nachfolgern von Kanäle, durch die diese Generation kom- ders aber als die Altvorderen, die eher Kin-
68 ist Ausdruck eines Wunschdenkens, ei- muniziert, sich organisiert. Die Effekte des der des Aufbruchs waren, sind die 19er die
ner Hoffnung, dass sich endlich etwas tut. Netzes sind es, die diese Generation so Kinder der Apokalypse, aufgewachsen in
Wahrscheinlich gibt es eine Art inneren schnell so stark und mächtig machen wie einem verrückten Jahrzehnt. Einem Jahr-
Drang, die Geschichte als Abfolge von keine zuvor. zehnt, das mit einer weltweiten Finanz-
Generationen zu erfassen, als einen sich Wenn die 68er den Aufstand gegen die krise und Rezession begann. Einem Jahr-
immer neu aufladenden Konflikt der Jun- Naziväter wagten, eine Rebellion gegen zehnt, in dem die Flüchtlingskrise von
gen gegen die Alten. Aber als sich im ver- die autoritären Strukturen der Nachkriegs- 2015 einen rechten Populismus produzier-
gangenen Jahr der Protest von 68 zum zeit, gegen den Muff und den Kleingeist te, eine Krise, die die Demokratien des
50. Mal jährte, blieb es seltsam still. Keine der Wirtschaftswunderjahre, und das alles Westens eher von innen als von außen
Feier der Revolte mehr und auch kein gro- auch ein Schrei war, nach Freiheit und bedroht. Einem Jahrzehnt, in dem ein neu
ßes Klagen über eine Jugend, die anschei- mehr Demokratie und mehr Sex, wer ge- gewählter amerikanischer Präsident sein
nend nichts will und nichts tut. nau sind dann die 2019er? Woher kommen Land in den Irrsinn treibt. Einem Jahr-
Millennials nennt man die Generation sie auf einmal – kamen sie überhaupt so zehnt, in dem die sexuellen Gewalttätig-
der jüngeren Leute, die ab den frühen überraschend, wie es vielen scheint? Und keiten eines amerikanischen Filmprodu-
Achtzigerjahren geboren wurden. Sie ha- können sie dieses Land, vielleicht den gan- zenten einen neuen Feminismus erzeugte,
ben nicht den besten Ruf. Sie galten als zen Westen, verändern? der Männlichkeit als solche infrage stellt.
ambitionslos, als ein wenig narzisstisch in Einem Jahrzehnt, in dem die digitale Tech-
ihrer angeblich dauerhaften Selbstbespie- Manchmal ist es nur eine Erkenntnis, die nologie eine neue Art von Öffentlichkeit
gelung und vor allen Dingen als desinte- alles in Gang bringt. Ein kleiner Satz, ein hat entstehen lassen, die neben viel Wissen
ressiert an politischen Prozessen und En- kurzer Fakt, eine kühne Prognose. In die- und Information und Austausch auch Hass
gagements. Es gibt auch schon eine Nach- sem Fall lautet dieser Satz: Entweder die und Fake News und Empörung im Über-
folgegeneration, Generation Z wird sie CO²-Emissionen sinken dramatisch bis maß produziert.
genannt oder auch iGen. Das sind die Jahr- 2030, oder die Welt wird nicht mehr zu Man muss weder besonders jung noch
gänge ab Ende der Neunzigerjahre. retten sein. besonders alt sein, um das alles ziemlich
Es ist die erste Generation, die mit dem Der Meeresspiegel steigt jetzt schon, Ex- beunruhigend zu finden.
Smartphone aufgewachsen ist, und auch tremwetter werden häufiger, Landstriche Angesichts der globalen, technologi-
sie hatte bislang keinen besonders guten werden nicht mehr bewohnbar sein, Hun- schen und gesellschaftlichen Umbrüche
Leumund: Teenager, die den ganzen Tag derte Millionen Menschen könnten in den wäre es eher erstaunlich, wenn es das nicht
am Handy daddeln oder Selfies auf Insta- Jahrzehnten danach ihre Heimat verlieren gäbe, eine überall in der westlichen Welt
gram posten. und sich auf die Flucht begeben. vorzufindende Protestbewegung, die eher
Und nun das – diese Jugend steht auf, Es ist ein ziemlich steiler Satz, er beruht weiblich ist und links, eher jung und digital
und sie hat Galionsfiguren, in denen sich auf Modellrechnungen einer höchst kom- und feministisch, gegen Rassismus und für
ihre Träume, Ängste, Wünsche bündeln: plexen Wissenschaft. Die Frage ist natür- Gerechtigkeit. Jede Ära hat den Protest,
Greta Thunberg, die 16 Jahre alt ist, in nur lich, wie absolut dieser Satz ist und was den sie verdient.
wenigen Monaten weltberühmt wurde, man aus ihm macht. Es könnte auch eine
vor dem Weltwirtschaftsforum in Davos Es ist schwierig, Greta Thunberg nahe-
spricht, vom Papst empfangen wird, für zukommen. Sie tut sich schwer im Um-
den Friedensnobelpreis vorgeschlagen ist 31 Grüne Verheißung gang mit Menschen. Vor ein paar Wochen
und Hunderttausende junge Menschen Wahlergebnis bei der Europawahl ist in Deutschland ein Buch über die Ge-
unter den 18- bis 29-Jährigen,
mobilisiert. Luisa Neubauer, 23 Jahre alt, in Prozent schichte der Familie Thunberg erschienen.
Mitinitiatorin der deutschen »Fridays for Es ist ein Selbstporträt. Geschrieben hat
Future«-Demos, so schlau und rhetorisch es Gretas Mutter Malena Ernman, im Na-
geschickt, dass Berufspolitiker wie CDU- men ihrer beiden Töchter und ihres Ehe-
Wirtschaftsminister Peter Altmaier im manns. »Szenen aus dem Herzen – Unser
Schlagabtausch (SPIEGEL 12/2019) nicht Leben für das Klima« heißt es.
gut aussehen. Die Thunbergs sind eine moderne
Und dann Rezo, keine 30 Jahre alt, In- 14 schwedische Familie mit den modernsten
formatiker und YouTuber aus Aachen, des- Ansichten in einem der modernsten Län-
sen Video »Die Zerstörung der CDU« über der dieser Welt. Was nicht heißen muss,
9
das Versagen der Volksparteien in der Kli- 8 dass man unbedingt mit ihnen tauschen
mapolitik kurz vor der Europawahl veröf- 7 7 7 möchte. Denn ihre Geschichte ist auch
fentlicht und fast 14 Millionen Mal ange- ein modernes Martyrium, die Geschichte
Zum Vergleich: Ergebnis in allen Altersgruppen
klickt wird. Es hat wohl dazu beigetragen, einer Überforderung, eines Leidens an
die Grünen zum Gewinner der Europa- 20,5 28,9 15,8 5,4 2,4 5,5 11,0 der Welt.
wahl in Deutschland zu machen. Die Mutter ist Opernsängerin, Ehe-
Grüne CDU/ SPD FDP Die Linke AfD
Rezo war Tage nach der Wahl ver- CSU Partei mann Svante Schauspieler und Produzent.
schwunden, der SPIEGEL hat ihn am Mitt- Sie besaßen einen Volvo, sind aufgewach-
woch aufgetrieben, einen jungen Mann, Quelle: Forschungsgruppe Wahlen Sonstige: 17 sen im liberalen Geist der Sechzigerjahre,
14
steigen und die Atmosphäre in eine gigan-
tische unsichtbare Müllhalde verwandeln.
Sie ist das Kind, wir sind der Kaiser. Und
wir sind alle nackt.«
Der Klimawandel, der Landstriche ver-
dorren und pazifische Inseln untergehen
lässt, die Stresserkrankungen, die Unge-
rechtigkeiten dieser Welt, die Krisen un-
serer ökonomischen und politischen Sys-
teme, die immer längeren Schlangen vor
den Kinder- und Jugendpsychiatrien, sie
alle seien Teil einer großen Nachhaltig-
keitskrise, die »zum Kern des Gesundheits-
zustands der Menschen« führe.
Wir alle sind krank, lautet die Diagnose,
sind Opfer einer falschen Welt, die wir uns
erschaffen haben. Und Greta ist das Kind
der Apokalypse, vor der sich die Mensch-
heit nur retten kann, wenn aus einem Mäd-
chen wie Greta, einem Opfer, eine Heldin
wird.
Die Geschichte der Thunbergs ist eine
moderne Erlösungsgeschichte, in der erst
die Krankheit dafür sorgt, dass Menschen
die Dinge so sehen, wie sie sind. Was rich-
tig ist und was falsch: Flugzeuge benutzen,
Volvo fahren, Fleisch essen, Kohlekraft-
werke laufen lassen, weil sie Arbeitsplätze
sichern – also all das, was zum Lebensstil
der Elterngeneration gehört.
bestehenden Verhältnisse – und wird als Und die Rüge geht weiter. »In der einen hungswissenschaftlerin an der Universität
Kampf gegen tief empfundenes Unrecht Sekunde sagen Politiker: ›Der Klimawan- Hildesheim. »Der Protest wird innerfami-
legitimiert. Neu hingegen ist die Reaktion del ist wichtig, wir tun alles Denkbare, um liär und gesamtgesellschaftlich nicht als
der Eltern, der Lehrer und der etablierten ihn aufzuhalten.‹ Im nächsten Augenblick Generationenkonflikt ausgetragen, son-
bürgerlich-akademischen Kreise, die ihre aber wollen sie Flughäfen erweitern, neue dern ins Abstrakte ausgelagert: Die Politi-
aufständischen Kinder unterstützen und Kohlekraftwerke errichten, mehr Autobah- ker haben die großen Themen verschlafen,
gern auch Entschuldigungen für die Schule nen bauen, und die Firmenchefs fliegen die etablierten Parteien sind erstarrt.«
schreiben, wenn das Kind am Freitag de- im Privatjet zu ihren Meetings am anderen Manche, die früher für Frieden und gegen
monstrieren geht. Obwohl der Protest die Ende der Welt. So handelt man nicht in Atomraketen demonstriert haben, sähen
Lebensweise und den Konsum der Eltern- einer Krise!« sich gewissermaßen selbst wieder protes-
generation in Zweifel zieht, fühlen sich die Sie spricht zehn Minuten lang, genau so tieren. In Greta Thunbergs Familie, aber
Alten nur selten angegriffen. Dabei ist die hat es das Programm vorgesehen. Kaum auch in weniger prominenten Familien be-
Anklage der Jungen fundamental: Ihr zer- ist das letzte Wort gesprochen, läuft Thun- obachten Eltern wohlwollend, wie ihr
stört unsere Zukunft! berg von der Bühne, klettert auf ihren Stuhl, Kind nun eine Idee des Politischen entwi-
versinkt hinter der massigen Schulter ckelt, als wichtigen Entwicklungsschritt
Dass es trotzdem funktioniert, sah man Schwarzeneggers. »Greta«, ruft die Mode- auf dem Weg zu einer eigenständigen Per-
am vergangenen Dienstagmorgen, 10.20 ratorin von der Bühne, »wenn du dich um- sönlichkeit. Sie fühlten sich in ihrem Er-
Uhr, Hofburg Wien, Klimagipfel R20 Aus- drehst, kannst du sehen, dass alle Menschen ziehungsbemühen bestätigt: aufgeklärte
trian World Summit. Greta Thunberg sitzt hier im Saal für dich aufgestanden sind.« Eltern, die engagierte, couragierte und
bei dieser Veranstaltung in der ersten Rei- Doch Greta dreht sich nicht um. selbstbestimmte Kinder großziehen. De-
he, zu ihrer Linken: Arnold Schwarzen- »Diese breite Unterstützung ist erstaun- ren Protest sei der Nachweis des eigenen
egger, der die Konferenz organisiert hat. lich«, sagt Meike Sophia Baader, Erzie- Erfolgs.
Zu ihrer Rechten: Alexander Auch dass so viele Mädchen bei dem
Van der Bellen, Österreichs Bun- Aufstand den Ton angeben, lasse sich als
despräsident, der gekommen ist, Folge einer Post-68er-Erziehung interpre-
obwohl er zurzeit andere Sorgen tieren, sagt Baader. »Darin spiegelt sich
haben dürfte: »Ich danke dir für die Überzeugung, dass man Mädchen stär-
die Hoffnung, die du in so vielen ken müsse, damit sie einen gleichberech-
von uns geweckt hast«, sagt Van tigten Platz in der Gesellschaft einnehmen.
der Bellen in seinem Grußwort, Nun bestimmen sie als Aktivistinnen die
es gilt der jungen Schwedin. Richtung des Protests. Die Mädchen ha-
Der Österreichische Rundfunk ben den Klimawandel auch als ein soziales
überträgt, es gibt einen Live- Thema auf die Agenda der öffentlichen
stream im Internet. Die Kamera Aufmerksamkeit gesetzt.«
schwenkt zu Thunberg, die Es ist ein Aufstand, der keineswegs aus
schaut ruhig geradeaus, das dem Nichts kam. Ulrich Schneekloth, Mit-
Greta-Thunberg-Gesicht. Autor der »Shell Jugendstudien«, beob-
Schwarzenegger hatte sie
nach Wien eingeladen. Am
Abend zuvor twitterte er, er sei
»starstruck«, fasziniert nach ei-
ner Begegnung mit ihr. Als wäre
GÜNTER ZINT / PANFOTO
16
Die Politikerin US-Demokratin Alexandria Ocasio-
achtet schon seit einigen Jahren Cortez, Idol mit fast viereinhalb Millionen
die Repolitisierung der Jugend – Followern auf Twitter: Ihre Partei braucht sie,
wenn man »Politik« nicht mit aber sie braucht ihre Partei kaum noch.
»Parteipolitik« gleichsetzt.
Die Mitgliederzahlen der Ju-
gendorganisationen der Parteien
gehen seit Jahren zurück, die
Wahlbeteiligung bei Studierendenparla-
menten ist seit Jahren extrem niedrig. 13
Prozent waren es zuletzt etwa an den Uni-
versitäten Köln, Greifswald und Hamburg,
an der FU Berlin nur magere 9 Prozent.
»Politisierung beginnt immer mit per-
sönlichem Betroffensein«, sagt Schnee-
kloth. Mit Flüchtlingen, die im Mittelmeer
ertrinken. Mit einem Eisbären in der Ark-
tis, dem die Eisscholle unter den Pfoten
wegschmilzt. Mit hungernden Kindern
nach Dürreperioden in Afrika. Doch die
etablierten Parteien sind kein Ort für
Betroffenheit. Erst mal Mitglied werden,
dann Netzwerke spinnen, einen Posten
ergattern und irgendwann vielleicht mal
etwas verändern. Genau das schreckt die
allermeisten jungen Leute ab.
Das Interesse an »Zukunftsthemen« sei
seit der letzten Shell-Studie 2015 noch ein-
mal gewachsen, sagt Schneekloth. Dass
Klimaschutz und Nachhaltigkeit an Be-
deutung gewonnen haben, liege an einer
gewissen ökonomischen Sorglosigkeit der
Jugend. »Es gibt eine Entlastung, was die
wirtschaftliche und soziale Situation jun-
ger Menschen angeht«, sagt Schneekloth.
»Sie fühlen sich sicherer – und deshalb ver-
lagert sich die Sorge von der Gegenwart
auf die Zukunft.«
videos laufen. Die populärste Video- mand soll sein Gesicht sehen, auch nicht Rezo war schon vor der Europawahl
plattform der Welt ist zugleich die zweit- seine Haare. »Ich ducke mich auf der Stra- abgetaucht, auch medial, seither hat er kei-
größte Suchmaschine – und damit ein zen- ße weg«, sagt Rezo später, er ist Ende ne Interviews gegeben. Ihm war alles zu
traler Informationskanal. 90 Prozent der zwanzig, viel mehr will er nicht verraten. viel geworden. Die Aufmerksamkeit, die
Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren Rezo, das ist der YouTuber mit dem Presseanfragen. Mitte Mai war er noch
nutzen YouTube mehrfach in der Woche. orangefarbenen Hoodie und den blauen ein gewöhnlicher YouTuber gewesen, der
23 Prozent geben an, dass sie sich dort Haaren. Der mit dem Zerstörungsvideo. Karaoke sang oder seine Expertise in Mas-
mehrmals pro Woche über Nachrichten in- Der die CDU als Haufen von Dilettanten turbation kundtat. Nun ist er der Mann
formieren. und Lügnern beschimpft und Studien der Stunde, Plasberg, Lanz, Will, alle
Welche Mobilisierungsmacht die Video- zum Klimawandel und zur Bildungspolitik wollen ihn haben. Berichte in der »Tages-
plattform hat, zeigt sich vor allem, wenn zitiert. Fast 14 Millionen Mal wurde schau«, Prügel von der »FAZ«, Verständ-
es sich um Themen handelt, die der Gene- dieses Video bisher aufgerufen. Theore- nis von der »taz«. Dazu Verschwörungs-
ration YouTube nahegehen, die Regulie- tisch wäre das jeder sechste Bürger dieses theorien, er sei gesteuert, von guten Kräf-
rung des Netzes etwa. Dazu gehört Artikel Landes. ten, von bösen Kräften, von wem auch im-
13, der inzwischen Artikel 17 heißt und Er selbst sagt, sein Einfluss auf die Eu- mer. »Mein erster Impuls war: Ich würde
Teil einer EU-Urheberrechtsnovelle ist. Es ropawahl sei gering gewesen: »Ich denke gern einen großen Schild über mich halten,
geht darum, wer wann haftet bei Urheber- nicht, dass ich viel bewegt habe. Ich habe bis es vorbei ist. Aber ich habe verstanden,
rechtsverstößen im Netz, ein scheinbar nicht viel Energie aufgebracht. Wenn eine dass das nicht drin ist«, sagt er.
dröges Thema, das viele Erwachsene gar Bowlingkugel auf dem Schrank liegt, reicht Rezo will Missverständnisse ausräumen.
nicht verstanden. Entsprechend über- ein kleiner Schubs für eine krasse Auswir- Das Treffen findet in einem Hotelzimmer
rascht waren die Politiker von der Wucht kung.« Er habe nur ein Video drehen wol- statt. Er will nicht, dass man weiß, wo er
der Angriffe, schließlich wollten sie doch len, mehr nicht. wohnt. Und wie.
nur Urheberrechte schützen. Rezo sagt, er habe Angst, »dass ein
YouTube-Stars mit zahlreichen Spinner bei mir zu Hause die Scheiben ein-
Abonnenten wurden zu einfluss- schmeißt.« In der WhatsApp-Gruppe sei-
reichen Polit-Influencern und nes Abiturjahrgangs hat er darum gebeten,
Aktivisten, die zu Demonstratio- dass niemand mit der großen Zeitung spre-
nen aufriefen und dort auftraten. chen möge, die gerade sein Privatleben
Während Konservative die auskundschafte.
Wütenden als ahnungslose Ma- Quasi über Nacht ist Rezo zum Gesicht
rionetten darstellten, begegneten der Generation der unter Dreißigjährigen
immerhin die jungen Europapo- geworden. Einer, den man mit der »Fri-
litiker Tiemo Wölken (SPD) und days for Future«-Bewegung zusammen-
Julia Reda (Piraten) ihnen mit bringt, auch wenn er mit ihr nichts zu tun
Respekt: Auf YouTube erklärte hat. »Ich bin kein Aktivist, ich klettere
Wölken etwa, wann genau über nicht im Hambacher Forst auf Bäume oder
die Reform debattiert wird und marschiere jeden zweiten Tag bei Demos
wie es danach weitergeht. Reda
KLAUS MEHNER / BERLINPRESSSERVICES.DE
19
in der ersten Reihe mit. Ich glaube, dass Jüngste. »Es war manchmal ein ziemlicher Schmerzen spüren. Man kann sich auch
ich der Gesellschaft mehr diene, wenn ich Struggle«, sagt er. Mitschüler steckten ihn bei der Arbeit verausgaben.« In den ver-
meinen Job gut mache.« Er bezeichnet im Klassenzimmer in den Papierkorb oder gangenen zehn Jahren habe er nur einmal
sich als Unterhalter. Er sagt, dass er sich warfen seine Turnschuhe in die Toilette. Urlaub gemacht. Er arbeite fast jeden Tag,
nie die Frage gestellt habe, ob er ein poli- Als Teenager habe er daran gedacht, sich selbst am Wochenende. Von morgens um
tischer Mensch sei. umzubringen. Einmal habe er auf einem neun oft bis zum Schlafengehen. Am Com-
Rezo ist der perfekte Vertreter seiner Dach gestanden und überlegt zu springen. puter, vor der Kamera.
Generation. Ein Veganer. Einer, der findet, Rezo sagt, er erzähle das alles, weil es Es gibt einen Moment an diesem Nach-
dass man Plastikmüll vermeiden und zu ihm gehöre. Er wolle aber nichts über- mittag, da überwältigen ihn die Gefühle.
Flüchtlinge vor dem Ertrinken retten solle. Als er erzählt, dass er einmal im Jahr in
Er liest weder Zeitung, noch sieht er Fern- die Kirche gehe, an Heiligabend. Er be-
sehnachrichten. Er schaut Netflix. Was in »Abstand, damit die zeichnet sich nicht als christlich, aber die
der Welt passiert, erfährt er auf Twitter christlichen Werte bedeuten ihm etwas:
oder Instagram. Interessiert ihn etwas nä- Gesellschaft nicht nur aus »Ich habe stark verinnerlicht, was Jesus
her, googelt er. Manches bekommt er nur Menschen besteht, die für ein Dude war.« Rezo kommt aus einer
so ungefähr mit. Was die CDU-Chefin Theologenfamilie. Vater: Pfarrer. Mutter:
über sein Video gesagt hat, wie die Kanz- gerettet werden müssen.« Pfarrerin. Großvater, zwei Tanten, zwei
lerin danach die CDU-Chefin verteidigt Onkel ebenso. Und am Ende des Weih-
hat. Ungewöhnlich ist allenfalls seine nachtsgottesdiensts singen alle »O du
Obsession für die Bundespressekonferenz, dramatisieren, zumal es glücklich ausge- fröhliche«, was ihn jedes Mal in Strömen
deren Übertragung er, wie er sagt, seit Jah- gangen sei, »ich stell mich jetzt nicht als weinen lasse. »In diesem Moment frage
ren regelmäßig anschaut. »Weil sie etwas Opfer dar«. Er sei in Behandlung gewesen, ich mich immer: Ist das Leben, das ich
Menschliches hat: Du siehst dort sofort, nicht lange, »ein paar Talks mit Psycholo- führe, das richtige? Will ich das Ding
wenn dich jemand verarscht.« gen«. Gerettet habe ihn die Musik, er fing durchziehen? Ich weiß, meine Videos ge-
Und noch etwas an Rezo ist typisch an, in Bands zu spielen. Die Lust auf ben vielen Leuten etwas. Aber ist es das
für seine Generation: dass er an sich Selbstzerstörung veränderte sich, eine Zeit wert? Übers Jahr baut sich extrem viel auf,
und der Welt leidet – und es, anders als lang habe er sich noch geritzt. »Irgend- was sich an diesem Abend löst.« Rezo
Männer es früher gewohnt waren, auch wann habe ich gemerkt, dass ich das über- fängt an zu weinen.
zugibt. Rezo stottert, was in seinen flott tragen kann auf andere Bereiche. Man Rezo sagt, er liebe seine Eltern. »Sie
geschnittenen Videos nicht auffällt. In der muss sich nicht schneiden, um sich zu ver- sind offene, warmherzige Menschen, die
Schule war er häufig der Kleinste und letzen. Man kann auch auf andere Weise mir viel Liebe gegeben haben.« Kein 68er
1982
Flüssigkristalle bringen dem
Computer das Fahrradfahren
bei: im Display des ersten
digitalen Tachometers.
1888
Eine reife Leistung: Das
1992
Macht Gegenwind zum lauen
Vulkanisationsverfahren Lüftchen: Der Nickel-Cadmium-
macht luftgefüllte Gummi- Akku im ersten Pedelec gibt
reifen möglich und so das Radlern Extraschub.
Fahrradfahren bequemer.
hätte so über seine Eltern geredet, das ist New Yorker Liberaler. Ihm war aufgefal- Bewegung wurde verbeamtet, dasselbe
ein wesentlicher Unterschied zu damals. len, dass sich ab 2013 das Klima an den wird auch dieser Bewegung widerfahren.«
Deren Ansatz ist Rezo auch »zu anti«. An- amerikanischen Universitäten änderte. Sie zwingt die Gesellschaft nur dazu, die
ders als die Revolutionäre damals habe er Als die ersten iGener auf die Colleges politischen Rahmenbedingungen zu ver-
die Gesellschaft nicht gespalten, sagt er. kamen. Einige von ihnen versuchten zu ändern. »Die Gesellschaft braucht manch-
Hat er Träume? Oh ja. »Ein Haus, zwei, verbannen, was ihnen nicht gefiel, sie mal solche Anstöße.«
drei Kinder, einen Hund.« So leben auch wünschten sich »trigger warnings«, »safe Ist ihm das sympathisch? »Viele Mei-
klassische CDU-Wähler. »Uns muss ja spaces« und dass politisch nicht konforme nungsäußerungen der jungen Protestler
nicht alles trennen«, sagt Rezo. Gastredner ausgeladen würden. Eine von sind wahnsinnig naiv«, sagt Nassehi.
Haidts Thesen lautet, dass die iGener »Aber wenn ich ehrlich bin: Ich möchte
Die 68er haben das Land neu erfunden, nicht nur das Produkt der Smartphone- nicht mit allem konfrontiert werden, was
in dem wir heute leben, jedenfalls zum Welt sind, sondern auch das ihrer Eltern. ich in dem Alter gesagt habe. Das ist ja
Teil. Ein aufgeklärtes, freies Land. Die Par- Einer Elterngeneration, die ihre Kinder der Segen: dass bei uns nicht alles aufge-
teien veränderten sich, die Grünen wurden zu ewig Schutzbedürftigen erzogen hat, zeichnet wurde.«
gegründet. Es ging alles langsamer, aber die keine anderen Meinungen ertragen. Doch vielleicht ging es damals, 1968,
nicht alles war nur dufte. Der Dogmatis- Was er meint: Ein bisschen Abstand und und heute nur so: laut sein, damit sich
mus der K-Gruppen, die in den Siebziger- Generationskonflikt mit den Eltern könn- etwas tut.
jahren die politische Subkultur prägten. te ganz sinnvoll sein, damit eine Gesell- Laura Backes, Tobias Becker,
Der Terrorismus der RAF, deren Mitglie- schaft nicht nur aus Menschen besteht, die Lothar Gorris, Judith Horchert,
der ihre Morde damit begründeten, dass gerettet werden müssen, vor dem Klima- Anna-Lena Jaensch, Alexander Kühn,
ein neuer Faschismus drohe. wandel, den Andersdenkenden, dem Ann-Katrin Müller, Miriam Olbrisch,
Die 19er sind womöglich genauso wir- Bösen. Maximilian Popp, Marcel Rosenbach,
Christoph Scheuermann, Katja Thimm
kungsmächtig, nur mit dem Unterschied, Das erklärt einen Teil der Rigorosität
dass alles nun viel schneller geschieht. Der der neuen Bewegung, ihren Hang, die Mail: lothar.gorris@spiegel.de
New Yorker Psychologe Jonathan Haidt Welt einzuteilen, hypermoralisch, in Gut
hat im vergangenen Jahr ein Buch über die und Böse.
Generation Z geschrieben. Es heißt »The Aber dass die Revolte, wie schon 1968, Video
Wie politisch ist die
Coddling of the American Mind«, die Ver- tatsächlich einen Zug ins Totalitäre be- Generation YouTube?
hätschelung der amerikanischen Seele. kommt, dafür sieht der Soziologe Nassehi spiegel.de/sp232019jugend
Haidt, Jahrgang 1963, ist keiner dieser keine Gefahr: Auch die 68er seien am oder in der App DER SPIEGEL
neuen rechten Intellektuellen, sondern ein Ende sozialdemokratisiert worden. »Die
2015
Hält die Hände am Lenker:
Mit der Chemie als Tandempartner
wird das Fahrradfahren dank neuer
Der Fahrradhelm mit integrierter
Funktechnologie macht das Werkstoffe und Verfahren immer
Smartphone auch unterwegs
nutzbar – dank Mikrochips
komfortabler und sicherer. Das Ziel:
aus hochreinem Silizium. eine gesunde und nachhaltige
2018
Gibt richtig Kette ohne Kette:
Mobilität, die Spaß bringt.
Renner.
Titel
wie wenn man beim Friseur zu lange in erklärt, wie CO²-Emissionen und Klima-
den Spiegel schaut, irgendwann war ich wandel zusammenhängen, das hat mich
von mir selbst genervt. sehr beeinflusst. Wir haben ein Plakat ge-
Bei der Europawahl habe ich meine malt: ›Schule schwänzen kann man ver-
Stimme den Grünen gegeben. Nachhaltig- kraften, Klimawandel eher nicht so.‹ Die
keit und Klimaschutz sind mir wichtig, ge- Parteien kümmern sich nicht genug um
22
mung und die witzigen Ideen ha- so privilegiert zu sein wie
ben mir gefallen. So hatte ich mir ich? Diese Menschen gilt
Politik nicht vorgestellt. Seitdem es um jeden Preis zu
bin ich regelmäßig dabei und habe schützen.
auch im Wahlkampf mitgeholfen, Das versuche ich unter
rettung entkriminalisieren, sichere Flucht- sen? Dass Jugendliche weni- mitdemonstrieren, so toll findet
wege schaffen und den schnellen Kohle- ger vernünftig oder schlech- sie das. Ich habe bei der Euro-
ausstieg in ganz Europa vorantreiben. Ich ter informiert sind, ist nicht pawahl die Grünen gewählt, da
fühle mich von der Politik in Deutschland wahr. sie klimapolitisch und sozial et-
in einigen Punkten alleingelassen, ich den- Jede Nacht lässt unsere was bewegen wollen. Dass die
ke da an Rassismus bei der Polizei. Aus Schule alle Lichter an, das Sophie Thomas CDU von jungen Menschen kei-
Bayern und Sachsen gibt es viel zu oft Be- ganze Gebäude ist erleuch- ne Ahnung hat, hat sich ja an ih-
richte über Racial Profiling und rassistisch tet. Mich regt das total auf, rer Reaktion auf das Rezo-Video
motivierte Beleidigungen. Es enttäuscht das ist so unnötig! Dass Erwachsene bes- gezeigt. Ein elfseitiges PDF-Dokument –
mich, dass der SPIEGEL früher Titelstorys sere Entscheidungen treffen, ist also kein ernsthaft?! Das liest sich doch kein junger
wie ›Mekka Deutschland‹, ›Blutiger Islam‹ gutes Argument. Vielleicht nehmen die Er- Mensch durch. Wir brauchen Politik, die
oder ›Der heilige Hass‹ gebracht hat. Un- wachsenen uns nicht ernst, weil wir eine uns zuhört und auf uns eingeht. Denn es
terlegt von furchteinflößenden Bildern andere Form gefunden haben, Politik zu ist unsere Zukunft, über die sie entschei-
schüren solche Berichte ohne Rücksicht machen. Auf den Freitagsdemonstrationen den. Da war ich von den Grünen auch ein
auf Muslime Ängste, Hass und infolgedes- wird gelacht, getanzt, gefeiert. Das heißt wenig enttäuscht, als ich hörte, dass sie
sen Rassismus. nicht, dass uns die Klimakrise weniger am sich nicht entschlossen gegen einen Uplo-
Dass jetzt in Sachsen so viele Menschen Herzen liegt, aber warum sollte man beim adfilter aussprechen. Viele unter 30 sind
die AfD gewählt haben, macht mich be- Protestieren keinen Spaß haben dürfen?« gegen Artikel 13, jetzt 17, und trotzdem
troffen, überrascht mich aber nicht. Ich wird er durchgesetzt. Ich hoffe, dass wir
verstehe, dass viele AfD-Wähler frustriert Schüler in Zukunft noch mehr bewegen
und deswegen empfänglich für Populismus »Meine Mutter findet das toll« können. Bei dem Rechtsruck, den es gera-
sind. Ich bin Deutschsyrerin, studiere, ar- Moritz Bayerl, 18 Jahre, besucht die zwölfte de in Europa gibt, ist es wichtig, einen Ge-
beite, zahle Steuern. Ich fühle mich, um- Klasse eines Gymnasiums in Köln. genpol zu bilden. Und das tun wir. In mei-
geben von 25,3 Prozent AfD-Wählern in »Für mich war die Europawahl ein ech- nem Freundeskreis gibt es niemanden, der
Sachsen, unwohl und missachtet, und ich ter Lichtblick. Endlich konnte ich auch nicht gewählt hat.«
habe vor allem eines: Angst. Wie soll sich wählen gehen, mich ins politische Gesche- Aufgezeichnet von Laura Backes,
also jemand fühlen, der nicht das Glück hen einbringen. Das versuche ich bereits Anna-Lena Jaensch, Miriam Olbrisch
hatte, in Bezug auf Bildung und Sicherheit bei der Landesschüler*innenvertretung,
24
Sicherheitskonferenz heitskonferenz, vorausgegangen. Die eigentum Ischingers, der seine Anteile
Bund zahlt zwei Millionen gemeinnützige GmbH, die die Sicherheits-
konferenz ausrichtet, war bisher Privat-
inzwischen als Schenkung in die neue
Stiftung eingebracht hat, an der auch der
Die Bundesregierung will sich voraus- Freistaat Bayern mit einer Million Euro
sichtlich mit zwei Millionen Euro an der beteiligt ist. Sobald die Bundesregierung
neuen Stiftung Münchner Sicherheitskon- gezahlt hat, kann die Bundeskanzlerin
ferenz beteiligen. Berlin sichert sich damit den Vorsitzenden des Stifterkreises nomi-
ein Mitspracherecht bei dem diplomati- nieren. Die neue Konstruktion sieht vor,
schen Großereignis, zu dem in jedem Fe- dass Ischinger, 73, selbst über den Zeit-
bruar auch Dutzende Staats- und Regie- punkt seines Abgangs bestimmen kann.
rungschefs in die bayerische Landeshaupt- Er nominiert seinen Nachfolger, allerdings
Justiz befehl akzeptiert, weil die dortigen Staats- nahme besteht. Das Weisungsrecht wird
»Politische Einflussnahme« anwaltschaften von der Exekutive un-
abhängig seien. Wie ist das in anderen
hierzulande zwar nur in den seltensten
Fällen ausgeübt. Die Kritik daran ist trotz-
Helmut Satzger, 52, Mitgliedstaaten der EU geregelt? dem nicht unberechtigt – gerade weil
Strafrechtsprofessor Satzger: Dort sind Staatsanwälte ent- es diese Option gibt, ist Einflussnahme
in München, zum weder wirklich unabhängig, oder jedenfalls nicht ausgeschlossen.
Urteil des Europäi- die Entscheidung liegt bei einem Richter. SPIEGEL: Das bayerische Justizministerium
schen Gerichtshofes, SPIEGEL: Auch der innerdeutsche Haft- hat SPIEGEL-Informationen zufolge
wonach deutsche befehl wird von einem Richter ausgestellt. veranlasst, dass Staatsanwälte künftig die
Staatsanwälte nicht Er wird ja nur vom Staatsanwalt zum Euro- Ausstellung solcher Haftbefehle bei
EU-Standards päischen Haftbefehl erweitert, wenn der Gericht beantragen. Ist das ein Ausweg?
genügen Beschuldigte im Ausland vermutet wird. Satzger: Vorerst – auch wenn ich daran
Satzger: Das genügt dem Gericht aber zweifle, dass dabei nun wirklich in jedem
SPIEGEL: Deutsche Staatsanwälte dürfen nicht. Vor allem geht es um die Frage, ob Fall eine tiefschürfende Prüfung erfolgt.
laut dem neuen Luxemburger Urteil keine im konkreten Fall eine Auslieferung Wird ein solcher Antrag vom Richter aber
Europäischen Haftbefehle mehr ausstel- wirklich angemessen ist. Das hätte ein nur abgenickt, ist das kein rechtsstaat-
len, weil sie politischer Einflussnahme Richter zu prüfen. licher Gewinn.
unterliegen können. Ist unsere Justiz nicht SPIEGEL: Zuletzt gab es Diskussionen um SPIEGEL: Was wird aus bereits bestehen-
rechtsstaatlich genug? den Europäischen Haftbefehl aus Spanien den Haftbefehlen?
Satzger: So pauschal kann man das nicht gegen den katalanischen Politiker Carles Satzger: Sie sollten schnellstmöglich von
sagen. Allerdings hat das Gericht klar- Puigdemont. Ein deutsches Gericht hatte einem Richter bestätigt werden. Irritatio-
gemacht, dass ein Europäischer Haft- seine Auslieferung wegen des Vorwurfs nen im Ausland, vor allem wenn man dort
befehl nur von einer strikt unabhängigen der Rebellion abgelehnt. Dabei war der bereits auf Basis des in Deutschland ausge-
Justizbehörde ausgestellt werden darf. Haftbefehl in Spanien von einem Richter stellten Haftbefehls tätig wurde, sind pro-
Und das ist die deutsche Staatsanwalt- ausgestellt worden. grammiert. Langfristig sollte man deshalb
schaft nicht, weil die Politik ein sogenann- Satzger: Gerade da wurde der politische bei uns an eine Reform der Stellung der
tes Weisungsrecht hat. Kontext solcher Verlangen deutlich. Umso Staatsanwälte denken. In den meisten Mit-
SPIEGEL: Die Luxemburger Richter wichtiger ist, dass zumindest keine recht- gliedstaaten der EU sind die Staatsanwalt-
hatten 2016 einen ungarischen EU-Haft- liche Möglichkeit zur politischen Einfluss- schaften unabhängig organisiert. HIP
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XINHUA / ACTION PRESS
Vorsitzende Nahles: »Eine glasklare Frage, die ich beantwortet haben will«
28
Deutschland
E
s ist etwa Viertel vor fünf, als Sa- Vorsitzenden stünden, schreibt Groß. Der Chancen sondiert hat, verschickt eine Mail
scha Raabe das Wort ergreift. Die Brief verbreitet sich, wird öffentlich. an alle SPD-Abgeordneten: »Ich werde
SPD, sagt Raabe, sozialdemokra- Nahles sieht darin eine Attacke, mit der nicht für den Fraktionsvorsitz kandidie-
tischer Bundestagsabgeordneter sie schon länger gerechnet hat. Seit Wo- ren«, schreibt er. Das habe er Nahles kürz-
aus dem Wahlkreis Hanau, habe nach chen kursieren Gerüchte, im Fall schlech- lich in einem Vieraugengespräch gesagt.
außen vor allem zwei Gesichter: Andrea ter Wahlergebnisse drohe ihr ein Putsch. Über das Gespräch hat der SPIEGEL be-
Nahles und Olaf Scholz – und er erlebe Noch am Montagabend geht sie in die Of- richtet (22/2019), seither laufen in der SPD
nun einmal in seinem Wahlkreis, »so leid fensive: Sie will die für Ende September die Spekulationen, wer geplaudert habe,
es mir auch tut«, dass die beiden dort nicht geplante Wahl in der Fraktion vorziehen. Schulz oder Nahles oder beide. In seiner
ankämen. Sie sucht den Showdown, gegen den Rat Mail bezichtigt Schulz nun Nahles indirekt
Raabe sagt das am Mittwochnachmittag führender Genossen. Es ist ein Alleingang der Indiskretion: Er selbst habe sich an das
in der Sondersitzung der SPD-Bundestags- mit hohem Tempo. Sie will ihren Gegnern vereinbarte Stillschweigen gehalten. Da-
fraktion. Als er redet, läuft die Sitzung die Zeit zur Vorbereitung nehmen. mit erklärt er ihr offen den Krieg, doch für
schon eine Weile, es geht um den Plan von Der Bundestag hat sitzungsfrei, die Ab- die Runde im Jakob-Kaiser-Haus ist ent-
Andrea Nahles, in der kommenden Woche geordneten halten sich in ihren Wahlkrei- scheidend, dass Schulz seine Ambitionen
die Machtprobe zu suchen und die Wahl sen auf, doch für Mittwoch werden sie zur beerdigt hat. Der Abgeordnete Karamba
zum Fraktionsvorsitz vorzuziehen. Sondersitzung der Fraktion geladen. Die Diaby äußert sich in der Sitzung verärgert:
Raabe wendet sich an Scholz, Vizekanz- Diskussionen, die an diesem Tag geführt warum der Martin das nicht schon letzte
ler und Finanzminister: »Du wirst wahrge- werden, sind exemplarisch für den Zu- Woche klargestellt habe.
nommen als kaltherziger Technokrat.« stand dieser Partei, für das, was sie seit Dann sprechen die Abgeordneten wie-
Er wendet sich an Nahles, Partei- und Jahren bewegt, bedrückt. Aber auch dafür, der über Nahles’ Plan. Viele sind dagegen,
Fraktionsvorsitzende: »Ich mag dich von sie fürchten, dass die Vorsitzende mit ih-
Herzen gern, und ich werde immer sagen, rem Vorstoß die Fraktion erst recht spalten
dass du ’ne tolle Arbeitsministerin warst, »Was kommt dann? wird. Manche sind regelrecht verzweifelt
’ne tolle Fraktionsvorsitzende. Aber es ist
halt deine Tragik, dass du das nicht ver-
Was kommt danach? angesichts der Sturheit ihrer Chefin.
»Ich halte die Entscheidung, nächste Wo-
kauft bekommst.« Was heißt das che die Entscheidung herbeizuführen, für
Was Raabe da sagt: Es ist vorbei. Ein für die Fraktion?« falsch«, sagt Fraktionsvize Sören Bartol
Bruch muss her, ein Neuanfang. So kann aus Hessen nach übereinstimmenden An-
es nicht weitergehen. gaben. »Machtpolitisch entspricht das dem
Andrea Nahles, 48, hat schon viel hinter wie gnadenlos die SPD mit ihrem Füh- Lehrbuch. Ich glaube aber, dass das Ergeb-
sich. Sie hat einen Parteivorsitzenden ge- rungspersonal umgeht. nis uns alle umbringt.«
stürzt, Wahlniederlagen erlitten, persön- Die Diskussionen haben hinter ver- Er höre in fast allen Beiträgen »das Un-
liche Demütigungen ertragen. Aber dieser schlossenen Türen stattgefunden. Um sie behagen über diesen Prozess«, sagt Bartol.
Mittwoch dürfte einer der härtesten Tage zu rekonstruieren, hat der SPIEGEL mit »Was kommt dann? Was kommt danach?
in ihrer Karriere sein. mehr als zwei Dutzend Personen gespro- Was heißt das für die Fraktion?« Er könne
Als die SPD bei der Europawahl am chen, die an den Sitzungen beteiligt waren, »nur noch mal eindringlich appellieren,
Sonntag auf 15,8 Prozent abstürzte, hinter hat ihre zum Teil schriftlichen Schilderun- dass wir nächste Woche nicht diese Aus-
den Grünen auf Platz drei landete und erst- gen mit anderen Versionen abgeglichen, einandersetzung haben«.
mals in ihrem Stammland Bremen geschla- Widersprüche hinterfragt, Formulierungen Um 14.45 Uhr verlässt Andrea Nahles
gen wurde, standen sofort wieder die Fra- überprüft. Herausgekommen ist das Pro- kurz den Saal. Sie sieht einen Reporter
gen im Raum, die die SPD-Führung einen tokoll eines Tages, der die SPD noch be- draußen stehen und sagt: »Die Geier krei-
Wahlkampf lang zu verdrängen versucht schäftigen wird. sen.« Dann geht sie weiter.
hatte: Stehen noch die richtigen Leute an Mittwoch, 13 Uhr, Sitzungssaal 1302 im Kurz nach Nahles’ Rückkehr ist die
der Spitze? Stimmt die Programmatik? Jakob-Kaiser-Haus, einem Gebäude, das Abgeordnete Dagmar Schmidt an der Rei-
Und hat es noch Sinn, in der Großen zum Bundestagskomplex gehört. Der he – ebenfalls aus Hessen. Schmidt hasst
Koalition zu bleiben? Fraktionsvorstand tritt zusammen, er soll Illoyalitäten und Durchstechereien, wie es
Vor allem die Frage nach dem Personal Nahles’ Plan absegnen, die Wahl auf nächs- sie in den Wochen zuvor zuhauf gegeben
wollten Nahles und der Rest der Parteifüh- ten Dienstag vorzuziehen. hat, sie sagt: »Wenn wir so weitermachen,
rung umgehen, doch Michael Groß, ein Ihre Mitarbeiter sitzen mit todernsten bewegen wir uns absolut in den Abgrund.«
Abgeordneter aus dem Ruhrgebiet, verei- Gesichtern draußen. Drinnen geht es um Aber auch sie ist mit Nahles’ Plan
telt das. In einem Brief fordert er am Mon- die Frage, ob sich der Showdown nicht nicht einverstanden: »Irgendeine Macht-
tag nach der Wahl eine Sondersitzung der doch noch abwenden lässt. Da platzt in demonstration wird uns nicht weiterhel-
Fraktion. Es müsse »klargestellt werden«, die Runde eine Nachricht: Martin Schulz, fen«, sagt sie. Deshalb habe sie »große
ob die Abgeordneten noch hinter ihrer der in den vergangenen Wochen seine Sympathie dafür«, noch einmal nachzu-
denken. »Wir sagen alle, es soll keine Per- und das »Netzwerk«, dessen Mitglieder Man brauche »einen Neuanfang ohne
sonaldebatten geben. Und dann kommt sich als pragmatisch bezeichnen. Parallel Andrea«, sagt ein Abgeordneter aus Nord-
am Abend das Gegenteil«, kritisiert sie. tagen auch noch Landesgruppen. rhein-Westfalen.
»Das sind Entscheidungen, die die Partei Die Seeheimer tagen im Europasaal des Ein Kollege, Axel Schäfer aus Bochum,
nicht zusammenführen in dieser Krise, Paul-Löbe-Hauses. Eigentlich sind sie stolz sagt, er könne Nahles nur raten, aus freien
sondern weiter orientierungslos zurück- darauf, stets loyal zur Führung zu stehen, Stücken den Übergang zu organisieren –
lassen.« selbst wenn es sich um eine Linke wie Nah- am besten mit einer Doppelspitze.
Ein paar Unterstützer von Nahles mel- les handelt. Seeheimer-Chef Johannes Kein Redner stellt sich vorbehaltlos und
den sich zu Wort, sie argumentieren etwa, Kahrs hat in den Tagen zuvor klargemacht, klar hinter Nahles, obwohl hier eigentlich
dass die Vorsitzende nach ihrer Ankündi- dass sich daran nichts ändern werde. Doch ihre Verbündeten sitzen. Sie kommt aus
gung nun ohnehin nicht mehr zurückkön- es kommt anders. diesem Flügel. Tatsächlich dürften die Re-
ne. Doch Matthias Miersch ist anderer Dagmar Freitag meldet sich zu Wort, debeiträge in der hastig abgehaltenen Sit-
Meinung. Miersch, Chef der Parteilinken Abgeordnete aus Nordrhein-Westfalen. zung nicht repräsentativ für die gesamte
in der Fraktion, gilt als möglicher Kandidat Seit 1994 sei sie nun dabei, sagt Freitag, Gruppe sein. Aber in diesen wenigen Mi-
für Nahles’ Nachfolge. Er sagt nun, dass sie habe viele Fraktionsvorsitzende kom- nuten ist es nach Schilderungen von Teil-
er in der nächsten Woche nicht gegen Nah- men und gehen sehen. »Aber ich habe nehmern nur Niels Annen, Staatsminister
les kandidieren werde. Er sagt aber auch, mich noch nie so unwohl in der Fraktion im Auswärtigen Amt, der sich voll für Nah-
dass er ihr Vorgehen für falsch halte. gefühlt.« Dass Nahles eine solche Ent- les reinhängt. Wie solle er denn aussehen,
»Andrea hat recht: Es braucht eine Klä- scheidung treffe und über die Medien der Neuanfang, hält er den Kritikern ent-
rung. Aber eine Klärung bis Dienstag mit kommuniziere, empfinde sie »als völlig gegen. Wie es denn jetzt weitergehen solle,
Ja oder Nein, Schwarz oder Weiß wird der inakzeptable Geringschätzung der Frak- ruft er dazwischen.
Fraktion nicht guttun«, sagt Miersch. Man tionsmitglieder«. Um kurz nach 16 Uhr trifft sich die ge-
solle sich mehr Zeit nehmen, alle sollten Freitag macht klar, was sie generell von samte Fraktion in ihrem Saal unter der
»miteinander sprechen und zu einer Klä- Nahles hält. Deren öffentliche Auftritte sei- Reichstagskuppel. Viele Abgeordnete feh-
rung kommen, bis September oder wann en »Gegenstand jeder Diskussion mit Bür- len, sie haben es nicht nach Berlin geschafft.
auch immer«. gern und Mitgliedern an der Basis mit dem Nahles eröffnet, leitet noch einmal ihre
Am Ende bedankt sich Nahles für die Tenor: Das geht gar nicht«. Entscheidung her. Seit Wochen und Mo-
»intensive und ehrliche Debatte«. Sie er- naten schon sei sie infrage gestellt worden,
klärt noch einmal ihre Entscheidung, sie sagt sie, hinter ihrem Rücken. Viele hier
sagt, sie stelle »eine glasklare Frage, die Man brauche wüssten, von wem sie rede. Einzelne Ab-
ich beantwortet haben will«. Die Situation »einen Neuanfang ohne geordnete hätten ihren Rücktritt sogar öf-
müsse jetzt aufgelöst werden. fentlich gefordert. Sie würde sich wün-
Es ist 15.23 Uhr, als abgestimmt wird. Andrea«, sagt schen, diese Kollegen würden nun auch in
Nahles fragt, wer dafür sei, die Wahl auf ein Abgeordneter. der Sitzung mal den Mund aufmachen.
Dienstag vorzuziehen. 19 Hände gehen Gemeint ist Florian Post, Abgeordneter
hoch. »Wer ist dagegen?« 9 Abgeordnete aus München, der sich seit Monaten so
melden sich. 3 Enthaltungen. »Dann be- Der Brandenburger Abgeordnete Ul- furcht- wie ruchlos an Nahles abarbeitet.
danke ich mich für die Unterstützung«, rich Freese bekennt: »Aus Überzeugung Er meldet sich als Zweiter zu Wort.
sagt Nahles. Ende der Sitzung. und aus strategischen Gründen habe ich Er habe im Europawahlkampf mit vie-
Nahles ist blass, als sie aus dem Saal sie damals nicht gewählt, und ich werde len Menschen gesprochen. »Kein einziger
kommt. Ihre Leute eilen zu ihr hin und das auch diesmal nicht tun.« hat die Meinung ausgedrückt, dass es mit
verschwinden mit der Chefin im Aufzug. Uwe Schmidt, gelernter Hafenfacharbei- dir an der Spitze gut läuft.« Post fordert
Spätestens jetzt muss ihr klar sein, auf wel- ter aus Bremerhaven, erzählt, er habe neu- Nahles zum Rücktritt auf.
ches Wagnis sie sich eingelassen hat: Neun lich bei einem missglückten Wahlkampf- Das weckt Widerspruch, einige Kolle-
Gegenstimmen in einem Gremium, das an- auftritt hinter Nahles gesessen. Er habe sei- gen fallen regelrecht über Post her. Ein Ab-
sonsten loyal zu ihr steht. Wie viele wären ne Sonnenbrille nicht abgenommen – »weil geordneter legt Post nahe, aus der Fraktion
es gewesen, wenn die Abstimmung geheim ich nicht erkannt werden wollte«. auszutreten. »Das wird keiner bedauern.
gewesen wäre? Auch im Europasaal sitzt ein Mann mit Es wird jeder sagen: Gott sei Dank, jetzt
Für den Widerstand gibt es zwei Haupt- Sonnenbrille. Es ist Martin Schulz. Hinter ist gut.«
motive. Da sind die einen, die sich schon der Brille sehe er aus »wie der Termina- Dann spricht Thomas Oppermann. Er
länger vorstellen können, Nahles zu stür- tor«, sagt er Kollegen. In seinem Auge sei- ist Nahles’ Vorgänger und als Vizepräsi-
zen, allerdings erst im September, mit Zeit en Adern geplatzt, man sehe nur noch Blut dent des Bundestags mittlerweile so etwas
zum Planen, Sammeln und Sortieren. De- und Pupille. wie der Elder Statesman der Fraktion. Er
ren Plan ist nun durchkreuzt, sie haben Am Ende der Sitzung, nach einem Wort- schlägt einen großen Bogen und redet über
nur noch eine Woche. Andere sind solcher beitrag von Kahrs, fährt Schulz aus der die Große Koalition. Es laufe nicht gut.
Putschgedanken unverdächtig. Sie treibt Haut. Kahrs hat gerade einen Vorschlag »Erfolge werden uns nicht zugeordnet«,
die Sorge um, dass die Fraktion und mit vom Tisch gewischt, wie sich der Show- sagt er. »Uns werden alle Misserfolge zu-
ihr die Partei bei einer offenen Abstim- down noch vermeiden ließe, nun geht gerechnet.« In den nächsten Monaten müs-
mung noch tiefer gespalten werden. Schulz ihn an, ein Wort gibt das andere, se man hart mit der Union verhandeln –
Die Abgeordneten verlassen den Sit- bis Schulz brüllt: »Du bist ein Arschloch!« und noch niemand habe behauptet, dass
zungssaal, sie haben es eilig. Sie wollen zu Die Parlamentarische Linke trifft sich Nahles schlecht verhandeln würde.
den Sitzungen der sogenannten Strömun- ebenfalls im Paul-Löbe-Haus, Raum E 400. »Wir müssen Trophäen einfahren, oder
gen, die sich vor dem Treffen der Gesamt- Seit 14 Uhr sitzen die meisten Abgeordne- wir werden Konsequenzen ziehen müs-
fraktion noch rasch beraten wollen. ten hier und warten darauf, dass ihre Kol- sen«, sagt Oppermann. »Das heißt, wir
Drei Strömungen oder Flügel gibt es in legen aus dem Fraktionsvorstand dazu- stehen vor der Frage: Gibt es die GroKo
der Fraktion: die »Parlamentarische Lin- kommen. Die treffen gegen 15.30 Uhr ein, Weihnachten noch?« In einer solchen
ke«, den konservativen »Seeheimer Kreis« die Sitzung wird nicht lange dauern. Situation sei es »keine schlaue Idee, die
30
Führung auszuwechseln«. Zumal sich Aber wer soll das sein? Schulz selbst Minister müsse sich Sorgen um seinen Pos-
dann sofort die Frage stelle, wie es an der hat abgewinkt, ebenso Matthias Miersch. ten machen.
Parteispitze weitergehe. Er bitte um »ein Bleibt der nordrhein-westfälische Abge- Damit ist endgültig klar: Für Nahles
bisschen Fairness« im Umgang mit der ordnete Achim Post, dessen Name in den geht es nun um alles oder nichts.
Fraktionsvorsitzenden. jüngsten Wochen immer wieder gefallen Es ist halb neun am Abend, die Sitzrei-
Doch der Ärger über Nahles’ Vorstoß ist. Der Abgeordnete Gustav Herzog aus hen sind ausgedünnt. Viele Abgeordnete
ist groß, und er entlädt sich. Rheinland-Pfalz fragt ihn direkt: ob er kan- aus Nordrhein-Westfalen sind vor Ende
»Ich fühle mich vergewaltigt«, sagt der didieren werde? der Sitzung zum letzten Zug in die Heimat
hessische Abgeordnete Martin Rabanus. Post drückt sich um eine Antwort he- gehastet. Manche Abgeordneten über-
Daniela De Ridder aus Niedersachsen rum. Er sagt, es gehe nun um die Zukunft nachten in Berlin. Und der Parteivorstand
nimmt Nahles zunächst in Schutz: Andrea der SPD als Volkspartei, er referiert die berät in einer Telefonschaltung über die-
sei eine Kämpferin, sagt sie. Es dürfe nicht Lage der sozialdemokratischen Parteien sen Tag. In der Schalte verkündet Nahles
gelten, dass der Erfolg viele Väter habe, in Europa. Zu seinen Ambitionen, so wird laut Teilnehmern, sie sehe in der Fraktion
der Misserfolg aber nur eine Mutter, näm- es geschildert, sagt er demnach nichts. eine klare Mehrheit für sich.
lich Andrea Nahles. Sollte Nahles aber bei Zwischendurch ergreift Nahles das Wie geht es nun weiter?
ihrem Plan bleiben, sagt De Ridder, fühle Wort. Sie liest aus der Onlineausgabe der Nach diesem Mittwoch ist kaum vorstell-
sie sich »genötigt«, würde sich zurückzie- »Bild«-Zeitung vor. »Es geht nicht mehr bar, wie die SPD mit Nahles weitermachen
hen und mit Nein stimmen. darum, wer es wird, sondern nur darum, soll, wie man all diese Verletzungen heilen
könnte, wie die Genossen zurückfinden
wollen in eine Art Arbeitsmodus.
Nur: Was wäre daran anders, wenn sich
ein Gegenkandidat durchsetzen würde?
Die Spaltung bliebe ja die gleiche, nur dass
ein anderes Lager enttäuscht wäre.
Dieser Tag wird auch über die SPD
hinauswirken. Ganz gleich, was in den
nächsten Tagen passiert, die Große Koali-
tion wird nicht mehr dieselbe sein wie vor
Nahles’ Alleingang.
Vielleicht setzt Nahles sich noch einmal
durch, mit Machtpolitik alter Schule. Doch
die Aussprache in der Fraktion, in den
Strömungen und im Vorstand hat offenge-
legt, wie leid viele Abgeordnete die ewige
Rationalität, die Disziplinierung sind, das
Basta, mit dem schon Gerhard Schröder
und Peter Struck durchgriffen. Diese Er-
fahrung wird den Regierungsalltag prägen.
MICHAEL KAPPELER / DPA
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von Merkels Linie sein sollte. Kramp-Kar- »vermeintlicher Rechtsruck bei der JU so- halten ihn viele für ungeeignet. Hochran-
renbauer war das wichtig, um eine Spal- wie die medial sehr präsente, sogenannte gige CDU-Politiker haben dies Kramp-
tung der Partei zu verhindern und auch WerteUnion« hätten neben anderem zu Karrenbauer in den vergangenen Tagen
den Flügel an sich zu binden, der sich einer deutlichen Abkehr unter 30-jähriger auch mitgeteilt. Die Entscheidung, eigent-
Friedrich Merz an der Parteispitze ge- Wählerinnen und Wähler geführt, heißt es lich für die Klausurtagung des Vorstands
wünscht hatte. dort. Lange verärgerte damit gleichzeitig am Sonntag geplant, wurde verschoben.
Als sie weiter so agierte, als wollte sie die Konservativen und die Parteijugend. In Langes Wahlanalyse findet sich der
vor allem den Konservativen in der Partei Das Papier war auch eine Selbstrecht- Satz: »Bei dieser Europawahl trat erst-
gefallen, ärgerte das auch ihre Unterstüt- fertigung. Die Europawahlkampagne mit malig der zu erwartende Effekt eines Wahl-
zer. Das Gender-Witzchen fanden viele den Schlagworten »Wohlstand«, »Sicher- kampfes ohne Ausspielen des Bevölke-
Unionspolitiker unangemessen. »Wir dür- heit«, »Frieden« hat Lange konzipiert. Die rungsrückhaltes der Bundeskanzlerin ein.«
fen nicht den falschen Eindruck erwecken, Bedeutung des Themas Klimaschutz hatte Das kann man so lesen, als sei es ein Fehler
dass die CDU nach rechts rückt«, sagte die er unterschätzt. gewesen, Merkel durch Kramp-Karrenbau-
schleswig-holsteinische Bildungsministe- Es war nicht sein erster Schnitzer. Die er zu ersetzen. Die Kanzlerin sieht das
rin Karin Prien schon im April. Die Inte- missglückte Antwort der Partei auf das möglicherweise so.
grationsbeauftragte Annette Widmann- Video des YouTubers Rezo geht auf sein Merkel empfand das Werkstattgespräch
Mauz beschwor Kramp-Karrenbauer im Konto. Lange soll es gewesen sein, so be- als unnötig. Hätte Kramp-Karrenbauer
kleinen Kreis, endlich die Positionen zu richten Eingeweihte, der Bundestagsabge- eine mögliche Schließung der Grenzen als
vertreten, für die sie gewählt worden sei. ordneten davon erzählte, dass die CDU mit offizielle CDU-Position formuliert, hätte
Noch mehr schadete der Parteivor- einem Video des jungen Philipp Amthor Merkel sich öffentlich dagegengestellt,
sitzenden ein programmatischer Artikel auf Rezo antworten werde. Er gab auch ein heißt es in ihrer Umgebung. Im Lager der
zu Europa, den sie im März in der »Welt Foto der Aufnahmen an die »Bild«-Zeitung. Parteichefin nimmt man Merkel dagegen
am Sonntag« als eine Antwort auf die Vor- übel, dass sie sich aus den Wahlkämpfen
schläge des französischen Präsidenten Em- der Partei heraushält.
manuel Macron veröffentlichte. Mit For- 41,5 % Zeitenwende Die Schwäche Kramp-Karrenbauers
derungen wie der, das EU-Parlament nicht hat die Machtverhältnisse verändert. Vor
CDU/CSU
mehr in Straßburg tagen zu lassen, pro- wenigen Wochen debattierte die Partei
vozierte sie die Franzosen und verärgerte
32,9 % die Frage, ob die Vorsitzende Merkel zum
die Europapolitiker in den eigenen Reihen. 28,9 % Rückzug als Kanzlerin zwingen werde.
Kramp-Karrenbauer handelte bislang Nach dem Wahldesaster vom Sonntag
vor allem taktisch. Sie denkt als Partei-
25,7 % SPD bekannte sich Kramp-Karrenbauer im
vorsitzende. Der hätte man einen unaus- 20,5 % 20,5 % Präsidium zur Fortsetzung der Großen
gegorenen Zeitungsartikel oder einen Koalition. Merkel hatte keinen Zweifel da-
missglückten Karnevalsscherz vielleicht ran gelassen, dass sie bis zum Ende der
verziehen. Aber Partei und Öffentlichkeit Grüne Legislaturperiode regieren will.
interessiert die Frage, ob diese Frau auch 8,9 % 15,8 % Das bedeutet, dass Kramp-Karrenbau-
Kanzlerin könnte. Toilettenwitze gelten
8,4 % ers Dilemma sich verschärfen wird. Sie
vorläufiges
dabei nicht als Qualifikation. amtliches
kann sich nicht von der beliebten Kanzle-
Kramp-Karrenbauer muss nun eine Endergebnis rin absetzen, weil die eigenen Unterstüt-
Erfahrung machen, die ihre Amtskollegen zer das nicht mitmachen würden. Aber
von der SPD seit Jahren kennen: Wenn Bundestags- Bundestags- Europawahl wie soll sie dann Akzente setzen? Bislang
es erst einmal schlecht läuft, dann geht wahl 2013 wahl 2017 2019 hat sie auf diese Frage keine Antwort.
alles schief, was schiefgehen kann. Eine Eine offene Personaldiskussion will
unbedachte Äußerung über Regeln zum die CDU vermeiden. Kritiker äußern sich
Wahlkampf im Internet brachte ihr den Kramp-Karrenbauer erreichten bereits nur im Hintergrund. Das könnte sich nach
Vorwurf ein, sie wolle die Meinungs- Anrufe besorgter Landeschefs und Gene- den Landtagswahlen in Sachsen, Bran-
freiheit im Internet einschränken. Dass ralsekretäre, bevor sie von der Idee des denburg und Thüringen in der zweiten
Laschet und der Vorsitzende der Jungen Videos mit Amthor wirklich überzeugt Jahreshälfte ändern, sollte die AfD in ein
Union (JU), Tilman Kuban, darauf hinwie- war. Das mag sie auch dazu bewogen ha- oder zwei Ländern stärker als die CDU
sen, die Meinungsfreiheit sei ein hohes ben, die Veröffentlichung abzusagen. werden.
Gut, ließ sie noch schlechter aussehen. Wäre die Nachricht von dem Video nicht Die Debatte deutet sich bereits an. »Die
Viele Fehler sind der Unerfahrenheit dank Lange schon im Umlauf gewesen, Volksparteien haben in der Substanz zu
Kramp-Karrenbauers in der Bundespolitik hätte das nicht für Aufsehen gesorgt. So den großen Veränderungen, die vielen
geschuldet. Umso wichtiger wäre es für aber wirkte es, als lasse sich die Partei von Menschen Angst machen, kaum etwas an-
sie, erfahrene Berater an ihrer Seite zu einem jungen YouTuber vorführen. zubieten. Das schließt auch die CDU ein«,
haben. Doch ausgerechnet ihr wichtigster Auch die verhängnisvolle Antwort an sagt der Vorsitzende des Auswärtigen Aus-
Mann, CDU-Planungschef Nico Lange, Macron hat Lange verfasst. Er besprach schusses, Norbert Röttgen.»Schlagwörter
wirkt mit dieser Aufgabe überfordert. sich vorher weder mit Abgeordneten und Worthülsen sind keine Konzepte. Das
Lange, ein ehemaliger Zeitsoldat, war noch mit der Fachabteilung im Konrad- zu ändern ist die Aufgabe, an der sich die
für die Konrad-Adenauer-Stiftung in Adenauer-Haus, wie Mitarbeiter berich- Zukunft der Partei, aber auch die von An-
verschiedenen Ländern tätig. Sein Selbst- ten. Die hätte die Forderung, endlich EU- negret Kramp-Karrenbauer entscheiden
bewusstsein übertrifft seine Erfahrungen Beamte zu besteuern, wohl aus dem Text wird.« Dass ein CDU-Politiker, der Kramp-
in der Berliner Politikszene. Am Abend gestrichen. Eine Steuer gibt es längst. Karrenbauer gegen Merz unterstützt hatte,
der Europawahl verfasste er nach Anga- Lange galt als Favorit für die Nachfolge ihre Zukunft infrage stellt, dürfte ihr end-
ben von Mitarbeitern eine spontane Wahl- des scheidenden Bundesgeschäftsführers gültig den Ernst der Lage klarmachen.
analyse und verschickte sie an die Partei- Klaus Schüler. Damit würde seine Macht Ralf Neukirch
spitze, ein ungewöhnlicher Vorgang. Ein weiterwachsen. Doch im Parteipräsidium
Maulwurfs
In der Rolle eines weisen, maulwurfs-
grummeligen Eremiten kombiniert Sems-
rott die Schilderung von privaten Mise-
ren – darunter Studienabbruch, Hilf-
losigkeit im Liebesleben und eine durch
Wahlen Nico Semsrott wird von vielen jungen Menschen als Satirestar keine Therapie kurierbare Schwermut –
verehrt. Nun hat er für »Die Partei« ein Mandat in Brüssel errungen. mit der Schilderung einer pathologischen
Gesellschaft. Den Leistungsdruck des
Kapitalismus, die mediale Über-
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Deutschland
Dobrindt: Wenn man eine Woche vor dem nen Gesellschaft. Aber Gesellschaften, in SPIEGEL: Sie meinen den Klimaschutz?
Wahltermin auf YouTube zu einem Battle denen das Netz komplett staatlich über- Dobrindt: Klimaschutz, Naturschutz, die
herausgefordert wird, muss man reagieren. wacht wird, sind solche, in denen wir nicht Bewahrung der Schöpfung – genau diese
SPIEGEL: Wo sahen Sie die Gefahr? leben wollen. Themen machen den Gencode christlicher
Dobrindt: Das Video verdichtet in einer SPIEGEL: Kann unsere Demokratie Schritt Volksparteien aus. Ausgerechnet hier ha-
schnellen Abfolge komplexe Inhalte zu halten mit der Digitalisierung? ben wir aber im Wahlkampf – auf der Stra-
sehr einfachen Botschaften, sodass ein ver- Dobrindt: Wir erleben in ganz Europa, ße wie auch im Netz – zu wenig Angebote
tieftes Nachdenken über das Gesprochene dass die größten Profiteure von Meinungs- gemacht.
beim Zuschauer gar nicht stattfindet. Hän- freiheit und demokratischer Transparenz SPIEGEL: Ist das nicht auch Ihr Erbe? Als
gen bleibt, dass die Volksparteien versagen genau diese Werte infrage stellen. Manche CSU-Generalsekretär haben Sie Ökos und
oder falsch handeln. In Zeiten einer hoch ganz bewusst, weil sie wie die Rechtspopu- Vegetarier verspottet, als Verkehrsminister
dynamischen Kommunikation in den so- listen unsere Demokratie destabilisieren die Autoindustrie gehätschelt.
zialen Netzwerken und Plattformen muss und letztlich einen Systemumsturz wollen. Dobrindt: Ich mag Autos, das stimmt.
man auf so etwas reagieren, und zwar auf Andere unbewusst, weil ihnen zum Bei- Aber ich mag keine Betrügereien. Da habe
dem Feld, wo man attackiert worden ist. spiel die Dynamik des Föderalismus zu ich bei der Automobilindustrie im Diesel-
SPIEGEL: Hätte die Union mit einem Vi- langsam ist. Ich glaube, dass in Wahrheit skandal immer einen klaren Strich gezo-
deo antworten sollen statt mit einem elf- nur Demokratien in der Lage sind, tech- gen. Und ich finde es geradezu grotesk,
seitigen PDF-Dokument? nologische Umbrüche in der Gesellschaft wenn ein Konzern verkündet: Wir bauen
Dobrindt: Wenn der Gegner dich zum so zu steuern, dass sie zum Vorteil für alle Elektroautos, wenn die Politik es will. Ich
Schachspiel auffordert, kannst du jeden- und nicht zum Nachteil für viele werden. sage, ein Autokonzern hat die verdammte
falls nicht antworten: Okay, ich gehe mal SPIEGEL: Sie haben drei Handys vor sich Pflicht, sein Angebot so weiterzuent-
meine Würfel holen. Man kann Schlachten auf dem Tisch liegen, sind aber nicht auf wickeln, dass er auch in Zukunft die mo-
nur gewinnen, wenn man auf demselben Instagram oder Twitter. Wie weit her ist dernsten, innovativsten und besten Autos
Spielfeld steht wie der Angreifer. es mit ihrer Social-Media-Kompetenz? der Welt baut, und nicht einfach auf die
SPIEGEL: Wenn die CDU gegen einen Dobrindt: Ich bin auf Facebook, die CSU Ansage der Politik zu warten.
Schachgroßmeister aber nur Amateure im Bundestag ist auch auf Instagram und SPIEGEL: Sie haben hier in Wien mit Greta
aufbieten kann, dann war es vielleicht Thunberg und Arnold Schwarzenegger zu-
klug, dem Duell vorerst auszuweichen. sammengesessen und über Klimaschutz
Dobrindt: Wer zaudert, wird Debatten diskutiert. Was sagen Sie denen, welchen
nicht gewinnen können. Außerdem teile »Der Wahlkampf hat Beitrag Sie dazu leisten?
ich Ihren Vorhalt von Meister und Ama- gezeigt, dass wir beim Dobrindt: Wir haben alle kein Verständnis
teuren nicht. für Menschen, die sich einreden, der Kli-
SPIEGEL: Warum nehmen Sie die You- wichtigsten Thema zu mawandel würde sich irgendwie von allein
Tube-Community als Angreifer wahr und wenig präsent waren.« auflösen. Aufgeklärte Menschen können
nicht als Wählerschaft, mit der man viel- eigentlich nur noch über die Frage streiten,
leicht besser Frieden schließt? wie schnell und mit welchen Mitteln wir
Dobrindt: Ich unterscheide sehr wohl zwi- unseren CO -Ausstoß verringern können.
²
schen dem einzelnen Absender, der uns an- Twitter. Aber in einer breiten Volkspartei Und da ist meine Position seit Langem, da-
gegriffen hat, und den Millionen Empfän- wie der CSU muss nicht jeder alles bedie- für braucht es Anreize, Zwangsmaßnah-
gern, die wir als Wähler erreichen wollen. nen. Zur Instagram-Ikone taugen andere men fruchten nicht. Aus Bürgern, die sich
Die Volksparteien haben einen Nachhol- Kolleginnen und Kollegen besser. Doro- von gefühlten politischen Gängelungen für
bedarf beim Thema digitale Kommu- thee Bär zum Beispiel, unsere Staatsminis- den Klimaschutz ausgegrenzt fühlen, wer-
nikation. Die Dynamik der digitalen Kom- terin für Digitalisierung, leistet einen star- den mit Sicherheit keine überzeugten Kli-
munikation kann man nicht beklagen, ken Beitrag für unsere Wahrnehmung in maaktivisten. Die Klimawende gelingt
sondern man muss versuchen, sie zu nut- den digitalen Medien. durch Innovationen, nicht durch Verbote.
zen, um für unsere Politik zu werben. SPIEGEL: Ein CDU-Abgeordneter twitter- Öko muss Spaß machen, um die Menschen
SPIEGEL: Anders als CDU-Chefin Anne- te, dass die Jungwähler schon zur Vernunft in der Breite zu erreichen. Wir brauchen
gret Kramp-Karrenbauer sinnieren Sie kommen und konservativ wählen würden, deshalb eine Politik, die Anreize für Inno-
nicht über Regeln für die »Meinungsma- sobald sie ihr erstes eigenes Geld verdien- vationen setzt.
che« im Internet? ten. Sehen Sie das auch so? SPIEGEL: Sie selbst haben bislang prak-
Dobrindt: So habe ich sie nicht verstanden. Dobrindt: Je weniger man sich als junger tisch nichts für den Klimaschutz erreicht.
Fortschritt lässt sich auch nicht aufhalten. Wähler mit der Union identifiziert, desto Dobrindt: Schönes Vorurteil. Aber wir ha-
Genauso wie sich Arbeitnehmer auf die schwerer lässt man sich später von unseren ben zum Beispiel die größte Dynamik im
Veränderung ihrer Arbeitssituation durch politischen Inhalten überzeugen. Wir sind Aufwachsen der erneuerbaren Energien.
die Digitalisierung einstellen müssen, muss keine Partei für eine bestimmte Einkom- Bei der Mobilität haben wir die Halbie-
auch die Politik zu Veränderungen bei der mensgruppe oder Altersschicht. Wir sind rung der Dienstwagensteuer für Hybrid-
Wählerkommunikation bereit sein. eine Volkspartei, und als solche haben wir und Elektrofahrzeuge umgesetzt. Das war
SPIEGEL: Hinter der Plattform YouTube den Anspruch, uns nicht von jungen Wäh- meine Initiative, und sie zeigt auch schon
steht der Riese Google. Muss eine Regie- lern zu entkoppeln. Wirkung, aber dabei muss es nicht bleiben.
rung nicht neue Technologien genau beob- SPIEGEL: Welche Lehre soll die Union also Ich will einen Schritt weitergehen – mit ei-
achten und, wenn nötig, regulieren? aus dem Europawahlergebnis ziehen? ner Nullbesteuerung von reinen E-Dienst-
Dobrindt: Natürlich darf im Netz nicht al- Dobrindt: Die Erkenntnis kann doch nur wagen. So kann es uns gelingen, dass wir
les erlaubt sein. Deswegen gibt es zu Recht lauten: Volksparteien, überprüft eure zügig auch einen breiten Gebrauchtwagen-
das Hatespeech-Gesetz, das Beleidigun- Schwerpunkte. Der Wahlkampf hat ge- markt für E-Fahrzeuge bekommen. Das
gen, Diskriminierung und Rassismus un- zeigt, dass wir bei dem wichtigsten Thema, Gleiche gilt für steuerliche Förderungen
terbinden soll. Das ist der Rahmen für die das uns der Wähler vorgegeben hat, zu we- bei der energetischen Gebäudesanierung.
Kommunikation in einer freien und offe- nig präsent waren. Eines darf man allerdings auch nicht ver-
schätzen. Das ist jene Organisation rund lament gewählt, formuliert schon Ansprü-
Übler Rückfall
Und eine Kanzlerin im Abgang, die bis
zum Schluss die mächtigste Frau Europas
bleiben will. Anderthalb Stunden lang
haben Merkel und Macron am Abend der
Europawahlen telefoniert, aber von einer
Europa Brexit, Nord Stream, Eurozone: Das Verhältnis zwischen Annäherung beim Streit um das Spitzen-
Berlin und Paris ist angespannt. Jetzt droht personal ist nichts zu spüren.
auch noch Streit um das europäische Spitzenpersonal. Wenn Macron das Wort »Spitzenkandi-
dat« ausspricht, kann jeder hören, wie we-
nig er von der Idee hält. Er hastet durch
41
Deutschland
P
atrick J. wollte Deutschland die-
nen, er war bereit, sein Leben zu
riskieren, wenn es denn nötig sein
würde. Ihm schwebte vor, als Elite-
soldat weltweit im Einsatz zu sein. Doch
aus einer Karriere beim streng geheim agie-
renden Kommando Spezialkräfte wird
wohl nichts. Statt auf verdeckter Mission
im Ausland verbringt Patrick J. seine Tage
mit Fahrdiensten in Ostdeutschland. Die
Bundeswehr hat ihn kaltgestellt.
Die Führung wirft ihm unter anderem
vor, er habe vor zweieinhalb Jahren einen
Untergebenen in der Spezialausbildungs-
kompanie in Pfullendorf grundlos stramm-
stehen lassen. Vor allem aber habe er Dut-
zende Kameraden rechtsextremer Umtriebe
bezichtigt. In vielen Fällen hätten sich die
Vorwürfe jedoch »als übertrieben und halt-
los erwiesen«, heißt es in einem Schreiben
des Personalamts der Bundeswehr an ihn.
Das allerdings ist bestenfalls die halbe
Wahrheit. Denn Patrick J. hat neben zahl-
reichen Fällen, die in einer Grauzone lie-
gen, durchaus handfeste Hinweise auf
rechtsextreme Umtriebe in der Bundes-
wehr geliefert.
So führt der Militärische Abschirm-
dienst (MAD), der Geheimdienst der Bun-
deswehr, laut einem vertraulichen Schrei-
ben des Bundesverteidigungsministeriums
mehrere »nachrichtendienstliche Opera-
tionen zu Verdachtspersonen, die auf In-
formationen des Herrn J. zurückzuführen
sind«. Auch das Bundeskriminalamt prüfe
die Hinweise auf eine »mögliche strafrecht-
liche Relevanz«.
Dennoch wird der Unteroffizier vermut-
lich nur noch wenige Wochen Teil der
Truppe sein. Ende April hat er einen Brief
vom Personalamt bekommen, in dem ihm
seine Entlassung angekündigt wird.
Der Vorgang ist bemerkenswert. Er er-
zählt eine Menge über die Bundeswehr
und große Teile der militärischen Führung,
die Fehlverhalten in den eigenen Reihen
gern ohne großes Aufsehen klären würde
und regelmäßig als bedauerlichen Einzel-
fall abtut.
Zugleich illustriert der Fall die erstaun-
liche Wendung von Verteidigungsministe-
rin Ursula von der Leyen. Ihre Entschlos-
DOMINIK BUTZMANN
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jene Soldaten senden, die sich trauen,
Missstände in der Truppe anzuprangern.
Im Bundestag sorgt der Verdacht, dass
mit J. ein unliebsamer Whistleblower still
und leise entfernt werden soll, bereits für
Unruhe. Nächste Woche will das Parlamen-
tarische Kontrollgremium beraten, ob man
den Soldaten in den abhörsicheren Raum
des Geheimdienstgremiums einlädt, damit
er seine Sicht der Dinge schildern kann.
Patrick J., 31, ein kompakter Mann mit
breiten Schultern, erscheint zum Gespräch
im Berliner SPIEGEL-Büro mit Gepäck.