Herausgegeben von
W.-D. Bukow,
Ch. Butterwegge,
J. Reuter,
H.-J. Roth,
Köln, Deutschland
E. Yildiz, Innsbruck, Österreich
Interkulturelle Kontakte und Konflikte gehören längst zum Alltag einer durch Mo-
bilität und Migration geprägten Gesellschaft. Dabei bedeutet Interkulturalität in
der Regel die Begegnung von Mehrheiten und Minderheiten, was zu einer Ver-
schränkung von kulturellen, sprachlichen und religiösen Unterschieden sowie so-
zialen Ungleichheiten beiträgt. So ist die zunehmende kulturelle Ausdifferenzie-
rung der Gesellschaft weitaus mehr als die Pluralisierung von Lebensformen und
-äußerungen. Sie ist an Anerkennungs- und Verteilungsfragen geknüpft und stellt
somit den Zusammenhalt der Gesellschaft als Ganzes, die politische Steuerung und
mediale Repräsentation kultureller Vielfalt sowie die unterschiedlichen Felder und
Institutionen der pädagogischen Praxis vor besondere Herausforderungen: Wie be-
dingen sich globale Mobilität und nationale Zuwanderungs- und Minderheitenpo-
litiken, wie geht der Staat mit Rassismus und Rechtsextremismus um, wie werden
Minderheiten in der Öffentlichkeit repräsentiert, was sind Formen politischer Par-
tizipationen von MigrantInnen, wie gelingt oder woran scheitert urbanes Zusam-
menleben in der globalen Stadt, welche Bedeutung besitzen Transnationalität und
Mehrsprachigkeit im familialen, schulischen wie beruflichen Kontext?
Diese und andere Fragen werden in der Reihe „Interkulturelle Studien“ aus gesell-
schafts- und erziehungswissenschaftlicher Perspektive aufgegriffen. Im Mittelpunkt
der Reihe stehen wegweisende Beiträge, die neben den theoretischen Grundlagen
insbesondere empirische Studien zu ausgewählten Problembereichen interkultu-
reller als sozialer und damit auch politischer Praxis versammelt. Damit grenzt sich
die Reihe ganz bewusst von einem naiven, weil kulturalistisch verengten oder für
die marktförmige Anwendung zurechtgestutzten Interkulturalitätsbegriff ab und
bezieht eine dezidiert kritische Perspektive in der Interkulturalitätsforschung.
Herausgegeben von
Prof. Dr. Wolf-Dietrich Bukow, Prof. Dr. Erol Yildiz
Prof. Dr. Christoph Butterwegge, Universität Innsbruck
Prof. Dr. Julia Reuter, Österreich
Prof. Dr. Hans-Joachim Roth,
Universität zu Köln,
Deutschland
Charis Anastasopoulos
Nationale
Zusammengehörigkeit
und moderne Vielfalt
Eine Auseinandersetzung
mit den Arbeiten Émile Durkheims
Charis Anastasopoulos
Universität zu Köln
Deutschland
Springer VS
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
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Inhaltsverzeichnis
Einleitung ............................................................................................................ 7
1 Nation .................................................................................................••••••••• 31
2 Herrschaft................................................................................................... 85
3.1 Soziale Dinge (Die Regeln der soziologischen Methode) .................. 137
3.4 Die integrative Kraft des Selbstverzichts (Der Selbstmord) .............. 182
3.6 Krise und Individuum (Physik der Sitten und des Rechts) ................. 255
6 Inhaltsverzeichnis
Max Weber interessiert sich nicht für Mode. Der Brauch und die Sitte sind Ty-
pen wiederkehrenden sozialen Handelns mit verständlichem Sinn, wobei sich die
Sitte dadurch vom Brauch unterscheidet, dass sie seit Langem eingelebt ist (vgl.
Weber 2002, S. 15). Aus diesem Grund ordnet Weber die Mode dem Brauch zu,
er bemerkt aber, dass sie nicht zwingend unabhängig von verbindlichen Erwar-
tungen auftritt, was wiederum für eine gewisse Nähe zum Typus der Konvention
spricht. Mode kann die Pflege ständischer Ehre (ebd., S. 535) unterstützen, so
dass diejenigen, die sich in einem ständischen Zusammenhang unmodisch ver-
halten, mit Missbilligung rechnen müssen. Sie gefährden die Selbstbehauptung
dieses besonderen Ansehens. Weber belässt es bei dieser Zuordnung und zieht es
vor, die Mode zugunsten der Auseinandersetzung mit den anderen beiden Typen
fallen zu lassen.
Die Mode bietet sich für eine Annäherung an den Begriff der Moderne an,
aber nicht weil sich eine etymologische Nähe vermuten lässt, sondern weil We-
ber es ablehnt, sie der Sitte unterzuordnen. Sie soll im ersten Schritt für diese
Annäherung genutzt werden, um anschließend von der Moderne zur legitim ge-
wordenen Selbstbestimmung und einem zu ihr gehörenden Spannungsverhältnis
zu gelangen. Vor diesem Hintergrund soll im zweiten Schritt das Vorhaben der
Arbeit konstruiert werden.
Modische Zumutungen, die Weber hinsichtlich der beabsichtigten Erhal-
tung ständischer Ehre erkennt, erfüllen den Zweck, eine besondere Zugehörig-
keit, die mit dem Ansehen eines Standes verbunden ist, gegen andere abzugren-
zen. Man kann also die Mode zur Distinktion nutzen, was wiederum etwas zu
erkennen gibt, das für Mode kennzeichnend ist: Sie bietet keine allgemeine Ori-
entierung für das Handeln an. Georg Simmel, der sich im Gegensatz zu Weber
für Mode interessiert, äußert sich wie folgt dazu:
„Das Wesen der Mode besteht darin, dass immer nur ein Theil der Gruppe sie übt,
die Gesamtheit aber sich auf dem Weg zu ihr befindet. Sie ist nie, sondern wird im-
mer. Sobald sie total durchdrungen ist, d.h. sobald einmal dasjenige, was ursprüng-
lich nur einige thaten, wirklich von allen ausnahmslos geübt wird, bezeichnet man
es nicht mehr als Mode […]“ (Simmel 1992, S. 108).
Weil es stets nur einige sind, die sich modisch verhalten, hingegen die allmähli-
che Diffusion das Ende einer Mode herbeiführt, ermöglicht sie, so Simmel, eine
menschliche Grunderfahrung: das Streben nach Einzigartigkeit (vgl. Simmel
1996, S. 188). Die Mode kommt ihr entgegen, da selbst die Tendenz, sich gegen
eine Mode zu richten und sie zu verneinen, Einzigartigkeit zum Ausdruck bringt.
„Es kann sogar in ganzen Kreisen innerhalb einer ausgedehnten Gesellschaft
Mode werden, sich unmodern zu tragen […]“ (ebd., S. 201). Die bewusst Un-
modischen wollen sich entweder unabhängig von einer Mode zeigen, oder sie
wollen ihre Individualität vor einer umgreifenden Mode schützen (ebd., S. 202).
Simmel gibt zwei Konsequenzen der Mode an, die das Streben nach Einzigartig-
keit begünstigen (ebd., S. 188 f.): Weil das Aufkommen einer Mode bedeutet,
dass etwas Neues entstanden ist, und weil deren Unterschied zum Bisherigen
dazu führt, sich dieses als das Vergangene bewusst zu machen, kann man sich
abheben, indem man sich die Neuheit aneignet und sich vom Vergangenem
trennt. Darüber hinaus lässt man Einzigartigkeit durch Distinktion hervortreten,
und zwar dadurch, „[…] dass die Moden der höheren Schicht sich von der der
tieferen unterscheiden und in dem Augenblick verlassen werden, in dem diese
letztere sie sich anzueignen beginnt“ (ebd., S. 189).
Eine andere, aber vielmehr unerträgliche Distinktion kommt, so Simmel,
immer dann vor, wenn die vor den Augen anderer zur Schau gestellte Einzigar-
tigkeit als unangemessen empfunden wird. In diesem Fall ruft die Einzigartigkeit
ein Schamgefühl hervor. Ein ungewöhnliches Auftreten aber, mit dem Einzigar-
tigkeit zum Ausdruck gebracht wird, löst genau dann kein Schamgefühl aus,
wenn es sich einer Mode zuordnen lässt. Simmel dazu:
„Die Mode nun bietet wegen ihrer eigentümlichen inneren Struktur ein Sich-
Abheben, das immer als angemessen empfunden wird. Die noch so extravagante Er-
scheinungs- oder Äußerungsart ist, insoweit sie Mode ist, vor jenen peinlichen Re-
flexen geschützt, die das Individuum sonst fühlt, wenn es der Gegenstand der Auf-
merksamkeit anderer ist. Alle Massenaktionen werden durch den Verlust des
Schamgefühls charakterisiert. Als Element einer Masse macht das Individuum Un-
zähliges mit, was ihm, wenn es ihm in der Isolierung zugemutet würde, unüberwind-
liche Widerstände erwecken würde“ (ebd., S. 208).
Dass der Modische relativ immun gegen blamable Verlegenheit1 ist, der man
sich ansonsten, also außerhalb des Rahmens der Mode aussetzt, ist eine Folge
der zweiten menschlichen Grunderfahrung, die Mode ermöglicht. Das ist eine
Form der Entlastung, die sich jedenfalls nicht mit dem Streben nach Einzigartig-
keit verträgt. Die Mode genügt nämlich dem Streben nach beruhigender Gleich-
heit, sie bietet Gelegenheit, sich sinnvoll und angemessen zu verhalten, ohne
eine Entscheidung zu treffen. Sie erlaubt Gleichheit durch: Nachahmung. Wo
man es den anderen gleichtut, da beruft man sich auf Entscheidungen, die andere
1 Wolfgang Müller-Funk macht Simmels Überlegungen wie folgt anschaulich: „Ich muss mich
nicht schämen, weil es alle anderen – auch – tun. Ich muss mich nicht rechtfertigen, ein
Lacanianer, eine Poststrukturalistin, ein Kulturwissenschaftler zu sein, denn es gibt andere, ich
bin Teil eines Trends einer Mode, die mich schützt“ (Müller-Funk 2006, S. 121).
Einleitung 9
getroffen haben und kann somit die eigene Verantwortung reduzieren (ebd., S.
187).
In der Mode kommen somit zwei gegensätzlichen Grunderfahrungen vor.
Man kann sich von der breiten Masse abgrenzen, weil man zur Kenntnis nimmt,
dass sich nur ein geringer Teil an ihr orientiert und man kann sich gewiss sein,
etwas Partikulares auf seiner Seite zu haben. Wenn diejenigen die Mode über-
nehmen, von denen man sich eigentlich distanzieren will, lässt man von ihr ab.
Zugleich kann man sich der Gleichmäßigkeit sicher sein, die mühevolle Selb-
ständigkeit verringert und einen bestimmten Anlehnungsbedarf erfüllt.
Worin stimmen nun Mode und Moderne überein? Für die Beantwortung
dieser Frage hilft Simmel wie folgt weiter: Zunächst darf man nicht übersehen,
dass sich das Verschwinden einer Mode nicht nur infolge extensiver Nachah-
mung ereignet. Mode wirkt nämlich auch homogenisierend. Das konstatiert
Simmel, indem er das Überwiegen der Gleichartigkeit über die Einzigartigkeit
bemerkt (ebd., S. 194). Das Einnehmen einer modischen Neuheit bedeutet auch,
dass man von dem Vorherigen ablässt, mit welchem man aber zuvor noch eine
gewohnte Behaglichkeit verbinden konnte, indes die Neuheit diese erst sukzessi-
ve ausbilden muss. Diesen Ablauf deutet Simmel als ein Unterliegen der Indivi-
dualität gegen die Neuheit, was schließlich die unweigerliche Homogenität der
Mode vor jene hervortreten lässt. Die Homogenität ist es also, die zusätzlich das
Kommen und Gehen einer Mode bewirkt. „[…] die Prärogative, die das Kleid im
Maße seiner Neuheit über die Individualität seines Trägers besitzt, lässt die
streng modischen Menschen jeweils relativ uniformiert erscheinen“ (ebd.). Zur
Mode gehört also das wiederholte Verschwinden einer Neuheit und hinsichtlich
dessen bemerkt Simmel, dass man sich mehr das Kommen und das Gehen einer
Neuheit bewusst macht als deren Verweilen. Genau darin gleichen sich Mode
und Moderne:
„Dass in der gegenwärtigen Kultur die Mode ungeheuer überhand nimmt – in bisher
fremde Provinzen einbrechend, in altbesessenen sich, d.h. das Tempo ihres Wech-
sels, unaufhörlich steigernd – ist nur die Verdichtung eines zeitpsychologischen Zu-
ges. Unsere Rhythmik fordert immer kürzere Perioden im Wechsel von Eindrücken;
oder, anders ausgedrückt: der Akzent der Reize rückt in steigendem Maß von ihrem
substanziellen Zentrum auf ihren Anfang und ihr Ende“ (ebd., S. 196 f.).
Rechnet man an, dass Mode insbesondere mit derjenigen Regelmäßigkeit unver-
einbar ist, die eine Zweckmäßigkeit aufweist und damit wiederum Beständigkeit
für sich beanspruchen kann, dann ist Mode grundsätzlich unbeständig. Die Mode
widerspricht der Beständigkeit, weil man dann aufhören wird, einen Sachverhalt
der Mode zuzuordnen, wenn eine Zweckmäßigkeit ihre Verstetigung erforderli-
chen machen wird. Für die Moderne ist der Vorgang wesentlich, der sich im Fal-
le der Mode ereignet, nämlich die rasche Ablösung der Inhalte. Sie, die Moder-
ne, beruht darauf, „[…] dass die großen, dauernden, unfraglichen Überzeugun-
10 Einleitung
gen mehr und mehr an Kraft verlieren“ (ebd., 197). Man muss aber berücksichti-
gen, dass, so Simmel, nicht die Beschleunigung des Übergangs zwischen Ver-
gangenem und Neuheit für die moderne Kultur steht, sondern das Erleben von
Anfang und Ende wesentlich für das moderne Zeitbewusstsein ist. Die Flüchtig-
keit markiert die Moderne. Zu ihr gehört der wiederkehrende Bruch mit der Ver-
gangenheit, und wenn man sagt, der moderne Mensch will sich der Gegenwart
bewusst werden, so bedeutet das, in der Moderne muss er sich Auftreten und
Vergehen seiner Erfahrungen bewusst machen (ebd., S. 198). Das ist die Ten-
denz, mit der die Mode mustergültig korrespondiert, denn: „Ihre Frage ist nicht
Sein oder Nichtsein, sondern sie ist zugleich Sein und Nichtsein […]“ (ebd., S.
197). Von jeder Mode weiß man, ihr Ende ist absehbar, und man nennt nicht
zuletzt diejenigen anachronistisch, die genau das nicht registriert haben.
Insofern die Mode zwei menschliche Grunderfahrungen bedient, lässt sich
ihre Universalität erschließen. Simmel schreibt: „Die Lebensbedingungen der
Mode als einer durchgängigen Erscheinung in der Geschichte unserer Gattung
sind hiermit umschrieben“ (ebd., S. 188). Mode und Moderne stimmen in dieser
Hinsicht nicht überein. Jene kommt universell vor, hingegen handelt es sich bei
der Moderne um eine prinzipielle Wende, mit der die Zuversicht auf jedes uner-
schütterliche Fortbestehen beseitigt wird. Die Moderne ist es aber, die günstige
Bedingungen für die Mode bereitstellt und die Mode ist es wiederum, die eine
der wesentlichen Komponenten der Moderne anschaulich macht: die Vergäng-
lichkeit.2
Ein bestimmter Sachverhalt genießt lange vor der Zeit, die man der Moder-
ne zuordnet, das Prädikat modern. Immer dann nämlich, so Habermas, wenn
man in Europa einen epochalen Zeitschritt bemerkte und diese Neuerung zu-
gleich in ein Verhältnis mit der Antike setzte, tauchte das Wort modern auf. Das
ging bis in die Moderne so, von da an aber mühte sich das „radikalisierte Be-
wusstsein der Modernität“ nicht mehr um eine Adaptation der favorisierten An-
tike (vgl. Habermas 2005, S. 8). Diesem Wandel, der eine andere Vergewisse-
rung mit jeder auftretenden Neuerung involviert, soll als nächstes nachgegangen
werden, sodass sich ein Sinnbild der Moderne ergibt.
Für Reinhart Koselleck (1984) ist die Vergänglichkeit durch den Wandel im
Verhältnis zu Zeit und durch die Einsicht über das Vermögen für die Geschichte
2 Einen Unterschied zwischen der Mode und der Moderne sieht Habermas darin, dass die Neue-
rungen jener und dieser in ihrem jeweiligen Ablauf nicht deckungsgleich sind. Eine zum Alt-
modischen gewandelte Neuerung der Mode gleicht nicht einer überholten Neuerung der Mo-
derne, von der man nämlich nicht ablässt und von der man einmal sagen wird, sie gehört zur
klassischen Moderne, von der man aber bereits mit ihrem Auftreten auf ihr baldiges Klassik-
Sein schließen kann (vgl. Habermas 2005, S. 9). Nichtsdestoweniger identifiziert er die Ver-
gänglichkeit als die Komponenten, in der Mode und Moderne zusammenfallen, wozu die Ein-
sicht gehört, dass das Vergehen einer Neuerung bereits nach ihrer Entstehung selbstverständ-
lich ist (vgl. Habermas 1993, S. 18).
Einleitung 11
verschuldet. Zunächst das folgende Beispiel: Im Grunde sollte man die Vergäng-
lichkeit ermessen können, wenn man sich den Aufstieg und Niedergang von
Herrschaftsverbänden vergegenwärtigt. Am Anfang von solchem Kommen und
Gehen können schließlich Empörung und Einwände gegen die verstetigte Macht
stehen und es wird mitunter auf diese Weise erkennbar, wie die Herrschaft an
den Menschen rückgebunden ist. Aber auch die dergestalt gewonnene Einsicht
über die menschliche Verfügbarkeit der Macht musste erst entwickelt werden.
Dazu sagt Helmuth Plessner (1981), dass es bereits in der Antike die Gelegenheit
gab, das eigene Vermögen der Macht durch den Einwand gegen verstetigte
Macht zu erkennen. Sobald man Zeuge von Machtmissbrauch und von der Brü-
chigkeit der Herrschaft wurde, nahm man die Erforschung einer gerechten Ord-
nung auf. Herrschaft wurde aber, bemerkt Plessner, in der Antike weiterhin als
gegeben hingenommen, und ihr Gegebensein stand außer Frage. Einwände gin-
gen nicht so weit, dass man die Vergänglichkeit verstetigter Macht als Folge von
Machtkämpfen unter den Menschen entschlüsseln konnte (vgl. Plessner 1981, S.
262). Das sieht Dilthey ähnlich, der an der Antike eine Bestimmung des eigenen
Standortes in der geschichtlichen Entwicklung der eigenen Kultur bemängelt
(vgl. Dilthey 1962, S. 210). Plessner und Dilthey setzen an der Antike aus, dass
man sich noch davor scheute, den Menschen für das Verschulden von Vergäng-
lichkeit verantwortlich zu machen.
Koselleck liest am Wandel des Verhältnisses zur Zeit die vom Menschen
verursachte Vergänglichkeit ab. Sobald die Zukunft als gestaltbar gedacht wird,
gilt die Zukunft als offen (vgl. Koselleck 1984, S. 315). Diese Offenheit ist, so
Koselleck, das Resultat der Abkehr von der christlichen Enderwartung. Wenn
die Zukunft bereits feststeht, Kommendes daher bereits entschieden ist, wird
man, ihm zufolge, etwas anderes als die Vorherbestimmung nicht als neu erach-
ten, denn nur diese wird das Vorausgegangene abbrechen können. Koselleck
dazu: „Der Schluss von der bisherigen Erfahrung auf die zu erwartende Zukunft
bediente sich strukturell gleich bleibender Faktoren“ (ebd., S. 266). Insofern man
neben der Enderwartung grundsätzlich keine Neuheiten erwartete, war es mög-
lich, die Vergangenheit auch für die Zukunft anzunehmen. Was die Vergäng-
lichkeit bis dahin also verhinderte, war die Gewissheit über die Kontinuität des
Hergebrachten. Indem die Enderwartung ihre Gültigkeit zunehmend einbüßte,
konnte der Lauf der Dinge befreit werden. Die Zeit wurde nicht mehr als etwas
begriffen, das einem Plan folgte und die Menschen nicht mehr nur als dessen
Statisten. Der Wandel vollzog sich nicht zuletzt aufgrund des Weiterkommens
der wissenschaftlichen Erkenntnisse. Neue Entdeckungen ließen allmählich zu,
das Potential der Wissenschaft aus theologischen Begrenzungen zu lösen. Sie
konnte aus der empirischen Beobachtung profitieren und damit ließ sich erwar-
ten, dass in Zukunft immer mehr Entdeckungen anstehen würden (ebd., S. 315).
Der wissenschaftliche Fortschritt verhalf somit nicht unwesentlich dazu, sich von
einem Plan der Zeit zu verabschieden, was wiederum zuließ, dass man sich von
12 Einleitung
nun an ohne die Vorstellung von einem bevorstehenden und sich abzeichnenden
Ende um immer weitergehende Entdeckungen bemühen konnte (vgl. auch Cassi-
rer 2007, S. 21). Durch das neue Zeitverständnis ist jeder Fortschritt jeweils nur
eine Zwischenetappe. Die Gegenwart ist bloße Übergangszeit. Man registrierte,
dass man sich in einem Rhythmus des Übergangs befand, weil man erstens den
eigenen anstehenden Wandel erfahren konnte und weil man zweitens Notiz von
der Beschleunigung neuer Erfahrungen nahm (vgl. Koselleck 1984, S. 329). Die
Haltbarkeit der Erwartungen verkürzte sich fortan, es vermehrten sich die ver-
gänglichen Erwartungen.
Zur ständigen Erfahrung des Fortschritts trat alsbald die Standortbindung
hinzu. Man nahm Kenntnis davon, dass sich der Fortschritt anderer aufholen
oder überholen ließ, sich aber auch verzögern konnte. Das gleichzeitige Gefälle
des Fortschritt an unterschiedlichen Standorten unterstützte die Vorstellung vom
Voranschreiten: „Diese Grunderfahrung des Fortschritts, wie er um 1800 auf
einen singulären Begriff gebracht worden ist, wurzelt in der Erkenntnis des Un-
gleichzeitigen, das zu chronologisch gleicher Zeit geschieht“ (ebd., S. 324).
Diltheys Untersuchung der Geschichtswissenschaft des 18. Jahrhunderts legt
ferner Folgendes offen: Für die Erforschung der Entwicklung der Menschheit im
Ganzen, so die Grundannahme damaliger Zeit, lagen damals hervorragende Be-
dingungen vor. Man unterstellte, die Vielfalt der kultivierten Völker auf der Erde
bildete, während sie gleichzeitig nebeneinander existieren, in ihrer jeweiligen
Unterschiedlichkeit die Schritte der menschlichen Phylogenese im Einzelnen ab
(vgl. Dilthey 1962, S. 237). Erst diese Vorstellung, so Dilthey, machte den Be-
griff der fortschreitenden Gattung Mensch denkbar und erst jetzt konnte man
dem Vorhaben Geltung verschaffen, einen Zusammenhang in den Kulturphäno-
menen der Menschheitsgeschichte zu sehen, dessen Entwicklung man als eine
Linie des Fortschritts verfolgen konnte: „Die Zeit der Mythen über den Ursprung
der Menschen ist vorüber“ (ebd., S. 231). Vor dem Hintergrund der Gleichzei-
tigkeit des Ungleichzeitigen konnte es also keinen finalen Fortschritt geben. Wo
sich der Fortschritt einmal ereignete, dort konnte man nicht ausschließen, dass
man anderswo überholt wurde. Fortschritt ohne Abschluss war von nun an Pro-
gramm.
Koselleck rechnet jedoch vorwiegend nicht den Fortschritt an, aus dem man
die Vergänglichkeit hervortreten lassen kann. Für weitaus bedeutsamer erachtet
er das Vermögen, das sich infolge einer neuen Identitätspolitik ausbildet, deren
Referenz die angebrochene Zeit ist, gekennzeichnet als das Bewusstsein der vo-
ranschreitenden Bewegung. Neuzeit nannte man im 18. Jahrhundert die zeitliche
Einheit, zu der man weitaus mehr als die Folge im Anschluss an den Übergang
vom Mittelalter zählte. Um eine Identität der Zeit zu behaupten, gehört nämlich
mehr:
Einleitung 13
„Andererseits kann aber die neue Zeit einen qualitativen Anspruch anmelden, näm-
lich neu zu sein in dem Sinne des ganz Anderen, gar Besseren gegenüber der Vor-
zeit. Dann indiziert die neue Zeit neue Erfahrungen, die so zuvor noch nie gemacht
worden, er gewinnt eine Emphase, die dem Neuen einen epochalen Zeitcharakter
zumisst“ (Koselleck 1984, S. 310).
Neuzeit konnte also bedeuten, die Gegenwart bietet etwas, dem man eine bisher
unbekannte Qualität zuschreiben kann. Schließlich konnte Neuzeit beides bedeu-
ten. Neben der ehrgeizigen Behauptung der Einzigartigkeit konnte man eine be-
wusste Abgrenzung zum Vorherigen erreichen. Aus dem rückblickend evaluati-
ven Kontrast zur Vergangenheit blieb eine einzigartige Qualität übrig. Was hier
entschieden hervortritt, das nennt Wolfgang Welsch (2002) „Pathos des radika-
len Neuanfangs“: Nicht nur die Kenntnisname des Neuen, sondern eigentlich der
Wille, etwas vollkommen Neues zu schaffen, ist das wesentliche Merkmal der
Neuzeit (vgl. Welsch 2002, S. 70). Man tritt nicht an, um Korrekturen am Alten
vorzunehmen, sondern man will das Alte gezielt hinter sich lassen.3
War man für die Neuzeit noch auf einen retrospektiven Blick auf die ver-
gangene Zeit seit dem Ende des Mittelalters angewiesen, so änderte sich das
Zeitbewusstsein mit den Forderungen der Spätaufklärung und ab der Französi-
schen Revolution erneut (vgl. Habermas 1993, S. 15). Ab jetzt ließ man den
Rückblick aus, da man sich auf der bisher höchsten Stufe der Ausbildung wusste
und dieses Jetzt nannte man die Neueste Zeit (vgl. Koselleck 1984, S. 319 f.).
Man bemerkte sie, ohne zuerst einen zeitlichen Verlauf abzuwarten, d.h. mit
dieser Selbstauskunft verkündete man eine neue Epoche als Zeugen des Über-
gangs in diese. Während die Diagnose der Neuzeit noch auf das Verweisen auf
die vergangenen vier Jahrhunderte angewiesen war (ebd., S. 302), scherte sich
das Verkünden der Neuesten Zeit nicht mehr um eine zeitliche Einheit der Ver-
gangenheit. Das lässt, so Koselleck, die Beschleunigung des geschichtlichen
Erfahrungswandels erkennen (ebd., S. 327). Man nahm Notiz von ganz neuen
Erfahrungen, was die eigentümliche Differenz zur Vergangenheit hervortreten
3 Wie zur Mode die Unmodischen gehören, so tritt mit Bezug zur Neuzeit auch eine Gegenten-
denz an (vgl. Ritter 1965, S. 44). Welsch zählt u.a. Rousseaus Absage an die Erwartung der
Emanzipation durch Wissenschaft dazu. Er notiert: „Zur Neuzeit im Sinn des Hauptstroms –
also der Ausbildung der wissenschaftlich-technischen Zivilisation – gehört auch ein oppositio-
neller Gegenstrom. Die Neuzeit zeigt eine Doppelfigur von Rationalisierungskur einerseits und
Anti-Rationalisierungstherapie andererseits. Zur Neuzeit gehört – formelhaft kurz gesagt –
immer eine Gegen-Neuzeit“ (Welsch 2002, S. 74). Eine Fundamentalopposition will aber, so
Welsch, nicht richtig gelingen. Die Gegentendenz erweist sich zuletzt als hilfreich für das Pro-
gramm der Neuzeit, weil die zur Abwehr orientierte Rezeption der neuzeitlichen Darbietungen
mobilisiert schließlich Teilrevisionen und Erweiterungen (vgl. auch Eisenstadt 2006, S. 141).
Einwände spielen nämlich der in der Neuzeit befürworteten prinzipiellen Endlosigkeit nur zu:
„Fortschritt im nicht bloß quantitativen Sinn der Ausbreitung, sondern im qualitativen Sinn der
Modifikation und Steigerung gehört zur Neuzeit genau kraft solcher Infragestellungen. In ge-
wissen Sinn kann man diese Oppositionen allesamt als Strategien einer Selbststeigerung der
Neuzeit auffassen“ (Welsch 2002, S. 75.).
14 Einleitung
ließ, denn von nun an machte man überhaupt die Erfahrung des vollkommen
Neuen, so dass das neu hinzugekommene Element das Bewusstsein der fort-
schreitenden Bewegung war. „Es kennzeichnet das neue Epochenbewusstsein
seitdem ausgehenden achtzehnten Jahrhundert, dass die eigene Zeit nicht nur als
Ende oder als Anfang erfahren wurde, sondern als Übergangszeit“ (ebd., S.
328).4 Neben der Grenzenlosigkeit des Fortschritts tritt also das neue Zeitbe-
wusstsein hinzu. Es ist das Prestige der Zeit, einer Zeit, die nach der Freigabe der
Zukunft eigenständig eine Referenz zu dieser behaupten kann, die sich gegen-
über der Vergangenheit überlegen und offen für den Wandel zeigt. Was, Haber-
mas zufolge, das moderne Zeitbewusstsein für sich beansprucht, das ist die Ver-
stetigung von derjenigen Abgrenzung, die man einst mit der qualitativen Ab-
grenzung zur Vergangenheit des Hergebrachten ausführte. Somit bedeutet diese
Verstetigung der Moderne eine Kontinuität, nämlich die – ähnlich wie im Falle
der Mode – Wiederkehr von Anfang und Ende (vgl. Habermas 1993, S. 15). Die
Moderne ist also weitaus mehr als eine Etappe in der Chronologie der Geschich-
te, sie steht für ein Bewusstsein für chronische Erneuerung.
Das Selbstverständnis der Moderne stellt sie aber vor eine Herausforderung.
Sofern also jede Neuerung auf der Grundlage der prinzipiellen Zukunftsoffenheit
beruht, bestätigt sich das moderne Selbstverständnis mit jeder Neuerung, wenn
man sodann gewiss sein kann, einen Zeitschritt unternommen zu haben. Der
einstige epochale Zeitschritt der Neuzeit wird iteriert, wenn man das hinter sich
lässt, was vormals als Neuerung verbucht wurde. Die Moderne kann daher we-
gen ihres Zeitbewusstseins, das mithin die Voraussetzung enthält, jeder Neue-
rung einen Bedeutungsverlust zuzufügen, aus nahe liegenden Gründen nicht
mehr auf das Vergangene verweisen, wenn sie aufgefordert ist, Normativität zu
begründen. Habermas fasst das Problem folgendermaßen:
„[…] die Moderne kann und will ihre orientierenden Maßstäbe nicht mehr Vorbil-
dern einer anderen Epoche entlehnen, sie muss ihre Normativität aus sich selber
schöpfen. Die Moderne sieht sich, ohne Möglichkeit der Ausflucht, an sich selbst
verwiesen“ (Habermas 1993, S.16).
Ist Geltung durch den Rückbezug auf die Vergangenheit nicht mehr tragfähig, so
bleibt schließlich die selbständig begründete Normativität übrig. Wie die Abkehr
von den Vorherbestimmungen eines Zeitplans das Handeln der Menschen unter-
stützt, so erlaubt das moderne Zeitbewusstsein dem Menschen, die Anforderung,
neue Normativität zu begründen, an sich selbst zu richten. In der Moderne kann
man Normen erschwert durch den Bezug auf das Hergebrachte begründen. Dass
die Menschen auf sich selbst verwiesen sind, wird schließlich durch vermehrt
vorgelegte Zeitdiagnosen ersichtlich (ebd., S. 16). Das zeigt den registrierten
4 Habermas dazu: „Weil sich die neue, die moderne Welt von der alten dadurch unterscheidet,
dass sie sich der Zukunft öffnet, wiederholt und verstetigt sich der epochale Neubeginn mit je-
dem Moment der Gegenwart, die Neues aus sich gebiert“ (Habermas 1993, S. 15).
Einleitung 15
Bedarf, die Normativität aus anderen als den Quellen der Vergangenheit herzu-
leiten.
Habermas nennt Hegel, der als erster antritt, sich vor dem Hintergrund der
Ablösung von der hergebrachten Normativität dem nachzugehen, was die mo-
derne Zeit ausmacht (ebd., S. 26; vgl. auch Ritter 1965, S. 16). Aus dessen Be-
obachtung lässt sich folgern, dass das Prinzip der Subjektivität ihr wesentliches
Merkmal ist. In der Moderne ist dieses Prinzip vielfach leitend. In ihm sind das
Hervortreten der Eigentümlichkeit, der Rechtfertigungsanspruch gegen Macht-
betroffenheit, die Verantwortung für das eigene Handeln und die Orientierung
der idealistischen Philosophie enthalten (vgl. Habermas 1993, S. 27). Anhand
der folgenden Beispiele (ebd., S. 27 ff.) wird, so Habermas, erkennbar, wie sich
der Bezug zur Subjektivität durchgesetzt hat: Mit der Reformation wird der reli-
giöse Glaube auf sich selbst verwiesen. Mit den politischen Konsequenzen der
Französischen Revolution lässt sich die Staatsordnung auf die Freiheit des Wil-
lens zurückführen. Zum Protagonisten der modernen Wissenschaft wird das er-
kennende Subjekt. In der Aufklärung kommen die Moralbegriffe nicht mehr oh-
ne die subjektive Freiheit aus und schließlich kommt die expressive Selbstver-
wirklichung in der Kunst zum Zug. Insgesamt gilt: „In der Moderne verwandeln
sich also das religiöse Leben, Staat und Gesellschaft, sowie Wissenschaft, Moral
und Kunst in ebenso viele Verkörperungen des Prinzips der Subjektivität“ (ebd.,
S. 29). Joachim Ritter, der den Einfluss der Französischen Revolution auf Hegel
untersucht hat, kann in dessen Denken das Prinzip der Subjektivität in der mo-
dernen Zeit fassen. Was mit der Französischen Revolution einkehrt, ist eine spe-
zifische Instabilität, denn jene macht nicht nur Schluss mit der regelmäßigen
Wiederkehr des Hergebrachten, deren Hinfälligkeit sie erklärt (vgl. Ritter 1965,
S. 19), sondern es ist auch der politische Terror als die Fortsetzung der Revoluti-
on, an der die Instabilität für Hegel ersichtlich wird (ebd., S. 21). Die Zukunft ist
jetzt offen und sie wird deswegen zum Problem, weil einst änderungsresistente
Ordnungen fragwürdig werden, nachdem mitunter die Revolution die gesell-
schaftliche und politische Ordnung säkularisiert (ebd., S. 16). Die Instabilität der
Moderne beruht vor allem auf der Zukunftsoffenheit, sofern die vormals auf der
Grundlage der garantierten Kontinuität der Vergangenheit basierende Gewissheit
beseitigt ist: „Was mit der neuen Zeit und mit der Revolution heraufkommt, ist
[…] das Ende der Geschichte; die Zukunft ist ohne Beziehung zur Herkunft“
(ebd., S. 43).
Die Französische Revolution bringt aber auch eine besondere Abwehrhal-
tung hervor, und das ist die Restauration. Die Emanzipation von der hergebrach-
ten Ordnung ist für diese der Anlass, sie stellt sich gegen die Tendenz der Zeit,
will das Vergangene wiederherstellen und aufrechterhalten, sie will also das
Hergebrachte wieder zur Geltung bringen (ebd., S. 36). Ritter zeigt nicht nur,
dass für Hegel die Abwehr der Revolution, das affirmative Dafürhalten der Ver-
gangenheit von der Revolution selbst bedingt ist, sie somit ein Zeichen der Zeit
16 Einleitung
ist. Es lässt sich ferner Folgendes entnehmen: Die Tendenz zur Wiederherstel-
lung lässt zugleich genau das hervortreten, für das eigentlich die Revolution ein-
tritt, nämlich das Ende der Geschichte, wie man sie bisher kannte (ebd., S. 44).
Beiden liegt die Einsicht zugrunde, dass die Kontinuität von Vergangenheit und
Zukunft abbricht. Die Restauration muss notwendig auf die Vergangenheit re-
kurrieren. Die Wiederherstellung des Hergebrachten und dessen Überwindung
stehen in Verbindung mit der Entzweiung. Hegel schlägt sich zwar, so Ritter,
weder auf die eine noch auf die andere Seite, denn er erachtet den Widerspruch
der beiden als die Grundverfassung der Zeit (ebd., S. 45), er hält aber an der un-
revidierbaren Transformation fest, die sich mit der Französischen Revolution
durchsetzt. Man kann nämlich die Revolution rechtfertigen, weil sie im Gegen-
satz zum Hergebrachten das Prinzip der Freiheit vorantreibt, wobei ersteres ge-
genüber diesem unwiderruflich an Geltung verliert. Seit der Revolution tritt das
Individuum an die Stelle, die der Grund des Rechts und des Staates ist (ebd., S.
29 f.). Die Revolution hilft somit der Verwirklichung des Prinzips Freiheit, das,
so Ritter, aus der Sicht Hegels mit der antiken Polis seinen Lauf genommen hat.
Die Idee der Freiheit, die mit der Französischen Revolution befördert wird, ver-
knüpft Hegel mit der unvollendeten Freiheit in der Antike. Auf diese Weise wird
die Revolution zu dem Maßstab, an dem sich auch für Koselleck der politische
Fortschritt messen muss (vgl. Koselleck 1984, 325), denn ein Zurücktreten hinter
jenes Prinzip wird nicht mehr möglich sein, haben doch die vorherigen Prinzi-
pien der Institutionen und der Rechte an Geltung verloren. Weil die Revolution
darüber hinaus einen weiteren Schritt hin zur Verwirklichung der Freiheit unter-
nimmt, hält Hegel der Restauration vor, dass sich ihr Engagement nicht an die
Kontinuität der abendländischen Geschichte anschließen lässt. Für die Revoluti-
on gilt das aber aus eben genannten Gründen (vgl. Ritter 1965, S. 36).
Die Subjektivität kommt noch auf eine andere Weise zur Geltung. Weil die
moderne Zeit die Kontinuität des Hergebrachten unterbricht, wird sie auch zur
Belastung. Hegel sieht darin, schreibt Ritter, die Grundverfassung der Zeit. Die
Entzauberung hat, gleichsam wie die Restauration das Hergebrachte wieder zur
Geltung bringen will, den Wunsch zur Folge, die ursprüngliche Unselbständig-
keit rückgängig zu machen. Ritter dazu: „Die Gegenwart lebt in der Entzweiung;
die Sehnsucht sucht die verlorene Einheit“ (ebd., S. 46). Anstatt diese Entwick-
lung als hoffnungslos zu verneinen, kann ihr Hegel, der Deutung Ritters zufolge,
dennoch etwas Gutes abgewinnen: Die Entzauberung gehört auch zur Vorausset-
zung für Subjektivität. So wird es für Hegel möglich, auf die moderne Zeit zu
setzen, in der die Freiheit des Individuums wirklich wird. Die in der Moderne
hervortretende Selbstbestimmung kennzeichnet Dilthey wie folgt:
„Mit der inneren Zersetzung der mittelalterlichen Kirche und ihres metaphysischen
Systems, mit den Fortschritten der geistigen und wirtschaftlichen Kultur und der
Umbildung der sozialen und politischen Verhältnisse, die dadurch hervorgerufen
wurde, erwuchs ein Bewusstsein von dem selbständigen Wert alles diesseitigen Le-
Einleitung 17
bens und Schaffens, welches die Schranken der transzendenten Weltanschauung der
früheren Jahrhunderte überall siegreich durchbrach. Individuum, Staat und Nation
erfassten ihre Souveränität. Sie begannen, ihre Handlungsweise nach ihren natürli-
chen Interessen zu bestimmen, und sie scheuten sich nirgends, sich offen zu ihren
Motiven zu bekennen“ (Dilthey 1962, S. 217).
Auf die legitim gewordene Selbstbestimmung folgt allerdings ein Spannungs-
verhältnis, das nun skizziert wird. Es soll helfen, das Vorhaben der Arbeit näher
zu bringen. Das Spannungsverhältnis liegt wie folgt vor: Auf der einen Seite
wird der Schutz des Individuums zum letzten Zweck des Staates erklärt, während
auf der anderen Seite keine Herrschaftsentscheidung zulässig ist, die im Wider-
spruch zur Nation steht. Dieser Konflikt ist bereits in der französischen Erklä-
rung der Menschen und Bürgerrechte angelegt und er entwickelt sich deswegen,
so Hans Joas, weil er anfangs vernachlässigt wurde. Die Durchsetzung der indi-
viduellen Freiheit als letzten Zweck des Staates eignete sich für die Abschaffung
der Privilegien und die Nation legitimierte die Herrschaft und legalisierte die
Rechtsschöpfung (vgl. Joas 2011, S. 36). „`Das Individuum´ und `die Nation´
erscheinen aber in der Französischen Erklärung als zwei höchste Bezugspunkte
der Wertung, so als sei zwischen diesen Wertungen kein fundamentaler Konflikt
möglich“ (ebd., S. 37).
Hannah Arendt sieht in der Stellung der Nation in Frankreich den wesentli-
chen Unterschied zwischen der Französischen und der Amerikanischen Revolu-
tion.5 In beiden Fällen wird die Quelle für Herrschaft und Recht beseitigt, so dass
sich aus dieser Säkularisierung eine Leerstelle für die Legitimität der Herrschaft
und die Legalität der Rechtsschöpfung ergibt (vgl. Arendt 2000, S. 208). Arendt
untersucht die unterschiedlichen Lösungen für dieses Problem und erkennt fol-
gende Abweichung, die sie in einen Zusammenhang mit der Migrationsgeschich-
te Amerikas stellt: Die Nation verleiht in Amerika wie in Frankreich zwar der
Herrschaft die erforderliche Legitimität, während sich aber in Amerika die Lega-
lität der Rechtsschöpfung von der Verfassung herleitet, verantwortet dies in
Frankreich die Nation. Die Entwicklung in Frankreich geht insofern andere We-
ge, als sie nicht wie in Amerika die Quelle der Rechtsschöpfung ihrerseits posi-
tivem Recht unterordnet. Arendt schreibt:
„Aber entscheidend ist, dass in einer Republik sich dieses Leben [der demokrati-
schen Verfahren; C.A.] mit seinen wechselnden Beschlüssen im Rahmen und im
Einvernehmen mit einer Verfassung abspielt, die ihrerseits von dem Nationalwillen
und den wechselnden Majoritäten so wenig abhängt, wie etwa ein fertiges Gebäude
von dem Willen des Architekten oder dem seiner Bewohner abhängig ist. Darin liegt
ja gerade die Bedeutung der schriftlichen, dokumentarisch festgelegten Verfassun-
5 Georg Jellinek sieht einen Ursprung der Menschenrechte im Recht der Gewissensfreiheit, dass
in den amerikanischen Kolonien aufgrund von religiösen Diskriminierungen in Europa erlassen
wird. Aus der Forderung nach Gewissensfreiheit geht, ihm zufolge, der Schutz des Individu-
ums vor dem Staat hervor (vgl. Jellinek 1904, S. 45).
18 Einleitung
gen, denen man zur Zeit der Revolutionen so großes Gewicht beimaß; da sie fixiert
und gleichsam verdinglicht waren, wurden sie ein objektiver Bestandteil der Welt,
der dem subjektiven Belieben ihrer Bewohner weitgehend entzogen war. In Amerika
war man sich dieser stabilisierenden Funktion der schriftlichen Verfassung durchaus
bewusst; es galt, alles nach menschlichem Ermessen Mögliche zu tun, um zu ver-
hindern, dass die Prozesse der Beschlussfassungen mit dem ihnen inhärenten Majo-
ritätsprinzip in den `elektiven Despotismus´ der Demokratie, der Herrschaft der Ma-
jorität, ausarteten“ (ebd., S. 213 f.).
Die in Frankreich hervorgetretene Nation und der Schutz für das Individuum
sind „nicht voll kompatibel“ (Böckenförde 1999, S. 18). Das Spannungsverhält-
nis zwischen der Kanalisierung des Staates auf den letzten Zweck, der den
Schutz des Individuums vorsieht, und der Souveränität der Nation besteht in der
französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte darin, dass sie die
Legitimität der Herrschaft von der Nation herleitet, denn, so Joas, der verkündete
Schutz für das Individuum sollte nicht mit Zweifeln gegenüber Herrschaft über-
haupt verbunden sein (vgl. Joas 2011, S. 36).
Norbert Elias schreibt, dass sich nicht nur in Frankreich, sondern überall
dort, wo Nationen hervortreten, ein Spannungsverhältnis zwischen dem obligato-
rischen Respekt für das Individuum und der ebenso zugemuteten Hingabebereit-
schaft für die Nation verstetigt. Zu den Gründen für diesen Widerspruch zählt er
die Besetzung von beruflichen Herrschaftsämtern durch bürgerlich sozialisierte
und auf das Individuum an sich bedachter Menschen, die vor allem angesichts
zwischenstaatlicher Beziehungen damit konfrontiert werden, für den Bestand der
Herrschaft sorgen zu müssen (vgl. Elias 1989, S. 200 f.). Die moralischen Kräfte
die sich zum einen auf das Individuum und zum anderen auf die Nation ausrich-
tet, sind, ihm zufolge, innerhalb von Nationen wirksam und sorgen dafür, dass
das Spannungsverhältnis bestehen bleibt. Elias beschreibt das folgendermaßen:
„So erwerben Menschen in Staatsgesellschaften des 19. und 20. Jahrhunderts Dispo-
sitionen, die sie dazu bringen, ihr Handeln auf mindestens zwei hauptsächliche
Normenkanons abzustimmen, die in mancher Hinsicht unvereinbar sind. Jedes Indi-
viduum nimmt die Erhaltung, die Integrität, die Interessen seines eigenen, souverä-
nen Kollektivs und dessen, wofür es steht, in seinen persönlichen Habitus auf, als
eine Richtschnur des Handelns, die in bestimmten Situationen vor allen anderen den
Ausschlag geben kann und muss. Zugleich wächst dasselbe Individuum mit einem
humanistischen, egalitären oder [sic] Moralkanon heran, dessen höchster, aus-
schlaggebender Wert der einzelne Mensch als solcher ist. Beide werden, wie es of
heißt, `internalisiert´, oder vielleicht sollte man einfach sagen: `individualisiert´. Sie
werden zu Facetten des eigenen Gewissens der Individuen. Wer einem dieser beiden
Kanons zuwiderhandelt, setzt sich in entsprechenden Situationen der Bestrafung
nicht nur durch andere, sondern auch durch sich selbst, in der Form von Schuldge-
fühlen oder `schlechtem Gewissen´ aus“ (ebd., S. 204).
Im Weiteren schreibt er:
Einleitung 19
„In gegenwärtigen Nationalstaaten kann der mächtigste Kanon ein und derselben
Gesellschaft den Zugehörigen einschärfen, dass der einzelne Mensch, das Individu-
um, als höchster Wert rangiere, und gleichzeitig, dass das souveräne Kollektiv, der
Nationalstaat, der höchste Wert sei, dem alle überindividuellen Ziele und Interessen
– dem selbst das physische Überleben der Individuen untergeordnet werden müsse“
(ebd., S. 207).
Die auf die Nation ausgerichtete moralische Kraft, so Elias, dominiert vor allem
unter außeralltäglichen Umständen, und dazu gehört insbesondere der Konflikt-
fall mit anderen Nationen. Nichtsdestoweniger kommt es abseits außeralltägli-
cher Umstände nicht zum Verschwinden dieses Spannungsverhältnisses. Die
Orientierungen am Individuum und an der Nation sorgen weiterhin für Polarisie-
rung, wobei sich, schreibt er, die jeweiligen Seiten nicht zwingend ausschließen
müssen, sondern durchaus nur ein Übergewicht der Nation gegenüber dem Indi-
viduum und umgekehrt beanspruchen können (ebd., S. 209).
Die Aufmerksamkeit für Phänomene mit globalen Auswirkungen trägt zu
einem Wandel bei, der die Nation betrifft. Martin Albrow macht globale und die
Nation überschreitende Orientierungen für soziales Handeln und die Abhängig-
keit des Staates von übernationalen Ressourcen dafür verantwortlich, dessen
Einfluss auf das alltägliche Handeln zu behindern (vgl. Albrow 1998, S. 169).
Das ist für ihn das wesentliche Merkmal des globalen Zeitalters. Das „Globale“,
das durch die Belanglosigkeit nationaler Interaktionsgrenzen und die Aufmerk-
samkeit auf die an Nationen nicht haltmachenden Naturkräften gekennzeichnet
ist (ebd., S. 132), wird zu einem Hindernis für die Kanalisierung der Orientie-
rung auf die Nation, der sich, so Albrow, „die Verwurzelung des Nationalstaats
im alltäglichen Leben“ verdankt (ebd., S. 65). Er notiert:
„Der eigentliche Bruch mit der Moderne, der Übergang zu einer neuen Epoche,
kommt nicht durch den Sieg des Irrationalen über das Rationale zustande, sondern
dadurch, dass das Soziale eine Bedeutung außerhalb des vom Nationalstaat vorge-
gebenen Bezugsrahmens gewinnt. Dies geschieht, wenn der Staat nicht mehr fähig
ist, neue Formen sozialer Organisation zu kontrollieren“ (ebd., S. 96).
Folgt man Albrow, so sollte das von Elias konstatierte Spannungsverhältnis, das
auch unabhängig von außeralltäglichen Umständen andauert, von den Auswir-
kungen des Globalen betroffen sein. Die von Albrow veranschlagten Handlungs-
orientierungen, die nationale Grenzen überschreiten, wirken sich schließlich
nachteilig auf eine Moral aus, die die Hingabe für die Nation zumutet und die
jenseits nationaler Grenzen nur Indifferenz vorsieht. Die Konsequenz beschreibt
Ulrich Beck wie folgt:
„Diese Architektur des Denkens, Handelns und Lebens in staatsgesellschaftlichen
Räumen und Identitäten zerbricht im Zuge wirtschaftlicher, politischer, ökologi-
scher, kultureller, biographischer Globalisierung. Weltgesellschaft meint: Es entste-
hen Machtchancen, Handlungs-, Lebens- und Wahrnehmungsräume des Sozialen,
20 Einleitung
der emotionalen Leidenschaft, die sich für nationale Moral mobilisieren lässt,
gering aus.
„Die emotionale Tönung der Wir-Identität wird merklich geringer, wenn es um post-
nationale Integrationsformen geht, also etwa um Zusammenschlüsse afrikanischer,
lateinamerikanischer, asiatischer oder europäischer Staaten. Die Funktion der höchs-
ten Integrationsebene der Menschheit, als Bezugseinheit der Wir-Identität von Men-
schen ist vielleicht im Wachsen. Aber es ist wohl keine Übertreibung, wenn man
sagt, dass für die meisten Menschen die Menschheit als Bezugsrahmen der Wir-
Identität auf der Landkarte der Emotionen ein weißer Fleck ist“ (ebd., S. 270).
Die Widerstandsfähigkeit der Nation gegen die Auswirkungen des Globalen
führt Elias darauf zurück, dass Staaten ihre Schutzfunktion nach wie vor erfolg-
reich behaupten können, und das obwohl sich zeigt, dass sie gegen übernationale
Gefahren nicht viel ausrichten können. Der Grund für die beharrliche Orientie-
rung an ihrer Schutzfunktion liegt, ihm zufolge, an dem damit verbundenen Ap-
pell, sich an der Moral der Nation zu orientieren.
„Die spezifische Doppelzüngigkeit des nationalen Credos beruht nicht zuletzt da-
rauf, dass sich mit der Funktion des Staates als Überlebenseinheit, als Beschützer
und Garant der Sicherheit des einzelnen Staatsangehörigen, zugleich der Anspruch
verbindet, von den Einzelnen die Bereitschaft zur Vernichtung ihres Lebens, die
Verpflichtung zum Tode zu fordern, wenn das den Regierenden für die Sicherheit
der gesamten Nation erforderlich zu sein scheint“ (ebd., S. 278).
Die Wirksamkeit der nationalen Moral äußert sich schließlich im Falle des her-
vortretenden Vorrangs post-nationaler Moral, und das erkennt Elias daran, dass
Orientierungen an partikularen Nationen dazu beitragen, die Konsolidierung
post-nationaler Moral zu verhindern (ebd., S. 295 f.). Was supranationale Anstal-
ten heute herausfordert, das entspricht der Provokation, mit denen sich sonst
Nationen konfrontiert sehen, wenn sie ein Kollektiv beherbergen, das sich einen
eigenen Staat herbeisehnt. Eric Hobsbawm drückt das treffend aus: „Nationalis-
men ohne Verbindung zum Staat waren die gefährlichsten Rivalen […]“ (Hobs-
bawm 2005, S. 108). Die Nation wird also dann moralisch wirksam, wenn sie
mit post-nationaler Moral supranationaler Anstalten konfrontiert wird. Elias da-
zu:
„Es wäre, nach gängiger Ausrucksweise, rational durchaus einleuchtend und mög-
licherweise auch vorteilhaft, wenn die europäischen Nationalstaaten sich zu dem
größeren Verband der Vereinigten Staaten von Europa zusammenschlössen. Die
Schwierigkeit aber beruht in den meisten Fällen darauf, dass die durch Nachdenken
gewonnene Einsicht in die Realitätskongruenz einer umfassenderen Integration dem
zähen Widerstand gefühlsstarker Vorstellungen begegnet, die dieser Integration den
Charakter eines Untergangs geben, eines Verlusts, über den man nie aufhören kann
zu trauern“ (Elias 1996, S. 300).
An anderer Stelle schreibt er dazu Folgendes:
22 Einleitung
„Der Zwang eines auf den Einzelstaat abgestimmten sozialen Habitus erscheint heu-
te vielen Menschen als so überwältigend stark und unabwendbar, dass sie ihn wie
etwas Naturgegebenes, wie Geburt und Tod als etwas Selbstverständliches hinneh-
men. Man reflektiert nicht darüber“ (ebd., S. 303).
Rogers Brubaker fällt auf, dass diese Essenz der Nation, die Elias für die Beharr-
lichkeit der Orientierung an der Nation verantwortlich macht, selbst in der Wis-
senschaft nicht vergeht. Er nennt das den Gruppismus, den er als eine Tendenz
begreift, Kollektive als substanzielle und von Handeln unabhängige Einheiten zu
betrachten (vgl. Brubaker 2007, S. 16 ff.). Dieser Gruppismus erweist sich selbst
gegen „ein Vierteljahrhundert konstruktivistischen Theoretisierens in den Sozi-
alwissenschaften“ (ebd., S. 11) als resistent. Obwohl längst widerlegt ist, dass
Kollektive und insbesondere die Nation an sich bestehen und ein inneres unver-
änderliches Wesen aufweisen, hält sich, so Brubaker, der Gruppismus in der For-
schung (ebd., S. 123).
Elias wendet schließlich ein, dass sich eine Wissenschaft, die Gesellschaft
und Nation zusammenfallen lässt, den Weg versperrt, um Einflüsse untersuchen
zu können, die nationale Grenzen überschreiten. Er registriert, dass angesichts
globaler Orientierungen des sozialen Handelns und der globalen Folgen unge-
planter Ereignisse eine sozialwissenschaftliche Beschreibung von Gesellschaften
ungenügend ist, wenn sie aus einer bloß nationalen, und nicht globalen Perspek-
tive vorgenommen wird (vgl. Elias 1996, S. 218 f.). Insgesamt erkennt Elias, wie
später auch Pries, zwar einen Anstieg globaler Orientierungen, nur führen sie
nicht dazu, die Moral der Nation zu nivellieren. Das ist mit der Disqualifizierung
des Gruppismus und des methodologischen Nationalismus ebenfalls nicht ver-
bunden.
Die Problemstellung ergibt sich wie folgt: Auf der einen Seite sprechen
globale Phänomene dafür, dass globale Orientierungen die Nation für die Orien-
tierung des Handelns in den Hintergrund drängen und damit ihren Vorrang der
Verbindlichkeit beeinträchtigen. Globale und die Nation überschreitende Orien-
tierungen nehmen aufgrund der Erleichterung für Interaktionen jenseits nationa-
ler Grenzen zu. Naturgewalten, die sich nicht von nationalen Grenzen aufhalten
lassen und sich auf gleich mehrere Nationen auswirken können, führen dazu, die
Ohnmacht des Nationalstaates gegenüber der Natur bewusst zu machen. Gegen
die zweckrationale Effizienz supranationaler Anstalten und Kollektive kann eine
isolierte Stellung von Nationalstaaten kaum verteidigt werden. Ferner nimmt der
mit nationaler Moral inkompatible Respekt für das Individuum an sich zuneh-
mend globale Ausmaße an. Auf der anderen Seite zeigt sich aber, dass die Orien-
tierung an der Nation resistent gegen die Auswirkungen globaler Phänomene ist.
Die Beharrlichkeit der Orientierung an der Nation tritt vor allem dann hervor,
wenn sich post-nationale Moral supranationaler Anstalten und Kollektive be-
hauptet, und sie gibt sich an der Verteidigung des Vorrangs nationaler Moral
gegenüber post-nationaler Moral zu erkennen. Zudem machen nach wie vor Kol-
Einleitung 23
lektive den Anspruch geltend, eine Nation zu werden. Insgesamt widerlegt die
Beharrlichkeit der Nation, in den Fokus des sozialen Handelns zu rücken, die auf
das Globale zurückgeführte Beeinträchtigung der Orientierung an der Nation.
Warum ist die Orientierung an der Nation so beharrlich, obwohl globale
Orientierungen für soziales Handeln nationale Begrenzungen überschreiten?
Eine Antwort auf diese Frage soll erlauben, die Beharrlichkeit der Orientierung
an der Nation im Hinblick auf die Wirksamkeit nationaler Moral einzuschätzen,
denn ihre Wirksamkeit entscheidet, in welchem Maße die von Elias festgestellte
Konsequenz, nämlich die „Schuldgefühle“ durch den dualen Normenkanon, der
das Spannungsverhältnis zwischen Nation und Individuum an sich hervorruft,
bestimmend ist.
Das Spannungsverhältnis zwischen der Nation und dem Individuum an sich
hilft, um eine Erklärung für die Beharrlichkeit der Nation zu erarbeiten. Elias
konstatiert, dass der „duale Normenkanon“ (Elias 1989, S. 204) dort vorkommt,
wo sich die Nation durchsetzt. Auf der einen Seite steht die Zumutung des Res-
pekts für das Individuum und auf der anderen Seite die zugemutete Hingabe zu-
gunsten der Nation. Das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Nation
besteht insofern, als die Zumutung, sich der Nation hinzugeben, die Indifferenz
gegenüber sich selbst, anderen Angehörigen der Nation als Individuen, Angehö-
rigen anderer Nationen und sonstigen, zu keiner Nation gehörenden Individuen
einschließt. Das widerspricht wiederum dem zugemuteten Respekt für das Indi-
viduum unabhängig von jeglicher Zugehörigkeit. Dieser Widerspruch zur Nation
liegt im Falle des „globalen Verantwortungsgefühls“ (Elias 1996, S. 225) dann
entsprechend vor, wenn man den zugemuteten Respekt für die Natur davon ab-
zieht.
Zu meinem Vorhaben gehört es nicht, eine Begründung dafür zu entwi-
ckeln, warum entweder die Nation oder das Individuum den Vorrang haben soll.
Stattdessen möchte ich Émile Durkheims Studien im Hinblick auf die moralische
Wirksamkeit der nationalen Gemeinschaft in modernen Gesellschaften vor dem
globalen Zeitalter untersuchen. Um der Beharrlichkeit der Orientierung an der
Nation nachzugehen, werde ich Durkheim danach befragen, inwiefern die mora-
lische Wirksamkeit der nationalen Gemeinschaft in modernen Gesellschaften
möglich und erforderlich ist.6 Der zunächst zu erarbeitende Nachweis über den
sozialen Ursprung der Nation ist für mein Vorhaben wesentlich. Mit dem sozia-
len Ursprung der Nation kann ich untersuchen, welche Bedingungen gegeben
6 Die Anregung für das Vorhaben kommt vom Mitbürger aus der Fremde (Bukow/Llaryora
1998). In dieser Arbeit decken Wolf Bukow und Roberto Llaryora auf, dass Ethnizität für die
Integration in modernen, funktional differenzierten Gesellschaften unerheblich ist. Sie rekon-
struieren ferner mithilfe der Theorie des Labeling Approach, wie sich Ethnizität als abwei-
chendes Verhalten auf Seiten von Menschen mit Migrationshintergrund rekonstruieren lässt.
Einen Impuls für mein Vorhaben hat aber ihre These über die konstitutive Belanglosigkeit der
Ethnizität gegeben.
24 Einleitung
sein müssen, damit die nationale Gemeinschaft moralisch wirksam sein kann und
inwiefern der Bedarf an ihrer moralischen Wirksamkeit in modernen Gesell-
schaften gegeben ist. Ihr sozialer Ursprung erlaubt schließlich, eine Erklärung
für die Beharrlichkeit der Orientierung an der Nation zu konstruieren. Anhand
der Ergebnisse über die Möglichkeit und den Bedarf an nationaler Moral in mo-
dernen Gesellschaften vor dem globalen Zeitalter will ich die Widerstandsfähig-
keit der Nation gegenüber den Auswirkungen des Globalen theoretisch rekon-
struieren. Im Hinblick darauf dem sozialen Ursprung der Nation nachzugehen,
werde ich erarbeiten, welche Voraussetzung gegeben sein muss, damit sich nati-
onale Moral überhaupt entwickeln kann. Daran schließe ich die Berücksichti-
gung von Schwankungen in der Zuordnung von Gemeinsamkeitsmerkmalen
(zum Beispiel: Sprache, politische Erinnerung oder Migrationserinnerung) zu
Nationen an. Dies geschieht im Hinblick darauf, den Ursprung nationaler Ge-
meinschaft in ihren Gemeinsamkeitsmerkmalen zu prüfen. Die Rekonstruktion
des Hergangs derjenigen Gemeinschaft, die der Nation eigentümlich und nur ihr
vorbehalten ist, erlaubt mir als nächstes, die Nation von nicht-nationalen Ge-
meinschaften zu unterscheiden. Ferner macht es die Rekonstruktion des Her-
gangs nationaler Gemeinschaft möglich, die moralische Wirksamkeit der Nation
in modernen Gesellschaften zu untersuchen. Weil in Durkheims Arbeiten der
Fokus auf die Moral in modernen Gesellschaften vor dem globalen Zeitalter ge-
legt ist, kann ich auf deren Grundlage nationale Moral hinsichtlich des Anliegens
meines Vorhabens untersuchen. Auf diese Weise (Kapitel 4) kann ich der natio-
nalen Moral nicht im Hinblick darauf nachgehen, ob das, was sie anrichtet, sein
soll, sondern ob und unter welchen Bedingungen es sein kann. Auf dieser Grund-
lage werde ich abschließend eine Antwort auf die Frage danach herleiten, warum
die Nation trotz der Auswirkungen globaler Orientierungen beharrlich die Auf-
merksamkeit für soziales Handeln auf sich ziehen kann.
Als erstes werde ich berücksichtigen, wie sich nationale Gemeinschaft her-
vorrufen lässt (Kapitel 1). Hierfür rekurriere ich auf Einwände gegen die an sich
gegebene Gemeinschaft der Nation. Mit dem Nachweis über die Unzulänglich-
keit der Aussage, der zufolge nationale Gemeinschaft unabhängig davon ist, be-
wirkt zu werden, kann ich offen legen, worauf sie angewiesen ist. Die Arbeits-
schritte hierfür sehen Folgendes vor: Ich greife anfangs die beiden Nationenty-
pen Kulturnation und Staatsnation auf und illustriere anschließend anhand eini-
ger Auszüge aus einer Studie von Robert Michels das, was für Max Weber aus-
geschlossen ist: Vergemeinschaftung entspringt nicht Gemeinsamkeitsmerkma-
len (vgl. Weber 2002, S. 22). Auf solche, nämlich auf u.a. Sprache, Literatur-
klassiker und Religion beruht insbesondere die Kulturnation, die sich für Fried-
rich Neumann (1888), Alfred Kirchhoff (1905) und Friedrich Meinecke (1919)
dadurch auszeichnet, dass sie unwandelbar ist. An ihren Arbeiten wird sich zei-
gen, dass sie zwar die Zugehörigkeit eines solchen Menschen zu einer Kulturna-
tion vorsehen, der ihr ursprünglich nicht angehörte, sie aber ausschließen, dass
Einleitung 25
nennt, die dem reinen Typus der Vergemeinschaftung am nächsten kommt (vgl.
Weber 2002, S. 22). Er beansprucht insofern nicht die strikte Trennung von Ver-
gemeinschaftung und dem anderen Typus der sozialen Beziehung, der Vergesell-
schaftung, als gefühlte Zusammengehörigkeit auch aus der für die Vergesell-
schaftung (ebd., S. 21) charakteristischen Orientierung an Zwecken und Werten
resultieren kann. Es kann sich auch aus Vergesellschaftung eine Gemeinschaft
ergeben, die Übergänge sind fließend (ebd., S. 22).
Aufgrund des von Weber hergeleiteten Wesens der Nation folgert Ziegler,
dass ihr Vorrang gegenüber anderen Kollektiven notwendig gegeben sein muss.
Das ist für ihn das „Primat der sozialen Verbindlichkeit“ (vgl. Ziegler 1931, S.
69), das nicht aus einer reinen Vergemeinschaftung entsteht. Anhand der Arbeit
Zieglers will ich den Nachweis weiterführen, dass nationale Gemeinschaft be-
wirkt werden muss. Seine Studie ist hierfür hilfreich, weil er zum einen unter-
sucht, was den Vorrang der Nation verschuldet, und weil er zum anderen die
Entstehung des Wesens der Nation vor dem Hintergrund des Wandels der Legi-
timität von Herrschaft erarbeitet.
Das in einem Zusammenhang mit staatlicher Herrschaft gebrachte Wesen
der Nation, will ich im nächsten Schritt um einige Überlegungen Webers zum
Idealtypus der Herrschaft ergänzen (Kapitel 2). Die eigentliche Absicht seiner
Herrschaftslehre ist es, zum einen die Struktur der Herrschaft anhand von Typen
der Legitimitätsgründe und zum anderen die Beziehung der Herrschaft zur Wirt-
schaft zu untersuchen. Für mein Vorhaben ist das nebensächlich. Stattdessen will
ich erarbeiten, dass Herrschaft nicht eine soziale Beziehung ist, in der die Über-
geordneten vollkommen unabhängig agieren, sondern auch auf das Handeln der
Untergeordneten angewiesen sind. Mir geht es somit lediglich darum, die soziale
Wechselseitigkeit der Herrschaft verständlich zu machen. Hierfür berücksichtige
ich zunächst, wie Weber begründet, dass er das Handeln zur Grundlage seiner
Wissenschaft macht. Bevor ich schließlich zu seinem Idealtypus der Herrschaft
komme, will ich den Hintergrund seiner Herrschaftslehre transparent machen
und in einem Exkurs auf die Überlegungen Heinrich Popitz zurückgreifen, die
für den von Weber vorgenommenen Kontrast zwischen Macht und Herrschaft
behilflich sind. Im Ganzen soll sich mit dem Schritt erklären, warum das von
Ziegler für die Nation veranschlagte Primat der sozialen Verbindlichkeit im Falle
der Nation gegeben sein muss.
Im vorletzten Schritt werde ich die zentralen Studien Durkheims im Hin-
blick auf das Anliegen meines Vorhabens rekonstruieren. 7 Die Eignung Durk-
7 Zu meinem Vorhaben gehört es nicht, eine weitere Exegese der Schriften Durkheims vorzule-
gen, gleichwohl sich die Rekonstruktion seiner Überlegungen nicht vermeiden lässt. Mir geht
es nicht darum, Zwecke und Grenzen der theoretischen und methodologischen Auseinander-
setzungen Durkheims zu erarbeiten. Ich will auch nicht einen weiteren Vergleich zwischen ihm
und Weber durchführen. Stattdessen will ich die Arbeiten eines Klassikers, nicht eines Säulen-
heiligen, für eine gegenwartsbezogene Fragestellung fruchtbar machen. Dabei ist es nicht mei-
Einleitung 27
ne Absicht, einen Nachweis dafür zu erbringen, dass sich nur Durkheim eignet, um eine Ant-
wort zu entwickeln, denn das Ziel der Arbeit ist primär, eine Antwort für die beharrliche Ori-
entierung an der Nation zu erarbeiten. Freilich ohne den Anspruch zu erheben, eine letzte Ant-
wort zu finden.
28 Einleitung
Studie ([1897] 1973) stellt er fest, dass die entstehende Orientierungsnot auf der
einen Seite zu aussichtsloser Sinnsuche an Stellen führt, wo an sich keine Sub-
stanz angelegt ist, im Individuum selbst. Die Suche bleibt vergeblich und das
Individuum hat eine verfahrene Passivität zu verkraften. Auf der anderen Seite
wirkt sich die Orientierungsnot derart aus, dass man von der Wirksamkeit des
eigenen Handelns nicht mehr Notiz nehmen kann. Die Erfahrung wird rar, ein
Ergebnis auf das eigene Handeln zurückzuführen, weil der eigenen Geschäf-
tigkeit zunehmend die Grenzen abhanden kommen. Mit den Typen des egoisti-
schen und anomischen Selbstmords kann Durkheim den Nebenfolgen der
schwindenden Homogenitätszumutungen nachgehen, die sich auf Seiten des In-
dividuums und der Moral bemerkbar machen. Insbesondere Der Selbstmord lässt
sein Bewusstsein für die Risiken erkennen, die mit den Faktoren für die Zunah-
me der individuellen Entscheidungsfreiheit verbunden sind. Hierzu gehört daher
nicht nur all das, was kausale Bedeutung für die Individualität hat, sondern
Durkheim erfasst auch dasjenige Maß ihrer Faktoren, das soweit geht, dass das
Individuum und auch Moral einer Gefahr ausgesetzt sind. Die Zunahme der in-
dividuellen Entscheidungsfreiheit wird zur Gefahr für das Individuum, wenn es
sich immer weniger Sinnvorgaben hingeben kann, wobei die davon betroffenen
Individuen zu einer zusätzlichen Belastung für die Geltung von Sinnvorgaben
werden.
Ein zentrales Anliegen Durkheims offenbart sich nun, und das ist die ge-
sunde Mitte zwischen Disziplin und Entscheidungsfreiheit. Frei ist das Individu-
um im Denken Durkheims nicht, wenn es, ohne Sanktionen fürchten zu müssen,
von den Homogenitätszumutungen abweicht, sondern wenn es die gewonnene
Entscheidungsfreiheit zu nutzen weiß. Beherrscht das Individuum das nicht, so
hat das Auswirkungen auf die Moral, von denen es schließlich auch nicht ver-
schont bleibt, da es zu ihren Funktionen gehört, Orientierungsangebote bereitzu-
halten. Durkheims Morallehre in der Vorlesung Erziehung, Moral und Gesell-
schaft ([1934] 2006) verrät, dass es sich ohne Disziplin erübrigt, von individuel-
ler Entscheidungsfreiheit zu sprechen. Das mit den geschwächten Homogenitäts-
zumutungen verbundene Mehr an individueller Entscheidungsfreiheit identifi-
ziert er also nicht mit Emanzipation von jeglicher Unterordnung, denn ausblei-
bende Orientierungs- und Ziellosigkeit ist für die Handlungsfähigkeit des Indivi-
duums elementar. Nur das kann antizipieren, dass mit der Freiheit das Individu-
um postwendend verschwindet. Für die Stellung der Entscheidungsfreiheit in den
Arbeiten Durkheims muss man berücksichtigen, dass sich Moral dem Individu-
um nicht allmächtig aufdrängt. Die Initiative des Individuums ist unter keinen
Umständen restlos getilgt. Das unfreie Individuum kommt in den Überlegungen
Durkheims nicht vor. Das freie Individuum kann seine Kräfte lenken, wofür aber
äußere Sinnvorgaben unentbehrlich sind. Sich ihnen vollkommen zu entledigen,
schließt Durkheim aber aus, weil es mit dem Orientierungsverlust auch um die
Freiheit geschehen ist. Erfolglosigkeit und Unzufriedenheit sind in diesem Fall
Einleitung 29
dem Typus der organischen Solidarität nach, der jedoch in seinen späteren
Schriften nicht mehr auftaucht. Stattdessen richtet er seine Aufmerksamkeit auf
das moralische Milieu der Berufsgruppen, die Sakralität des Individuums und
den an die Herrschaftskonzentration des Staates zweckmäßig gebundenen Schutz
des Individuums. In allen Fällen zeigt sich, dass er sich den Anforderungen für
eine Moral der modernen Gesellschaft annähert, ohne darauf ausgerichtet zu
sein, die Zunahme der individuellen Entscheidungsfreiheit abzuwehren. Daran
wird erkennbar, dass er dem Individuum nichts zur Last legt.
Die Rekonstruktion der Studien Durkheims (Kapitel 3) ist daher darauf aus-
gerichtet, die für sein zentrales Anliegen signifikanten Ergebnisse zu erarbeiten.
Als erstes werde ich in seinen Regeln ([1895] 1984) berücksichtigen, wie er Mo-
ral abseits von Geltungsgründen untersuchen will. Seiner Vorlesung Erziehung,
Moral und Gesellschaft (2006) will ich anschließend den notwendigen Zusam-
menhang von Disziplin und Handlungsfähigkeit entnehmen. Im dritten Schritt
greife ich auf die Arbeitsteilung (2008a) zurück, weil sie über die Faktoren für
den Anstieg von Freiheit und Vielfalt informiert. Danach rekonstruiere ich dieje-
nigen Ergebnisse der Studie Der Selbstmord (1973), die ich im Hinblick auf die
Untersuchung der moralischen Wirksamkeit der nationalen Gemeinschaft nutzen
kann. Der fünfte Schritt dient zur Erarbeitung der Symboltheorie in Die elemen-
taren Formen des religiösen Lebens ([1912] 2010a). Abschließend sammle ich
in der Vorlesung Physik der Sitten und des Rechts ([1896] 1991) und in Durk-
heims Wortmeldung ([1898] 1986b) zur Dreyfus-Affäre weitere Erkenntnisse
zum moralischen Polymorphismus und zur Sakralität des Individuums.
zu erhaschen und ähnliche Grundzüge und Entwicklungsstufen aller oder doch vie-
ler Nationen wahrzunehmen, aber bei strenger Prüfung hat jede Nation wieder eine
ganz individuelle und eigene Seite“ (ebd., S. 2).
Er stellt fest, dass sich im Falle der deutschen Nation als erstes Intellektuelle und
Staatsmänner über ihre objektiven Merkmale bewusst werden. Sie lassen sich
von der Französischen Revolution inspirieren, dank derer sie Überlegungen über
einen Wandel der Herrschaft anstellen (vgl. hierzu auch Francis 1965, S. 107).
Infolgedessen kann die Nation neben ihrer Kultur auch einen Bezug zur Herr-
schaft verbuchen (vgl. Meinecke 1919, S. 31). Das Anliegen der Studie Meinec-
kes ist es, unter der Voraussetzung, dass jede Nation ihren partikularen Weg
geht, die deutsche Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts im Hinblick auf die
Eigentümlichkeit der deutschen Nation zu untersuchen, die sich aus dem Ver-
hältnis von universellen und nationalen Ideen hinsichtlich des Nationalstaats
ergibt.
Für das eigene Vorhaben sind die Ergebnisse dieser Studie nicht hilfreich.
Meineckes Vorbemerkungen im Kapitel Allgemeines über Nation, Nationalstaat
und Weltbürgertum ermöglichen aber, die Auseinandersetzung über den sozialen
Ursprung der Nation aufzunehmen. Das betrifft vor allem die von ihm genutzte
Typologie. Sie soll sich insbesondere dann im Einsatz bewähren, wenn man die
nationalstaatliche Entwicklung solcher Nationen untersuchen will, die ohne ei-
nen Bezug zu einem Staat bestehen. Das trifft für den von ihm ausgewählten
Einzelfall zu, bei dem anfangs nicht einer, sondern mehrere heterogene Staaten-
gebilde nebeneinander existieren. Somit muss eine für Meinecke brauchbare
Typologie zweierlei8 bereitstellen. Das ist ein Begriff der Nation mit dauerhafter
politischer Macht und einer für die Nation, der ein Staat abgeht. Dieser Trennung
entsprechen, so Meinecke, die Überlegungen Fichtes, aus dessen Stellungnah-
men zur Nation9 hervorgeht, dass die deutsche Nation für diesen einzig auf der
Grundlage kultureller und geistiger Güter besteht, wohingegen andere Nationen
auf einen Staat angewiesen sind, um sich überhaupt zu halten (ebd., S. 121). Die
Unterscheidung Fichtes kommt der von Meinecke getroffenen entgegen, nur
beabsichtigt letzterer nicht, dass sich der Typ Nation mit Staat und der Typ Nati-
on ohne Staat isoliert von einander und jeweils deckungsgleich in der empirische
Wirklichkeit abbilden lassen. Stattdessen legt er die Typen so aus, dass man sie
in der Wirklichkeit vermengt wieder findet. Meinecke dazu: „Wir haben uns
dabei immer zugleich klar gemacht, dass in der geschichtlichen Wirklichkeit
diese verschiedenen Typen ineinander übergehen“ (ebd., S. 15). Was aber der
8 Eine Skizze der Nationalstaatsbildung auf der Grundlage der Typologie von Meinecke fertigt
Böckenförde an. Er rekonstruiert das Drängen der Intellektuellen zur Überführung der staaten-
losen Nation zur politischen Nation der Deutschen (vgl. Böckenförde 1999, S. 47 ff.).
9 Zu Fichtes Überlegung zur Nation, die ohne den Anspruch auf den eigenen Staat auskommt
vgl. Heller 1963, S. 17.
1.1 Primat der Kultur 33
Nation unabhängig von diesen Typen nicht abgehen darf, ist zum einen das Ter-
ritorium (ebd., S. 3) und zum anderen die ursprüngliche Abstammung. Dazu
schreibt er: „Unbedingt vorhanden muss in ihr wohl ein naturhafter Kern, der
durch Blutsverwandtschaft entstanden ist“ (ebd., S. 2).10 Die Typologie stellt
aber keinen Zugang bereit, um Nationen in ihrem ursprünglichen Zustand, son-
dern im „entwickelten Stadium“ (Meinecke 1919, S. 2) zu untersuchen. Fest
steht für ihn aber, dass die Nation durch den hinzukommenden Bezug zum Staat
einen Wandel erlebt:
„Wir können eine frühere Periode unterscheiden, in denen die Nationen im ganzen
ein mehr pflanzenhaftes und unpersönliches Dasein und Wachstum hatten, und eine
spätere, in denen der bewusste Wille der Nation erwacht, in der sie sich selbst – und
sei es auch nur durch das Organ ihrer Führer – als große Persönlichkeit, als große
geschichtliche Einheit fühlt und das Kennzeichen und Recht der entwickelten Per-
sönlichkeit, die Selbstbestimmung beansprucht“ (ebd., S. 6).
Seinen Überlegungen lässt sich bislang entnehmen, dass eine Nation abseits der
beiden unentbehrlichen Merkmale nicht zwingend in einem Verhältnis mit einem
Staat stehen muss. Zweitens legen die oben genannten Beispiele nahe, dass die
staatenlose Nation einerseits und die Nation mit einem Staat andererseits nicht
ausschließlich dichotom vorkommen. Der Bezug zur eigenen Herrschaft führt, so
Meinecke, nicht dazu, dass der Nationentypus ohne Staat vom anderen Typus
abgelöst wird. Die beiden Typen nennt er die Kulturnation und die Staatsnation:
10 Für Otto Bauer ist das die Etappe der Nation, in der sie sich im Zustand des „Sippschaftskom-
munismus“ befand, ohne einen Verlust ihres „Keimplasmas“ erlitten zu haben (vgl. Bauer
1971, S. 27). Natur und Kultur einer Nation lassen sich im Denken Bauers nur im Zeitalter des
Sippschaftskommunismus nachweisen. Es ist dann nicht ausreichend, bloß ein Ahnenverhältnis
der Angehörigen einer Nation festzustellen. Vielmehr braucht es neben der faktischen Ab-
stammung die Entwicklung eines Nationalcharakters, der als Konsequenz aus der Auseinan-
dersetzung mit den natürlichen Lebensbedingungen entsteht. Konkret: Um gegen diese beste-
hen zu können, unterliegt eine Auswahl körperlicher Merkmale den Züchtungsanstrengungen,
die an nachfolgende Generationen der Nation übertragen werden. Darüber hinaus entwickelt
die Nation in dieser frühesten Zeit kulturelle Antworten auf die äußeren Bedingungen, die
ebenfalls zum Transfer vorgesehen sind. Am Anfang ist der Nationalcharakter also ein Ergeb-
nis der Betroffenheit von einem gemeinsamen Schicksal. Bauer veranschaulicht sein Modell an
den Germanen: „Wie die Germanen jener Zeit eine Naturgemeinschaft sind, in deren Charakter
sich das Schicksal des Stammvolkes in allen Völkerschaften spiegelt kraft der erhaltenden
Macht des Keimes, der von Vater und Mutter übergeht auf die Kinder, so sind sie auch eine
Kulturgemeinschaft, da in der Kultur aller dieser Völkerschaften die Kultur des Stammvolkes
noch lebendig war und darum alle diese Völker eingeschlossen waren in gleichartiges Recht,
gleichartige religiöse Vorstellungen, gleichartige Sprache, gleichartige Lebenssitten. Gemein-
same Abstammung und von gleichem Stamm überlieferte und darum gemeinsame Kultur er-
zeugte in ihnen alle jene Gemeinschaft des Charakters, die sie zu einer Nation machte“ (ebd.,
S. 29; Herv. im Orig.). Zu Einwänden gegen Bauers Vorstellung über die Nation vgl. Hertz
1927, S. 50-54.
34 1 Nation
„Man wird, trotz aller sogleich zu machenden Vorbehalte, die Nationen einteilen
können in Kulturnation und Staatsnation, in solche, die vorzugsweise auf einem ir-
gendwelchen gemeinsam erlebten Kulturbesitz beruhen, und solche, die vorzugs-
weise auf der vereinigenden Kraft einer gemeinsamen politischen Geschichte und
Verfassung beruhen“ (ebd., S. 3).
Die reine Kulturnation verfügt zunächst über keinen Staat. Zu ihren Merkmalen
zählt er Sprache, Literatur und Religion. Ohne diese objektiven Merkmale liegt
eine Kulturnation nicht vor. Selbst eindeutige Grenzen ihres Territoriums sind
weniger bedeutsam. Zur Staatsnation gehört hingegen ausdrücklich das „politi-
sche Gemeingefühl“ (ebd., S. 4), welches das Hervortreten dieses Nationentypus
bewirkt. Er kommt zunächst infolge der Französischen Revolution auf, an deren
„Geiste“ sich zeigt, was der Staatsnation wesentlich ist: der Bezug zur staatli-
chen Herrschaft von Seiten der Nation (ebd., S. 5). Eines kann also der Staatsna-
tion nicht fehlen, nämlich der Wille zur dauerhaften politischen Selbstbestim-
mung. Das schließt die Konzentration der Herrschaft auf dem Territorium der
Nation ein (ebd., S. 10). Damit man sich zur Staatsnation zählen kann, muss man
in erster Linie weder einer Sprachgruppe angehören, noch sich gemeinsamer
Abstammung gewiss sein, sondern man muss entschlossen sein, sich einem Staat
anzuschließen. Die Staatsnation, schreibt Francis, kennzeichnet allerdings weni-
ger die empirische Wirklichkeit, als vielmehr eine politische Idee, da sich ein
kollektiver politischer Wille erfahrungswissenschaftlich nicht feststellen lässt.
Erfassen lässt sich die Staatsnation, wenn man das Prinzip in Rechnung stellt,
wonach die politische Herrschaft in einem modernen Staat, seitens der von ihr
Betroffenen mitbestimmt wird, die sich zu den Angehörigen der Nation zählen
dürfen (vgl. Francis 1965, S. 77). Sie kann vorsätzlich geschaffen werden, sie
kann aber auch, so Emerich Meinecke, in einer Kulturnation unbeabsichtigt auf-
gehen und mit ihr bestehen. Es kann darüber hinaus vorkommen, dass einer
Staatsnation die Herrschaft abhanden kommt, so dass sie als Kulturnation weiter
besteht. Ferner: Nimmt eine Staatsnation die Angehörigen einer anderen Nation
auf, die eine Kulturnation ist, so ist es für Meinecke nicht möglich, die kulturna-
tionale Zugehörigkeit aufzugeben (vgl. Meinecke 1919, S. 5). Daran zeigt sich
das Primat der Kultur in seinem Begriff der Nation. Der Staat ist gegenüber der
Kultur unwesentlich. Zur Nation, die ohne Staat auskommt, äußert er sich wie
folgt:
„Was aber die Kulturnation dieser älteren Zeit betrifft, so zeigt sich ihr vegetativer
Charakter eben schon darin, dass sie nicht von sich aus den Drang hat, Staatsnation
zu werden und einen sie umfassenden Nationalstaat zu schaffen. Sie konnte sich mit
ihrem Dasein als bloßer Kulturnation eher zufrieden geben als die Zeit, die nach
möglichst kräftigen Formen und Wirkungsweisen für die Persönlichkeit der Nation
suchte“ (ebd., S. 8).
1.1 Primat der Kultur 35
Für die beiden Typen der Nation beruft sich Meinecke auf Friedrich Neumanns
Studie Volk und Nation (1888) und Alfred Kirchhoffs Arbeit Zur Verständigung
über die Begriffe Nation und Nationalität (1905). Diese Studien sind ihm von
Nutzen, weil auch Neumann und Kirchhoff neben der Nation, zu der ein Staat
gehört, auch auf die „eigentliche“ (Neumann), auf Kultur beruhende Nation ver-
weisen. Neumann und Kirchhoff gehen dem Hervortreten der Staatsnation nach,
weil sie seit der Französischen Nation mit der Nation überhaupt in eins gesetzt
wird, so dass das entschlossene Pflichtbekenntnis und die Opferbereitschaft die
Sprache und Abstammung als wesentliche Merkmale der Nation verdrängen.
Kirchhoffs Anliegen ist es, der Berechtigung dieser Identifikation nachzugehen,
die Nation nur Staatsnation sein lässt, um mit einer bisweilen staatenlosen, aber
auf dem ständigen Weg zur Vervollkommnung schreitenden Nation zu kontern
(vgl. Kirchhoff 1905, S. 9).
Das ist auch Neumanns Vorhaben, der festlegt, dass die Nation ausschließ-
lich eine „Kultureinheit“ darstellt (vgl. Neumann 1888, S. 51). Er stellt das in
den Vordergrund, was Meinecke nur nebensächlich behandelt. Kultur alleine
nämlich reicht nicht aus, um von einer Nation zu sprechen. Vielmehr muss die
Kulturleistung eine die Nation konstituierende Wirkung offenbaren. Die Nation
muss etwas aufweisen, was erstens Unterschiede zwischen Nationen möglich
macht und was zweitens ihre Ausdehnung in der Bevölkerung zulässt. Um die-
sen Begriff der Nation zu entwickeln, unterzieht er ihr einen Vergleich mit einer
anderen Menschengruppe, der zwar die für die Nation wesentliche Wirkung ab-
geht, sich nämlich partikular und aufnahmebereit zu zeigen, sie ihr aber ansons-
ten gleicht und ebenfalls nicht zwingend eine Verbindung zu einem Staat auf-
weist. Diese staatenlose Nation entspricht, so Neumann, in vielfacher Hinsicht
dem Stamm (ebd., S. 104 f.): Die Angehörigen der Nation und des Stamms teilen
allesamt Gemeinsamkeiten, die sich in verschiedenen Generationen auffinden
lassen. In beiden Fällen ist mindestens die Sprache auf Seiten von Vor- und
Nachfahren geteilt. Stamm wie Nation bestehen auf der Grundlage eines über-
tragbaren Kulturprodukts. Hinzu kommt eine gefühlte und gewollte Zusammen-
gehörigkeit. Schließlich kann man in beiden Fällen auf die Abstammung verwei-
sen, allerdings liegt, so Neumann, die Erblichkeit der Nation nur noch rudimen-
tär vor (ebd., S. 97).11
11 Anders Bruno Bauch (1916), den Meinecke ebenfalls als eine Referenz nennt. Für jenen steht
das Kriterium des gemeinsamen Erbes der Angehörigen einer Nation nach wie vor im Vorder-
grund. Es ist nicht im Ermessen des Einzelnen, welcher Nation er angehört. Weder steht die
Zugehörigkeit zur Disposition, noch ist ein Willensakt erforderlich. Die Nation beruht auf einer
körperlichen und seelischen Gemeinschaft, die sich auf die Abstammung zurückführen lässt
(vgl. Bauch 1916, S. 7).
36 1 Nation
12 Wenn, so Bauer, die früheste Nation von Differenzierung betroffen ist, dann erleidet sie die
Folgen der Vermischung von Stammverwandtschaften (vgl. Bauer 1971, S. 34). Wenn die
Wechselheiraten zunehmend abnehmen, dann tritt die Kultur als diejenige Transferkomponente
zwischen den Generationen einer Nation in den Vordergrund, und zwar ist das zunächst nur die
Kultur der herrschenden Klasse. Vor diesem Hintergrund teilen Bauer und Neumann den Ak-
zent der Nation, den sie auf Kultur setzen.
1.1 Primat der Kultur 37
eigen ist“ (ebd., S. 89). Assimilation findet nur auf Seiten der Nation statt. Man
kann sich einer Nation zurechnen, ohne in sie hineingeboren zu sein, indem man
ihre Sprache übernimmt:
„Wer sich fremder Sprache fügt, fügt sich leicht auch fremden Wesen. Denn er ent-
zieht sich eben in mancher Beziehung bisherigen Kultureinflüssen und übergibt sich
anderen. Er lässt Geister und Geisteswerke auf sich wirken, die anderer Art als die
bisher ihn bestimmenden sind“ (ebd., S. 93).
Dass die Assimilation wesentlich für die Nation ist, bemerkt auch Kirchhoff.
Weil zu viele Nationen aus „Völkerbruchstücken“ bestehen, kann man nicht aus-
schließen, dass sich Menschen anderer Abstammung nicht einfügen lassen (vgl.
Kirchhoff 1905, S. 18). Seine Beispiele sind die amerikanische Nation, die
Schweiz, Belgien, Polen und das deutsche Reich, für das er auf die mehrsprachi-
gen Ostgebiete verweist. Darüber hinaus nennt er Spanien und Portugal als zwei
Beispiele, die zeigen, dass sich zwei Nationen aus einem Volk bilden können.
Diese beiden Beispiele konterkarieren ebenfalls eine im Wesentlichen auf Er-
blichkeit gegründete Nation, da er den beiden Nationen unterstellt, eine Ab-
stammung zu teilen.
Die Assimilationskraft soll sich insbesondere auf die wirtschaftlich niedrig
Stehenden auswirken. Neumann verweist zunächst auf die „unteren Klassen“,
die mittels Kultur in die Nation eingeführt werden. Bauer nennt sie die „Hin-
tersassen der Nation“, weil sie zwar von der nationalen Kultur weitestgehend
unberührt bleiben, deren Bewahrung durch ihre Arbeit aber mitfinanzieren (vgl.
Bauer 1971, S. 51). Das zweifache Vermögen der Nation veranschaulicht
Neumann folgendermaßen. Bei einem Vergleich der Bildungsfernen verschiede-
ner Länder wird man es nicht schwer haben, Gemeinsamkeiten aufzudecken,
wohingegen eine Konfrontation von Bildungsbürgern verschiedener Länder vor
allem Gegensätze hervortreten lässt (vgl. Neumann 1888, S. 94). Die Einheit in
der Bevölkerung einer Nation lässt sich allerdings mithilfe ihrer Kultur bewerk-
stelligen. Nur die „Sonderkultur“ (ebd., S. 76) einer Nation kann sich ausbreiten.
Dementsprechend werden kulturell abweichende Menschen sich dann entnatio-
nalisieren, wenn sie die eigene Sprache ablegen.13
„Eine Nation“, notiert Kirchhoff, „lässt ein gut Teil ihres Geistes in ihre Sprache
überströmen, so dass diese zum getreuen Spiegel ihres Genius, ihres Temperaments,
ihrer ganzen Lebensrichtung wird. Sicherlich ist nichts geeigneter in den geistigen
Bann einer Nation einzutreten, als wenn ein Fremder, der in ihrem Wohnraum sich
13 Bauers Überlegungen lassen sich daran anschließen. Er bemerkt: „Je stärker der Kultureinfluss
ist, je mehr der Einzelne den ganzen Reichtum der Kultur eines Volkes in sich aufnimmt und
in seiner Eigenart durch ihn bestimmt wird, desto eher kann er zum Glied der Nation werden,
am Nationalcharakter Anteil gewinnen, obwohl er nicht kraft der Naturgemeinschaft zu ihr ge-
hört. So ist selbst bewusste Wahl der Zugehörigkeit zu einer anderen Nation als der Nation un-
serer Geburt möglich“ (Bauer 1971, S. 116).
38 1 Nation
14 Hermann Heller dazu: „Die Politisierung dieser weltbürgerlichen Idee von der Kulturnation
vollzog sich immer und überall unter dem Drucke der Fremdherrschaft“ (Heller 1971, S. 450).
40 1 Nation
Außerdem hat es auch für das Individuum einen Vorteil, wenn es sich der Nation
freiwillig unterordnet. Die Orientierung an der Nation ermöglicht eine leiden-
schaftliche Initiative, die sich mit keiner anderen ihresgleichen messen lässt. Das
bestärkt das Individuum wie die Nation. Mehr noch:
„Und von allen den größeren Lebenskreisen, in die er sich hineinstellen kann, gibt es
wohl keinen, der so unmittelbar zum ganzen Menschen spricht, so stark ihn trägt, so
getreu seine ganze natürlich-geistige Wesenheit wiedergibt, so sehr Makroanthropos
und potenziertes Individuum selbst ist oder werden kann wie die Nation“ (ebd.).
Die Nation ermöglicht demnach wie kein anderes Kollektiv, das individuelle
Machtbewusstsein zu versorgen. Meinecke bringt gezielt die allgöttliche Vorstel-
lung ins Spiel, um auf die Wirkung des Ineinandergreifens von universalen und
nationalen Bedeutungen zu verweisen. Mit der Vorstellung von der Nation, die
sich auf der ganzen Welt erstreckt und welche die Welt überhaupt hat entstehen
lassen, kann man auslegen, dass die Nation mit der Menschheit zusammenfällt.
Wer im Sinne der Nation handelt, leistet ein Beitrag zur Vervollständigung der
Menschheit, und das begreift das Individuum, das sich der Nation hingibt, in der
Weise, dass es im Vergleich zu den Angehörigen anderer Nationen die höchsten
menschlichen Zwecke ausführt (ebd., S. 81). Diesem Denken zufolge ist die ei-
gene Nation universell und somit ist jeder Angehörige der Nation ein Prototyp
des Menschen (ebd., S. 71). Um die Nation zu behaupten, die mit der Mensch-
heit zusammenfällt, kommt nicht selten auch der Rekurs auf die Antike vor
(ebd., S. 79). Die Konsequenz dieser herrlich vorgestellten Deckungsgleichheit
zwischen der Nation und der Menschheit ist der Führungsanspruch dieser Nati-
on15 in der Welt der Nationen. Es ist die nicht seltene Tendenz der die Nation
betreffenden Geistesgeschichte seit dem 19. Jahrhundert, die Meinecke an-
spricht, nämlich die Anpassung universeller an nationale Ideen und umgekehrt.
Folglich entsteht eine in dieser Welt nicht zu überbietende Machtreferenz. Die
Zunahme der individuellen Entscheidungsfreiheit ist demnach eine Vorausset-
zung für die Staatsnation, die wiederum dem Individuum ein Maximum an
Machtbewusstsein beschafft.
Für Meinecke unterstützt die individuelle Entscheidungsfreiheit ferner des-
wegen die Staatsnation, weil sie dessen als rechtens reklamierte Herrschaft be-
stärkt. Er schreibt:
15 Gegen Meineckes Analyse der deutschen Nationalstaatsbildung mithilfe des Typus Kulturnati-
on hat man den Vorwurf gerichtet, er unterstelle die Überlegenheit der deutschen Kultur über
die westliche Zivilisation (vgl. Jansen/Borggräfe 2007, S. 14; Dann 1996, S. 49; Alter 1997, S.
42). Dass sich diese Auffassung den Reden Fichtes entnehmen lässt, legt Paul Barth offen. Ihm
zufolge legt Fichte die Reinheit der deutschen Sprache aus, denn nur diese sei unabhängig vom
Lateinischen. Hingegen beruhen andere romanische Sprachen auf dieser. Aus der Reinheit des
Deutschen schließe Fichte auf die geistige Besonderheit der Deutschen (vgl. Barth 1913, S. 40
f.).
1.1 Primat der Kultur 41
„Der größeren Aktivität der Individuen entsprach genau die größere Aktivität der
Nation, und die aktivste Form des modernen Nationalgedankens wurde der moderne
Nationalstaatsgedanke“ (ebd., S. 10).
Darin sieht er aber auch bisher nicht gekannte Schwierigkeiten. Da nämlich die
Staatsnation von den freigesetzten Individuen begünstigt wird, ist sie auch von
einer Nebenwirkung dieser neuen Autonomie betroffen. „Gleichzeitig indem die
Nation erstarkt, erstarken auch alle Lebenskreise innerhalb der Nation“ (ebd., S.
11). Was es den Individuen möglich macht, sich für die Nation einzusetzen, das
erlaubt ihnen auch, sich für Kollektive zu entscheiden, die zwar der Nation un-
tergeordnet bleiben, sich aber gegen andere ihresgleichen als die repräsentative
Kraft der Nation durchsetzen wollen. Die Folge der Gruppenvielfalt ist Rivalität
um die Führung der Nation. Die Zunahme der individuellen Entscheidungsfrei-
heit des Individuums fördert zwar die Staatsnation, sie fordert aber ebenfalls
ihren Zusammenhalt heraus. Folglich, so Meinecke, ist es hinsichtlich der Erhal-
tung der Staatsnation eine Anforderung für den Nationalstaat nicht einen umfas-
senden, sondern einen spezifischen Konsens, einen „Gottesfrieden“ und „gegen-
seitige Duldung“ zwischen den rivalisierenden Kontrahenten zu schaffen (ebd.,
S. 12). Er betont, dass es die zwischenzeitlich entstandene Verschiedenheit in-
nerhalb der Kultur der Nation zu erhalten gilt.
Meinecke, Neumann und Kirchhoff stimmen insofern überein, als ihnen der
Staat für die Nation entbehrlich ist, denn sie sprechen sich dafür aus, sie auf Kul-
tur abzustellen, wobei sie auch die geteilte Abstammung veranschlagen, auf wel-
che sie die Nation im Ursprung zurückführen. Aufgrund der von ihnen in den
Vordergrund gestellten Kultur, die ihren Arbeiten als etwas Dauerhaftes behan-
delt wird, das sich von Einflüssen unabhängig zeigt, lassen sich diese drei Ver-
fasser den Wissenschaftlern und Intellektuellen zuordnen, die mit dazu beigetra-
gen haben, den Begriffen Kultur und Zivilisation ihre jeweils universelle und
prozesshafte Eigenart zu nehmen, an deren Stelle zunehmend partikulare und
änderungsresistente Kollektivzuordnung treten. Genau das erarbeitet Elias. Er
bemerkt, es
„[…] verloren auch Begriffe wie `Zivilisation´ und `Kultur´ ihren Bezug auf Prozes-
se, auf fortschreitende Entwicklungen und wurden zu Begriffen, die auf unveränder-
liche Zustände verwiesen. Während sie anfangs, jeder auf seine Weise, als Symbole
des Wir-Bildes vorwärtsschauender Gruppen dienten, die eine emotional befriedi-
gende Grundlage für ihre Selbstachtung und ihren Stolz vor allem in allgemein hu-
manistischen und moralischen Werten und ihrem Beitrag zum kontinuierlichen Fort-
schritt der Menschheit fanden, dienten sie nun mehr und mehr als Symbole des Wir-
Bildes von Gruppen, die eine emotional befriedigende Grundlage für ihre Selbstach-
tung vor allem in den Leistungen ihrer kollektiven Ahnen fanden, um unwandelba-
ren Erbe und der Überlieferung ihrer Nation“ (Elias 1989, S. 176).
42 1 Nation
Die Änderungsresistenz dieses Typus der Nation schließt ein, dass sie nicht von
Kräften betroffen sein kann. Vor allem die Erarbeitung der beiden Typen in der
Studie Meineckes lässt erkennen, dass die Kulturnation gegenüber der Staatsna-
tion kausal unabhängig ist. Während es für letztere die Zunahme der individuel-
len Entscheidungsfreiheit, die Auswirkung der Idee der Selbstbestimmung, die
für die Durchsetzung eines Herrschaftsverbands notwendige Beseitigung der
Zwischengewalten und die von Seiten des Staates betriebene Pflege des Zusam-
menhalts braucht, setzt Meinecke im Falle der Kulturnation auf die Abstam-
mung. Daneben zeigt sich anhand seiner Bemerkungen über den Fall Elsass, dass
der Typus der Kulturnation von Einflüssen unbetroffen bleibt. Für ihn ist näm-
lich der Anschluss seitens Angehöriger einer Kulturnation an eine andere Nation,
die sich zur Staatsnation wandelt, aufgrund der ursprünglichen kulturnationalen
Herkunft ausgeschlossen. Die subjektiv entschlossene Zugehörigkeit zur franzö-
sischen Staatsnation von Seiten der Elsässer wird, so Meinecke, durch ihre Zu-
gehörigkeit zur deutschen Kulturnation verhindert (vgl. Meinecke 1919, S. 5).
Alle drei sind sich trotzdem der Inkonsistenz einer bloß auf gemeinsamer
Abstammung beruhenden Nation bewusst, die sich sodann mit der heterogenen
Wirklichkeit der Nationen als inkompatibel erweist. Die nachträgliche Assimila-
tion ist, ihnen zufolge, möglich16 und zumindest ist sie für Neumann explizit
wesentlich. Weil alle unterstellen, dass sich „Reste sog. Rassen- und Stammes-
unterschiede“ (Neumann 1888, S. 97), die „Stimme des Blutes“ (Kirchhoff 1905,
S. 46) oder ein „naturhafter Kern, der durch Blutsverwandtschaft entstanden ist“
(Meinecke 1919, S. 1), aus einer Nation nicht aussondern lassen, wird die Assi-
milation jener, die anfangs nicht einer Nation angehören, die Erbanlage der Na-
tion nicht vertilgen. Schließlich beruht die Assimilation, wenn sich neu Hinzu-
kommenden die nationale Sprache aufdrängt, auf der Dominanz der (Sonder-)
Kultur der Nation und somit ist ihre Expansion möglich, die ihre Macht begrün-
det und dies vor allem dann, wenn die Kultur die Ausweitung der staatlichen
Herrschaft unterstützt. Die Kulturnation kann also trotz der Aufnahmefähigkeit
ihre Einzigartigkeit bewahren und sie leistet der Entwicklung des Staates einen
Dienst.17 Für letzteres erweist sich die Zunahme der individuellen Entschei-
dungsfreiheit als nützlich. Während sie nämlich für Meinecke zwar auch die He-
terogenität der kollektiven Bindungen erhöht, trägt sie dazu bei, dass sich die
16 Daran schließt auch Heller an, für den Kultur nicht nur die Partikularität einer Nation be-
stimmt, sondern auch die Assimilation ermöglicht: „Es ist ein Schatz eigenständiger, in ihrem
inneren Geist einheitlicher Kulturgüter vorhanden, ein Kulturgut, dessen tieferes Erleben die
Kraft hat, nicht nur den Mitgeborenen, sondern auch den Fremdgeborenen in die nationale
Gemeinschaft einzugliedern“ (Heller 1971, S. 456).
17 Insbesondere hierfür kommt die Akzentuierung der Kultur dann zum Einsatz, wenn die Staats-
nationenbildung mehrere einzelne Herrschaftsverbände betreffen soll, denen man kulturelle
Eintracht unterstellt. Im Fall der deutschen Länder wird die Kulturnation, so Heinrich Winkler,
ins Spiel gebracht, weil die „partikularstaatliche Zersplitterung Deutschlands“ als ein „feudales
Relikt“ erachtet wurde (vgl. Winkler 1993, S. 13).
1.2 Abseits des Primats der Kultur 43
Angehörigen der Nation vorsätzlich hinter diese stellen und sich für ihre Belange
einsetzen.
tigen. Zur „kapitalistischen Zeit“ gehört die internationale Mobilität der Men-
schen, so dass es unweigerlich zu Interaktionen zwischen Angehörigen unter-
schiedlicher Nationen kommt. Ferner werden selbst diejenigen, die es immerfort
versäumen, Angehörige anderer Nationen zu begegnen, nicht deren Kenntnis-
nahme entkommen, weil man sich der zunehmenden Verfügbarkeit der Medien
und der medialen Thematisierung nationaler Qualitäten nicht entziehen kann
(ebd., S. 141). Für die Orientierung an Gemeinsamkeitsmerkmalen zwischen
Angehörigen einer Nation ist, ihm zufolge, eine Erfahrung unentbehrlich, und
das ist: nationale Differenz.
Inwieweit man für die Gemeinschaft einer Nation abseits von der Wirksam-
keit der Orientierung an Verschiedenheit bloß auf Kultur und vorwiegend auf
Sprache zählen kann, soll im Folgenden nachgegangen werden. Zwei, die eine
vordergründig auf Kulturgütern beruhende Nation nicht als zufrieden stellend
erachten und für die es hinsichtlich der nationalen Gemeinschaft nicht aus-
reicht,18 wenn sich die Angehörigen einer Nation bloß untereinander verständi-
gen können, sind Robert Michels und Max Weber.19 Anhand der Einwände ge-
gen die Rückführung der nationalen Gemeinschaft auf Gemeinsamkeitsmerkma-
le soll darüber hinaus der für das Vorhaben relevante Begriff der Nation 20 erar-
beitet werden.
18 Zweifel daran, dass nationaler Zusammenhalt auf Kultur beruht, meldet auch Francis an. Für
ihn kommt die Kulturnation zum Einsatz, weil sich mir ihr die Forderung aufstellen lässt, dass
eine Bevölkerung eine Einheit bilden soll, weil man ihr ein gemeinsames kulturelles Erbe
nachsagt (vgl. Francis 1965, S. 112).
19 Zum Verhältnis von Michels und Weber vgl. Genett 2008, S. 538 ff.
20 Für die Forschung zur Nation sind die folgenden Autoren relevant: Hans Kohn (1962) stellt das
Hervortreten der Nation in einen Zusammenhang mit der Französischen Revolution, er sieht
aber auch Ursprünge, die in der Antike liegen. Daher untersucht er nationale Merkmale auf
Seiten der Griechen und Juden in der Antike (vgl. Kohn 1962, S. 32). Karl W. Deutsch (1953)
untersucht, welche Funktion die Nation für die Herausbildung der modernen Gesellschaft übt.
Er stellt die Nation in einen Zusammenhang mit der Urbanisierung und der Modernisierung
von Wirtschaft und Bildung, die eine Ausweitung der Kommunikationsmöglichkeiten bewir-
ken. Er stellt heraus, dass es für die Angehörigen einer Nation wesentlich ist, untereinander
kommunizieren zu können: „It consists in the ability to communicate more effectively, and o-
ver a wider range of subjects, with members of one large group than with outsiders“ (Deutsch
1953, S. 97). Diese Kommunikation begleitet die Herausbildung moderner Gesellschaften. Er-
nest Gellner (1983) sieht einen Zusammenhang zwischen dem Hervortreten der Nation und der
Industrialisierung. In seiner Arbeit untersucht den Zusammenhang zwischen Industrialisierung
und einer homogenen Nationalkultur. Die Nation ist für ihn ein modernes Phänomen. Für
Anthony D. Smith (1991) sind die folgenden fünf Elemente konstitutiv für die Nation: ein his-
torisches Territorium, historische Erinnerungen und gemeinsame Mythen, eine gemeinsame
Massenkultur, gemeinsame Rechte und Pflichten und eine gemeinsame Wirtschaft (vgl. Smith
1991, S. 14). Benedict Anderson (2005) weist in seiner Arbeit darauf hin, dass sich die Ange-
hörigen einer Nation nicht allesamt kennen können, daher besteht die Nation nur als vorgestell-
te Gemeinschaft. „In der Tat sind alle Gemeinschaften, die größer sind als die dörflichen mit
ihren Face-to-face-Kontakten, vorgestellte Gemeinschaften“ (Anderson 2005, S. 16). Miroslav
Hroch (2005) legt ein Phasenmodell für die Nationenbildung vor. In Phase A trifft dominiert
1.2 Abseits des Primats der Kultur 45
Michels, der für Meinecke, einer Fußnote in seiner Studie zufolge, auf dem
zum Thema Nation stattfindenden Zweiten Deutschen Soziologentag von 1912
das einzige Referat „von größerem Werte“ gehalten hat (vgl. Meinecke 1919, S.
7), skizziert in seiner Studie Der Patriotismus (1929) im berühmten Kapitel Der
Fremde im Kriege einige Fälle der nationalen Regression von Assimilierten ei-
nerseits und der unaufgeforderten Assimilation an eine Nation andererseits. Auf
der Grundlage eines reichhaltigen Quellenapparats schildert er, wie sich Natura-
lisierte bei Ausbruch von Kriegen, an denen ihre Herkunftsländer beteiligt sind,
schlagartig ihrer vormaligen Zugehörigkeit bewusst werden, während es aus
gleichem Anlass auch dazu kommt, dass sich auf Seiten von Angehörigen einer
Nation, die sich im Ausland aufhalten, ein Nationalismus offenbart, der sogar
zum Bruch mit der eigenen Nation führt.
Michels berichtet als erstes von den so genannten Bindestrich-Amerikanern,
deren Einbürgerung nach ihrer Einwanderung in die Vereinigten Staaten erfolg-
te, ohne dass sich eine angemessene Überzeugung von den Rechten und Pflich-
ten oder ein entsprechendes Gefühl für die Bindung an die Nation entwickeln
konnte. Die Folge war: „Als gar der [Erste; C.A.] Weltkrieg ausbrach, schien
die ganze amerikanische Nation sich in ihre ursprüngliche Bestandteile aufzulö-
sen, das heißt in die Brüche zu gehen“ (Michels 1929, S. 168). Zu den aufgezähl-
ten Beispiele gehören u.a. die Folgenden: Unabhängig von konfessionellen und
regionalen Differenzen standen deutsche Einwanderer hinter Deutschland, iri-
sche Einwanderer positionierten sich gegen England und französische und italie-
nische Einwanderer nahmen Partei für ihre Herkunftsländer. Bereits zuvor mobi-
lisierte der Balkankrieg von 1912 die Eingewanderten aus Südosteuropa dazu,
die Remigration aus Amerika anzutreten, um in den Krieg in Europa zu ziehen.
Solche Vorgänge offenbarten der amerikanischen Nation „[…] das Schauspiel
der Desintegration ihres Neubürgerbestandes, der ihnen immer wieder von neu-
em das Bild besonderer Gruppenbildung im Gesamtvolk bot“ (ebd., S. 167).
Auf der anderen Seite richtet Michels die Aufmerksamkeit auf diejenigen
Angehörigen einer Nation, die sich in Kriegszeiten entweder im feindlichen Aus-
land oder in einem mit dem Kriegsfeind befreundeten Land aufhalten. Von der
„Treibhausatmosphäre des Krieges“ (ebd., S. 172) angesteckt, lassen sie sich
dazu hinreißen, entweder Partei gegen die eigene Nation zu ergreifen, oder sich
je nach Aufenthaltsort renitent zu positionieren. Michels verweist auf in
Deutschland lebende Schweizer, die sich während des Ersten Weltkriegs auf die
Seite der Deutschen stellten, hingegen unterstützten Schweizer, die sich in
Frankreich und England aufhielten, die Entente. Über eine englischen Gouver-
nante berichtet er, dass sie sich ebenfalls während des Ersten Weltkriegs freiwil-
die Orientierung an der Nation auf Seiten von Gelehrten; in Phase B beginnen die Gelehrten
die Orientierung an der Nation zu propagieren; in Phase C weitet sich die Orientierung an der
Nation in den Massen aus (vgl. Hroch 2005, S. 46).
46 1 Nation
lig auf die Seite Deutschlands schlagen wollte, aber von den deutschen Behörden
aufgrund von vaterlandslosem Benehmen abgelehnt wurde (ebd., S. 176). Sie
selbst hatte ihre Bereitschaft damit begründet, dass die Bindung an Deutschland
statt an ihre Heimat durch ihren langen Aufenthalt in Deutschland und die
freundschaftlichen Kontakte zu Deutschen zustande käme. Für die italienischen
Befreiungskriege gegen Österreich-Ungarn im 19. Jahrhundert verwendet Mi-
chels Quellen, in denen von denjenigen österreichischen und ungarischen Offi-
zieren, die in den Gebieten des heutigen Italien stationiert waren, berichtet wird,
dass sie sich nicht nur der italienischen Sache zugeneigt zeigten, sondern auch
Verrat übten (ebd., S. 175).
In den skizzierten Fällen treten Angehörige einer Nation ungeachtet der ei-
genen sprachlichen und kulturellen Herkunft sowie abseits der Abstammungs-
vermutung ihrer Nation in verfehdete Verhältnisse ein. Die Feindseligkeit gegen
die Kontrahenten seitens der nationalen Angehörigen ihres Aufnahmelandes
braucht sie nicht zu betreffen, trotzdem schließen sie sich der Auseinanderset-
zung an. Michels beschreibt das wie folgt:
„Der Einfluss des Milieus in Kriegszeiten wird durch die ansteckende Aufregung
der Massen, die beharrliche Energie der Presse über Gebühr gesteigert. Er erstreckt
sich auf die Fremden und sogar zum Teil auf die im Milieu lebenden Feinde selbst.
Bei in kriegführenden Ländern ansässigen feindlichen Ausländern, welche in neutra-
len, aber von ihrem Heimatlande ungünstig gesinnter Bevölkerung bewohnten Län-
dern ansässig sind, drängt der sie umgebende Hass gegen ihr altes Vaterland schwa-
che Naturen häufig zur Aufgabe ihres Volkstums“ (ebd., S. 171 f.).
Man kann im ersten Fall gegenüber den Eingebürgerten unterstellen, dass
sie aufgrund ihres gebürtigen Hintergrunds die Geltung ihrer neuen Zugehörig-
keit nicht vollkommen anerkennen werden, d.h. die Assimilation wird eine nati-
onale Ursprünglichkeit nicht endgültig eliminieren können. Im zweiten Fall zeigt
sich aber, dass sich die Einsatzbereitschaft für die Nation, die auf jener Ur-
sprünglichkeit beruhen kann, durchaus konterkarieren lässt, denn diese erweist
sich als unzuverlässig, weil nicht ausgeschlossen ist, dass die Angehörigen einer
Nation abtrünnig werden. Für beide Fälle gilt aber: Es sind Abgrenzungen bzw.
Oppositionen, die entschlossene Positionierungen mobilisieren.
Max Webers Überlegungen zur Nation lassen sich an Michels Auseinander-
setzug anschließen. Auf dem Zweiten Deutschen Soziologentag nimmt er nur
mit Diskussionsbeiträgen teil, die sich allesamt wie folgt überschneiden: Ein
bestimmter Kausalzusammenhang, aus dem in allen empirisch vorliegenden Fäl-
len die Nation resultiert, ist nicht feststellbar. In der empirischen Wirklichkeit ist,
sagt Weber, der Hergang, also der Prozess des sozialen Handelns, aus dem Ge-
meinschaft resultiert, für die nationale Gemeinschaft grundverschieden.21 Dass
21 Dass die Wirklichkeit der Nation variabel ist, weil deren Bildung in den einzelnen Fällen auf
heterogenen Ursachen zurückgeht, ist ein Hinweis, den bereits Dilthey gegeben hat, für den
1.2 Abseits des Primats der Kultur 47
„[…] die Begriffe [Volk und Nation; C.A.] selbst und ihre Abgrenzung historisch-relativ sind“
(Dilthey 1974, S. 352; Herv. im Orig.). Zu Dilthey und Weber vgl. Kaschuba 1993, S. 68.
22 Weber stellt die Rassenidee bereits auf dem Ersten Deutschen Soziologentag von 1910 in
Abrede: „Aber dass es heutzutage auch nur eine einzige Tatsache gibt, die für die Soziologie
relevant wäre, auch nur eine exakte konkrete Tatsache, die eine bestimmte Gattung von sozio-
logischen Vorgängen wirklich einleuchtend und endgültig, exakt und einwandfrei zurückführte
auf angeborene und vererbliche Qualitäten, welche eine Rasse besitzt und eine andere definitiv
– wohlgemerkt: definitiv! – nicht, das bestreite ich mit aller Bestimmtheit und werde ich so
lange bestreiten, bis mir diese eine Tatsache genau bezeichnet ist“ (Weber 1924, S. 459).
23 Anders Bauer, für den aus Partikularitäten des Körpers ein spezifisches Handeln resultiert. Er
notiert: „Erfahrungsgemäß ist Verschiedenheit des körperlichen Baus begleitet entweder un-
mittelbar von einer Verschiedenheit der Entschließung unter gleichen Umständen oder von ei-
ner Verschiedenheit der Erkenntnisfähigkeit und der Erkenntnisart, die dann ihrerseits wieder
eine Verschiedenheit der Entschließung, des Wollens erzeugt“ (Bauer 1971, S. 111). Zwar ge-
steht er, dass sich der Kausalzusammenhang nicht auflösen lässt, für seinen Begriff der Nation
beruft er sich aber trotzdem darauf. Diese lässt sich nicht aus dem Ganzen der Körpermerkma-
le von Angehörigen einer Nation herleiten, aber sie ist das Ergebnis der ihnen eigentümlichen
Reaktion, die sich ihrerseits abspielt, wenn sie bestimmten äußeren Bedingungen ausgesetzt
48 1 Nation
sind. Die Angehörigen anderer Nation gehen, ihm zufolge, mit identischen Bedingungen auf
andere Weise um, und zwar liegt das daran, dass jede Nation eine jeweils eigene Antwort im
„Daseinskampfe“ entwickelt hat und als in Form einer „angezüchteten körperlichen Eigenart“
an nachfolgende Generationen gibt (ebd.).
1.2 Abseits des Primats der Kultur 49
„Keineswegs jede Gemeinsamkeit der Qualitäten, der Situation oder des Verhaltens
ist eine Vergemeinschaftung. Z.B. bedeutet die Gemeinsamkeit von solchem biolo-
gischem Erbgut, welches als `Rassen´-Merkmal angesehen wird, an sich natürlich
noch keinerlei Vergemeinschaftung der dadurch Ausgezeichneten“ (Weber 2002, S.
22; Herv. im Orig.).
Stattdessen kann es dort zu Vergemeinschaftung auf der Grundlage von körperli-
chen Gemeinsamkeitsmerkmalen kommen, wo sich die miteinander handelnden
Menschen an der gemeinsamen Rassezugehörigkeit und an der gefühlten Zu-
sammengehörigkeit aufgrund dieser geglaubten rassischen Gemeinsamkeit orien-
tieren. Für die Wirksamkeit der augenscheinlichen Verschiedenheit ist es, so
Weber, belanglos, ob die Abgrenzung der angenommenen Rassenanderen auf-
grund körperlicher oder prestigespezifischer Komponenten erfolgt (vgl. Weber
2009, S. 42). Hinsichtlich des Verhältnisses von Nation und Rasse lässt sich für
ihn am skizzierten Einzelfall ablesen, dass die Einheit der amerikanischen Nati-
on unterstellte Rassengrenzen mal überschreitet und mal an ihnen haltmacht.
Somit kann er nachweisen: Die amerikanische Nation ist nicht deckungsgleich
mit Rasse. Das wesentliche Moment der Nation ist daher ebenfalls nicht Rasse.
Nichtsdestoweniger kann, erwähnt er, der Rasseglauben eine Wirkung für das
Bestehen einer Nation ausüben, nämlich insoweit er Gemeinschaft und das daran
orientierte Handeln stiftet, nur ist der Rasseglaube nicht unentbehrlich für Nati-
on. „Und vollends ist Gemeinsamkeit eines spezifischen anthropologischen Ty-
pus zwar nicht einfach gleichgültig, aber weder ausreichend zur Begründung
einer `Nation´, noch auch dazu erforderlich“ (Weber 2009, S. 74). Was für den
Handlungshergang einer Vergemeinschaftung bedeutsam ist, macht nicht das
Wesen der Nation aus.
Neben der Rasse ist es die Sprachgemeinschaft, deren Zusammenfallen mit
Nation Weber zurückweist. Er nennt die Elsässer, an denen sich zeigt, dass „[…]
auch sonst heterogene Völker zusammengeschweißt werden können“ (Weber
1913, S. 50). Es ist für ihn kein Anlass zur Irritation, dass sich die deutschspra-
chigen Elsässer nicht für die Zugehörigkeit zum Deutschen Reich entscheiden
und sich stattdessen zur Französischen Nation zählen. Das Moment der nationa-
len Zugehörigkeit, das im Deutschen Reich zum Tragen kommt, bleibt im Fall
der Elsass-Deutschen wirkungslos, hingegen zeigt sich die Anziehungskraft als
wirksam, die in Frankreich für die nationale Vergemeinschaftung dominiert. An
anderer Stelle erwähnt er die oberschlesischen Polen, um an ihnen diejenigen
Angehörigen des Deutschen Reiches zu veranschaulichen, die, ihm zufolge, bloß
„passive `Preußen´“ sind, sich also gegenüber dem preußischen Herrschaftsver-
band indifferent zeigen, ohne aber ein Streben nach einem eigenen Nationalstaat
aufzuweisen und ohne sich aufgrund der Sprachverschiedenheit zu den Deut-
schen gegen sie abgrenzen zu wollen (vgl. Weber 2009, S. 51). Anders als die
oberschlesischen Polen verhalten sich die baltischen Deutschen, auf die Weber
als nächstes hinweist. Sie machen ebenfalls keine nationale Differenz auf der
50 1 Nation
Grundlage der Sprache oder einen Anspruch auf Vereinigung mit dem Deut-
schen Reich geltend, beharren aber auf ständische Abgrenzung „von der slavi-
schen Umwelt“ (ebd., S. 51). Zudem stehen sie stärker als „irgendein `National-
russe´“ hinter dem politischen Verband, und das nicht zuletzt deswegen, weil sie
vielfach Beamtenstellen besetzen. „Hier fehlt also ebenfalls alles, was man im
modernen, sprachlich oder kulturell orientierten Sinn `Nationalgefühl´ nennen
könnte“ (ebd.). Was für Elsass-Deutsche, oberschlesische Polen und baltische
Deutschen zutrifft, das ist auch im Falle von Amerikanern, Iren und Engländern
erkennbar, die er als nächstes skizziert. Obwohl sie, so Weber, einer einzigen
Sprachgruppe angehören, bilden sie mehr als nur eine Nation. Mit anderen Wor-
ten: In den zuletzt genannten Fällen kann also eine Nation für sich eine einheitli-
che Sprache reklamieren, nur ist diese mit der Sprache einer anderen Nation
identisch.
Obwohl vielfach Nationen die eigene Besonderheit durch das „Massenkul-
turgut“ der Sprache erklären, lehnt es Weber dessen ungeachtet ab, den Begriff
der Nation auf Sprache abzustellen (ebd., S. 75). Zum einen zeigt die Aufteilung
in der Wirklichkeit der Nationen, dass es solche gibt, in denen unterschiedliche
Sprachgruppen eine Einheit bilden. Es kann sogar vorkommen, dass eine dieser
Sprachgruppen die Sprache der Nachbarnation spricht oder dass sie sich von
derjenigen Nation absondert, deren Amtssprache die eigene ist. Zum anderen
lassen sich unterschiedliche Nationen einer einzigen Sprachgruppe zuordnen,
d.h.: Es gibt unterschiedliche Nationen, die allesamt die gleiche Sprache spre-
chen. Wenn also Sprache das wesentliche Kriterium der Nation sein soll, dann
zeigt sich vorwiegend die Heterogenität der Nationen, als dass sich deren Zu-
sammenfallen mit Sprachgemeinschaft ergibt. So wie ein Sprachunterschied für
die Bildung einer Nation kein Hindernis sein muss, kann nationale Abgrenzung
ungeachtet der Spracheinheitlichkeit bestehen. Auf gemeinsame Sprache folgt
nicht unmittelbar die gefühlte Zusammengehörigkeit, denn zunächst trägt die
Sprache lediglich zur Erleichterung von Interaktionen bei. Nur wenn die Verge-
genwärtigung der gemeinsamen Sprache zur Abgrenzung dient, wirkt sie als
Moment der Vergemeinschaftung:
„Erst die Entstehung bewusster Gegensätze gegen Dritte kann für die an der Sprach-
gemeinsamkeit Beteiligten eine gleichartige Situation, Gemeinschaftsgefühl und
Vergesellschaftungen, deren bewusster Existenzgrund die gemeinsame Sprache ist,
stiften“ (Weber 2002, S. 23).
Nation ist für Weber demnach nichts, was aus einer Sprachgemeinschaft hervor-
geht (vgl. auch Hertz 1927, S. 33 f.; Francis 1965, S. 81). Nichtsdestoweniger
konstatiert er, dass es meist monolinguale Nationalstaaten gibt, und wenn nicht,
dann kommt für die nationalstaatliche Verwaltung in der Regel nur eine Sprache
vor:
1.2 Abseits des Primats der Kultur 51
„In der Tat ist heute der `Nationalstaat´ mit `Staat´ auf der Basis der Spracheinheit-
lichkeit begrifflich identisch geworden. In der Realität stehen neben politischen
Verbänden, und zwar solchen modernen Gepräges auf `nationaler´ Basis in diesem
sprachlichen Sinn, in erheblicher Zahl solche, die mehrere Sprachgemeinschaften
umschließen und meist, aber nicht immer, für den politischen Verkehr eine Sprache
bevorzugen“ (Weber 2009, S. 50).
Außerdem bemerkt er, dass gemeinsame Sprache für Nationen besonders wirk-
sam ist, um innerhalb ihrer Angehörigen soziales Handeln beruhend auf gefühl-
ter Zusammengehörigkeiten zu ermöglichen, nur schränkt er für den Begriff Na-
tion ein: „Auch sie [die Sprache; C.A.] ist weder ganz unentbehrlich noch allein
ausreichend“ (Weber 1913, S. 51).
Dass die Angehörigen einer Nation eine einheitliche Sprache sprechen, ist
somit weniger selbstverständlich, als es diese für die Verwaltung eines modernen
Nationalstaates ist. Eine einheitliche „Literatursprachgemeinschaft“ wie z.B. die
Deutschlands, sagt Weber, erhält die entscheidende Note ihrer Entwicklung, in-
dem ein „Dialekt“ herrschaftlich zur Sprache der amtlichen Schriftsätze einer
staatlichen Bürokratie durchgesetzt wird (vgl. Weber 2002, S. 541). Warum eine
einheitliche Sprache für sie unerlässlich ist, ergibt sich wie folgt: Was die Über-
legenheit der modernen Bürokratie des Staates, aber auch der Wirtschaftsunter-
nehmen auszeichnet, das ist für Weber deren spezifischer Mechanismus, der sich
analog zum Mechanismus einer Maschine im Vergleich zur nicht-mechanischen
Produktion von Gütern verhält. Konkret:
„Präzision, Schnelligkeit, Eindeutigkeit, Aktenkundigkeit, Kontinuierlichkeit, Dis-
kretion, Einheitlichkeit, straffe Unterordnung, Ersparnisse an Reibungen, sachlichen
und persönlichen Kosten sind bei streng bürokratischer, speziell: monokratischer
Verwaltung durch geschulte Einzelbeamte gegenüber allen kollegialen oder ehren-
amtlichen und nebenamtlichen Formen auf das Optimum gesteigert“ (ebd., S. 561
f.).
Die konsequente und möglichst beschleunigte Durchführung von Amtgeschäften
beruht im Wesentlichen auf den genannten Charakteristika der modernen Büro-
kratie, und sie sind im Besonderen, akzentuiert Weber, der zentralisierten Herr-
schaft und dem Kapitalismus willkommen. Wo aber Verwaltungsstellen primär
auf der Grundlage von feudalen und patrimonialen Vorrechten besetzt werden,
da liegen jene Charakteristika in ihrer Gesamtheit nicht vor und da wird die Bü-
rokratie nicht das mögliche Optimum erreichen. Zu ihren Bedingungen zählt
schließlich eine „mindestens relative, Nivellierung der ökonomischen und sozia-
len Unterschiede“ (ebd., S. 567). Mit anderen Worten: Die sachlichen Betriebs-
mittel haben nicht in der Hand der Verwaltenden zu sein und das setzt sich im
modernen Staat durch (vgl. Weber 1994, S. 40). Zu den wichtigen Instrumenten
für die „Enteignung“ des persönlichen Verwaltungseigentums zählt Weber das
Bildungswesen. Die zunehmende Dominanz der fachspezifischen Bildungsgänge
52 1 Nation
verdankt sich dem Bedarf der modernen Bürokratie, für deren Zwecke der An-
satz alles zu lehren, eine hinfällige Aufstellung der Bildung darstellt. Zum Out-
put der modernen Kultur von Erziehung und Bildung gehört nicht der Universal-
gelehrte, sondern das „Berufs- und Fachmenschentum“ (vgl. Weber 2002, S.
576). Moderne Bürokratie ist ausschließlich auf spezifische Qualifikationen an-
gewiesen, sie funktioniert als „geronnener Geist“ (Weber 1924, S. 151). Ermitt-
lung und Dokumentation der Fachbildung ist Sache der Fachprüfung und des
Fachzeugnisses. Schließlich garantiert diese Verfahrensweise die „[…] `Auslese´
der Qualifizierten aus allen sozialen Schichten an Stelle der Honoratiorenherr-
schaft“ (Weber 2002, S. 576). Wo also Bildung als Kriterium für die Besetzung
von Verwaltungsstellen ausschlaggebend wird, da werden die „Abkömmlichen“
als Stelleninhaber verdrängt. Somit kann ein Amt nicht mehr ohne Entgelt, also
von denjenigen ausgeführt werden, deren Tätigkeit für ihre eigentliche Einkom-
mensquelle belanglos und daher disponibel ist (vgl. Weber 2002, S. 170). Kehr-
seite der Verdrängung der Abkömmlichen ist die Konzentration der Betriebsmit-
tel der Verwaltung in der Hand des Staates, der sie – „ein Machtmittel allerersten
Ranges“ (ebd., S. 570) – finanziert und auf diese Weise kontrolliert.
Daran lässt sich Michels anschließen: Eine sprachlich heterogene Wohnbe-
völkerung wird, ihm zufolge, von der Zumutung betroffen sein, sich sprachlich
anzupassen, weil es für den Staat unerlässlich ist, dass die bürokratische Kom-
munikation bis an seine territorialen Grenzen in einer Sprache abläuft (vgl. Mi-
chels 1913, S. 166).24 Die Durchsetzung einer einzigen Schriftsprache zur Kon-
zentration moderner Herrschaft erfolgt, so Francis, als eine Nivellierung der Be-
völkerung beruhend auf dem demokratischen Prinzip, damit jenseits der ständi-
schen Privilegien mehr Offenheit für anzubietende Leistungen erreicht werden
kann (vgl. Francis 1965, S. 95).25 Insofern also der störungsfreie und eindeutige
Ablauf der Verwaltungsaufgaben auf Einsprachigkeit angewiesen ist und Bil-
dungspatente die Konzentration der Verwaltung unterstützen, ist Spracheinheit-
lichkeit ebenso modern wie der auf Bürokratie gestützte Staat.26 Die Monolingu-
alität einer Nation ist daher weder überhistorisch noch naturwüchsig, sondern
steht in Verbindung mit dem zweckrational erzielten Optimum der Verwaltung.
Die Homogenität einer nationalen Sprache innerhalb der Angehörigen einer Na-
24 Ein Problem, das sich hierbei ergibt, betrifft, so Hobsbawm, die Auswahl der des Dialekts, aus
dem die einheitliche Nationalsprache gemacht wird (vgl. Hobsbawm 2005, S. 68).
25 Ferner muss gewährleistet werden, dass die Wohnbevölkerung eines Staates nicht nur von den
Gesetzen, von denen sie betroffen ist, Notiz nimmt, sondern dass sie die Regelungen auch ver-
steht. Zum Problem wurde dieser Umstand in der Folge der Französischen Revolution, als ge-
währleistet werden musste, dass die Verfassung und die administrativen Neuregelungen für al-
le Sprachgruppen der neuen Republik verständlich sein mussten (vgl. Francis 1965, S. 117 f.).
26 Vgl. auch Bauer 1971, S. 89.
1.2 Abseits des Primats der Kultur 53
tion ist daher jüngeren Datums, da sie als Instrument zur Durchsetzung und Aus-
dehnung der legalen Bürokratie zum Einsatz kommt. 27
Für Weber ist die Nation keine notwendige Entwicklungsetappe von
Sprachgemeinschaften, er bemerkt aber, dass die Sprache von allen Kulturgütern
dasjenige ist, das für den Hergang der Gemeinschaft einer Nation am wirksams-
ten ist. Gegenüber der Kunst erfordert sie nämlich weitaus weniger Schulung, sie
ist zugänglicher. Weil aber die Gesamtheit der Kulturgüter einer Nation seitens
ihrer Angehörigen nicht unisono mit dem gleichen Ansehen besetzt werden, lässt
sich Nation kaum auf Kultur abstellen.28 Webers Hinweis in einem Diskussions-
beitrag auf dem Soziologentag dazu lautet:
„Gemeinsame `Kulturgüter´ können also ein einigendes nationales Band abgeben.
Auf den objektiven Wert dieser Kulturgüter kommt es dabei aber gar nicht an und
deshalb darf man `Nation´ nicht als `Kulturgemeinschaft´ fassen“ (Weber 1913, S.
50).
Die Orientierung an Kulturgütern reicht, ihm zufolge, nicht aus, um nationale
Zusammengehörigkeiten zu bewirken.29 Die Existenz eines Kulturguts, auf des-
sen Grundlage unterschiedliche Menschen mit abweichender Bildungsherkunft
zueinander finden können, stellt Weber infrage (ebd., S. 73;). Die Kultur einer
Nation wird allerdings meist von denen in den Vordergrund gestellt und somit
als das wesentliche Kriterium der Nation bestimmt, die sich als die berufsmäßi-
27 Auch Dilthey zweifelt an der Sprachhomogenität. Er schreibt: „Wann bildete sich die deutsche
Volkseinheit, die dann politisch unter Ludwig dem Deutschen konstituiert wurde? Im Mittelal-
ter dann ist die Spracheinheit doch infolge der Verschiedenheit der Mundarten in den Stämmen
nur relativ“ (Dilthey 1974, S. 353). Benedict Anderson wiederum sieht in der kapitalistischen
Ausrichtung des Buchmarkts einen Grund für die Ausweitung der Nationalsprachen; die Nut-
zung gleicher Schriftmedien unterstützt die „anonyme Gemeinschaft (vgl. Anderson 2005, S.
52 ff.). Anderson Arbeit veranlasst Beck zur folgenden Charakterisierung: „Nationen sind also
Zeitungsleser-Nationen“ (Beck 1994, S. 116; Herv. im Orig.).
28 Ludo Moritz Hartmann nimmt, was die Bedeutung der Kulturgüter für die Nation angeht, in
seinem Vortrag auf der Tagung kein Blatt vor dem Mund: „Man darf nicht vergessen, dass in
jedem Lande, insbesondere in Österreich, dem klassischen Lande des nationalen Kampfes,
noch Millionen – um mit Bauer zu sprechen – Hintersassen der Nation, Analphabeten und
schwerbelastete Kulis, die niemals die Namen Goethe und Kant gehört haben, existieren“
(Hartmann 1913, S. 90). Michels verweist in seinem Redebeitrag sogar darauf, dass Kultur ein
Ausschlusskriterium für Nation ist: „Dennoch ist das Unterfangen, die Zugehörigkeit zur Nati-
on an der Teilnahme des einzelnen an ihren Kulturgütern bemessen zu wollen, wohl eine Ver-
ringerung des Begriffes der Nation selbst. Als unumgängliche Vorbedingung der Zugehörig-
keit zur Nation wäre das Kriterium des Besitztums an nationaler Kultur einer Guillotine ver-
gleichbar, welche der Nation die Mehrzahl ihrer Köpfe abschneidet“ (Michels 1929, S. 52).
Hertz lehnt die Identifikation von Kultur und Nation ab, weil sie mit den inneren Gegensätzen
einer Nation kollidiert. Ihm zufolge beruht die Identifikation auf dem „Kulturhochmut“ ihrer
Protagonisten, so dass ein solcher Begriff der Nation wissenschaftlich wenig tauglich ist (vgl.
Hertz 1927, S. 54).
29 Zu Webers ablehnender Haltung gegenüber der Identifikation von Kultur und Nation vgl.
Breuer 1994, S. 136.
54 1 Nation
gen Repräsentanten der nationalen Kultur begreifen, und das sind die Intellektu-
ellen. Sie machen die alle anderen Kulturen übertreffende Vortrefflichkeit der
eigenen Kulturgüter explizit und das ermöglicht das Machtprestige der nationa-
len Kultur und nicht zuletzt ihr eigenes individuelles Machtprestige (vgl. Weber
2009, S. 76). Wo sich Machtprestige bereits durch den Bezug auf einen Staat
speist und somit die Pflege der Staatsidee zur Pflege des Machtprestiges beiträgt,
da tritt, so Weber, wenn die Intellektuellen das Machtprestige der Kultur ergän-
zen, die „Idee der `Nation´“ hinzu. Auf den letzten Seiten vor Abbruch des Ma-
nuskripts Gemeinschaften sind einige wichtige Überlegungen Webers überliefert,
die über den spezifischen Beitrag der Intellektuellen hinsichtlich des Hervortre-
tens der Nation informieren: Dem Wirken der Intellektuellen30 verdankt sich die
spezifische Equipierung der Nation, mit der sich ihre Vortrefflichkeit nicht nur
rechtfertigen lässt, sondern mit der sie sich besonders dafür anbietet, sich an ih-
rer Überlegenheit zu orientieren, um sich das schließlich selbst zu unterstellen.
Weber notiert hierzu, „[…] dass die Idee der `Nation´ bei ihren Trägern in sehr
intimen Beziehungen zu `Prestige´-Interessen steht“ (ebd., S. 77). Von Vorteil ist
es für die Intellektuellen, ein Sendungsbewusstsein zu vertreten, an das die Be-
stimmung geknüpft ist, die kulturelle Partikularität der Nation zu pflegen und zu
erhalten. Weil, so Weber, jede Mission, die für eine Nation einzutreten behaup-
tet, um deren Eigenart willen antritt, kann sie „nur als eine spezifische `Kultur´-
Mission vorgestellt werden (ebd.). Wird die Mission in die Tat umgesetzt, dann
geschieht das auf dem Weg des Werbens für die Bewahrung der kulturellen Par-
tikularität, deren Vortrefflichkeit sich mit keiner anderen ihresgleichen messen
lässt. Heißt die Aufgabe der Mission, die nationale Sonderkultur bis in die Ewig-
keit zu bewahren, dann wird das damit begründet, dass die Nation gegenüber
anderen Nationen etwas voraus hat, nämlich die „Erstgebürtigkeit“ (vgl. Michels
1929, S. 10). Das erlaubt schließlich, die Einzigartigkeit der Nation auszuweisen.
Man kann somit behaupten, die Nation ist anderen Nationen ein Vorbild.
Dass die Intellektuellen es sich zur Pflicht machen, die unerreichbare Vor-
bildlichkeit ihrer eigenen nationalen Kultur missionarisch zu behüten, erweist
sich für sie deswegen von Nutzen, weil sie sich als die vorwiegenden Schöpfer
der Kultur einzig als geeignet für diese Aufgabe erachten und weil sie somit die
Führung der zur Kulturgemeinschaft erklärten Nation übernehmen können (vgl.
Weber 2009, S. 77). Insofern die Intellektuellen die Nation auf eine Kultur-
Mission abstellen und sie diese zwar motiviert, bloß ihretwegen Sorge für die
Kultur zu tragen, ihnen das aber ein Machtprestige ermöglicht, weil in ihrem
Denken nur sie die standesgemäßen Vertreter der Kultur sind, überwinden sie
jene durch die Orientierung an der Mission hergestellte Einheit der Nation. Sie
sind, wenn die Mission die Nation zur Elite unter den Nationen macht, das, was
Michels ein „Eliten-Superlativ“ innerhalb der Eliten-Nation nennt (vgl. Michels
1929, S. 51; 1927, S. 197) und was Hertz veranlasst, die Kulturnation aufgrund
ihrer inneren Kulturgradunterschiede einen „Gradbegriff“ zu nennen (vgl. Hertz
1927, S. 59). Die beruflich zweckmäßige Intention der Intellektuellen, die Nation
auf Kultur abzustellen, konterkariert somit die Nation, weil sie sich von den üb-
rigen Angehörigen der Nation absondern.
Weber und Michels rechnen den Beitrag der Intellektuellen für die Veran-
lassung zum Handeln zugunsten der Nation an, da der Hinweis ihrerseits auf die
Orientierung an der nationalen Sonderkultur überhaupt das Eintreten für die Na-
tion unterstützt. Michels bemisst die Agitation und das Lancieren der Mission
der Nation sogar für das Voranschreiten der Zivilisation, weil sie kollektive
Emanzipation bewirkt (vgl. Michels 1929, S. 11). Er schlägt aber vor, die Agita-
tion seitens der Intellektuellen zu differenzieren. Ihre nationalistische Aufforde-
rung kann tatsächlich ein „Kulturbedürfnis“ verfolgen oder sie ist ein Ausdruck
nationaler „Megalomanie“. Nichtsdestoweniger reicht die Kultur-Mission dem
Begriff der Nation nicht aus, denn schließlich trägt die Anmaßung der Intellektu-
ellen dazu bei, dass sie sich innerhalb der Nation abheben. Für die Kultur-
Mission gilt das, was Weber ebenfalls an Rasse, Sprache und Kultur reklamiert:
Sie alle können zwar Momente der Gemeinschaft der Nation sein, für deren
Existenz sind sie aber nicht unentbehrlich.
Was die Menschen bewegen kann, auf der Grundlage gefühlter Zusammen-
gehörigkeit miteinander zu handeln, ist hinsichtlich der Nation wie für einen
anderen Sachverhalt grundverschieden, und das ist: die ethnische Gruppe. Wie
im Fall der Orientierung an Rasse beruht die Vergemeinschaftung als Typus des
Handelns beim Handlungshergang der ethnischen Gruppe nicht ausschließlich
auf Gemeinsamkeitsmerkmalen der Handelnden. Die Existenz einer partikularen
biologischen, also rassischen Erbkomponente, die Handeln überhaupt und im
Speziellen solches Handeln mobilisiert, aus dem sich eine Gemeinschaft bildet,
ist, so Weber, nicht nachweisbar. Rasse besteht demnach nur als Orientierung.
Eine Übereinstimmung zwischen der Orientierung an Rasse und an ethnischen
Komponenten lässt sich einem der Untersuchungsanliegen entnehmen, auf denen
sein Manuskript Gemeinschaften beruht: Weber geht den gemeinschaftsbilden-
den Faktoren nach, auf die sich abseits der Unterstellung über die Gemeinschaft
an sich eine Gemeinschaft auf der Basis des Handelns zurückführen lässt (vgl.
Weber 2009, S. 16). Eine unabhängig vom Handeln bestehende Gemeinschaft
sieht Weber nicht vor. Zur Klassifikation der „Gemeinschaftsarten“ gehört u.a.
die Trennung zwischen erstens der faktischen Blutsverwandtschaft, die in den
Fällen der Hausgemeinschaft oder der Sippe vorliegt und zweitens der vermeint-
lichen Blutsverwandtschaft, dem der bisher aufgedeckte Rassenglaube zugeord-
net wird. Diese Blutverwandtschaft kann allerdings ungeachtet der fehlenden
Tatsächlichkeit eine enorme Wirksamkeit schaffen. Um als nächstes auf die eth-
nische Gruppe stoßen zu können, ist es hilfreich, zunächst Webers Überlegungen
zur gemeinschaftsbildenden Kraft der Sippe nachzugehen.
56 1 Nation
Die Blutsverwandtschaft der Sippe stimmt nicht mit der Beziehung zwi-
schen Mutter und Kind überein, da die Sippe deren Gemeinschaft überschreitet
(ebd., S. 23). Die Vergemeinschaftung zwischen Mutter und Kind ist eine Ver-
sorgungsgemeinschaft und erfolgt daher, so Weber, „urwüchsig“. Die Sippe geht
aus der Kernfamilie hervor, nämlich aus denen, „[…] die aus der Hausgemein-
schaft durch Teilung und Ausheirat ausgeschieden sind, und deren Nachfahren“
(ebd., S. 24). Die tatsächliche Verwandtschaft an sich reicht allerdings nicht aus,
damit sich das soziale Handeln, das einer Vergemeinschaftung entspricht, inner-
halb einer Sippe wie eine Reflexbewegung abspielt. Schließlich kann man zum
einen verschiedenen Sippen angehören und zum anderen können Sippenangehö-
rige in verschiedenen Herrschaftsverbänden und ebenfalls in verschiedenen
Sprachgruppen integriert sein (ebd., S. 30), so dass insbesondere das nicht aus-
geschlossen sein kann, was der „radikalste Gegensatz“ zur Vergemeinschaftung
ist (vgl. Weber 2002, S. 22), nämlich die Opposition innerhalb einer Sippe.
Zu den Momenten der Interaktion der Sippenangehörigen gehört u.a. das
Folgende: „Sie [die Sippe; C.A.] schafft vermittelst der Blutrachepflicht eine
persönliche Solidarität ihrer Angehörigen gegen Dritte […]“ (Weber 2009, S.
24). In diesem Fall tritt man einer Opposition, an der die Sippe beteiligt ist, um
der Sippenzugehörigkeit willen unterstützend bei. An die Blutrachepflicht knüpft
sich frühzeitig die Vorstellung, dass der gemeinsame Einsatz von Gewalt recht-
mäßig ist (ebd., S. 61), d.h. gewaltsames Handeln erfolgt nicht im Hinblick da-
rauf, einen Gewinn auf der Grundlage der Kalkulation von Kosten und Nutzen
zu erzielen oder schlicht aus Gefallen an der Gewalt, sondern die Sippenangehö-
rigen glauben an die Richtigkeit der Zumutung, für das Ansehen der Sippe gege-
benenfalls gewaltsam einzutreten. Wenn die Pflicht abverlangt, im Falle des ver-
letzten Ansehens füreinander Unterstützung zu leisten, dann ist das eine Zumu-
tung, die erfordert, gemeinsam in einer Opposition zu bestehen und schließlich
führt das, im Denken Webers, dazu, dass sich die Sippenangehörigen aufgrund
gefühlter Zusammengehörigkeit aneinander orientieren. Weber nennt die Sippe
aus diesem Grund eine „Schutzgemeinschaft“ (ebd., S. 24). Von den Sippenan-
gehörigen wird erwartet, dass sie sich Solidarität nach außen zum Grundsatz
machen. Sippe allein ist also nicht hinlänglich dafür, dass das Handeln der Sip-
penangehörigen gemäß dessen erfolgt, was dem Typus der Vergemeinschaftung
genügt, sie also das jeweilige Handeln ihrerseits aufgrund einer gefühlten Zu-
sammengehörigkeit aneinander orientieren. Wer allerdings von der Sippe einge-
schlossen ist, das ist durch die tatsächliche Verwandtschaft bestimmt, welche die
verschwägerten Nichtblutsverwandten einschließt. Mit der Verwandtschaft ist
daher geregelt, wer zur Sippe gehört, nur bringt selbst in ihrem Fall die Ver-
wandtschaft nicht die Vergemeinschaftung innerhalb der Sippe hervor.
Im Fall der ethnischen Gruppe liegt etwas anderes vor. Während die tat-
sächliche Verwandtschaft auf der Grundlage von Abstammung und Verschwäge-
rung für die Vergemeinschaftung innerhalb der Sippe als Orientierung für das
1.2 Abseits des Primats der Kultur 57
Handeln bedeutsam ist, kann dieser Typus des Handelns innerhalb einer Gruppe
erfolgen, wenn die Orientierung an einer Gemeinsamkeit vorliegt, von der man
glaubt, sie gehe auf eine Stammverwandtschaft zurück, nur ist es gleich, ob diese
faktisch besteht oder nicht. Weil bereits vom Glauben daran, dass eine Gruppe
eine gemeinsame Abstammung beruhend auf spezifischen Qualitäten besitzt,
eine Vergemeinschaftung unterstützt, erweist sich der ethnische Gemeinsam-
keitsglaube spezifisch begünstigend für Vergemeinschaftung (ebd., S. 44). Ge-
meinsame ethnische Qualitäten reichen dieser Vergemeinschaftung allerdings
nicht aus, denn: „Die Abstoßung ist dabei das Primäre und das Normale“ (ebd.,
S. 41).31 Wenn die Angehörigen einer Gruppe die von ihnen geteilte Qualität zur
Kenntnis nehmen, fördert der an gemeinsame Qualitäten anknüpfende Stamm-
verwandtschaftsglaube die Vergemeinschaftung, sobald sich die Angehörigen
veranlasst sehen, sich insgesamt von denjenigen abzugrenzen, die an der ethni-
schen Gemeinsamkeit nicht teilhaben.32 Damit sich Vergemeinschaftung ereig-
net, erweist sich die Abgrenzung in einem spezifischen Fall als wirksam, und
zwar wenn diejenigen, die ethnische Qualitäten teilen, angewiesen sind, eine
Aggression von außen abzuwehren oder aggressiv nach außen zu handeln. Zu
diesen gelegentlich auftretenden Verteidigungs- und Angriffsanlässen gehört
ferner, dass in der ethnischen Gruppe eine Solidaritätspflicht gilt (ebd., S. 49).
Wenn man, betont Weber, eine gemeinsame Opposition zu bestreiten hat, tritt
eine außerordentlich stabile Vergemeinschaftung ein, an der auch der Stamm-
verwandtschaftsglaube erkennbar wird. Zudem wirkt sich die Missbilligung des-
jenigen, der sich der Solidaritätspflicht entzieht, auf die Orientierung an der ge-
fühlten Zusammengehörigkeit der Übrigen aus.
31 Michels dazu: „Ohne das soziale Band ist die Stimme des Blutes für die Herausbildung von
Solidaritäten völlig bedeutungslos“ (Michels 1929, S. 133). Und Elias Canetti: „Die sicherste
und oft einzige Möglichkeit für die Masse, sich zu erhalten, ist das Vorhandensein einer zwei-
ten Masse, auf die sie sich bezieht. Sei es, dass sie im Spiel einander gegenübertreten und sich
messen, sei es, dass sie einander ernsthaft bedrohen, der Anblick oder die starke Vorstellung
einer zweiten Masse erlaubt der ersten nicht zu zerfallen“ (Canetti, 2006, S. 71; Herv. im O-
rig.)
32 Darauf insistiert auch Francis: Es reicht nicht aus, dass spezifische Qualitäten einer ethnischen
Gruppe seitens ihrer Angehörigen als Gemeinsamkeit zur Kenntnis genommen werden. Die
Qualitäten an sich werden die Gruppenbildung nicht veranlassen, sondern sie eignen sich dazu,
eine ethnische Gruppe von anderen zu unterscheiden. Ferner bemerkt er, dass aus diesem
Grund die Qualitäten flexibel zum Einsatz kommen, so dass sie dem jeweiligen Unterschei-
dungsbedarf genügen: „Dazu kommt noch, dass die in einer Situation herangezogenen Kenn-
zeichen verschieden sein können von den Kennzeichen, die sich in einer anderen Situation be-
währen. Denn die Auswahl von Kennzeichen ist völlig von dem Bezugsrahmen abhängig. So
kann etwa zur Kennzeichnung ein und desselben Volkes bzw. seiner Angehörigen einmal seine
Sprache oder Geschichte, das andere Mal aber seine Religion herangezogen werden, wenn die
ursprünglich verwendeten Unterscheidungsmerkmale in einer z.B. infolge von Wanderung
veränderten Situation sich nicht mehr für diese Funktion eignen“ (Francis 1965, S. 37; Herv.
im Orig.).
58 1 Nation
Wesentlich ist somit für Weber der Gegensatz zur subjektiv gefühlten Zu-
sammengehörigkeit, nämlich die „Abstoßung“.33 Er nennt zunächst auffällige
33 Daran lassen sich Georg Simmels Überlegungen zur Opposition anknüpfen, mit denen er an-
tritt, um zu zeigen, dass sich ein sozialer Handlungshergang nicht nur an ihren Folgen erken-
nen läst, sondern sie sich selbst bereits dazu zählen lässt (vgl. Simmel 2006, S. 284). Die Op-
position ist nicht mit einer durch unbeschränkte Willkür angetriebenen Auseinandersetzung
identisch, in welcher der „Kampf schlechthin auf Vernichtung geht“ (ebd., S. 295; vgl. auch
Vierkandt 1916, S. 14). Der soziale Handlungshergang tritt daran hervor, dass die Handelnden
während der Opposition das Handlungsvermögen des jeweils anderen besonders intensiv zur
Kenntnis nehmen (vgl. hierzu auch Tyrell 1976, S. 258). Simmel insistiert, dass die Opposition
als nicht-wechselseitiger Vorgang undenkbar ist, denn es ist ausgeschlossen, dass sich die
Handelnden gleichgültig zueinander verhalten (vgl. Simmel 2006, S. 284). Sein Anliegen ist es
schließlich, einen Nachweis dafür zu erbringen, dass die nicht auf Vernichtung angelegte Op-
position schöpfend Gesellschaft befruchtet. Er schreibt: „Eine Gruppe, die schlechthin zentri-
petal und harmonisch, bloß `Vereinigung´ wäre, ist nicht nur empirisch unwirklich, sondern sie
würde auch keinen eigentlichen Lebensprozess aufweisen […]“ (ebd., S. 285). Für seinen be-
absichtigten Nachweis verweist Simmel auf einen wesentlichen Impuls der Opposition, näm-
lich die integrierende Wirkung der Abgrenzung gegen die Gefahr der kollektiven Identitäts-
minderung. Wo es an Feindseligkeiten fehlt, da steigt nicht die Lebensqualität, sondern da sind
Kooperation, Zuneigung und Interessenharmonie schwach entwickelt (ebd., 289). Die Opposi-
tion verlegt die inneren Widersprüche einer Gruppe in den Hintergrund. Simmel notiert, „[…]
dass durch ihn [den Kampf, C.A.] nicht nur eine bestehende Einheit sich in sich energischer
konzentriert, und alle Elemente, die die Schärfe ihrer Grenzen gegen den Feind verwischen
könnten, radikal ausscheidet – sondern dass er Personen und Gruppen, die sonst nichts mitei-
nander zu tun hatten, überhaupt zu einem Zusammenschluss bringt“ (ebd., 360). Daran an-
knüpfend erklärt Arnold Gehlen den Lohn der Opposition gerade wegen ihrer Wirksamkeit ge-
gen die Abwehr von Gruppenzersetzung als „unwünschbar“ (vgl. Gehlen 1978, S. 94). Simmel
nennt fünf Gründe für oppositionell begünstigte Kohäsion, wobei er bemerkt, dass sich der auf
diese Weise mobilisierte Zusammenhalt derer auszeichnet, die sich eigentlich indifferent zuei-
nander verhalten und von sich aus keine Kohäsion initiiert hätten (vgl. Simmel 2006, S. 367):
Erstens ist man anlässlich einer Opposition zeitnah auf Kooperationspartner angewiesen, ohne
dabei wählerisch zu sein. Oppositionelle Interessen sind von den sonstigen Interessen der An-
tagonisten unabhängig, so dass sich die ursprüngliche Indifferenz untereinander anschließend
wieder herstellen lässt. Während der Opposition sind viertens persönliche Attribute unbedeu-
tend, so dass dort Kohäsion besteht, wo sonst Heterogenität ist. Ferner liegt es an der Oppositi-
on, dass sie ansonsten unterdrückte Abwehrhaltungen gegen einen Gegner manifest werden.
Die Feindseligkeit dynamisiert sich somit fünftens von selbst. Schließlich erwähnt Simmel die
in modernen Gesellschaften hochgradig präsente und am weitesten von der Eliminierung des
Gegners entfernte Opposition: die Konkurrenz. „Wer den Gegner unmittelbar beschädigt oder
aus dem Weg räumt, konkurriert insofern nicht mehr mit ihm“ (ebd., S. 323). Die Auflösung
ständischer Privilegien bewirkt ein Mehr an Chancen und die Konkurrenz bei der Vergabe von
Posten. Infolgedessen nimmt, so Simmel, die soziale Nähe zu. In dieser Opposition ist es nicht
entscheidend, den Gegner zu besiegen, über den Erfolg entscheidet ein Dritter. Ziel der Kon-
kurrenz ist dessen Anerkennung und daher suchen die Konkurrenten dessen Nähe. Er bemerkt,
„[…] dass die Konkurrenz in der Gesellschaft doch Konkurrenz um den Menschen ist, ein
Ringen der Wenigen um die Vielen wie der Vielen um die Wenigen; kurz ein Verweben von
tausend soziologischen Fäden durch die Konzentrierung des Bewusstseins auf das Wollen und
Fühlen und Denken der Mitmenschen, durch die Adaptierung der Anbietenden an die Nachfra-
genden, durch die raffiniert vervielfältigten Möglichkeiten, Verbindung und Gunst zu gewin-
nen (ebd., S. 328).
1.2 Abseits des Primats der Kultur 59
34 Anthony D. Smith geht vor diesem Hintergrund der Dauerhaftigkeit der Orientierung an ethni-
scher Gemeinsamkeit nach, erhebt aber den Anspruch, ethnische Gruppen nicht überhistorisch
zu betrachten. Ethnische Gemeinsamkeit gibt es insbesondere deswegen zu allen Zeiten, weil
sie sich sowohl wandeln kann, als auch trotz veränderter Bedingungen standhaft bleiben kann.
„The paradox of ethnicity is its mutability in persistence, and its persistence through change“
(Smith 2010, S. 28).
60 1 Nation
35 Francis führt das notwendige Scheitern jedes Versuchs, bei dem man mittels induktiver Ver-
fahren auf eine wesentliche Qualität der ethnischen Gruppe stoßen will, darauf zurück, dass der
Gemeinsamkeitsglaube von Wandel betroffen ist. Eine gemeinsame Qualität, der sich Verge-
meinschaftung verdankt, kann ihre Bedeutung verlieren und durch eine andere ersetzt werden
(vgl. Francis 1965, S. 32).
1.2 Abseits des Primats der Kultur 61
36 Hinter dem Staat als „politischer Machtgebildeorganisation“ steht für Weber ein Hergang
sozialen Handelns besonderer Art. Auf diese Weise kann den Idealtypus des Staates konstruie-
ren, der sich von substanziellen Begriffen des Staates abhebt. Der Staat ist zunächst ein Herr-
schaftsverband, der die Geltung einer Ordnung garantiert, die soziales Handeln innerhalb eines
bestimmten geographischen Gebiets regelt, und der Staat ist eine Anstalt, weil die von ihm ga-
rantierten Ordnungen rational gesatzt sind (vgl. Weber 2002, 29). Er kann Ordnungen erfolg-
reich und rechtmäßig oktroyieren und übt somit Herrschaft auf der Grundlage von legalen
Ordnungen aus. Ferner berücksichtigt Weber für den Idealtypus des Staates, dass man ihn nicht
auf der Grundlage eines Staatszweckes herleiten kann, das lässt nämlich die Fülle der von ei-
nem Staat zu erfüllenden Zwecke nicht zu: „Es ist nicht möglich, einen politischen Verband –
auch nicht den `Staat´ –, durch Angeben des Zweckes seines Verbandshandelns zu definieren.
Von der Nahrungsfürsorge bis zur Kunstproduktion hat es keinen Zweck gegeben, den politi-
sche Verbände nicht gelegentlich, von der persönlichen Sicherheitsgarantie bis zur Rechtsspre-
chung keinen, den alle politischen Verbände verfolgt hätten“ (ebd., S. 30; Herv. im Orig.).
Weber unterlässt es deswegen, den Staat von einem Zweck her zu definieren. Stattdessen
62 1 Nation
Eine Gemeinschaft beruhend auf einerlei welcher Qualität, wird für Weber dann
eine Nation, wenn die Richtung der Vergemeinschaftung auf den eigenen Staat
verweist.37 Erst auf diese Weise kann Weber der Heterogenität und Inkonsistenz
der tatsächlichen Nationen gerecht werden, indem er nämlich offen legt, was der
Bildung einer Nation nicht fehlen darf. Das ist die Ausrichtung der nationalen
Gemeinschaft auf den eigenen Herrschaftsverband (ebd., S. 50). Die Handlungs-
orientierung an Gemeinsamkeitsmerkmalen ist Weber deswegen von Nutzen,
weil nur dieser Zugang der heterogenen Wirklichkeit der Nationen angemessen
ist. Immerhin sind weder die gemeinsamen und gegensätzlichen Qualitäten rigi-
de eingeschränkt, von denen ausgehend man Stammverwandtschaft und Stamm-
fremdheit für wahr hält38, noch gibt es eine negative Qualität, in deren Folge eine
Abstoßung aussetzt. Als Zeuge hierfür hält sich der Fremde im Kriege bereit.
Obwohl aber nicht die eine wesentliche Qualität erkennbar ist, aus der sich
nationale Vergemeinschaftung speist, gehört es notwendig zur Nation, dass Ver-
gemeinschaftung erfolgt.39 Es ist nicht zuletzt ein Herrschaftsverband, der gezielt
einen ethnischen Gemeinsamkeitsglauben mobilisiert (ebd., S. 49), denn schließ-
macht er ein Mittel geltend, das nur dem Staat wesentlich ist, und das ist das legitime Gewalt-
monopol (ebd.). Wichtig ist für Weber, dass nur der Staat die Geltung einer Ordnung notfalls
aufgrund seines Monopols über den legitimen physischen Zwang durchsetzen kann (ebd., S.
29). Dieses Monopol ist durch eine legale Ordnung gewährleistet.
37 In dieser Hinsicht stimmt Hertz mit Weber überein: Damit eine Nation vorliegt, ist es gleich,
ob sich die Gemeinschaft objektiven oder subjektiven Momenten verdankt, denn nur das Gel-
tungsstreben nach Macht darf nicht abgehen. „Der Gemeinschaftswille erhält durch Assoziati-
on mit gewissen objektiven oder subjektiven Faktoren seine volle Festigung. Es sind dies Staat
und Staatsform, Sprache, Dialekt, Kultur, Heimat, wirkliche oder vermeintliche Blutsver-
wandtschaft, Religion, historische Erinnerungen, besonders an Staatsgründer, Heroen, Gesetz-
geber, natürliche Grenzen, heilige oder besonders teure Orte, wirtschaftlich und soziale Inte-
ressen, Gesetze, Sitten, Trachten, Speisen, Feste, Symbole, Legenden u. dgl. Mit den histori-
schen Erinnerungen verbinden sich dann Ideologien, d.h. mythologische oder theoretische
Umkleidungen bestimmter Hoffnungen und Tendenzen, z.B. die messianische Ideologie der
Juden, die Idee der besonderen göttlichen Mission und der besonders wertvollen Eigenart der
Nation, Rassentheorien, das Nationalitätenprinzip. Keines dieser Momente ist absolut unent-
behrlich, um eine Nation zu bilden, aber stets bilden sich Kombinationen von mehreren, in de-
nen der Gemeinschaftswille sich verwurzelt, wodurch er erst seine volle Kraft und Weihe emp-
fängt“ (Hertz 1927, S. 62). Wolfgang Mommsen schreibt Folgendes über Webers Begriff der
Nation: „Die subjektive Überzeugung ethnischer, sprachlicher, konfessioneller oder kultureller
Homogenität ist demgegenüber von sekundärer Bedeutung. Entscheidend für die Entwicklung
des Nationalbewusstseins ist die bewusste Anteilnahme am machpolitischen Schicksal des ei-
genen Staates. Es ist der Machtgedanke, der – in den Nationsbegriff eingeschmolzen – diesem
bei Weber erst die charakteristische Eigenart verleiht“ (Mommsen 1975, S. 55).
38 Die an Gemeinsamkeit und Gegensätzlichkeit orientierte Abstoßung kennt, so Claus Leggewie,
keine Einschränkung der Qualitäten, „[…] denn die Anknüpfungspunkte solcher Konstrukte
sind unbegrenzt“ (Leggewie 1994, S. 53; vgl. auch Heinemann 2001, S. 113).
39 Schließlich kann beiden idealtypischen Konstrukten, namentlich die Kulturnation und die
Staatsnation nicht abgehen, dass sich ihre Angehörigen an einer oder mehreren von ihnen ge-
teilten Gemeinsamkeiten, einerlei ob faktische oder kontrafaktische Qualitäten, orientieren
(vgl. dazu Kallscheuer/Leggewie 1994).
1.2 Abseits des Primats der Kultur 63
40 Ulrich Bielefeld dazu: „Als politische Gemeinschaften sind sie Zwangsgemeinschaften. Sie
müssen daher immer mit Verrat rechnen und ihre Anstrengungen um so mehr erhöhen, die abs-
trakte Gemeinschaft erfahrbar zu machen“ (Bielefeld 2001, S. 132).
41 Dass vom Schicksal eine besondere Kraft ausgeht, die nicht die Nation verursacht, sondern zu
sozialen Beziehungen zwischen den Angehörigen einer Nation führt, die sogar innere Diffe-
renzen überwölben, sieht auch Bauer. „Denn Schicksalsgemeinschaft bedeutet nicht Unterwer-
fung unter gleiches Schicksal, sondern gemeinsames Erleben desselben Schicksals in stetem
Verkehr, fortwährender Wechselwirkung miteinander“ (Bauer 1971, S. 112). Schließlich lässt
die Verstärkung der Beziehungen den Bedarf einer Einheitssprache hervortreten (ebd., S. 115).
42 Elias bemerkt, dass nationales Pathos, dem integralen Nationalismus Lembergs entsprechend,
in Zeiten der Krise gezielt von Seiten des Herrschaftsverbands mobilisiert werden kann. Er
schreibt: „Der nationale Glaube schafft in der Masse der betreffenden Individuen Persönlich-
keitsdispositionen, die den Grund für ihre Bereitschaft legen, in Situationen, in denen sie die
Interessen oder das Überleben ihrer Gesellschaft bedroht sehen, alle Kraft einzusetzen, zu
kämpfen und notfalls zu sterben. An diese Dispositionen können aktuelle und potentielle Herr-
schaftseliten solcher großen, souveränen Kollektive mit Hilfe geeigneter Auslösersymbole ap-
pellieren, wenn ihnen die Integrität ihres Kollektives gefährdet erscheint“ (Elias 1989, S. 204).
64 1 Nation
43 Weber warnt hauptamtliche Politiker davor, bloß das Machtprestige als solches zu genießen,
ohne sich um die Macht des Herrschaftsverbands zu sorgen (vgl. Weber 1994, S. 74). Ein sol-
cher Fall liegt bei dem von Elias skizzierte Ludwig XIV. vor, in dessen Handeln nicht die Sor-
ge um die Macht seines Herrschaftsverbands, sondern um die eigene Außendarstellung als
Herrschender im Vordergrund steht. Elias schreibt: „Der `Staat´ als Selbstwert, das ist hier
durchaus eine Oppositionsidee. Ihr gegenüber steht als Motivation Ludwigs XIV. und damit als
entscheidende Triebkraft der Politik und der Aktionen Frankreichs unter seiner Herrschaft der
Prestigeanspruch des Königs selbst, das Verlangen, nicht nur Macht über andere zu besitzen
und auszuüben, sondern sie auch ständig durch Worte und Gebaren aller anderen öffentlich an-
erkannt und derart doppelt gesichert zu sehen“ (Elias 2007, S. 230).
44 Webers Freiburger Antrittsvorlesung Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik (1993)
vom 13. Mai 1895, in der er anlässlich der Zuwanderung und Beschäftigung polnischer Bauern
in den ostelbischen Reichsgebieten den von ihm vertretenen Wert der Wirtschaftspolitik (vgl.
Hennis 1987, S. 46 f.; Keuth 1989, S. 13 ff.) bestimmt, nämlich die Macht des Staates, ist ein
Beispiel für seine Vorgabe, das Machtprestige des Staates nicht nur zu genießen, sondern es
auch zum Anlass zu nehmen, die Macht des Staates zu verteidigen. Aufgrund seiner radikalen
Forderungen, die zugunsten der staatlichen Macht die Schließung der Ostgrenzen, die Koloni-
sation deutscher Bauern in den von den polnischen Einwanderern besiedelten Gebieten und
selbst die Enteignung von Großbetrieben mit polnischern Beschäftigten vorsehen (vgl. Weber
1993, S. 10), kann die Rede durchaus als ein Zeugnis für ein Auftreten Webers begreifen, bei
dem er „tut, was sein Gott und Dämon ihn heißt“ (Weber 1951, S. 479). Die Rede kommt vor
dem Hintergrund des Anlasses Eugen Lembergs Typus des integralen Nationalismus sehr nahe
(vgl. Lemberg 1965, S. 198). Das steht zwar im Widerspruch zur später von ihm vertretenen
Regel der Hochschuldidaktik über die Aussonderung subjektiver Standpunkte aus einer Lehr-
veranstaltung, erscheint ihm aber aufgrund des außergewöhnlichen Rahmens der Antrittsvorle-
sung als angemessen. Wolfgang Mommsen dazu: „In der Tat konnte man sich fragen, ob hier
nicht der Gelehrte auf dem Katheder durch das Temperament des politischen Kämpfers allzu
sehr verdrängt worden sei“ (Mommsen 1974, S. 39). Und Kay Ludwig Ay schreibt: „In seiner
Freiburger Antrittsrede fand vor allem die Heftigkeit seiner Empfindungen für die Nation ihren
Ausdruck“ (Ay 2003, S.83; vgl. hierzu auch Sukale 2002, S. 375 f.).
45 Siegfried Weichlein folgert, dass der besondere Zweck des nationalstaatlichen Machtprestiges
auf dessen Erfolg beruht. Die für Nation und Staat erforderliche Unterordnung schöpft, anders
als die religiöse Unterordnung, die Rechtmäßigkeit aus ihrem Erfolg und dieser ist die Macht
(vgl. Weichlein 2007, S. 109). Für Isaiah Berlin bietet sich vor allem der Nationalstaat für das
Machtprestige an. Er schreibt: „Doch der machtvollste Aufruf zu Hingabe und Selbstidentifika-
tion ist historisch vom Nationalstaat ausgegangen“ (Berlin 1990, S. 57).
1.2 Abseits des Primats der Kultur 65
46 Elias lehnt es ab, von Identifizierung zu sprechen, wenn die Orientierung am Machtprestige
des nationalen Staates die Werte betrifft, die im speziellen zur Nation gehören. In diesem Fall
sind die Werte auf Seiten des Individuums, der sich am Machtprestige orientiert internalisiert,
so dass das, worin sich die nationalen Werte symbolisieren, nicht losgelöst vom Individuum
ist. Er schreibt: „Wenn ein Angehöriger eines differenzierten industriellen Nationalstaats im
20. Jahrhundert eine Aussage macht, in der er sich selbst durch ein Derivat seines Landesna-
mens charakterisiert […], dann bringt er in der Regel sehr viel mehr zum Ausdruck […]. Für
das Gros der Individuen, die in einer entsprechenden Staatsgesellschaft aufgewachsen sind,
verweist eine solche Aussage gleichzeitig auf ihre Nation und auf persönliche Eigentümlich-
keiten und Werte. Sie betrifft sowohl den einzelnen, wahrgenommen als ein `Ich´ gegenüber
anderen, auf die er sich im Reden und Denken als `Du´, `Er´ oder `Sie´ bezieht, als auch den
einzelnen, wahrgenommenen als konstituierender Teil eines der Kollektive, auf die er sich im
Reden und Denken als `Wir´ gegenüber `Ihr´ oder `Sie´-Gruppen bezieht“ (Elias 1989, S. 197
f.). Im Weiteren schreibt er: „Ein Bild dieses `Wir´ geht unlöslich in die Persönlichkeitsorgani-
sation des Individuums ein, das in solchen Fälle die Pronomen `Ich´ und `Wir´ in Bezug auf
sich selbst gebraucht“ (ebd., S. 198).
47 vgl. auch Elwert 1989, S. 451.
66 1 Nation
48 Für Wolfgang Mommsen stehen Webers Überlegungen dem Typus der Staatsnation nahe, weil
er auf den Staat als die Richtung des Gemeinschaftsbewusstseins verweist, ohne objektive
Merkmale für den Begriff der Nation in Rechnung zu stellen. Mehr als die bewusste Anteil-
nahme an der Nation macht für Weber, so Mommsen, das Moment der politischen Macht aus
und somit weicht er vom „innenpolitisch orientierten demokratischen Nationsbegriff“ ab (vgl.
Mommsen 1974, S. 54). Ähnlich sieht es Breuer, dem zufolge, Weber einen subjektiven Nati-
onsbegriff vorlegt: „Mit seiner Zurückweisung aller organizistischen und emanatistischen
Konzeptionen sowie seiner Weigerung, die Nation aus objektiv-empirischen Voraussetzungen
abzuleiten, steht Weber Constant und Renan näher als Herder, wie er auch jede Aufladung des
Nationsbegriff mit religiösen Konnotationen vermeidet“ (Breuer 1994, S. 137). Breuer erinnert
aber auch daran, dass der abseits der Wissenschaft und in der politischen Arena tätige Weber
sich weniger an seinen wissenschaftlichen Überlegungen zur Nation orientiert.
1.3 Attraktivität nationaler Macht 67
Weber rechnet für die Gemeinschaft der Nation mit gemeinsamen Qualitäten.
Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die darauf beruht, dass ihre Angehörigen
eine Qualität teilen, reicht nicht aus, um auf das Wesen der Nation zu stoßen.
Eine bloß auf gemeinsame Qualitäten abgestellte Definition der Nation kann sich
gegen die heterogene Wirklichkeit der Nationen nicht behaupten. Die auf den
eigenen Staat kanalisierte „gefühlsmäßige Gemeinschaft“ hebt sich wegen dieser
Ausrichtung von anderen Gemeinschaften ab, die ihrerseits über die ansonsten
von Nationen beanspruchten Gemeinsamkeitsmerkmale verfügen. Der Nation ist
ferner die Opposition willkommen, die sich insofern auswirkt, als gemeinsame
Qualitäten kein ausschlaggebender Anlass sind, um ein aneinander orientiertes
Handeln herbeizuführen, das an gefühlter Zusammengehörigkeit orientiert ist
und aus dem Gemeinschaft resultiert.
Wichtig ist, dass in Webers Überlegungen die Nation, die an sich besteht,
ohne hervorgerufen zu werden, nicht vorkommt. Insbesondere seine Wortmel-
dungen auf dem Soziologentag, in denen er es entschieden zurückweist, die Na-
tion mit Rasse gleichzusetzen, lassen erkennen, dass eine das Handeln entbeh-
rende Konstitution von Gruppen, für ihn nicht infrage kommt. Seinen Schriften
lässt sich entnehmen, dass eine Gemeinschaft im Ursprung auf soziales Handeln
zurückgeht, dessen Wirksamkeit es folglich auch für die Nation braucht, denn
der für sie essentielle Anspruch auf den eigenen Staat ist abseits des sozialen
Handelns in der aus diesem hervorgehenden Gemeinschaft bedeutungslos. We-
bers programmatische Äußerung hierzu lautet:
„Wenn sie [die Soziologie; C.A.] von `Staat´ oder von `Nation´ oder von `Aktienge-
sellschaft´ oder von `Armeekorps´ oder von ähnlichen Gebilden spricht, so meint sie
damit vielmehr lediglich einen bestimmt gearteten Ablauf tatsächlichen, oder als
möglich konstruierten sozialen Handelns Einzelner […]“ (Weber 2002, S. 7; Herv.
im Orig.).
Der Nachweis darüber, dass sich die an sich bestehende, Ursachen entbehrende
Nation widerlegen lässt, ist ferner wie folgt möglich: Aus der Vergemeinschaf-
tung, deren Richtung der eigene Staat ist, ergibt sich die notwendige Folge, dass
innere Gegensätze, die Vergemeinschaftung konterkarieren, verhütet werden
müssen. Diese Voraussetzung für den nationalen Anspruch auf den eigenen Staat
muss ihrerseits bewirkt werden. Damit sich die nationale Selbstbestimmung rea-
lisieren lässt, die durch den Anspruch auf den eigenen Staat zum Ausdruck ge-
bracht wird, muss gewährleistet sein, dass sich das soziale Handeln an der ge-
fühlten Zusammengehörigkeit der Handelnden orientiert, was wiederum Streit
ausschließt. „Vergemeinschaftung ist dem gemeinten Sinn nach normalerweise
der radikalste Gegensatz gegen `Kampf´“ (ebd., S. 22; Herv. im Orig.). Die Ver-
68 1 Nation
hütung innerer Gegensätze braucht Ursachen, so dass das, worauf sie sich zu-
rückführen lässt, den Hergang der Nation erkennen lässt.
Mit der Zumutung der Höherrangigkeit der Nation gegenüber anderen Ge-
meinschaften lässt sich diese notwendige Verhütung gewährleisten. Worauf sich
die nationale Höherrangigkeit zurückführen lässt, soll im nächsten Schritt erar-
beitet werden. Die Zwangsläufigkeit der nationalen Höherrangigkeit steht jedoch
im Zusammenhang mit dem Wesen der Nation, nämlich ihrer Ausrichtung auf
den eigenen Staat. Rainer Lepsius schreibt:
„Der Anspruch auf Höherrangigkeit der Nation setzt sich erst dann durch, wenn sich
die politische Herrschaftsordnung über die Idee der Nation konstituiert, der Solidari-
tätsverband der Nation in einer staatlichen Verbandsorganisation auftritt“ (Lepsius
1990, S. 233).
Er bemerkt auch die Ambivalenz der nationalen Höherrangigkeit, denn auf der
einen Seite leistet sie es, innere Gegensätze zu verhindern. Auf der anderen Seite
kann die in Anspruch genommene Höherrangigkeit bestehende Auseinanderset-
zungen vorantreiben. Nichtsdestoweniger ist sie unausweichlich, so dass sich,
weil sie nicht aus dem Nichts kommt, verfolgen lässt, was sie hervorruft. Das hat
sich Heinz O. Ziegler zur Aufgabe gemacht. Dessen Arbeiten und insbesondere
die Studie Die moderne Nation (1931), die für Wilhelm Hennis der „weithin
unbekannte Klassiker“ (Hennis 2000, S. 255) der Nationenforschung ist, liefern
Antworten im Hinblick darauf, was die nationale Höherrangigkeit möglich
macht. Darüber hinaus untersucht er, wie die nationale Ausrichtung auf den ei-
genen Staat entstanden ist und welche Auswirkungen dies hat. Diese Ergebnisse
lassen sich ebenfalls dafür nutzen, um zu zeigen, dass die Nation bewirkt wird.
Neben der Voraussetzung dafür, dass die eigentümliche Ausrichtung der nationa-
len Vergemeinschaftung gelingt, richtet sich das Folgende auch auf die Herkunft
dieser Ausrichtung.
Die Nation steht in Zieglers Studie in einen Zusammenhang mit der Moder-
nisierung der Herrschaft. Er untersucht, wie die Nation zu einer Legitimitätsidee
wird und welche Folgen damit verbunden sind. Entscheidend für diese „Kollek-
tivierung der Herrschaft“ (Ziegler 1931, S. 54) ist, dass aus dem Objekt der
Herrschaft ihr Subjekt wird (ebd., S. 232). Indem sich die Unabhängigkeit des
politischen Handelns von denen, die davon betroffen sind, allmählich auflöst,
vollzieht sich die Verschiebung des Subjekts der Herrschaft als Emanzipation
der bürgerlichen Gesellschaft.49 „Der Kern moderner staatlicher Legitimität muss
49 Für Habermas übernimmt die Nation die „Rolle des Katalysators“ (Habermas 1999, S. 135).
Das bedeutet: Der säkularisierte Staat ist vom Geltungsverlust der Legitimität seiner Herrschaft
betroffen, der vom „neuen Legitimitätsmodus“ der Nation aufgefangen wird. Habermas be-
zeichnet, das mit der Nation verbundene Mobilisierungspotential als notwendige „Lebenskraft“
der demokratischen Republiken (ebd., S. 136), denn: Durch die Orientierung daran, dass Nati-
on auf gemeinsamen Qualitäten beruht, können Angehörige von der eingeführten Gleichheit
1.3 Attraktivität nationaler Macht 69
vor allem darin gesehen werden, dass hier Herrschaft als Mittel der Selbstver-
wirklichung der Nation erscheint“ (Ziegler 1937, S. 89 f.).
An anderer Stelle schreibt er:
„Nation tritt uns vor allem gegenüber als Legitimitätsidee. Und zwar garantiert sie
[...] die Legitimität der neuzeitlichen Herrschaftsorganisation. Sie trägt die Zustim-
mung der Massen zum neuen Staate, ist einer der wesentlichen Faktoren in dem
Prozess des Zusammenschlusses der Massen zur politischen Geschehenseinheit“
(Ziegler 1931, S. 64).
Angesichts dieses Wandels der staatlichen Herrschaft muss, so Ziegler, die
Chance bestehen, dass sich die Verbindlichkeiten gegenüber der Nation gegen
die Verbindlichkeiten, die andere Kollektive innerhalb einer Nation betreffen,
behaupten können. Die Nation muss gegenüber anderen Kollektiven einen
Schritt voraus sein können:
„Um im politischen Entscheidungsfall tatsächlich die Geschehenseinheit, die soziale
Mobilisierungsgrenze darzustellen, muss daher die nationale Verbindlichkeit einen
Vorzugswert vor anderen Verbindlichkeiten besitzen. Die Orientierung an ihr muss
andere Orientierungsweisen überwiegen“ (ebd., S. 69).
Folgende Absichten sind mit seiner Studie verbunden (ebd., S. 54): Zum einen
will er die Ursachen für die Rangerhöhung der Nation innerhalb des heterogenen
sozialen Pluralismus der Kollektive innerhalb einer Nation untersuchen. Das
nennt er das Primat der sozialen Verbindlichkeit. Zum anderen will er wissen,
worauf sich die Durchsetzung der Nation als letztes Ziel der Herrschaftsaus-
übung, also die Kollektivierung der Herrschaft zurückführen lässt.
Die Beteiligung der Untergeordneten an der Herrschaft schließt nicht aus,
dass nach wie vor der Bedarf an innerer Bereitschaft zur Unterordnung bestehen
bleibt. Ziegler interessiert sich dafür, inwiefern diese Bereitschaft durch irratio-
nale Orientierungen unterstützt wird. Hierfür bemerkt er, dass es zwei Richtun-
gen für die Untersuchung moderner Herrschaft gibt: Man kann ihrem organisato-
rischen Aufbau nachgehen. In diesem Fall geht man den Funktionen und Struk-
turen der Herrschaftsorganisation wie beispielsweise der Verwaltung und Regie-
rung nach (ebd., S. 11). Zum anderen lässt sich eine Untersuchung vornehmen,
indem man die innere Bereitschaft hinsichtlich der Legitimität der Herrschaft des
Staates zum Gegenstand macht. Er selbst leistet für letzteres einen Beitrag. Sein
der Rechte erst Notiz nehmen. Er schreibt: „Erst das nationale Bewusstsein, das sich um die
Perzeption einer gemeinsamen Abstammung, Sprache und Geschichte kristallisiert, erst das
Bewusstsein der Zugehörigkeit zu `demselben´ Volk macht die Untertanen zu Bürgern eines
einzigen politischen Gemeinwesens – zu Mitgliedern, die sich füreinander verantwortlich füh-
len“ (ebd., S. 136 f.; Herv. im Orig.). Habermas nennt das die „doppelte Codierung der Staats-
bürgerschaft“ (ebd., S. 137), wobei die Besinnung auf die Gemeinsamkeitsmerkmale der Nati-
on „stärker als Volkssouveränität und Menschenrechte an Herz und Gemüt appelliert“ (ebd., S.
136).
70 1 Nation
Vorhaben begründet er wie folgt: Weil die dauerhafte Etablierung von Macht
nicht ausschließlich auf physischen Zwang beruhen kann, braucht es eine Akzep-
tanz für Verhaltensvorgaben auf Seiten der Untergeordneten, d.h. damit die von
einer Herrschaft Betroffenen in einer bestimmten Richtung, also einer Fremd-
vorgabe gemäß handeln, müssen sie sie als rechtmäßig erachten (ebd., S. 63).
„Anders ausgedrückt: Damit eine politische Herrschaft bestehe, muss das Han-
deln ihrer Apparatur als legitim erscheinen“ (ebd., S. 13). Zieglers Absicht ist es,
die Nation als Legitimitätsidee im Hinblick auf die Beschaffung der inneren Be-
reitschaft zur Unterordnung zu untersuchen. Diese Legitimitätsidee kann man
zum einen hinsichtlich ihrer „theoretischen Sanktionierung“ berücksichtigen,
und das bedeutet: Die Nation wird im Hinblick auf ihren Wert berücksichtigt.
Man fragt, wie die Begründung für die Legitimitätsidee geleistet wird. Im Falle
der „ideellen Legitimierung“ nimmt man eine Rechtfertigung vor, mit der die
Richtigkeit der mit der Nation verbundenen Orientierungsmaximen hervortritt
(ebd., S. 60). Allerdings ist dieser Sachverhalt für Zieglers Untersuchung uner-
heblich, denn ihn interessiert nicht, aus welchen Gründen sich die Orientierung
des Handelns auf die Nation richten soll, sondern warum dies tatsächlich ge-
schieht. Ferner fragt er sich, welche Folgen sich auf die tatsächliche Wirksam-
werdung zurückführen lassen. Hat sich die Geltung der modernen Nation einmal
durchgesetzt, so ist es angebracht, bemerkt er, auch diejenigen Wirkungen zu
untersuchen, die sich der Argumentation für ihre Geltung weder entnehmen las-
sen, noch in ihr berücksichtigt werden.
Insgesamt geht es ihm um die „soziale Konkretion der Idee“ (Ziegler 1930,
S. 247), und genau hierfür will er irrationale Orientierungen ausfindig machen,
weil er nachweisen will, dass die Rationalisierung der Herrschaft auch von irra-
tionalen Komponenten begleitet wird. Darüber hinaus liest er die Kollektivierung
der Herrschaft an der Entwicklung der Französischen Revolution ab. Er zeigt,
welchen Voraussetzungen sich die moderne Legitimitätsidee verdankt und was
dazu beiträgt, dass sie sich konsolidiert.
Zum Primat der sozialen Verbindlichkeit. Ziegler setzt Folgendes voraus:
Will man untersuchen, was für die Nation verantwortlich ist und was durch sie
bewirkt wird, so muss man ausschließen, dass sie unabhängig davon ist, selbst
bewirkt zu werden. Obwohl er es ablehnt, die Nation als eine Kraft zu betrach-
ten, von der bloß Wirkungen ausgehen, ohne dass sie vorab ein Resultat ist, das
sich ursächlich nachstellen lässt, erklärt er aber die Orientierung an dieser voll-
kommenen und von Ursachen unabhängigen Nation für gültig. Die Ursachen
entbehrende Nation ist kein Irrtum im Denken der Handelnden, so dass man die-
se Orientierung berücksichtigen muss. Ziegler streitet also die Schlussfolgerung
ab, der zufolge sich objektive Tatsachen in Geschichte und Gesellschaft auf die
Nation zurückführen lassen, die ihrerseits aufgrund dieser Schlussfolgerung so
besteht, dass sie nicht hervorgebracht werden braucht. Der Glaube daran ist al-
lerdings kein Irrtum, weil er soziale Wirkungen hervorruft, die der Nation nicht
1.3 Attraktivität nationaler Macht 71
nur willkommen, sondern für sie notwendig sind. Während sich Wissenschaft
der Untersuchung derjenigen Ursachen, die zur Nation führen, nicht entziehen
kann, lässt sich die empirische Orientierung an der Nation als kausale Quelle
gesellschaftlichen und geschichtlichen Geschehens nicht abstreiten. Für die wis-
senschaftliche Auseinandersetzung lehnt er also Folgendes ab:
„An Stelle einer Erklärung und Ableitung des Nationalen tritt seine Metaphysizie-
rung […]. Sie verdinglicht und vergottet die Kategorie, substanzialisiert das zu Er-
klärende, statt es zu klären. Sie setzt Nation als oberste Gemeinschaft voraus und
bekleidet sie mit aller ideellen Weihe und Kraft der Verpflichtung, leitet sie aber
nicht ab“ (ebd., S. 32).
Solange Forschung die „Plastizität“ von Geschichte und Gesellschaft unter-
schlägt, stattdessen aber von deren „naturhaften Dinglichkeit“ ausgeht, wird sie
sich nicht so entmythologisieren, wie es, schreibt er, der naturwissenschaftlichen
Forschung gelungen ist (ebd., S. 57). Hingegen tritt Ziegler an, um die Nation
nicht anders als ein Artefakt menschlichen Handelns zu untersuchen. Das Her-
vortreten der Nation lässt sich also verfolgen, wenn man Nation nicht als „sinn-
fremde Naturtatsache“, sondern als etwas begreift, an das Handeln orientiert
wird (ebd., S. 56). Die Indifferenz gegenüber den Faktoren der Nation erweist
sich demnach als unzulänglich, weil auf diese Weise die mit ihr verbundene
Sinnhaftigkeit ausgeschlossen wird.
Für eine Untersuchung der Nation verschafft es daher keinen Nutzen, die
Nation als letzten Grund vorauszusetzen, da sich in diesem Fall nicht rekonstru-
ieren ließe, wie sich die Geltung der allem überlegenen Verbindlichkeit durch-
setzen konnte, sie erscheint dann nämlich als vorgängig gegeben. Indes setzt
Ziegler eine Menge von heterogenen Verbindlichkeiten voraus, so dass er das
Hervortreten der Nation anhand der Behauptung ihrer Verbindlichkeit gegenüber
der Menge der Verbindlichkeiten aufgrund ihres überragenden Ansehens unter-
sucht. Entscheidend ist, ihm zufolge, der soziale Pluralismus, und das bedeutet:
Das Individuum ist vielfältigen Verhaltensregeln ausgesetzt, die einander ent-
sprechen, aber auch miteinander konkurrieren können, so dass es ein „innerhalb
dieser Vielfalt entscheiden Könnendes und Müssendes“ ist (vgl. Ziegler 1937, S.
80). Das Hervortreten der Nation muss, schreibt er, daher unter Berücksichti-
gung der sozialen Pluralität untersucht werden.
„Und nur durch die empirische Analyse dieses Prozesses der Rangerhöhung der Na-
tion, in dem sich über die anderen Gruppierungsmöglichkeiten emporzusteigen be-
ginnt, können wir das Wesen der modernen Nation bestimmen“ (ebd., S. 69).
Die Nation muss in dieser Vielfalt überwiegen, sie muss einen Vorzugswert er-
folgreich beanspruchen und verfügt somit über: das Primat der sozialen Verbind-
lichkeit.50 Rainer Lepsius äußert sich dazu wie folgt:
50 Zur erforderlichen Vorrangstellung der Nation vgl. auch Hobsbawm 2005, S. 101 ff.
72 1 Nation
Er macht vor allem die Arbeiten Hegels dafür verantwortlich, dass die em-
pirische Wirklichkeit der Geschichte einzig auf eine absolute und kausal nicht
weiter ableitbare Instanz zurückgeführt wird. An der Nation kann man sich als
Repräsentantin jener Instanz orientieren, wenn man in Sinne Hegels die Diffe-
renzierung der geschichtlichen Weltgeschehens nach Kollektiven verfolgt (ebd.,
S. 158). Gegenüber der überzeitlichen Instanz sind die heterogenen und unendli-
chen Kausalzusammenhänge der Wirklichkeit belanglos, denn für sie wird nur
erstere verantwortlich gemacht. Die Zufälligkeit der Wirklichkeit ist aufgehoben.
Auf der einen Seite wird das historische Geschehen säkularisiert, es wird nicht
mehr durch Gott erklärt. Auf der anderen Seite gelten Kollektive als überzeitli-
che Instanzen und als „Demiurgen der Wirklichkeit“ (ebd., S. 155; vgl. auch
Ziegler 1974, S. 341). Ziegler verweist auf die in diesem Geschichtsbild vorge-
nommene Differenzierung der absoluten Instanz in exklusive und partikulare
Kollektive, die der Aufteilung der Welt in Nationen nicht nur entspricht, sondern
dafür die ideellen Voraussetzungen schafft, nämlich: In diesem Denken hat das,
was der Träger des Absoluten ist, aus sich selbst Geltung, weil das von ihm be-
wegte Geschichtsgeschehen nur der absoluten Instanz zugerechnet werden kann,
die sich deswegen wiederum nicht weiter ableiten lässt. Die somit geschaffene
Geltung des Absoluten zählt auch für dessen Träger und wird nicht weiter infra-
ge gestellt (ebd., S. 151).
„Als eine der wesentlichen ideellen Grundlagen der Nationidee ist diese prinzipielle
Individualisierung der geschichtlichen Welt zu erkennen, in der alle generellen Best-
immungen aufgelöst werden in individuelle, historisch einmalige Totalitäten, die
sich der empirischen Kausalität dialektisch entziehen“ (ebd., S. 153).
Setzt man also die Nation an die Stelle des Trägers der absoluten Instanz, von
der aus das Geschehen in der Geschichte vorangetrieben wird, so ergibt sich die
Richtigkeit der obersten Verbindlichkeit, welche die Nation für sich beansprucht.
Es gibt keine weitere Verbindlichkeit, die den grenzenlosen Geltungsanspruch
der Nation gefährden kann, die somit souverän ist. Ferner ist, so Ziegler, für Ge-
schichts- und Gesellschaftstheorien der Moderne eine Zurückweisung charakte-
ristisch, die er „Herrschaftsblindheit“ nennt, d.h.: Es wird zunehmend ein auto-
nomes Wesensgesetz sozialer Ordnungen gesucht, während man ausblendet, dass
sich Ordnungen heterogenen Ursachen verdanken; „[…] dann sind jeweils auch
Ordnung und Einheit als autonomer Besitz dem Menschen und seiner geschicht-
lich-sozialen Welt vorgegeben, sind ihr in irgendeiner Form als `natürliche´ Ge-
stalt immanent“ (Ziegler 1937, S. 71 f.). Die Rechtmäßigkeit der Herrschaft ist
demnach frei davon, von Ursachen betroffen zu sein, Herrschaft wird auf einen
einseitigen Hergang reduziert. Damit ist schließlich die Aufhebung von indivi-
dueller Verantwortung und Entscheidungsvermögen verbunden. Wo Ordnungen
74 1 Nation
auf Auswirkungen beruhen, für die das individuelle Handeln belanglos ist, da ist
das Individuum nur Vollzugsorgan einer unpersönlichen Kraft. 51
„Auch diese Theorien, ob sie nun von der Gemeinschaftsvorstellung des Volkes, der
Nation, der Rasse, der klassenlosen Gesellschaft des Marxismus oder einem genos-
senschaftlichen Idealzustand ausgehen, setzen mit ihrem Gemeinschaftsbegriff Ord-
nung und Einheit des Sozialen als außerherrschaftlich bereits gegebene oder mögli-
che Wirklichkeit, sehen das Wesentliche, eigentlich Bestimmende und Wirkliche
des Geschichtlichen in diesen außerherrschaftlichen Gebilden und Mächten und lei-
ten Herrschaft erst aus ihnen ab (ebd., S. 73).
Das ist der Nation willkommen. Wenn nämlich Ordnungen nicht nach ihrem
sachlichen Zweck befragt, sondern als Ausdruck der absoluten Instanz begriffen
werden, dann gilt deren Richtigkeit als unbestritten. Darüber hinaus ist innerhalb
des Kollektivs, das die Instanz repräsentiert, eine Interessendisharmonie undenk-
bar, denn vielmehr herrscht ein naturwüchsiger Konsens (vgl. Ziegler 1931, S.
173). Führt man also empirische Tatbestände der Geschichte und Gesellschaft
auf eine absolute Instanz zurück, so dass ausgeschlossen ist, sie als Ausschnitt
aus einer endlosen Kette von Kausalzusammenhängen zu untersuchen, so
schreibt man ihnen eine „ideelles Prestige“ zu (ebd., S. 179). Für die Angehöri-
gen desjenigen Kollektivs, das der Träger der Instanz ist, bedeutet das, die Ver-
bindlichkeit ihm gegenüber aufgrund der Anteilnahme an seinem Ansehen zu
befolgen. Das erweist derjenigen Unterordnung einen wichtigen Dienst, die, ihm
zufolge, auf einen Gehorsam angewiesen ist, den die Untergeordneten mit einer
affirmativen Sinnhaftigkeit verbinden (ebd., S. 180). Wo sich einst die Herr-
schaft religiös legitimierte, da steht, so Ziegler, mit dem gewandelten Ge-
schichtsbild ein Kollektiv an der Stelle der religiösen Weihung.
Der auf diese Weise konstatierte Wandel des Geschichtsbildes interessiert
ihn nicht hinsichtlich dessen Richtigkeit, sondern es ist die soziale Wirkung, die
sich aus der als tatsächlich und richtig erachteten Rückführung des Laufs der
Geschichte auf ein Kollektiv ergibt. Mit der Orientierung an einer letzten Kraft
von Geschichte ist schließlich eine Gemeinschaft möglich, die mit der generatio-
nenübergreifenden Dauer der Nation korrespondiert (vgl. Ziegler 1932, S. 3).
Darüber hinaus verhindert die Rückführung von Herrschaft auf eine absolute
Kraft, sie als einen Handlungshergang zu untersuchen, während sich auf diese
Weise ihre Legitimität herleiten lässt, und zwar wenn sie darauf abgestellt ist,
auf einer dem Handeln vorgänglichen Kraft zu beruhen (vgl. Ziegler 1937, S.
73).
Zur Kollektivierung der Herrschaft. Gemäß Webers Vorgabe ist es für die
Nation unabdingbar, dass dasjenige Handeln, bei dem Vergemeinschaftung er-
51 Hannah Arendt dazu: Gegenüber den historischen Ereignissen ist die Funktion der Handelnden
bloß sekundär, sie treten als Betrachter auf, so dass der Schritt nicht weit ist, sich „als Vollstre-
cker der Geschichte und Agenten der Notwendigkeit“ zu begreifen (vgl. Arendt 2000, S. 65).
1.3 Attraktivität nationaler Macht 75
folgt, in Richtung des eigenen Staates oder des noch zu schaffenden Staates ver-
läuft (vgl. Weber 1913, S. 50). Der Staat zieht aus der Bereitschaft einen bis da-
hin unbekannten Nutzen. Sobald sich der nationale Anspruch auf den eigenen
Staat durchsetzt, wiederholt sich das Streben nach dem eigenen Staat. Das Her-
vortreten der Nation geht aber nicht auf einen Plan zurück. Ursprünglich steht
hinter dem, was der Nation wesentlich ist, kein Vorsatz. Das lässt sich nachwei-
sen, wenn man Zieglers Rekonstruktion dessen verfolgt, an deren Ende die Voll-
endung der Nation steht. Das geschieht im nächsten Schritt. Was sie nämlich
anfangs herbeiführt, das ist schließlich für deren Wesen abkömmlich, welches
sie wiederum so fesselnd macht.
Ihr Hervortreten untersucht er am Beispiel der französischen Nation (vgl.
Ziegler 1931, S. 87). Zwei Voraussetzungen nennt er, die anfangs der Nation den
Weg bereiteten. Zum einen die Zentralisierung der Herrschaft (ebd., S. 75): In
diesem Prozess bilden sich in Europa territorialstaatliche Machteinheiten, indem
sie sich nach außen von der päpstlichen Bevormundung lösen, während im Inne-
ren die Unterwerfung intermediärer Gewalten erfolgt, für das insbesondere der
Einsatz der zentral an die Krone gebundenen Bürokratie nutzt. Durch Reduzie-
rung der vielfältigen Herrschaften nimmt die Macht der konzentrierten Herr-
schaft zu. Weil nichts weiter als der so entstehende Staat als letzter Zurech-
nungspunkt der Herrschaft gilt, erweist sich diese zunächst nicht anschlussfähig
an die später hervortretende Idee der Nation (ebd., S. 76). Der zentrale Grund,
der für die Ausübung der Herrschaft geltend gemacht wird, ist der Staat selbst
und somit erfolgt jede Berechnung der Macht, also die Berechnung zum Zweck
der Machterhaltung ungeachtet der Interessen der Untergeordneten bloß im Hin-
blick auf ihn. Weil sich mit der Zentralisierung mehr als zuvor kundtut, dass
Macht der rationalen Planung unterliegt, braucht sich sogar die kollektive Zuge-
hörigkeit derer, die Herrschaft ausüben, nicht mit derjenigen der Untergeordne-
ten zu decken, insofern sie sich für die Herrschaft als nützlich erweisen. Indes
hat der Entmachtungsprozess zur Folge, dass all diejenigen, die von der zentra-
len Herrschaft betroffen sind, hinsichtlich ihrer Unterordnung gleich sind (ebd.,
S. 81). Die zentral gesteuerte Verwaltung erleichtert nicht bloß, die Herrschaft
zum Vorteil des Staates zu verrichten, sondern verschafft ferner die Möglichkeit,
dass die von ihr Betroffenen einem uniformen Regelwerk unterstehen.
Freiheit und Demokratie sind, so Ziegler, die zweite Voraussetzung für die
Nation. Gegen den Machtzuwachs der Zentralisierung, die für Ziegler insbeson-
dere in Frankreich exemplarisch erfolgt, richten sich zunehmend Erwiderungen.
Der französische Absolutismus wird durch die Tendenz herausgefordert, die sich
an dessen unumschränkten Macht stößt. Vorläufer der Französischen Revolution
sind Bestrebungen, mit denen man Begrenzung und Kontrolle der staatlichen
Souveränität durchsetzen will. Das sind Forderungen nach individuellen Frei-
heitsrechten, die dem wirtschaftlich tätigen Bürgertum willkommen sind, das
sind aber auch Forderungen nach rechtlichen Regelungen für das Verhältnis zwi-
76 1 Nation
schen Krone und Bevölkerung (ebd., S. 93). Zunächst lassen sich, ihm zufolge,
dort, wo sich die Opposition gegen dynastisch-absolutistische Herrschaft richtet,
zum einen Forderungen nach dem Wandel der Souveränität im Hinblick auf eine
Ausbalancierung der Herrschaft und zum anderen nach Menschenrechten, sozia-
ler Gerechtigkeit und Gleichheit vereinbaren (ebd., S. 3).
Im Anschluss an die Französische Revolution stehen nicht nur Rechte zum
Schutz des Individuums im Vordergrund. Es erfolgt, so Ziegler, nicht deren
Durchsetzung als die höchste Orientierungsmaxime der staatlichen Herrschaft.
Ferner verdrängt die Revolution in Frankreich die für die Machtkonzentration
günstige Begründung der Herrschaft, deren Ausübung um der Sicherung des
Staates willen erfolgt. Der Demokratisierungsschub der Revolution wandelt die
Begründung der Herrschaft. Über den wesentlich mit ihr herbeigeführten Wandel
schreibt er Folgendes:
„Denn wird die bestehende politische Einheit und ihre Legitimität negiert, wird
nicht nur die Beschränkung einer Verfassung, sondern deren Neukonstituierung ge-
fordert, dann muss ein neues Zeichen, ein verpflichtendes Symbol, ein neuer Ein-
heits- und Gemeinschaftswert gesetzt werden, in dessen Namen die Herrschaftskon-
stituierung vorgenommen werden kann“ (ebd., S. 96).
Im Weiteren notiert er:
„Das Schwergewicht muss jetzt, da man die Grundlage für eine neue Herrschaftsbe-
gründung braucht, bei dem Einheitsbegriff liegen, der die verfassungsgebende, sou-
veräne Gewalt legitimiert. Im Augenblick, wo das demokratische Volkssouveräni-
tätsprinzip den liberalistischen Konstitutionalismus ablöst, wird die `Nation´ der re-
alpolitische Träger der demokratischen Souveränität, zum politischen Schicksal“
(ebd.).
Die Stelle der letzten Zurechnung für die Legitimität der Staatlichkeit füllt nach
der Revolution nicht mehr der Staat selbst aus. Stattdessen hat sich Herrschaft
auf das von ihr betroffene Kollektiv zu berufen, wenn sie als rechtmäßig gelten
will. Das Los der Politik ist der Verlust ihres isolierten Entscheidungsbereichs.
Die unbeschränkte Macht, die einst durch die Herrschaftskonzentration vorange-
trieben wurde, nimmt im Anschluss an die Revolution dieses Kollektiv in An-
spruch. Es vollzieht sich die „nationale Kollektivierung des Staates“, die für die
Demokratisierung wesentlich ist (vgl. Ziegler 1932, S. 10). Als souverän gilt das
Kollektiv insofern, als es einzig Herrschaft befugt, ohne selbst angewiesen zu
sein, einen Rechtfertigungsbedarf zu berücksichtigen.
„Eine Gemeinschaft, und nicht die Summe gleicher Staatsbürger, wird Träger der
Souveränität, und der Staat erscheint dadurch legitimiert, dass er mit dieser Gemein-
schaft identifiziert wird“ (Ziegler 1930, S. 250).
Als Trägerin der neuen Legitimität wird die Nation schließlich deswegen be-
stimmt, weil jenem Kollektiv nur dann unumschränkte Macht zufallen kann,
1.3 Attraktivität nationaler Macht 77
fertigen kann, dessen Angehörigen ungleich sein. Nation ist also die Trägerin der
Legitimitätsidee moderner Staatlichkeit und sie kann nicht souverän sein, ohne
dass die übrigen intermediären Mächte entmachtet werden. Mit der Revolution
wird nicht das Individuum frei, so Ziegler, sondern das Kollektiv. Gleich sind
die Individuen insofern, als sie Angehörige derselben Nation sind (vgl. Ziegler
1931, S. 243). Mit der Gleichheit des Kollektivs lässt sich dafür sorgen, dass
keine Gruppe innerhalb der Nation die Macht übernimmt. Somit begünstigt die
Nation das Vorhaben, die Herrschaft zu konzentrieren. „Praktisch wird das zent-
ralisierende und vereinheitlichende Werk des französischen Königtums fortge-
setzt und durch die nationale Kollektivierung der Souveränität radikal vollendet“
(Ziegler 1932, S. 12). Nach wie vor sind nämlich zum einen Souveränität und
zum anderen mit Eigenrecht ausgestattete intermediäre Gewalten unvereinbar.
Gleich sind die Angehörigen der Nation aber nicht nur deswegen, weil sich unter
ihnen niemand mit Vorrechten befindet, sondern weil die Verbindlichkeit der
Nation mit keiner anderen Verbindlichkeit konkurrieren muss.
Während sich noch die revolutionäre Avantgarde die Aufhebung der unum-
schränkten Macht des Absolutismus auf die Fahnen schreibt, also mit der Aspira-
tion antritt, etablierte Macht anders, nämlich verringert zu gestalten, bringt die
Revolution eine neue Macht hervor, die von keiner anderen Macht überragt wer-
den kann, und das ist die Nation. Dass sie souverän sein muss, ist, Ziegler zufol-
ge, eine notwendige Konsequenz der Demokratisierung und Kollektivierung der
Herrschaft, was wiederum zur Folge hat, dass denen, welche die nationale Herr-
schaft rechtmäßig ausüben, eine souveräne Macht zur Verfügung steht (vgl.
Ziegler 1931, S. 104). Weil also zur Nation die Souveränität gehört, nutzt insbe-
sondere die zuvor vollzogene Zentralisierung der Herrschaft der neuen Legitimi-
tätsidee. Schließlich kann keine andere Macht auf dem staatlichen Territorium
die Nation herausfordern, sobald man ihr die Staatlichkeit zurechnet.
Was aber dem Demokratisierungsschub der Revolution notwendig Rech-
nung trägt und zur Überlegenheit der Nation führt, das weist Ziegler schließlich
als ausreichend für die Nation aus, ohne dass die Tendenz zur Demokratie gege-
ben sein muss. Damit sich die Nation in Wirklichkeit tatsächlich als souverän
behaupten kann, reicht, ihm zufolge, die Aufhebung der Ungleichheit in demje-
nigen Kollektiv nicht aus, an dem sich die Rechtmäßigkeit der Staatlichkeit
misst. Die abstrakte Gleichheit der Nation, auf die sie unbedingt besteht, bildet
sich in der empirischen Wirklichkeit nicht identisch ab. Aber es muss nicht nur
die Gleichheit gewährleistet sein, sondern das Kollektiv muss auch von Gegens-
ätzen befreit sein. Weil die Nation die alleinige Trägerin der Souveränität ist,
kann es im Kollektiv nicht nur keine aus Ungleichheit hervorgehenden Machtun-
terschiede geben, sondern auch keine Opposition. Schließlich kann sich der Wil-
le, so Arendt dazu, nicht anders als entschlossen vollziehen, denn ebenso wie ein
geteilter Wille ist auch eine Einheit zwischen Menschen unvorstellbar, die ver-
schiedenes wollen (vgl. Arendt 2000, S. 96). Dass ein von innerer Opposition
1.3 Attraktivität nationaler Macht 79
die entschiedene Abgrenzung gehört (vgl. Ziegler 1937, S. 76).53 Die Gemein-
schaft der Nation erfolgt somit nicht für die Mission der Freiheit, sondern ist ein
Resultat oppositioneller Orientierung zugunsten der Ehre der eigenen Herrschaft.
Es zeigt sich, dass es weniger ideelle Freiheiten sind, die, wenn sie einmal errun-
gen sind, pflichtbewusst zu einem Transfer in andere Länder motivieren, sondern
vom nationalen Machtprestige eine mobilisierende Kraft ausgeht, wenn es sich
die Angehörigen der Nation selbst zurechnen.54
Ziegler weist auf einen weiteren Sachverhalt hin, der für die Gemeinschaft
der Nation hilfreich ist: Nach der Revolution haben Abgeordnete nicht mehr die
Aufgabe, für die Interessen bestimmter Gruppen gegenüber der Herrschaft des
Königs einzutreten, sondern sie treten als Repräsentanten der Nation auf (vgl.
Ziegler 1931, S. 104). Mit der Nation ist somit die plebiszitäre Rechtfertigung
verbunden, um die sich die Politik aktiv bemühen muss (vgl. Ziegler 1932, S.
15), was wiederum dazu führt, dass die Mobilisierung der Angehörigen der Na-
tion entscheidend wird. Die öffentliche Meinung tritt zunehmend hervor und das
bedeutet, eine neuartige Argumentation wird erforderlich, damit die Begründung
für eine politische Handlung erfolgreich Einverständnis erzielen kann. Für die
Politik wird die Zustimmung seitens der Angehörigen der Nation unentbehrlich,
die sich insbesondere mittels Oppositionen nach außen aufbringen lässt. Anstelle
für die nationale Einheit mithilfe des Hinweises auf die Richtigkeit der Staatsrä-
son zu werben, die meist bloß von Sachkundigen verstanden wird (vgl. Ziegler
1937, S. 95), beruht die nationale Mobilisierung auf anderer Grundlage: „Mobi-
lisierung durch ideelle und emotionale Argumentation wird zu einem notwendi-
gen Faktor alles politischen Handelns“ (Ziegler 1931, S. 116). Die Abhängigkeit
von den Untergeordneten bedeutet, dass die Rechtfertigung zunehmend durch
Mobilisierung von ideeller Leidenschaft und Hingebung für die Ehre und das
Interesse der Nation besorgt wird, die, so Ziegler, ein bis dahin ungekanntes
Machtmittel bietet. Weil die Nation aus Gleichen besteht, hat jedes Individuum
gleichen Anteil an der Macht der Nation (vgl. Ziegler 1932, S. 33), was wiede-
rum erlaubt, die Gleichen mit einer Argumentation zu mobilisieren, die sie alle-
samt ansprechen kann. Unvermeidlich benötigte Einheit und Rechtfertigungsbe-
darf verschaffen eine auf die mobilisierbaren Untergeordneten gegründete
53 In ihrer Interpretation der Überlegungen Rousseaus verweist Arendt auf zwei Formen der
Opposition, auf die er den einmütigen Willen einer „vielköpfigen Einheit“ zurückführt. Als
erstes der außenpolitische Feind: „Nur unter der Voraussetzung unmittelbarer außenpolitischer
Gefährdung kann es überhaupt so etwas wie `la nation une et indivisible´, das Ideal des franzö-
sischen und allen sonstigen Nationalismus, geben“ (Arendt 2000, S. 98). Neben der Eintracht
aus der Opposition gegen einen Dritten, sieht Rousseau ferner die Opposition gegen den indi-
viduellen Eigennutz vor, die wie der Gegensatz zu einer kollektiven Einheit zu behandeln ist.
Dem einmütigen Widerspruch des Individuums gegen seinen Eigennutz entstammt die Einsicht
über dessen Zurückstellung, was für die kollektive Einheit ein zu überwindendes Hindernis
darstellt (ebd., S. 99).
54 Vgl. hierzu auch Lemberg 1964, S. 93.
1.3 Attraktivität nationaler Macht 81
Macht, die der Nation die Macht zurückwirft, die sie ist. Der moderne Legitimi-
tätszwang unterstützt daher die einst vom Absolutismus vertretene Maxime der
Staatsräson, denn schließlich kann der Nation unmöglich das Machtinteresse des
Staates abgehen. „Die neue Form der Legitimität kann also, gleichsam von der
Regierungsseite her gesehen, als Mittel der Herrschaft verwandt werden“ (Zieg-
ler 1931, S. 117). Sobald die Demokratisierung einsetzt, steht man also auf der
einen Seite unter Druck, Sorge um Rechtfertigung zu tragen. Auf der anderen
Seite bietet der Rechtfertigungsdruck ein neues Machtpotential, wenn die Recht-
fertigung auf der Grundlage der Massenmobilisierung besorgt wird.
Der weiteren Geschichte der Ersten Republik entnimmt Ziegler anschlie-
ßend, dass der Nation die plebiszitäre Rechtfertigung abkömmlich ist. Weil näm-
lich die Idee der nationalen Selbstbestimmung für die napoleonischen Feldzüge
belanglos wird, ohne dass die Mobilisierung der Nation abbricht, zieht er folgen-
den Schluss: Es ist nicht die Demokratie, auf welche die Nation unbedingt an-
gewiesen ist, sondern die Identifikation mit der Machtkonzentration des Staates
ist ihr wesentlich, welche die Bereitschaft auslöst, von der Nation unabhängige
Belange zu ihrem Gunsten zurückzustellen.
„Die Nation, die durch die Revolution“, schreibt er, „zu einem sozial wirksamen und
tatsächlich verbindlichen Bewusstsein von ihrer Identität mit der staatlichen Herr-
schaftsorganisation gekommen war, rechnet sich nun alle Siege des Kaisers selbst
zu, kann die Erfolge seiner Politik als eigenen Prestige- und Machtzuwachs empfin-
den und wird daher zu den größten Opfern bereit“ (ebd., S. 120).
Das Primat der sozialen Verbindlichkeit kann die Nation also für sich veran-
schlagen, weil sich ihre überragende Macht für die Untergeordneten dazu eignet,
sich mit ihr zu identifizieren, sie somit als zu sich gehörend zu begreifen. Daher
schließt Ziegler, dass sich die Idee Nation auch mit nicht-demokratischen Staa-
ten vereinbaren lässt (vgl. Ziegler 1930, S. 247). Nationalisierung der Herrschaft
kann, ihm zufolge, Demokratie entbehren, 55 sofern Identifikation mit ihrem un-
übertroffenen Machtanspruch und Machtprestige möglich ist, was das hervortre-
ten lässt, das für die Nation nicht entbehrlich ist: verstetigte Macht. Die Gemein-
schaft, die in einem Zusammenhang mit der Macht des eigenen Staates steht, ist
auch für Elias nicht auf einen demokratischen Staat eingeschränkt. Die gegen-
55 Dass der Nation die Demokratie abgehen kann, steht ebenfalls für Arendt außer Zweifel: „Das
Einzige, was die auf der volenté générale gegründeten Nationalstaaten immer wieder vor dem
unmittelbaren Zusammenbruch rettet, ist die phantastische Leichtigkeit, mit der jeder, der Lust
auf die Last und Glorie der Diktatur hat, diesen so genannten Nationalwillen manipulieren und
sich unterwerfen kann. Die Diktatur ist die Regierungsform, die dem Nationalstaat gleichsam
auf den Leib geschrieben ist, und Napoleon Bonaparte war nur der erste und ist immer noch
einer der größten unter den nationalen Diktatoren […]“ (Arendt 2000, S. 212; Herv. im Orig.).
Im Hinblick darauf, die „Loyalität zum Verfassungsstaat“ auf Seiten ihrer Angehörigen voran-
zutreiben, ist die Nation auch für Habermas weniger von Nutzen, weil sie eine Einsatzbereit-
schaft für anderweitige als demokratische Ziele mobilisiert (vgl. Habermas 1999, S. 142).
82 1 Nation
über der Demokratie im Vordergrund stehende Verehrung der Macht als solcher
beschreibt er wie folgt:
„Es ist ein Kennzeichen von Demokratieprozessen, das vielleicht noch nicht die
Aufmerksamkeit gefunden hat, die es verdient, dass Menschen im Zuge dieses Pro-
zesses, ob sie auf einen Mehrparteien- oder Einparteienstaat, eine parlamentarische
oder diktatorische Regierungsform hinauslaufen, solche numinosen Qualitäten und
die entsprechenden Emotionen an die Gesellschaft heften, die sie selbst miteinander
bilden“ (Elias 1989, S. 190).
Wenn also die sinnhafte Orientierung der nationalen Vergemeinschaftung der
eigene Staat ist56, dann liegt eine Mobilisierungsmöglichkeit vor, mit der sich
eine Gemeinschaft erzielen lässt, die ansonsten vor den inneren Gegensätzen
haltmacht. Der Nationalstaat ist deswegen mächtiger als andere und vorherige
Herrschaftsverbände, weil sich die Angehörigen der Nation mobilisieren lassen,
was die Orientierung an der Richtigkeit der Unterordnung unterstützt. Während
also das Volk aufgrund der sozialen Heterogenität keine Einheit aufweist, ist die
Gemeinschaft im Falle der Nation deswegen möglich, weil sie nach innen ge-
meinsam die Kollektivierung der Herrschaft beansprucht, während sie sich nach
außen aus der Opposition formiert (vgl. Ziegler 1931, S. 243). Für die Angehöri-
gen einer Nation gilt aber, dass sie an sich keine harmonische Homogenität auf-
weisen. Ziegler dazu:
„Dabei handelt es sich immer um den gleichzeitigen Prozess eines inneren Zusam-
menschlusses und eines Abschlusses nach außen. Die innenpolitische Integrierung
hat den Pluralismus und Antagonismus des Gesellschaftlichen zur Voraussetzung.
Alles gesellschaftliche Sein, alle gesellschaftliche Entwicklung steht unter der täg-
lich neu beginnenden Auseinandersetzung zwischen dieser Vielfalt gleichzeitig ne-
beneinander existierender oder konkurrierender Kräfteausrichtungen“ (ebd., S. 245).
Der Gemeinschaft stehen also stets die Differenzen gegenüber. Sie ist relativ zu
diesen, was wiederum bedeutet, dass Gemeinschaft nicht an sich gegeben ist.
Ziegler bemerkt ferner, dass die Souveränität der Nation nicht bloß eine
emotionale Mobilisierung auf der Grundlage des nationalen Machtprestiges er-
möglicht, sondern als unbeschränkter Machtanspruch eines Kollektivs dem Indi-
vidualismus, der am prinzipiellen Schutz des Individuums als zentraler Maxime
festhält, gegenüber überlegen ist. Wo sich nämlich die nationale Souveränität
durchsetzt, da ist das Individuum nur als Angehöriger der Nation frei und gleich
(ebd., S. 236). Überdies tritt eine weitere Unstimmigkeit auf, wenn die Nation
das letzte Machtziel ist, denn infolgedessen braucht sie nicht vor dem Recht
haltzumachen: „Souveränität des Rechts oder Souveränität des politischen Kol-
57 Die später sich ergebende Höherwertigkeit nationaler gegenüber humanistischer Ideale analy-
siert Elias. Die Ablösung ist dadurch gekennzeichnet, dass die einstigen Vertreter der humanis-
tischen Ideale sich weniger an erreichbarem Fortschritt und mehr an die mystische Vergangen-
heit der Nation orientieren (vgl. Elias 1989, S. 175).
84 1 Nation
erforderliche Eintracht der Nation ergeben kann. Weil die unübertreffbare Macht
von Seiten eines Kollektivs ausgeübt wird, das keine Einheit an sich, sondern
vielfältige Differenzen aufweist, ist ein Begriff der Nation ohne Berücksichti-
gung des Hergangs der Gemeinschaft unvollständig. Wenn also Macht das We-
sen der Nation ist, dann lässt sich konsequenterweise die Eintracht der neuen
Mächtigen nicht ausblenden, und zwar ist das eine Eintracht, die sich nicht als
naturwüchsig unterstellen lässt. Schließlich ermöglicht die Übertragung der Sou-
veränität vom absoluten Staat auf ein Kollektiv, alle seiner Angehörigen anzu-
sprechen und zu verpflichten. Der Appell kann aber durchaus auf eine an sich
bestehende Gemeinschaft verweisen, und zwar lässt sich eine solche Orientie-
rung daran lancieren, dass sich das historische und soziale Geschehen der Nation
verschuldet, wobei es ihr selbst abgeht, von weiteren Kausalzusammenhängen
betroffen zu sein. Diese irrationale Unterstützung der Legitimität moderner
Staatlichkeit ist das eigentliche Untersuchungsanliegen Zieglers. Die moderne
Rationalisierung der Herrschaft führt zwar zur Aufhebung ihres vormals überir-
dischen Fundaments, wird aber von einer irrationalen Veranlassung zur Unter-
ordnung, „einem nicht säkularisierten Rest von Transzendenz“ (Habermas 1999,
S. 138) begleitet. Konnte sich dynastische Herrschaft einst durch den Bezug auf
eine göttliche Ordnungslehre gegen weltliche Rivalen absichern, so macht es die
Legitimitätsidee Nation möglich, weiterhin mit irrationalen Orientierungen für
die Beschaffung von Legitimität zu sorgen. Ziegler schreibt:
„Gegenüber Lehren, die immer wieder von einem Rationalisierungsprozess als ei-
gentlichem Merkmal der modernen Entwicklung sprechen, ist festzustellen, dass
gleichzeitig sich ein Irrationalisierungsprozess abgespielt hat und weiter abspielt.
Eines seiner wesentlichsten Resultate ist eben die Nationalisierung des Bewusst-
seins, die universelle Geltung der Nationidee“ (ebd., S. 231).
Wer die Rationalisierung der Herrschaft untersucht, darf also, ihm zufolge, den
irrationalen Kollektivismus nicht übersehen, mit dem sich Massenmobilisierung
und Einsicht in die Unterordnung erzielen lassen. An einer Herrschaft, die insge-
samt eine heilige Sanktionierung entbehrt, zweifelt auch Arendt, für die eine
bloß irdisch fundierte Herrschaft gegenüber einer der freiwilligen Unterordnung
willkommenen Geltungskraft göttlicher Gebote nicht ebenbürtig sein kann, so
dass sie schließlich folgert: Das Minus an weltlicher Macht, das Säkularisierung
herbeiführt, kann die Kirche besser bewältigen, als der säkularisierte Staat die
Einbuße religiöser Weihung verkraften kann (vgl. Arendt 2000, S. 209).
2 Herrschaft
Weber entwickelt eine Typologie der Herrschaft und geht hierfür nicht davon
aus, dass die Legitimität von Herrschaft ihr selbst unterliegt, d.h. er begreift sie
als kulturelles Artefakt, und das bedeutet, dass sie hervorgerufen wird. Dafür
macht er insbesondere den Beitrag der Untergeordneten geltend. Er konstruiert
die Typologie der Herrschaft anhand der von den Handelnden reklamierten Legi-
timität (vgl. Weber 2002, S. 16; 1951, S. 469 f.).
Um das Wirken der Untergeordneten, das für die Legitimität von Herrschaft
konstitutiv bedeutsam ist, erklären zu können, wird zunächst berücksichtigt, in-
wiefern Weber das Handeln für seine Wissenschaft akzentuiert. Das lässt sich
anhand seines Rückgriffs auf das Handeln hinsichtlich der Konstitution des kul-
turwissenschaftlichen Paradigmas bewerkstelligen. Daher wird nun die Integrati-
on des menschlichen Handlungsvermögens in seinen methodologischen Überle-
gungen offen gelegt. Zur Beantwortung der Frage, wie Weber die primäre Stel-
lung des Handelns in seinem Denken über Prozesse von Gesellschaft und Ge-
schichte begründet, werden nun seine Beiträge hinsichtlich der Zulässigkeit von
Werten in der wissenschaftlichen Lehre und im Hinblick auf die Möglichkeit
hergeleitet, die Geltung von Werten wissenschaftlich zu festzulegen. Folgende
Arbeitsschritte sind vorgesehen: Zunächst wird Webers Haltung rekonstruiert,
die er gegenüber professoralen Stellungnahmen zu praktischen Sachverhalten
formuliert. Als zweites werden die wissenschaftlich hervorgebrachten Hindernis-
se vorgeführt, die das selbstverschuldete Scheitern jedes wissenschaftlichen Ver-
suchs zur Begründung der Geltung von Werten verursachen. Am Ende wird ver-
ständlich gemacht, dass es der handelnde Mensch ist, der über die Orientierung
bietende Geltung von Werten entscheidet.
Weber befürwortet ein Postulat, und das lautet: „Politik gehört nicht in den
Hörsaal“ (Weber 1994, S. 14). Die Bemerkung bietet sich als Zugang zu seinen
hochschuldidaktischen Überlegungen über das Vertreten eines Werts während
einer universitären Lehrveranstaltung an. Die Auseinandersetzung über das Für
und Wider der Werte im Beruf des Wissenschaftlers kann man, ihm zufolge,
differenzieren: Die Zulässigkeit der Vermittlung von Werten in der Lehre ist
eine Frage, die unabhängig von der Frage über die Zulässigkeit von Werten in
der Forschung entschieden werden muss, d.h. der Grund, warum sich die Hoch-
schullehre nicht als Schauplatz für die Entrüstung über oder das Werben für ei-
nen Wert instrumentalisieren lässt, unterscheidet sich von den Gründen, die We-
ber nennt, wenn er über die Orientierung an Werten im Prozess der Erkenntnis-
gewinnung räsoniert (vgl. Weber 1951, S. 475).
Zu seinem didaktischen Postulat: Die politische Stellungnahme, die der
nicht von der Politik lebende Berufswissenschaftler im Lehrvortrag u.a. als sen-
dungsbewussten Aufruf oder als Empörung über das Abweichen von einem fa-
vorisierten Wert artikuliert, verlangt Weber, von der Lehre zu sondern. Die Auf-
forderung lässt zunächst erkennen, dass Werte in der Vorlesung gänzlich unter-
sagt seien. Das aber lediglich als Zugang zu seiner Methodologie gewählte Pos-
tulat soll weder beansprucht werden, um eine Zensuranleitung in Webers Auf-
fassung über Hochschuldidaktik zu erkennen, noch um seine Wissenschaftslehre
zugunsten völliger Wertfreiheit zu kennzeichnen. Er spricht sich nämlich nicht
dafür aus, Werte für sich zu behalten. Die Aufforderung, es zu unterlassen, Wer-
te in der Hochschullehre geltend zu machen, ist ebenso wenig umfassend wie die
Ausgrenzung von Werten aus einem Forschungsvorhaben. In der Lehre wie in
der Forschung lässt er die Option zu bzw. für Letztere integriert er die Orientie-
rung an Werten bei der Annäherung eines Forschenden an ein Forschungsvorha-
ben in die wissenschaftstheoretischen Vorgaben.
Seine hochschuldidaktische Auffassung hält die Option für ein Redeverhal-
ten bereit, das er intellektuelle Rechtschaffenheit nennt (ebd., S. 476 f.). Er favo-
risiert nicht die vollständige Ausgrenzung von Werten aus der Lehre, denn statt-
dessen verlangt er, dass sich die Lehrenden der intellektuellen Rechtschaffenheit
verpflichten, konkret: Er plädiert für die Ankündigung eines praktisch-wertenden
Kommentar seitens der Lehrenden während eines wissenschaftlichen Vortrags.
Weber befürwortet also nicht, Wertungen aus dem Lehrvortrag vollständig zu
isolieren, sondern er spricht sich dafür aus, diese als solche in der Rede kenntlich
zu machen, d.h. Hochschullehrer sollen Studierende darauf aufmerksam machen,
dass sie die Vermittlung von und Auseinandersetzung mit Wissen unterbrechen,
um eine subjektive Vorstellungen über einen praktischen Sachverhalt kundzutun.
Aus folgendem Grund fordert Weber von seinen Berufskollegen, sich an seinem
hochschuldidaktischen Vorschlag zu orientieren: Sofern die Redeanteile der Leh-
renden im Hörsaal dominieren, soll die Redesituation in der Lehrveranstaltung
nicht zugunsten ihrer Rhetorik ausfallen:
„Im Hörsaal, wo man seinen Zuhörern gegenübersitzt, haben sie zu schweigen und
der Lehrer zu reden, und ich halte es für unverantwortlich, diesen Umstand, daß die
Studenten um ihres Fortkommens willen das Kolleg eines Lehrers besuchen müssen,
und daß dort niemand zugegen ist, der diesem mit Kritik entgegentritt, auszunützen,
um den Hörern, nicht wie es seine Aufgabe ist, mit seinen Kenntnissen und wissen-
schaftlichen Erfahrungen nützlich zu sein, sondern sie zu stempeln nach seiner per-
sönlichen politischen Anschauung“ (Weber 1994, S. 14).
2.1 Akzentuierung des Handelns 87
Anhand seiner Idee über den Bildungsauftrag der Universität begründet er die
Auffassung: Die Hochschullehre soll, ihm zufolge, weniger für den Transfer von
Werten dienen, als vielmehr Sorge um die Disziplinierung für den fachgeschul-
ten und akademischen Beruf zu tragen, um die Berufsausbildung nicht von den
an Werten orientierten Affekten zu stören (vgl. Weber 1951, S. 480). Hingegen
wirkt Professoren-Prophetie kulturhemmend, wo sie keine Widerrede duldet und
somit den Wertantinomie blockiert (vgl. Weber 1994, S. 15 ff.). Insofern also die
Markierung von Werten im Lehrvortrag zu leisten ist, sieht intellektuelle Recht-
schaffenheit die vollständige Wertfreiheit in der Lehre nicht vor. Wenn der
Hochschullehrer u.a. über Wege zur Ermittlung empirischer Tatsachen referiert,
so äußert er nur darüber hinaus und nur nach expliziter Signalisierung subjektive
Auffassungen gegenüber Werten. Die sittliche Bildung der Studierenden gehört
zwar auch zum Auftrag der Universität, im Hinblick auf die wissenschaftliche
Forschungsleistung gilt für Weber aber, […] „dass es niemals Aufgabe einer
Erfahrungswissenschaft sein kann, bindende Normen und Ideale zu ermitteln,
um daraus für die Praxis Rezepte ableiten zu können“ (Weber 1951, S. 149).
Vorerst lässt sich also notieren: Weber setzt sich für eine eingeschränkte Aus-
sonderung von Werten in der Lehre ein. Zu den Zwecken der Wissenschaft zählt
er nicht die Analyse von Werten im Hinblick darauf, eine unerschütterliche Be-
gründung in Form eines empirisch erwiesenen Befunds vorzulegen, der eine fi-
nale Glaubensvorgabe zur Verfügung stellt.
Während der Wissenschaftler im universitären Lehrbetrieb die sittliche Bil-
dung der Studierenden nicht durch imperative Verkündigung von Werten besor-
gen kann, stößt die Wissenschaft auf bestimmte Hindernisse, die sie davon ab-
halten, die Geltung von Werten zu bestimmen. Zu den Hindernissen:
(1) Grundsätzlich unabschließbare Erkenntnisvorgänge: Konstitutiv für die
wissenschaftliche Arbeit ist, dass die entzauberte Forschung – und das ist die
Disqualifizierung der Auffassung, dass die Erkenntnis der Dinge an unerreichba-
ren Kräften halt macht – nur zeitlich begrenzt über ihren Gegenstand informieren
kann. Auf diese Weise wirkt sie als Motor dafür, die Begrenzung der Forschung
von der Annahme zeitresistenten Wissens zu emanzipieren (vgl. Weber 1994, S.
12). Das Schicksal wissenschaftlicher Arbeit beschreibt er folgendermaßen:
„[…] jede wissenschaftliche `Erfüllung´ bedeutet neue `Fragen´ und will `überboten´
werden und veralten. Damit hat sich jeder abzufinden, der der Wissenschaft dienen
will. Wissenschaftliche Arbeiten können gewiss dauernd, als `Genussmittel´ ihrer
künstlerischen Qualität wegen, oder als Mittel der Schulung zur Arbeit, wichtig
bleiben. Wissenschaftlich aber überholt zu werden, ist – es sei wiederholt – nicht nur
unser aller Schicksal, sondern unser aller Zweck. Wir können nicht arbeiten, ohne zu
hoffen, dass andere weiter kommen werden als wir. Prinzipiell geht dieser Fort-
schritt ins Unendliche“ (ebd., S. 8; Herv. im Orig.).
88 2 Herrschaft
58 Die Kennzeichnung dieses Sachverhalts kommt in Webers Schriften nicht selten in metaphori-
scher Weise vor: „Es handelt sich nämlich zwischen den Werten letztlich überall und immer
wieder nicht nur um Alternativen, sondern um unüberbrückbar tödlichen Kampf, so wie zwi-
schen `Gott´ und `Teufel´“ (Weber 1951, S. 493).
2.1 Akzentuierung des Handelns 89
die Seele, wie bei Platon, ihr eigenes Schicksal: – den Sinn ihres Tuns und Seins
heißt das – wählt“ (ebd., S. 493; Herv. im Orig.).
Beim Handeln erfolgt demnach kulturelle Dynamik als eigenes Ermessen, das
der Sinnsetzung voraus ist und darüber hinaus in der Interaktion als Sinnsetzung
auf die Sinnsetzung anderer. Wichtig ist, dass die Wissenschaft statt ihrer sonst
üblicherweise angebotenen Hilfestellungen, die das Handeln unter bestimmten
Umständen erleichtern, nun jene Auseinandersetzung torpediert.
„Wenn“, so Weber über den Beitrag der modernen Wissenschaft im Hinblick auf
Wertfragen, „irgend etwas, so sind sie geeignet, den Glauben daran: daß es so etwas
wie einen `Sinn´ der Welt gebe, in der Wurzel absterben zu lassen“ (Weber 1994, S.
12; Herv. im Orig.).
Die Wissenschaft ist also daran beteiligt, die Wertantinomien besiegelnde Aus-
tragungsmöglichkeiten so zu transformieren, dass diese, indem der unendliche
Wissenschaftsbetrieb die Verfügbarkeit letzter Werte nivelliert, aufgrund ihrer
grundsätzlichen Unabschließbarkeit eine enorme Last für den Menschen bedeu-
ten (ebd., S. 17). Konsequenz der wissenschaftlichen Fortschrittsdynamik hin-
sichtlich der Umstände für Kämpfe zwischen Werten ist also, Instabilität für die
endlichen Entscheidungen zu hervorzubringen, die, um Ambivalenz endgültig
aufzulösen, darauf angewiesen sind, jede alternative Entscheidung abzustoßen.
(3) Überstrapazierung der Beobachtungsmöglichkeiten: Zu Webers Anlie-
gen gehört es, einen Beitrag zur Begründung der akademischen Identität der Kul-
turwissenschaft zu leisten, nur liegt dem nicht die Absicht zugrunde, methodolo-
gische Vorgaben für die Wissenschaft vom menschlichen Handeln einzig auf der
Abgrenzung von der Naturwissenschaft zu konstruieren. Primär geht es ihm
nicht darum, die Erkenntnisse der Erscheinungen, die bedingungslos Abseits der
menschlichen Handlung, von den Erkenntnissen der Erscheinung zu trennen, die
als menschliche Handlung beobachtbar sind (vgl. Weber 1951, S. 12). In den
wissenschaftstheoretischen Schriften erschließt er die Konstitution kulturwissen-
schaftlicher Erkenntnisgewinnung gegen die Ansätze, bei denen die Ermittlung
von Erkenntnissen über Gesellschaft und Geschichte das Ziel verfolgen, allge-
meine und von Zeit und Raum unabhängige Gesetze und Gattungsbegriffe auf-
zustellen (ebd., S. 17, 51, 134, 171 f., 178 ff., 185 f., 300 ff., 368, 400 f.). Weber
nimmt Stellung zur Erforschung von Gesellschaft und Geschichte, indem er vor-
führt, warum es nicht ausreicht, allgemeine Gesetze zu ermitteln. Dass es nicht
Aufgabe der Wissenschaft ist, jene infolge beobachteter Wiederkehr der Er-
scheinungen zu entdecken, begründet er wie folgt: In einer Gegenüberstellung,
die er in den wissenschaftstheoretischen Schriften zwischen Gesetzes- und Wirk-
lichkeitswissenschaft explizit vornimmt, identifiziert er Erstere anhand der nach-
stehenden Kennzeichen: Mithilfe von berechenbaren Korrelationen soll das in
90 2 Herrschaft
59 Das Erkenntnisinteresse des Forschers, das sich auf die Qualität des zu untersuchenden Gegen-
stands richtet, tritt beim naturwissenschaftlichen Vorgehen hinter die beobachtete Regelmäßig-
keit zurück: „Immer wieder hat man geglaubt, das entscheidende Merkmal auch in den Kul-
turwissenschaften in letzter Linie in der `gesetzmäßigen´ Wiederkehr bestimmter ursächlicher
Verknüpfung finden zu können“ (ebd., S. 171). Wenn Wissenschaft das Gesetz hinter der er-
scheinenden Regelmäßigkeit ermitteln will, ist die Qualität des Gegenstands nebensächlich und
wird folgendermaßen behandelt: „Was nach dieser Heraushebung des `Gesetzmäßigen´ jeweils
von der individuellen Wirklichkeit unbegriffen verbleibt, gilt entweder als wissenschaftlich
noch unverarbeiteter Rückstand, der durch immer weitere Vervollkommnung des `Gesetzes´-
Systems in dies hineinzuarbeiten sei, oder aber es bleibt als `zufällig´ und eben deshalb wis-
senschaftlich unwesentlich beiseite, eben weil es nicht `gesetzlich begreifbar´ ist […]“ (ebd.).
Weber leugnet nicht, dass Regelmäßigkeiten von Handlungsweisen vorhanden sind, er wehrt
sich aber dagegen, dass die Sinnhaftigkeit der individuellen Handlung der strengen Gesetzmä-
ßigkeit untergeordnet wird (ebd., S. 173). Er leugnet auch nicht die Brauchbarkeit von Geset-
zen in der Kulturwissenschaft; mehr dazu unten.
60 Wenn gesellschaftliche und geschichtliche Geschehen sinnhaft überfrachtet vorliegen, dann
erklärt Weber damit den Umstand, dass eine durch menschliches Handeln hervorgerufene Er-
scheinung in ihrem Hergang aus einer heterogenen Verzweigung vielfältiger Kausalitätszu-
sammenhänge besteht. Die schrittweise Rekonstruktion der an einer Erscheinung beteiligten
Gründe ist grundsätzlich sinnlos, da dies das Rückwärtsschreiten einer unendlichen Kausalket-
2.1 Akzentuierung des Handelns 91
hen, das dem forschenden Beobachter sinnlos und kausal indifferent gegenüber-
tritt, liegt als einzigartig-partikulare Wirklichkeit vor, die als solche nur dann aus
der unüberschaubaren Menge der Kausalkontexte des zu beobachtenden Gesche-
hens hervortritt, wenn jener anhand der Gesichtspunkte, mit denen er den For-
schungsgegenstand konfrontiert61, die interessengeleitete Erforschung und sinn-
hafte Einzigartigkeit des Geschehens konstituiert. Wenn also jede Kulturerschei-
nung einzigartig ist und die kulturwissenschaftliche Erforschung eines Gegen-
standes notwendig unvollständig bleibt, dann erkennt Wirklichkeitswissenschaft,
indem sie sich nur die begrenzte Beobachtung eines sinnhaften Teils des Ge-
te erfordert (ebd., S. 171). Weber erteilt eine Absage an die Wissenschaft, die eine Erscheinung
im Hinblick auf ein nomologisches Erkenntnisziel untersucht.
61 Die kulturwissenschaftliche Forschung beansprucht nicht die erschöpfende Analyse des ganzen
Gegenstands, sie geht aber in schöpferisch-selektiver Weise vor. „Denn der Begriff des
`Schöpferischen´ ist, wenn er nicht einfach mit dem der `Neuheit´ bei qualitativen Verände-
rungen überhaupt gleichgesetzt, also ganz farblos wird, kein reiner Erfahrungsbegriff, sondern
hängt mit Wertideen zusammen, unter denen wir qualitative Veränderungen der Wirklichkeit
betrachten“ (ebd., S. 49). Die Kulturwissenschaft schöpft also das Wissenswerte aus der uner-
schöpflich weiten Wirklichkeit, indem sie dieser mit einem besonderen Interesse gegenüber-
tritt. Wenn der Forscher die Selektion der sie interessierenden Bestandteile einer zu untersu-
chenden Erscheinung vornimmt, geht er bedeutungsorientiert vor. Diese Wertbeziehung er-
möglicht einen endlichen Eingriff in die unendliche Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit, denn
die Forschung antreibenden Wertideen erlauben, bestimmte kulturbedeutsame Kausalzusam-
menhänge einer Erscheinung zu filtern (ebd., S. 175 ff.). Die interessengeleitete Selektion kon-
stituiert ein historisches Individuum: „Wir erstreben eben die Erkenntnis einer historischen,
d.h. einer in ihrer Eigenart bedeutungsvollen, Erscheinung. Und das entscheidende dabei ist:
nur durch die Voraussetzung, daß ein endlicher Teil der unendlichen Fülle der Erscheinungen
allein bedeutungsvoll sei, wird der Gedanke einer Erkenntnis individueller Erscheinungen
überhaupt logisch sinnvoll“ (ebd., S. 177; Herv. i. Orig.). Bei der Stiftung der Wertbeziehung
muss der Forscher sensibel genug sein, um die epochal bedeutsamen Kulturwerte zu erkennen
und diese für die Wirkungszusammenhänge festzulegen, durch die eine Erscheinung zu Tage
tritt, denn es ist nicht der empirische Stoff, der die Gesichtspunkte vorgibt (ebd., S. 182). Für
die Analyse des historischen Individuums legt Weber ein Programm vor, in dem die ausge-
wählten Kausalitätszusammenhänge einem Vergleich mit nomologischen Hilfsmitteln unterzo-
gen werden, aus dem das Verstehen der besonderen Kulturbedeutung resultiert und der die
Verquickung einzelner an der Erscheinung beteiligter Bestandteile ursächlich zu erklären er-
möglicht (ebd., S. 174 f.). Die zum Einsatz kommende nomologische Hilfe soll, so Weber,
durch die rationale und widerspruchsfreie Steigerung der Wirkungszusammenhänge als un-
wirkliche Vergleichsfolie geschaffen werden (ebd., S. 190 ff.). Der so konstruierte Idealtypus
kann aus gesetz- oder gattungsmäßigen Terminologien bestehen, und soll weder Wirklichkeit
abbilden, denn die eingegrenzte Sinnhaftigkeit dieser soll erst durch die Differenz aus dem
nomologischen Vergleich verstehbar werden, noch soll er das Forschungsziel sein. „[…]
Zweck der idealtypischen Begriffsbildung ist es überall, nicht das Gattungsmäßige, sondern
umgekehrt die Eigenart von Kulturerscheinungen scharf zum Bewusstsein zu bringen“ (ebd., S.
202). Weber schöpft die Identität der Kulturwissenschaft nicht durch die Abgrenzung von der
Naturwissenschaft, statt dessen schafft er die Konstruktion des methodologischen Programms
jener durch die Integration von nomologischen Mitteln, betont aber, dass Gesetze und Gat-
tungsbegriffe nicht das kulturwissenschaftliche Erkenntnisziel bestimmen.
92 2 Herrschaft
62 Dazu schreibt Simmel: „Wo wir von der Verursachung irgend eines psychischen Ereignisses
durch ein anderes sprechen, da ist das letztere in der Isolierung und Selbständigkeit, die sein
sprachlicher Ausdruck anzeigt, doch nie die an sich zureichende Veranlassung des ersteren;
vielmehr gehört der ganze übrige bewusste und unbewusste Seeleninhalt dazu, um im Verein
mit der neu eingetretenen Bewegung, den weiteren Vorgang zuwege zu bringen“ (Simmel
1989, S. 121).
2.1 Akzentuierung des Handelns 93
Umbildung, der unmittelbar gegebenen Wirklichkeit und durch Einordnung in diejenigen Be-
griffe, die dem Stande ihrer Erkenntnis und der Richtung ihres Interesses entsprachen, entwi-
ckelt hat, steht in steter Auseinandersetzung mit dem, was wir an neuer Erkenntnis aus der
Wirklichkeit gewinnen können und wollen. In diesem Kampf vollzieht sich der Fortschritt der
kulturwissenschaftlichen Arbeit“ (ebd., S. 207; Herv. im Orig.).
96 2 Herrschaft
64 Welche Beschaffenheit der zeitgenössische Kontext aufweist, in den Webers Vorgaben des
Kategorienaufsatzes (1951) und der Soziologischen Grundbegriffen (2002) gehören, erklärt
Lichtblau (2006).
2.2 Handeln und Verstehen 97
ständliches´ Handeln, und das heißt ausnahmslos: auf Handeln der beteiligten Ein-
zelnmenschen zu reduzieren“ (Weber 1951, S. 439).
Ist das Tun, Unterlassen oder Dulden eines Menschen so beschaffen, dass sich
von Handeln sprechen lässt, muss ein gesetzter Sinn vorhanden sein. Der kogni-
tive Vorgang im Hinblick auf den zu wählenden Sinn als Bestandteil des Han-
delns kann Umstände, Zwecke, Mittel und Konsequenzen beachten. Wenn das
Objekt, das mit dem Sinn gekoppelt ist und das für die zuvor getroffene Ent-
scheidung kognitiv aufgerufen wird, ein anderer Mensch ist und wenn dessen
Tun, Unterlassen oder Dulden berücksichtigt wird, dann liegt soziales Handeln
vor (vgl. Weber 2002, S. 11). Über den Anderen stellt der Handelnde bestimmte
Erwartungen an, an denen er sich schließlich bei der Entscheidung über den Be-
stimmungsgrund für das eigene Handeln orientiert. Eine Bestandsaufnahme über
soziales Handeln von zwei oder mehr Individuen mit vorgestellten Erwartungen
an den jeweiligen Anderen, die nicht nur der eine sozial Handelnde, sondern alle
Beteiligten hegen, nennt Weber eine soziale Beziehung (ebd., S. 14). Beim sozia-
len Handeln von wechselseitig sich verstehenden Individuen können die zugrun-
de gelegten Sinnhaftigkeiten übereinstimmen oder voneinander abweichen.
Notwendig müssen die Beteiligten einer sozialen Beziehung und sozial Han-
delnde überhaupt die Verhaltensäußerungen anderer lesen können, um infolge
die Erwartungen vorzustellen. Verstehen ist eine Komponente im Ablauf sozia-
len Handelns in und außerhalb einer sozialen Beziehung, denn für den sozial
Handelnden wird der beobachtete Mensch nur durch Bedeutungsträger versteh-
bar. „Der Umstand, daß `äußere´ Zeichen als `Symbole´ dienen, ist eine der kon-
stitutiven Voraussetzungen aller `sozialen Beziehungen´“ (Weber 1951, S. 332).
Damit Handeln vorliegt, ist also die Sinnhaftigkeit bedeutsam ist, indessen
gilt das menschliche Verhalten dann als sinnlos, wenn es durch einen Trieb mo-
bilisiert ist. Weber identifiziert ein unverstehbares Verhalten anhand der Abwe-
senheit von sinnhaften Gründen. Das sinnlose Verhalten ist insofern für den Ide-
altypus des Handelns bedeutsam, als sich erst durch die im Vergleich von beiden
auftretende Diskrepanz die Unberechenbarkeit des Ersteren und Verstehbarkeit
des Letzteren konstatieren lässt. In der Realität des Handelns muss es zudem in
seinem Ablauf nicht isoliert von triebhaften Bestandteilen auftreten. „Verstehba-
re und nicht verstehbare Bestandteile eines Vorgangs sind oft untermischt und
verbunden“ (Weber 2002, S. 2). Die Dichotomie von sinnlosen Verhalten und
Handeln hält Weber für reale Vorgänge nicht aufrecht, sondern entwickelt sie
nur für die soziologische Terminologie. „Mit anderen Worten: individuelles
Handeln ist seiner sinnvollen Deutbarkeit wegen, – soweit diese reicht – prinzi-
piell spezifisch weniger `irrational´ als der individuelle Naturvorgang“ (Weber
1951, S. 67; Herv. im Orig.).
Verständlich können zum einen die beobachtbaren äußeren Bedeutungsträ-
ger des Handelns sein, die seitens des Beobachters einer Handlung sinnlich gele-
98 2 Herrschaft
sen werden können. Zum anderen lässt sich der im Handeln hinterlegte Sinn des
konkret Handelnden verstehen, d.h. der eine Handlung mobilisierende Zweck
und ebenso die eingesetzten Mittel können ihrem Bezug nach verständlich auf
diese zurückgeführt werden. Jene Art nennt Weber aktuelles Verstehen, während
diese Art erklärendes Verstehen unternimmt (vgl. Weber 2002, S. 3 f.). Für das
wissenschaftliche Verstehen kommt es darauf an, den aus einer Wertbeziehung
hervorgegangenen Gegenstand dahingehend zu erklären, dass eine Zurechnung
der als wissenswert ausgewiesenen Komponenten zu den antreibenden Sinnzu-
sammenhängen aufgedeckt werden kann (ebd., 4). Wenn es Ziel einer Untersu-
chung ist, einen sozialen Gegenstand dahingehend zu erforschen, dass sich die
Kulturbedeutung erschließen lässt, dann ist es erforderlich, das mit dem Gegen-
stand verbundene soziale Handeln in der Weise zu behandeln, mit der sich das
Motiv oder die Motivkette rekonstruieren lässt. Weber dazu:
„Jedes Artefakt, z.B. eine `Maschine´, ist lediglich aus dem Sinn deutbar und ver-
ständlich, den menschliches Handeln (von möglicherweise sehr verschiedener Ziel-
richtung) der Herstellung und Verwendung dieses Artefakts verlieh (oder verleihen
wollte); ohne Zurückgreifen auf ihn bleibt sie gänzlich unverständlich. Das Ver-
ständliche daran ist also die Bezogenheit menschlichen Handelns darauf, entweder
als `Mittel´ oder als `Zweck´, der dem oder den Handelnden vorschwebte, und wo-
ran ihr Handeln orientiert wurde. Nur in diesen Kategorien findet ein Verstehen sol-
cher Objekte statt“ (ebd., S. 3).
Wichtig ist, dass die (Kultur-)Bedeutung eines Gegenstands nicht abseits der auf
ihn bezogenen Vorgänge sozialen Handelns verständlich vorhanden ist. Die
Menschen sind also insoweit Informanten für die Bedeutung der sozialen Gegen-
stände und für das Verständnis von Kultur, als diese in der handlungsweisenden
Orientierung und der Entscheidung für den subjektiven Sinn reflektierte Berück-
sichtigung finden. Als Beteiligter im Bedeutungsverkehr kann der Mensch be-
stimmte Bedeutung in der Handhabung von leblosen Gegenständen, im Gerich-
tet-Sein auf einen anderen Menschen oder im Tausch mit anderen Menschen
hervorbringen, einsetzen und lesen. Wenn es also gilt, den beobachteten Bedeu-
tungsverkehr zu verstehen, dann kann der an ihm beteiligte Mensch darüber in-
formieren.
Weber bemerkt, dass sich wirklichen Verkehr der Menschen ein besonderer
Typus des Handelns nicht im Zustand der völligen Isolation von den Komponen-
ten der anderen Typen auffinden lässt (vgl. Weber 1951, S 435). Ein Handeln
kann sich unterschiedlichen Motiven verdanken. Dabei kann sich der Handelnde
die Motive bewusst vergegenwärtigen und sich trotzdem von unbewussten Au-
tomatismen bewegen lassen. Weil das Handeln des Menschen seinem Hergang
nach einen in sich verschiedenartigen Antrieb aufweist, der zum einen bewusste
und zum anderen für den Handelnden verborgene Beweggründe enthält, folgert
2.2 Handeln und Verstehen 99
Weber, dass ein idealtypischer Anker erforderlich ist, von dem aus das mensch-
liche Geschehen verstehbar gemacht werden kann:
„Idealtypisch sind aber die konstruktiven Begriffe der Soziologie nicht nur äußer-
lich, sondern auch innerlich. Das reale Handeln verläuft in der großen Menge seiner
Fälle in dumpfer Halbbewusstheit oder Unbewusstheit seines `gemeinten Sinns´.
Der Handelnde `fühlt´ ihn mehr unbestimmt, als dass er ihn wüsste oder sich `klar
machte´, handelt in der Mehrzahl seiner Fälle triebhaft oder gewohnheitsmäßig. […]
wirklich effektiv, d.h. voll bewusst und klar, sinnhaftes Handeln ist in der Realität
stets nur ein Grenzfall“ (Weber 2002, S. 10; Herv. im Orig.).
Weber konstruiert Typen des Handelns, ohne den Anspruch zu erheben, sie im
wirklichen Verkehr im Reinzustand vorzufinden. Die begriffliche Differenzie-
rung in Typen des Handelns schafft er zunächst für das erklärende Verstehen, bei
dem das zweckrationale Handeln einen zentralen Dienst erweist. Im realen Ge-
schehen können heterogene Orientierungen und Antriebe bestehen, die ein sozia-
les Handeln neben-, durch- oder übereinander mobilisieren. Die unterschiedli-
chen Beweggründe werden weniger danach sortiert, dass sich ein gemeinsamer
Nenner ablesen lässt, sondern sie sollen sich als Rest ergeben, der sich erst durch
die Distanz vom dem Konstrukt des wohlkalkulierten und an Zweckrationalität
orientierten Handelns erkennen lässt. Mit diesem Idealtypus erfolgt die Differen-
zierung der besonderen Typen des sozialen Handelns. Im Hergang eines Han-
delns lassen sich irrationale Komponenten anhand von Abweichungen vom ide-
altypischen Handeln feststellen. Bei einem Vergleich mit dem Handeln, das
Zwecke, Mittel und Folgen antizipiert und kalkuliert und zudem Erfahrungen
berücksichtigt, bleibt deren Abzug vom konkreten Hergang des Handelns der
irrationale Rest übrig. Das an Idealtypen orientierte Verstehen ermöglicht zu
zeigen, „[…] wie ein bestimmt geartetes, menschliches Handeln ablaufen würde,
wenn es streng zweckrational, durch Irrtum und Affekte ungestört, und wenn es
ferner ganz eindeutig nur an einem Zweck (Wirtschaft) orientiert wäre“ (Weber
2002, S. 4; Herv. im Orig.). Weber nutzt den zweckrationalen Typus als Folie
für den Vergleich, aus dem sich unterschiedliche Schattierungen von Orientie-
rungen und Kräften menschlichen Sichverhaltens schöpfen lassen (vgl. Weber
1951, S. 428 ff.; 2002, S. 3). Das zweckrationale Handeln zeichnet sich durch
ein Maximum an planvoller und vergleichender Kalkulation aus (ebd., S. 12 f.):
Das Individuum entscheidet über die verfügbaren Mittel, die zum Einsatz kom-
men, antizipiert Nebenfolgen, rechnet mit den Widerständen und zu veranschla-
genden Kosten und orientiert sich pro- oder retrospektiv an dem Handeln ande-
rer. Wenn Mittel, Nebenfolgen, Widerstände, Kosten und Fremdhandeln so kal-
kuliert sind, dass sich die Verwirklichung eines bestimmten Zwecks erwarten
lässt, legt sich das handelnde Individuum auf diesen fest. Im Fall des zweckrati-
onalen Handelns ist, sofern keine Transformation der kalkulierten Nebenfolgen,
Mittel, Kosten, Widerstände und des Verständnisses vom Gegenüber erfolgt,
100 2 Herrschaft
65 Soziales Handeln ereignet sich, Weber zufolge, größtenteils in eingelebter, der Gewöhnung
folgender Weise. In der Studie Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus
(1947) nennt Weber zwei Hindernisse, gegen die sich die Entwicklung des modemen Kapita-
lismus richten musste. Das erste Hindernis erkennt Weber in der Beharrlichkeit der traditionel-
len Arbeit in der Produktion (ebd., S. 44 f.). Traditionalismus liegt dann vor, wenn die Weige-
rung besteht, geübtes und gewohntes Sichverhalten aufzugeben und sich statt dessen weitaus
erleichternde Arbeitsformen unter Aufbringung von kognitiven Zwischenanstrengungen
anzueignen. Insbesondere der technischen Entwicklung steht das traditionelle Sichverhalten im
Weg, auf die jede Steigerung der Gewinnchancen angewiesen ist (vgl. Weber 2002, S. 32 f.).
Der moderne Kapitalismus ist, so Weber, U.8. ein Resultat von heterogenen Rationalisierungen
und darf nicht bloß als Oewinnmaximienmg identifiziert werden, die unter allen Umständen
betrieben wird (ebd., S. 4). Um eine solche Gewinnmaximierung handelt es sich beim zweiten
Hindernis, wenn das wirtschaftlich orientierte Handeln rücksichtslos und mitunter gewalttätig
verläuft. Es ist in diesem Fall die Unberechenbarkeit im wirtschaftlichen Tauschverkehr, von
der die notwendige Kalkulation des modernen Kapitalismus untergraben wird. ..Seine Rati-
onalität ist heute wesentlich bedingt durch Berechenbarkeit [ ... ]" (ebd., S. 10; Hcrv. i. Orig.).
Die Überwindung von Disziplinlosigkeit und Verstetigung zeichnet die moderne kapitalis-
tische Wirtschaft aus: "Und ebenso ist es natürlich eine der fundamentalen Eigenschaften der
kapitalistischen Privatwirtschaft. daß sie auf der Basis streng rechnerischen Kalküls rationa-
lisiert, planvoll und nüchtern auf den erstrebten wirtschaftlichen Erfolg ausgerichtet ist, im 00-
gensatz zu dem von der Hand im Mund Leben des Bauern, dem priviligierten Schlendrian des
alten Zunfthandwerkers und dem 'Abendteuerkapitalismus· [... ]" (Weber 1947, S. 61; Herv. i.
2.3 Der Nutzen der Herrschaftslehre 101
bereithält (ebd., S. 12). Die auf Affekt oder Tradition gegründeten Typen werden
also genau dann nicht als rationales Handeln verbucht, wenn sich die Vergegen-
wärtigung der oben genannten Komponenten nicht ereignet. Hingegen enthält
das wertrationale Handeln nur hinsichtlich der Wabl der Mittel die zweckrationa-
le Vergegenwärtigung, da die Geltung des Werts nicht zur Disposition steht,
während das zweckrationale Handeln zusätzlich die Abwägung der sinnhaften
Beweggründe zulässt.
Das Besondere an Webers Idealtypen der Herrschaft und Legitimität kann man
erst ausmachen, wenn man zum einen seine Ablehnung gegenüber einer auf
Wertebegründung zielenden Auseinandersetzung mit Phänomenen der Kultur
und zum anderen das von ilnn akzentnierte Handeln berücksichtigt. Weil in den
anstehenden und daran folgenden Arbeitsschritten eine weitere Richtlinie We-
bers weiter sichtbar werden soll, an der er für Herrschaft im Speziellen und für
Phänomene der Kultur überhaupt festhält, war vor allem die bisherige Skizze des
Handelns erforderlich, mit der er sich im Hinblick darauf, die von ilnn vertretene
Wissenschaft zu begründen, um den Nachweis bemüht, dass Dinge nicht an sich
bestehen und nicht aus sich selbst wirken. Weber interessiert sich also nicht da-
rum, warum Herrschaft sein soll. Stattdessen fragt er sich, warum Herrschaft im
Denken der Handelnden als rechtmäßig erscheint. Vor allem ihr Handeln nimmt
in seiner Herrschaftslehre eine prominente Stellung ein, da er sie nicht bloß als
passive Akteure und ihre Beteiligung an Herrschaft nicht als sinnfreies Parieren
begreift. Ohne ihren Beitrag, der sich als affirmative Orientierung am Willen
eines anderen offenbart und Zustimmung für diesen bekundeten Fremdwillen
offenbart, lässt sich für ihn nur ein unvollständiger Idealtypus der Herrschaft
konstruieren. Weber dazu:
,,Ebenso wie 'Herrschaft' nicht bedeutet: dass eine stärkere Naturkraft sich irgend-
wie Bahn bricht, sondern: ein sinnhaftes Bezogensein des Handelns der einen ('Be-
fehl') auf das der anderen ('Gehorsam') uod entsprechend umgekehrt, derart, dass
im Durchschnitt auf das Eintreffen der Erwartungen, an welchen das Handeln bei-
derseits orientiert ist, gezählt werden darf' (Weber 1951, S. 456; Herv. im Orig.).
Das bisherige Vorgehen beruht also auf der Absicht, die Rekonstruktion der Ide-
altypen der Herrschaft und Legitimität so vorzubereiten, dass sich die Kultur der
Herrschaft anhand des für die Erfüllung eines Herrschaftsanspruchs bestimmt
Orig.). Als besonders hilfreich gegen Disziplinlosigkeit und Verstetigung stellt sich die
Orientierung an der Geltung eines bestimmten Eigenwerts der Arbeit im Sinne der Pflicht zur
Produktionstätigkeit heraus. Bedeutsam für diese Pflichvorstellung sind, so Weber, Effizienz
und besonnene KDtroll. der Affekte (ebd., S. 47).
102 2 Herrschaft
66 Edith Hanke dazu: „Die Herrschaftssoziologie der älteren Fassung ist kein fertiger in sich
abgeschlossener Text Max Webers, sondern ein nachgelassenes Konvolut von Texten, die of-
fensichtlich verschiedenen Bearbeitungsstufen entstammen und abschließend nicht mehr in ei-
nen homogenen Zusammenhang gebracht worden sind“ (Hanke 2001, S. 31; vgl. auch Stall-
berg 1975, S. 10).
67 Für Richard Münch ist für Webers Anliegen nicht nur der moderne Kapitalismus als Resultat
von Rationalisierung zentral, sondern der dem Okzident eigentümliche Rationalismus, der
Transformationen von Staat, Recht, Bürokratie, Wissenschaft, Kunst und Musik mobilisiert
(vgl. Münch 1978, S. 225).
Der Nutzen der Herrschaftslehre 103
69 Hankes programmatische Bemerkung hierzu lautet: „Erst der politische Verband, der auf ein-
verstädnismäßig wirksamen Ordnungen und Handlungsmechanismen beruht, vor allem aber
der moderne Staat mit seiner rational gesatzten Ordnung und dem von ihm geschaffenen
Zwangsapparat, erscheinen als der adäquate Boden für ausgefeilte Studien zur Herrschaft“
(Hanke 2001, S. 24).
Der Nutzen der Herrschaftslehre 105
sonderer Art zu verstehen. Will man hingegen den Staat auf der Grundlage eines
nur ihm eigentümlichem Zwecks begreifen, so resultiert dies nicht isoliert von
normativen Schlüssen und insofern der Beweis des Geltung eines Werts im me-
thodologischen Programm Webers ausgeschlossen ist, ergibt sich der Nutzen der
auf das Handeln abgestimmten Herrschaftslehre durch den von letzten Zwecken
gereinigten Zugang zur Wirklichkeit des Staates.
Darüber hinaus sieht Hanke den Nutzen der Herrschaftslehre in ihrem Po-
tential gegeben, politische Verbände jeglicher Provenienz erfassen zu können
(vgl. Hanke 2001, S. 28). Zu Lebzeiten Webers waren die gehandelten Begriffe
des Staates zu eng, d.h. sie versetzen die Forschung nicht in die Lage, vormoder-
ne oder außereuropäische Verbände zu untersuchen. Hanke erkennt das besonde-
re Verdienst Webers im Entwurf eines vom Handeln ausgehenden Begriffs der
Herrschaft, der sich für mehr als nur die Analyse des Staates moderner Proveni-
enz eignet. Seine Leistung ist es, mit der Herrschaftslehre idealtypische Kon-
strukte vorzulegen, die einen universalhistorischen Strukturvergleich durchführ-
bar machen. Weber selbst bekundet folgende Einsatzmöglichkeit der Struktur-
prinzipien der drei Herrschaftstypen: „Ihr Nutzen ist: dass jeweils gesagt werden
kann: was an einem Verband die ein oder andere Bezeichnung verdient oder ihr
nahe steht, ein immerhin zuweilen erheblicher Gewinn“ (Weber 2002, S. 154).
Berücksichtigt man die methodologische Konzeption des Idealtypus, so wird
erkennbar, dass es Weber mit der idealtypisch entworfenen Herrschaftslehre
nicht darum geht, ein Abbild für die Wirklichkeit politischer Verbände zur Ver-
fügung zu stellen, sondern ein Vergleichsraster zu konstruieren, dass für die Un-
tersuchung eines Staates hilft.
Einen weiteren an die mit Bendix formulierte Kernfrage anschließbaren
Anhaltspunkt für den Nutzen der Herrschaftslehre liefert Hartmann Tyrell. Der
Vorteil liegt in dem vom Handeln ausgehendem Begriff der Herrschaft, der für
die Beantwortung der „Kardinalfrage“ hilft, die in dessen Überlegungen zu Herr-
schaft präsent ist und die auf die Ermittlung der Bedingungen für den dauerhaf-
ten Bestand einer auf Befehl und Gehorsam abgestellten sozialen Beziehung zielt
(vgl. Tyrell 1980, S. 67). Webers Anliegen ist es, möglichst wertfrei ein idealty-
pisches Konstrukt anzugeben, das, so stellt Tyrell heraus, das Problem löst, mit
dem ein auf die Steuerung anderer Menschen gerichtetes Handeln umgehen
muss: Wie lässt sich die Stabilität der Befolgung von Befehlen erzielen, wenn
diese in die Handlungsautonomie anderer eingreifen und wenn dauerhafter Be-
stand von Herrschaft bedeutet, dass Gehorsam zeitlich unabhängig und inhaltlich
indifferent anfällt? Stabil ist im Anschluss an diese Fragestellung eine Herr-
schaft, wenn das Motiv für das gehorsame Handeln weder mit jedem Befehlsaus-
spruch erneuert, noch der konkrete Inhalt des Befehls in jedem Fall begründet
werden muss. Wenn ferner Stabilität von Herrschaft ausgelotet werden muss, so
ist, bemerkt Tyrell, vor allem die Sinnvorgabe für fremdes Handeln problema-
tisch, denn dieses konstituiert im Fall bestehender Zuverlässlichkeit den dauer-
106 2 Herrschaft
haften Bestand einer Beziehung von Befehl und Gehorsam. Er zeigt, dass sich
Webers Begriff der Herrschaft eigens deswegen als nützlich erweist, weil er dem
Handeln der Untergeordneten Rechnung trägt. Indem Weber vom sozialen Han-
deln ausgehend einen Begriff der Herrschaft vorlegt, der die Beteiligung jener
als handlungskompetenten Gehorsam herausstellt, aber auch explizit die Instru-
mentalisierung dieses als sinnvoll erachteten Gehorsams als eine Stütze der Sta-
bilität erklärt, macht er im Grunde deutlich, dass zunächst ein Handeln nicht nur
von den fassbar Handelnden entschieden wird. Tyrell schreibt:
„[…] dass ein eigenes, selbst vollzogenes Handeln nicht nur dem handelnden Indi-
viduum selbst, sondern auch (und vor allem) einem Anderen (etwa als von ihm zu
verantwortend) zugerechnet werden kann, ist eine außerordentlich abstrakte und
vermutlich evolutionär späte Vorstellung; der Kern dieser Vorstellung aber ist, wie
gesagt, die Kategorie von Befehl und Gehorsam, die den Befehl als explizit gemach-
te und explizit gemeinte Verursachung eines bestimmten fremden Handelns und die-
ses seinerseits von seiner Intention her als darauf spezifisch bezogenen `Gehorsam´
und damit als Wirkung des Befehls fasst“ (ebd., S. 76; Herv. im Orig.).
Erst die Berücksichtigung der Untergeordneten und insbesondere ihrer Sinnge-
bung bei der Befolgung eines Befehls erlaubt Weber, die Kategorie Legitimität
zu bestimmen, die soziale Herrschaftsbeziehung durch die beiderseitige Sinnhaf-
tigkeit vollendet zu fassen und zusätzlich eine Option der Stabilitätskonstitution
vorzulegen.
Angesichts der gefilterten Beiträge aus der Weber-Interpretation lassen sich
resümierend folgende Antworten auf die Fragen nach dem Nutzen der Herr-
schaftslehre notieren: Die Schaffung der Herrschaftslehre erfolgt als untergeord-
nete Parallelarbeit. Sie ist eingebettet in das übergeordnete Forschungsinteresse,
das der sonderbaren Entwicklung des abendländischen Wirtschaftens nachgeht.
Weber integriert die Aufbereitung des Gegenstands Herrschaft als einen bedeu-
tenden außerökonomischen Umstand in sein Kernthema: die Entwicklung des
modernen Kapitalismus. „[…] alle anderen Forschungsinteressen“, schreibt
Breuer“, die darüber hinauswiesen, wurden von diesem Thema erdrückt“ (Breuer
1991, S. 31).
Vor dem Hintergrund der Kernfrage, an der Weber die religionssoziologi-
schen Studien und die Herrschaftslehre orientiert, soll die Entscheidung für ein
Handeln aufgrund der Vorbildlichkeit des Anlasses untersucht werden. In den
Studien zur religiösen Ethik stellt er sich die Frage, um den entschiedenen Ein-
satz zur Aufrechterhaltung der im Protestantismus aufgewerteten Berufsidentität
und ihrer verpflichtenden Komponenten zu betrachten. Die Überschneidung mit
der Herrschaftslehre ist gegeben, insoweit Weber mit ihrer Anfertigung seinem
Interesse nach der bewusst-verpflichteten Orientierung der Menschen an Gebo-
ten folgt, wie sie in der Herrschaftsbeziehung seitens der Untergeordneten vor-
liegen kann.
2.3 Der Nutzen der Herrschaftslehre 107
Weber lehnt es ab, den Staat auf der Grundlage eines nur ihm eigentümli-
chen Zwecks zu erfassen, da sich über einen solchen kein universeller Konsens
finden lässt Er schreibt: ,,Es ist nicht möglich, einen politischen Verband - auch
nicht: den 'Staat' - durch Angeben eines Zweckes seines Verbandshandelns zu
definieren" (Weber 2002, S. 30). Statt also einen Vorschlag für einen überein-
stimmenden Zweck als Wesensmerkmal des Staates zu bieten, belässt er es bei
dern Hinweis auf den nur ihm eigentümlichen Mittel: der legitimen Gewaltsam-
keit (ebd., S. 29). Die Herrschaftslehre befriedigt das wissenschaftliche Anlie-
gen, den Staat als Forschungsgegenstand nicht an der Menge der unterschiedli-
chen Zwecke zu differenzieren, sondern die Komponenten eines Herrschaftsver-
bandes zu filtern, die sich in der Beziehung zwischen Übergeordneten und Ver-
waltung und zwischen diesen und den Untergeordneten einer idealtypischen
Herrschaftsform zuordnen lassen.
Da sie im Besonderen das Handeln innerhalb einer Herrschaftsbeziehung
berücksichtigt, erklärt die Herrschaftslehre, wie sich die für Herrschaft grundle-
gende Bedingung erfiillt: die zuverlässige und kontinnierliche Umsetzung eines
fremden Sinns im eigenen Handeln. Vor allem der ermöglichte Zugang zum Ab-
lauf des HerrschaftshandeIns, der durch die Integration des entschiedenen Han-
delns der Untergeordneten gegeben ist und mitunter die Kategorie Legitimität
begründet, zeichnet den besonderen Nutzen der Vorgaben Webers zur Herrschaft
aus. Sein Ansatz rechnet also mit der inneren Stütze einer auf Befehl und Gehor-
sam gegründeten Beziehung. Er vermeidet es zu erklären, warum der Hergang
des Handelns in dieser Beziehung auf der Geltung eines bestimmten Werts zu
beruhen hat Stattdessen tritt er an, Herrschaft von ihrem Atom aus zu verstehen.
Die Originalität der Herrschaftslehre besteht darin, einen Ansatz vorzule-
gen, der es nicht leistet, eine Begründung für das Geltensollen der Herrschaft zu
liefern, sondern ihre jeweilige Kultur erschließt. Erst die Rekonstruktion der
Hindemisse für die Wissenschaft, die nicht über die Kompetenz verfügt, die Gel-
tung von Werten und, im Hinblick auf eine Fügsamkeitsbeziehung, des Werts
von Herrschaft zu beweisen, lässt zu, die Beachtung der primären Stellung der
handelnden Unter- und Übergeordneten zu rechtfertigen und die Sinnhaftigkeit
von insbesondere der Fügsamkeit zu verstehen. Mit anderen Worten: Wenn es
die erklärte Absicht ist, nicht über die normative Bedeutung von Herrschaft und
Legitimität zu räsonieren, sondern die empirische Wirklichkeit zu erschließen,
dann ist es das Handeln der Menschen, die über die Bestimmungsgründe des
Gehorsams einerseits und das appellierte Motiv der Fügsamkeit andererseits in-
formieren. Damit also eine Herrschaftsbeziehung vorliegt, muss der Ablauf des
Handelns durch die besondere Zuverlässigkeit der Untergeordneten bestimmt
sein, die in einer Machtbeziehung nicht zuletzt aufgrund der Diskontinnität ihres
Ablaufs fehlt Weil sich Herrschaft durch das Handeln auf Seiten der Unterge-
ordneten konstituiert und sich dann von Macht unterscheidet, diese aber in der
108 2 Herrschaft
Für Kant steht Folgendes fest: In einem Zustand, in dem noch nicht einmal Ge-
wissheit darüber herrscht, dass andere den eigenen Besitz respektieren, weil die-
se ihrerseits nicht darauf zählen können, dass man selbst ihren Besitz respektiert,
da braucht man sich nicht wundern, wenn man arglos ist und Schaden erleidet,
der den eigenen Besitz betrifft (vgl. Kant 1968a, S. 425). Wo es keine öffentliche
Macht gibt und es neben der bekundeten Verpflichtung, sich seinen Besitz ei-
nander nicht streitig zu machen, da ist die Erwartungssicherheit im Hinblick da-
rauf labil, dass Bemächtigungsversuche am eigenen Besitz von Seiten eines an-
deren unterlassen werden. Kant zeigt sich über die Möglichkeit des Bemächti-
gungsversuchs sicher, weil es eine allgemeine Erfahrung ist, dass sich der
Mensch vorzugsweise machthabend erlebt. In diesem Zusammenhang spricht er
von der „Neigung der Menschen überhaupt über andere den Meister zu spielen“
(ebd.). Die Erfahrung, widerwillig den Willen eines anderen ertragen zu müssen,
ist somit nicht erstaunlich, weil man im Allgemeinen selbst gewillt ist, sich den
Willen anderer zu bemächtigen.
Einige Jahre später konstatiert Alfred Adler das universelle Streben nach
Macht, weil er den Willen des Menschen von der Erfahrung und Vorwegnahme
der konstitutionellen Minderwertigkeit her begreift, die sich, ihm zufolge, der
Erfahrung kindlicher Organunterlegenheit verdankt (vgl. Adler 1982, S. 41). Ihn
interessiert aber vor allen Dingen das neurotische Machtstreben, das sich im
zwanghaften Handeln um der Versicherung eigener Überlegenheit willen äußert
und das die eigene Macht ostentativ kundtut. Die Ausgleichsanstrengung ist für
ihn also universell, auch wenn sie nicht immer neurotisch Züge annimmt. Elias
Canetti denkt ähnlich. Er nimmt an, dass die Betroffenheit von Macht veranlasst,
sich selbst Wiedergutmachung zu leisten. Sich Weisungen unterzuordnen hinter-
lässt, so Canetti, stets Spuren, die Kompensation erfordern. Unterlegene sind
daher bemüht, sich um Ausgleichserfahrungen zu kümmern, die gegen die Un-
terlegenheitserfahrung als nachträgliche Emanzipation wirken (vgl. Canetti
2006, S. 367).
Für Simmels Befund über die Herrschsucht braucht es wiederum nicht erst
die Erfahrung, sich jemanden Untertan zu machen, denn sie liegt bereits im
„Bewusstsein seiner Wirksamkeit“ vor. Hierzu äußert er sich wie folgt:
„Im Allgemeinen liegt niemandem daran, dass sein Einfluss den anderen bestimmte,
sondern daran, dass dieser Einfluss, diese Bestimmtheit des anderen auf ihn, den Be-
stimmenden, zurückwirke. So liegt eine Wechselwirkung schon bei jener abstrakten
Herrschsucht vor, die daran befriedigt ist, dass das Handeln oder Leiden, der positi-
Exkurs: Macht (Heinrich Popitz) 109
ve oder negative Zustand des anderen sich dem Subjekt als das Erzeugnis seines
Willens darbietet“ (Simmel 2006, S. 160).
Einfluss besteht wiederum darin, das Handeln eines anderen herbeizuführen.
Sobald man sich über diese Zurechnung gewiss sein kann, erlebt man, so Sim-
mel, den Einfluss genießend. Anders als im Falle der Macht kann Einfluss von
Seiten des davon Begünstigten nicht gegen den Widerstreben des davon Be-
troffenen vorkommen. „Wer `Einfluss´“, schreibt Ludwig Freund, „auf mich hat
– der Hausarzt, der Berater, der Freund – kann mein Verhalten bestimmen, aber
nicht gegen meinen Willen. Wer die Macht hat und soweit er sie hat, kann dies“
(Freund 1955, S. 47; Herv. im Orig.).
Die knappen Hinweise legen nahe, dass Macht eine allgemeine Erscheinung
ist, und das aufzuzeigen, ist die Intention des nun anstehenden Arbeitsschrittes.
Heinrich Popitz Studie Phänomene der Macht (2004) ermöglicht, Macht als ein
zum Menschen gehörendes Phänomen zu begreifen, weil ihr Urheber und Objekt
auch nur der Mensch ist. Macht üben Menschen aus und sie üben sie über Men-
schen aus. Das leitet Popitz her, indem er zum einen historischen Voraussetzun-
gen für das Bewusstwerden von Macht nachgeht. Zum anderen gelingt es ihm,
anhand von komplementären menschlichen Grunderfahrungen spezifische Ent-
sprechungen zwischen Machtbetroffenheit und Machtausübung zu differenzie-
ren. Daraus entwickelt er vier Grundformen der Macht. Popitz Auseinanderset-
zung soll nun helfen, die Universalität der Macht aufzudecken.
Die erste Voraussetzung nennt er die Machbarkeit von Machtordnungen:
Wenn die Einsicht darüber besteht, dass eine politische Ordnung nicht von einer
übernatürlichen Kraft eingesetzt ist und nicht als sakrosankt erachtet werden
kann, dann bleibt nichts anderes übrig, als sie auf den Menschen zurückzuführen
und nur diesem die Option für die Veränderung einer Ordnung zu überlassen.
Legt man das Entstehen einer Ordnung als menschengemachtes und veränderba-
res Werk aus, so zeigt sich daran das Vermögen, sich Mögliches vorzustellen.
„Anders denkbar aber wird das Bestehende in der Konfrontation mit der Denk-
barkeit des Besseren“ (ebd., S. 12). Für die Einsicht spricht, so Popitz, die Er-
mittlung von Änderungsforderungen als Gegenstand des politischen Durchset-
zungswillens. Ein frühes Auftreten von Änderungsforderungen stellt er in den
politischen Schriften der Antike fest. Ferner lässt sich auf das Bewusstsein über
die Veränderbarkeit von Ordnungen anhand der Vergleiche unterschiedlicher
Verfassungen schließen, denn auch diese gelten als beliebtes Sujet in der antiken
Literatur (ebd., S. 13). An der möglichen Vergleichbarkeit und Unterscheidbar-
keit von Verfassungen gibt sich die Machbarkeit von Ordnungen zu erkennen.
Mit stärkerer Intensität tritt die Überzeugung von der Transformierbarkeit
schließlich in der Moderne auf (ebd.). Das Aufstellen politischer Änderungsfor-
derungen und die Vergleichbarkeit von politischen Ordnungen beruhen, so
Popitz, auf der Grundannahme von der möglichen Veränderbarkeit von Gesell-
110 2 Herrschaft
schaft. Denkbar anders kann Gesellschaft nur seitens des Menschen vorgestellt
(vgl. Kant 1968b, S. 413), so dass die Veränderbarkeit ausschließlich in seinen
Händen liegt.
Die zweite Voraussetzung lautet Omnipräsenz von Macht: Die Ausweitung
der Macht ist, so Popitz, ein Merkmal der modernen Gesellschaft. Nach der ame-
rikanischen und französischen Revolution bietet sich den bürgerlichen Gruppen
die Möglichkeit, einen Streit um Macht einzugehen (vgl. Popitz 2004, S. 15).
Mit der Auflösung der feudalen Ordnung vollzieht sich ein Wandel, den man, so
Alfred Vierkandt, als eine Transformation der Macht begreifen kann. Von nun
an ist es möglich, sich um Macht zu bemühen, anstatt Macht mit der Geburt zu
erlangen. Es ist immer weniger die familiale Herkunft, die mit Macht zusam-
menfällt, denn es zählt vielmehr die individuelle Leistung, die durch die Ver-
mehrung von Chancen für den Zugang zu politischen Ämtern oder Beschäfti-
gungsverhältnissen aufgewertet wird. In der Moderne können mehr Menschen
nach Macht streben, sie ist potentiell jedem zugänglich. Vierkandt schreibt dazu:
„Die Macht ist dadurch gleichsam flüssiger und teilbarer geworden; sie hat aber
eben dadurch an Bedeutung gewonnen“ (Vierkandt 1916, S. 6).
Neben den gestiegenen Gelegenheiten für Kontroversen macht sich für
Popitz die Allgegenwärtigkeit der Macht bemerkbar. Das Individuum ist der
Anforderung ausgesetzt, Eigenverantwortung im Hinblick auf seine gesellschaft-
liche Position zu übernehmen und Investitionen in Identitätsprojekte zu tätigen,
die, weil sie notwendig auf Anerkennung angewiesen sind, auch scheitern kön-
nen. Die Aufmerksamkeit richtet Popitz weniger auf den quantitativen Anstieg
der Machtverhältnisse, als dass er an diesem die ständige Gegenwart der Macht
in menschlichen Beziehungen konstatiert (vgl. Popitz 2004, S. 17).
Zur dritten Voraussetzung zählt er die Konfrontation zwischen Macht und
Freiheit: Erst die Aufwertung des Freiheitsbewusstseins seitens verschiedener
Protagonisten der Aufklärung sowie der verzeichnete Anstieg der Emanzipati-
onsbewegungen in der Moderne machen es erforderlich, Machtverhältnisse zu
rechtfertigen. „Macht in allen Zusammenhängen, in allen Formen ist unlösbar
verknüpft mit der Frage nach dem Warum“ (ebd., S. 20).
Das Nachdenken über Macht steht in einem Zusammenhang mit den drei
historischen Voraussetzungen. Man weiß, Machtordnungen stehen dem mensch-
lichen Zugriff offen, ferner schaffen die politischen Umgestaltungen bürgerliche
Chancen, um ein Machtverhältnis zu erkämpfen und schließlich wird es möglich,
gegen Mächtige zu fordern, Machtverhältnisse zu rechtfertigen. Auf die Univer-
salität der Macht kann Popitz schließlich anhand der vier Grundformen der
Macht stoßen. Für jede einzelne zeigt er Entsprechungen zwischen elementaren
„Handlungsfähigkeiten“ und „vitalen Abhängigkeiten“ auf. Er schreibt:
„Wenn wir uns an die Frage halten: warum, aufgrund welcher Fähigkeiten können
Menschen Macht ausüben? und komplementär: warum müssen Menschen Macht er-
Exkurs: Macht (Heinrich Popitz) 111
leiden? ergibt sich eine Differenzierung des menschlichen Vermögens, sich gegen
fremde Kräfte durchzusetzen“ (ebd., S. 23).
Die erste Frage ist auf das besondere Durchsetzungsvermögen gerichtet, wohin-
gegen die zweite Frage den Bedingungen der Machtbetroffenheit nachgeht. Die
Entsprechungen zwischen Machtbetroffenheit und Machtausübung will Popitz
deswegen ausfindig macht, weil er das soziale Wesen der Macht kenntlich ma-
chen will. Die vier Grundformen der Macht sind: Aktionsmacht, instrumentelle
Macht, autoritative Macht und datensetzende Macht.
In der Ausübung einer Verletzung liegt Aktionsmacht vor. Wer Leid zufü-
gen kann, der ist aktionsmächtig. Die Aktionsmacht setzt sich folgendermaßen
komplementär zusammen: Auf Seiten des Überlegenen braucht man die physio-
logische oder die durch technische Gewaltwerkzeuge vermittelte Verletzungs-
kraft, wohingegen die Verletzung auf Seiten des Unterlegenen auf der Verlet-
zungsoffenheit des schutzlosen Körpers beruht. Aber auch der verletzende Über-
legene ist nicht immun gegen die Verletzungsoffenheit, denn die physiologische
Verletzbarkeit kommt bei jedem vor (ebd., S. 43 f.).
Grundlage des Aktionsmachtverhältnisses ist für Popitz weniger der unkon-
trollierte Aggressionstrieb, sondern die relative Instinktentbundenheit. Weil eine
Verletzung nicht unter vorhersagbaren Umständen stereotyp ausgeführt wird,
lässt sich keine menschliche Disposition über die Anlässe für Verletzungen auf-
finden. Popitz nennt das die Entgrenzung des Gewaltverhältnisses: „Der Mensch
muss nie, kann aber immer gewaltsam handeln […]“ (ebd., S. 50). Die Phantasie
des Verletzens ist ebenfalls unbeschränkt. Weder lässt sich ein Vorstellungsin-
halt, in dem Gewalt gegen andere enthalten ist, von einer äußeren Instanz über-
prüfen, noch gibt es Objekte, die von der Verletzungsphantasie ausgenommen
werden. Gewaltphantasie unterliegt also lediglich der Selbstkontrolle und kann
prinzipiell alles und alle betreffen. Für die aktionsmächtige Durchsetzung des
Willens ist also die Entsprechung von menschlicher Verletzungsoffenheit und
der prinzipiell offenen Handlungsfähigkeit, mit der die Zufügung von Schmerz
und Leid immer im Bereich des Möglichen liegen, sowie der endlos weiten Vor-
stellbarkeit der Gewalt konstitutiv.
Eine aktionsmächtige Tat kann auch gegen mehr als den Körper gerichtet
werden. Die entsprechende Anfälligkeit des menschlichen Unversehrtseins muss
nicht nur die körperliche Konstitution betreffen. Auch die Schädigung materiel-
ler Lebensbedingungen oder der restriktive Zugang zu Ressourcen können, so
Popitz, aktionsmächtig ausgeübt werden. Die reine Aktionsmacht liegt aber im
Fall der Verletzung des Körpers vor. Während nämlich der Ausgegrenzte ange-
ben kann, dass er den Ressourcenverlust verkraftet und ihn nicht als Verletzung
wahrnimmt, lässt sich eine körperliche Verletzung nicht von sich weisen (ebd.,
S. 45). Bei der Verletzung des Körpers tritt Aktionsmacht verwundend auf. Eine
112 2 Herrschaft
70 Für Hegel kommt eine Verletzung des Körpers einer Verletzung der Seele gleich, weil damit
die Existenz der Handlungsfähigkeit von der Gewalt eines anderen bedroht ist (vgl. Hegel
2008, S. 111). Der Körper des Menschen ist im Gegensatz zu dem des Tieres deswegen in sei-
nem Besitz, weil er ihn, argumentiert Hegel, gewollt lenken kann. Die Handlungsfähigkeit be-
steht nur mit dem lebenden Körper. Ferner kann sich nur der Mensch im Extremfall verstüm-
meln oder umbringen.
71 Butler dazu: „Wir tun Dinge mit der Sprache, rufen mit der Sprache Effekte hervor, und wir
tun der Sprache Dinge an; doch zugleich ist Sprache selbst etwas, was wir tun. Sprache ist ein
Name für unser Tun, d.h. zugleich das, `was´ wir tun (der Name für die Handlung, die wir typi-
scherweise vollziehen), und das, was wir bewirken, also die Handlung und ihre Folgen“ (Butler
2006, S. 19 f.).
Exkurs: Macht (Heinrich Popitz) 113
72 Wenn Butler die Urheberschaft der Diskriminierung nicht dem sprachlich Verletzenden zu-
schreibt, dann entlässt sie diesen nicht aus der Verantwortung. Vorsätzlich diskriminiert er,
weil die Wiederholung des beleidigenden Inhalts von ihm vorgenommen wird, so dass man ihn
dafür verantwortlich machen kann (ebd., S. 50).
114 2 Herrschaft
73 Vierkandt schreibt hierzu Folgendes: „Nicht die Gewalt selbst, sondern die Furcht vor der
Gewalt ist das eigentliche Zwangsmittel; und zwar wird dieses Mittel durch die Kraft der Sug-
gestion und Phantasie in einer Weise gesteigert, wie sie in der Tierwelt völlig unbekannt ist
[…]“ (Vierkandt 1916, S. 14).
Exkurs: Macht (Heinrich Popitz) 115
wort der bedrohten Person abhängt. Man muss berücksichtigen, dass die Dro-
hung auf der Entscheidung des Bedrohten beruht, die trotz der möglicherweise
bevorstehenden Aktionsmacht nicht ausgeschaltet wird. Instrumentelle Macht
lenkt andere nicht durch Zwang, denn: „Die Drohung hebt die prinzipielle Of-
fenheit menschlichen Verhaltens nicht auf. Sie setzt voraus, dass der Bedrohte
sich fügen oder sich wehren kann“ (ebd., S. 82). Anders als der Zwang hebt die
Drohung das Entscheiden auf Seiten des Bedrohten nicht auf. Dazu notiert Sim-
mel:
„Wenn bei unumschränkten Despotismus der Herrscher an seine Befehle die Dro-
hung von Strafe oder das Versprechen von Lohn knüpft, so heißt dies, dass er selbst
an die von ihm ausgehende Vorordnung gebunden sein will: Der Untergeordnete
soll das Recht haben, seinerseits etwas von ihm zu fordern, der Despot bindet sich
mit der Straffestsetzung, so horrend sie sei, keine höhere aufzuerlegen“ (Simmel
2006, S. 165 f.).
Will man Handeln lenken, ohne Gewalt einzusetzen und ohne den Unterlegenen
vor die Entscheidung zu stellen, ob er von einem Nachteil betroffen sein will, so
kann man Macht auf der Grundlage der zugeschriebenen Überlegenheit ausüben.
In diesem Fall liegt autoritative Macht auf der Grundlage der Gewährung und
des Entzugs von Anerkennung vor (vgl. Popitz 2004, S. 129). Wie die instru-
mentelle Macht so überlässt auch die autoritative Macht dem Unterlegenen die
Entscheidung für oder gegen das vorgabengemäße Handeln. Popitz schlägt einen
Weg vor, das Phänomen Autorität zu erschließen, der nicht dabei stehen bleibt,
die willentliche Anpassungsbereitschaft zu konstatieren, sondern der Bindung
zwischen Autoritätsträger und Autoritätsabhängigem in anthropologischer Hin-
sicht nachgeht. Die Komplementarität der Autoritätsbeziehung fügt sich wie
folgt zusammen: Auf beiden Seiten liegt der Bedarf an Anerkennung dergestalt
vor, dass zum einen die autoritätsabhängige Person die Überlegenheit der autori-
tätstragenden Person über sich anerkennt und darum bemüht ist, Anerkennung
von ihr zu erhalten (ebd., S. 133). Die autoritätstragende Person ist schließlich
von der Anerkennung durch die unterlegene Person abhängig.
Warum und wie es geschieht, dass der Mensch im Allgemeinen um Aner-
kennung bemüht ist, erklärt Popitz anhand des Anerkennungsstrebens des Auto-
ritätsabhängigen. Er verweist auf die relative Instinktentbundenheit des Men-
schen, die besagt, dass man aufgrund des Fehlens innerlich angelegter Verhal-
tensrichtungen auf äußere Orientierung angewiesen ist (ebd., S. 28). Neben dem
Orientierungsbedarf begreift Popitz das menschliche Reflexionsvermögen als
grundlegend für die Erfahrung von Anerkennung. Diesen Zusammenhang erklärt
er folgendermaßen. Dass der Mensch sich zum Gegenstand der Reflexion ma-
chen kann, bedeutet, dass er in der Lage ist, sich selbst in Verhältnis zu tatsächli-
chen und möglichen Interaktionen zu setzen. Es ist ihm möglich, die Richtigkeit
des handlungsweisenden Entscheidens zu überprüfen und gegebenenfalls sich
116 2 Herrschaft
selbst infrage zu stellen. „Bewertend begreifen wir auch den Teil der Realität,
der wir selbst sind. Unser Selbstbewusstsein ist stets auch ein Selbstwertbe-
wusstsein“ (ebd., S. 116). Das Reflexionsvermögen ist konstitutiv für die eigene
Sicherheit darüber, dass man handelnd etwas bewirken kann. Das Wissen über
sich selbst entwickelt man, wenn man sich die eigene Beteiligung an Interaktio-
nen vergegenwärtigt. Entscheidend dabei ist, dass das Geschehen und die eigene
Person aus der Perspektive der anderen Beteiligten betrachtet werden. Das
menschliche Vermögen der Empathie ist, so stellt Popitz heraus, wesentlich da-
für, um die Aufmerksamkeit auf sich selbst zu richten. Erst wenn man lernt, sich
von anderen aus zu beobachten, lernt man sich selbst zu beobachten (ebd.). Die
innere Vergegenwärtigung der Bewertung durch andere ist es, die dem Individu-
um vorführt, dass es sich selbst zum Gegenstand von Überlegungen machen
kann. Das Reflexionsvermögen ist daher für Autorität wesentlich. Über Autorität
verfügt derjenige, „[…] wessen Anerkennung einen besonders hohen Anerken-
nungswert erhält“ (ebd., S. 120). Weil Autorität nicht in einer Person verankert
ist, sondern vor allem auf dem Anerkennungsstreben einer autoritätsabhängigen
Person beruht, lässt sie sich nur als Interaktionsergebnis erfassen. Wer Anerken-
nung insbesondere von einer autoritätstragenden Person erheischen will, der ist
ohne weiteres bereit, ihren Vorgaben zu entsprechen und sogar Einstellungen zu
übernehmen (ebd., S. 122). Als besonderes Anzeichen dafür gilt, dass die autori-
tätsabhängige Person zum einen akkurat auf Intentionen des ihr Überlegenen
achtet, in denen sie selbst enthalten ist und sich zum anderen anstrengt, Aner-
kennungsverluste zu vermeiden. Wird sich die autoritätstragende Person über die
Anerkennungserheischung anderer bewusst, so liegt es in ihrer Hand, autoritative
Macht auszuüben. Betreiben kann sie diese, wenn sie ihrerseits den möglichen
Anerkennungsverlust bewusst nutzt und das Bewährungsstreben der autoritäts-
abhängigen Person zu dessen Lenkung einsetzt.
Die Ausübung von Macht ist dann nicht sozial, wenn sie sich nicht gegen
das Verhalten eines Menschen richtet. Macht kommt in diesem Fall so vor, dass
Gewalten der Natur überwältigt werden, um sie für Zwecke nutzbar zu machen,
die der Mensch zu seinem Gunsten setzt. Die Naturbezwingung erweist sich je-
doch nicht nur als folgenreich hinsichtlich ihres Bestands, sondern sie erreicht
dann den Menschen, wenn dieser durch nachhaltige Folgen des Eingriffs betrof-
fen ist. Popitz nennt dies die datensetzende Macht (ebd., S. 31). Die Effekte einer
planvoll durchgeführten Einwirkung in die Natur schlagen sich vermittelt über
die natürlichen Lebensgrundlagen auf den Menschen nieder. Macht spürt der
Mensch dann durch eine nicht-beabsichtigte Übertragung. Im Gegensatz zu einer
Verletzung oder Bedrohung und nicht wie bei der Nutzbarmachung fremden
Anerkennungsstrebens liegt bei der datensetzenden Macht keine Intention vor,
die sich auf eine unterlegene oder zu unterwerfende Person richtet. Die Folge
eines Eingriffs in die Natur, dem unbeteiligte Menschen ausgesetzt sind, nennt er
deswegen eine Datensetzung, weil sie sich zu einem späteren Zeitpunkt für den
2.5 Handeln und Herrschaft 117
„Macht“, so Popitz, „gerinnt zur Herrschaft“ (Popitz 2004, S. 233). Auf den
Kern dieses Machtverhältnisses stößt Weber, indem er spezifische Orientierun-
118 2 Herrschaft
gen für das Handeln auf Seiten der Über- und der Untergeordneten angibt, an
dem sich das Wesentliche der Herrschaft erkennen lässt. Was er konstruiert, ist
die idealtypische Herrschaft, und das ist ein Gedankenbild, das aus optimierten
Sinnzusammenhängen besteht, ohne den Anspruch zu erheben, ein Abbild der
empirischen Wirklichkeit zu sein. Das fasst er wie folgt zusammen:
„Er wird gewonnen durch eine einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichts-
punkte und durch Zusammenschluss einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr,
dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich je-
nen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitli-
chen Gedankenbilde. In seiner begrifflichen Reinheit ist dieses Gedankenbild nir-
gends in der Wirklichkeit empirisch vorfindbar […]“ (Weber 1951, S. 191; Herv. im
Orig.).
Der Idealtypus dient also weder zur Abbildung der Wirklichkeit noch soll er
angeben, wie die Wirklichkeit werden soll.74 Stattdessen kommt er als Mittel
zum Einsatz, um empirische Sinnzusammenhänge mithilfe von konstruierten
Sinnzusammenhängen zu vergleichen und die Abstände zwischen ihnen zu mes-
sen. Auf diese Weise lässt sich die unendliche Fülle der wirklichen Sinnzusam-
menhänge ordnen, die in einem Zusammenhang mit der zu untersuchenden sozi-
alen Regelmäßigkeit stehen. Weber konstruiert also die reine Herrschaft anhand
von optimalen Sinnzusammenhängen.
Was der idealtypischen Herrschaft wesentlich ist, wird auf den nächsten
Seiten erarbeitet. Zwei von Weber unternommene Vergleiche sollen das spezifi-
sche soziale Handeln der Über- und Untergeordneten zum Vorschein bringen,
womit ein Maximum an stabiler Herrschaft gewährleistet wird. Zum einen grenzt
er sie von der reinen Macht ab, so dass ein Rest übrig bleibt, der für das verste-
tigte Machtverhältnis der Herrschaft konstitutiv ist. Zum anderen vergleicht er
sie mit der wirtschaftlichen Monopolstellung, um beschreiben zu können, was
letzterer fehlt, aber im Falle der Herrschaft vorliegt. Die beiden Vergleiche ste-
hen als erstes an. Es wird sich dabei zeigen, dass das Handeln auf Seiten der Un-
tergeordneten ausschlaggebend ist, denn ihre für das Herrschaftshandeln erkenn-
bare Orientierung ist im Falle der Macht ausgeschlossen. 75 Die Stellung der Un-
tergeordneten soll als zweites mit einigen Überlegungen Simmels zum Unter-
74 Weber tritt nicht an, um eine Begründung für die Legitimität von Herrschaft zu liefern. Das ist
Sache normativer Auseinandersetzungen, die, so Ulrich Sarcinelli, u.a. Folgendes zum Gegen-
stand machen: das Gemeinwohl einer politischen Gemeinschaft, Aufrechterhaltung von Frie-
den und Ordnung, Rechtsbindung, Limitierung der Staatsgewalt, Gewaltenteilung, Grund-
rechtssicherung, soziale Gerechtigkeit oder Umsetzung der Volkssouveränität (vgl. Sarcinelli
2009, S. 78; vgl. auch Menzel 1980, S. 20 f.).
75 Für Simmel lässt sich das Herrschaftshandeln der Untergeordneten darauf zurückführen, dass
es ermöglicht, sich von Verantwortung zu emanzipieren. Wer sich gehorsam verhält, ist, da der
Sinn für das auszuführende Handeln im Ermessen des Übergeordneten liegt, von der nicht sel-
ten als Beschwernis erlebten Anforderung entlastet, eine Entscheidung für seine Handeln zu
treffen (vgl. Simmel 2006, S. 171; Herv. im Orig.).
2.5 Handeln und Herrschaft 119
Der disparate Charakter der Macht verhindert es somit, Herrschaft auf Macht zu
reduzieren. Sukale erinnert zur Erklärung der Abgrenzung der Herrschaft von der
amorphen Macht an die Absicht der Herrschaftslehre: Auch für diesen Teil des
später in Wirtschaft und Gesellschaft veröffentlichten Projekts gilt, dass Weber
die Struktur der Herrschaftstypen insbesondere in Bezug auf Wirkungsverhält-
nisse zur modernen Wirtschaft vergleichend untersucht,76 die sodann nicht ge-
staltlos sein können (vgl. Sukale 2002, S. 49). Was aber die Herrschaft von der
amorphen Macht im Kern unterscheidet, konkretisiert Sukale wie folgt: Herr-
schaft ist verstetigte, nicht-zufällige Macht, für die sich eine Form angeben lässt,
denn wer herrscht, kann seinen Willen in vorhersagbarer Weise durchsetzen
(ebd., S. 364). Das, so Sukale, erlaubt, im Gegensatz zur formlosen Macht den
regelmäßigen Ablauf der Herrschaftsbeziehung anzugeben. Im Unterschied zur
Macht herrscht in der verherrschten Macht also eine spezifische, im Weiteren
noch zu präzisierende Gewissheit über das Handeln der Untergeordneten, die
Vorhersagbarkeit zulässt. Das Amorphe der Macht verhindert Herrschaft, und
daher tritt hervor, dass diese im Gegensatz zur Macht die Erwartungssicherheit
einschließt.
Der zweite Vergleich: Weber unternimmt einen Vergleich, bei dem auf der
einen Seite ein in erheblichem Maße stabiles Machtverhältnis steht: Die Durch-
setzung ökonomischer Entscheidungen nennt er Herrschaft kraft Interessenkons-
tellation oder kraft monopolistischer Lage (vgl. Weber 2005, S. 129), wenn die
Machtausübung auf der überlegenen Seite auf bestimmten markttauglichen Be-
sitz beruht, der für die eigenen Zwecke so in Stellung gebracht werden kann,
dass er zudem Einfluss auf das interessenorientierte Handeln der unterlegenen
Seite ausübt. Wichtig ist, so Weber, die jeweils auf beiden Seiten ausschlagge-
bende Orientierung an dem eigenen Interesse, denn auch für denjenigen, der vom
Monopol betroffen ist, hängt die in Aussicht gestellte Interessenverwirklichung
von den aufgesetzten Marktbedingungen des monopolistisch Begünstigen ab.
Jener ist also genötigt, ist aber nicht in die Pflicht genommen, die von diesem
vorgeschriebenen Preise anzunehmen, weil sie trotz der vorgegebenen Bedin-
gungen die Erfüllung der eigenen Zwecke ermöglichen. Lässt er sich nicht auf
die vorgegebenen Bedingungen ein, so kann der, der über das Marktmonopol
verfügt, die zur Interessenverwirklichung des Anderen wichtige Tauschbereit-
schaft verweigern.
Im Gegensatz zum marktbedingten Monopol begreift Weber die andere Sei-
te dieses Kontrasts: die Herrschaft kraft Autorität. Insofern nämlich der mono-
polmächtig geäußerte Wille lediglich und sogar ausschließlich deswegen befolgt
76 Seinen Arbeitsplan für die Herrschaftslehre kennzeichnet Weber wie folgt: „Wir suchen hier
zunächst möglichst nur allgemeine deshalb unvermeidlich wenig konkret und zuweilen auch
notwendig etwas unbestimmt formulierbare Sätze über die Beziehungen zwischen den Formen
der Wirtschaft und der Herrschaft zu gewinnen“ (Weber 2005, S. 128).
2.5 Handeln und Herrschaft 121
wird, weil die Fügsamkeit restlos mit dem eigenen Interesse korrespondiert, stellt
sich die Durchsetzbarkeit der autoritären Befehlsgewalt auch und gerade wegen
der jenseits von dem Kriterium der Zweckmäßigkeit disponierten Zumutbar-
keitsappell ein. Wo sich die Monopolmacht nur und nichts anderes außer Interes-
sen der Untergeordneten zunutze macht, da beansprucht die Autorität interesse-
los das Recht auf Gehorsam gegenüber Befehlen. Die reine Herrschaft besteht,
unabhängig von den Interessen der Untergeordneten. Voneinander unterschieden
lassen sich die Monopolmacht einerseits und die Autoritätsmacht andererseits,
wenn man beachtet, dass letztere von den Untergeordneten verlangen kann, sich
zum erwarteten Gehorsam zu verpflichten (ebd., S. 133.). Der zweite Kontrast
führt also genau dann zum Idealtypus Herrschaft, wenn man Webers strenge
Trennung zwischen den beiden skizzierten Herrschaftstypen verfolgt: Die siche-
re Erwartung, dass einem Befehl pflichtgemäß Folge geleistet wird, ist im Fall
der Interessenkonstellation nicht gegeben, d.h. wer berechtigt herrscht, kalkuliert
nicht mit der verfolgten Zweckerfüllung der Untergeordneten, sondern kann sich
gewiss darüber sein, dass sich das Handeln derjenigen, an die sich eine Auffor-
derung richtet, grundsätzlich an der Umsetzung der Fremdintention orientiert.
Die kontrastierten Herrschaftstypen sind sich zwar insofern ähnlich, als beide
nicht von dem Widerstreben der Untergeordneten belastet sind, nur kann sich das
autoritäre Pflichtverhältnis auf das mit dem zugemuteten Gehorsam korrespon-
dierende Befehlsrecht berufen. Erst dieser kontrastierende Vergleich ermöglicht
es also, dass die Gehorsamspflicht übrig bleibt. Auf diese Weise kann Weber den
Idealtypus wie folgt konstruieren:
„Unter `Herrschaft´ soll hier also der Tatbestand verstanden werden: dass ein be-
kundeter Wille (`Befehl´) des oder der `Herrschenden´ das Handeln anderer (des o-
der der `Beherrschten´) beeinflussen will und tatsächlich in der Art beeinflusst, dass
dies Handeln, einem sozial relevanten Grade so abläuft, als ob die Beherrschten den
Inhalt des Befehls, um seiner selbst willen, zur Maxime ihres Handelns gemacht hät-
ten (`Gehorsam´)“ (ebd., S. 135).
Die Seite der Untergeordneten lässt sich mithilfe der von Simmel unternomme-
nen Abgrenzung der Herrschaft vom Zwang weiter verfolgen. Sein Anliegen ist
es, die Identifikation dieser beiden zu widerlegen, um den sozialen Hergang der
Herrschaft zum Vorschein zu bringen, der sich mit einem einseitigen Zwangs-
verhältnis nicht vereinbaren lässt (vgl. Simmel 2006, S. 163). Lässt man Herr-
schaft mit Zwang zusammenfallen, so unterstellt man, dass das Handeln der Un-
tergeordneten ohne Resonanz verläuft. Ihre spezifische Beteiligung wird dann
abseits jeder Eigenregung lediglich als stumpfe Fügsamkeit begriffen, wohinge-
gen die Überordnung komplementär zur unfreien Unterwerfung eine bedin-
gungslose Übermacht darstellt. Simmel gelingt die Widerlegung, indem er die
spezifische Beteiligung der Untergeordneten offenlegt, womit er den sozialen
Hergang der Herrschaft aufzeigt.
122 2 Herrschaft
Zunächst erklärt er, warum sich selbst die – oben bereits erwähnte –
Herrschsucht als minimal sozial oder mit seinen Worten als „Rudimentärform“
kennzeichnen lässt: Man kann dem Herrschsüchtige nicht vorwerfen, dass er
seinen Einfluss mit uneingeschränkter Rücksichtslosigkeit erlebt, denn, so Sim-
mel, es bleibt ein wesentliches Interesse an der als von ihm herbeigeführt re-
gistrierten Eigenregung des Anderen übrig (ebd., S. 160). Anders als die Rück-
sichtslosigkeit kann die Herrschsucht die physische Existenz des von ihr Be-
troffenen also nicht ausschließen, sie kann sogar nicht auf sie verzichten. Letzt-
lich endet die Berücksichtigung von dessen Handlungsmöglichkeit genau dann,
wenn der Betroffene mit der Tatabsicht konfrontiert ist, die seine „physischen
Vergewaltigung“ vorsieht (ebd., S. 161). Das beschriebt er wie folgt: „Erst wo
der Egoismus nicht einmal Herrschsucht ist, sondern der Andre ihm absolut
gleichgültig und ein bloßes Werkzeug zu über ihn hinausliegenden Zwecken ist,
fällt der letzte Schatten des vergesellschafteten Füreinander fort“ (ebd., S. 160).
Simmel geht es um die Mitwirksamkeit der Untergeordneten, zu der er mit-
tels eines Vergleichs von zwei Über- und Unterordnungsbeziehungen gelangt,
denen zunächst gemeinsam ist, dass sie das Widerstreben der Untergeordneten
ausschließen. Das ist zum einen die Autorität: Die häufig anzutreffende Identifi-
kation des Autoritätsverhältnisses mit Zwang lehnt er ab, indem er zum einen auf
die infolge von einer persönlichen Qualität geschaffene Autorität hinweist. In
diesem Fall machen personengebundene Bedeutung und Kraft die Überlegenheit
des Autoritätsträgers aus, von der man annimmt, dass dieser von seiner Persön-
lichkeit aus mit einer objektiven Auskunfts- und Weisungsfähigkeit ausgestattet
ist. Dazu Simmel:
„[…] die Persönlichkeit hat eine Prärogative und axiomatische Zuverlässigkeit für
ihre Entscheidung gewonnen, die über den immer variabeln, relativen, der Kritik un-
terworfenen Wert einer subjektiven Persönlichkeit mindestens um einen Teilstrich
hinausragt“ (ebd., S. 162).
Zum anderen betrachtet man die Träger eines Amtes als Autorität, wenn genau
und einzig dieses ihrer Entscheidungsfähigkeit soziale Schätzung zukommen
lässt, die ihre Persönlichkeit ansonsten nicht hervorgerufen hätte. Im Grunde
zeigt der letzte Fall, dass sich gerade in der Besetzung eines Autoritätspostens
mit einer an sich nicht mit zweifelsfreier Entscheidungssicherheit ausgestatteten
Person eine Transformation ereignet, auf die sich um ihrer Realisierung wegen
die Untergeordneten einlassen müssen. „An dem Punkt dieses Übergangs hat
nun ersichtlich der mehr oder weniger freiwillige Glaube des der Autorität Un-
terworfenen einzusetzen […]“ (ebd., S. 163). Ohne den Glauben und das Ver-
trauen an die Richtigkeit der Entscheidungen des Übergeordneten wird diese
nicht konstituiert. Anders ausgedrückt: Erst die Aussicht auf den freiwillig ein-
gegangenen Autoritätsglauben bringt die von dieser abhängige Überordnung
überhaupt hervor.
2.5 Handeln und Herrschaft 123
Zweitens das Prestige: Anders als die Autorität fällt das Prestige nicht mit
einer als sachlich richtig erachteten Entscheidungsbefugnis zusammen. Wo sich
die Autorität aus dem Vertrauen in die objektive Zulässigkeit der Entscheidung
speist, da beruht das Prestige auf einer Verherrlichung und Ehrerweisung, die
von einer emotional bedingten Gunst des Prestigeträgers gestützt wird. Beim
Vergleich mit diesem unterliegt der sich dem Prestige Unterwerfende aus einwil-
lig gefühlter Geringwertigkeit ihm gegenüber. Ist der Autoritätsträger im Grunde
nicht gegen Einwände gefeit, so ist der Prestigeträger immun dagegen. Für das
Prestige
„[…] ist hier die ganz individuelle Kraft entscheidend; bleibt nicht nur als solche
bewusst, sondern gegenüber dem Durchschnittstypus des Führers, der immer eine
gewisse Mischung aus persönlichen und angegliederten sachlichen Momenten zeigt,
geht das Prestige ebenso von dem reinen Persönlichkeitspunkte aus, wie die Autori-
tät von der Objektivität von Normen und Mächten“ (ebd.).
Wie die Autorität zeigt also auch das Prestige die Abhängigkeit von der Aner-
kennung der Untergeordneten. Man kann, so Simmel, vermuten, dass in der An-
erkennung der Autorität ein Mehr an Freiheit vorliegt als in der Hingebung ge-
genüber dem Prestige. Gerade die Abhängigkeit der Autorität und des Prestiges
ermöglichen nicht nur, die Herrschaft von der auf Einseitigkeit und passiver
Fügsamkeit beruhenden Vorstellung zu lösen und den sozialen Hergang der
Über- und Unterordnung zu konstatieren, sondern auch dem Klärungsbedarf hin-
sichtlich der besonderen Beteiligung der Untergeordneten Genüge zu tun. Es
zeigt sich nämlich: Weder parieren die Untergeordneten, noch eliminieren die
Übergeordneten mit Zwang jede Eigenregung. Herrschaft ist eine Beziehung, für
welche zwar die Unterordnung ausschlaggebend ist, die Weisungsbefugnis der
Übergeordneten ist aber an die Anerkennung seitens der Untergeordneten ge-
bunden.
Ihr Beitrag lässt sich noch mehr konkretisieren, indem man die sinnhafte
Orientierung der Unterordnung präzisiert, und zwar folgendermaßen: Tyrell un-
terstellt Weber, für die Konstruktion der Herrschaftslehre ein „fundamentales
Problem“ berücksichtigt zu haben (vgl. Tyrell 1980, S. 62): Es besteht darin,
dass die Integration des Handelns in Webers Methodologie, die den Menschen
als Schlüssel für das kulturwissenschaftliche Paradigma inauguriert, mit der für
Herrschaft grundlegenden Lenkung der Untergeordneten kollidiert. Zur Versöh-
nung zwischen dem akzentuierten Handeln des Handelnden und der Heteroke-
phalie der Herrschaft reicht es jedoch nicht aus, auf die Erteilung von Anerken-
nung seitens der Untergeordneten hinzuweisen. Zur Auflösung des Problems
hilft aber insbesondere die nähere Betrachtung des Bewirkenkönnens fremden
Handelns.
Tyrell macht das Handeln der Untergeordneten transparent, indem er ab-
wägt, ob nicht die Drohung anstelle der Gehorsamspflicht für den Idealtypus der
124 2 Herrschaft
Herrschaft veranschlagt werden sollte. Er fragt sich, ob sich der reine Begriff
Herrschaft, der sich durch ein Maximum an Stabilität auszeichnet, zweckmäßi-
ger gestalten ließe, wenn man ihn, statt auf die Beziehung von Befehl und Ge-
horsam zu rekurrieren, auf die Drohung abstellt. Es scheint ihm deswegen frag-
würdig, die verstetigte Machtbeziehung idealtypisch auf einen erfolgreich Befeh-
lenden zu stützen, weil er zuvor den ökonomischen Wert der Drohung und des
bloßen Vorführens der Möglichkeit von Gewalt – der Terminologie von Popitz
entsprechend ist das die instrumentelle Macht – an die Oberfläche bringt. Anders
als der schlichte Einsatz von physischer Gewalt als Mittel für die Durchsetzung
des eigenen Willens abseits jeder Berücksichtigung der Handlungsautonomie des
von ihr Betroffenen kalkuliert die Drohung mit der Deliberationsfähigkeit desje-
nigen, der u.a. vor die mit Sicherheit erwartbare Option des eigenen Nachteils
gestellt wird (ebd., S. 64). Die Entscheidung, ob dieser nicht eintritt, oder der
Drohende den unerfreulichen Schaden in die Tat umsetzt, trifft zuletzt der, an
den sich die Drohung richtet. Für das Bewirken fremden Handelns lässt sich die
Drohung vorzugsweise instrumentalisieren, weil das womöglich eigenwillige
Handeln seitens des Bedrohten bereits durch die realistische Vorstellung des
dann zutreffenden Schadens unterlassen wird. Der die Drohung aussprechende
Machthaber ist aber erst dann erfolgreich, wenn der angekündigte Nachteil als
verlässlich erwartbar erscheint und tatsächlich als solcher erachtet wird. Die
Drohung kann den spezifischen Nutzen aufweisen, das fremde Handeln ohne
Zuführen des in Aussicht gestellten Schadens bewirken zu können, und genau
das macht sie vortrefflich. Tyrell dazu:
„Die beim ihm [dem Machthaber; C.A.] damit (u.U.) erzeugte spezifische Konstella-
tion von Vermeidungsdisposition und konditionalen Erwartungen kann den Macht-
unterworfenen nun aber zur Fügsamkeit motivieren, ohne dass der Machthaber
straft, Gewalt anwendet […]“ (ebd., S. 65; Herv. im Orig.).
Wer also bei geringem Aufwand die Lenkung anderer erreichen will, kann sich
der Drohung als Mittel bedienen, die erst und nur für den Fall der Unbotmäßig-
keit gegen das geforderte Handeln den versprochenen (mitunter physischen)
Schaden zufügt, auf diesen aber verzichten kann, weil der Bedrohte zumeist das
Risiko vor dem anstehenden Nachteil abwendet und sich fügt. Der auf kosten-
günstigen Aufbietungen in der Drohbeziehung beruhende Gehorsam könnte sich,
so Tyrell, eignen, um dasjenige Machtanliegen weitestgehend vor der Labilität
zu schützen, das den verlässlichen Transfer des Willens von den Übergeordneten
zu den Untergeordneten verlangt. Auf diese Weise lässt es Tyrell zunächst frag-
lich erscheinen, warum Weber statt auf die gewählte Relation von Befehl und
Gehorsam nicht auf die eindrucksvolle Effektivität der Drohung rekurriert.
Die Abgrenzung von der Drohung lässt aber das jeweilige Handeln der
Über- und Untergeordneten deutlich erkennbar werden. Was die Drohung radikal
einschränkt, ist die autonome Eigenbedeutung, die man dem Unterordnungshan-
2.5 Handeln und Herrschaft 125
deln zuschreibt. Die Kanalisierung fremden Handelns auf eine Option, mit der
sich Nachteile vermeiden lassen, lässt dem Bedrohten ein Minimum an Sinnhaf-
tigkeit. Das ist im Falle der Gehorsamspflicht anders. Auf sie verweist auch Ty-
rell, um die spezifische Sinnhaftigkeit der Unterordnung zu beschreiben. Dafür
muss man aber zunächst den Befehl betrachten, mit dem er zwei Intentionen
verbindet: Da ist erstens das Herbeiführen eines bestimmten Handlungsresultats
und zweitens dessen Durchführung seitens desjenigen, an den sich der Befehl
richtet. Mit dem Befehl will man also die Überführung eines bestimmten Sinns
erreichen und auf den Willen des Untergeordneten wirken (ebd., 73). Wer also
einem Untergeordneten aus einer nicht konfrontativen Stellung heraus einer
Weisung aussetzt, will diesen nicht nur über das Verlangen in Kenntnis setzen,
für dessen In-die-Tat-Umsetzung der Informierte Sorge zu tragen hat, sondern er
beabsichtigt, auch den anderen überhaupt zu mobilisieren. Um die Sinnhaftigkeit
der Unterordnung zu verstehen, ist eine Bemerkung Webers wichtig, die zum
oben rekonstruierten Idealtypus der Herrschaft gehört. Sie betrifft das „als ob“:
„Die schwerfällige Formulierung mit `als ob´ ist, wenn man den hier angenomme-
nen Herrschaftsbegriff zugrunde legen will, deshalb unvermeidlich, weil einerseits
für unsere Zwecke nicht die bloße äußere Resultante: das faktische Befolgtwerden
des Befehls, genügt: denn der Sinn seines Hingenommenwerdens als einer `gelten-
den´ Norm ist für uns nicht gleichgültig […]“ (Weber 2002, S. 544).
Welche Bedeutung das „als ob“ für das Herrschaftshandeln hat, lässt sich wie
folgt auflösen. Herrschaftshandeln weist die Komponenten des sozialen Han-
delns auf, es beinhaltet aber auch eine spezifische Güte. Zur Herrschaftsbezie-
hung gehört die Zuschreibung der Rechtmäßigkeit. Reines soziales Handeln, das
nicht an einer Sitte, einer Konvention oder einem Recht orientiert ist, weist nur
eine geringe Wahrscheinlichkeit dafür auf, dass sich es Erwartung anderer erfül-
len wird. Das reine soziale Handeln demonstriert, so Weber, aufgrund der bloßen
Orientierung an dem erwarteten Handeln anderer die „absolute Labilität“ dieser
Erwartung (vgl. Weber 1951, S. 446). Wichtig ist nun Folgendes: Sozialen Han-
deln, das von Seiten der Handelnden nicht an einer zweckrationalen Ordnung
orientiert ist, kann so erfolgen, als ob sie sich an einer solchen orientierten (ebd.,
S. 452). Der Ablauf des sozialen Handelns lässt in diesem Fall einen Ertrag er-
kennen, der sich sonst ergeben hätte, wenn sich die Handelnden an einer zweck-
rationalen Ordnung orientiert hätten. Wird das soziale Handeln entsprechend
einer zweckrationalen Ordnung gestaltet, die tatsächlich aber nicht besteht, so ist
die Wahrscheinlichkeit größer, dass mit einem Handeln auf Seiten der Gegen-
über zu rechnen ist, das wiederum für die Orientierung des eigenen Handelns
ausschlaggebend sein kann. Zur Veranschaulichung des „als ob“ hilft eines der
Beispiele Webers: Eine Sprachgemeinschaft besteht u.a. deswegen, weil Spre-
cher die Erwartung hegen, dass ihr gemeinter Sinn bei anderen auf Verständnis
126 2 Herrschaft
trifft. Der Rückgriff auf die Zeichen erfolgt, als ob sie sich an tatsächlichen
zweckrationalen Grammatikregeln orientierten (ebd., S. 454).
Die mit dem „als ob“ verbundene Erwartungssicherheit skizziert er an ande-
rer auch mit der Kategorie Einverständnis. Er legt fest:
„Unter `Einverständnis´ nämlich wollen wir den Tatbestand verstehen: dass ein an
Erwartungen des Verhaltens Anderer orientiertes Handeln um deswillen eine empi-
risch `geltende´ Chance hat, diese Erwartung erfüllt zu sehen, weil die Wahrschein-
lichkeit objektiv besteht: dass diese andern jene Erwartungen trotz des Fehlens einer
Vereinbarung als sinnhaft `gültig´ für ihr Verhalten praktisch behandeln werden“
(ebd., S. 456).
Was für die Erwartungssicherheit verantwortlich ist, tritt mit dieser Kategorie
hervor: Beim Einverständnis kann man deswegen mit der Erfüllung der Erwar-
tung rechnen, mit der man an einen Handelnden herantritt, weil die Chance be-
steht, dass auch dieser die an sich gerichtete Erwartung als geltend erachtet. An-
stelle der Orientierung an der Erwartung an das Handeln der Anderen richtet sich
die Orientierung an die Geltungschance, d.h. man kann aufgrund der Vorstellung
über die Geltung einer Ordnung, die im Wesentlichen aus Verhaltensvorgaben
besteht (vgl. Weber 2002, S. 16), objektiv Erwartungen hegen, was ein Mehr an
Erwartungssicherheit begründet.77
Herrschafts-Einverständnis nennt Weber den Sachverhalt, der vor allem am
Ungehorsam erkennbar wird. In diesem Fall wird Unbotmäßigkeit kaschiert,
weil der Ungehorsame eine legitime Herrschaft nicht leugnet (vgl. Weber 1951,
S. 457). Dazu sieht er sich veranlasst, weil er sich der objektiven Chance gewiss
ist, die besagt, dass man auf Seiten anderer mit der Orientierung an der Geltung
einer Herrschaft rechnen kann. Am abweichenden Verhalten erklärt Weber auch
die Geltung einer Ordnung. Für Weber kann nicht nur die Befolgung einer Ord-
nung ihre Geltung hervorbringen, denn auch das abweichende Verhalten kann an
ihr orientiert sein. Wenn dieses nämlich von Seiten des Handelnden verborgen
werden soll, dann zeigt sich, dass er mit der Geltung einer Ordnung zählt. Er
orientiert sich daran, dass sich andere so an der Ordnung orientieren, als ob sie
deren Erfüllung zur Maxime für das eigene Handeln machen, was schließlich das
Kaschieren des abweichenden Verhaltens veranlasst (ebd., S. 443). Zum Herr-
schafts-Einverständnis zählt er darüber hinaus den Gehorsam aus Gründen der
Furcht. Die ständige Unzufriedenheit auf Seiten der Untergeordneten gefährdet
aber eine solche Herrschaft. Sie kann zwar mit einer gewissen Beständigkeit
77 Die besondere Effizienz der Herrschaft geht, Tyrell zufolge, auf eine dreifache Indifferenz
zurück. Da ist als erstes die Gleichgültigkeit gegenüber dem Inhalt des Befehls, der von Seiten
der Untergeordneten nicht evaluiert, d.h. die inhaltliche Indifferenz „[…] schließt von sich aus
keine Handlung als möglichen Gegenstand von Befehl und Gehorsam aus und hat auch keine
Präferenz für bestimmte Befehle“ (Tyrell 1980, S. 78). Infolge der inhaltlichen Indifferenz er-
geben sich als zweites die zeitliche Streckung und drittes die soziale Reichweite.
2.5 Handeln und Herrschaft 127
78 Dessen ungeachtet macht er einen anderen Sachverhalt für die massenhafte Befolgung von
Ordnungen verantwortlich: Angesichts eines wesentlichen Merkmals moderner Gesellschaften,
nämlich die Anhäufung gesatzter Ordnungen, die für die unterschiedlichsten Interaktionen
vorgesehen sind, fragt er nach den praktischen Konsequenzen der immer weiter fortschreiten-
den „Rationalisierung der Ordnungen“ (Weber 1951, S. 471). Man muss berücksichtigen, dass
es den Ablauf des Handelns erschweren würde, wenn man in jedem Fall Verständnis für die ra-
tionalen Zwecke aufbringen müsste, um deren willen die betreffenden Ordnungen eingerichtet
128 2 Herrschaft
Im Allgemeinen stellt er fest, dass Interaktionen, in denen man jeweils auf die
Orientierung der anderen an einer geltenden Ordnung zählen kann, einen hohen
Grad an Erwartungssicherheit aufweisen. Weber dazu:
„Die Deutung des Handelns muss von der grundlegend wichtigen Tatsache Notiz
nehmen: dass jene dem Alltagsdenken oder dem juristischen (oder anderem Fach-)
Denken angehörigen Kollektivgebilde Vorstellungen von etwas teils Seiendem, teils
Gelten-Sollendem in den Köpfen realer Menschen […] sind, an denen sich deren
Handeln orientiert, und dass sie als solche ganz gewaltige, oft geradezu beherr-
schende, kausale Bedeutung für die Art de Ablaufs des Handelns der realen Men-
schen haben. Vor allem Vorstellungen von etwas Gelten (oder auch: Nicht-Gelten-)
Sollendem“ (ebd., S. 7; Herv. im Orig.).
Für Herrschaft macht er also geltend, dass es die Orientierung an der Legitimität
ist, die sie jeweils optimiert. „[…] Sitte oder Interessenlage so wenig wie rein
affektuelle oder rein wertrationale Motive der Verbundenheit könnten verlässli-
che Grundlagen einer Herrschaft darstellen. Zu ihnen tritt normalerweise ein
weiteres Moment: der Legitimitätsglaube“ (ebd., S. 122). Kann man mit der Le-
gitimität der Herrschaft rechnen, so bedeutet das, die Untergeordneten folgen
einem Befehl um einer Herrschaftsbeziehung wegen, sie handeln gehorsam.79 Im
Wesentlichen ist es die gelungene Übertragung eines Willens, die sich durch die
wurden. Für die Handelnden wäre das, so Weber, unzumutbar, wenn man sie nötigen würde,
sich bei der Ordnungsorientierung für das jeweilige Handeln das Prinzip zu vergegenwärtigen,
auf dessen Grundlage die Ordnung einmal geschaffen wurde. Obwohl dies in der Tat nicht ge-
schieht und die jeweiligen Prinzipien und Zwecke dem Bewusstsein der Handelnden unzuläng-
lich sind, werden Ordnungen trotzdem befolgt. Weber folgert, dass es nicht erforderlich ist,
Prinzipien und Zwecke zu kennen. Sein Kommentar lautet: „Einverständnis und Verständnis
sind nicht identisch“ (ebd.). Vollkommen ausreichend ist es, ihm zufolge, wenn diejenigen
umfassend informiert sind, die dazu befugt sind, sich über den Sinn einer zu schaffenden Ord-
nung zu verständigen und zu einigen. Er schreibt: „Solange die Schaffung eines neuen `Geset-
zes´ oder eines neuen Paragraphen der `Vereinsstatuten´ diskutiert wird, pflegen wenigstens
die praktisch besonders stark davon berührten Interessenten den wirklich gemeinten `Sinn´ ei-
ner Neuordnung zu durchschauen. Ist sie praktisch `eingelebt´, so kann dieser ursprünglich von
den Schöpfern, mehr oder minder einheitlich, gemeinte Sinn so völlig vergessen oder durch
den Bedeutungswandel verdeckt werden, dass der Bruchteil der Richter und Anwälte, welche
den `Zweck´, zu welchem verwickelte Rechtsnormen seinerzeit vereinbart oder oktroyiert
worden sind, wirklich durchschauen, winzig ist das `Publikum´ aber selbst die Tatsache des
Geschaffenseins und der empirischen `Geltung´ der Rechtsnormen und also der daraus folgen-
den `Chancen´ gerade soweit kennt, als zu Vermeidung der allerdrastischten Unannehmlichkei-
ten erforderlich ist“ (ebd., S. 472). Es genügt die spezifisch moderne Gewissheit darüber, dass
man gegebenenfalls die Zwecke und Prinzipien einer Ordnung nachvollziehen könnte, weil sie
rational geschöpft sind (ebd., S. 473).
79 Die Aufmerksamkeit für Legitimität steigt an, seitdem die sakrosankte Rechtfertigung von
Herrschaft ihre Kraft eingebüßt hat, infolgedessen Legitimität dem Denken zugänglich ge-
macht wurde (vgl. Johnson 1977, S. 48). Legitimität ist nun, so Ulrich Matz, nachweisbedürf-
tig: „Gott oder die Religion entfallen als Bezugspunkt der Legitimität von vornherein, ja, diese
Säkularisierung des Staates ist geradezu die erste Bedingung moderner Legitimität […]“ (Matz
1978, S. 27).
2.5 Handeln und Herrschaft 129
80 Wesentlich für den Idealtypus der Herrschaft ist also die Verpflichtung zum Gehorsam.
Nichtsdestoweniger nimmt Weber an, dass sich Herrschaft in der empirischen Wirklichkeit
vielmehr auf dem Interesse der Untergeordneten stützt: „Natürlich bleibt auch in jedem autori-
tären Pflichtverhältnis faktisch ein Minimum von eigenem Interesse des Gehorchenden daran,
dass er gehorcht, normalerweise eine unentbehrliche Triebfeder des Gehorsams“ (Weber 2002,
S. 133). Welchen Bezug dieses Interesse beansprucht, führt Arnold Gehlen auf Folgendes zu-
rück (vgl. Gehlen 1978, S. 92): Es ist das sachliche Interesse an all das, was die Untergeordne-
ten ihr Eigen nennen, um dessen Erhaltung sie sich in einem Herrschaftsverhältnis deswegen
weniger sorgen, weil sie die Existenzsicherung als Aufgabe der Übergeordneten erachten. Das
Interesse an der Existenzsicherung findet man, Weber zufolge, insbesondere in modernen Ge-
sellschaften vor, in denen das materielle Überleben auf die bürokratische Herrschaft angewie-
sen ist. „Die Gebundenheit des materiellen Schicksals der Masse an das stetige korrekte Funk-
tionieren der zunehmend bürokratisch geordneten privatkapitalistischen Organisationen nimmt
stetig zu, und der Gedanke an die Möglichkeit ihrer Ausschaltung wird dadurch immer utopi-
scher“ (Weber 2002, S. 208 f.). Übergeordnete können sich nicht indifferent gegenüber den In-
teressen der Untergeordneten verhalten, denn, so Karl Otto Hondrich: „Nur in einer regressi-
ven, letztlich selbstzerstörerischen Gesellschaft (`Entgesellschaftung´) lässt sich ein unbe-
schränkter Interessengegensatz zwischen Mächtigen und Ohnmächtigen konstruieren. In der
statischen Gesellschaft gibt es schon ein Minimum an übereinstimmender Interessenlage –
nämlich im Hinblick auf die Erhaltung sozialer Beziehungen. In der fortschreitenden, also auf
weitergehende Bedürfnisbefriedigung angelegten Vergesellschaftung schließlich ist der lang-
fristige Machtzuwachs des Gesamtsystems (und damit der Überlegenen im System) nur mög-
lich, wenn die Mächtigen ihre Machtausübung fortlaufend einschränken, also den Interessen
der (noch) Unterlegenen immer weniger zuwider handeln, mit anderen Worten, wenn das Ver-
hältnis von positiven zu negativen Leistungen sich ständig zugunsten der ersteren verschiebt“
(Hondrich 1973, S. 73). Neben dem sachlichen Interesse macht Weber das Interesse an einem
ständischen Moment gelten, das spezifisch für die in der bürokratischen Herrschaft bedeutsame
Unterordnung der Beamten zutrifft. Diese sind nämlich an jenem Ansehen interessiert und ge-
nießen im Gegensatz zu den weiter unten Untergeordneten das Prestige, das im Wesentlichen
auf der Schätzung des für die rationale Bürokratie unerlässlichen Bildungspatents beruht (vgl.
Weber 2005, S. 161 f.).
130 2 Herrschaft
durch die Anerkennung von Seiten derer mitkonstituiert, an die sich die Gel-
tungsanforderung der Ordnung richtet (vgl. Kielmansegg 1971, S. 372). Das
trifft auch auf Herrschaft zu.81
„Denn das Objekt, das es zu erfassen gilt, sind nicht bestimmte Geltungsüberzeu-
gungen, sondern es ist die Tatsache, dass politische Systeme sich auf Geltungsüber-
zeugungen gründen, als solche. Wenn der Sozialwissenschaftler sich dabei das Phä-
nomen der Geltung aus den vorfindbaren Geltungsüberzeugungen erschließt, so
kehrt er die Erfahrung des Individuums sozusagen um. Für das Individuum gründet
sich Geltung eben nicht auf Anerkennung, sondern Anerkennung folgt aus Geltung“
(ebd., S. 368 f.).
Die Geltung der Herrschaft ist somit ein Resultat der Orientierung an ihrem Be-
stehen. Das allerdings macht erst dann Sinn, wenn man die Erteilung der Aner-
kennung als eine Reaktion begreift. Daher Kielmansegg: „Legitim ist – so legt es
die Definition, Legitimität sei soziale Geltung als rechtens, fest –, was die, auf
die der Geltungsanspruch zielt, als legitim anerkennen“ (ebd.). Neben der Wert-
schätzung für die Herrschaftsbeziehung ist es demzufolge der Legitimitätsan-
spruch auf Seiten der Übergeordneten, der zur Hervorbringung von Legitimität
beiträgt. Die Geltungsanforderung ist schließlich auch deswegen erforderlich,
weil die Zumutung der Unterordnung von Seiten der Betroffenen als rechtferti-
gungsbedürftig erfahren wird (ebd., 389). Für die Geltung einer Herrschaft
braucht es also Gründe für ihre Rechtmäßigkeit. Insofern verweist Legitimität
auf ein Beziehungsresultat (vgl. auch Sternberger 1962, S. 2):
„Indem der Mensch die Notwendigkeit geistiger Herrschaftsbegründung entdeckt
und seine Geltungsvorstellungen zu Legitimitätsideen formt, schafft er die Möglich-
keit legitimer Herrschaft. Indem er den Geltungsanspruch anerkennt, der in seinem
Denken Gestalt gewonnen hat und ihm in einer Herrschaftsordnung gegenübertritt,
schafft er Legitimität (und Illegitimität – dort, wo er ihn verwirft)“ (Kielmansegg
1971, S. 390).
An der Herstellung von Legitimität sind demnach beide Seiten einer Herr-
schaftsbeziehung beteiligt, die Untergeordneten und die Übergeordneten. Claus
Offe spricht in dieser Hinsicht von zwei Aktionsrichtungen (vgl. Offe 1976, S.
84): Wenn die Untergeordneten die Legitimität bekräftigen, dann rekurrieren sie
auf spezifische Geltungsgründe, die von Seiten der Übergeordneten vorgetragen
werden. Dazu Habermas: „Was als Grund akzeptiert wird und konsenserzielen-
de, damit motivbildende Kraft hat, hängt vom jeweils geforderten Niveau der
Rechtfertigung ab“ (Habermas 1976, S. 42; Herv. im Orig.).
81 Carl Joachim Friedrich bemerkt ebenfalls, dass Legitimität nicht mit Zustimmung identisch
sein kann, denn was der Zustimmung fehlt, ist die Auskunft darüber, ob Herrschaft zu Recht
besteht (vgl. Friedrich 1960, S. 121).
2.5 Handeln und Herrschaft 131
82 Die Erwartungssicherheit auf Seiten der Übergeordneten muss vor allem gegenüber einer ei-
gens getroffenen Auswahl an Menschen gegeben sein. Konkret: Eine „Organisation“ muss Er-
wartungssicherheit erfüllen, und das ist die Verbindung zwischen den Übergeordneten und der
Verwaltung, die dafür Sorge tragen muss, dass Ordnungen eingehalten werden (vgl. Weber
2002, S. 122).
132 2 Herrschaft
von wenigstens einer Person und das kann mitunter ein Familienoberhaupt, ein
Hausherr oder auch ein Vereinsvorstand, Fürst oder Staatspräsident sein. Die
notfalls mittels Verbandszwang aufrecht zu erhaltende Ordnung braucht aller-
dings, seinen Angaben zufolge, nicht rational gesatzt zu sein, denn genau diese
Entbehrung schafft die wesentliche Unterscheidung zu der anderen sozialen Be-
ziehung, der ebenfalls der mögliche Einsatz von Zwang eigen ist.
Zur Anstalt: Liegt eine soziale Beziehung vor, ohne dass die Beteiligten ei-
ne Ordnung über diese vereinbart haben, eine solche aber besteht und deren Be-
folgung von den Beteiligten erwartet wird, gleichwohl sie nicht an ihrer Schaf-
fung mitgewirkt haben, dann geschieht die Beteiligung an dieser sozialen Bezie-
hung ohne vorherige Einwilligung der Beteiligten (vgl. Weber 1951, S. 465).
Soweit stimmt der Typ Anstalt mit dem Verband überein, d.h. der für die Inne-
haltung der Ordnung vorgesehene Zwangapparat ist die Komponente, die beide
Typen miteinander teilen. Was aber erstere und letzteren voneinander trennt, ist
die Entbehrung, die sich der Verband leistet, hingegen die Anstalt kennzeichnet:
Eine rationale Ordnung, die von fachmäßig Geschulten formal richtig gesatzt
wird. Insofern es nur diese ist, die dem Verband abgeht, die Anstalt ansonsten
wie dieser den eigens zur Erfüllung der Ordnung eingerichteten Personenstab
und auch die unfreiwillige Beziehungsbeteiligung aufweist, kann Weber den
bloß relativen Gegensatz der beiden Typen erkennen (vgl. Weber 2002, S. 28).
Mit anderen Worten: „Das `Anstaltshandeln´ ist der rational geordnete Teil eines
`Verbandshandelns´, die Anstalt ein partiell rational geordneter Verband“ (We-
ber 1951, S. 467).
Wird das ordnungsgemäße Handeln derjenigen verbindlich erwartet und im
Hintergrund durch Zwang garantiert, die sich an den sozialen Beziehungen von
Verband und Anstalt beteiligen können und werden sie ihnen ferner auch ohne
ihr Entgegenkommen zugerechnet, so spricht Weber von einer politischen Ge-
meinschaft (vgl. Weber 1951, S. 466), der vordergründig die Herrschaftsgeltung
auf einem Gebiet eigen ist. Die Gebietsgeltung wird erkennbar, wenn der zur
Innehaltung der Ordnung bereitstehende Stab seine Aufmerksamkeit nicht nur
auf die expliziten Angehörigen von Verband oder Anstalt, sondern auch auf an-
dere sich auf dem Gebiet aufhaltenden Menschen richtet. Zur politischen Ge-
meinschaft gehört schließlich der durchführbare Einsatz von Gewalt, um Ord-
nungen zu garantieren. Weber akzentuiert speziell diese Komponente, indem er
sie erstens als Mittel der Ordnungsgarantie benennt, auf die ausschließlich die
politische Gemeinschaft angewiesen, und zwar existenziell angewiesen ist. Die
einzig auf der Grundlage der Gewalt vorgenommene Identifikation nimmt er
deswegen vor, weil sich aus der Menge der Zwecke der politischen Gemein-
schaft kein universeller Zweck angeben lässt, so dass man sich, ihm zufolge, nur
auf das unerlässliche Mittel der Gewalt einigen kann, welches er von jenen son-
dert.
134 2 Herrschaft
„Man kann daher den `politischen´ Charakter eines Verbandes nur durch das – unter
Umständen zum Selbstzweck gesteigerte – Mittel definieren, welches nicht ihm al-
lein eigen, aber allerdings spezifisch und für sein Wesen unentbehrlich ist: die Ge-
waltsamkeit“ (Weber 2002, S. 30; Herv. im Orig.).
Der Staat ist der vollkommen moderne Typ des politischen Herrschaftsverbands,
genauer: der politischen Herrschaftsanstalt, deren Gewaltmonopol die positiven
Anstaltssatzungen garantiert und durch diese geregelt ist.
Weitaus wichtiger als die Unterscheidung von Verband und Anstalt ist der
Sachverhalt, bei dem eine gesatzte Ordnung neu geschaffen wird. Weber stellt
für diesen Vorgang die Oktroyierung und Fügsamkeit in den Vordergrund (vgl.
Weber 2002, S. 27). Spricht man von der Oktroyierung einer Ordnung, so wird
diese zum Zweck der Orientierung an ihr bekannt gemacht. Der Vorgang
schließt Ungehorsam aus. Das wiederum offenbart den Tatbestand der Herr-
schaft auf Seiten derjenigen, die oktroyieren und mehr noch die erforderliche
Anlehnung an deren legitime Schöpfungsmacht.
„Die Fügsamkeit gegenüber der Oktroyierung von Ordnungen durch Einzelne oder
Mehrere setzt, soweit nicht bloße Furcht oder zweckrationale Motive dafür ent-
scheidend sind, sondern Legalitätsvorstellungen bestehen, den Glauben an eine in
irgendeinem Sinn legitime Herrschaftsgewalt des oder der Oktroyierenden voraus
[…]“ (ebd., S. 20; Herv. im Orig.).
Für Weber steht fest, dass die Einsetzung einer Ordnung legal, also gemäß gülti-
gen Vorschriften erfolgt, damit aber an den Geltungsgrund der Herrschaft83 ge-
bunden ist. Wenn daher eine Anstalt eine Ordnung erlässt, dann erachtet man die
mit ihr erwartete Verbindlichkeit deswegen als legitim, weil man sich an dem
Legitimitätsglauben der Herrschaft orientiert, ohne den eine Oktroyierungsmacht
nicht sein kann. Ist diese tatsächlich, so bedeutet das, man kann an ihr empiri-
sche Geltung beobachten, d.h. es lässt sich die Orientierung der von der Ordnung
Betroffenen an Vorstellungen von der geltenden Herrschaft zur Aufzwingung
der verbindlichen Ordnung beobachten. Diese Fügsamkeit gegenüber der Sat-
zungsmacht nennt Weber die Verfassung84 des Verbands (vgl. Weber 1951, S.
469). Oktroyierung beruht also auf Macht und ist die machtgestützte Oktroyie-
rung einer Ordnung gegeben, so ist der Vorgang, zu dem die Anerkennung der
83 Grundsätzlich gilt für Weber, dass die Einführung einer Verbandsordnung nicht unabhängig
von der Verbandsherrschaft geschehen kann: „Der Sache nach aber beruht jegliche Oktroyie-
rungsmacht auf einem spezifischen, in seinem Umfang und seiner Art jeweils wechselnden
Einfluss – der `Herrschaft´ – konkreter Menschen (Propheten, Könige, Patrimonialherren,
Hausväter, Älteste oder anderer Honoratioren, Beamten, Partei- oder anderer `Führer´ von
höchst verschiedenem soziologischen Charakter) auf das Verbandshandeln der andern“ (Weber
1951, S. 470; Herv. im Orig.).
84 Er konkretisiert: „Der hier gebrauchte `Verfassungs´-Begriff ist auch der von Lassalle verwen-
dete. Mit der `geschriebenen´ Verfassung, überhaupt mit der Verfassung im juristischen Sinn,
ist er nicht identisch“ (Weber 2002, S. 27).
2.5 Handeln und Herrschaft 135
Oktroyierung gehört, die Verfassung. Es ist schließlich diese Kategorie, mit der
Weber auf den unerlässlichen Zusammenhang zwischen (Anstalts-)Ordnungs-
schöpfung und Herrschaft verweist.
Alles in Allem: Die reine Herrschaft lässt sich nicht auf Macht reduzieren
und sie ist der Herrschaft des Wirtschaftsmonopols um etwas voraus, was sie
allgemein optimiert: die Gehorsamspflicht. Simmels Nachweis darüber, dass
Herrschaft nicht mit Zwang zusammenfällt und Tyrells Feststellung, dass die
Drohung mit der Gehorsamspflicht nicht mithalten kann, lassen noch schärfer
hervortreten, warum das Handeln der Untergeordneten, das Weber für den Ideal-
typus der Herrschaft veranschlagt, ausschlaggebend ist. Hierfür hält er die Kate-
gorie des Einverständnisses bereit. Dass aber auch von Seiten der Übergeordne-
ten eine Wirkung auf das Legitimitäts-Einverständnis ausgeht, lässt sich daran
erkennen, dass sie es sind, die die Geltungsprinzipien der Herrschaft in Stellung
bringen. Anhand der Geltungsprinzipien kann Weber schließlich Typen der
Herrschaft konstruieren, die er im Einzelnen oder verschränkt miteinander im
Handeln des Verbands und der Anstalt aufsucht.
3 Émile Durkheims Welt
85 Der Drang lässt sich, gleichwohl sich sein Substrat verorten lässt, nicht von territorialen Gren-
zen aufhalten. Darauf weist Durkheim hin, und daher ist es fragwürdig zu behaupten, dass man
den methodologischen Nationalismus „in Reinkultur beispielsweise in den Gesellschaftstheo-
rien Emile Durkheims“ (Beck 2004, S. 44) auffindet. Durkheim und Mauss weisen zwar darauf
hin, dass der nationale Container ihr Bezugspunkt ist, sie formulieren aber auch explizit, dass
es zu den Aufgaben der Soziologie gehört, soziale Phänomene zu untersuchen, für die territori-
ale Grenzen kein Hindernis darstellen: „Eine der Regeln, die wir befolgen, wenn wir soziale
Phänomene als solche und für sich genommen untersuchen, besteht darin, sie nicht im luftlee-
ren Raum stehen zu lassen, sondern stets in Bezug zu einem definierten Substrat zu setzen, das
heißt zu einer Gruppe von Menschen, die einen bestimmten Teil des Raums einnimmt und sich
geographisch abbilden lässt. Nun ist die umfassendste all dieser Gruppierungen – diejenigen,
die alle anderen in sich birgt und die folglich sämtliche Formen umfasst und umkleidet –, wie
es scheint, die politische Gesellschaft: Sippe, Volksstamm, Nation, Stadtstaat, moderner Staat
usw. Es scheint also auf den ersten Blick, als könne sich das kollektive Leben nur innerhalb
von klar umrissenen und fest begrenzten politischen Gebilden entwickeln, das heißt als sei das
nationale Leben die höchste Form des kollektiven Lebens und als könne es für die Soziologie
keine sozialen Phänomene einer höheren Ordnung geben. Es gibt jedoch solche, deren Rahmen
nicht so klar definiert sind; sie setzen sich über politische Grenzen hinweg und erstrecken sich
auf weniger leicht bestimmbare Räume. Auch wenn es aufgrund ihrer Komplexität zum ge-
genwärtigen Zeitpunkt schwierig ist, sie zu untersuchen, so gilt es dennoch, ihre Existenz fest-
Ding zu behandeln.86 Das bedeutet zunächst Folgendes: „Wir wollen die Moral
nicht aus der Wissenschaft ableiten, sondern die Wissenschaft der Moral betrei-
ben, was etwas ganz anderes ist“ (Durkheim 2008a, S. 76). An anderer Stelle
schreibt er:
„Wir verstehen darunter die Behandlung moralischer Phänomene, der moralischen
Wirklichkeit, wie sie sich der Beobachtung darbietet, sei es nun in der Gegenwart
oder in der Vergangenheit, analog zu der Behandlung, die die Physik und die Physi-
ologie den von ihnen untersuchten Phänomenen zukommen lassen“ (Durkheim
1986a, S. 49).
Begreift man Moral als Ideen, an die sich die Wirklichkeit anpassen soll, dann
versperrt man sich auf diese Weise den Weg, der Wirklichkeit der Moral nach-
zugehen. Geht man im Sinne Durkheims erfahrungswissenschaftlich vor, so
stellt man nicht in den Vordergrund, dass einzig eine moralische Idee das mora-
lische Handeln bewirkt, sondern man untersucht, welche Ursachen die Moral
verschulden und welche Wirkungen sich ihr verdanken, ohne jedoch vorauszu-
setzen, dass Letztere mit einem gewünschten Nutzen zusammenfallen (vgl.
Durkheim 1984, S. 116). In der Ethik hingegen erschöpft sich, so Durkheim, die
Moral in Ideen, ohne ihr zuzugestehen, dass sie abseits der Ideen eine Eigenexis-
tenz führt. Somit macht die Ethik ihrerseits nicht die geltenden Verhaltensregeln,
sondern die in diesen zum Ausdruck gebrachten Ideen zum Gegenstand. Die
Wissenschaft, die aber „etwas ganz anderes ist“, bricht nicht von den Ideen zu
den Dingen auf. Für Durkheim gilt die folgende Regel: Wer Dinge untersuchen
will, weiß vorab nichts von ihnen (ebd., S. 90). Moralisches Handeln ist unter
dieser Voraussetzung nicht die Wirkung einer postulierten Idee, da man Moral,
sobald sie als Ding behandelt wird, nicht in ihrer Wirklichkeit erfassen kann,
wenn man von dem ausgeht, was sein soll.
Wer sich Durkheim anschließt, muss durch wissenschaftliche Erklärungen
herbeigeführte Verwerfungen aushalten können, die zum einen die „Suggestion
des gesunden Menschenverstandes“ (ebd., S. 85) und zum anderen heilige Dinge
betreffen. Gesetzt den Fall, man behandelt Moral wie ein Ding, so muss man
sich von Begriffen, oder wie Durkheim schreibt, von „Vulgärbegriffen“ verab-
zuhalten und ihnen innerhalb der Soziologie den ihnen gebührenden Platz einzuräumen“
(Durkheim/Mauss 2013, S. 453). An anderer Stelle schreiben sie außerdem Folgendes: „Es gibt
also soziale Phänomene, die nicht fest an ein bestimmtes soziales Gebilde gekoppelt sind; sie
erstrecken sich über Gebiete jenseits nationaler Territorien oder entwickeln sich über Zeiträu-
me, die über die Geschichte einer einzelnen Gesellschaft hinausgehen. Sie führe in gewisser
Weise ein supranationales Leben“ (ebd., S. 454). Zur Kritik an der Identifikation Durkheims
mit dem methodologischen Nationalismus vgl. auch Inglis/Robertston 2008; Chernilo 2008.
86 Das hat, so Tanja Bogusz und Heike Delitz, anfangs vor allem in Deutschland für Verwirrung
gesorgt. Sie schreiben: „Durkheim betonte stets, dass die Gruppe sich kognitiv `betätigt´; die
`Produkte dieses Betätigung des Gesamtgeistes´ bezeichnet er als `Dinge´, so dass man den
Eindruck habe, er betrachte die Gesellschaft `als etwas von ihren Mitgliedern ganz verschiede-
nes`“ (Bogusz/Delitz 2013, S. 18; Herv. im Orig.).
3.1 Soziale Dinge (Die Regeln der soziologischen Methode) 139
schieden, die den Alltag erklären und ihn durch vorgegebene Ziele erleichtern.
Obwohl Vulgärbegriffe für das praktische Handeln nützlich sind, indem sie be-
schreiben oder festlegen, was sein soll und mit welchen Mitteln etwas sein soll
oder was zu unterlassen ist und was sich als nachteilig erweisen wird, ermögli-
chen sie nicht, Ursachen des praktischen Handelns offenzulegen. Dank der be-
reitgestellten Orientierung erlauben sie zwar, der unendlichen Komplexität der
Wirklichkeit auszuweichen und somit bieten Vulgärbegriffe eine Hilfestellung
für den Alltag, indem sie über einen bestimmten Nutzen informieren. Angesichts
dessen sind die tatsächlichen Bedingungen des Nutzens belanglos. „Sie sind von
der Praxis und für die Praxis geschaffen“ (ebd., S. 116).
Wer Sakrales wie ein Ding behandelt, setzt sich der Gefahr aus, sich in
Schwierigkeiten zu bringen. Anders als die Naturwissenschaften macht sich die
Wissenschaft der sozialen Phänomene nicht nur solche Dinge zum Gegenstand
ihrer Forschung, für die im Allgemeinen und aufgrund der langen Gewöhnung
die Ursachen in Verbindung mit ihrem Nutzen erklärt werden, sondern sie nimmt
sich auch die Ursachen von politischen und religiösen Überzeugungen vor. Weil
sie neben den Begriffen des alltäglichen Bedarfs, denen hergebrachte und für die
Erforschung der Auslöser hinderliche Selbstverständlichkeiten anhaften, auch
auf Begriffe zurückgreift, die ansonsten Leidenschaft und Engagement mobili-
sieren, erntet sie für ihr Tun entweder Widerstand und Unverständnis oder sie
verschließt sich gar selbst von der Unnahbarkeit des politisch und religiös Ehr-
würdigen (ebd., S. 129). Insbesondere wer die Moral untersucht und ihr nicht
unterstellt, dass sie außerordentlicher beschaffen sei, als es die übrigen Dinge
sind, der wird sich der Empörung aussetzen, muss aber, so Durkheim, einräu-
men, dass sogar die Moral trotz ihrer Überlegenheit als empirische Tatsache zu
behandeln ist. Sogar das, was heilig ist, hat Ursachen und ist kein Ergebnis einer
„transzendentalen Antizipation der Wirklichkeit“ (ebd., S. 130).
Zu Durkheims Programm gehört es somit, die „Funktion“ 87 und die Ursa-
chen eines sozialen Phänomens zu untersuchen (ebd., S. 181). Er bemerkt, dass
der Nachweis über die Funktion, die ein soziales Phänomen leistet, nicht zur
Herleitung von dessen Ursache genügt. Für Durkheim gilt: Ein soziales Phäno-
men verdankt sich nicht seinem spezifischen Nutzen. Der erzielte Vorteil ist
nicht der Anlass dafür, dass ein soziales Phänomen zu irgendeinem Gunsten er-
zeugt wird (ebd., S. 177). Das begründet Durkheim wie folgt: Die Eigenexistenz
der moralischen Verhaltensregeln besteht insofern, als sie sich gegenüber dem
Individuum überlegen zeigen. Die Absicht allein reicht nicht aus, um den Wan-
del einer moralischen Verhaltensregel zu bewirken. Ihre Macht beruht darauf,
87 Statt von „Zweck“ oder „Ziel“ zu sprechen, greift Durkheim auf „Funktion“ zurück, weil er
leugnet, dass eine Wirkung planvoll im Hinblick auf einen Nutzen geschaffen wird (vgl. Durk-
heim 1984, S. 181).
140 3 Émile Durkheims Welt
dass sie auf sich gestellt ist. Man kann sie fördern, aber nicht nach Plan schöp-
fen:
„Dass wir den Nutzen, den die Dinge bieten, empfinden, kann uns zwar veranlassen,
diese Ursachen ins Werk zu setzen, um dadurch die mit ihnen verbundenen Wirkun-
gen hervorzurufen, nicht aber diese Wirkungen aus dem Nichts zu erzeugen“ (ebd.).
Ferner nennt er soziale Phänomene, deren Zwecke vergehen oder sich wandeln,
obwohl sich an ihren Ursachen keine Änderung verzeichnen lässt. Z.B.: Das Ge-
setz, das im römischen Recht das Eigentum des Vaters an den Kindern der Ehe-
frau garantierte, ist zwar erhalten geblieben, allerdings dient es nunmehr zum
Schutz der Kinder (ebd., S. 178). Darüber hinaus ist es deswegen unangemessen,
vom Nutzen eines sozialen Phänomens auf die Ursache zu schließen, weil sich
nicht nachweisen lässt, dass es ausnahmslos zugunsten aller besteht. Eine Wir-
kung kann ihre Ursache betreffen, indem sie diese erhält. Die Funktion der Wir-
kung kann also in einer Rückwirkung bestehen, die nicht einer Absicht unter-
liegt, da der aus ihr geschöpfte Nutzen als eine Folge neben der Wirkung auf ihre
Ursache auftritt (ebd., S. 182). Selbst die sozialen Phänomene, die im Allgemei-
nen abgelehnt und insgesamt als unnütz erachtet werden, haben Wirkungen auf
ihre Ursachen, die deswegen vonnöten sind. Durkheims bekanntes Beispiel hier-
für ist das Verbrechen. Hält man daran fest, das Verbrechen als schädlich und
somit als unnütz zu erachten und nimmt man seine Untersuchung im Hinblick
darauf vor, dass es aufhört, dann wird man sich dabei behindern, auf diejenigen
Wirkungen des Verbrechens zu stoßen, die eine Funktion ausüben, und zwar in
Richtung der Bedingungen des Verbrechens (ebd., S. 86). Das Verbrechen hat,
so Durkheim, eine Wirkung, die man nicht erforschen kann, wenn man sich nicht
davon löst, dass es unter allen Umständen abzulehnen ist. Dazu später mehr.
Ein soziales Phänomen wie ein Ding zu behandeln, heißt also zunächst, die
Voraussetzung zu vermeiden, dass sich von der Feststellung seines Nutzens die
Ursache herleiten lässt. Durkheim hingegen setzt voraus, dass etwas nicht aus-
schließlich deswegen geschieht, weil es vorab im Hinblick auf seinen Nutzen
geplant wurde (vgl. Durkheim 1981, S. 115). Forschung muss, ihm zufolge, die-
se Auffassung ablegen, weil: Moral kein Resultat einer gezielten Erfindung ist,
soziale Phänomene im Laufe der Zeit anderen Zwecken nützen können, diese
aber nicht allseits beansprucht werden und weil soziale Phänomene auf sich
selbst wirken können. Schließlich macht es deren Studium erforderlich, sich von
hergebrachten Begriffen und der Unantastbarkeit der Glaubensüberzeugungen zu
emanzipieren. Nur so, nämlich indem man sich unvoreingenommen gegenüber
den sozialen Phänomenen verhält, wird es der Forschung möglich, dass sie „ins
Unbekannte dringt“ (vgl. Durkheim 1984, S. 91).
Weil sich soziale Phänomene nicht durch ihren Nutzen erklären lassen, le-
gen Durkheims Überlegungen nahe, dass sie ihrem Wesen nach auf das indivi-
duell beabsichtigte Zutun verzichten können. Hierfür hält er den Begriff des so-
3.1 Soziale Dinge (Die Regeln der soziologischen Methode) 141
ziologischen Tatbestands bereit, der ermöglicht, Moral und andere Arten des
Handelns wie Dinge zu behandeln (ebd., S. 110 ff.). Die individuelle Intention
von den Ursachen der sozialen Phänomene zu sondern, hat schließlich Konse-
quenzen für das wissenschaftliche Vorgehen, das jene untersucht. Durkheims
Absicht ist es, anhand dieser Konsequenzen das Eigentümliche der Soziologie
als Disziplin herzuleiten.
René Königs Auslegung zufolge ist ein soziales Phänomen nicht gleich ein
soziologischer Tatbestand (vgl. König 1984, S. 38). Mit dem Begriff lassen sich
soziale Phänomene hinsichtlich ihrer besonderen Wirklichkeit untersuchen, für
die das Individuum gleich ist. Zu den Bedingungen des soziologischen Tatbe-
stands gehört nicht der individuelle Beitrag, sondern die Verbindung der Mitwir-
kenden, deren Resultat etwas anderes ist, als die Summe der einzelnen Beiträge
(vgl. Durkheim 1984, S. 92). Was aus einigen individuellen Tätigkeiten erschaf-
fen wird, beruht auf deren Wechselwirkungen und nicht auf den einzelnen Ab-
sichten, d.h. es lässt sich nicht aus den isolierten Beiträgen der jeweiligen Betei-
ligten ermitteln. Das, was sich aus sozialen Wechselwirkungen ergibt, ist nicht
eins mit der Summe der beteiligten Kräfte (ebd., S. 187). Angesichts dessen ist
es unnütz, die Mitwirkenden zu sondern und isoliert zu betrachten. Hingegen
setzt Durkheim voraus, dass Ursachen sozialer Phänomene eine eigene Wirk-
lichkeit haben, nämlich „[…] dass diese spezifischen Erscheinungen in der Ge-
sellschaft selbst ihren Sitz haben und nicht in ihren Teilen, d.h. ihren Gliedern“
(ebd., S. 94). Das Individuum ist zwar an sozialen Phänomenen beteiligt, nur
führt dessen Einzelbeitrag nicht zu dessen Ursachen (ebd., S. 189). Was sich aus
der Synthese der einzelnen Handelnden ergibt, stellt eine eigene Wirklichkeit
dar. Für deren Erforschung hilft der soziologische Tatbestand.
Der Nachweis über die Unabhängigkeit vom Individuum lässt sich anhand
der beiden Kennzeichen des soziologischen Tatbestands erbringen. Es ist näm-
lich nicht die Diskrepanz zwischen dem isolierten Handeln des Individuums und
dem am Handeln anderer orientierten Handeln, aufgrund derer ein soziales Phä-
nomen nicht eins ist mit der Summe seiner Teile. Stattdessen lässt sich dafür das
erste und dominante Kennzeichen des soziologischen Tatbestands veranschla-
gen, nämlich der Zwang, den Durkheim ab und an auch Drang nennt (ebd., S.
107). Als zweites Kennzeichen nennt Durkheim die Diffusion, die, ihm zufolge,
aber vom ersten Kennzeichen nicht unabhängig auftreten kann (ebd., S. 112).
Der Drang ist keine physische Kraft, denn es handelt sich nicht um eine aus der
Zusammenführung und Kooperation tatsächlicher Körper summierte Kraft (ebd.,
S. 99). Die Rede ist nicht vom physischen Zwang.
Auf den sozialen Zwang kann Durkheim stoßen, indem er auf die Unterle-
genheit des Individuums gegenüber Normen verweist. Normkonformes Verhal-
ten bringt man nicht unmittelbar aus sich selbst hervor, sondern es ist Ergebnis
pädagogischer Tätigkeit. Wer den Normen entspricht oder sie vertritt, hat sie
ferner nicht erfunden. „Dass sie vor ihm da waren, setzt voraus, dass sie außer-
142 3 Émile Durkheims Welt
halb seiner Person existieren“ (ebd., S. 105). Aber nicht nur Normen können
regelmäßiges Verhalten veranlassen. Gleichermaßen verhält es sich im Falle
anderer von ihm genannter Beispiele, wie der Sprache oder der Währung, ver-
möge derer sich die individuelle Willkür bezwingen lässt, da dem Individuum
keine andere Wahl bleibt, als auf ein bereits bestehendes Zeichensystem und
Geld, also auf Dinge zurückzugreifen, die jeweils vor und nach dem Individuum
existieren. Insgesamt veranschaulichen die Beispiele soziologische Tatbestände,
deren innewohnende Macht daran erkennbar ist, dass sie das Individuum nicht
bloß überdauern, sondern auch gegen spontanes Änderungsstreben seinerseits
gefeit sind. Überlegen sind sie also, weil sie sich kraft eines subjektiven Ent-
schlusses weder abschaffen noch modifizieren lassen.88 Durkheim dazu:
„Sie sind Dinge, die eine Eigenexistenz führen. Der Einzelne findet sie vollständig
vor und kann nichts dazu tun, dass sie nicht seien oder dass sie anders seien, als sie
sind; er muss ihnen Rechnung tragen, und es ist für ihn umso schwerer (wenn auch
nicht unmöglich), sie zu ändern, als sie in verschiedenem Grade an der materiellen
und moralischen Suprematie teilhaben, welche die Gesellschaft über ihre Glieder
besitzt“ (ebd., S. 99).
Kennzeichnend ist es für die soziologischen Tatbestände schließlich deswegen,
sich anderen aufdrängen zu können, weil sich ihr Zwang, trotz der freiwilligen
Unterordnung, die sie erzielen können, im Falle einer Abweichung als Gegen-
wehr, Missbilligung oder Nachteil offenbart. Das tritt insbesondere im Falle kol-
lektiver Freude, Trauer, Empörung oder Gewalt auf. Sie sind etwas anderes als
die Gesamtheit der einzelnen Affekthandlungen. „Der Zusammenklang der Emp-
findungen ist nicht die Folge einer spontanen und vorgeplanten Harmonie, son-
dern ein und derselben Kraft, die alle im selben Sinn bewegt“ (ebd., S. 111). An
ihnen zeigt sich der für den soziologischen Tatbestand wesentliche Zwang, denn
was im Kollektiv begangen wird, wird dadurch unterstrichen, dass Abweichung
mit Widerstand geahndet wird (ebd., S. 108).
Zum Substrat89 der Gesellschaft zählt er die Bevölkerungs- und Interakti-
onsdichte, deren Verteilung auf einem Territorium, die Tendenz zum Leben in
der Stadt, aber auch Verkehrswege, von denen allesamt ein Zwang auf das Indi-
viduum ausgeht (ebd., S. 113; vgl. auch Durkheim 1981, S. 112). Die Untersu-
chung letzterer ist Sache der „sozialen Morphologie“. Zu den Aufgaben einer
solchen Untersuchung gehört demnach, deren Wirkungen und insbesondere de-
ren Wirkungen im Hinblick auf den Wandel der Dinge nachzugehen (vgl. Durk-
88 „[…] wie können sie nicht wegwünschen“, schreibt Zygmunt Bauman. „Sie existieren, ob wir
von ihnen wissen oder nicht, vergleichbar dem Tisch und den Stühlen, die in meinem Zimmer
stehen, ganz gleich, ob ich sie anschaue oder an sie denke“ (Bauman 2001, S. 302).
89 Zu Durkheims Begriff Substrat vgl. auch Terrier, 2009.
3.1 Soziale Dinge (Die Regeln der soziologischen Methode) 143
heim 1984, S. 194).90 „Diese Wissenschaft, deren Ziel die Erforschung der mate-
rielle Formen der Gesellschaft ist, wollen wir soziale Morphologie nennen“
(Durkheim 2009, S. 171).
Durkheim veranschaulicht den Drang anhand der Erziehung. Verhaltens-
vorgaben, mit denen man vermittels Erziehung anderen Orientierungen für das
Handeln aufdrängt, so dass sie sich zu „Gewohnheiten und inneren Tendenzen“
(ebd., S. 109) wandeln, sind im Wesentlichen weder die Erfindung der Erzieher,
noch werden sie seitens ihres Gegenübers ohne Umschweife angenommen. Er-
ziehung bedeutet, Druck im Hinblick darauf auszuüben, „[…] dem Kinde eine
gewisse Art zu sehen, zu fühlen und zu handeln aufzuerlegen, zu der es spontan
nicht gekommen wäre“ (ebd., S. 108). Es ist die Macht des Drangs, die sich auf
die Erzieher überträgt und von welcher deren Gegenüber betroffen ist. Die zur
Gewohnheit gewordene Orientierung hat somit eine Ursache, die nicht an den
subjektiven Entschluss der Erzieher gebunden ist, sondern auf sich gestellt ist.
Am Beispiel der Erziehung lässt sich darüber hinaus erklären, auf welcher Reso-
nanz das Kennzeichen der soziologischen Tatbestände beruht.
„Das ganz und gar Besondere des sozialen Zwanges besteht darin,“ schreibt Durk-
heim, „dass er nicht der Starrheit gewisser molekularer Anordnungen, sondern dem
Prestige entspringt, mit dem gewisse Vorstellungen bekleidet sind“ (ebd., S. 99).
Die Kraft soziologischer Tatbestände ist an ihr Ansehen gebunden. Diejenigen
aber, wie die Erzieher, welche im Namen der Verhaltensvorgaben und zu deren
Gunsten auf andere Druck ausüben, folglich zur Aufbewahrung des Ansehens
spezifischer Verhaltensvorgaben beitragen, waren selbst anfangs von einem be-
sonderen sozialen Zwang betroffen. Was sich auf die Wirklichkeit des soziologi-
schen Tatbestands rückführen lässt, das wirkt nachhaltig auf dieses zurück. Er-
ziehung, deren Erfinder im Allgemeinen nicht Erzieher sind, hat also eine
Rückwirkung, von der das Ansehen der sich aufdrängenden Verhaltensvorgaben
betroffen ist. Insbesondere religiöse Vorstellungen geben ein Zeugnis davon ab,
denn nicht zwangsläufig, sondern durch Erziehung wird man, so Durkheim, de-
ren Ansehen anerkennen, nur ist dieses länger als die Generation derjenigen vor-
handen, welche die betreffenden religiösen Vorstellungen zum Gegenstand der
Erziehung machen (ebd., S. 111).
Im Ganzen legt Durkheim eine Wirklichkeit frei, die er, weil sie sich keiner
anderen zuordnen lässt, sozial nennt und mit welcher er der von ihm vertretenen
Disziplin ein für Forschung und Theoriebildung eigenes Gebiet verschafft (ebd.,
S. 107). Obwohl es einen soziologischen Tatbestand ohne Handelnde überhaupt
nicht geben kann, beruht er aber nicht auf einzelne Handelnde. Durkheim ist
90 Indem Durkheim u.a. das Wachstum der Bevölkerung und die Dichte der Interaktion zu den
Kausalbeziehungen zählt und vor diesem Hintergrund darauf verweist, dass die Zahl der Kau-
salbeziehungen für gesellschaftlichen Wandel unbeschränkt ist, schließt der aus, dass dieser ei-
nem Plan unterliegt (vgl. Durkheim 1984, S. 198).
144 3 Émile Durkheims Welt
wichtig, dass sich ein bestimmtes Handeln nicht ausbreitet, weil es häufig bei
vielen Menschen vorkommt, sondern weil der soziale Drang besteht. Nicht die
Diffusion bewirkt den Drang, sondern er bewirkt sie. (ebd., S. 111). Das Soziale
entsteht demnach nicht aus der Nachahmung. „Seine Fähigkeit, sich auszubrei-
ten, ist nicht die Ursache, sondern die Wirkung seines soziologischen Charak-
ters“ (ebd., S. 112). Der Drang besteht unabhängig von denjenigen, die sich re-
gelmäßig gleich verhalten. Das trifft, so Durkheim, insbesondere im Falle von
religiösen Glaubensvorstellungen zu, denn sie überdauern Generationen. Ein
Zwang, für den gilt, dass er nicht aus der Summe von Körperkräften resultiert,
für die Erfahrung nicht unzugänglich ist, nicht organisch ist und sich schließlich
aus einer willkürlichen Initiative heraus weder hervorbringen noch abschaffen
lässt, ist das wesentliche Kennzeichen des soziologischen Tatbestandes und lässt
deren Abgrenzung von Dingen anderer Gattungen zu. Die Konsequenz der Un-
abhängigkeit dieser Wirklichkeit vom Individuum ist, dass man nicht von diesem
ausgeht, wenn man soziologische Tatbestände zum Gegenstand der Forschung
macht.
Wer soziologische Tatbestände untersucht, kümmert sich nicht um den sub-
jektiven Sinn, der einem sozialen Phänomen zugeschrieben wird. 91 Es ist nicht
der menschliche Wille, dessen Resultat die Dinge sind, denn wäre das zutref-
fend, so hätten sie immerfort andere Ursachen (vgl. Durkheim 1981, S. 94). Man
braucht demnach, so Durkheim, nicht wie in der Psychologie vorgehen (vgl.
Durkheim 1984, S. 129). Anders als psychische Erscheinungen, derer sie sich
annimmt, sind soziale Phänomene nicht an ein Individuum gebunden, so dass
sich ihre dinglichen Eigenschaften auf anderen Wegen beobachten lassen. Sozia-
le Phänomene können sich, schreibt er, „kristallisieren“ (ebd., S. 107). Sie neh-
men umgrenzte Formen an und als starre Regelmäßigkeit sind sie „konsolidierte
Funktion“ (Durkheim 1981, S. 48). Für diese fixen Arten des Handelns greift
Durkheim auf den Begriff Institution zurück. Beispiele hierfür sind Recht und
Gesetz, Regelungen für die Produktion und den Tausch in der Wirtschaft. Kris-
tallisierungen stehen für die Beobachtung der soziologischen Tatbestände zur
Verfügung, d.h. man kann diese isoliert untersuchen, ohne Rücksicht auf subjek-
tiven Sinn und individuelle Variationen nehmen zu müssen. Neben der Berück-
sichtigung von Kristallisierungen ist ein „methodischer Kunstgriff“ durchführ-
bar, und zwar vermittels der Statistik, mit der sich der Zustand eines sozialen
Phänomens erfassen lässt (vgl. Durkheim 1984, S. 110). Berücksichtigt man die
Häufigkeiten von z.B. Ehen, Geburten und Selbstmorden, so sind die individuel-
len Variationen belanglos. Nehmen sie zu, dann lässt sich das, so Durkheim, auf
den Drang der soziologischen Tatbestände zurückführen, von dem die Menschen
betroffen sind. Die Statistik ermöglicht den Drang von der individuellen Umset-
91 Dessen ungeachtet leugnet Durkheim jedoch nicht, dass soziale Phänomene in einer individuel-
len Variation auftreten (vgl. Durkheim 1984, S. 100).
3.1 Soziale Dinge (Die Regeln der soziologischen Methode) 145
und welche nützliche Hilfestellung er bietet (ebd., S. 131). Für eine Definition
braucht es schließlich objektive Merkmale, die man „losgelöst von den bewuss-
ten Subjekten“ (ebd., S. 125) dem zu untersuchenden Ding entnimmt. Sie lassen
sich feststellen, indem man die sinnliche Komponenten anrechnet, welche die
verschiedenen Variationen eines sozialen Phänomens miteinander teilen, denn
sofern das begrenzt ist, das sie allesamt gemeinsam haben, lässt sich vermöge
dieser ihr Wesen bestimmen (vgl. Durkheim 1981, S. 92). Die erkannten Merk-
male müssen um ihrer Güte willen intersubjektiv anerkannt und stets rekonstru-
ierbar sein. Durkheim betont, dass eine Definition nicht die gesuchten Ursachen
hervortreten lässt, sondern die Voraussetzung hierfür schafft. Weist man objekti-
ve Merkmale nach, so weisen sie anschließend den Weg zu den Ursachen. Durk-
heims Begründung hierfür lautet:
„Aber sofern das Prinzip der Kausalität nicht ein leeres Wort ist, kann man versi-
chert sein, dass die äußeren Merkmale mit der Natur der Erscheinungen eng ver-
knüpft sind und ihnen wesentlich anhaften, da sie sich in gleicher Weise ausnahms-
los bei allen Erscheinungen einer bestimmten Gattung vorfinden“ (Durkheim 1984,
S. 137).
Mit der Definition konstatiert man also nicht Ursachen, sondern sie hilft, um zu
diesen zu gelangen, weil sie auf Merkmalen beruht, die jedweder Variation des
Gegenstands innewohnen und somit nahe legen, dass sie in einer Verbindung mit
den Ursachen stehen. Wichtig ist, dass die Definition aussagt, was den Dingen
sinnlich unmittelbar anhaftet, und nicht wie sie sein sollen.
Das möglichst wertfreie Vorgehen bei der Bildung einer Definition lässt
sich anhand Durkheims Überlegung zur Trennung des Normalen und des Patho-
logischen unter Beweis stellen.92 Für Aussagen über die normale oder anormale
Beschaffenheit eines Dings braucht es Geduld. Bildet man auf konsequenter
Weise eine Definition, so gesteht man allen Variationen eines sozialen Phäno-
mens die objektiven Merkmale zu, die man zunächst unmittelbar erkennt. Geht
man stattdessen inkonsequent vor, so grenzt man die Variation aus, die, der sub-
jektiven Einschätzung zufolge, irrtümlicherweise die Merkmale vorweist, so dass
man für ihren Fall auf Ursachen anderer Art schließt und sie insgesamt als anor-
males Vorkommnis verbucht. Sondert man diese anormale Variation unter der
Voraussetzung aus, dass man unterstellt, sie beruhe auf Bedingungen, die einzig
ihr eigentümlich sind, so kann man nicht versichern, dass die Definition des spe-
zifisch Normalen und Anormalen unwillkürlich aufgestellt ist. Tut man das, be-
vor man die Untersuchung vorgenommen hat, so ist es „[…] leicht vorauszuse-
hen, dass man derart nur eine subjektive und verstümmelte Anschauung erhalten
kann“ (ebd., S. 134). Hingegen verlangt eine folgerichtige Orientierung an
Durkheims Regel, das, was deswegen als anormal erscheint, weil man als ver-
92 Für König sind Durkheims Überlegungen zum Normalen und Pathologischen eine „logische
Konsequenz“ von dessen methodischen Regeln (vgl. König 1984, S. 67).
3.1 Soziale Dinge (Die Regeln der soziologischen Methode) 147
kehrt erachtet, dass es die objektiven Merkmale der Definition erkennen lässt,
für diese nicht zu disqualifizieren, sondern es zunächst wie eine mögliche Varia-
tion und nicht als Eigenartigkeit zu behandeln. Durkheim sieht hierfür Gleichbe-
handlung vor. Blendet man also Nützlichkeitserwägungen konsequent aus, so
muss man im Falle von mutmaßlich anormalen Erscheinungen billigen, dass sie
Merkmale aufweisen, die den mutmaßlich normalen Erscheinungen entsprechen
(ebd., S. 136). Definiert man etwas, so darf man das Anormale nicht aus der De-
finition ausschließen. Normal oder anormal ist nicht das, was subjektiv oder
mehrheitlich jeweils erwünscht oder nicht erwünscht ist. Wenn es der Wissen-
schaftler ist, der die Entscheidung über das Normale und Anormale trifft, dann
lässt sich nicht garantieren, dass die Entscheidung allgemein ist. Für das, was
normal oder anormal ist, lässt sich dann nicht ausschließen, dass es Streitgegen-
stand wird (vgl. Durkheim 1981, S. 91).
Wenn also nicht der Wissenschaftler entscheiden kann, dann lässt sich ab-
wenden, dass das Normale und Anormale zu Gegenständen der Beliebigkeit und
des Streits werden und stattdessen bleibt nur noch das Ding selbst übrig, dem
sich sein Normales entnehmen lässt. Objektiv ist somit die Feststellung dessen,
was normal ist, wenn sie nicht vorab besteht und sich somit aus Wertungen her-
leitet, sondern durch das bedingt ist, welches das Ding nicht vergehen lässt. Erst
wenn man die Ursachen des Dings ermittelt hat, die es zwangsläufig in seinem
Bestehen erhalten, kann man Aussagen über des Normalbeschaffenheit treffen.
Durkheim ist folglich auf ein objektives Vorgehen angewiesen, ohne das
sich das Normale nicht aufdecken lässt. Nur wenn man es objektiv ermittelt,
kann man sicher stellen, dass man „Funktionen“ von den im Allgemeinen als
unnütz und schädlich und daher vorab als anormal erachteten Phänomenen nicht
übersieht (vgl. Durkheim 1984, S. 157). Man schließt also aus, wenn man vor-
schnell das Anormale feststellt, auch den Nutzen des mutmaßlich Anormalen
untersuchen zu können. Wartet man ab, bis das Normale und Anormale anhand
von verifizierten objektiven Merkmalen bestimmt ist, so kann man sogar den
Nutzen des scheinbar Unnützen offen legen, was es infolgedessen auch als nor-
mal enthüllt. Anstelle des Risikos, die nützliche Wirkung dessen außer acht zu
lassen, das subjektiv nicht sein soll, stellt Durkheim nicht das Nützliche an den
Anfang, sondern er geht umgekehrt vor, und zwar folgendermaßen: Zunächst
muss man berücksichtigen, dass ein soziales Phänomen, wenn es normal oder
anormal auftritt, seine objektiven Merkmale jeweils aufweist. Verschiedenheiten
der sozialen Phänomene können mehrheitlich oder in wenigen Fällen auftreten,
müssen sich aber jeweils bei den Individuen nicht identisch abspielen. Man wird
diese Verschiedenheiten normal nennen können, wenn man auf die Relation zu
den ursächlich nachgewiesenen Merkmalen der anfangs entwickelten Definition
verweisen kann, die schließlich die anormale Verschiedenheit überhaupt konsti-
tuiert (ebd., S. 148). Anormale Variationen eines sozialen Phänomens kommen,
so Durkheim, nur ausnahmsweise vor. „Sie sind eine Ausnahme in der Zeit wie
148 3 Émile Durkheims Welt
im Raum“ (ebd., S. 147 f.). Stellt man das Anormale fest – und deswegen legt
Durkheim hierfür einen Weg vor –, indem man objektiv vorgeht, so kann man
den Nachweis der für die objektiven Merkmale eines sozialen Phänomens aufge-
deckten Ursachen kontrollieren. Sobald man nämlich die häufigsten Merkmale
erkannt hat, die in den häufigsten Erscheinungsformen auftreten, kann man auf
einen Durchschnittstypus verweisen, ohne den sich nicht die entsprechende Gat-
tung feststellen und notwendig von anderen Gattungen unterscheiden lässt.
Wichtig ist aber, dass man die Ursachen für die häufigsten Merkmale auffindet,
denn ihre Häufigkeit wird, bemerkt Durkheim, zweifellos mit den Ursachen ei-
nes sozialen Phänomens in einer Verbindung stehen, sonst würde es sich nicht
wiederholen. Was häufig vorkommt, kann nicht anders als mit den Bedingungen
des Dings verknüpft zu sein. Beweist man, dass die objektiven Merkmale der
Definition in einer Linie zu den Ursachen stehen, die des sozialen Phänomens
wesentlich sind, so stellt man die Rechtmäßigkeit der objektiven Merkmale fest,
die ebenfalls zu ihrem Bestehen nutzen. Somit liegt die Normalbeschaffenheit
eines sozialen Phänomens deswegen vor, weil sie mit dessen Existenzbedingun-
gen verknüpft ist (vgl. Durkheim 1981, S. 116).
Mithilfe des Normalen kann man ferner dem Wandel eines Dings nachge-
hen. Anormal nennt Durkheim das, was die objektiven Merkmale des einstigen
Normaltypus erkennen lässt, dem aber die Ursachen abgehen. Es setzt sich das
fort, was eigentlich obsolet ist. Der Wandel liegt schließlich dann vor, wenn man
objektive Merkmale und Ursachen der Vergangenheit eines Dings nachweist und
sich anhand eines Vergleichs mit der Gegenwart offenbart, dass die Ursachen
nicht mehr gegeben sind (vgl. Durkheim 1984, S. 152). Die Zeit des Übergangs
ist somit dann erkennbar, wenn ein Normaltypus aufrechterhalten wird, obwohl
seine Bedingungen abhanden gekommen sind und somit seine Zeit längst vorbei
ist.
Erst wenn eine Untersuchung den Stand erreicht, die Normalbeschaffenheit
offen zu legen, ist also eine Aussage über das Anormale zulässig, denn es lässt
sich gewährleisten, dass es nicht nach Belieben bestimmt wird. Nur das wissen-
schaftliche Ergebnis kann das Anormale einer begrenzten Zeit festlegen, weil auf
diese Weise subjektive Wertungen über das Unnütze ausgeschlossen sind. Durk-
heim sieht aber nicht den Verzicht der Auskunft über Nützliches vor. Ist die Un-
tersuchung eines Dings fortgeschritten, so kann man über das Nützliche infor-
mieren (ebd., S. 143). Die Wissenschaft von der Gesellschaft kann dem Men-
schen auf diese Weise einen Dienst erweisen, denn sie kann ein bestimmtes Sol-
len vorschlagen, das auf erwiesenen Gründen beruht. Wissenschaft nützt also,
weil sie Auskunft darüber geben kann, was sein soll. Allerdings muss sie sich
treu bleiben, indem sie ausschließt, dass sie es ist, die über das Sollen entschei-
det, dieses soll also nicht aus der Beliebigkeit subjektiver Einschätzung resultie-
ren. Stattdessen leitet sie das Sollen von der Verifikation des Normalen der Din-
ge her. Stehen die objektiven Merkmale, die man im ersten und unmittelbaren
3.1 Soziale Dinge (Die Regeln der soziologischen Methode) 149
Zugang erkannt hat, in einem Zusammenhang mit den Ursachen, so weiß man,
was das Ding erhält.93 Der Wissenschaftler, der mit Vulgärbegriffen arbeitet, ist
nicht der Konstrukteur der Wirklichkeit, sondern muss sich einverstanden zei-
gen, sich von den Dingen „belehren zu lassen“ (ebd., S. 163). Lediglich das wis-
senschaftlich aufgedeckte Normale lässt somit Vorstellungen darüber zu, wie
etwas sein soll, denn die entdeckten Ursachen der objektiven Merkmale tragen
zum Bestehen eines Dings bei, was seine Normalbeschaffenheit begründet, und
das bedeutet insgesamt: Für den Wissenschaftler gilt, dass weder das Sollen noch
das Unnütze vorab bestimmbar sind, sondern nützlich ist nur die den Dingen
entnommene Normalbeschaffenheit. Das ist wiederum nicht für den umgekehr-
ten Fall gültig, denn was nützlich sein soll, ist nicht normal. Schließlich erlaubt
nur das objektiv erkundete Sollen, den Streit darüber zu vermeiden, da dessen
Ermittlung maßlos sein wird, wenn man subjektiv vorgeht. Weil es keine univer-
sellen Kriterien für das Nützliche oder Schädliche gibt, ist es ausgeschlossen,
Eintracht darüber herzustellen, was man soll oder nicht soll (vgl. Durkheim
1981, S. 88 f.). Für die Ermittlung gibt es anstelle dessen ein Ende und sie lässt
sich abschließen, wenn man das Sollen an der Normalbeschaffenheit eines Dings
für eine bestimmte Zeit orientiert. Durkheim dazu:
„Das Ziel der Humanität verfließt also ins Unendliche, entmutigt die einen durch
seine Entfernung und stachelt dagegen die andern an, die die Gangart beschleunigen
und sich in Revolutionen stürzen, um sich ein wenig zu nähern. Diesem praktischen
Dilemma entgeht man, wenn das Erstrebenswerte die Gesundheit ist, und wenn die
Gesundheit etwas Umgrenztes und in den Tatsachen Gegebenes ist; denn die Grenze
des Strebens ist dann zugleich gegeben und bestimmt“ (Durkheim 1984, S. 163).
Im Ganzen: An der Moral lässt sich der Beitrag veranschaulichen, den Durkheim
leistet, um die von ihm vertretene Disziplin zu konsolidieren. Die empirische
Wirklichkeit der Moral hat Kausalzusammenhänge, für deren Erforschung man
keine Rücksicht auf die Begründbarkeit der Moral nehmen muss. Behandelt man
soziale Phänomene wie Dinge, so ist es ausgeschlossen, deren gewünschten oder
tatsächlichen Nutzen an den Anfang zu stellen, um zu ihren Ursachen vorzudrin-
gen. Weil sozial mehr als die Summe subjektiver Sinnhaftigkeiten ist, die zwar
im Einzelnen freilich erforderlich sind, ist der besondere Gegenstandsbereich der
Moral, der sich keiner Art unterordnen lässt, vom Individuum unabhängig. Will
man dem weder überempirischen noch physischen Drang nachgehen, der nicht
das Ergebnis eines sozialen Phänomens ist, sondern dieses hervorbringt, so hilft
der soziologische Tatbestand.
93 Durkheim orientiert sich im Hinblick auf das Normale der Dinge an den Überlegungen Mon-
tesquieus, für den die Natur der Dinge mit dem zusammenfällt, was deren Wohl erhält, und
zwar zu einer bestimmten Zeit ihres Bestehens (vgl. Durkheim 1981, S. 98).
150 3 Émile Durkheims Welt
94 Markus Schroer kommentiert das Vorhaben daher wir folgt: „Durkheims Überlegungen zur
modernen Gesellschaft sind deshalb folgerichtig projektiv konzipiert. Die moderne Gesell-
schaft ist als Projekt angelegt, das erst noch in die Tat umgesetzt werden muss“ (Schroer 2001,
S. 138).
Durkheims Moral und das besorgniserregende Individuum 151
vor, inwiefern die Soziologie der Pädagogik nützlich sein kann und weshalb die
Aussonderung der Religion von der modernen, rationalen Moralerziehung nicht
auch das entfernt, was „an der Basis jedes moralischen Lebens“ (Durkheim
2006, S. 75) steht. Da diese Erörterung auf seiner Morallehre beruht, ermöglicht
die Vorlesung, sich dem anzunähern, was im Denken Durkheims für Moral we-
sentlich ist. Auf diese Weise kann man schließlich verstehen, worauf sein gesell-
schaftliches Krisenbewusstsein beruht und inwiefern sich mit der Zunahme an
individueller Entscheidungsfreiheit die Unterordnung gegenüber äußeren Vorab-
Entscheidungen nicht erübrigt.
Eines der Anliegen in der Vorlesung ist es, den Nutzen der Soziologie für
die Pädagogik nachzuweisen. Für letztere ist es nicht nur erforderlich, sich dar-
über zu informieren, wie sich moralische Ziele durchsetzen lassen, denn sie muss
auch berücksichtigen, worin Moral ihren Ursprung hat und wie sie sich wandelt.
Die Soziologie leistet hierfür, ihm zufolge, eine Hilfestellung (ebd., S. 37).
Durkheim stört sich daran, dass man die Wirksamkeit der Pädagogik abwertet,
und das geschieht, wenn man die Moral als zum Menschen gehörend annimmt.
Weil die Tätigkeit der Pädagogik für mehr als bloße Zuarbeit qualifiziert ist, sie
nämlich die moralische Orientierung auf Seiten des Individuums fertigbringen
und in Bewegung setzen kann, ist es falsch, wenn man annimmt, ihre Aufgabe
sei es, lediglich eine bereits tief im Menschen angelegte Moralität zu erwecken.
Durkheim lehnt die Auffassung ab, die besagt, Moral sei im Wesentlichen dem
Menschen innewohnend (ebd., S. 76). Daher verneint er auch die folgende Auf-
gabenzuweisung für die Pädagogik:
„[…] man nahm an, dass dieses Werden [die Ontogenese; C.A.] nur solche Wirk-
kräfte verwirklicht, d.h. latente Energien ans Licht bringt, die schon vorgeformt im
physischen und geistigen Organismus des Kindes existieren. Der Erzieher hätte also
nichts Wesentliches zum Werk der Natur beizutragen“ (ebd., S. 39).
Richtet sich Pädagogik danach aus, mit einer latent bestehenden Moralanlage zu
arbeiten, so blendet sie die sozialen Bedingungen der Moral aus. Indem Durk-
heim zunächst die Annahme widerlegt, wonach die Moralität zur ursprünglichen
Disposition des Menschen gehört, deren Kanalisierung in die richtige Richtung
man zu den Aufgaben der Pädagogik zählt, kann er zeigen, warum der Rückgriff
auf die Soziologie sinnvoll ist. Aufgrund dessen begreift er die Moral nicht als
etwas, was bereits im Keim vorliegt, wenn der Mensch ins Leben tritt. Er weist
auf zwei Tatsachen hin (ebd., S. 40): Erstens ist Pädagogik weder zu unter-
schiedlichen Zeiten noch in unterschiedlichen Gruppen einheitlich. Zweitens
lässt es die Unterschiedlichkeit der Berufe nicht zu, dass Pädagogik ab einem
bestimmten Lebensalter für alle gleich ausgerichtet ist. Bliebe man dabei, im
Menschen eine bereits bestehende Moralität zu vermuten, so hätte die Pädagogik
nicht viel mehr zu erledigen, als den einen Weg für die möglichst vollkommene
Moralbildung zu fördern. Der Wandel moralischer Regeln macht aber, so Durk-
152 3 Émile Durkheims Welt
aber dieser Überhang ist klein“ (ebd., S. 78). Fürs erste hält er fest: Moral ist ein
Handlungsdruck, der Unterwerfung verlangt. Er nennt sie „[…] eine Gesamtheit
von Regeln; ebenso viele Verhaltensmuster mit festen Umrissen, in die wir unse-
re Handlungen gießen müssen“ (ebd., S. 80). Moral fängt also, ihm zufolge, da
an, wo man sich nötigt, es zu unterlassen, nach eigenem Belieben zu handeln,
stattdessen von äußeren Vorgaben bedrängt wird. Nur diese können individuelle
Wünsche und Begierden mäßigen (ebd., S. 96), und damit ist Moral erst recht
keine latente Einrichtung des Menschen, sondern soll gegen die bereits in ihm
bestehenden Kräfte wirken.
Allerdings gehören nicht nur die moralischen Regeln zum äußeren Hand-
lungsdruck. Eine Differenzierung erlaubt, sich dem Wesentlichen der Moral an-
zunähern. Es gibt weitere Vorab-Entscheidungen, die unabhängig von der indi-
viduellen Entscheidung sind. Unterscheidet man die Moral von diesen, dann
kann man sie konkretisieren. Durkheim trennt moralische von technischen Re-
geln. Was den Letzteren wesentlich ist, erkennt er anhand der Folgen angesichts
von Missachtungen ihrer Vorgaben. Anders als bei der Moral gehören zur Hygi-
ene, deren Achtung die technischen Regeln besorgen, unmittelbare und zwin-
gende Konsequenzen, wenn man von den Vorgaben abweicht. Aus der abwei-
chenden Handlung resultiert demnach eine mechanische Folge. Für die Hygiene
bedeutet das, ihre Missachtung führt zu Krankheit. Die Verletzung technischer
Regeln ist somit vorhersagbar mit bestimmten Folgen verbunden (vgl. Durkheim
1976, S. 93). Bei dem moralischen Regeln erfolgt hingegen keine umgehende
mechanische Konsequenz. Durkheim nennt die Verbindung zwischen der Re-
gelmissachtung und der daran anschließenden Konsequenz im Falle der Moral
ein synthetisches Band (ebd.). Die Folge ist nämlich ausschließlich an das Be-
stehen einer Regel gebunden. Jene tritt nur deswegen ein, weil das abweichende
Handeln nonkonform ist, sie ist aber keine unmittelbare Gegenwirkung von die-
ser. Läge die vorherige Regel nicht vor, so würde deren Missachtung faktisch
nicht möglich sein, was folglich keine Konsequenzen herbeiführen kann. „Weil
es eine vorher gesetzte Regel gibt und die Handlung einen Akt der Rebellion
gegen diese Regel darstellt, zieht diese Handlung eine Sanktion nach sich“ (ebd.,
S. 94). Durkheim konstatiert vor diesem Hintergrund Folgendes: Was den Hand-
lungsdruck der Moral von den technischen Regeln unterscheidet, ist ihr „obliga-
torischer Charakter“ (ebd.).95 Von technischen Regeln kann man nicht sagen,
dass ihre Befolgung verpflichtend ist. Ohne die angeordnete Pflicht aber kann
man Moral nicht fassen.
95 Dieses für die Überlegungen Durkheims zentrale Merkmal der Moral beschreibt Jean Terrier
wie folgt: „Die Essenz der Moral besteht also darin, das Leben der Individuen mit den Zielen
der Gruppe und letztendlich der Gesellschaft als Ganzer zu harmonisieren“ (Terrier 2013, S.
502).
154 3 Émile Durkheims Welt
Tätigkeit zwingend auf Maß angewiesen. Das zu erreichende Ziel wie die ein-
setzbare Kraft sind jeweils begrenzt. Aber jede Anstrengung, die an keinem Ziel
halt macht, wird dem Individuum nichts weiter außer Leid zufügen, denn die
Ziellosigkeit beeinträchtigt das Handeln, und schließt die kontinuierliche Enttäu-
schung ein. Durkheims schreibt:
„Ein Bedürfnis, ein Wunsch, der keine Hemmung und keine Regel mehr kennt, der
nicht mehr an ein bestimmtes Objekt gebunden ist und durch diese Bestimmung
selbst begrenzt und gebunden ist, kann für den Menschen, der ihm ausgesetzt ist, nur
ein Grund ständiger Qual sein. Welche Befriedigung können sie uns in der Tat ver-
mitteln, wo sie doch schon rein begrifflich nicht mehr befriedigt werden können“
(ebd., S. 93).
Insofern Maß für das Individuum allgemein erforderlich ist, kann er also behaup-
ten, dass sich äußerliche Vorgaben und Vorab-Entscheidungen, die man dem
Individuum zumutet, als gesund erweisen. Die Disziplin, von der Durkheim sagt,
sie setzt grundsätzlich Grenzen für die menschliche Tätigkeit96, entmachtet das
Individuum folglich nicht, sondern versetzt es hingegen in die Lage, sich den
Nutzen seiner Tätigkeit verständlich zu machen. Handlungsfähigkeit ist somit
notwendig auf Disziplin angewiesen. Die moralische Regel übt Druck auf das
Individuum aus und kann verhindern, dass es sich über jedes Maß verhält.
Warum Disziplin das Individuum nicht entmachtet, erklärt er außerdem
noch auf eine andere Weise. Statt die vollkommene Allmacht mit dem Maximum
an Handlungsfähigkeit zu identifizieren, setzt Durkheim jene mit der vollkom-
menen Ohnmacht gleich. Jemand, dessen Wünsche keine Grenzen gesetzt sind,
ist weder allmächtig, noch ständig durchsetzungsfähig, er ist vielmehr von seinen
Wünschen beherrscht. Allmacht ist aber etwas anderes als das Vermögen, das zu
tun, was einem beliebt. Durkheim nennt die individuellen Wünsche in diesem
Fall tyrannisch, denn sie unterwerfen das Individuum. Hingegen spricht er von
Selbstbeherrschung und Freiheit, wenn das Individuum die inneren Kräfte hem-
men und in Richtungen lenken kann (ebd., S. 97). Somit kennzeichnet er die
moralische Regel nicht als ein Instrument der äußeren Beherrschung, sie führt
das Individuum nicht zur Selbstverleugnung, sondern sie erst macht Emanzipati-
on möglich. „Weil die Regel uns lehrt, uns zu mäßigen und uns beherrschen, ist
sie ein Instrument der Befreiung und der Freiheit“ (ebd., S. 101). Insofern also
die Disziplin feste Ziele zur Orientierung wie zur Selbstbeherrschung vorgibt, ist
es nicht zulässig, sie als Entmachtung zu begreifen, denn im Grunde wirkt sie
sich im Interesse des Individuums aus, dessen Leiden sie verhindert. Wer das
nicht einsieht und die ungeregelte Freiheit statt der Disziplin bevorzugt, der
96 Durkheim deckt damit den Ziel- und Orientierungsbedarf des Menschen auf, womit er, Thomas
Korn und Melanie Reddig zufolge, die These vom Menschen als dem weltoffenen Mängelwe-
sen, dessen Handlungsoptionen auf Kontingenzreduktion beruhen vorwegnimmt (vgl.
Kron/Reddig 2003, S. 176).
156 3 Émile Durkheims Welt
wie es in der Vereinsamung nicht erfolgen würde, und somit liegt das vor, was
die Gesellschaft von einer Summe von Individuen unterscheidet (vgl. Durkheim
2006, S. 113).
Damit sie aber Ziel moralischen Handeln sein kann, muss es für das Indivi-
duum einen Grund geben, seine Tätigkeit nach ihr auszurichten. Durkheim fragt:
Was kann das Individuum veranlassen, die Gesellschaft über das eigene Interes-
se zu stellen, obwohl beide im Grunde durch kein „fleischliches Band“ (ebd., S.
117) vereinigt sind? Beantwortet man die Frage mit dem Hinweis auf den Ge-
winn, den das Individuum aus dem Leben in der Gesellschaft schöpft, so würde
der individuelle Eigennutz in das moralische Handeln hineinragen, was sich mit
der bisherigen Feststellung widerspricht, denn die Gesellschaft soll nicht das
Mittel für das individuelle Interesse sein. Zur Lösung des Problems verweist
Durkheim erneut auf einen bestimmten Umstand: Wie die moralischen Regeln
vom Individuum verlangt, sich selbst Grenzen zu setzen, so ersucht man es, sein
Interesse dem „Wohlbefinden“ der Gesellschaft unterzuordnen. Erst wenn man
sich von der Vorstellung verabschiedet, zwischen Individuum und Gesellschaft
bestehe ein Antagonismus, kann man zu einer Antwort auf die oben gestellte
Frage gelangen. Zur reinen Verleugnung des individuellen Selbst zugunsten der
Gesellschaft kommt es nämlich nicht, wenn man das moralische Handeln nach
ihr ausrichtet. Durkheim macht geltend: Nur wenn sich das Individuum der Ge-
sellschaft anschließt, kann es tatsächlich es selbst sein, kann es vollkommen sein
(ebd., S. 118). Dass jede Handlungsfähigkeit nur dann gegeben ist, insoweit das
Individuum der Mäßigung ausgesetzt ist, muss Anlass dafür sein, sich der Ge-
sellschaft unterzuordnen. Das Individuum und die individuelle Handlungsfähig-
keit sind demnach von der Gesellschaft abhängig. Dies muss das Individuum
veranlassen, zugunsten der Gesellschaft zu handeln.
„Sich selbst überlassen, würde das Individuum in Abhängigkeit von physischen
Kräften geraten. Dass es ihnen entrinnen, dass es sich befreien und eine Person wer-
den konnte, rührt daher, dass es sich einer Kraft sui generis begeben konnte, einer
Kraft, die so stark ist, da sie aus der Vereinigung aller individuellen Kräfte resultiert,
die zugleich aber eine geistige und moralische Kraft ist, die die ungeistigen und
amoralischen Kräfte der Natur zu neutralisieren vermag: nämlich die kollektive
Kraft“ (Durkheim 1976, S. 108 f.).
Nun lässt sich als erstes rekonstruieren, warum die Entfernung der religiösen
Elemente nicht soweit gehen darf, dass der rationalen Moralerziehung auch die
„rein moralischen Elemente“ (Durkheim 2006, S. 64) fehlen. Moral besteht aus
Verhaltensregeln, deren Geltung vom Individuum unabhängig ist, und sie tritt
dem Individuum als geistige Macht entgegen, deren Höherwertig es anerkennt.
Schließlich bietet sie Inhalte an, die das Individuum verehren kann. Die religiöse
Moral kennzeichnet es, dass die geistige Macht der Moral in Gestalt heiliger
Wesen auftritt (ebd., S. 137). Im Falle der rationalen Moral fehlt diese Verbin-
158 3 Émile Durkheims Welt
dung. Beiden Moralen ist jedoch die geistige Macht gemeinsam, die das Indivi-
duum bedrängen kann, sich den Vorgaben der Moral zu fügen. Wenn rationale
Moral also Religion aussondert, kann sie nicht auch die geistige Macht der Mo-
ral überhaupt entfernen. Die rationale Moral unterscheidet sich dadurch von der
religiösen Moral, dass sie nicht ausschließt, Herkunft und Wirkung der geistigen
Macht der Moral erklären zu können.
Dieses Begreifen der Moral überhaupt ist, Durkheim zufolge, für Autono-
mie konstitutiv. Hierfür muss man zunächst Folgendes berücksichtigen: Die
Notwendigkeit, sich Moral unterzuordnen, bleibt unbeschadet, unabhängig da-
von, in welchem Maße die Entscheidungsfreiheit des Individuums zunimmt. Um
handeln zu können, kann das Individuum nicht darauf verzichten, äußere Vorab-
Entscheidungen der Moral zu berücksichtigen. Die Autonomie des Individuums
beruht für Durkheim nicht darauf, dass man sich bewusst, für eine Verhaltensre-
gel entscheidet, sondern versteht, von welchen Gründen die Moral abhängt und
welche Funktionen sie erfüllt (ebd., S. 164). Die bewusste Entscheidung für eine
Verhaltensregel schließt nämlich nicht aus, dass die geistige Macht der Moral
das Individuum bedrängt. Man kann den Drang der Moral, dem man ausgesetzt
ist, aber verstehen, und daran misst Durkheim die Autonomie des Individuums.
Insbesondere die Soziologie ist hierfür nützlich. „Wir können die Moralwelt nur
so erobern, wie wir die physische Welt erobern: indem wir die Moraldinge wis-
senschaftlich erforschen“ (ebd.).
Durkheims Morallehre lässt sich zweitens entnehmen, in welcher Hinsicht
das Individuum für ihn besorgniserregend ist. Weil er es ausschließt, dass Moral
dem Wesen des Menschen innewohnt, kann er die Unverzichtbarkeit der Erzie-
hung feststellen. Sie sorgt für die Achtung des äußerlichen Handlungsdrucks.
Man darf sich aber nicht beirren lassen und annehmen, die Morallehre implizie-
re, der Fall des nicht-erzogenen Individuums sei besorgniserregend. Weil das
Individuum im Denken Durkheims ohne die wesentlichen Resultate der Erzie-
hung, nämlich ohne Zielorientierung und Selbstbeherrschung nicht lebensfähig
ist, kommt in seinen Arbeiten das nicht-erzogene Individuum nicht vor und so-
mit lässt sich die Krise der Moral nicht auf Individuen zurückführen, die von
jeder Disziplinierung verschont geblieben sind. Infolgedessen begründet er zum
einen den notwendigen Erziehungsbedarf und zum anderen streitet er eine Unter-
stellung ab, die besagt, dass die „Materie, das Fleisch, die Quelle des Übels und
der Sünde“ (ebd., S. 103) sei. Wenn also das moralfreie Individuum nicht vor-
kommt, dann muss es ein anderer Sachverhalt sein, dem sich Durkheims gesell-
schaftliches Krisenbewusstsein verdankt. Das lässt sich ermitteln, wenn man
Folgendes in Rechnung stellt: Eine moralische Regel ist, so sieht es seine Kon-
zeption vor, ein Handlungsdruck, der das Individuum mit einer vorab getroffe-
nen und sein Handeln betreffenden Entscheidung konfrontiert. Dass sie auch
Widerstreben mobilisiert, kalkuliert Durkheim, denn stimmte sie mit der
menschlichen Natur überein, so wäre sie redundant. Erfolgreich kann der Hand-
3.3 Möglichkeit der Individualität (Über soziale Arbeitsteilung) 159
lungsdruck allerdings nur dann sein, wenn das Individuum seine Unterlegenheit
ihm gegenüber anerkennt. Dann liegt die Einsicht über die Höherwertigkeit der
moralischen Regel vor. Es ist die Anerkennung dieses Ansehens, dem Durkheim
die Kraft zuschreibt, das eigentliche Widerstreben des Individuums gegen Vor-
ab-Entscheidungen zu brechen. Nur mit der Anerkennung kann das Individuum
die Anstrengung fertig bringen, die inneren Kräfte zu bremsen. Lässt die Aner-
kennung nach, so mindert sich die Kraft der Moral und die einmal geschaffene
Begrenzung der individuellen Kräfte wird von diesen durchbrochen. Das Indivi-
duum ist also nicht besorgniserregend, weil es möglicherweise nicht erzogen
wird. Hingegen sieht Durkheim den Anlass zur Sorge insbesondere deswegen als
gegeben, weil die einst durchgesetzte Zurückstellung der individuellen Kräfte
aufhören kann. Es ist die Abkehr von den moralischen Regeln, die Einstellung
der Anerkennung seitens des Individuums, mit der dieses jenen einen Geltungs-
verlust zufügen kann (ebd., S. 95). Mindert das Individuum das Ansehen der
Moral, so wird es ebenfalls die Kontrolle über sich mindern. Folglich wird es
sogar dann den äußeren Handlungsdruck nicht entbehren, wenn es der Zunahme
an Entscheidungsfreiheit nicht aus dem Weg gehen kann.
Das Individuum gewinnt seine Freiheit nicht agonal, denn sie wird notwendig,
und was das bewirkt, das schafft auch die Voraussetzung, damit das Individuum
die Freiheit überhaupt nutzen kann. In diesen Bemerkungen sind die zentralen
Ergebnisse von Über soziale Arbeitsteilung (2008a) zusammengefasst. Die Stu-
die ist hilfreich für das eigene Vorhaben, weil sich ihre Ergebnisse im Hinblick
auf die Untersuchung der Möglichkeiten und des Bedarfs an nationaler Moral
nutzen lassen.
Es steht nun an, der Studie die Ursachen für die Fortschritte der Arbeitstei-
lung zu entnehmen, denn damit sie sich entwickelt, braucht es Individualität, und
somit verrät die Arbeitsteilung, was sie möglich macht. Zum Vorgehen im Ein-
zelnen: Als erstes wird die Problemstellung skizziert, die Durkheim veranlasst,
den Zusammenhang von Arbeitsteilung und Individualität zu untersuchen. Zwei
unterschiedliche Typen des Zusammenhalts, von denen der eine Typus keine
Individualität zulässt, während der andere Typus auf eben dieser beruht, ermög-
lichen Durkheim, die Zunahme der Entscheidungsfreiheit festzustellen. Das soll
als zweites rekonstruiert werden, bevor als letztes die Gründe für die Dominanz
des Zusammenhalts auf der Grundlage der Individualität erarbeitet werden.
Zum Vorhaben der Studie. Durkheim interessiert sich für folgenden Sach-
verhalt: In Gesellschaften mit fortgeschrittener Arbeitsteilung verfügt das Indivi-
duum über mehr Entscheidungsfreiheit, aber dessen ungeachtet sieht es sich nach
160 3 Émile Durkheims Welt
einmal das restitutive Recht, das weniger die Sühne und mehr die Wiedergutma-
chung zum Selbstschutz verfolgt (ebd., S. 117). Im Laufe der Untersuchung kon-
struiert Durkheim zudem einen einfachen Gesellschaftstypus, den er die segmen-
täre Gesellschaft nennt und in dem das repressive Recht im Vordergrund steht,
wohingegen er das restitutive Recht einem modernen Gesellschaftstypus vorbe-
hält, nämlich der organischen Gesellschaft (ebd., S. 283 f.). Im ersten Gesell-
schaftstypus besorgt die mechanische Solidarität den Zusammenhalt. Die Ein-
zigartigkeit des Individuums ist dort, wo diese Solidarität herrscht, stets den al-
len gemeinsamen Normen, Werten, Vorstellungen und Gefühlen unterlegen, d.h.
individuelle Verschiedenheit wird durch kollektive Homogenitätszumutungen,
die zur mechanischen Solidarität gehören, weitestgehend verhindert. Individuali-
tät ist folglich „gleich null“ (ebd., S. 182). Der Zusammenhalt beruht primär auf
der Übereinstimmung aller untereinander. „So ist Originalität nicht nur selten,
sie hat hier sozusagen überhaupt keinen Platz“ (ebd., 187). Im Weiteren schreibt
er: „Wenn sich das Individuum nicht von der Gruppe unterscheidet, so darum,
weil sich das individuelle Bewusstsein fast nicht vom kollektiven Bewusstsein
unterscheidet“ (ebd., S. 249 f.). Der Strukturtypus der segmentären Gesellschaft
ist so beschaffen, dass die Menschen in abgegrenzten Kollektiven leben, die nur
eingeschränkte Beziehungen untereinander haben. Diese Segmente sind unterei-
nander homogen und ähnlich (ebd., S. 229 ff.). Anders hingegen wirkt die zum
zweiten Gesellschaftstypus gehörende Solidarität, nämlich die organische Soli-
darität. In diesem Fall ist das Individuum auf eine eigene Betätigung angewie-
sen, d.h. statt sich anzugleichen, wird es mit Bedingungen konfrontiert, denen es
sich entziehen würde, wenn es seine Individualität nicht vorantreibt. Die Arbeits-
teilung, die Durkheim zur primären Quelle der organischen Solidarität zählt,
macht Spezialisierung erforderlich, in deren Kontext die individuelle Variation
nicht nur möglich, sondern auch erforderlich wird. Die organische Gesellschaft
beruht nicht auf in sich homogenen Gruppen. Durkheim kennzeichnet sie als ein
System von verschiedenen Funktionen, die nicht wie die Segmente des anderen
Typus nur auf sich verwiesen sind, denn sie bestehen überhaupt erst dadurch,
dass sie untereinander verbunden sind. Diesen Strukturtypus nennt er die organi-
sche Gesellschaft (ebd., S. 237).
Man muss aber Folgendes beachten: Durkheim stellt zwei Solidaritäten und
zwei Gesellschaftsstrukturen gegenüber, die sich nicht verschiedene Epochen
zuordnen lassen. Sie treten in der Wirklichkeit nicht so auf, dass der eine Typus
verschwindet und nahtlos vom anderen Typus abgelöst wird. Die mechanische
Solidarität liegt zwar zunächst rein und isoliert vor, jedoch kommt auch sie in
der Studie bloß idealtypisch zum Einsatz. Er macht geltend, die beiden Typen
lediglich zur Untersuchung des Übergewichts von jeweils der einen über die
andere Solidarität einzusetzen. Somit schließt er nicht aus, dass sich die beiden
Typen überlagern können.
162 3 Émile Durkheims Welt
„In den beiden Fällen sieht man die Gesellschaft nicht vom gleichen Blickwinkel
aus. Im ersten handelt es sich bei dem, was man mit diesen Namen bezeichnet, um
eine mehr oder weniger organisierte Gesamtheit von Glaubensüberzeugungen und
Gefühlen, die allen Mitgliedern der Gruppe gemeinsam sind: das ist der kollektive
Typ. Die Gesellschaft dagegen, der wir im zweiten Fall verpflichtet sind, ist ein Sys-
tem von verschiedenen und speziellen Funktionen, die bestimmte Beziehungen ver-
einigen. Diese beiden Gesellschaften bilden im Übrigen nur eine. Es handelt sich um
die zwei Gesichter ein und derselben Wirklichkeit, die aber gleichwohl verlangen,
unterschieden zu werden“ (ebd., S. 181).
Es ist deswegen wichtig, das reine Vorkommen der beiden Solidaritätstypen aus-
zuschließen, weil Durkheim im Anschluss an das unten ermittelte Übergewicht
der organischen Solidarität gegenüber der mechanischen Solidarität konstatiert,
„[…] dass es Gesellschaften gibt, deren Zusammenhang wesentlich von der Ge-
meinschaft des Glaubens und der Gefühle abhängt, und dass aus dieser Gesell-
schaft jene hervorgegangen sind, deren Einheit die Arbeitsteilung sichert“ (ebd.,
S. 337). Der Zusammenhalt, der aus dem Typus der mechanischen Solidarität
hervorgeht und sich im repressiven Rechtstypus ablesen lässt, gehört also zu den
Voraussetzungen, damit sich die Quelle der organischen Solidarität bilden kann.
Nun zu den eigentümlichen Wirkungen der beiden Rechtstypen: Die repres-
sive Strafe ist, der idealtypischen Konstruktion zufolge, so angelegt, dass sie
einen ausgleichenden Schaden zufügt, also das Verbrechen rächt, und daher ist
sie, so Durkheim, auf diejenige Gesellschaft abgestimmt, deren Solidarität einen
Zusammenhalt stiftet, für den gilt: Eine Handlung ist erst dann ein Verbrechen,
wenn sie zur Schädigung des Zusammenhalts führt. Um den besonderen Zu-
sammenhalt der mechanischen Solidarität zu untersuchen, berücksichtigt er, was
in der segmentären Gesellschaft eine Bestrafung veranlasst, also das, was eine
Handlung zu einem Verbrechen macht (ebd., S. 118). Durkheim fragt für diesen
Typus, woran man das Wesen des Verbrechens, das alle Verbrechensvariationen
gemeinsam haben, identifizieren kann. Weil die verschiedenen Verbrechen etwas
aufweisen, was sie ein Verbrechen sein lässt, muss es ein Kriterium geben, für
das der Grad des Verbrechens indifferent ist. Weil man allen Variationen nach-
sagen kann, sie sind ein Verbrechen, müssen sie alle das betreffen, was deren
Strafwürdigkeit begründet. Insofern aber Versuche, die jenes Wesen durch Auf-
listung aller jemals verübten und weltweit bekannten Verbrechen entdecken wol-
len, für Durkheim zum Scheitern verurteilt sind, muss man nach einer externen
Bedingung suchen (ebd., S. 120). Das Wesen des Verbrechens lässt sich nicht
davon herleiten, was eine Gesellschaft gefährdet, und das liegt, ihm zufolge,
daran, dass man Handlungen zu Verbrechen zählt, die weit davon entfernt sind,
die Gesellschaft in ihren Grundfesten zu bedrohen. Selbst der Mord, schreibt er,
der zu den besonders schweren Verbrechen gehört, gefährdet die Gesellschaft
weniger als beispielsweise das weniger schwere aber für die Gesellschaft gefähr-
lichere Wirtschaftsverbrechen. Man kann also das Wesen des Verbrechens nicht
3.3 Möglichkeit der Individualität (Über soziale Arbeitsteilung) 163
97 Einige Jahre später schreibt Howard S. Becker: „Abweichendes Verhalten ist keine Qualität,
die im Verhalten selbst liegt, sondern in der Interaktion zwischen einem Menschen, der eine
Handlung begeht, und Menschen, die darauf reagieren“ (Becker 1973, S. 13). Popitz nennt das
die „demonstrative Missbilligung“ (Popitz 2010, S. 70). Die Kenntnisnahme des abweichenden
Verhaltens kann schließlich dazu führen, dass der Abweichende die Etikettierung als rechtmä-
ßig erachtet. Frank Tannenbaum beschreibt das folgendermaßen: „The person becomes the
thing he ist described as being“ (Tannenbaum 1951, S. 20).
164 3 Émile Durkheims Welt
Individuum und es macht etwas für ihre sodann wirkende Kraft verantwortlich,
das für all diejenigen steht, die ebenfalls diese kollektive Vorstellung teilen und
sie hervorbringen. Die Strafe für die Verletzung leitet sich daher nicht vom em-
pirischen Schaden her, sondern geht auf die Respektlosigkeit gegenüber der Vor-
stellung, die sonst in hohem Maße kausal bedeutsam ist. Daraus ergibt sich die
Funktion des Typus des repressiven Rechts: „Denn die Taten, die es bestraft,
scheinen Angriffe auf etwas Transzendentes zu sein, seien es nun Wesen oder
Ideen“ (ebd., S. 150). Insofern also die Verletzung der transzendenten Kraft gilt,
die sich durch eine externe Instanz speist und die der Grund dafür ist, dass das
Individuum die geteilte Vorstellung aus sich editiert und einem äußeren Objekt
zuschreibt, ist sie es auch, die mit der Reaktion auf die Verletzung geltend ge-
macht wird. Die Vergeltung für ein Verbrechen, von dem ein Individuum empi-
risch betroffen ist, ruft die Vergeltung für die Verletzung einer geteilten Vorstel-
lung hervor, sie steht nicht stellvertretend für das Individuum, sondern für ein
Kollektiv. „Da diese Gefühle Kollektivgefühle sind, sind nicht wir es, die sie in
uns repräsentieren, sondern die Gesellschaft. Indem wir sie rächen, rächen wir
die Gesellschaft und nicht uns selber; diese aber steht über dem Individuum“
(ebd., S. 151). Und weiter schreibt er: „In einfachen Gesellschaften gelten Ver-
haltensvorgaben als Befehl einer Gottheit, der, wenn er missachtet wird, nicht
Wiedergutmachung, sondern Sühne verlangt“ (ebd., S. 193).
Durkheim ist wichtig, dass es im Falle der Verletzung von Vorstellungen
und Gefühlen, die zum Kollektivbewusstsein gehören, trotzdem nur um Vorstel-
lungen und Gefühle handelt, die faktisch nur im Denken eines Individuums prä-
sent sind. Das Verlangen, diese Verletzung zu vergelten, kommt ebenfalls auf
Seiten von nur einem Individuum vor. Faktisch erhebt sich zwar kein Kollektiv,
aber die Orientierung des Individuums daran, dass etwas verletzt wurde, das zum
Kollektivbewusstsein gehört, löst, so Durkheim, eine Wirkung aus, die intensiver
ist als im Falle einer bloß individuell gehegten Vorstellung. Ein Kollektiv ist im
Denken Durkheims weder eine Summe von Individuen, noch ist es ein Hand-
lungssubjekt, denn was für ihn zählt, ist, dass ein Kollektiv kausal bedeutsam ist,
und diese Kraft ist es, deren Auf und Ab er später in den Schwankungen der
Selbstmordraten abliest, um zu ergründen, was auf der einen Seite jeweils ihre
Stärkung und Schwächung verschuldet und welchen Nutzen sie auf der anderen
Seite dem Individuum bereitet.
„Natürlich ist diese Vorstellung eine Illusion; selbstverständlich sind wir es, die sich
in einem bestimmten Sinne rächen, die Genugtuung suchen, denn wir und nur wir
allein haben jene beleidigten Gefühle. Aber diese Illusion ist notwendig. Da diese
Gefühle aufgrund dieses kollektiven Ursprungs, ihrer Universalität, ihrer Dauerhaf-
tigkeit, ihrer innewohnenden Intensität eine außerordentliche Kraft haben, unter-
scheiden sie sich radikal vom übrigen Bewusstsein, dessen Zustände viel schwächer
sind. Sie beherrschen uns, sie haben sozusagen etwas Übermenschliches, und zu
gleicher Zeit binden sie uns an Objekte, die außerhalb unseres zeitlichen Lebens lie-
166 3 Émile Durkheims Welt
gen. Sie erscheinen in uns deshalb wie das Echo einer Kraft, die uns fremd ist und
die überdies sehr viel stärker ist als wir“ (ebd.).
Wenn das Kollektivbewusstsein verletzt wird, dann wird der Angriff auf Seiten
aller, die an den Gefühlen teilhaben, eine gemeinsame Reaktion hervorrufen.
Wird eine solche Vorstellung verletzt, von der man weiß, sie gehört zum Kollek-
tiv, so wird man auf andere zugehen, die man zum Kollektiv gehörend weiß und
die Verletzung zum Gegenstand von Interaktionen machen (ebd., S. 153). Die-
jenige Verletzung, die zwar gegen ein Individuum verübt wird, sich aber nicht
bloß an dieses richtet, sondern gegen etwas, was das Individuum mit anderen
teilt, bringt die Angehörigen eines Kollektivs zusammen. Durkheim notiert Fol-
gendes dazu:
„Die Gefühle, die daran beteiligt sind, holen ihre ganze Kraft aus der Tatsache, dass
sie aller Welt gemeinsam sind; sie sind kraftvoll, weil sie unbestritten sind. Der be-
sondere Respekt, dessen sie sich erfreuen, liegt darin, dass sie allgemein respektiert
werden“ (ebd.).
Dieser Effekt der Verletzung, nämlich die Interaktionen, für die es abseits von
solchen Verletzungen des Kollektivbewusstseins keine Veranlassung gibt, führt
ihn darüber hinaus zu der Folgerung, dass kollektive Vorstellungen und Gefühle
davon leben, ab und an Opfer eines Angriffs zu sein. Hätte sich das Kollektiv-
bewusstsein allgemein durchgesetzt, d.h. würde es faktisch von allen geteilt wer-
den, dann ginge ihm, so Durkheim, das ab, was es ursprünglich ins Werk setzt.
Weil es Lücken gibt, und das sind diejenigen, die ein Verbrechen ausüben, wer-
den kollektive Vorstellungen und Gefühle erkennbar. Für diese heißt das, die
Verbrechen sind „die Quelle ihrer Autorität“ (ebd.). Mit anderen Worten: Wenn
es dazu kommen sollte, dass sich im Falle eines Verbrechens keine daran an-
schließende Reaktion ergibt, bei der sich allesamt empört zeigen, sich die Indivi-
duen im Konsens über die Immoralität eines Verbrechens vereinen, dann hören
kollektive Vorstellungen und Gefühle auf, kausal bedeutsam zu sein. Folglich:
Erst das Verbrechen gibt den Anlass, dass sich die Individuen über sie bewusst
werden.
Wie kann nun Durkheim anhand von Verbrechen, die das Kollektivbe-
wusstsein betreffen, den Typus der mechanischen Solidarität in einfachen Ge-
sellschaften erklären? Sein Ergebnis lautet: Der Rechtstypus, in dem sich die
mechanische Solidarität abbildet, garantiert Homogenität und damit den Zu-
sammenhalt im Typus der einfachen Gesellschaft. Im repressiven Recht ist eine
Bestrafung nicht im Hinblick darauf vorgesehen, einen Straftäter so zu verbes-
sern, dass sich die Wiederholung des Verbrechens nicht erwarten lässt, sondern
sie ist auf das Ziel ausgerichtet, ihm ein ausgleichendes Leid zuzufügen. Weil
der Nutzen der Strafe primär der ist, schlechthin den Zusammenhalt zu bewah-
ren, geht es nur darum, dem Straftäter ein Leid zuzufügen.
3.3 Möglichkeit der Individualität (Über soziale Arbeitsteilung) 167
„Obwohl sie [die Strafe; C.A.] aus einer rein mechanischen Reaktion, aus leiden-
schaftlichen und zum größten Teil unbedachten Regungen herrührt, spielt sie den-
noch eine nützliche Rolle. Nur besteht diese Rolle nicht darin, was man ihr gewöhn-
lich unterstellt. Sie dient nicht oder nur sehr zweitrangig dazu, den Schuldigen zu
korrigieren oder mögliche Nachahmer einzuschüchtern. In beiderlei Hinsicht ist ihre
Wirksamkeit zu Recht zweifelhaft und auf alle Fälle mäßig. Ihre wirkliche Funktion
ist es, den sozialen Zusammenhalt aufrechtzuerhalten, indem sie dem gemeinsamen
Bewusstsein seine volle Lebensfähigkeit erhält“ (ebd., S. 158 f.).
Eine mögliche Verhaltenskorrektur des Straftäters oder eine mögliche Prävention
durch Abschreckung sind für Durkheim lediglich Nebenwirkungen. Für das re-
pressive Recht ist die Zukunft des Straftäters im Gegensatz zu derjenigen des
moralisch Tüchtigen belanglos.
„Ohne diese notwendige Sühne könnte das, was man das Moralbewusstsein nennt,
nicht erhalten werden. Man kann also ohne Paradoxie behaupten, dass die Strafe in
erster Linie dafür bestimmt ist, auf die ehrenwerten Leute zu wirken“ (ebd., S. 159).
Die Strafe bewahrt also nicht nur den Zusammenhalt, sondern trägt im Wesentli-
chen dazu bei, diesen überhaupt hervorzubringen, denn es ist das Verbrechen,
das die Menschen erst auf die geteilten Vorstellungen und Gefühle und somit auf
die Ähnlichkeit untereinander verweist und zueinander bringt. Wenn also eine
Handlung dadurch erst zu einer Straftat wird, dass sie das Kollektivbewusstsein
verletzt und folglich die Ähnlichkeit der Menschen stört und das repressive
Recht die Sorge um Bewahrung der Homogenität trägt, dann drückt dieses spezi-
fische Recht die spezifische Solidarität einfacher Gesellschaften aus, und das ist
die mechanische Solidarität, deren Resultat die Ähnlichkeit und deren Widersa-
cher die Heterogenität ist.
Dieser Typus der Solidarität zeigt sich insbesondere an Verhaltensregeln,
deren formellen Zwecke ihren eigentlichen Nutzen nicht hervortreten lassen und
somit deren Missachtung zunächst bedeutungslos erscheint, weil sie an sich kei-
ne Bedrohung darstellen, deren Nachhaltigkeit allerdings unentbehrlich ist.
Durkheim nennt folgendes Beispiel. Man wird auf den ersten Blick nicht nach-
vollziehen können, warum das Verbot, bestimmtes Fleisch zu essen, notwendig
für Zusammenhalt ist. Wenn man den Grund dafür freilegt, Verbote von schein-
bar ungefährlichen Taten aufzustellen, dann wird man den Drang zur Ähnlich-
keit begreifen. Durkheim erklärt (ebd., S. 157): Man muss sich vorab vergegen-
wärtigen, dass Gesellschaft aus zufälligen Wirkungen resultiert und kein Ergeb-
nis bewusster Planung ist. Wenn sie nicht aus einem Plan entsteht, wird sie nicht
auf einen bestimmten Nutzen ausgerichtet sein, was wiederum heißt, dass es
Vorgänge gibt, die an sich als nutzlos erscheinen, trotzdem aber gewünscht sind
und das werden nicht selten solche sein, die generationenübergreifend tradiert
werden. Erscheint also das Verbot des Verzehrs bestimmten Fleisches nutzlos,
dann wird nicht nachvollziehbar sein, dass jemand infolge des Verzehrs desa-
168 3 Émile Durkheims Welt
vouiert wird. Rechnet man aber an, dass der untersagte Fleischverzehr für das
Kollektivbewusstsein wesentlich ist und dieses im Falle einer Missachtung durch
die geteilte Missbilligung aktualisiert wird, dann offenbart sich der Nutzen des
Verbots, und zwar ist das die Aufrechterhaltung des Zusammenhalts überhaupt.
Die in einfachen Gesellschaften augenscheinlich unangemessenen Strafen wer-
den vor diesem Hintergrund begreifbar. Der Nutzen des scheinbar Unnützen
liegt vor, und das ist die Rekonstitution des Zusammenhalts.
Die im repressiven Recht vorgesehenen Strafen helfen Durkheim, die Wirk-
samkeit der mechanischen Solidarität herzuleiten. Eine Handlung gilt als ein
Verbrechen, wenn sie im Widerspruch zum Kollektivbewusstsein steht und die
Strafe erfüllt den Zweck, es geltend zu machen. Weil also der Straftypus dafür
sorgt, Abweichungen von kollektiven Vorstellungen und Gefühlen zu vermei-
den, bildet er, so Durkheim, ab, was den Zusammenhalt in einfachen Gesell-
schaften bewirkt, nämlich die Homogenität ihrer Angehörigen (ebd., S. 181).
Der Effekte des Rechtstypus besteht darin, den sozialen Drang zur Ähnlichkeit
aufrechtzuerhalten. Durkheim dazu:
„Diese Kraft beschützt das Strafrecht gegen jede Schwächung, indem es von jedem
von uns ein Minimum an Ähnlichkeiten verlangt, ohne die das Individuum eine Be-
drohung für die Einheit des Sozialkörpers bedeuten würde, und indem es uns zu-
gleich zum Respekt gegenüber dem Symbol zwingt, das diese Ähnlichkeiten aus-
drückt, zusammenfasst und zugleich garantiert“ (ebd., S. 157).
Der idealtypische Zusammenhalt der mechanischen Solidarität besteht demnach,
solange sich keine Individualität auf Seiten des Individuums zeigt. Durkheim
macht aber im Weiteren ungeplante Faktoren ausfindig, die das Hervortreten der
Individualität veranlassen, und das bedeutet, die soziale Nötigung, sich an das
Kollektivbewusstsein zu assimilieren, wird durch ein Individuum konfrontiert,
das sich aussondert. Der Zusammenhalt wird daher unabhängig davon, ob kol-
lektive Vorstellungen und Gefühle verletzt werden. Aus diesem Grund unter-
sucht Durkheim, worauf der Zusammenhalt beruht, in dem Individualität vorge-
sehen ist und Abweichungen vom Kollektivbewusstsein möglich sind. Mithilfe
des restitutiven Rechts, das nicht Sühne, sondern Wiedergutmachung und Scha-
densersatz auferlegt, geht er dem Typus der organischen Solidarität nach.
Zum restitutiven Recht zählt Durkheim das Familien-, Vertrags-, Handels-,
Prozess- und Verwaltungsrecht (ebd., S. 173). Jedes Recht regelt Funktionsaus-
übungen und gilt in einem eingeschränkten Bereich, um die Aufrechterhaltung
von arbeitsteiligen Beziehungen zu garantieren. Die wechselseitige Abhängigkeit
der arbeitsteilig Handelnden ist im Wesentlichen auf Regelmäßigkeit angewie-
sen. Insofern sieht das restitutive Recht solche Strafen vor, mit denen ein ur-
sprünglicher Zustand wiederhergestellt wird. Eine Handlung ist demnach dann
ein Verbrechen, wenn sie die Regelmäßigkeiten der Arbeitsteilung stört. Die
Sühne ist daher im Hinblick darauf redundant, für den geordneten Ablauf der
3.3 Möglichkeit der Individualität (Über soziale Arbeitsteilung) 169
Arbeitsteilung zu sorgen. Weil das restitutive Recht darauf abgestellt ist, die
Verpflichtungen zu sanktionieren, auf denen die Arbeitsteilung beruht, besteht es
grundlegend im Hinblick darauf, die spezifischen Funktionsausübungen zu be-
wahren (ebd., S. 165).
Was das repressive und restitutive Recht unterscheidet, das lässt sich ferner
wie folgt aufdecken. Die zum Rechtstypus für die Arbeitsteilung gehörenden
Regelungen sind nicht allen bekannt, denn sie sorgen für Ordnung in Beziehun-
gen, die wiederum nicht alle betreffen. Weil es sich um spezifisches Recht für
spezifische Funktionsbereiche handelt, richtet es sich sachgemäß nur an diejeni-
gen, die an den jeweiligen Funktionsbereichen beteiligt sind (ebd., S. 163). So-
mit entzieht es sich der Kenntnis der Übrigen. Insoweit aber die Aufmerksamkeit
gering ist, wird die Verletzung spezifischen Rechts nicht wie im Falle des re-
pressiven Rechts die Empörung aller nach sich ziehen. Der Kreis derer, die von
in diesem Rechtstypus als Verbrechen gewerteten Handlungen Notiz nehmen, ist
demnach eingeschränkt. Schließlich sind sogar denen die Regeln eines Funkti-
onsbereichs nicht allgegenwärtig, die in diesem eine spezielle Funktion ausüben.
Sie müssen sich an den besonderen Regeln nämlich nur während der Funktions-
ausübung orientieren. Abseits des arbeitsteiligen Handelns brauchen die jeweili-
gen Ordnungen nicht berücksichtigt zu werden. Das wiederum hat zur Folge,
dass die Empörung im Falle von Handlungen, die gemäß dem restitutiven Recht
als Verbrechen gelten, nur gering ausfällt. Weil die spezifischen Funktionsberei-
che nicht das gesamte Leben eines Individuums ausfüllt, ist auch die Hingebung
für diese Bereiche nicht so intensiv.
„Die Verletzung dieser Regeln berührt also weder lebendige Teile der Gemein-
schaftsseele der Gesellschaft noch, wenigstens im Allgemeinen, jene Sondergruppen
und kann folglich nur eine recht bescheidene Reaktion hervorrufen“ (ebd., S. 180).
Durkheim macht daher den Unterschied zum repressiven Recht daran fest, dass
die im Kontext des restitutiven Rechts begangenen Verbrechen keine Verletzung
ausüben, die die Kraft kollektiver Vorstellungen und Gefühle betrifft. Er
schreibt:
„Solange die Funktionen eine gewisse Allgemeinheit bewahren, kann zweifellos je-
der sie in irgendeiner Weise empfinden; wie sie sich aber immer weiter spezialisie-
ren, wird der Kreis derer, die sich aller einzelnen Funktionen bewusst sind, immer
kleiner, und damit übersteigen sie das allgemeine Bewusstsein immer mehr. Die Re-
geln, die sie bestimmen, können also nicht jene überragende Kraft und jene trans-
zendente Autorität gewinnen, deren Verletzung eine Sühne verlangt“ (ebd., S. 179).
Der Zusammenhalt der organischen Solidarität bildet sich wie folgt in dem ihr
zugeordneten Rechtstypus ab: Das restitutive Recht sorgt dafür, dass das Inei-
nandergreifen verschiedener Funktionen garantiert ist, denn die Verstöße, die es
ahndet, sind Störungen der Funktionsabläufe. Er schreibt: „Es ist nur notwendig,
170 3 Émile Durkheims Welt
der Strafen, wie z.B. in den folgenden Fällen: Beleidigung der Eltern (ebd., S.
210), vorgetäuschte Jungfräulichkeit (ebd., S. 212) oder Entwurzelung heiliger
Ölbäume (ebd., S. 215). Die genannten Verbrechen gehören zu einer von Durk-
heim angefertigten Liste ähnlicher Delikte im mediterranen Altertum, die im
Laufe der Zeit seitens des antiken Gesetzgebers nicht mehr als Straftat erachtet
werden. Seine Schlussfolgerung lautet: Wenn die Verbrechen, die das Kollektiv
betreffen, immer weniger werden, dann werden die Gefühle, die das Kollektiv
betreffen, ebenfalls weniger. Somit verliert, konstatiert er, der auf geteilten Ge-
fühlen beruhende Zusammenhalt an Kraft.
Anders verhält es sich mit dem für Arbeiteilungen geschaffenen Recht.
Aufgrund der sukzessiven Zunahme der Arbeitsteilung treten vermehrt Spezial-
funktionen hervor und in gleichem Maße nimmt das Recht zu, das dafür sorgen
soll, die gegenseitigen Verpflichtungen zu regeln und zu definieren. Das Mehr
an Funktionen vervielfacht also die Verbindlichkeiten, folglich wird der Umfang
des für diese Zwecke zuständigen Rechts größer und komplexer (ebd., S. 261).
Durkheim stellt insgesamt die Verringerung der Straftaten fest, die man mit Süh-
ne beantwortet und die Vermehrung der rechtlichen Regelungen für die Arbeits-
teilung. Weil sich die mechanische Solidarität am Strafrecht ablesen lässt, kann
er anhand der Tatsache darüber, dass die vormals als Verbrechen geltenden
Handlungen aufhören, unter Strafe zu stehen, die Folgerung über den Rückgang
des genannten Solidaritätstypus ziehen.
Die umgekehrte Dominanz zwischen den beiden Solidaritätstypen, die für
Durkheim deswegen gegebenen ist, weil sich insbesondere der die organische
Solidarität abbildende Rechtstypus differenziert und das Recht zum Schutz des
Kollektivbewusstseins überholt, lässt ein Mehr an Individualität erkennen, denn
sie ist eine Voraussetzung für die Arbeitsteilung und der aus ihr resultierenden
Moral. Vor diesem Hintergrund fragt sich er sich, welchen Ursachen sich die
Möglichkeit der Individualität verdankt. Wichtig ist, dass das Voranschreiten der
Arbeitsteilung ein Indikator für ein Mehr an Individualität ist, denn die Zunahme
der Ersteren äußert sich darin, dass neue Spezialfunktionen konstruiert werden,
die ihrerseits nicht ohne die Ausübung der Funktionen anderer in die Tat umge-
setzt werden können (ebd., S. 175 f.). Durkheim dazu:
„Während das Verschwinden des segmentären Typus zu einer größeren Spezialisie-
rung nötigt, löst es gleichzeitig das individuelle Bewusstsein teilweise von der orga-
nischen Umwelt, die es trägt, wie aus dem sozialen Milieu, das es umgibt, ab, und
das Individuum wird als Folge dieser doppelten Emanzipation immer mehr zum un-
abhängigen Faktor seines eigenen Verhaltens“ (ebd., S. 474).
Zunehmende Arbeitsteilung ist somit, Durkheim zufolge, ein Anzeichen dafür,
dass das Individuum kollektive Homogenitätszumutungen übergehen kann, ohne
sich in Schwierigkeiten zu bringen, und das ist die Voraussetzung für Individua-
172 3 Émile Durkheims Welt
lität. Ferner trägt der Anlass, Spezialfunktionen zu entwerfen, dazu bei, immate-
rielle Tätigkeiten zu erfinden.
Für diese Zunahme der individuellen Entscheidungsfreiheit braucht es Ur-
sachen, und die müssen sich zum Nachteil von kollektiven Homogenitätszumu-
tungen auswirken, die Individualität verhindern. Durkheim rechnet damit, dass
sich die in erster Linie die Individualität erlaubende Beeinträchtigung der Kraft
des Kollektivbewusstseins auf Faktoren zurückführen lässt, die ebenso wenig
wie die unbeabsichtigt wirkenden Homogenitätszumutungen nicht gezielt her-
beigeführt sind. Weder das Aufgehen der Individualität in den kollektiven Vor-
stellungen und Gefühlen noch die Emanzipation der Individualität unterliegen
einem Plan. Das Individuum wird dementsprechend nicht zum Widerspruch ge-
gen Homogenitätszumutungen mobilisiert, weil es einen Nutzen seiner Emanzi-
pation voraussieht. Für das Hervortreten der Individualität macht Durkheim eini-
ge Ursachen ausfindig, in deren Folge der Drang zur Ähnlichkeit an Geltung
verliert und deren nachhaltige Wirksamkeit die Kraft der Homogenitätszumu-
tungen noch mehr schwächt. Das müssen demnach Ursachen sein, die für einen
Rückgang der segmentären Gesellschaftsstruktur sorgen.
Um die Auswirkungen auf den Strukturtypus zu erklären, der „wenigstens
zum Teil verschwunden sein muss“ (ebd., S. 314), greift Durkheim auf die Be-
griffe der moralischen Dichte, der materiellen Dichte und des Volumens zurück,
und das sind gemäß dieser Reihe: Die Menge der Individuen, die durch morali-
schen Beziehungen aufeinander verwiesen sind (vgl. Durkheim 1984, S. 195).
Die materielle Dichte bezeichnet die physische Nähe zwischen den Individuen,
die eine Voraussetzung für die moralische Dichte ist und sich, anders als diese,
empirisch beobachten lässt (ebd., S. 196). Die Zunahme der moralischen Dichte
hängt ebenfalls von der numerischen Population einer Gesellschaft ab, und das
ist das Volumen. Für die Zunahme der materiellen Dichte macht er Folgendes
verantwortlich (vgl. Durkheim 2008a, S. 315 ff): die Konzentration der Bevölke-
rung, die Verstädterung und die Zunahme der Kommunikations- und Verkehrs-
wege. Damit sich die moralische Dichte überhaupt vergrößern kann, müssen sich
Distanzen zwischen Individuen verringern, und jene drei Vorgänge sind hierfür
maßgeblich. Um die Erklärung für die Zunahme der Arbeitsteilung entwickeln
zu können, hält Durkheim daher zunächst fest, dass sie in einem Zusammenhang
mit der moralischen Dichte steht, denn nimmt sie zu, so beeinträchtigt sie die
„wechselseitige Isolierung aller Segmente“ (ebd., S. 353). Die Erfahrungsmög-
lichkeiten des Individuums in der segmentären Struktur bleibt nämlich rudimen-
tär und ähnlich, solange die Distanz zwischen den Individuen groß, die materiel-
le Dichte also gering ist, und das bedeutet, Kollektivbewusstsein und segmentä-
rer Gesellschaftstypus sind stabil, wohingegen für Individualität kaum Chancen
bestehen. Vor diesem Hintergrund lautet Durkheims Zwischenergebnis:
3.3 Möglichkeit der Individualität (Über soziale Arbeitsteilung) 173
„Der Anstieg des sozialen Volumens beschleunigt also nicht immer die Fortschritte
der Arbeitsteilung, sondern nur dann, wenn sich die Masse zur gleichen Zeit und im
selben Ausmaß zusammenzieht […]. Wir können also die folgende Aussage formu-
lieren: Die Arbeitsteilung ändert sich im direkten Verhältnis zum Volumen und zur
Dichte der Gesellschaft; wenn sie also im Laufe der sozialen Entwicklung ständig
fortschreitet, so deshalb, weil die Gesellschaften regelmäßig dichter und ganz all-
gemein umfangreicher geworden sind“ (ebd., S. 321).
Man muss sich zunächst erneut vergegenwärtigen, was Durkheim nachweisen
will: die Solidarität auf der Grundlage der nicht-vorsätzlichen Anstiftung zur
individuellen Variation. Für letzteres ist es wichtig, dass kollektive Homogeni-
tätszumutungen an Kraft verlieren, denn für die Zunahme der Arbeitsteilung ist
es erforderlich, dass sich das Individuum spezialisieren kann, was allerdings dem
Geist der mechanischen Solidarität widerspricht. Individualität ist nur dann be-
günstigt, wenn das Kollektivbewusstsein schwach ist. Er schreibt:
„Damit die Arbeitsteilung entstehen und wachsen kann, genügt es nicht, dass bei
den Individuen Sonderfähigkeiten angelegt sind, auch nicht, dass sie angeregt wer-
den, im Sinn dieser Fähigkeiten zu variieren; vielmehr müssen diese individuellen
Variationen auch möglich sein. Nun können sie aber nicht entstehen, wenn sie in
Opposition mit irgendeinem starken und bestimmten Zustand des Kollektivbewusst-
seins stehen“ (ebd., S. 345).
Die Möglichkeit der Individualität steht und fällt mit der Wirksamkeit der me-
chanischen Solidarität und daher sind neben einer unten noch zu präzisierenden
Konfliktlösung, die sich auf das Mehr an moralischer Dichte zurückführen lässt,
die von Durkheim erarbeiteten Sekundärfaktoren bedeutsam, die sich zum Nach-
teil des Kollektivbewusstseins auswirken und ohne die es sogar aussichtslos ist,
die Bildung individueller Variation zu erwarten (ebd., S. 347). Für die Zunahme
der individuellen Entscheidungsfreiheit macht er auf der einen Seite eine unaus-
weichliche Folge des Anstiegs der moralischen Dichte verantwortlich. Auf der
anderen Seite schreibt er sie den folgenden Sekundärfaktoren zu, deren Wirkung
dem Kollektivbewusstsein zusetzt.
Als erstes der größere Erfahrungsreichtum. Nimmt das Volumen zu, dann
nimmt es auch mehr Gebiet ein. Wo die Individuen nicht auf einem Raum mit
ähnlichen Gegebenheiten verteilt sind, da werden sie Erfahrungen machen, die
voneinander abweichen. Der Erfahrungsreichtum mindert nicht nur die Ähnlich-
keit der Erfahrungen, sondern trägt auch zur Differenzierung des Denkens bei.
Folglich wird sich das Kollektivbewusstsein zunehmend verallgemeinern, denn
bleibt es speziell, so wird es immer weniger Übereinstimmung herstellen. „Es
bezieht sich nicht mehr auf genau dieses Tier, sondern auf die umfassende Gat-
tung; nicht mehr auf jene Quelle, sondern auf alle Quellen; nicht mehr auf diesen
Wald, sondern auf den Wald in abstracto“ (ebd., S. 349).
174 3 Émile Durkheims Welt
nämlich die Tradition ihre Kraft einbüßt, da wird man nicht in der Lage sein,
„[…] die freie Entfaltung individueller Variationen zu behindern“ (ebd., S. 359).
Fünftens die geminderte Beaufsichtigung in der Großstadt. Dass die indivi-
duelle Variation ein negatives Resultat aus der Ablösung von dem Zusammen-
halt der mechanischen Solidarität ist, bildet sich besonders an der Schwächung
des Kollektivbewusstseins durch das Stadtleben ab. Die Bevölkerungsdichte in
der Großstadt erschwert es, individuelle Variationen als Abweichung zur Kennt-
nis zu nehmen. Das liegt, Durkheim zufolge, daran, dass die persönlichen Kon-
takte dort seltener und kürzer werden, wo die Dichte der Menschen groß ist
(ebd., S. 361). Die Möglichkeit zur Indiskretion ist kleiner, was die Wissbegie-
rigkeit der Menschen einschränkt. Werden die persönlichen Kontakte seltener, so
wird man unaufmerksamer. Wenn die Indifferenz in der Großstadt zunimmt, so
ermöglicht dies dem Individuum, abseits der vom Kollektivbewusstsein vorge-
gebenen Ähnlichkeitsvorstellungen zu handeln. Man kann sich der Aufsicht ent-
ziehen, ohne mit einer Strafe zu rechnen. Die Diskretion in den Beziehungen
zwischen den Menschen steigt also dort, wo diese darauf angewiesen sind, unter
vielen zu leben. Individualität, die im Widerspruch zum Kollektivbewusstsein
steht, zieht somit weniger Aufmerksamkeit auf sich. Unterstützend wirkt sogar
die Tendenz, die gewonnene Freiheit als einen Anspruch zu erleben. „Wir finden
eine Kontrolle unerträglich, an die wir nicht mehr gewöhnt sind. Ein erworbenes
Recht auf eine größere Autonomie ist entstanden“ (ebd., S. 362).
Durkheim nennt insgesamt solche Faktoren für die Schwächung des Kollek-
tivbewusstseins, deren Wirkung man nicht antizipiert, so dass sie Gegenstand
eines Aspiration zur ihrer Verwirklichung sind. Dass man mehr und unterschied-
liche Erfahrungen macht, man die Gottheiten nicht mehr als greifbare Hand-
lungspartner erlebt, die Auslegung der religiösen Vorschriften erforderlich wird,
die Traditionen zunehmend von Respektlosigkeit betroffen sind und schließlich
die Unübersichtlichkeit der Großstadt die Überwachung erschwert, sind allesamt
Vorgänge, die nicht absichtlich herbeigeführt werden. Das trifft auch auf eine
besondere Folge der oben von ihm bemerkten Zunahme der moralischen Dichte
zu. Während sich nämlich die Kraft der kollektiven Homogenitätszumutungen an
den Sekundärfaktoren erschöpft und die Voraussetzung für Individualität schafft,
veranlasst die Folge der moralischen Dichte das Individuum die Initiative zu
übernehmen, Spezialfunktionen zu konstruieren. Der von Durkheim ausfindig
gemachte Faktor, der die Spezialisierung zentral verantwortet, ist die Konkur-
renz.
Die Individualität verdankt sich, ihm zufolge, weil sich die Individuen von-
einander abweichend zeigen, wenn sie sich untereinander ausgesetzt sind. Es
sind die Überlegungen Darwins, an denen sich Durkheim orientiert, wenn er den
Anstieg der individuellen Variation auf die Konkurrenz zurückführt, in deren
Folge sich das Individuum veranlasst sieht, sich als einzigartig präsentieren zu
wollen (ebd., S. 325). Zum Ausbruch des Wettkampfs reicht es aber nicht aus,
176 3 Émile Durkheims Welt
wenn die Bevölkerung zunimmt. Durkheim bemerkt, dass, wo eine stabile seg-
mentäre Struktur besteht, das Bevölkerungswachstum nicht zur Opposition zwi-
schen den Individuen führt. Nur wenn sich, wie oben gezeigt, aufgrund der grö-
ßeren Bevölkerung zunehmend Kontakte zwischen den Segmenten entwickeln,
wird das Kollektivbewusstsein schwach, die geschlossenen Homogenitäten wer-
den porös und die Individuen werden beginnen, sich gegenseitig den Platz strei-
tig zu machen (ebd., S. 329). Die Opposition ist unausweichlich, weil, schreibt
er, Individuen gleiche Bedürfnisse und Ziele haben (ebd., S. 325). Wo mehr
Kontakte bestehen, da treffen sie aus unterschiedlichen Orten aufeinander und
bieten Dienste an, die sich gleichen und da werden sie unter den Bedingungen
des zunehmend unpräzisen Kollektivbewusstseins und der aufgebrochenen Ho-
mogenität gegeneinander antreten. Ist das Kollektivbewusstsein stark, so lösen
sich die Menschen weniger von der Ortsbindung und dann wird der Zusammen-
halt der mechanischen Solidarität den Wettkampf verhindern. Wichtig ist, dass
der Wettkampf dann stattfindet, wenn die Gelegenheiten zunehmen, sich auf-
grund der porösen Segmente zu begegnen. Es braucht also die Kontaktaufnahme
außerhalb des Kollektivs.
„Solange die verschiedenen Segmente ihre Individualität bewahren und voneinander
abgeschlossen bleiben, begrenzt jedes von ihnen eng den sozialen Horizont seiner
Bürger. Getrennt vom Rest der Gesellschaft durch mehr oder weniger schwer zu
überschreitende Barrieren, lenkt uns nichts vom lokalen Leben ab und folglich kon-
zentriert sich in ihm unsere ganze Tätigkeit. In dem Maße, in dem sich der Zusam-
menschluss der Segmente vollzieht, wird der Blick weiter, und das umso mehr, als
sich im Allgemeinen die Gesellschaft zugleich selbst ausdehnt“ (ebd., S. 362).
Durkheim führt schließlich die Zunahme der Spezialisierung darauf zurück, dass
sich die oppositionell verhaltenden Individuen nicht beseitigen, sondern indivi-
dueller zeigen. Statt sich zu verdrängen, bemüht man sich, durch einzigartige
Funktionsausübung den Wettkampf für sich zu entscheiden. Die verstärkte Spe-
zialisierung aber bringt neuen Bedarf an Diensten anderer hervor, d.h. wenn sich
die Individuen spezialisieren, dann hängen sie auch von neuer Zusammenarbeit
ab. Durkheim macht geltend, dass es die ausgeweitete Teilung der Arbeit ist, mit
welcher der aus der gestörten Homogenität hervorgehende Konflikt befriedet
wird (ebd., S. 329).
Ferner: Sind die Individuen dem Wettkampf ausgesetzt, den sie dann zu ih-
ren Gunsten entscheiden, wenn sie sich auf kreative Weise spezialisieren, dann
werden sie Überlegungen anstellen, wie sie immer speziellere Tätigkeiten anbie-
ten. Sie sind zur Änderungsbereitschaft genötigt. Vor diesem Hintergrund wer-
den die entworfenen Tätigkeiten zunehmend komplexer und unabhängiger von
menschlichen Organen, die bloß eingeschränkte Funktionen möglich machen
(ebd., S. 398). Berufe sind immer weniger an den Körper gebunden. Daran wird,
so Durkheim, erkennbar, dass die Tätigkeiten anspruchsvoller werden und mehr
3.3 Möglichkeit der Individualität (Über soziale Arbeitsteilung) 177
Die Regeln für die Aufgaben im Beruf betreffen nicht nur die gesamte Gesell-
schaft, sie sind zudem nur einer eingeschränkten Gruppe von Menschen präsent.
Hingegen brauchen sich diejenigen, die an der spezifischen Ausübung eines Be-
rufes nicht beteiligt sind, nicht über dessen Regeln zu informieren. Durkheim
folgert aus dieser Sachlage, dass spezifische Regeln geringere Autorität aufwei-
sen und somit geringere Änderungsresistenz hervorrufen (ebd., S. 366). Die Ar-
beitsteilung schreitet also nicht nur voran, weil die Menschen genötigt werden,
sich immer individueller zu zeigen, sie schafft sogar Bedingungen dafür, dass die
individuelle Variation immer weniger verhindert wird. Mit anderen Worten: Erst
ein geschwächtes Kollektivbewusstsein lässt die Arbeitsteilung zu, die wiederum
dessen Erholung nicht zulässt, seine Schwächung folglich verstetigt und sogar
vorantreibt.
„Diese [die Arbeitsteilung; C.A.] kann nur in dem Maß auftauchen, in dem die seg-
mentäre Organisation sich verflüchtigt. Wenn die Arbeitsteilung einmal existiert,
kann sie zweifellos dazu beitragen, deren Verschwinden zu beschleunigen. Sie
taucht aber erst auf, nachdem jene zurückgegangen ist. Die Wirkung reagiert auf die
Ursache, verliert aber dabei nicht die Eigenschaft der Wirkung. Die Reaktion, die sie
nach sich zieht, ist also nur zweitrangig“ (ebd., S. 314).
Arbeitsteilung macht also nur dort Fortschritte, wo das Kollektivbewusstsein
wenig gegen individuelle Variation ausrichten kann. Damit ist zwar gesagt, dass
diese mit der Ablösung von jenem zusammenfällt, vor diesem Hintergrund wird
man aber nicht sagen können, dass die Arbeitsteilung aus dem Nichts entsteht.
Trotz des Widerstands seitens des Kollektivbewusstseins, wird es, so Durkheim,
Arbeitsteilung nicht geben, ohne dass das Individuum vorab von kollektiven
Homogenitätszumutungen betroffen ist. Nimmt es sich nicht vor, Spezialfunkti-
onen zu konstruieren, so wird das Niveau der Arbeitsteilung auf der Stelle ste-
hen. Was alsbald zur Spezialisierung zwingt, das macht eine Verständigung er-
forderlich, damit sich die unterschiedlichen Funktionsausübungen komplementär
zueinander verhalten (ebd., S. 336). Aus einem zur Verfügung gestellten Dienst,
der vorab auf die Tätigkeitsausübungen anderer angewiesen ist, geht eine Kette
von Abhängigkeit hervor. Aufeinander abgestellte Funktionen werden ihren je-
weiligen Nutzen nur dann mit Gewissheit anbieten können, wenn Kommunikati-
on zwischen den Gliedern der Kette besteht. Weil sich demnach neue Speziali-
sierung ohne Mitteilungen untereinander nicht ausbilden kann, folgert Durkheim,
„[…] dass es zwischen ihnen [den Individuen; C.A.] moralische Bande geben
muss“ (ebd.). Ohne dass sie sich an kollektive Homogenitätszumutungen anglei-
chen, kommen erste moralische Beziehungen nicht zustande und somit ist
Kommunikation nicht möglich, um die anstehende Spezialisierung abzugleichen.
Durkheim konstatiert, dass ungeachtet der blockierenden Wirkung des Kollek-
tivbewusstseins auf die Spezialisierung sich diese ohne jenes nicht entwickeln
kann. Folglich sind die Individuen für das Hervortreten der Individualität nicht
3.3 Möglichkeit der Individualität (Über soziale Arbeitsteilung) 179
halt in der organischen Gesellschaft sorgt, das setzt nebenbei auch Persönlichkeit
frei.
Die voranschreitende Arbeitsteilung setzt somit Individualität voraus. Kon-
frontiert man die beiden Solidaritätstypen miteinander, so gibt das zu erkennen,
dass sich die Voraussetzungen für den jeweils bewirkten Zusammenhalt verkehrt
zueinander veralten. Am Vergleich des segmentären und organischen Typus der
Gesellschaft zeigt sich, dass Individualität ohne den Geltungsverlust der Voraus-
setzungen für den ersten Typus abwegig ist. Durkheim erschließt, dass das Zu-
rücktreten der segmentären Gesellschaft hinter die organische Gesellschaft nicht
das Resultat eines Plans ist. Die Schwächung des Kollektivbewusstseins tritt
nämlich vor allem dann ein, wenn dessen Eindeutigkeit schwindet. Für diesen
Sachverhalt macht er ausschließlich solche Faktoren ausfindig, denen man nicht
nachsagen kann, dass sie vorsätzlich ins Werk gesetzt werden, um die Präzision
der Homogenitätszumutungen zu schädigen. Es sind „[…] rein mechanische Ur-
sachen, die bewirken, dass die individuelle Persönlichkeit von der kollektiven
Persönlichkeit absorbiert wird; und Ursachen gleicher Natur sind es, infolge de-
rer sie sich davon befreit“ (Durkheim 2008a, S. 365). Es ist also weder das Zu-
rückhalten der Individualität, noch ist das Hervortreten der Entscheidungsfreiheit
das Ergebnis eines aus Nützlichkeitserwägungen angetriebenen Vorhabens.
Die Veranlassung, Spezialfunktionen zu konstruieren, wird besonders durch
soziale Verdichtung verschuldet, gleichwohl das ein schwaches und unpräzises
Kollektivbewusstsein voraussetzt. Wenn die vorgeschriebene Ähnlichkeit an
Geltung verliert und man angewiesen ist, mehr Initiative für das eigene Handeln
aufzubringen, dann wird es dem Individuum überhaupt in den Sinn kommen,
eine abweichende Individualität zum Gegenstand der Vorstellung zu machen.
Das aber ist das Resultat des Drucks, den diejenigen ausüben, die sich abseits der
segmentären Trennwände begegnen. Das nötigt das Individuum, sich unähnlich
zu zeigen. Der Zwang zur individuellen Variation liegt aber erst vor, wenn die
Grenzen in der segmentären Gesellschaft fallen. Werden die Grenzen porös, so
nehmen die Interaktionen zu und die Individuen setzen sich gegenseitig unter
Druck. Nur wenn sie sich unähnlich zeigen, werden sie den Druck auflösen.
Durkheim konstatiert: Anstatt sich dauerhaft zu bekämpfen, wird man sich aus
dem Weg gehen, indem man zunehmend einzigartige Tätigkeiten anbietet, für
deren Ausführung man jedoch unzureichend ausgestattet ist, so dass die Spezia-
lisierung die Individuen wiederum zueinander führt.
Individualität ist also ein unbeabsichtigtes Ergebnis. Sie kann erst dann her-
vortreten, wenn die kollektiven Homogenitätszumutungen, die individuelle Ab-
weichung verhindern, an Kraft verlieren. Man kann aber die Emanzipation vom
Kollektivbewusstsein nicht auf eine Absicht zurückführen, denn Arbeitsteilung
erfordert zwar individuelle Variation, ermöglicht und treibt sie aber auch voran.
Emanzipation von der vorgeschriebenen Ähnlichkeit schafft Individualität und
diese ist eine Bedingung der Arbeitsteilung. Ohne die Zunahme der individuellen
3.3 Möglichkeit der Individualität (Über soziale Arbeitsteilung) 181
Regelmäßige Selbstmorde sind für Durkheim Mittel zum Zweck. Zwei zentralen
Zwecken hilft die Studie Der Selbstmord (1973): Erstens einen Beitrag für die
Konsolidierung der von ihm vertretenen Disziplin zu leisten und zweitens einen
Schlüssel für die Erklärung der Ausnahmeerscheinungen und Leidensformen
moderner Gesellschaften zu finden.
Der erste Zweck: Angesichts der methodologischen Schrift Durkheims ist
es nicht erstaunlich, dass man in der Studie zum Selbstmord nicht über die inti-
men Entschlüsse derer unterrichtet wird, die Hand an sich legen. Für seine Me-
3.4 Die integrative Kraft des Selbstverzichts (Der Selbstmord) 183
99 Steven Lukes bemerkt, dass Durkheim mit dem Selbstmord bezweckt, die Wirkung von sozia-
len Ursachen zu demonstrieren (vgl. Lukes 1999, S. 216).
100 Zu Durkheims Definition des Selbstmords vgl. Némedi 1995, S. 62 f., zur Diskussion um die
Definition des Selbstmords vgl. Feldmann 2010, S. 177 ff.
184 3 Émile Durkheims Welt
sein Tun hat man zuvor kalkuliert zu sterben (vgl. Durkheim 1973, S. 27).
Trotzdem bleibt der subjektive Vorwand für die Untersuchung außen vor. Es
lässt sich nicht der eine besondere Schicksalsschlag ausfindig machen, der ohne
Umschweife immer und überall den Selbstmord veranlassen wird (ebd., S. 344),
denn während, und das wird sich an den unterschiedlichen Selbstmordtypen
noch zeigen, auf die einen Bewährungsanstrengungen gegen elende Zustände
lebenserhaltend wirken, dass ihnen die Irritation plötzlicher Entlastung gefähr-
lich wird, überleben andere bereits ein einfältiges Missgeschick nicht, das sie als
unerträgliches Desaster für die ansonsten prätentiöse Außenwirkung der eigenen
Person verbuchen. Eine Grenze des Leids, deren Überschreitung notwendig den
Freitod verschuldet, ist nicht auffindbar. Die Individualisierung der menschli-
chen Belastbarkeitsgrenze bekundet somit, dass die Suche nach Gesetzmäßigkei-
ten für den Selbstmord erschwert wird, wenn man die rein individuellen Fakto-
ren isoliert.
Insbesondere im Hinblick auf die Faktoren für die Häufigkeit des Selbst-
mords ist es daher vergeblich, sich auf die Angaben in Abschiedsbriefen zu stüt-
zen. Wer den Selbstmord eines Einzelnen untersucht, der ist auf Quellen für das
individuelle Bewusstsein angewiesen, wer aber hingegen Regelmäßigkeiten des
Verhaltens untersucht, genauer: Wer den Bedingungen der Selbstmordrate, also
der jährlichen Gesamtzahl der Selbstmorde gemessen an der Wohnbevölkerung
eines Landes nachgeht, für den ist weder die subjektive Erklärung einer Einzeltat
noch die Summe dieser Erklärungen eine ausreichende Quelle. Anhand der
Längsschnittbetrachtung der Selbstmordraten verschiedener Länder101 zeigt
Durkheim (ebd., S. 31 f.), warum einzelne Schicksalsentscheidungen für die Su-
che nach den Bedingungen der Häufigkeiten unrelevant sind: In mitteleuropäi-
schen Ländern, für die ihm die Selbstmordraten zur Verfügung stehen, bleibt
diese über eine kurze Periode von wenigen Jahren konstant. Erst wenn man län-
gere Perioden berücksichtigt, wandelt sich die Häufigkeit, diese Änderung bleibt
aber erneut für wenige Jahre konstant. Zwischenzeitliche Schwankungen, die ins
Gewicht fallen, treten immer dann auf, wenn sich außeralltägliche Großereignis-
se abspielen. Durkheims Schlussfolgerung lautet: Dass die Selbstmordraten nicht
nur Konstanz und Wandel nach langer Zeit, sondern auch plötzliche Ausschläge
aufweisen, belegt das Wirken von Kräften, die nicht über die Einzelschicksale
der Suizidanten, sondern über soziale Ursachen erklärt werden können.
„Sie [die Suizidanten; C.A.] beeinflussen sich, wenigstens normalerweise, nicht ge-
genseitig, sie handeln nicht im gegenseitigen Einverständnis, und trotzdem spielt
sich alles so ab, als ob alle nach der gleichen Losung vorgingen“ (ebd., S. 353)
101 Durkheim greift auf die amtlichen erfassten Selbstmordraten von Frankreich, Preußen, Eng-
land, Sachsen, Bayern und Dänemark für die Jahre 1841 bis 1872 zurück (vgl. Durkheim 1973,
S. 31).
3.4 Die integrative Kraft des Selbstverzichts (Der Selbstmord) 185
Die periodische Beharrlichkeit der Häufigkeiten führt er darauf zurück, dass sich
die Regelmäßigkeiten des sozialen Lebens nicht jedes Jahr aufs Neue ändern,
hingegen aber ein Großereignis wie beispielsweise Krieg oder unverhofftes
Wirtschaftswachstum in deren Ablauf eingreift. Auf die Werte der Selbstmordra-
ten wirken sich somit überindividuelle Faktoren und deren Wandel aus. Hierzu
schreibt er:
„Diese Konstanz kommt nicht daher, dass die den Selbstmord herbeiführende Geis-
tesverfassung plötzlich durch irgendeinen Zufall in einer bestimmten Anzahl von
Einzelpersonen auftritt, die sie dann durch einen ebenso rätselhaften Zufall an die
gleiche Anzahl von Nachahmern weitergeben. Sondern sie kommt daher, dass die
Ursachen außerhalb des Individuums, die die Selbstmordrate entstehen lassen und
aufrechterhalten, die gleichen bleiben“ (ebd., S. 375).
Ein soziales Phänomen kommt zu einer bestimmten Zeit und vor allem im
Wechsel der Generationen immerzu häufig vor. Die Häufigkeit kann aber auch
augenblicklich so umschlagen kann, dass sie einen außerordentlich hohen oder
niedrigen Wert erreicht. Für diesen Zeitabschnitt müssen solche Ursachen gege-
ben sein, die sich gegenüber dem Individuum souverän verhalten. Kann man für
ein soziales Phänomen die Beteiligung einer kontinuierlichen Zahl von Men-
schen feststellen, obwohl sich die Generationen ablösen, der Menschenbestand
sich also ändert, dann lässt das den Schluss auf soziale Kräfte zu, deren Wandel
erst die Beharrlichkeit jener Zahl stört. Aus diesem Grund will Durkheim „das
Individuum als Individuum beiseite lassen“ (ebd., S. 161) und stattdessen auf
statistische Fremddaten zurückgreifen, die ihm für sein Vorhaben nützlich sind,
unterschiedliche Typen des Selbstmords zu entwickeln.
Konstanz und Schwankungen der Selbstmordrate will er nicht anhand der
subjektiven Motive der Suizidanten, sondern mit sozialen Faktoren erklären. Die
Rechtfertigung hierfür leitet sich von der Macht des Sozialen her, für die die
Beweise in der Studie verstreut vorliegen und nun wie folgt rekonstruiert wer-
den: Was dem Sozialen wesentlich ist, tritt zunächst in einem von ihm unter-
nommenen Vergleich zwischen der sozial mobilisierten Verhaltenswiederholung
und der Nachahmung hervor. Indem Durkheim die Unterstellung zurückweist,
dass sich soziale Phänomene durch die nachahmende Angleichung an das Ver-
halten anderer erklären lassen, bringt er eine Wirkungskraft zum Vorschein, die
nicht von der nachzuahmenden Person abhängt. Darüber hinaus müsste eine ge-
ographische Verteilung der Selbstmorde sichtbar werden, die sich von einem
Häufigkeitszentrum der Selbstmorde ausgehend absteigend verhält. Als zweites
wird sich zeigen, dass die Kraft der überindividuellen Faktoren kein Mehrheits-
ergebnis ist. Schließlich demonstriert Durkheim die Macht des Sozialen an der
Rückwirkung, die sie trifft, wenn sich das Individuum ihr zugunsten Selbstver-
zicht auferlegt.
186 3 Émile Durkheims Welt
Was sozial bewirkt ist, das kann, ihm zufolge, nicht daraus resultieren, dass
man andere in ihrem Denken und Verhalten imitiert (ebd., S. 131). Diese Erklä-
rung ist nicht hinreichend. Wo jemand es einem anderen gleichtut, da spielt sich
zwar ein Anstieg der Quantität ab, es liegt aber auch ein qualitativer Unterschied
vor. Während sich im ersten Fall das Verhalten bloß summiert, wenn es sich
wiederholt, steht der andere Fall für den Ablauf dessen, ohne das sich das, was
Durkheim ein Kollektivgefühl nennt, nicht erhalten kann, d.h.: Schließt man sich
regelmäßigem Verhalten an, so erkennt man dessen Wert an. Man nimmt min-
destens so von ihn Notiz, wie er von Seiten anderer dem Verhalten beigemessen
wird, wobei diese Zuschreibung nicht auf die Erfindung eines Einzelnen zurück-
geht (ebd., S. 130). Wer ein bestimmtes Verhalten wiederholt, übt somit eine
erhaltende Wirkung aus, die dessen Geltung betrifft. Wer es missachtet, übt
ebenfalls eine Wirkung aus, denn einerlei ob man Missbilligung oder Indifferenz
mobilisiert, wird letzteres den Wert schwächen, während ihn die Missbilligung
bewahrt. Hingegen kommt die Imitation ohne Rücksichtnahme auf Wünschens-
wertes aus und das zu imitierende Verhalten kann sogar die isolierte Vorgabe
eines Einzelnen sein. „Wie könnte“, fragt Durkheim für den anderen Fall, „ein
einzelner Mensch, der nichts weiter ist als das, genug Kraft haben, die Gesell-
schaft nach seinem Bilde zu formen“ (ebd., S. 149). Eine Regelmäßigkeit des
sozialen Geschehens kann dieser nicht ohne weiteres erfinden, denn hierfür
braucht er wenigstens Ansehen, wofür er notwendig auf andere angewiesen ist
(ebd., S. 128). Insbesondere die Kontinuität der sozialen Phänomene, die sich an
verschiedenen Menschengenerationen ablesen lässt, kann ein Einzelner nicht
vorsätzlich erschaffen. Im Gegensatz dazu kann die Nachahmung auf einen Ein-
zelnen zurückgehen. In dem zu wiederholenden Verhalten ist kein Ansehen am
Werk, so dass der Nachahmende von keinem Drang betroffen ist. Das ist ansons-
ten nicht der Fall.
Die Widerlegung konkretisiert er, indem er auf verschiedene Selbstmordra-
ten zurückgreift. Dass es sich im Falle des Selbstmordes um nachahmendes Ver-
halten handelt, widerlegt Durkheim, indem er auf empirische Daten zurückgreift,
die die Häufigkeit der Selbstmorde für französische Departments und Arrondis-
sements, die besonders betroffenen deutschen Länder, einige italienische Provin-
zen und Kantone der Schweiz verzeichnen (ebd., S. 506 ff.). Er entnimmt dem
Frankreich betreffenden Zahlenmaterial, dass sich eine geographische Konzent-
ration der Selbstmorde, die man in Paris verorten kann, nicht nachweisen lässt.
Stattdessen bestehen sogar beträchtliche Schwankungen zwischen benachbarten
Arrondissements. Ähnlich verhält es sich für die Gebiete außerhalb Frankreichs
und somit schließt er aus, dass eine Diffusion des Selbstmordes von den bevöl-
kerungsreichen Zentren ausgehend und mit der Zahl der Bevölkerung abneh-
mend stattfindet. Hingegen postuliert er, dass es deswegen zu den geographisch
nebeneinander liegenden Häufigkeitsschwankungen kommt, weil die sozialen
Lebensbedingungen nicht homogen verteilt sind (ebd., S. 143 f.). Für eine Diffu-
3.4 Die integrative Kraft des Selbstverzichts (Der Selbstmord) 187
sion des Selbstmordes aber, die sich schlicht deswegen ereignet, weil die Tat an
sich ein gutes Beispiel zur Imitation gibt, würde die ungleiche Verteilung der
Lebensbedingungen belanglos sein, d.h. die sozialen Voraussetzungen, die ein
Gebiet aufweist und sich von Gebiet zu Gebiet unterscheiden, wären für die
Ausbreitung einer nachgeahmten Regelmäßigkeit gleichgültig. Die Schlussfolge-
rung lautet: Nur wo die Ursachen ausgebreitet sind, da findet sich eine entspre-
chende geographische Verteilung der von ihnen erwirkten Effekte vor.
Durkheim warnt vor diesem Hintergrund, soziale Phänomene durch Nach-
ahmung zu erklären, weil man sich auf diese Weise den Zugang zu den Ursachen
versperrt. Wiederholtes Verhalten lässt, sofern es Resultat einer Nachahmung ist,
nicht erkennen, wie Soziales auf den Menschen wirkt. Die Abgrenzung des So-
zialen von der Nachahmung erfüllt für die Argumentation Durkheims den
Zweck, das erkennbar zu machen, worauf das Nachzuahmende nicht angewiesen
ist, und das ist die Wirkungskraft, die den Fluss der Verhaltenswiederholung
beeinflusst, wenn diese normkonform ist. Durkheim beabsichtigt, die Imitation
als Erklärung für soziale Phänomene zu verwerfen, um stattdessen zu demonst-
rieren, dass eine Norm unabhängig von ihrer Entsprechung im Handeln des Ein-
zelnen besteht. Aus der Eigenständigkeit der Norm begründet sich wiederum
ihre Überlegenheit gegenüber dem Individuum. Ihr soziales Ansehen ist nicht
darauf angewiesen, dass es man es identisch im Denken des Einzelnen abgebil-
det findet. Durkheim erklärt dies wie folgt: In der Angelegenheit eines abwei-
chenden Verhaltens wie dem im Allgemeinen abgelehnten Mord, der jemanden
nicht betrifft, fällt die Missbilligung seinerseits vergleichsweise gering aus. An-
ders spielt sich das Geschehen ab, wenn der Vorfall zum Gegenstand der öffent-
lichen Missbilligung wird. Nunmehr fällt die Ablehnung intensiver aus, und das
obwohl der Einzelne nach wie vor nicht vom Vorfall berührt wird. Es ist nicht
nur das soziale Entsetzen intensiver, sondern auch das individuelle Entsetzen
und es offenbart sich auf diese Weise die Überlegenheit des sozialen Ansehens,
das einer Norm eigen ist und dem gegenüber das Individuum schwächer ist
(ebd., S. 369). „Die Macht, die er auf diese Weise zu respektieren gelernt hat und
die für ihn zum Idol wurde, das ist die Gesellschaft […]“ (ebd., 363).
Dieser Unterschied zwischen der Individualform und der Sozialform (ebd.,
S. 369) einer Norm soll nicht den Effekt einer aus Einzelkräften addierten Ge-
samtkraft offenbaren, die eine Herrschaft auf das Individuum ausübt. Wenn sich
der Einzelne unter dem Eindruck eines kollektiven Gefühls mit höherer Intensität
empört oder erfreut, als er es für sich getan hätte, dann ist das nicht ein Ergebnis,
das von der Zahl der isolierbaren Einzelkräfte eines Kollektivs abhängt, sondern
resultiert aus dem Aufeinanderbezogensein dieser Kräfte, und zwar der Kräfte,
die im Hinblick auf das Ansehen der Norm wirken. Sie besteht somit nicht, weil
sie mehrheitlich getragen wird, denn ihre Geltung ist vielmehr ein soziales Pro-
dukt, was eine andere Wirklichkeit ist als eine Summe.
188 3 Émile Durkheims Welt
„Darum kann der blasse und unvollständige Abklatsch, der sich davon im Gewissen
des einzelnen findet, nicht als das Original angesehen werden. Er ist viel eher das
Ergebnis einer ungenauen und groben Wiedergabe von etwas, das außerhalb des In-
dividuums liegt […]“ (ebd., S. 371).
Die Wirklichkeit des Sozialen ist demzufolge das Ergebnis abwechselnden und
voneinander abhängigen Handels, das etwas anderes ist als das Handeln für sich.
Das Handeln vieler, und zwar das aneinander orientierte Handeln ist insofern
qualitativ verschieden von einer Einzeltat, als das isolierte Handeln eines Einzel-
nen ohne Gesellschaft und somit auf sich gestellt ist, so dass es anders verursacht
ist und andersgeartete Wirkungen nach sich zieht. Zwei getrennte Realitäten lie-
gen also deswegen vor, weil die Summe bestimmter Ursachen nicht identisch ist
mit den Wechselwirkungen dieser Ursachen und dies nennt Durkheim die „Hete-
rogenität des Sozialen und Individuellen“ (ebd., S. 364). Wirkungen, die auf das
Soziale zurückgehen, beruhen auf alternierenden Orientierungen der an einer
Handlung tatsächlich Beteiligten und Gegenstand der betreffenden Orientierung
ist im Ursprung nicht die reine Erfindung eines der Beteiligten. Allesamt sind
also einer Wirklichkeit, nämlich einem „unpersönlichen Kausalnexus“ unterwor-
fen (ebd., S. 359), die über die subjektiven Beiträge hinausgeht und längst exis-
tierte. Durkheim unterstreicht aber, dass die Wirklichkeit des Sozialen nicht von
sich aus wirkt. „Diese Grundlage ist“, schreibt er, „nicht substantiell oder onto-
logisch, da sie nichts anderes ist, als die Zusammensetzung von Einzelteilen“
(ebd., S. 373).
Für die Begründung dafür, dass das Soziale dem Individuum übergeordnet
ist, lässt sich den Überlegungen Durkheims bislang Folgendes entnehmen: Ers-
tens weist er die Nachahmung für die Erklärung sozialer Phänomene zurück,
indem er zeigt, dass derjenigen, der imitiert, nicht von dem Ansehen des zu wie-
derholenden Verhaltens betroffen ist. Er offenbart zweitens die besondere Kraft
überindividueller Faktoren anhand der Sozialform geltender Normen, die nicht
darauf angewiesen ist, eins zu sein mit deren Individualform. Zum Wesen der
überindividuellen Faktoren gelangt man ferner über einen dritten Weg, und das
ist der soziale Ursprung der Transzendenz.
Die als heilig geltenden Dinge und, so Durkheim, Normen haben sie ge-
meinsam. Das erklärt er folgendermaßen: Weil Verhaltensvorgaben nicht auf die
zahlenmäßige Überlegenheit ihrer Protagonisten beruhen und sich in keiner Wei-
se von einem Einzelnen erfinden lassen, sondern der Wirklichkeit des Sozialen
entspringen, können sie unmöglich mit individuellem Eigennutz zusammenfal-
len. Was nicht mit dieser übereinstimmt, macht unbedingt Verzichtleistungen
nötig, die schließlich aus der Dominanz der Normen resultieren (ebd., S. 393).
Ausschlaggebend ist für Durkheim, dass normkonformes Verhalten unter-
schiedslos, ob es gewollt oder auferlegt ist, in Opposition zum individuellen
Vorteil steht. Die Macht, der man in dieser Angelegenheit unterworfen ist, lässt
sich demnach nicht auf der Seite des Betroffenen verorten. Stattdessen wird sie
3.4 Die integrative Kraft des Selbstverzichts (Der Selbstmord) 189
von ihm auf eine äußere Instanz übertragen, wobei es gleich ist, ob diese als ein
konkretes Wesen besteht oder davon losgelöst ist. In seinem Denken ist er von
ihr überwältigt.
„Das ist der Ursprung aller jener Vorstellungen von Transzendenz, die wir als
Grundlage der Religionen und Sittengesetze vorfinden; denn auf eine andere Weise
ist die moralische Verpflichtung nicht zu erklären“ (ebd., S. 393 f.).
Der Vorgang, der Transzendenz schafft und derjenige, den sie bewirkt, sind also
erklärbar und der Erfahrbarkeit nicht verschlossen. Durkheim zeigt, dass sie
nicht die Quelle ihrer Macht ist, sondern ohne die überzeugte Disziplin derjeni-
gen, die an sie glauben, nicht eintreten wird. Transzendenz ist ein Effekt.102 Ihrer
Abhängigkeit lässt sich im Hinblick auf die Wirklichkeit des Sozialen das Fol-
gende entnehmen: Seine Eigenständigkeit besagt zwar, dass es vom Willen und
Eingriff des Einzelnen unabhängig ist, nur ist die soziale Macht an ihren Erfolg
gebunden, die Zurückstellung des individuellen Eigennutzes veranlassen zu kön-
nen, wobei sie insbesondere hierfür darauf beruht, dass sie unabhängig davon ist,
das Individuum mit physischen Zwang zum Selbstverzicht zu bewegen. Die
Kraft überindividueller Faktoren, die dem Einzelnen überlegen ist, geht insge-
samt nicht aus ihr selbst hervor. Anders ausgedrückt: Wenn Durkheim das Sozia-
le als einen Ursachenherd qualifiziert, dann schließt er damit nicht aus, dass die-
ses ebenfalls Ursachen hat.
So wenig wie am Anfang eines sozialen Phänomens eine unerfahrbare Kraft
steht, so undenkbar sind ihre Diffusion und Aufrechterhaltung durch Nachah-
mung. Ihre Ursachen, und das ist Durkheims Absicht für den Nachweis über die
Kraft des Sozialen und für die Selbstmordstudie überhaupt, wird man übergehen,
wenn man sich nicht von der Stellungnahme des Individuums löst. Die Wir-
kungskraft, unter deren Einfluss das individuelle Handeln steht, legt Durkheim
frei, indem er zeigt, dass sie sich gegenüber dem Einzelnen zwar eigenständig
verhält. Für ihr Bestehen ist sie allerdings an die Anerkennung ihrer Geltung
gebunden, wobei sich deren Beschädigung wiederum nicht gezielt herbeiführen
lässt, sondern nur das Ergebnis eines sozialen Vorgangs ist.
Die Suche nach überindividuellen Faktoren für die Erklärung der Selbst-
mordrate kann Durkheim somit rechtfertigen, doch es können auch solche Ursa-
chen den Freitod bewirken, die das Individuum überschreiten, aber nicht sozialer
Natur sind. Neben der sozialen Kraft berücksichtigt er auch solche für den Ein-
fluss auf die Selbstmordrate infrage kommenden Faktoren, die zwar vom Indivi-
duum unabhängig sind, aber anderen Gattungen angehören. Wenn man das Indi-
viduum als Faktor ausschaltet, bleiben nicht nur soziale Ursachen übrig, sondern
es kommen auch Krankheiten und Erbgut als Bedingungen in Betracht. Das So-
102 Die soziale Voraussetzung der Transzendenz gehört zum Programm Durkheims, nicht der
Disziplinierung, sondern der Motivierung des Einzelnen nachzugehen, sich für andere Indivi-
duen, Kollektive und Werte einzusetzen (vgl. Joas 1992, S. 281 f.).
190 3 Émile Durkheims Welt
ziale lässt sich als Ursachenherd nicht nur auf der Grundlage des Nachweises
über die Belanglosigkeit des subjektiven Vorsatzes isolieren, sondern hierfür
braucht es auch die Abgrenzung von überindividuellen Faktoren, die nicht sozia-
ler Natur sind. Durkheim macht sich weitere empirische Daten wie folgt für sei-
ne Argumentation zunutze: Wenn organisch-psychische Dispositionen den
Selbstmord veranlassen, dann wäre die Selbstmordrate unter Frauen und Juden
höher, weil für beide häufiger Geisteskrankheiten festgestellt werden. Faktisch
bringen sich aber Frauen und Juden seltener um (ebd., S. 64).
Ein kausaler Zusammenhang zwischen Rasse und Selbstmord lässt sich
ebenfalls ausschließen: Man ordnet zwar unterschiedliche nationale Gruppen
einer Rasse zu, nur weisen sie unterschiedlich hohe Selbstmordwerte auf. Dar-
über hinaus bringen sich die Angehörigen einer Gruppe, die man einer Rasse
zuordnet, aber an verschiedenen Orten auf der Erde leben, unterschiedlich häufig
um. Schließlich entsprechen die Selbstmordraten derjenigen Gruppen einander,
die gleichen sozialen Lebensbedingungen unterworfen sind, aber unterschiedli-
chen Rassen zugeordnet werden (ebd., S. 80). Dass der Selbstmord im Allge-
meinen nicht vererbbar ist, erklärt Durkheim mit dem Hinweis auf die unter-
schiedlichen Werte zwischen den Geschlechtern. Ein Nachweis darüber, dass
Verhalten vererbbar ist, ließe sich erbringen, wenn sich die Übertragung auf bei-
de Geschlechter gleichmäßig verteilen würde. Der Selbstmord ist allerdings ein
Phänomen, von dem Männer häufiger betroffen sind als Frauen (ebd., S. 91).
Die Widerlegung der Wirksamkeit von Störungen der organisch-
psychischen Funktionen einerseits, biologisch klassifizierter Menschengruppen
andererseits und schließlich von tatsächlichem Ahnenerbe auf den Selbstmord
nimmt Durkheim im Hinblick darauf vor, sie als dessen überindividuelle Fakto-
ren auszuschließen, so dass hiernach nur das Soziale übrig bleibt. Insofern ist der
Selbstmord kein außergewöhnlicher Sachverhalt, denn nicht alle, die den Freitod
wählen, sind kranke Menschen. Geisteskrankheiten sind keine notwendige Be-
dingung für die Selbstmordrate. Das wiederum lässt die Schlussfolgerung zu,
dass der Selbstmord auf Ursachen zurückgeht, die nicht pathologisch, sondern
für die Gesellschaft normal sind. Daneben kann es nicht die Zugehörigkeit zu
einer familienübergreifenden Abstammungsgruppe sein, die über den Selbstmord
entscheidet, denn das hieße, der einzelne Angehörige einer betroffenen Gruppe
könnte sich im Falle, dass die bloße Zugehörigkeit ausreicht, den Ursachen für
soziale Phänomene nicht entziehen. Deren Ursache wäre dann das biologische
Erbe und somit wären soziale Bedingungen belanglos. Da sich aber die Wider-
spruchsfreiheit der Kategorie Rasse nicht aufbringen lässt, sind mit ihr unterstell-
te Kausalzusammenhänge haltlos.
Die endgültige Begründung, mit der es Durkheim erlaubt ist, nur soziale
Ursachen für das Auffinden von Gesetzesmäßigkeiten für den Selbstmord nach-
zugehen, gelingt ihm wie folgt. Die weitergehende Prüfung der außersozialen
und überindividuellen Ursachen führt Durkheim zum Ergebnis, dass sich die
3.4 Die integrative Kraft des Selbstverzichts (Der Selbstmord) 191
Durkheim, als ein „eminent soziales Phänomen“ ab (ebd., S. 133), womit er ab-
streitet, dass sich einzig die Selbstbestimmung des Individuums exponiert, wenn
es Hand an sich legt. Mit der Untersuchung bezweckt er also den Nachweis über
die Belanglosigkeit des Individuums, indem er Gesetzmäßigkeiten nachgeht, die
unter dem Einfluss sozialer Faktoren stehen. Dieser Zweck richtet sich also an
die von ihm entwickelte Methodologie, die er am Beispiel des Selbstmords nicht
nur umsetzen, sondern auch erhärten will, weshalb er diesen tatsächlich ein Mit-
tel nennt. Er schreibt: „So bietet uns der Selbstmord ein Mittel, durch eine ent-
scheidende Erfahrung die geheimnisvolle Wirkungskraft nachzuweisen, die man
der Nachahmung zuschreibt“ (ebd., S. 137).
Wenn sich im Falle der Tat, für die man sich darüber bewusst ist, dass an
deren Ende der eigene Tod steht, ein Vorgang abspielt, der von einer im Ur-
sprung sozialen Kraft bewirkt ist, wenn sogar eine der persönlichsten Angele-
genheiten des Menschen unter der Gewalt des Sozialen statt der persönlichen
Motive stehen,103 dann lautet eine zentrale Botschaft der Studie: Das Handeln
des Individuums kann man nicht von den sozialen Bedingungen isolieren, wenn
man es erklären will. Abseits der subjektiven Sinnhaftigkeit gibt es eine verlän-
gerte Wirkung von Faktoren, die das Individuum überschreiten (ebd., S. 346).
Der zweite Zweck: Von der Selbstmordrate verspricht sich Durkheim eine
empirisch gestützte Auskunft über die Krise104 der Gesellschaften seiner Zeit.
Die ebenfalls von ihm verfolgten praktischen Empfehlungen, die er darauf aus-
richtet, die gesellschaftliche Misere zu mindern oder zu überwinden, sind gemäß
seiner Methodologie erst auf der Grundlage gesicherter Erkenntnisse überhaupt
möglich. Für beides braucht er den Selbstmord. Damit sich erschließen lässt,
warum dieser ein Mittel ist, der sich für den Aufschluss über den Zustand einer
Gruppe nutzen lässt, muss man sich zunächst vergegenwärtigen, dass es zu
Durkheims Anliegen gehört, nicht bloß Maßnahmen zur Prävention derer zu
entwickeln, die den Risikofaktoren für Suizidalität ausgesetzt sind. Stattdessen
interessieren ihn die „Ursachen des allgemeinen Unbehagens“ (ebd., S. 20), und
103 Jean Améry kritisiert an der Studie, dass Durkheim die persönliche Entscheidung des Suizidan-
ten nicht anerkennt: „Jedermann gehört, ich wiederhole es auf die Gefahr, den Leser zu ermü-
den, unter Aufmichnahme, der Monotonie geziehen zu werden, in den entscheidenden Le-
bensmomenten sich selber, und wo er nicht mehr sch gehören will, weil er sich anheimgibt, ei-
ner Idee, einem menschlichen Verband, einem Wahne meinetwegen, ist es doch dort seine
existentielle Eigengehörigkeit, die ihn handeln oder nichthandeln macht“ (Améry 2012, S.
120).
104 Klaus Feldmann und Werner Fuchs-Heinritz verdächtigen Durkheim, von demographischen
Ängsten betroffen gewesen zu sein, den Anschluss Frankreichs an das Bevölkerungswachstum
Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert zu verpassen (vgl. Feldmann/Fuchs-Heinritz 1995, S.
9). Mehr noch vermuten sie, dass sich am Vorhaben des Selbstmords die Legitimationsfunktion
der Soziologie für den Nationalstaat zeigt (ebd., S. 15). Steven Lukes zufolge zeigt sich durch
Durkheims Engagement die Rolle der Soziologie als sozialer Pathologie (vgl. Lukes 1999,
S.194).
194 3 Émile Durkheims Welt
das bedeutet, er will die Daten der Selbstmordraten im Hinblick auf diejenigen
Faktoren auswerten, auf die sich der Selbstmord nur als ein Effekt unter anderen
zurückführen lässt. Mit anderen Worten: Die praktischen Empfehlungen will er
an bestimmte Ursachen des Selbstmords knüpfen, nur ist dieser lediglich eine der
Folgen, anhand derer sich die „kollektive Krankheit“ (ebd.) offenbart.
Es ist nunmehr nicht unbegründet, dass der Selbstmord auch diesem Anlie-
gen Durkheims einen Dienst erweist, da ihn vorrangig nicht das nächstliegende
Motiv des Suizidanten, sondern der kausale Kette für regelmäßige Selbstmorde
interessiert. Anders ausgedrückt: Erst der Nachweis über die Belanglosigkeit des
Suizidanten auf der einen Seite und die Sonderung der sozialen Faktoren auf der
anderen Seite, die für den Selbstmord unverzichtbar sind, schaffen überhaupt die
Voraussetzung dafür, an der Selbstmordrate den Zustand der sie betreffenden
Gruppe abzulesen. Wenn also der Selbstmord im Ursprung sozial verschuldet ist,
dann kann die Selbstmordrate über das Befinden der sozialen Bedingungen in-
formieren, die vom Suizidanten unabhängig sind. Wenn man einzig den unmit-
telbaren Anlass eines Individuums berücksichtigt, das sich zum Freitod ent-
schließt, wird man sich die Analyse all derjenigen Bedingungen verschließen,
die es mit anderen Suizidanten aber auch mit den Lebenswilligen gemeinsam
hat. Die sozialen Ursachen, denen sich die Selbstmorde verdanken, sind nicht
nur tödlich, sondern ziehen, so Durkheim, auch andere, nämlich desintegrative
Folgen nach sich (ebd., S. 377).
Indem er den sozialen Ursachen des Selbstmords nachgeht, kann er sich die
Selbstmordrate nützlich machen, so dass sie ihm den Weg für die Krisendiagno-
se moderner Gesellschaften ebnet. Sieht man den einzelnen Selbstmord als ein
endgültiges Resultat einer Folge von Ereignissen, dann lassen sich diese hin-
sichtlich der Menge aller in einem Jahr verübten Selbstmorde nicht isolieren, da
sie in einem Zusammenhang stehen. Mit der Selbstmordrate, die für die Wohn-
bevölkerung eines Landes jährlich erhoben wird und durch deren Erhebung so-
mit die Grenzen einer Gruppe festgelegt werden, kann man also Angaben über
den Stärke- oder Schwächegrad der sozialen Selbstmordursachen machen, die
nicht nur auf den Einzeltäter, sondern auf die demographisch erfasste Gruppe
insgesamt wirken (ebd., S. 346).
Wie aber erschließt sich für Durkheim jenes allgemeine Unbehagen? An der
Selbstmordrate will er ablesen, wie es um die moralische Ordnung moderner
Gesellschaften bestellt ist. Entscheidend hierfür ist der Wandel in der Bewertung
des Selbstmords, denn er kollidiert mit einer Güte, die der moderne Mensch als
ehrwürdig erachtet und die ihn und Seinesgleichen im Falle ihrer Verletzung
zueinander führt. Durkheim legt dies frei, indem er hinsichtlich der gewandelten
Bewertung des Selbstmords auf einige Studien zurückgreift. Ihnen entnimmt er
Folgendes: Während man sich in der Antike nur dann in Schwierigkeiten bringen
konnte, wenn man sich ohne Genehmigung das Leben nahm, lehnen die drei
monotheistischen Religionen den Selbstmord seit jeher ab (ebd., S. 382 ff.). Die
3.4 Die integrative Kraft des Selbstverzichts (Der Selbstmord) 195
Missbilligung des Selbstmords nimmt, ihm zufolge, mit der Entwicklung des
Schutzes für das Individuum zu. Sie steht im Widerspruch mit der religiösen
Pflicht zum Selbstmord, der man nicht selten in polytheistischen Religionen be-
gegnet. Wo diese Maxime gilt, wo man sich also mit dem Gebot konfrontiert
sieht, das eigene Leben zum Gegenstand religiöser Darbringung zu machen, da
ist folglich die Eigenständigkeit des Individuums nur gering ausgebildet. Der
Selbstmord gehört in diesem Fall zu den moralischen Vorschriften und somit ist
das Leben des Einzelnen minderwertig (ebd., S. 429.). Stattdessen wird der
Selbstmord dort geächtet, wo der Wert der Menschen an sich gilt, und der ist
dort gewachsen, wo die Rechte des Einzelnen gegenüber dem Herrschaftsver-
band zunehmen. „Darum kommt uns jedes Attentat auf ihn wie eine Gottesläste-
rung vor. Und der Selbstmord ist eines dieser Attentate“ (ebd., S. 391). Insge-
samt stellt Durkheim fest, dass der Selbstmord, je weiter man in der Geschichte
fortschreitet, zunehmend abgelehnt wird. Er wird in modernen Gesellschaften
insbesondere deswegen gegeißelt, weil er mit einer transzendenten Orientierung
in Widerspruch steht, die von den Folgen des rationalen Denkens verschont ge-
blieben ist, nämlich dem Kult des Individuums. Man darf dieses Ideal nicht mit
einem Freibrief für das eigennützige Wohl verwechseln, denn was verehrt wird,
ist der „Mensch schlechthin“ (ebd., S. 395). In modernen Gesellschaften, zu de-
ren Kennzeichen die Ausdifferenzierung des Urteilsvermögens gehört, bleibt nur
wenig übrig, über dessen Ehrwürdigkeit sich allesamt einig sind. Das gelingt, so
Durkheim, der Idee über die Würde des Einzelnen an sich, deren Transzendenz
sich insofern zeigt, als sie nicht nur gegen die moderne Heterogenität der Über-
zeugungen ankommt, sondern auch den Selbstverzicht und die Einsatzbereit-
schaft der Menschen für die Unversehrtheit des menschlichen Lebens herbeiführt
(vgl. Durkheim 1986b, S. 62 f.). Die Heiligkeit des Menschen an sich berechtigt
den Einzelnen also nicht, das machen zu können, was ihm beliebt, sondern sie
veranlasst ihn zugunsten der Heiligkeit der Person, von der privaten Orientierung
abzulassen, die bloß das eigene Wohl bezweckt. Was das menschliche Leben
gefährdet, die Handlungsfreiheit und die Rechte des Individuums einschränkt
oder das individuelle Ansehen verletzt und herabmindert, wird zunehmend miss-
billigt. Aus diesem Rest an gemeinsamen Glauben in modernen Gesellschaften
erklärt sich, ihm zufolge, warum der Selbstmord moralische Vorstellungen ver-
letzt. Wenn der Kult des Individuums eine der Stützen der moralischen Ordnung
in modernen Gesellschaften bildet, dann wird derjenige missbilligt, der andere
oder sich umbringt (vgl. Durkheim 1973, S. 394).
„Unter diesen Umständen wird der Selbstmord naturgemäß zu einer unmoralischen
Handlung; […]. Die Gesellschaft ist verletzt, weil das Gefühl, auf dem heute ihre
höchstgeachteten Morallehren beruhen, die fast das einzige Bindeglied zwischen ih-
ren Angehörigen sind, beleidigt wurde, und weil es geschwächt würde, wenn eine
solche Beleidigung in voller Freiheit geschehen könnte“ (ebd., S. 396).
196 3 Émile Durkheims Welt
Der von ihm konstatierte Krisenzustand lässt sich nun wie folgt ermitteln: Ist die
Selbstmordrate ungewöhnlich hoch105, so ist die moralische Ordnung der Gesell-
schaft geschwächt. Das Kollektivgefühl, das den Menschen an sich betrifft, ver-
sagt, da die gefürchtete Missbilligung für den Einzelnen immer weniger zum
Hindernis wird, sich das Leben zu nehmen. Für die Tat des Suizidanten macht
sich sogar Verständnis breit, wenn auch die Lebenswilligen von den sozialen
Bedingungen betroffen sind, in deren Schatten der Selbstmord steht (ebd., S.
440).
Der regelmäßige Freitod unterstützt also Durkheims Vorhaben, einen
Schlüssel zu finden, der ihm die Ursachen für die spezifischen Probleme moder-
ner Gesellschaften eröffnet. Voraussetzung hierfür ist der Nachweis darüber,
dass es hinsichtlich der Kausalität berechtigt ist, von der unmittelbaren Veranlas-
sung des Suizidanten abzusehen und stattdessen die überindividuellen Bedin-
gungen zu berücksichtigen. Die sozialen Ursachen, die regelmäßige Selbstmorde
herbeiführen, haben nicht nur sie, sondern auch anderes zur Folge. Hiervon ver-
spricht sich Durkheim Belehrung darüber, welchen Bedingungen sich die gesell-
schaftliche Krise verdankt. Dass sie sich abspielt, ergibt sich zwar aufgrund der
außergewöhnlich hohen Selbstmordrate, deren starkes Abweichen vom langfris-
tigen Mittelmaß verschiedener Länder er als einen Indikator erachtet, da dies mit
der Heiligkeit der Person in Widerspruch steht, nur ist es seine Absicht, auch die
Ursachen der Krise zu entdecken, denn für solche Erkenntnisse ist die bereits
festgestellte Unvereinbarkeit der maßlos vielen Selbstmorde nicht ausreichend.
Dieses Anliegen ist es, das neben dem naturgemäßen Hindernis, die Merkmale
regelmäßiger Selbstmorde an den Suizidanten abzulesen, Durkheim den Anstoß
für ein ätiologisches Vorgehen gibt, bei dem er den Selbstmord anhand von Ähn-
lichkeiten und Unterschieden seiner Ursachen klassifiziert (ebd., S. 154.). Er
konstruiert vier Typen. Der Freitod wird dadurch verschuldet, dass: a) das Indi-
viduum ausschließlich satt an sich und stumpf ist; b) die Selbstlosigkeit eine
tödliche Höchstleistung erreicht; c) die Ruhelosigkeit jegliches ergebnisorientier-
te Handeln verhindert und d) die Aufsicht über die Verhaltensvorgaben jegliche
Initiative ersticken.
Egoistischer Selbstmord: Für den ersten Typus untersucht er Zusammen-
hänge zwischen jeweils Religion, Familie und Politik einerseits und dem Schutz
vor und der Neigung zum Selbstmord andererseits. Durkheim nimmt sich aus
mehreren Selbstmordraten die gesonderten Werte für Angehörige verschiedener
Konfessionen vor, er greift ferner auf alters- und geschlechtsspezifische Daten
für Junggesellen sowie Verheiratete und Verwitwete mit und ohne Kind zurück
105 Durkheim nennt die Steigerung folgender Selbstmordraten: 411% in Preußen zwischen 1826-
1890, 385 % in Frankreich zwischen 1826-1888, 318% in Österreich zwischen 1841-1845 und
1877, 238% in Sachsen zwischen 1841-1875, 212% in Belgien zwischen 1841-1889 und 72%
in Schweden und 35% in Dänemark zwischen 1841 und 1871-1875 (vgl. Durkheim 1973, S.
434).
3.4 Die integrative Kraft des Selbstverzichts (Der Selbstmord) 197
106 Im Jahr 1876 kommt in England ein Priester auf 908 Gläubige, in Ungarn einer auf 923, in
Holland einer auf 1100, in Dänemark einer auf 1300, in der Schweiz 1 auf 1440 und in
Deutschland 1 auf 1600 (ebd., S. 173).
198 3 Émile Durkheims Welt
tismus und eine niedrige Selbstmordrate auf. Der Analphabetismus der Frauen
ist in Italien, Frankreich, Preußen und England weiter verbreitet als auf Seiten
der Männer. Zugleich bringen sich diese in den jeweiligen Ländern häufiger um
als Frauen. In den italienischen Provinzen und französischen Departments nimmt
man sich dort seltener das Leben, wo der Analphabetismus verbreitet und die
Bildungsbereitschaft gering ist. Betrachtet man die Berufsgruppen, so ist die
Selbstmordanfälligkeit in Frankreich, Italien, Preußen und Bayern unter den Bil-
dungserfolgreichen am höchsten. Umgekehrtes spielt sich auf Seiten der Juden
ab, deren Selbstmordrate im Allgemeinen gering ist, obwohl sie einen hohen
Grad an Bildungsbereitschaft aufweisen.
Die konfessionsbezogenen Daten ergeben zunächst Folgendes: Protestanten
neigen stärker zum Selbstmord als Katholiken und Juden. Die Selbstmordanfäl-
ligkeit der Protestanten ist aber dort gering, wo die Autoritäten der Konfession
stark vertreten sind. Und schließlich zeigt sich an Erhebungen, die die Bildung
betreffen: Der Analphabetismus ist weniger lebensgefährlich als die Bildungsbe-
reitschaft, die auf Seiten der Protestanten besonders hoch ist. Allerdings bilden
die bildungsbereiten und weniger selbstmordgefährdeten Juden eine Ausnahme.
Als zweites die Familie. Sind Männer und Frauen ledig, verheiratet oder
verwitwet und haben sie zudem Nachwuchs in die Welt gesetzt, so neigen sie
mal mehr und mal weniger zum Selbstmord. Das gegenüber dem Junggesellen-
dasein zwar sorgenreichere Leben in Familie und Ehe ist weniger lebensgefähr-
lich. Hierfür sprechen die französischen Selbstmordraten für die Jahre 1848 bis
1857 (ebd., S. 188): Je Millionen Einwohner bringen sich 112 Junggesellen und
69 Verheiratete um. Ähnlich verhält es sich in Italien in den Jahren 1873 bis
1877, wo 121 tote Junggesellen 75 toten Verheirateten gegenüberstehen. Genau-
ere Aussagen generiert Durkheim auf der Grundlage von Daten über Junggesel-
len, Verheiratete und Verwitwete nach Alter und Geschlecht, mit denen er Ver-
gleiche hinsichtlich des Schutzes für eine der Gruppen gegenüber den beiden
anderen Gruppen gleichen Alters vornimmt (ebd., S. 194 ff.). Die Ergebnisse
lauten: a) Frühe Ehen gefährden den Ehemann mehr als die Ehefrau. b) Die
Selbstmordgefahr verringert sich bei Männern und Frauen, die ab dem 20. Le-
bensjahr heiraten. c) Die Selbstmordanfälligkeit von verheirateten Männern und
Frauen ist je nach Gesellschaft unterschiedlich. d) Verwitwete sind geschützter
als Junggesellen und gefährdeter als Verheiratete, nur schlägt auch in diesem
Fall das Pendel je nach Gesellschaft für die beiden Geschlechter unterschiedlich
aus.
Im nächsten Schritt kommen Daten über den Einfluss der Familie zum Ein-
satz. Was sie besagen, ist: Für die Jahre 1887 bis 1891 lässt sich den französi-
schen Selbstmordraten entnehmen, dass verheiratete Frauen einen geringeren
Vorteil vom Schutz der Ehe ziehen als die verheirateten Männer gleichen Alters.
Durkheim folgert daher, dass von der Ehe keine hemmende Wirkung auf die
Selbstmordanfälligkeit ausgeht, und dafür spricht auch der konstante Wert der
3.4 Die integrative Kraft des Selbstverzichts (Der Selbstmord) 199
107 Die relative Immunität vor dem Selbstmord auf Seiten derjenigen, die sich den Verpflichtun-
gen der Familie hingeben, lässt sich auch jüngeren Erhebungen entnehmen (vgl. Feldmann
2010, S. 184).
200 3 Émile Durkheims Welt
keine Schwierigkeiten damit hat, in Gedanken über sich selbst zu versinken, statt
seinen Teil an der Geltung von Verhaltenvorgaben beizutragen und sich ihnen
hinzugeben. Nur reicht der Einzelne nicht aus, um Geltungsschwund zu bewir-
ken. Im Einzelnen bedeutet das Folgendes: Die Hypothese über die besondere
Bereitschaft zum Freitod, die sich aus dem Protestantismus an sich ergibt, ver-
wirft er, und zwar nicht nur deswegen, weil der Selbstmord von allen monotheis-
tischen Religionen, also auch von der protestantischen Kirche nicht gebilligt
wird, sondern auch weil die Selbstmordrate dort relativ niedrig ist, wo der Pro-
testantismus besonders stark ist (ebd., S. 167), nämlich in England. Hingegen
geht er zwei anderen Hypothesen nach: Zum einen ist die Bildungsbereitschaft
dann hoch, wenn überlieferte Verbindlichkeiten schwach sind und zum anderen
verlaufen Selbstmordanfälligkeit und Bildungsbereitschaft gleichgerichtet (ebd.,
S. 174). Seine Absicht ist es, eine Verbindung zwischen der Geltung von Verhal-
tensregeln und der Selbstmordrate aufzudecken und somit zu leugnen, dass eine
spezifische Konfessionszugehörigkeit zum Freitod treibt. Einen Zugang hierfür
eröffnet er sich durch das Merkmal, das die beiden großen Konfessionen vonei-
nander trennt. Weil er die besondere Betroffenheit der Protestanten ohnehin aus-
schließlich aus dem statistischen Vergleich zwischen ihnen und den Katholiken
nur innerhalb eines Landes und dem in dieser Hinsicht in verschiedenen Ländern
mehrfach gleichen Ergebnis behaupten kann, geht er von dem aus, was durchge-
hend zwischen ihnen verschieden ist, und das ist: das „freie Nachdenken“ auf
Seiten der Protestanten. Zwar ist in beiden Konfessionen die eigenständige Reli-
giosität gewünscht, nur zeichnet es den Katholizismus aus, dass er über einen
hierarchisch intakten Klerus und ausreichend Amtspersonen verfügt, die den
eigenständigen Glauben leiten. Im Verhältnis dazu sieht sich der Protestant mit
der Aufforderung zur eigenen Auslegung des Glaubens konfrontiert und man
findet ihn häufiger in klerikal unabhängigen Sekten wieder (ebd., S. 169).
Die hohe Selbstmordanfälligkeit der Protestanten führt Durkheim auf die
stärker erlaubte Eigenständigkeit und die dadurch bewirkte Unzulänglichkeit der
konfessionellen Orientierungsvorgaben zurück, nur reicht es nicht aus, den ur-
sächlichen Zusammenhang aus dem Wesen des reformierten Glaubens zu er-
schließen. Anders ausgedrückt: Das freie Nachdenken ist nicht vorschriftsmäßig
bewirkt, d.h. die Aufforderung des Protestantismus genügt hierfür nicht als
Grund. An der empirisch erwiesenen Bildungsbereitschaft der Protestanten, die
sich sogar auf Seiten der einkommensschwachen Konfessionsangehörigen auf-
finden lässt, liest er zwar das hohe Ansehen der Bildung ab, nur liegt das deswe-
gen vor, weil das Ansehen überlieferter Orientierungsvorgaben schwach ist. Ihre
Erschöpfung verschuldet die von Protestanten favorisierte Bildung, was wiede-
rum besagt, dass, so Durkheim, nicht der Protestantismus der Schöpfer des freien
Nachdenkens ist. Die Attraktivität der Entscheidungsfreiheit trägt ebenfalls nicht
die Schuld, d.h. der voraussehbare Effekt des freien Nachdenkens ist nicht sein
3.4 Die integrative Kraft des Selbstverzichts (Der Selbstmord) 201
Die statistischen Erhebungen, aus denen die hohe Bildungsbereitschaft der Pro-
testanten hervorgeht, lassen somit erkennen, dass die kollektiv geteilten Glau-
bensvorstellungen schwach ausgebildet sind. Die Orientierungsnot des Protestan-
ten steht in einem Verhältnis mit seiner Bildungsbereitschaft und Durkheim er-
schließt daraus dessen besondere Selbstmordgefährdung. Umgekehrt verhält es
sich in England, wo der protestantische Klerus stärker, die Bildungsbereitschaft
geringer und die Selbstmordrate niedriger als in Sachsen und Preußen ist und wo
wiederum die Werte für Bildung und Selbstmord den berücksichtigten katholi-
schen Ländern am nächsten sind. Anderes spielt sich auch im Fall der Juden ab,
die nicht nur überall geringe Werte in den Selbstmordraten, sondern auch eine
hohe Bildungsbereitschaft aufweisen. Letzteres sollte die Integrationskraft des
Judentums mindern, allerdings ist sie stark, und zwar weil Juden allseits von
Animositäten und Ausgrenzung betroffen sind, was die Dichte des sozialen Han-
delns innerhalb der Konfession verstärkt und somit der Geltung überlieferter
Vorschriften zuträglich ist (ebd., S. 171). Das Judentum ist zwar von Intoleranz
betroffen, nur fördert das die Integration. Anstatt also, dass die einzigartige Be-
nachteiligung die Anfälligkeit dafür verstärkt, sich das Leben zu nehmen,
schwächt sie das Selbstmordrisiko (ebd., S. 181), so dass Durkheim insgesamt
schlussfolgert: Es ist die Integrationskraft, die im umgekehrten Verhältnis zur
Selbstmordanfälligkeit steht.
Sind Verhaltensregeln stark, so herrscht weniger Entscheidungsfreiheit und
man begeht seltener Selbstmord, der aber nicht in ihr seinen Grund hat, sondern
in der geringen Integrationskraft, die aus dem Anstieg der Entscheidungsfreiheit
resultiert. Der Protestantismus an sich führt nicht ohne Umschweife zum
Selbstmord, sondern es ist die schwache Bereitschaft, sich kollektiven Vorstel-
lungen hinzugeben, und sie ist dann gering ausgebildet, wenn es vor allem dem
Individuum überlassen ist, den Glauben auszulegen. Anders verhält es sich im
Falle von Konfessionen mit großer Integrationskraft:
„Der wohltätige Einfluss der Religion ist also nicht auf den besonderen Charakter
der Heilslehre zurückzuführen. Wenn sie den Menschen schützt vor dem Drang der
Selbstzerstörung, dann nicht weil sie ihm mit Argumenten sui generis die Achtung
vor seiner eigenen Person predigt, sondern weil sie eine Gemeinschaft ist. Grund-
pfeiler dieser Gemeinschaft ist die Existenz einer bestimmten Zahl von Dogmen und
Praktiken, die allen Gläubigen gemeinsam, traditionell geworden und damit ver-
pflichtend sind“ (ebd., S. 184).
Wenn Durkheim feststellt, dass es nicht einer besonderen Konfession eigentüm-
lich ist, das Leben zu schützen oder zu gefährden, sondern sich die (konfessio-
nelle) Integrationskraft an sich auf den individuellen Lebenswillen auswirkt,
dann muss dieser Effekt auch von der Familie und der Politik ausgehen. An der
Familie zeigt sich, dass Verantwortung für andere den Einzelnen schützt. Die
Vergleichswerte für Männer und Frauen offenbaren, dass hinsichtlich des Schut-
3.4 Die integrative Kraft des Selbstverzichts (Der Selbstmord) 203
zes vor Selbstmord beide von einer fruchtbaren Ehe profitieren und selbst als
Witwer oder Witwe jeweils mit Nachwuchs einem geringeren Risiko ausgesetzt
sind, als es Verwitwete ohne Kind oder Unverheiratete sind. Schließlich tritt der
Zusammenhang aus dem umgekehrten Verhältnis von Familiendichte und
Selbstmordanfälligkeit in ein und demselben Department hervor. Wer die Sorge
für eine Familie tragen muss, der ist zwar mehr belastet als jemand im Jungge-
sellendasein, nur schützt diese Last eher, als dass sie den Verzicht auf das eigene
Leben hervorruft (ebd., S. 222). Die Sorglosigkeit ist in dieser Hinsicht lebens-
gefährlicher als die Sorge.
Vor allem aufgrund des ungleich stärkeren Schutzes der Familie im Ver-
gleich zur kinderlosen Ehe folgert Durkheim, dass die Wirksamkeit auf den indi-
viduellen Lebenswillen von der Dichte eines Kollektivs ausgeht. Die Geltungs-
kraft kollektiver Vorstellungen steht in einem Verhältnis zur Anzahl der Ange-
hörigen eines Kollektivs, wobei es dabei zu einem Anstieg der Intensität der so-
zialen Handlungen kommt, die auf das Individuum wirken.108 Von der Dichte
und nicht vom Volumen geht eine Wirkung auf die Geltung aus, denn mit den
sozialen Handlungen untereinander ist der Nachdruck verbunden, der auf und
von kollektiven Vorstellungen und somit auf die bestimmte Integrationskraft
eines Kollektivs wirkt. Das spielt sich im Falle politischer Leidenschaften und
im Besonderen derer, die punktuell ausbrechen, besonders intensiv ab. Ein Er-
eignis politischer Natur führt zu einem unmittelbaren Anstieg der Dichte, und
zwar insbesondere deswegen, weil sie oppositionell bewirkt ist und es mehr als
sonst erforderlich macht, kollektive Vorstellungen vorrangig gegenüber eigenen
Interessen zu behandeln (ebd., S. 231).
Im Ganzen resultiert der egoistische Freitod aus maßlosem Selbstbezug
und, komplementär dazu, laxer Integrationsbereitschaft. Für das Erstgenannte ist
das ein Hindernis, was zwischen Religion, Familie und Politik den gemeinsamen
Nenner bildet. Der Suizidant ist mit sich selbst beschäftigt und nimmt abseits der
eigenen Person wenig wahr, weil „[…] die äußere Welt in nicht anzieht“ (ebd.,
S. 332). Vor allem seine Anerkennung für Verhaltensregeln leidet darunter,
wenn in seinem Denken er selbst privilegiert vorkommt. 109 „Insofern“, schreibt
Durkheim, „ist jede Aktivität altruistisch, denn sie geht vom Ich weg und steckt
die Grenzen weiter als bis zur eigenen Person“ (ebd., S. 321). Orientierungsnot
und Selbstbezug treten also in der folgenden Hinsicht gepaart auf: Orientierung
und somit soziale Ordnung an sich werden nicht rein von Seiten des Individuums
geschöpft, und das wiederum bedeutet, wer die Anerkennung von Orientierungs-
vorgaben der exklusiven Sorge um sich preisgibt, dem geht auch der Ansporn für
108 Zu Durkheims Deutung der Intensität kollektiver Gefühle in der Familie vgl. auch König 1978,
S. 222.
109 In einer Vorlesung äußert er sich wie folgt dazu: „We feel better, and we´re better able to resist
various distractions, when our lives are guided by a powerful motive. This explains the signifi-
cance of moral hygiene for our health“ (Durkheim 2004, S. 287).
204 3 Émile Durkheims Welt
sein Handeln ab und der wird immer weniger dazu in der Lage sein, soziale und
also auch seine Ziele zu erreichen, da sie ihm abhanden kommen. Der Selbstbe-
zug bewirkt dann nicht nur Erfahrungsarmut, sondern diese wird folglich zu des-
sen Gegenstand. Mit anderen Worten: Wer vorrangig über sich selbst nachdenkt,
reduziert seine Handlungserfahrung, die in den Vordergrund seines Nachdenkens
rückt. Wer hingegen den sozialen Drang akzeptiert und sich der sozialen Auf-
sicht aussetzt, den Eigennutz überschreitende Ziele zu befolgen, der hindert sich
dadurch in maßlosen Selbstbezug zu verfallen, dass er mindestens darauf be-
dacht ist, Beanstandungen seines Verhaltens zu vermeiden. Darüber hinaus wird
er es nicht nur leichter haben, alltägliche Anstrengungen zu erfüllen, sondern
aufgrund der moralischen Dichte, an der er beteiligt ist, wird es ihm erspart blei-
ben, im Falle einer Not auf keinerlei Hilfe bauen zu können (ebd., S. 233) oder
außer sich keinen anderen Gegenstand zu haben, auf den er seine Aufmerksam-
keit richten kann (ebd., S. 322).
Durkheim kennzeichnet daher diesen Typus des Selbstmords als egoistisch,
weil für ihn Folgendes gilt: Sinn, der nicht das Physische des Individuums be-
trifft, ist im Ursprung sozial. Der Selbstbezug mindert auf Seiten des Individu-
ums die Geltungskraft der überindividuellen Ziele, was unweigerlich die Sinnlo-
sigkeit des Lebens hervortreten lässt. Werden die Ziele belanglos, bleiben dem
Individuum keine übrig und selbst kann es zwar Ziele erfinden, nur wird es ihnen
keine Geltung verleihen können. Für lebensgefährlich erachtet er aber nicht das
Fehlen dieser Ziele, sondern deren Einbuße, und das erklärt er wie folgt: Zum
„Doppelwesen“ Mensch (ebd., S. 237) gehören auf der einen Seite die Bedürf-
nisse, die sich dem physischen Leben des Individuums zuordnen lassen und de-
nen man sein Handeln widmet. Auf der anderen Seite zählt Durkheim jegliche
Kulturarbeit dazu, genauer:
„Die Funktion von Kunst, Sitte, Religion, politischer Überzeugung und der Wissen-
schaft selbst ist nicht, die Abnutzung der Organe auszugleichen oder ihr gutes Ar-
beiten zu gewährleisten“ (ebd., S. S. 235).
Kulturarbeit leistet der Mensch, wenn er seine Anstrengung nicht hinsichtlich
seiner physischen Belange ausrichtet, d.h. sie verdankt sich nicht den Zwängen
der Natur, sondern er vollbringt sie im Hinblick auf etwas, das sich aus dem So-
zialen speist. Weil sie nicht dem Individuum einen Dienst erweist, bleibt nur
noch das Soziale als ihr Zweck übrig. Überindividuelle Ziele sind demnach sozi-
ale Schöpfungen und sollen das Soziale erhalten. Ihre Befolgung zahlt sich für
das Individuum mit Achtung (ebd., S. 236) und Verbundenheit aus. Vor allem
diese lässt sich nur durch das Handeln für Ziele hervorrufen, die Durkheim der
ersten und nicht der zweiten Seite zuordnet (ebd., S. 235). Anders ausgedrückt:
Es sind die vom Sozialen kreierten Ziele und nicht die mit der individuellen Phy-
sis verbundenen, denen sich Solidarität überhaupt verdankt. Damit sie das Indi-
viduum befolgt, reicht der Lohn nicht aus und die Bereitschaft lässt sich eben-
3.4 Die integrative Kraft des Selbstverzichts (Der Selbstmord) 205
falls nicht durch physischen Zwang auslösen. Stattdessen beruht die Unterord-
nung auf dem Ansehen des Sozialen. Die schöpfende Instanz der überindividuel-
len Ziele, also das Soziale muss im Denken dessen, der die Orientierungsvorga-
ben einhält, als rechtmäßig gelten. Man ordnet sich den überindividuellen Zielen
unter, sofern man das Prestige der Instanz anerkennt, welche die Ziele erfunden
hat und der sie nützen. Anders kann Durkheim die folgende Frage nicht beant-
worten:
„Wozu alle moralischen Gesetze, diese Rechtsvorschriften, die uns alle möglichen
Opfer auferlegen, diese Dogmen, die uns im Weg sind, wenn es nicht außerhalb des
eigenen Ich ein Wesen gibt, dem sie dienen und mit dem wir uns verbunden fühlen“
(ebd., S. 236).
Mit der Anerkennung einer Instanz, deren Macht man über die eigene stellt, ge-
lingt es, den Eigennutz gegenüber Zielen, die nicht die eigene Person betreffen,
in den Hintergrund zu rücken. Der Sinn dieser Bereitschaft, so Durkheim, ist
ebenfalls das Ansehen der Instanz, denn misst man den Wert der Anstrengung
im Verhältnis zum individuellen Nutzen, so wird sich keine Veranlassung für sie
ergeben, weil sie nur der Instanz nützt. Wer hinter ihr und ihrem Ansehen steht,
ist bereit sich anzustrengen, und das ist insbesondere dann erkennbar, wenn mit
einer Anstrengung nicht einmal ein materieller Nutzen erzielt wird. Sobald man
das Ansehen eines bestimmten Kollektivs nicht mehr als rechtmäßig erachtet,
wird man sich fragen, welchen Sinn die eigene Anstrengung hat. Hört man auf,
das Kollektiv anzuerkennen, so wird man auch die mit ihnen verbundenen Ziele
nicht mehr teilen, und diese Einbuße betrifft die soziale Seite des Doppelwesens.
Ist der soziale Mensch ein Resultat von Handlungszielen, die nicht dessen Erfin-
dung sind, so wird seine soziale Seite beschädigt, wenn er den Erfinder nicht
mehr anerkennt (ebd., S. 237). Auf Seiten des sodann egoistischen Individuums
verschuldet die Einbuße überindividueller Ziele den Selbstbezug, der sich wiede-
rum, Durkheim zufolge, nachteilig auf das Ansehen des Sozialen auswirkt.
Neben dem Selbstbezug machen ihm aber vor allem Entzauberung und ge-
sellschaftliche Krisen zu schaffen, d.h. ist das Individuum davon betroffen, sich
selbst zum Gegenstand seines Nachdenkens zu machen, so trägt es zwar auf die-
se Weise zur Minderung von Integrationskräften bei, aber der Selbstbezug ist
hierfür nicht ursprünglich verantwortlich. Damit die Integrationskräfte der Kol-
lektive geschwächt werden, reicht der Egoismus nicht aus. Weitaus folgeschwe-
rer wirkt sich in dieser Hinsicht, so Durkheim, die Modernisierung der Wissen-
schaft aus (ebd., S. 325). Er bemerkt hierzu: Seitdem die Wissenschaft von der
Idee angetrieben ist, dass es nichts mehr gibt, dessen Geltung übernatürlich und
durchweg gefestigt ist, wird das Zweifeln gefördert. Bedrohlich ist die Moderni-
sierung der Wissenschaft insbesondere deswegen, weil sie zum einen alles in
Zweifel zieht, zum anderen aber nicht in der Lage ist, Kausalzusammenhänge für
die Dinge anzugeben, deren Kausalität man sich einst verbat. In modernen Ge-
206 3 Émile Durkheims Welt
lich der Pflicht zum Selbstmord ausgesetzt sind. Andernfalls drohen Missbilli-
gung oder Strafen. Das wird derjenige, der vor aller Welt von Eifersucht, Betrug
oder Niederlage betroffen ist, zwar nicht erwarten, zur Rettung seines Ansehens
kann er sich aber entscheiden, so wie die vorschriftsmäßigen Selbstmörder zu
verfahren (ebd., S. 249).
Durkheim differenziert den zweiten Typus, für den er die Begriffe obligato-
risch altruistischer Selbstmord einerseits und fakultativ altruistischer Selbstmord
andererseits bereithält (ebd., S. 248 f.). Während jener von denen verübt wird,
die keinerlei Zweifel an der strengen Pflicht zur Tat haben und es nicht zur Dis-
position steht, den Folgen der unterlassenen Pflichterfüllung aus dem Weg zu
gehen, wird dieser Selbstmord zwar im Falle einer Schande ausgeführt, mit der
aber die Tat nicht zwingend verbunden ist. Der freigestellte Selbstmord ermög-
licht also, die Auswirkungen einer Schande auf das individuelle Ansehen zu re-
vidieren oder zu lindern, ihm ist wiederum innewohnend, dass der mindestens
„Diskreditierbare“ (Goffman 1975, S. 56) mit der Minderung des Ansehens le-
ben muss, sofern er sich nicht das Leben nimmt. Der Unterschied beruht, so
Durkheim, auf dem Grad der Erwartung. In beiden Fällen sind die sozialen Be-
dingungen für ehrenvolles Ansehen im Denken der Suizidanten präsent. Aller-
dings ist nicht die Ehre das Wesentliche des altruistischen Selbstmords, sondern
die tatsächliche Opferung des eigenen Lebens für überindividuelle Ziele. Das
wird im Besonderen beim Freitod erkennbar, der wie im Jainismus als religiöse
Übung begangen wird. Was sich in diesem Fall abspielt, ist, so Durkheim, „[…]
Altruismus in reinster Form“ (Durkheim 1973, S. 252). Er nennt dies den über-
spitzten altruistischen Selbstmord,110 weil sich mit ihm offenbart, dass sogar das
eigene Leben der Geltung überindividueller Ziele untergeordnet wird.
Der soldatische Altruismus eröffnet schließlich den Kontrast, der zum
Selbstmord im Schatten der Sinnlosigkeit besteht, denn für die Armee ist es er-
forderlich, dass die Individualität gering ausgebildet ist, während die Bereit-
schaft zu Selbstverzicht und Befolgung von überindividuellen Zielen besonders
vonnöten ist. Ohne Tatkraft und Pflichterfüllung kommt eine Armee nicht aus,
was folglich heißt, „[…] dass die soldatische Laufbahn eine moralische Haltung
entstehen läst, die den Menschen eher dazu bereit macht, sich seines Lebens zu
entäußern“ (ebd., S. 270). Wenn man also eine Sache im Leben des Soldaten
nicht vermissen kann, dann sind das Sinnvorgaben, die ihn davon entlasten, ei-
genständig auf die Suche nach Sinn zu gehen. Für den Militärgeist ist der Altru-
ismus notwendig. Durkheims Vergleiche anhand der quantitativen Daten erge-
ben vor diesem Hintergrund das Folgende: Die höhere Selbstmordrate auf Seiten
110 Zum überspitzt altruistischen Selbstmord gehört der Opfertod, bei dem Suizidanten den Ur-
sprungsmythus ihrer religiösen Gruppe zum Anlass nehmen, um mit ihrer Tat die Rückkehr
zum Ursprung einzuleiten, so dass sich in deren Horizont der Tod nicht als Ausscheiden aus
dem Leben abspielt (vgl. Nassehi/Weber 1989, S. 263).
3.4 Die integrative Kraft des Selbstverzichts (Der Selbstmord) 209
ten von jeweils 51%, 45% und 59%. Die Daten zeigen, dass der Anstieg zügig
vonstatten geht und gleichfalls schnell vergeht. Die Einflüsse auf die Selbstmor-
de sind nicht anders, wenn sich die Wirtschaft in einem unerwarteten und ra-
schen Hoch befindet. Ein Anstieg der Selbstmordrate begleitet den plötzlichen
wirtschaftlichen Aufschwung in Preußen, Italien und Frankreich um bis zu 90%.
Durkheim ergänzt die Verhältnisse zwischen der Selbstmordrate und Krisen ei-
nerseits und Wohlstand andererseits mit Zahlen, die Berufsgruppen betreffen
(ebd., S. 295). In den Ländern Frankreich, Schweiz, Italien, Preußen, Bayern,
Belgien, Württemberg und Sachsen gehören die Selbstmörder vorwiegend den
Berufen aus Handel und Industrie an. Meist sind es Arbeitgeber, die sich in man-
chen Ländern sogar häufiger das Leben nehmen als diejenigen, die in freien Be-
rufen tätig sind. Tote Landwirte sind seltener.
Zu den Ehescheidungen. Durkheim fällt ein Parallelismus zwischen der
Scheidungs- und Selbstmordrate auf, der in vielen Ländern Europas auftritt. Ge-
nauer (ebd., S. 297 ff.): Seltene, mittel häufige und zahlreiche Scheidungen wer-
den von ähnlichen Werten in der Selbstmordrate begleitet. In Preußen, Sachsen,
Baden und Württemberg bringen sich außerdem mehr Geschiedene um, als es
jeweils Junggesellen, Verheiratete oder Verwitwete tun. Wo man ferner wenig
Tote unter den Verheirateten zu beklagen hat, da trifft das auch für die Verwit-
weten zu. Schließlich bringen sich die Verheirateten derjenigen Länder seltener
um, in denen die Scheidungsrate niedrig ist und umgekehrt ist die Zahl der toten
Eheleute dort hoch, wo Scheidungen üblich sind. Der Erhaltungskoeffizient der
Verheirateten gegenüber den Unverheirateten ist insgesamt dort niedrig, wo die
Scheidungsrate hoch ist. Die Gefährdung unterscheidet sich im Übrigen je nach
Geschlecht. Wo die Scheidungsrate hoch ist, da ist die Selbstmordanfälligkeit
unter Männern höher als unter Frauen. Hingegen sind diese eher dort gefährdet,
wo Scheidungen selten sind. Länder mit vielen Scheidungen sind also lebensge-
fährlich.
Der dritte Selbstmordtypus beruht auf Faktoren, die, so Durkheim, denen
des egoistischen Selbstmords dahingehend gleichen, dass sie charakteristisch
sind für moderne Gesellschaften (ebd., S. 442). Was aber die beiden Typen von-
einander unterscheidet, ist die Bereitschaft zur Aktivität, denn im Fall des Egois-
ten wirken Sinnverlust und Antriebslosigkeit gegenseitig aufeinander ein, wäh-
rend Anomie ein Resultat ist, für das Orientierungslosigkeit zwar verantwortlich
ist, ohne dass sie aber die Tatkraft des Individuums negiert.111 Folgenschwere
Änderungen, die ein ganzes Land betreffen, deutet Durkheim ebenso wie den
Parallelismus der Scheidungen und Selbstmorde folgendermaßen, um den ano-
mischen Selbstmord zu erklären.
111 Zur Abhängigkeit der subjektiven Erfahrungsordnung von objektiven, sozialen Sinnzusam-
menhängen und der Entstehung von Anomie vgl. auch Peter Berger 1988, S. 22.
212 3 Émile Durkheims Welt
112 In dem hinsichtlich der Bedingungen von Anomie hergestellten Zusammenhang zwischen der
regulierenden Funktion der Ehe und dem enthemmenden Effekt der Scheidung sieht Edward
A. Tiryakian die von Durkheim aufgedeckte problematische Natur der Sexualität, die auf der
einen Seite für die Reproduktion von Gesellschaft erforderlich ist und von der auf der anderen
Seite eine Gefahr für die soziale Ordnung ausgeht (vgl. Tiryakian 2009, S. 221).
3.4 Die integrative Kraft des Selbstverzichts (Der Selbstmord) 213
„Daher bilden die Selbstmorde von Ehemännern, die in Ländern mit hoher Schei-
dungsziffer die Zahl der Selbstmorde ansteigen lassen, eine Variante des anomi-
schen Selbstmordes. Sie geschehen nicht deswegen, weil es in diesen oder jenen Ge-
sellschaften mehr schlechte Ehemänner oder mehr schlechte Ehefrauen gibt und da-
rum mehr unglückliche Ehen. Sie entstammen einer moralischen Verfassung sui ge-
neris, deren Ursache ihrerseits wieder ein Nachlassen der ehelichen Normen ist“
(ebd., S. 314).
Der unangemeldete Einschnitt in die Geltung von Verhaltensregeln wirkt sich
gleichgerichtet auf die Selbstmordanfälligkeit aus: Der Verlust von Beschrän-
kungen belastet die Sinnhaftigkeit der Tatkraft. Wenn es zu unverhofften Krisen
und Reichtum kommt, ist das nicht anders. Insbesondere der Abbau von Regulie-
rungen für das Wirtschaftsleben, die dem Wohlstand untergeordnet werden, hat
anomische Effekte und die Ruhelosigkeit des ungebremsten Handelns in der
Wirtschaft gewinnt an sozialer Geltung.113 Die Tatkraft ist in der modernen
Wirtschaft immer weniger limitiert, was, so Durkheim, im Falle von einschnei-
denden Unregelmäßigkeiten die Orientierungslosigkeit verstärkt. Dies macht er
für die verzeichnete Vermehrung der Selbstmorde während wirtschaftlicher Un-
regelmäßigkeiten geltend.
Anders als beim egoistischen Selbstmörder bringt es die Orientierungslo-
sigkeit nicht mit sich, dass dem Suizidanten durch seine phlegmatische Verfas-
sung nichts außer sich selbst übrig bleibt. Der anomische Selbstmörder ist hinge-
gen tatkräftig, nur ist er davon betroffen, dass die Ziele seiner nimmermüden
Emsigkeit immerfort austauschbar sind. Die Unersättlichkeit hat anomische Ef-
fekte, und zwar aus folgenden Gründen: Das Individuum kann nicht allein und
von sich aus für die eigene Zufriedenheit sorgen und die Gründe für Zufrieden-
heit, die es überschreiten, muss man berücksichtigen, wenn man der Anomie
nachgeht. Durkheim wird es erst dann möglich sein, die Bedingungen der Ano-
mie offen zu legen, wenn er zuvor erklärt, unter welchen Bedingungen das Indi-
viduum durch seine Tatkraft zur Zufriedenheit gelangt. Das Ergebnis wird lau-
ten: Ist es zufrieden, so ist die Integration nicht gefährdet. An ein wirtschaftli-
ches Hoch oder eine Scheidung auf der einen Seite und an eine wirtschaftliche
Krise auf der anderen Seite schließen sich plötzlicher Reichtum oder Enthem-
mung des Trieblebens oder ein Mehr an Entbehrungen an, was sich aber trotz der
Gegensätzlichkeit dieser Folgen jeweils nachteilig auf die Zufriedenheit und, den
Daten der Selbstmordraten zufolge, auf den Lebenswillen auswirkt. Das lässt
erkennen, dass die Sorglosigkeit weder Zufriedenheit schafft, noch das Leben
erhält.
113 Passend dazu Robert K. Merton: „Bei derart fließenden Standards [nämlich das unbestimmte
Maß des finanziellen Erfolgs; C.A.] gibt es keinen festen Ruhepunkt bzw. liegt dieser Punkt
eben immer `eine Nasenlänge voraus´“ (Merton 1995, S. 132).
214 3 Émile Durkheims Welt
Der anomische Selbstmörder ist von seiner Tatkraft belastet, die er keiner
Sinnhaftigkeit unterordnet. Die Tatkraft wird zur Beschwerde, wenn das Indivi-
duum keine festen Ziele hat, auf die es sie kanalisieren kann. Wie dem Egoisten
steht ihm nichts außer sich selbst zur Verfügung, auf das er rekurrieren kann,
wenn er der eigenen Tatkraft ein Ende setzen will. Der Egoist leidet aber darun-
ter, dass ihn die fehlende Orientierung daran hindert, sich überhaupt zu mobili-
sieren. Ist es hingegen nicht möglich, die lebendige Tatkraft auf Ziele zu kanali-
sieren, so ist sie unbegrenzt. Die fehlende Regulierung schafft Anomie. Folglich
wird sich das Individuum zu Handlungen hinreißen lassen, ohne auf die dafür
erforderlichen Mittel zurückgreifen zu können und ihm wird die Erfahrung ab-
gehen, ein Ziel erreicht zu haben (ebd., S. 278). Ziele werden andauernd ersetzt
und somit kontinuierlich nivelliert. Wem die festen Ziele für seine Handlungsbe-
reitschaft fehlen, der ist langfristig aktiv, kann sich aber hierfür keinen Sinn ver-
gegenwärtigen und ihm fehlt es, in die eigene Vergangenheit zu schauen, mit der
er sich einen erzielten Erfolg vor Augen führen kann. Schließlich fehlt ihm das,
auf dessen Grundlage er das eigene Ansehen aufbessern kann. Ruhelosigkeit
begleitet die Tatkraft. „Es ist da ein Hunger nach neuen Dingen, nach unbekann-
ten Genüssen, nach Freuden ohne Namen, die aber sofort ihren Geschmack ver-
lieren, sobald man sie kennen lernt“ (ebd., S. 293). Also: Fehlen Grenzen für die
Tatkraft, so ist weder die Schätzung der zu investierenden Mittel noch ein Er-
folgserlebnis möglich. Die nicht aufzulösenden Unterschiede zwischen den
Menschen sorgen aber für die notwendige Begrenzung.
Zunächst bemerkt Durkheim, dass dem Menschen die Grenzen seiner Tat-
kraft nicht angelegt sind. Außerdem richtet er sie nicht nur im Hinblick auf das
physische Überleben aus, sondern sie nützt auch für Anliegen, die diesem ge-
genüber zwar redundant sind, aber für den Menschen allmählich unverzichtbar
werden, und das ist der mit der Zivilisation entstehende Komfort. Weil die Gren-
zen also nicht bereits im Menschen gesetzt sind und die mit der Zivilisation ent-
standenen Anliegen nicht beständig sind, sondern ständig überarbeitet werden,
lehnt er es ab, universelle Grenzen aufzufinden (ebd., S. 280). Schließlich variie-
ren die Anliegen entsprechend den Unterschieden in der Sozialstruktur, nur ist es
sie, die zur Begrenzung der Tatkraft beiträgt. Die grenzensetzende Instanz ist,
weil sich der Einzelne eigenständig nicht begrenzen kann und an sich nicht über
Grenzen verfügt, das Soziale. „Für den Menschen allein ist charakteristisch, dass
die Beschränkungen, die ihm auferlegt werden, nicht physisch, sondern mora-
lisch, das heißt sozial sind“ (ebd., S. 287). Zuvor schreibt er:
„Nur die Gesellschaft ist in der Lage, diese mäßigende Rolle zu spielen, sei es direkt
und als Ganzheit oder vermittels eines ihrer Organe. Denn sie ist die einzige dem
Einzelnen übergeordnete moralische Kraft, deren Überordnung er auch anerkennt“
(ebd., S. 282).
3.4 Die integrative Kraft des Selbstverzichts (Der Selbstmord) 215
Nur wenn die grenzensetzende Instanz anerkannt wird, lässt man die Beschrän-
kung der Tatkraft zu.114 Soziale Grenzen können also das dauerhafte Ausbleiben
von Handlungserfolgen verhindern und die Untauglichkeit auf Seiten des Indivi-
duums zur Erfindung von Grenzen wettmachen. Das Soziale macht es möglich,
das Individuum vor dauerhafter Unzufriedenheit zu bewahren. Die von ihm ge-
setzten Grenzen gelten aber nicht einheitlich für alle.
„Es gibt keine Gesellschaft, in der die Einzelnen“, schreibt er, „auf den verschiede-
nen Stufen der sozialen Hierarchie in gleicher Weise zufrieden gestellt werden kön-
nen“ (ebd., S. 281).
Durkheim macht die Unterschiede im Ansehen, das je nach erbrachter Leistung
angerechnet werden kann, nicht nur für die Zufriedenheit des Individuums, son-
dern auch für die Erhaltung von Gesellschaft überhaupt verantwortlich, und zwar
wie folgt: Die Ertragsunterschiede einer Leistung lassen sich darauf zurückfüh-
ren, welche „sozialen Prämien“ jeweils für sie vorgesehen sind. Damit verbun-
den sind ebenfalls Unterschiede, die die Lebensführung betreffen. Beides spen-
det Orientierung für die Tatkraft. Wer nämlich über seine Verhältnisse lebt oder
das an seine soziale Prämie gekoppelte Wohlergehen durch übertrieben Spar-
samkeit konterkariert, der muss mit Missbilligung rechnen (ebd., S. 284). Das
dekadente Leben,115 der Geiz und die Erheischung sozialer Prämien verursachen
Desavouierung, aber man ist, sofern man diese antizipieren will, im Hinblick
darauf orientiert, welche Lebensführung einer Stufenleiter in der „sozialen Hie-
rarchie“ gebührt. Nur derjenige wird die sozialen Orientierungsvorgaben als
richtig anerkennen, der die Missbilligung fürchtet. Wenn man mit ihr kalkuliert,
so ordnet man sich der Macht des Sozialen und den jeweils spezifisch gesetzten
Grenzen für die Tatkraft unter und somit weiß man nicht nur, ab wann man zu-
frieden sein kann, sondern man kann sich darüber hinaus erklären, was für einen
Aufstieg in der sozialen Stufenleiter nötig ist und was einen Misserfolg verur-
sacht. Dazu gehört, so Durkheim, jedoch auch, die Sozialstruktur im Ganzen zu
akzeptieren, d.h. man muss nicht nur mit der sozialen Prämie der eigenen Leis-
tung einverstanden sein, sondern auch die für Leistungen anderer Art akzeptieren
(ebd., S. 285). Andernfalls gefährdet man die eigene Zufriedenheit, denn wer
das, was anderen Leistungsträgern gebührt, als ungerecht empfindet, der tut das
notwendig in Relation zu dem, das er selbst erhält und sodann wird dies in sei-
nem Denken ebenfalls ungerecht sein. Das trägt schließlich dazu bei, die Geltung
114 Das macht Durkheim auch für seine Kritik an den Überlegungen Saint-Simons geltend, dem er
vorwirft, nicht erkannt zu haben, dass im Wirtschaftsleben externe Grenzen für das Handeln
erforderlich sind (vgl. Durkheim 2010b, S. 199).
115 Selbst die Dekadenz ist bestimmten Kollektiven vorbehalten, und das zeigt Thorstein Veblen
in seinen Überlegungen zur Entwicklung der demonstrativen Verschwendung und Vergeudung
(vgl. Veblen 2011, S. 93 f.). Durkheim führt anomische Tendenzen darauf zurück, dass sich die
demonstrative Verschwendung und Vergeudung an denen beobachten lässt, denen sie eben
nicht vorbehalten ist.
216 3 Émile Durkheims Welt
der Orientierungsvorgaben für die eigene Tatkraft zu mindern, was wiederum die
eigene Zufriedenheit gefährdet, denn es schwindet der Anlass dafür, die Tatkraft
zu richten. Was sich abspielt, ist der Ursprung der Anomie.116
Eine Störung von Verhaltensregeln liegt für Durkheim dann vor, wenn die
Missbilligung für eine ungebührende Lebensführung aussetzt. Das zeigt an, dass
die Unterschiede in der sozialen Prämienverteilung nicht mehr anerkannt werden
und somit werden die Grenzen der Tatkraft zunehmend unwirksam. Der Macht
des Sozialen schwindet „in Zeiten moralischer Verwirrung“ (ebd., S. 284) ihre
Grundlage, nämlich die Anerkennung. Unvermittelte Wandlungen der sozialen
Ordnung sind insofern störend, als entweder eine bislang ungekannte Mäßigung
unvermeidbar wird oder Intransparenz darüber besteht, was als angemessen gilt.
In beiden Fällen wird die Zufriedenheit des Individuums verhindert, weil der
Tatkraft die Orientierung abhanden kommt. Die Vergabe von sozialer Prämie für
bestimmte Leistungen ist gestört, so dass sich die Bereitschaft verflüchtigt, die
mit dem eigenen Leistungsvermögen und dem der anderen vorgesehene Prämi-
enverteilung anzuerkennen. Weil schließlich die Macht des Sozialen darauf be-
ruht, dass sie als gerecht erachtet wird, übt die vom Orientierungsverlust ausge-
löste Unzufriedenheit eine schwächende Wirkung auf die Geltung der Macht aus
(ebd., S. 289).117 Wird die Tatkraft nicht mehr gemäßigt, weil die Ziele etwas
anderes hergeben, als man sich mit ihnen verspricht, dann agiert das Individuum,
ohne Erfolge verbuchen zu können. Das führt nicht nur zu Unzufriedenheit, son-
dern setzt der bereits durch die hereingebrochene Wandlung belasteten Macht
des Sozialen insofern zu, als man es unterlässt sie anzuerkennen. Hingegen ist
sie stark, wenn das Individuum zufrieden ist, weil es dann ihren Zielen und somit
Zielen überhaupt folgt, es weiß nämlich, welche soziale Prämie seinem Tun und
das anderer rechtmäßig ist. Wenn also Störungen die Gesellschaft heimsuchen,
dann erschöpfen sich die Bedingungen der individuellen Zufriedenheit und in-
folge dessen erhöht sich der Geltungsverlust sozialer Ordnungen.118
116 An Durkheims Überlegungen knüpft Merton seinen Begriff der Anomie an, für den sie aus der
Diskrepanz zwischen überragenden Werten einerseits und den sozialstrukturiert und ungleich
zugemuteten Mitteln für das normkonforme Handeln resultiert (vgl. Merton 1995, S. 156).
Merton geht insbesondere dem Grad der Anomie in den Unterschieden der Sozialstruktur nach
(ebd., S. 130 ff.). Durkheims Einfluss auf Merton gehen Werner Gephart (1990) und Nikos
Passas (1995) nach. Letzterer gibt eine Übersicht über die Bewertungen des Rückgriffs Mer-
tons auf Durkheim (ebd., S. 93 f.).
117 Daran knüpft Dahrendorf an, wenn er auf die Tendenz hinweist, für Jugendkriminalität „die
Gesellschaft“ verantwortlich zu machen (vgl. Dahrendorf 1992, S. 241).
118 Robert Agnew und Passas fassen die kriminologische Anomie-Theorie auf der Grundlage von
Durkheims Vorgaben wie folgt zusammen: „Anomie Theory, in sum, focuses on a breakdown
in the social regulation of individual conduct and argues that this breakdown creates pressure
for individual deviance. This pressure stems form the inability of individuals zo satisfy their
desires through legitimate channels“ (Agnew/Passas 1997, S. 3).
3.4 Die integrative Kraft des Selbstverzichts (Der Selbstmord) 217
Das entscheidende Merkmal des anomischen Selbstmords ist also das Han-
deln, das an keiner Norm orientiert ist, denn dem Handeln, dem keine Beschrän-
kungen unterliegen, mangelt es an erreichbaren Zielen. Kann man es nicht mit
Zielen abstimmen, so verliert man den Einfluss über die eigene Tatkraft und ist
dadurch gefährdet, die eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten zu überschreiten.
Anders als beim Egoisten löst sich nicht die Handlungsbereitschaft auf. Sie ist
stattdessen weiterhin lebendig, nur wird sie zur Belastung, wenn man jedes Han-
deln, das auf ein Ziel und eine Grenze hinsteuert, als wertlos erachtet. Wer nur
hinter flüchtigen Zielen her ist, der kann Erschöpfungen und Enttäuschungen
nicht verhindern (ebd., S. 329). Die Bereitschaft zum Selbstverzicht verliert
durch das angegriffene Machtprestige des Sozialen ihren Grund und die Regel-
verletzung wird als angemessen erachtet. Der Einzelne weiß nicht, ab wann er
zufrieden sein kann. Der Schutz vor Unersättlichkeit und dem Streben nach dem
Unmöglichen ist für Durkheim gefährdet, wenn zum einen der Ordnung für die
Zuweisung der unterschiedlichen Kriterien der Lebensführung durch plötzliche
Krisen- oder Prosperitätseinbrüche ihre Kräfte entzogen werden und zum ande-
ren die Scheidung die Beschränkungen der Ehe für die geschlechtlichen Aktivi-
täten strapaziert. Lebensgefährlich ist also das allzu leichte Leben.
Fatalistischer Selbstmord: Einen letzten Typus erwähnt Durkheim nur in
einer Fußnote, weil dessen Faktoren in der Gegenwart seltener werden. Für die-
sen Typus greift er nicht auf Daten zurück, sondern er bemerkt nur, dass er sich
im Kontrast zum anomischen Selbstmord abspielt (ebd., S. 318). Im Gegensatz
zu diesem steht der fatalistische Selbstmord nicht mit übersteigerter und unbe-
grenzter Tatkraft, sondern mit maßloser Überreglementierung in einem Zusam-
menhang. Er wird von denen begangen, für die der moralische Druck so über-
mächtig ist, dass es ihnen unmöglich wird, Handlungsziele aus eigener Initiative
zu wählen.
Im Hinblick auf den zweiten Zweck kann Durkheim den Selbstmord nun
wie folgt nutzen: Die zentrale Voraussetzung für seine Methodologie gibt zu-
gleich eine Antwort auf die Frage, was im Leben sinnvoll ist. Ein Leben, das rau
und reich an Sorgen ist, führt also, und das zeigen die Daten der Selbstmordra-
ten, seltener als das sorglose Leben die Entscheidung für den Freitod herbei. Ins-
besondere die Umkehrung der Faktoren für den egoistischen und anomischen
Selbstmord offenbart den lebenserhaltenden Effekt von Sorgen und Kümmernis-
sen, aber auch von Hingebungsbereitschaft und Verpflichtungen. Wer jenen
nicht aus dem Weg geht und diese nicht als unerheblich erachtet, leistet Selbst-
verzicht und Entbehrung, die sich unvermeidlich nur zugunsten von überindivi-
duellen Zielen auswirken. Bereitschaft und Motivation zu Selbstverzicht und
Entbehrung können nur Zielen zugrunde liegen, die dem Eigennutz übergeordnet
sind und deren Beherrschung erlauben, da sie nicht ihretwegen bestehen. Sinn
kann, so Durkheim, nicht rein individuellen Ursprungs sein, sondern geht aus
sozialen Vorgängen hervor. Ein Einzelner kann eine Sinnvorgabe zwar in die
3.4 Die integrative Kraft des Selbstverzichts (Der Selbstmord) 219
Welt setzen, aber für ihre Geltung ist der Beitrag anderer unentbehrlich, was die
exklusive Ausrichtung der Sinnvorgabe auf den Eigennutz des Einzelnen aus-
schließt. Sinn, der einem sozialen Vorgang entspringt, bietet somit Orientierung
an, für die man nicht allein die Verantwortung trägt. Außerdem veranlasst der
Sinn schöpfende Vorgang, sich für diesen einzusetzen und sich auf diese Weise
selbst zu beherrschen. Wer stattdessen nicht geltenden Sinnvorgaben nachgeht
oder diese nivelliert, indem er sie unstetig behandelt, dem geht alsbald jeglicher
Sinn ab. Egoistischer und anomischer Selbstmord sind zwei verschiedene Folgen
des Geltungsverlusts von Sinnvorgaben: Auf der einen Seite kommt es zu maß-
losem Selbstbezug und Langeweile, die das Handeln überhaupt unterdrücken und
auf der anderen Seite fallen die regulierenden Schranken für das rege Handeln.
So oder so von Sinnlosigkeit betroffen zu sein, heißt für Durkheim, sich selbst zu
schaden, sich aber auch desintegriert zu benehmen, da man zum einen den eige-
nen Lebenswillen beeinträchtigt und zum anderen geltenden Sinnvorgaben, die
auch für andere bestehen, nicht nur nicht unterstützt, sondern auch in deren An-
sehen mindert. Die Entscheidung über das, was sinnvoll ist im Leben, bleibt also
nicht dem Einzelnen überlassen.
Vor diesem Hintergrund erweist die Selbstmordrate den Dienst, den norma-
len oder pathologischen Zustand der Integration des Landes zu untersuchen, für
das die Daten erhoben werden. Die verschiedenen Selbstmordtypen geben näm-
lich in unterschiedlicher Weise Auskunft über die moralische Kraft. Der altruis-
tische Selbstmord lässt ihn außergewöhnlich stark hervortreten, denn in diesem
Fall unterwirft man sich vollständig der Verhaltensregel, sich das Leben zu neh-
men. Am egoistischen und anomischen Selbstmord lässt sich hingegen sein ge-
schwächter Zustand ablesen. Wenn Durkheim zeigt, dass die Faktoren dieser
beiden Selbstmordtypen die Integration schwächen, so kann er schließlich auch
offen legen, was diese erhält, nämlich die Befolgung überindividueller Ziele und
für moderne Gesellschaften: die gemäßigte Befolgung119 überindividueller Ziele,
denn in jenen treten Kollektivvorstellungen, die die mechanische Solidarität ga-
rantieren, nicht nur in den Hintergrund, sondern konkurrieren mit anderen ihres-
gleichen. Schließlich sind Kollektivvorstellungen redundant, die den Selbstmord
vorschreiben. Sittlicher Selbstmord wird inzwischen von subkulturellen Sympa-
thisanten verehrt. Anomischer und egoistischer Freitod sind nur ein Resultat ih-
rer Faktoren, da nicht alle, die von ihnen betroffen sind, Hand an sich legen. Die
sozialen Ursachen des Selbstmords ziehen auch andere desintegrative Folgen
nach sich, und zwar zählt Durkheim hierzu mindestens die Rückwirkung des
Geltungsverlustes, d.h. diejenigen, die sich nicht veranlasst sehen, geltende
Sinnvorgaben zu befolgen, tragen durch ihr Benehmen zur weiteren Schwächung
119 Schroer erkennt darin eine Brücke zwischen der Arbeitsteilung und dem Selbstmord, weil
Durkheim in beiden Studien aufdeckt, wie Integration zu stark oder zu schwach erfolgt (vgl.
Schroer 2001, S. 161).
220 3 Émile Durkheims Welt
der Geltung bei. Ist die Selbstmordrate eines Landes relativ hoch, so lässt sich
erschließen, dass nicht nur die Minderung des Lebenswillens verbreitet ist. Eine
Krise kann man daher an der Selbstmordrate ablesen, wenn die bestimmten Fak-
toren des Selbstmords maßlos vorkommen und sich im Falle von hohen Werten,
an denen sich egoistische und anomische Selbstmorde erkennen lassen, der Gel-
tungsverlust maßlos abspielt. Insofern sind es insbesondere diese beiden Selbst-
mordtypen, die Durkheim für die Untersuchung der Krise moderner Gesellschaft
hilfreich sind, weil sie anderen Bedingungen unterworfen sind, als es der mit
ihnen und vorwiegend mit dem Egoismus in Kontrast stehende altruistische
Selbstmord ist. Dessen statistisch erkennbarer Rückgang gibt nicht nur die Ver-
ringerung seiner Faktoren bekannt, sondern lässt das hervortreten, was diesen
entgegengesetzt und modernen Gesellschaften wesentlich ist: die Entzauberung
der hergebrachten und unbezweifelbaren Kollektivvorstellungen und Verflüchti-
gung der Kollektivvorstellungen im Allgemeinen.
Alles in allem: Die Typen der Selbstmorde lassen die Konstruktion von Ge-
setzmäßigkeiten zu, die allesamt den subjektiven Entschluss zum Freitod in den
Hintergrund treten lassen. Gleichwohl kommen die Typen in der empirischen
Wirklichkeit nicht rein vor. Ob aber der Selbstmord durch den Verlust der Be-
geisterungsfähigkeit für jegliche Sinnhaftigkeit, den Gehorsam für die Pflicht
zum eigenen Tod, den regellosen Tatendrang oder die restlose Repression ver-
schuldet wird, so zeigt er in jedem der Fälle diejenige Wirklichkeit abseits der
individuellen Absichten der Tat, auf der Durkheim die methodologischen Grund-
lagen seiner Disziplin gründet. Das Soziale wirkt auf den Selbstmord, und zwar
nicht nur indem es ihn wie im Falle des altruistischen Selbstmords befiehlt, son-
dern auch durch Faktoren, die sich zu seinem eigenen Nachteil auswirken, so
dass sich die Selbstmordrate als Indikator für die moralische Verfassung des sie
betreffenden Landes nutzen lässt. An ihr kann man gemäß der von Durkheim
favorisierten aristotelischen Mitte den Zustand der integrativen Kräfte ablesen.
Tocqueville ist sich darüber gewiss, dass Religion und Demokratie einander
nicht widersprechen. Immerhin ist jene im kollektiven Leben fest verankert, was
zunächst dafür spricht, dass sich die beiden nicht abstoßen. Er schreibt:
„Die Erfahrung aller Jahrhunderte hat übrigens gezeigt, dass die kräftigste Wurzel
des religiösen Bedürfnisses stets im Herzen des Volkes eingepflanzt war. Dort ha-
ben alle untergegangenen Religionen ihre letzte Zuflucht gehabt, und es wäre selt-
sam, wenn Einrichtungen, welche die Ideen und Leidenschaften des Volkes zur Gel-
tung bringen sollen, die notwendige und bleibende Wirkung hätten, den menschli-
chen Geist zur Gottlosigkeit hinzudrängen“ (Tocqueville 1989, S. 24).
3.5 Kollektivapotheose (Die elementaren Formen des religiösen Lebens) 221
Er sieht sich deshalb veranlasst, die Passung der beiden zu verteidigen, weil vor-
nehmlich die Kirche den Anfeindungen der Protagonisten der Französischen
Revolution ausgesetzt war. Man beschuldigte sie, die Privilegien des Adels und
den absolutistischen Staat zu stützen, so dass sie sich, da sie in Widerspruch zu
den Revolutionszielen stand, angreifbar machte (ebd., S. 153). Tocqueville ver-
langt einzusehen, dass es die Kirche, aber nicht die Religiosität oder eine religiö-
se Lehre war, die dem Werk der Revolution im Weg stand. Die Kirche des Fran-
zösischen Absolutismus, aber nicht die Religion beeinträchtigt die Demokratie.
Dessen ungeachtet blieb die Religion von den Angriffen auf die Kirche
nicht verschont. Besonders Schriftsteller taten ihr Bestes und propagierten den
Unglauben. An der Schwächung der Kirche hatten sie ein unmittelbares Interes-
se, da ihr Schaffen von der klerikalen Überwachung betroffen war (ebd.). Aller-
dings geschah, so Tocqueville, infolge der Anfeindungen gegen die Kirche etwas
Neues. Wo zuvor eine Religion verdrängt wurde, da erfolgte das zugunsten einer
anderen Religion, im revolutionären Frankreich aber blieb die Stelle vakant.
„Man arbeitete eifrig und beharrlich, die Seelen des Glaubens, der sie erfüllt hat-
te, zu berauben, und ließ sie leer“ (ebd., S. 152). Stattdessen war zunächst der
revolutionäre Eifer, ein neues Frankreich zu gestalten, ein vorübergehender Er-
satz, der die Orientierung und den Schutz vor sinnlosen Selbstbezug bietet, die
man ansonsten der Religion entnehmen kann (ebd., S. 157). Außerdem hatte die
Revolution in Frankreich, so Tocqueville, mehr religiöse Züge als sonst keine
der vorherigen Umwälzungen. Die Französische Revolution wurde zur Mission
und man machte hierfür weder vor Fremden halt, noch berücksichtigte man die
kollektiven Bezüge des Menschen, den man für sich gewinnen wollte (ebd., S.
27 ff.). Letztlich fehlte dem Revolutionsglauben aber die Beständigkeit und wäh-
rend für moderne Gesellschaften ein neuer Typus des Revolutionärs abfiel, der
erstmals die religiöse sowie die politische Ordnung zunichte machen wollte
(ebd., S. 158), erholten sich Religion und Kirche in Frankreich.
Tocqueville verleiht dem Studium der Religion Impulse. Folgende Unter-
stellungen bieten sich an: Weder vergeht Religiosität, noch lässt sie sich abschaf-
fen. Obwohl die sakrale Einrichtung ihr Ansehen einbüßte, weil man ihr Kolla-
borationen mit dem politischen Gegner nachsagte und sich dadurch viele mobili-
sieren ließen, blieb der Glaube beharrlich oder er konnte nach einem kurzzeiti-
gen Tief wiederauferstehen. Trotzdem zeigt sich: Was heilig ist, ist nicht unver-
gänglich. Und: Der Unglaube erzielt mutmaßlich die Wirkung des Glaubens. Die
missionarische Irreligiosität der Revolutionäre konnte verhindern, dass die an-
sonsten bei fehlendem Glauben hervorgerufene Unerfreulichkeit konstant wurde,
d.h. der für die individuelle Zufriedenheit unverzichtbare Glaube wurde irreligi-
ös ausgelegt. Tocqueville dazu:
„Der unbedingte Unglaube in Fragen der Religion, der dem natürlichen Gefühl des
Menschen so sehr widerspricht und seine Seele in einen so trostlosen Zustand ver-
222 3 Émile Durkheims Welt
setzt, erschien der Menge verlockend. Was bis dahin nur eine Art krankhafter Er-
mattung hervorgebracht hatte, erzeugte diesmal Fanatismus und Bekehrungseifer“
(ebd., S. 152).
Wenn sich herausstellt, dass Glaube und Unglaube in gewisser Weise wesens-
verwandt sind, dann ist auch diejenige Religiosität nicht erstaunlich, die vor den
offiziellen Grenzen der Konfessionen nicht haltmacht. Auf einen derartigen Vor-
fall stößt Mark Mazower in seiner historischen Studie über den Balkan. Er macht
Dokumente für Zeiten des Osmanischen Reichs in Südosteuropa ausfindig, die
Komposita von unterschiedlichen Konfessionen belegen. Ein und dieselben
Gläubigen gingen freitags in die Moschee und sonntags in die Kirche (vgl. Ma-
zower 2007, S. 128). Wenn, wie in diesem Fall, weder die Gläubigen noch die
heiligen Wesen darüber wachen, ob das religiöse Handeln konfessionell korrekt
ausgeführt wird, dann liegt die Vermutung nahe, dass Religiosität andere Dienste
erfüllt als die Intentionen, die mit den Vorschriften der religiösen Lehren ver-
bunden sind.
Religiosität scheint mithin Bedingungen zu unterliegen, die das Zusammen-
leben der Menschen begleiten. Diese Unterstellung über die Religiosität teilt
auch Durkheim. Für ihr Studium verzichtet er deshalb in der Studie Die elemen-
taren Formen des religiösen Lebens (2010a) darauf, Theologien und Mythen der
Gläubigen nach Ursachen und Wirkungen der Religiosität zu befragen. Er erhebt
nicht den Anspruch, dass ihre Dienste mit den bekundeten Zwecken des religiö-
sen Handelns übereinstimmen. Die Ergebnisse werden zum einen zeigen, dass
sich in der Tat mit ihrem Verschwinden nicht rechnen lässt. Zum anderen ermit-
telt er Funktionen des Glaubens, über die weder die religiöse Lehre noch die
eigensinnigen Interpretationen der Gläubigen informieren.120 Sie müssen mit
beiden auch nicht konform sein. Für sein Vorhaben untersucht er zwar den „äu-
ßerlichen Apparat“, zu dem er „Riten“ und „Symbole“, aber auch „Tempel“ und
„Priester“ einer Religion zählt (vgl. Durkheim 1986b, S. 62), nur interessieren
ihn nicht deren verkündigten oder amtlichen Bedeutungen. Stattdessen will er
den verborgenen Faktoren und Effekten der Religion nachgehen.
Zwei Zwecke gibt er an, denen die Studie unterliegt. Erstens die „Natur des
religiösen Lebens“ (Durkheim 2010a, S. 16); mit der Untersuchung will er das
Wesen der Religion ermitteln, das allen Religionen gemeinsam ist. Das sind
nicht die äußeren Merkmale, auf deren Grundlage die Religion definiert ist, doch
die hinter ihnen liegenden Kräfte, die auf und vom Menschen wirken. Durkheim
will offenbaren, was die wesentlichen Züge der Religion hervorbringt. Ihn inte-
ressiert die Wirklichkeit des religiösen Lebens, die in den unterschiedlichen Re-
ligionen nicht variiert (ebd., S. 609). Zweitens, und insgesamt sekundär, geht er
dem religiösen Ursprung des logischen Denkens nach (ebd., S. 26). Die Katego-
120 Nichtsdestoweniger nimmt Durkheim in Anspruch, den religiösen Glauben aus der Sicht des
Glaubenden zu betrachten (vgl. hierzu auch Lukes 2013, S. 470).
3.5 Kollektivapotheose (Die elementaren Formen des religiösen Lebens) 223
rien, denen das logische Denken unterworfen ist, sind für ihn nicht in der geisti-
gen Konstitution des Menschen festgelegt. Stattdessen, und das ist Durkheims
Absicht, lassen sich ihre religiösen und sozialen Bedingungen auffinden. Das ist
der Nebenschauplatz der Studie. 121
Zum Wesen der Religion. Der erste Zweck ist auf die Wirklichkeit gerichtet,
die sich nicht von einer bestimmten Religion herleitet, weil sie allen Religionen
inbegriffen ist.122 „Diese Wirklichkeit ist der Mensch und im Besonderen der
heutige Mensch, denn es gibt nichts, woran wir stärker interessiert sind“ (ebd., S.
13). Was in Erfahrung gebracht werden soll, ist nicht, inwiefern der Mensch
festgelegt ist und ein Gegenstand dessen die Religiosität ist. Durkheim schließt
aus, dass der Mensch das religiöse Handeln von sich aus und somit unabhängig
von anderen Faktoren hervorbringt. Hingegen soll die Studie den Nachweis da-
für erbringen, dass sich die menschliche Religiosität sozialen Ursachen verdankt,
denen sich die Wissenschaft aber versperrt, wenn sie das religiöse Handeln des
Individuums isoliert betrachtet (ebd., S. 142). Darüber hinaus soll sie erklären,
inwiefern der Mensch den Platz der nicht unwesentlichen Bedingung der Religi-
on einnimmt.
Gelingt das, so verspricht sich Durkheim davon, die Erkenntnisse über die
Religion für die Untersuchung der Gegenwart einsetzen zu können.123 Für das
Individuum und das Kollektiv bildet Religion eine dauernde Voraussetzung, auf
die er stoßen will, damit er auch diejenigen Wirkungen auf sie zurückführen
kann, die in einer Zeit der Dominanz der Unterschiede gegenüber den Gemein-
samkeiten zwischen den Menschen vor sich gehen (ebd., S. 626; 1986b, S. 63).
Das Interesse an dem für ihn heutigen Menschen ist davon berührt. Weil er Reli-
gion als ein Phänomen behandelt, die, obwohl sie als Voraussetzung dient, nicht
unabhängig davon ist, von Wirkungen betroffen zu sein, kann er vermöge ihres
Wesens etwas anderes untersuchen, das sich nicht besonders von ihr unterschei-
det, aber aufgrund seiner ebenfalls bestehenden Abhängigkeit von der Dominanz
der Unterschiede zwischen den Menschen betroffen ist, und dies ist die Moral
(vgl. Durkheim 1976, S. 125). Die Ergebnisse der Studie werden zeigen, inwie-
fern Religion und Moral wesentliche Gemeinsamkeiten aufweisen, die Durkheim
einen Dienst im Hinblick auf die Uneindeutigkeit erweisen, von der Moral in
modernen Gesellschaften betroffen ist.124
121 Für das Anliegen meines Vorhabens ist der zweite Zweck weitestgehend belanglos; zum reli-
giösen Ursprung des Prinzips der Kausalität vgl. auch Durkheim/Mauss 1987.
122 Für König orientiert sich Durkheims Auseinandersetzung mit der Religion an einer „Frage von
struktureller Bewandtnis“ (König 1978, S. 242; Herv. im Orig.), weil er die Gründe für das
Dauerhafte an der Religion untersucht.
123 An anderer Stelle bemerkt er, dass sich viele Problemstellungen, die von der Soziologie be-
trachtet werden, andere Aspekte aufzeigen, sobald man sie religiossoziologisch untersucht
(vgl. Durkheim 1960c, S. 351).
124 In einer Rezension schreibt Durkheim, dass man der Religion die Existenzberechtigung ab-
sprechen kann, wenn diejenigen Gründe zu bestehen aufhören, die sie erforderlich machen.
224 3 Émile Durkheims Welt
Für dieses Anliegen soll ihm das Wesen der Religion behilflich sein, für
dessen Untersuchung er es also ablehnt, es als unabhängige Ursache für das reli-
giöse Handeln zu begreifen. Religion wie ein Ding zu behandeln, heißt, dass sie,
wie sich zeigen wird, nicht nur auf Ursachen beruht, die ihrerseits auf Ursachen
beruhen, sondern auch Effekte herbeiführt, die ihrerseits auf sie wirken. Es sind
diese Zusammenhänge der Religion überhaupt, die er studieren will und weshalb
er zurückweist, dass sie einen absoluten Anfang hat. „Wie jede menschliche Ein-
richtung beginnt auch die Religion nirgends“ (Durkheim 2010a, S. 22). Somit
leistet auch diese Studie einen Beitrag für die Konsolidierung der von Durkheim
vertretenen Disziplin. Indem sich nämlich offenbaren lässt, dass selbst das, für
dessen Außenwirkung es von entscheidender Bedeutung ist imstande zu sein,
seine Wirkungen von sich aus fertig zu bringen, also keine Ursachen zu haben,
tatsächlich aber sozial bewirkt werden muss, bietet sich Durkheim die Voraus-
setzung dafür, die Kraft des Sozialen zu demonstrieren. Indes er seine Wirksam-
keit aufzeigt, beabsichtigt er auch, dessen Faktoren nicht außer Acht zu lassen,
denn er ist, einer Fußnote zufolge, nach wie vor aufgefordert, seine Methodolo-
gie zu verteidigen. Der Drang ist, hebt Durkheim hervor, nicht das Einzige, was
das Soziale wesentlich kennzeichnet. Hierzu schreibt er:
„In Wirklichkeit haben wir darin nur den materiellen und sichtbaren Ausdruck einer
inneren und tiefen Tatsache gesehen, die selbst ganz ideell ist: nämlich die morali-
sche Autorität“ (ebd., S. 310; Herv. im Orig.).
Für das Soziale fällt die andere Seite des Drangs, also das überlegene Ansehen
ins Gewicht. An dessen Wirkungen ist die äußere Seite der moralischen Autorität
erfahrbar, nur ist auch sie ein Resultat, dem Durkheim nachgehen will, wozu er
das Studium der Religion auswählt.
„Die Frage, die hier in diesem Buch abgehandelt wird, ist im Besonderen, in wel-
cher Form diese besondere Art der Moralautorität, die in allem liegt, was religiös ist,
ihren Anfang nahm und woraus sie besteht“ (ebd.).
Dass diese Auseinandersetzung mit der Religion im Hinblick auf die Kausalzu-
sammenhänge durchführbar ist, erschließt sich auch aus der Begründung dafür,
die von ihm untersuchte Religion, und das ist der Totemismus, 125 eine Religion
zu nennen. Ihn deshalb auszuschließen, weil seine Glaubensvorstellungen und
Wenn schließlich ihre Gründe sozialer Natur sind, so muss man untersuchen, was den Wandel
vom Gesellschaft bewirkt und somit die Religion nutzlos macht (vgl. Durkheim 2008b, S.
221).
125 Wenn man sich nicht vergegenwärtigt, dass Durkheim kein Buch über den Totemismus ge-
schrieben hat, wird sein eigentliches Anliegen, das oben skizziert ist, nicht hervortreten. Ein
ähnlicher Hinweis liegt auch bei König vor (vgl. König 1978, S. 246 f.). Ferner gilt die Daten-
lage, die ihm zur Verfügung stand, mittlerweile als überholt und darüber hinaus bietet das eth-
nographische Material nur eingeschränkte Auskunft über den Totemismus in Australien (vgl.
Giddens 1986, S. 101).
3.5 Kollektivapotheose (Die elementaren Formen des religiösen Lebens) 225
126 In einer Vorlesung für angehende Lehrer spricht sich Durkheim dafür aus, auch die Auseinan-
dersetzung mit solchen Gesellschaften in das Lehramtsstudium zu integrieren, von denen man
für gewöhnlich denkt, dass sie keinen besonderen Beitrag für die Zivilisation geleistet haben.
Seine Stellungnahme lässt erkennen, dass er in der Lage ist, seinem methodologischem Pro-
gramm zu folgen und Vorbehalte zugunsten der Forschung auszublenden. Er sagt: „Ich bin so-
gar so weit gegangen, den Wunsch auszusprechen, dass der Professor auch andere Völker als
nur die klassischen kennen müsste, damit er den Schülern den Eindruck vermitteln könne, dass
es auch jenseits dieser besonderen Menschheit noch andere gibt, die, wie man sagt, weniger
fortgeschritten sind und die trotzdem ein Anrecht auf unser Interesse haben, weil auch sie
Formen der Menschheit sind: Auf natürliche Weise wird ihm diese Gelegenheit geboten, weil
auch die klassischen Gesellschaften ihre Wurzeln in dieser so genannten niedrigen Menschheit
haben und deren Zeichen tragen“ (Durkheim 1977, S. 311).
226 3 Émile Durkheims Welt
lung, hinfällig geworden ist, d.h. weil sich jeder Religion nachsagen lässt, sie sei
ein Irrtum, aber das religiöse Handeln eine Wirkung ist, die dem trotzt, zeigt
sich, dass die Glaubensvorstellungen und Riten nicht das leisten, was ihnen die
jeweilige religiöse Lehre oder die Interpretationen der Gläubigen zuschreiben,
sondern mit anderen Ursachen und Wirkungen verbunden sind, die ihnen alle-
samt wesentlich sind.
„Im Grund gibt es keine Religionen, die falsch wären. Alle sind auf ihre Art wahr:
alle entsprechen, wenn auch auf verschiedene Weisen, bestimmten Bedingungen der
menschlichen Existenz“ (Durkheim 2010a, S. 15). 127
Weil Durkheim nachweisen will, dass Religion dem sozialen Leben entspringt,
kann er folglich nicht leugnen, dass es Kollektive gibt, deren Religionen nicht
würdig sind, der Kategorie Religion zugeordnet zu werden. Anstelle der Qualität
der Lehren einer Religion entscheiden die Ursachen und Wirkungen ihrer mora-
lischen Autorität, ob eine Religion vorliegt. Zum Ende der Studie hält Durkheim
für die untersuchten Wirkungen der Religion und das Alleinrecht der modernen
Wissenschaft auf die Erkenntnisse nebeneinander (ebd., S. 610). Auf diese Wei-
se macht er die verkehrte Richtung einer Wissenschaft deutlich, die zwar jede
religiöse Kosmologie zurückweist, ohne aber die Geltung falsifizierter Glau-
bensvorstellungen brechen zu können. Das Anliegen seiner Studie tritt dabei
hervor: Die Widerlegung der religiösen Lehre lehnt er ab, da er, statt sich mit
dem Glauben anzulegen, die Gründe für dessen Widerstandsfähigkeit ausfindig
machen will.
Gleich wie irrational eine Religion also erscheint, ist es nicht zulässig, sie
der Kategorie vorzuenthalten. Aufgabe der Wissenschaft ist es für Durkheim
auch nicht, den Nachweis dafür zu erbringen, dass religiöses Handeln einer Täu-
schung unterliegt. Wissenschaftliche Vorhaben, die im Hinblick darauf angelegt
sind, Glauben und Riten als fälschlich für richtig gehaltene Vorstellungen und
Handlungsweisen bloßzulegen, erachtet er aus Gründen als widersinnig, die sich
seinen Einwänden gegen Animismus und Naturismus entnehmen lassen. Der
Animismus führt Religion auf die Auslegung der Träume seitens der Gläubigen
zurück, in denen sie Handlungserfahrungen ihrer eigenen Seelen erkennen. Im
Denken der Träumenden finden die geträumten Aktivitäten tatsächlich statt. Die
Sakralisierung der Seele erfolgt, dem Animismus zufolge, durch den Tod (ebd.,
S. 83). Der Glaube an die zu heiligen Geistern transformierten Seelen überträgt
sich schließlich auf die Naturkräfte und -körper (ebd., S. 85). Für den Nachweis
hingegen stehen diese an erster Stelle: Allein die Beobachtung der gewaltigen
Naturkräfte und -körper ruft, so diese Theorie, die Verehrung von Seiten des
Menschen für Heiliges hervor, das man sich als begabt vorstellt, das beobachtete
127 Ergänzend dazu schreibt er an anderer Stelle: „It has sometimes been said that primitive peo-
ples had no morality. That was an historical error. There is no society without morality“
(Durkheim 2008b, S. 240).
3.5 Kollektivapotheose (Die elementaren Formen des religiösen Lebens) 227
raubt. „Was ist das für eine Wissenschaft, deren Hauptentdeckung darin bestün-
de, den Gegenstand, den sie untersucht, verschwinden zu lassen“ (ebd., S. 109).
Durkheims Abwehrhaltung ist der Verteidigung seiner Methode verpflichtet.
Was er untersuchen will, sind die religiösen Glaubensvorstellungen, und zwar
schließt er nicht aus, dass sie objektive Gründe haben, auch wenn sie seltsam
und verrückt erscheinen. Glaubensvorstellungen können in der Tat der Rationali-
tät widersprechen, nur wenn die moralische Autorität hinter ihnen steht, können
sie wirksame Irrtümer sein.
Die Gründe dafür, den Totemismus für die Studie auszuwählen, lassen sich
nun konkretisieren: Den Totemismus untersucht er nicht seinetwegen, d.h. er
will nicht dem nachgehen, was ihn von den fortgeschrittenen Religionen unter-
scheidet, sondern er beabsichtigt, die Gesetzmäßigkeiten für dessen Religiosität
zu erforschen, die er mit den „komplexen“ Religionen gemeinsam hat. Was de-
ren Untersuchung jedoch erschwert, sind die Mythen und Theologien, deren Er-
klärungen für das religiöse Handeln dominieren und somit die Kräfte, die es ei-
gentlich hervorrufen, in den Hintergrund treten lassen (ebd., S. 22). Stattdessen
bietet der Totemismus aufgrund von lokal unterschiedlichen, aber trotzdem
gleichförmigen Kulten, geringer Individualisierung und wenig personengebun-
denen Unterschieden in den religiösen Verpflichtungen einen Zugang zum „Un-
umgänglichen“ jeder Religion, und das sind die wesentlichen Effekte des religiö-
sen Handelns, für die mythische und theologische Zusätze entbehrlich sind (ebd.,
S. 20). Es ist daher leichter, zu den objektiven Funktionen der Religion zu gelan-
gen, nur ist hierfür unbefangenes Forschen128 zwingend, da man sich ansonsten,
also wenn man den totemistischen Kulten mit relativem Ekel begegnet, den Weg
dafür abschneidet, sich von der Religion belehren zu lassen.
Das gilt vor allem für die Entwicklung der Definition der Religion. Durk-
heim bleibt seiner Methodologie treu, der zufolge eine Definition ordnungsge-
mäß ist, wenn Vulgärwissen ausgeschlossen wird, denn gesucht wird die Be-
schaffenheit eines Dings, wofür Einstellung und Positionen des Wissenschaftlers
belanglos sind. Nur so kann man garantieren, dass bestimmte Religionen nicht
ausgegrenzt werden. Angesichts seines Vorhabens, der Religion im Allgemeinen
nachzugehen, muss er das gewährleisten. Die Definition ist dann nicht sachlich,
wenn sie auf einfache Religionen nicht anwendbar ist, weil diese einen Wert, den
Religionen haben sollten, damit sie der Religion würdig sind, nicht aufweisen.
Schließlich ist, wenn man mit einer auf einem Wert gestützten Definition arbei-
tet, nicht nachgewiesen, dass einfache Religionen die Ursachen und Wirkungen
der Religion im Allgemeinen nicht erkennen lassen. Die „konfessionellen Vorur-
teile der Wissenschaftler“ verhindern also die eigentliche Untersuchung, da man
129 Durkheim gelingt es, so König, eine ideologische Definition der Religion zu vermeiden, indem
er sich nicht an einer spezifischen Religion orientiert, um zu den Merkmalen für das Wesen der
Religion zu gelangen (vgl. König 1978, S. 242).
230 3 Émile Durkheims Welt
kann man, folgert Durkheim weiter, Sorge tragen, dass ihre Unvereinbarkeit ge-
wahrt bleibt. Die Annäherung an heilige Dinge ist von Seiten eines profanen
Menschen mittels Riten möglich. Ferner regeln Riten die Transformation, in
deren Folge profane Dinge heilig werden. Wenn nämlich nichts davor geschützt
ist, zu den heiligen Dingen zu gehören, dann muss es einen Vorgang geben, dem
sie entspringen. Für die Sakralität sind die Riten also eine Bedingung, nur sind
sie ihrerseits an Glaubensvorstellungen gebunden, deren Gegenstand heilige
Dinge sind, um sich von gewöhnlichen Verpflichtungen abzuheben. Nur auf die-
se Weise kann man ausschließen, Elemente der Religion mit anderen Vorgängen
zu identifizieren, mit denen sie vieles gemeinsam haben.
Beim Vorgehen für die Entwicklung der Definition bleibt Durkheim inso-
fern konsequent, als er nur auf diese Weise garantieren kann, dass solche Dinge
ausgeklammert werden, die in der Welt der fortgeschrittenen Religionen nicht
infrage kommen sakral zu sein, aber auf Seiten der nicht zu diesen gehörenden
Religionen sehr wohl die radikale Verschiedenheit von den profanen Dingen
aufweisen. Definiert man die Religion zum Beispiel anhand der Idee vom Un-
endlichen, so bleiben Religionen unberücksichtigt, denen diese Idee unbekannt
ist (ebd., S. 51). Geht man also davon aus, Religion verdankt sich der Aspiration
des Menschen, sich einer Sache anzunähern, für die es keine Erklärung gibt und
sich dem menschlichen Verstand verschließt, so setzt man voraus, dass es für
alles Übrige jeweils Gesetze gibt, deren Erforschung möglich ist, d.h. die Suche
nach dem Unendlichen ist nur dort möglich, wo überhaupt die Suche nach den
Gesetzen der Dinge bekannt ist. Wenn Religion aus der Suche nach dem Unend-
lichen hervorgeht, so stehen diejenigen Religionen abseits dieser Definition, de-
nen nichts unerklärlich ist, weil sie alles dadurch erklären, dass sie es religiösen
Kräften unterordnen. Ähnlich verhält es sich mit Definitionen, die Götter und
heilige Wesen zur Voraussetzung machen. Sie schließen nicht nur Religionen
aus, in denen Persönlichkeiten dieser Art nicht vorkommen, sondern mit ihnen
wird es schwierig, das religiöse Handeln einzubeziehen, dessen Gegenstand we-
der Götter noch heilige Wesen sind (ebd., S. 59).
Hingegen reicht, so Durkheim, eine Definition, die auf Riten, Glaubensvor-
stellungen und der Trennung der heiligen und profanen Dinge beruht und man
kann den Ausschluss von Religionen verhindern. Er fasst einen Teil seiner Defi-
nition zusammen:
„Heilige Dinge sind, was die Verbote schützen und isolieren. Profane Dinge sind,
worauf sich diese Verbote beziehen und die von den heiligen Dingen Abstand halten
müssen. Religiöse Überzeugungen sind Vorstellungen, die die Natur der heiligen
Dinge und die Beziehungen ausdrücken, die sie untereinander oder mit den profanen
Dingen halten. Riten schließlich sind Verhaltensregeln, die dem Menschen vor-
schreiben, wie er sich den heiligen Dingen gegenüber zu benehmen hat“ (ebd., S.
67).
3.5 Kollektivapotheose (Die elementaren Formen des religiösen Lebens) 231
Riten, Glaubensvorstellungen und die Trennung der heiligen und profanen Dinge
sind also unweigerlich aufeinander abgestellt. Sakralität ergibt sich nicht anders
als aus dem Gegensatz zum Profanen und spezielle Verpflichtungen haben ihn
zur Folge. Weil die Isolation des Heiligen vom Profanen durch die Riten, aber
auch in den Glaubensvorstellungen obligatorisch ist, schließt Durkheim daraus,
dass sie beide von einer Ursache betroffen sein müssen, die ausfindig zu machen,
das Ziel seiner Studie ist. Folglich, also weil beide untrennbar miteinander ver-
bunden sind, schließt er aus, sie jeweils für sich zu definieren. Man kann Glau-
bensvorstellung und Riten nicht getrennt definieren, denn sonst verwechselt man
die Ersteren mit Glaubensvorstellungen, die ohne Kult auskommen, trotzdem
nicht ohne Sanktionen verletzt werden können und jene mit Verhaltensvorschrif-
ten, die sich an Gegenstände richten, ohne dass diese zum Inhalt einer Glaubens-
vorstellungen gehören (vgl. Durkheim 1967, S. 135).
Was Durkheim bislang definiert hat, reicht ihm aber für Religion nicht aus.
Er nennt die Kirche, und das ist die gemeinschaftliche Ausübung der Religion
(vgl. Durkheim 2010a, S. 71). Mit der bisherigen Definition ist nämlich etwas
eingeschlossen, was, ihm zufolge, von der Religion getrennt werden muss. Die
religiösen Phänomene kommen nämlich auch in der Magie vor (ebd., S. 69), aber
sie ist nicht imstande, ein Kollektiv vermittels ihrer Riten und Glaubensvorstel-
lungen dauerhaft zu vereinen.130 Nur Religion, und nicht Magie, weist die Ein-
heit ihrer Anhänger auf, die sich allesamt zur ihr bekennen. Im Fall der Magie
stehen im Gegensatz zur Religion, wie sich noch zeigen wird, nur die vor-
schriftsmäßigen Zwecke der magischen Riten im Vordergrund. Sie in Anspruch
zu nehmen, ist kein Anlass dafür, dass man zu den anderen findet, die sich eben-
falls ihrer Dienste bedienen. Der Magie gehen die Wirkungen ab, denen sich eine
„moralische Gemeinschaft“ (ebd., S. 71) verdankt. Erst die Abgrenzung erlaubt
Durkheim, die Definition zu vervollständigen:
„Eine Religion ist ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die
sich auf heilige, d.h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Prak-
tiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kir-
che nennt, alle vereinen, die ihr angehören“ (ebd., S. 76; Herv. im Orig.).
Die Merkmale der Definition gestatten ihm, zum einen die Religion von anderen
Tatbeständen wie dem Recht und der Moral abzugrenzen (vgl. Durkheim 1967,
S. 133) und weil sie zum anderen nicht den Zweck erfüllt festzulegen, wie eine
Religion sein sollte, schließt sie weder frühe Religionen noch Rudimente ehema-
liger Religionen aus. Die Glaubensvorstellungen und Riten, die aus ihnen erfol-
gende Sortierung der Dinge in eine heilige und eine profane Welt und Einheit
derer, die sich zu den Glaubensvorstellungen und Riten bekennen, müssen daher
130 Daran lässt sich die Definition der Magie von Mauss anknüpfen: „Wir benennen so jeden
Ritus, der nicht Teil eines organisierten Kultes, sondern privat, heimlich, geheimnisvoll ist und
zum verbotenen Ritus als seinem Extrem tendiert“ (Mauss 1978, S. 58; Herv. im Orig.).
232 3 Émile Durkheims Welt
mit den Ursachen in Verbindung stehen, die alle Variationen der Religion her-
vorbringen. Daher weisen sie den Weg, um die Ursachen aufzuspüren, und zwar
auch diejenigen des Totemismus.
Durkheim nimmt selbst keine Erhebungen vor, sondern er bedient sich am
umfangreichen Material ethnographischer Studien (vgl. Durkheim 2010a, S.
139), deren Gegenstand der Totemismus in Australien und Nordamerika ist. Die-
se Religion verzeichnet auf den beiden Kontinenten ausreichend Übereinstim-
mungen, um Ergebnisse mit Hilfe von Vergleichen generieren zu können. Für
das Verständnis des Totemismus sind zunächst die folgenden Elemente nen-
nenswert: das Totem, der Clan, die Phratrien, die drei liturgischen Instrumente
und das Individualtotem. Als erstes das Totem, dessen Stelle durch Tiere, Pflan-
zen, Dinge der unbelebten Natur und ab und an auch Ahnen oder Ahnengruppen
besetzt wird (ebd., S. 154 ff.). Ist es der Tier- oder eine Pflanzenwelt entnom-
men, so dient hierfür die gesamte Gattung oder Art und nicht ein einzelnes
Exemplar. In der Regel sind es äußerlich bescheidene Tiere oder Pflanzen. Die
Größe ist kein Kriterium.
Ausschlaggebend ist aber der Clan, für den das Totem konstitutiv ist (ebd.,
S. 151 f.). Innerhalb eines Stammes ist der Clan eine Gruppe, dessen Bezeich-
nung sich vom Totemding ableitet, denn auch mit diesem haben die Clanangehö-
rigen die Abstammung gemeinsam. Ein Clan kann nicht über mehr als ein zent-
rales Totem verfügen. Neben dem Totemding sind es auch Verhaltensvorschrif-
ten, von denen die Angehörigen des Clans im Besonderen betroffen sind und die
somit diesen abschließen. Das Totem gibt also dem Clan einen Namen, es ist
aber nicht dadurch bedingt, territorial verankert zu sein. Nur die gemeinsame
Verehrung eines Totems legt die Grenzen eines Clans fest. Die Zugehörigkeit ist
entweder matri- oder patrilinear geregelt oder sie ergibt sich durch Regeln für die
Fertilisation durch mythische Wesen (ebd., S. 161).
Der Totemismus ist also nicht nur eine Religion, sondern er regelt auch die
Einteilung der Menschen. Ein Stamm besteht aus maximal zwei Phratrien, die
dem Clan übergeordnet sind, wobei auch ihre Grenzen aus gemeinsamen Verhal-
tensvorschriften resultieren, die u.a. das Konnubium betreffen (ebd., S. 163 ff.).
Er kann nicht mehr als einer Phratrie angehören. Jeder Clan verfügt über ein
meist aus Holz oder Steinen hergestelltes Gerät, mit dem sich Geräusche durch
rasche Umdrehungen erzeugen lassen. Man nennt es Churinga und er kommt
während bestimmter Zeremonien zum Einsatz (ebd., S. 178). Jeder Clan besitzt
ein dauerhaftes Exemplar eines Churinga, wohingegen der Nurtunja und der
Waninga zwei Instrumente sind (ebd., S. 186), die eigens für eine Zeremonie
angefertigt werden. Ist sie beendet werden sie wieder vernichtet. Die totemisti-
schen Kulte werden planmäßig von den Gläubigen durchgeführt, so dass sie eine
Voraussetzung dafür schaffen, die Clanangehörigen zu versammeln.
Schließlich das Individualtotem, das sich erstens nur aus einem einzelnen
Exemplar einer Gattung und nicht aus dieser ergeben kann und zweitens jeweils
3.5 Kollektivapotheose (Die elementaren Formen des religiösen Lebens) 233
nur einem Clanangehörigen gehört, der sich zum einen für dessen Schutz ver-
antwortlich fühlt und zum anderen auf den Schutz durch sein eigenes Totem
zählt (ebd., S. 235 ff.). Der Individualtotemismus erlaubt Durkheim zu belegen,
warum er nicht untersucht, ob Religion ihren Ursprung im Individuum hat. Das
schließt er sogar aus, und hierfür verweist er nicht nur darauf, dass das Individu-
altotem erst nachträglich erworben wird, während man mit der Geburt einem
Kollektivtotem zugeordnet wird (ebd., S. 264). Dass der Individualtotemismus
auf dem Kollektivtotemismus beruht, begründet er ferner durch die einge-
schränkte Auswahlmöglichkeit, denn der einzelne Clanangehörige kann sich
nicht ein Exemplar irgendeiner Gattung aussuchen, sondern ist darauf festgelegt,
aus den Dingen zu wählen, die mindestens ein Untertotem des eigenen Clans
sind (ebd., S. 267). Die Studie richtet sich also an den Kollektivtotemismus und
nicht an den Individualtotemismus, denn dieser setzt jenen voraus. Religion ist,
schließt Durkheim, keine rein individuelle Angelegenheit, weil der Kollektivto-
temismus nicht nach dem Individualtotemismus entstanden sein kann. Stattdes-
sen verhält es sich umgekehrt.
Anhand der genannten Elemente analysiert Durkheim den Totemismus im
Hinblick auf die Ursachen der Merkmale, mit denen er die Religion definiert.
Als erstes geht er den totemistischen Glaubensvorstellungen nach, damit er die
Quelle der heiligen Dinge erklären kann. Einem Clan sind u.a. die folgenden
Dinge heilig: Das Wesen, das als Totem dient, die Angehörigen eines Clans und
einige ihrer Organe und die drei Instrumente, auf die man für verschiedene Ze-
remonien zurückgreift. Sein Vorhaben, aus den heiligen Dingen ihren Ursprung
zu ersehen, beeinträchtigen jedoch die folgenden Schwierigkeiten: Zum einen
sind die Verbote zum Schutz der Heiligkeit für unterschiedliche Angehörige des
Clans, aber auch des Stamms ungleich ausgelegt. Zum anderen sind die heiligen
Dinge hinsichtlich ihrer Sakralität ungleich. Essverbote, die Totemtiere oder -
pflanzen betreffen, sind im Alltag gültig, während einiger religiöser Zeremonien
ist der Verzehr aber verpflichtend, ausgenommen für die profanen Angehörigen
des Clans (ebd., S.192). Verzehr und Ernte des Totems sind anderen Clanen ei-
ner Phratrie erlaubt, solange dabei Regelungen befolgt werden (ebd., S. 194).
Verhaltensvorschriften, die den Verzehr oder die Ernte des Totems betreffen,
gelten also auch für die Angehörigen der Nachbarclane, nur dass sie ihnen im
Gegensatz zu den Gläubigen des Totems weniger Beeinträchtigungen zumuten.
Der Konsum des Totems ist jedoch auf vorgeschriebene Weise erlaubt, wenn es
sich um ein lebenswichtiges Nahrungsmittel handelt. Schließlich ist ein generel-
les Verbot, das Totem zu konsumieren, in den Phratrien nicht möglich, ohne die
Versorgung der Angehörigen aller Clane zu gefährden (ebd., S. 208). Kontakt-
oder Berührungsverbote gibt es für die heiligen Tiere oder Pflanzen nicht. Insge-
samt verlangen die Verhaltensvorschriften, die das Benehmen gegenüber Totem-
tier oder -pflanze regeln oder dieses schützen, unterschiedliche Resonanzen. Die
234 3 Émile Durkheims Welt
sche Material gibt außerdem her, dass die Sortierung der Dinge nicht ohne Ver-
ständigung zustande kommt, da ein Clan kein Element seines Bestands mit ei-
nem anderen Clan teilt. Jedes Ding ist einmalig eingeteilt. Durkheim schließt
daraus, dass im Totemismus alle Dinge der belebten und unbelebten Natur einen
bestimmten Grad der Sakralität aufweisen, da sie ebenfalls Gegenstand von Ver-
haltensvorschriften sind und ihre Existenz jeweils einem Clantotem verdanken,
an dessen Natur sie teilhaben. Zudem zeigt die Kenntnis der heiligen Dinge in-
nerhalb eines Stammes, dass Sakralität nicht an den Grenzen einer Gruppe halt-
macht. Ist beispielsweise ein Baum dem Känguru-Clan zugeordnet, so ist das
Känguru das Totem des Baumes (ebd., S. 211). Dessen Heiligkeit beruht darauf,
an Merkmalen des Kängurus teilzuhaben, genauer: Seinen Ursprung in ihm zu
haben. Die Nachbarclane werden ihn zwar nicht in ihre Ordnung aufnehmen, den
Respekt, der ihm zuteil wird, nehmen sie aber teilnehmend zur Kenntnis.
Heilig ist auch die Totemabbildung. Sie wird auf Unterkünfte, Waffen,
Gräber und Leichen gezeichnet oder die Angehörigen eines Clans lassen sich ihr
Totem tätowieren (ebd., S. 172). Anlässlich bestimmter Zeremonien wird sie auf
den Boden gemalt. Nurtunja und Waninga werden in einer normierten Weise
hergestellt, so dass die verschiedenen hierfür verwendeten Materialien das To-
tem abbilden (ebd., S. 184). Mit dem Bild wird auch der Churinga verziert, der
maximal heilig ist. „[…] es gibt nichts, was ihn an religiöser Würde übertrifft“
(ebd., S. 178). Für dieses Gerät gelten besondere Vorschriften, die zwar erneut
nicht für alle gleich sind, aber insgesamt an Strenge allen anderen Vorschriften
überlegen sind. Churinga, aber auch Nurtunja und Waninga dürfen von Frauen
und nicht-initiierten Männern weder gesehen noch berührt werden (ebd., S. 198).
Sein Aufbewahrungsort ist geheim und nur heilige Männer dürfen sich ihm nä-
hern. Durkheim konstatiert, dass die liturgischen Instrumente heiliger sind als
Totemtier oder -pflanze. Der Ursprung ihrer Sakralität interessiert ihn daher.
Dass es das Material oder die natürliche Form der liturgischen Instrumente sein
kann, aus dem sich die Heiligkeit schöpft, stellt sich deshalb für ihn als unzutref-
fend heraus, weil zum einen die sonstigen Gegenstände, deren Material eins mit
dem des Churinga ist, rein profaner Natur sind. Zum anderen spricht die Ver-
weildauer der anderen beiden Instrumente dagegen, da sie nur für die Zeitspanne
der Zeremonien hergestellt und anschließend ordnungsgemäß vernichtet werden.
Ihre Materialien sind nicht dauerhaft heilig. Er folgert:
„Die churinga sind Gegenstände aus Holz oder Stein wie tausend andere. Sie unter-
scheiden sich von profanen Dingen nur durch eine Eigenschaft: auf sie ist das To-
temzeichen graviert oder geschnitzt. Dieses Zeichen und nur dieses allein gibt ihnen
den heiligen Charakter“ (ebd., S. 182; Herv. im Orig.).
Nurtunja und Waninga unterstützen seinen Schluss, denn deren Herstellung be-
ruht auf Vorgaben, die den Zweck erfüllen, das Totem in seiner Erscheinung
abzubilden. Weiter schreibt er:
236 3 Émile Durkheims Welt
„So verdanken der churinga, der nurtunja, der waninga ihre religiöse Natur einzig
und allein dem Totemzeichen, das sie tragen. Dieses Zeichen ist heilig. Es behält
diese Eigenschaft, wo auch immer es dargestellt ist“ (ebd., S. 187; Herv. im Orig.).
Durkheims bisheriger Schluss beruht also auf Folgendem: Die Verhaltensvor-
schriften sind heterogen ausgelegt. Gegenüber religiösem Gesetz sind die tote-
mistischen Gläubigen nicht gleich. Die Über- und Unterordnung der Clanange-
hörigen beruht auf dem unterschiedlichen Grad ihrer Sakralität, denn sie sind je
nach Alter und Geschlecht nicht gleich heilig. Die Klassifizierung der Dinge
entlang der Clan- und somit der Totemgrenzen lässt die Verwandtschaft zwi-
schen all den Dingen erkennen, die dem Totem zugeordnet sind und das bedeu-
tet, dass sie nicht profaner Natur sind. Das Wesen, das eigentlich das Totem
stellt, weist zwar einen höheren Grad an Heiligkeit auf, als es die übrigen Dinge
tun, die in der Ordnung des Stammes zum Clan des betreffenden Totems sortiert
und damit ebenfalls heilig sind, es ist aber weniger heilig, als es die liturgischen
Instrumente sind und es ist sogar weniger heilig als seine eigene Abbildung.
Weil die Verbote zur Abwehr der profanen Dinge immer dann die höchste Inten-
sität aufweisen, wenn sie etwas schützen, was die Totemabbildung enthält, ist die
Sakralität von Totemtier oder -pflanze ihr gegenüber geringer und somit ruft sie
andere Wirkungen hervor, als es diese tun können (ebd., S. 197 f.). Außerdem
sind die Verbote zu deren Schutz relativ, wohingegen es für die Verbote zum
Schutz des Churinga keine Ausnahmen gibt.
Angesichts der maximalen Sakralität von Churinga, Nurtunja und Waninga,
die darauf beruht, dass das Totem entweder auf dem Instrument abgebildet ist
oder durch das Instrument abgebildet wird, folgert er: Erst die Totemabbildung
bringt den unvereinbaren Gegensatz zwischen den maximal heiligen Dingen,
nämlich den liturgischen Instrumenten und der profanen Welt hervor, da ihr Ma-
terial ansonsten nichts aufweist, was sie zu ihrer heiligen Stellung begünstigt.
Ihre Sakralität ist ihnen nicht inhärent. Einzig eine Sache haben die liturgischen
Instrumente unterschiedlicher Clane gemeinsam, wohingegen zwischen ihren
materiellen Bestandteilen keine Überschneidungen bestehen. Ihre Gemeinsam-
keit ist die Totemabbildung, die sie im Falle des Churinga allesamt aufweisen
oder im Falle von Nurtunja und Waninga selbst darstellen.
Allerdings belastet eine weitere Schwierigkeit die Suche nach dem Ur-
sprung der heiligen Dinge. Die Qualität der Zeichnung muss nicht in jedem Fall
genügen, um das Totemwesen tatsächlich zu identifizieren. Das trifft außerdem
auch für Nurtunja und Waninga zu, deren Formen nicht erkennen lassen, ob sie,
so Durkheim, vom Clan des Gummibaums oder des Emus verehrt werden (ebd.,
S. 188). Man erkennt nicht, ob die Instrumente einen Gummibaum oder ein Emu
abbilden. Weil also schwer erkennbar ist, was eigentlich der Gegenstand einer
Totemabbildung ist und somit ausschließlich die Angehörigen des Clans der
Willkür der Totemabbildung die Zeichen eines heiligen Dings entnehmen kön-
3.5 Kollektivapotheose (Die elementaren Formen des religiösen Lebens) 237
nen, folgert er im Weiteren, dass sich die Verehrung nicht auf ein und dasselbe
Konterfei eines Totems zurückführen lässt, sondern sie ist auf eine Vorstellung
gerichtet, deren Repräsentation die Totemabbildung ist (ebd., S. 189). Auf die
Sakralität kann man also erstens nicht stoßen, wenn man nach der Übereinstim-
mung der empirischen Züge aller heiligen Dinge sucht. Zweitens geben jene kei-
ne Auskunft über die Ursache der Sakralität, da es beliebig ist, was die To-
temabbildung illustriert. Somit kann Durkheim ausschließen, dass weder die
heiligen Dinge noch die Abbildung des Totems für sich die Sakralität suggerie-
ren. Bislang kann er den Ursprung der Sakralität nicht ausfindig machen. Sie ist
also arbiträr, weil nicht nur prinzipiell alles in das Sortiment der Dinge, die hei-
lig sind, aufgenommen werden kann, sondern weil auch die Identifikation der
Totemabbildung nicht auf eindeutig gezeichneten Zügen beruht. Insofern sich
Totemtier oder -pflanze mit der Totemabbildung nicht gleichsetzen lassen und
sie ohnehin das, was sie darstellt, in der Sakralität übersteigt, muss Durkheim
zunächst die Vorstellung auftun, die sich hinter der Totemabbildung verbirgt,
bevor er untersucht, was die Trennung zwischen heilig und profan verschuldet.
Ethnographische Daten über die Glaubensvorstellungen in Samoa, Nord-
amerika und Melanesien helfen ihm weiter. Auf Samoa werden Götter verehrt,
die, entsprechend den Grundzügen des Totemismus, zum einen jeweils in Bezug
zu einer lokalen Gruppe stehen und sich zum anderen von einer Tiergattung ver-
treten lassen (ebd., S. 285). Hingegen lassen sich Götter in Nordamerika und
Melanesien nicht feststellen, dafür aber eine anonyme Kraft, die man je nach
Kirche wakan, orenda oder mana nennt (ebd., S. 286 ff.). Was dem Totemismus
in Australien nicht gelingt, ist die Abstraktion dieser Kraft von den heiligen Din-
gen. Im Denken der Gläubigen auf Samoa und in Australien tut es der Sakralität
keinen Abbruch, wenn ein Exemplar des verehrten Tieres stirbt, nur sind erstere
in der Lage, die Vorstellung zu bezeichnen und zu beschreiben, die sie von der
Tiergattung filtern. Diese Abstraktion gelingt auch den Kirchen, denen die ano-
nyme Kraft bekannt ist, aber man stellt sie sich nicht in Umrissen vor. In Austra-
lien jedoch erfolgt die Verehrung nicht losgelöst von der Totemabbildung, d.h.
die zu ihr gehörende Vorstellung wird nicht konkretisiert (ebd., S. 282). Dass das
Denken der australischen Gläubigen anders beschaffen ist, nämlich der Abstrak-
tion nicht gewachsen ist, weist Durkheim zurück. Stattdessen nennt er die sozia-
len Bedingungen, die sie daran hindern, sich über jene anonyme Kraft zu ver-
ständigen, denn eigentlich sollte die geglaubte Wesensgleichheit zwischen den
sinnhaft heterogenen Dingen, die dem Clan zugeteilt sind, die Abstraktion er-
möglichen. Solange die Clane innerhalb eines Stammes autonom sind und sich in
nebeneinander liegende Welten durch je einzelne Totems teilen, gibt es, so
Durkheim, keinen Anlass, um das eigene und von den anderen Clanen verehrte
Totem von einer gemeinsam anonymen Kraft betroffen zu denken (ebd., S. 292).
Diese ist dem australischen Totemismus zwar unbekannt, weil aber die we-
sentlichen Eigenschaften der heiligen Dinge seiner Kirche keine Überschneidun-
238 3 Émile Durkheims Welt
gen aufweisen, kann es nur die Betroffenheit von der anonymen Kraft sein, die
ihnen gemeinsam ist. Die Absicht des Vergleichs, den Durkheim mit den unter-
schiedlichen Daten vornimmt, ist es, offen zu legen, dass die anonyme Kraft
losgelöst von den heiligen Dingen besteht.
„Der Totemismus ist keine Religion dieser oder jener Tiere, dieser oder jener Men-
schen oder dieser oder jener Bilder, sondern einer anonymen und unpersönlichen
Kraft, die sich in jedem dieser Wesen befindet, ohne mit einem von ihnen zusam-
menzufallen. Keiner besitzt sie ganz, aber alle sind daran beteiligt. Sie ist von den
einzelnen Trägern, in denen sie sich inkarniert, derart unabhängig, dass sie ihnen vo-
rangeht und sie überlebt“ (ebd., S. 281).
Alles, was im Totemismus zum Gegenstand der Ehrfurcht wird, muss von etwas
betroffen sein, das gegenüber allem, was heilig ist, anders und selbständig ist, da
sich nur so erklären lässt, dass erstens die heterogene Beschaffenheit der heiligen
Dinge ansonsten keinen gemeinsamen Nenner zulässt, ihnen also nichts an sich
eigen ist, was veranlasst sie zu verehren. Schließlich reicht es aus, eine Position
im Clan zugewiesen zu bekommen. Zweitens ist es nur dann möglich, die Identi-
fikation der Totemabbildung einer relativen Beliebigkeit zu überlassen. Obwohl
sich dem ethnographischen Material für Australien nicht entnehmen lässt, dass
sich die Gläubigen etwas vorstellen, das der Totemabbildung übergeordnet ist,
lässt der Vergleich mit den anderen totemistischen Kirchen, deren Gläubigen die
Abstraktion von den heiligen Dingen möglich ist, die anonyme Kraft hervortre-
ten. Verehrt werden nicht die heiligen Dinge, sondern das, was die Dinge heilig
macht und was sie repräsentiert. Nur das erklärt, warum Exemplare der heiligen
Dinge vergehen können, ohne dass die entsprechenden Glaubensvorstellungen
an Geltung verlieren und warum ein Abbild heilig ist, das augenscheinlich auch
die Wiedergabe vielfältiger und untereinander verschiedener Dinge sein kann.
Wenn die anonyme Kraft im Denken der Clanangehörigen alles befällt, was
ihrem Clan zugeordnet ist, aber von allen zugeordneten Dingen verschieden ist,
dann, so Durkheim, ist sie dermaßen vage, dass sie keine Eigenschaften hat. Was
sie aber kann, ist hinter allem zu stehen, was ist und lebt.
„[…] mana sitzt nirgends und ist doch überall. Alle Lebensformen, alle Leistungen
der Menschen oder lebender Wesen, selbst der Mineralien werden seinem Einfluss
zugeschrieben“ (ebd., S. 290; Herv. im Orig.).
In der Abstraktion der anonymen Kraft, die sich auf den heiligen Dingen nieder-
lässt, konstatiert Durkheim das Prinzip der Kausalität. Sie ist in den totemisti-
schen Kirchen die Ursache aller Dinge. Was glückt und was misslingt, ist mehr
oder weniger von ihr berührt. Sie muss für die Erklärung des physischen Lebens
herhalten, aber auch für die Rechtfertigung der Verbindlichkeiten, die zwischen
den Angehörigen einer Kirche bestehen (ebd., S. 283).
3.5 Kollektivapotheose (Die elementaren Formen des religiösen Lebens) 239
Jedes heilige Ding ist von ihr belebt, auch das Individuum. Der Clanange-
hörige hat die anonyme Kraft in sich, denn in der Ordnung des Totemismus ist
auch er heilig.131 Im Individuum ist also etwas, was vom Organismus verschie-
den ist, nämlich das, was man andernorts die Seele nennt. Der Umgang mit dem
Tod und die Erklärung für den Nachwuchs lässt die anonyme Kraft im Individu-
um hervortreten. Für die Verstorbenen sind nämlich eigens Trauerriten einge-
richtet, die nicht den sinnhaften Teil, also nicht den Leichnam des Clanangehöri-
gen zum Gegenstand haben (ebd., S. 360). Vom Toten bleiben zwei Teile übrig,
wovon eins, so Durkheim, vom Körper losgelöst ist. Die ethnographischen Auf-
zeichnungen über die Empfängnismythen geben weitere Auskunft, und zwar: Im
Denken der Gläubigen weist jedes Neugeborene eine Verbindung zu den Ahnen
des Clans auf, die für jede Schwangerschaft verantwortlich gemacht werden.
„Die Geburt ist die Verkörperung der Ahnenperson“ (ebd., S. 373). Die unfass-
bare Seite des Individuums steht für das übertragene Wesen der Ahnen, das sich
gegenüber dem Körper selbständig verhält. Mit dem Totem waren diese aber zur
Ursprungszeit des Clans nicht ungleich. Aus den dokumentierten Mythen geht
hervor, dass Totemtier oder -pflanze anfangs mit den Ahnen vermengt waren.
Weil sie zusammenfallen, ist auch die Seele des Neugeborenen mit ihnen we-
sensgleich. „Aber nicht als empirisches und sinnhaftes Wesen“ (ebd., S. 382).
Sind Ahnen und Totem vermischt, so gilt das auch für die Seele des Individu-
ums. Die Gläubigen nehmen insgesamt an, mit dem Totem in einem tatsächli-
chen Verwandtschaftsverhältnis zu stehen, und das obwohl die empirischen Un-
vereinbarkeiten nicht zu leugnen sind. Weil sie ebenso wie das Totem von der
anonymen Kraft belebt werden, sind sie allesamt miteinander verwandt, die ver-
storbenen, die lebenden und die kommenden Clanangehörigen und das Totem
(ebd., S. 329). Im Totemismus ist somit auch das Individuum als Angehöriger
des Clans heilig, aber das gilt nur für eine der beiden Seiten, nämlich die, die
nicht an den Körper gebunden ist und mit dem Wesen der Ahnen übereinstimmt.
Die anonyme Kraft befällt die Dinge einschließlich der Menschen, die in
der Ordnung des Stammes einem Clan zugeordnet werden, sie steht hinter der
Totemabbildung und mit ihr lässt sich für das Geschehen und Leben eine Ursa-
che angeben. Durkheim muss nun eine Erklärung dafür finden, warum sich die
anonyme Kraft auf Dingen fixiert, die hiernach heilig sind. Im Hinblick darauf
muss er berücksichtigen, die totemistischen Glaubensvorstellungen nicht als Irr-
tum zu entlarven. Anders ausgedrückt: Wenn ein Ding, dessen empirischen Züge
von bescheidener Natur sind oder sich nur von Eingeweihten überhaupt erkennen
lassen, so dass es von sich aus weder ein erhabenes Gefühl noch Furcht und Be-
drohung hervorruft, dann muss sich seine Sakralisierung keiner Illusion, aber
einer Wirklichkeit verdanken, und die lässt sich ausfindig machen, wenn man
131 Daher nennt Peter Berger das Chaos als die „Gegenkategorie“ des Heiligen (vgl. Berger 1988,
S. 27).
240 3 Émile Durkheims Welt
ihre Gründe zum Vorschein bringt. Gelingt das, so ist jeder Vorwurf ungebühr-
lich, der eine Kirche wegen seltsamer Glaubensvorstellungen der Selbsttäu-
schung bezichtigt. Durkheim verfährt in dieser Hinsicht so, dass er der Quelle
der heiligen Dinge, aber auch den Auswirkungen nachgeht, die von Seiten der
anonymen Kraft die Kirche und den einzelnen Gläubigen treffen. Ihn interessiert,
was die Gläubigen veranlasst, sich an einer anonymen Kraft zu orientieren und
wofür die heiligen Dinge stellvertretend stehen, denn weil sich deren Status auf
die anonyme Kraft zurückführen lässt, sind sie ein Symbol für etwas anderes.
Die ethnographischen Beobachtungen über die Corrobbori helfen ihm weiter.
Zeremonien sind Anlässe für die Versammlung der Angehörigen des Clans
und Corrobbori sind Zeremonien, an denen es den Frauen und Nicht-Initiierten
eines Clans erlaubt ist, sich zu beteiligen (ebd., S. 319). Durkheim stellt eine
Beobachtung besonders hervor, nämlich die beträchtliche und sich selbst ver-
stärkende Erregung, die er Efferveszenz nennt (ebd., S. 320). Die aufwallenden
Emotionen, so das ethnographische Material, nehmen zu, während die Beteilig-
ten die rhythmischen Bewegungen des Rituals zu Ehren des Totems durchfüh-
ren. An ihnen lassen sich intensive Gefühle der Erregung beobachten, die in ei-
nem Zusammenhang mit den Verhaltensweisen der Zeremonie stehen, d.h. die
Erregung bildet sich heraus, weil die Beteiligten, und das bemerkt Durkheim,
unter sozialem Einfluss stehen. Ansonsten steht keine Kraft zur Verfügung, die
während der Zeremonie den Organismus der Beteiligten beeinflusst. „Nun wirkt
aber die Ansammlung allein schon wie ein besonders mächtiges Reizmittel“
(ebd.). Für die Gläubigen gehen die heftigen Gefühle zwar auf die anonyme
Kraft zurück, von der sie sich betroffen glauben und die sich im verehrten und
für die Zeremonie zentralen Totem symbolisiert, tatsächlich aber gewinnt der
Clan durch seine außeralltägliche Vollversammlung eine Kraft. Ursprung der
Efferveszenz ist für Durkheim die Zeremonie, denn sie veranlasst, dass sich die
gesamte Kirche im Hinblick auf die gleichmäßige Verehrung des Totems ver-
sammelt (ebd., S. 325). Hinter der Erregung stehen dichte Interaktionen. Es sind
also erstens die anonyme Kraft, die sich in der Totemabbildung symbolisiert und
zweitens die Wirkungen, die durch gleichmäßige Verhaltensweisen versammel-
ter Menschen hervorgerufen werden, besonders intensiv. Die Sakralität der To-
temabbildung ist während der Zeremonie erschöpfend, da es jene ist, an die sich
das Ritual richtet, nur ist es nicht sie, sondern das Soziale, das die Erregung her-
vorruft. Weder dem einzelnen Gläubigem noch der verehrten Totemabbildung
kann die beobachtete Efferveszenz entspringen. Die Ursache ist dem zwar Gläu-
bigen äußerlich, aber er macht das heilige Ding dafür verantwortlich. Die allseits
erlebte Erregung wird auf die Totemabbildung zurückgeführt, an die sich das
gemeinsame Handeln während der Zeremonie richtet. Durkheim konstatiert:
„Der heilige Charakter, der eine Sache bekleidet, liegt also nicht in den inneren Ei-
genschaften der Sache selbst: er ist dazugekommen. Die Welt des Religiösen ist also
3.5 Kollektivapotheose (Die elementaren Formen des religiösen Lebens) 241
kein besonderer Aspekt der empirischen Natur, er ist ihr immer aufgesetzt“ (ebd., S.
339; Herv. im Orig.)
Er führt also die anonyme Kraft auf die faktisch gegenwärtige Versammlung der
Beteiligten zurück, nur gründet sie sich nicht auf der Menge, sondern auf den
sozialen Wechselwirkungen, die sich während der Zeremonie ereignen. Weil die
Sakralität der Totemabbildung sozialer Natur ist, sind Zeremonien unerlässlich.
Die Sakralität verkümmert sonst. Bleibt die Durchdringung der Clanangehöri-
gen, wie sie beim Corrobbori besonders intensiv erfolgt, langfristig aus, so
schreibt man einem heiligen Ding nicht mehr die anonyme Kraft zu und es bleibt
auf seine empirischen Komponenten reduziert. Somit kann man den Gläubigen
einer seltenen Kirche, unabhängig davon wie irrwitzig ihre heiligen Dinge sind,
nicht vorwerfen, dass sie sich einer Illusion hingeben.
Was tatsächlich die Effekte der Versammlung hervorruft, ist dem Gläubigen
nicht zugänglich. In seinem Denken sind es die heiligen Dinge, denen er die Ef-
ferveszenz verdankt. Die Sakralität der heiligen Dinge entspringt einer Zuschrei-
bung. Durkheim nimmt folgenden Vergleich vor: Neben Dingen, die für eine
Kirche heilig sind, gibt es weitere Dinge, die zwar religiös belanglos sind, aber
Gegenstand der Verehrung sind. Ihre sinnlichen Eigenschaften sind allerdings
ebenfalls nicht in der Lage, ihre Verehrung hervorzurufen. Hierfür nennt Durk-
heim Herrscher, Adlige, Prinzen und politische Führer, er verweist auf Ideen wie
wissenschaftlichen Fortschritt, Vaterland oder Freiheit. Darüber hinaus bemerkt
er, dass eine Fahne und sogar eine abgestempelte Briefmarke, deren Nutzen ein
für alle Mal dahin ist, zum Gegenstand der Apotheose werden können, und das
obwohl ihre materialen Bestandteile keine Veranlassung hierzu geben (ebd., S.
317 ff.).132
Was die Dinge demnach gemeinsam haben, ist die fehlende Kraft in ihren
konstitutiven Eigenschaften, auf die man den ihnen gebührenden Respekt zu-
rückführen kann. Nichtsdestoweniger stehen sie in Verbindung mit einer Kraft,
die, so Durkheim, das Verhalten des Individuums einem physikalischen Phäno-
men gleichen lassen kann (ebd., S. 337). Nur eine Kraft, die von der Naturkraft,
aber nicht von der anonymen Kraft des Totemismus grundverschieden ist, kann
das Individuum unterordnen, und das ist die Kraft des Sozialen. Wenn die Dinge,
die Ehrfurcht auf sich ziehen können, deswegen das Individuum veranlassen
132 Fustel de Coulanges, von dem ein Einfluss auf Durkheim ausging, kommt am Beispiel des in
der Antike verehrten Herdfeuers auf ein ähnliches Ergebnis: „Das Herdfeuer ist also eine Art
moralisches Wesen. Zwar leuchtet es, erwärmt und kocht die heiligen Speisen, aber es ist zu-
gleich Gedanke, Bewusstsein; es ersinnt Pflichten und wacht darüber, dass sie erfüllt werden.
Man könnten es einen Menschen nennen, denn es hat die doppelte Natur des Menschen: Mate-
riell betrachtet, glüht es, bewegt sich, lebt, spendet Fülle, hilft die Mahlzeiten bereiten und
nährt so den Körper; moralisch betrachtet, hat es Gefühle und Neigungen, gibt dem Menschen
die Reinheit, befiehlt das Schöne und Gute, nährt die Seele“ (Fustel de Coulanges 1988, S. 49
f.).
242 3 Émile Durkheims Welt
können, sich ihnen ungeachtet von Kosten und Nutzen hinzugeben, weil sie über
etwas verfügen, was ihnen nicht inhärent ist, dann sind sie bloß der Träger einer
ihnen äußerlichen Macht. Sie kann das Individuum so beeinflussen, wie es den
Zwängen der Natur gelingt, nur übt sie keine natürliche, doch eine moralische
Macht aus, die sich an den Gegenständen der Ehrfurcht objektiviert, ohne dass
diese in der Lage sind, eine Kraft aus ihrer Beschaffenheit entspringen zu lassen
(ebd., S. 308). Gibt man sich der Macht der verehrten Dinge hin, so geschieht
das nicht unter der Bedingung, dass sie die physische Widerstandskraft des Men-
schen brechen oder er deren physische Überlegenheit einsieht. Kann jemand
trotz seiner physischen Unterlegenheit anderen erfolgreich verordnen, gegen
ihren Nutzen zu handeln, so geht das auf eine Kraft zurück, die nicht von ihm
abhängt, denn sie ist sozialen Ursprungs.
Durkheim veranschaulicht auf diese Weise die Wirkung der „Meinung“,
d.h. die Gegenstände der Ehrfurcht objektivieren die Macht des Sozialen, mit der
sie auf der einen Seite den von ihr Betroffenen zu verstehen geben, dass diese
von einer ihnen äußerlichen Instanz unterworfen werden und ohne die sie auf der
anderen Seite auf ihre konstitutiven Eigenschaften reduziert sind. „Die Meinung,
ein primär soziales Phänomen, ist also die Quelle der Autorität […]“ (ebd., S.
309). Schließlich folgt auf ein Vergehen, mit dem verehrte Gegenstände verletzt
werden, keine natürliche Reaktion gegen den Übeltäter, sondern ein sozialer
Vorgang, nämlich die Missbilligung, bei der man zueinander findet, wenn man
Ehrfurcht für den verletzten Gegenstand teilt.
Die moralische Kraft des Sozialen und die anonyme Kraft des Totemismus
stimmen also wie folgt überein: Verhaltensvorschriften, für die man eigene Inte-
ressen zurückstellen muss, können sich dem Individuum durch Zwang aufdrän-
gen. Für ihren Erfolg ist es ausreichend, wenn man sich die eigene Unterlegen-
heit gegenüber dem Zwang vorstellt, ohne dass einem tatsächlich eine physische
Nötigung widerfährt. Im Denken des Betroffenen kann eine Weisung, die nicht
mehr als die isolierte Erfindung eines Einzelnen ist, nicht die Durchsetzungsfä-
higkeit einer sozialen Verhaltensvorschrift erreichen. Stattdessen gleicht die mo-
ralische Kraft im Hinblick auf ihre Wirkung heiligen Dingen, die auf sich ge-
stellt untauglich sind, Ehrfurcht auf sich zu ziehen. Insofern ihre Sakralität arbit-
rär ist, sind sie von sich aus nicht befähigt, sich den Gläubigen aufzudrängen.
Durkheim schreibt:
„Wenn die Gesellschaft von uns diese Zugeständnisse und Opfer nur durch einen
materiellen Zwang erhielte, so könnte sie in uns nur den Gedanken einer physischen
Kraft erwecken, der wir gezwungen weichen würden, und nicht den einer morali-
schen Macht, die den Mächten gleicht, die die Religionen verehren“ (ebd., S. 308).
Beide also, die Macht des Sozialen und die anonyme Kraft sind in der Lage, das
Verhalten des Menschen so zu verursachen, als ob sie ihn körperlich bedrängten.
Neben der Bedrängung kennzeichnet die Selbsterhöhung des Individuums das
3.5 Kollektivapotheose (Die elementaren Formen des religiösen Lebens) 243
Soziale. In der Art liegt das auch im Fall der Religion vor. Dass sich ein wohl-
wollender Effekt auf Seiten dessen beobachten lässt, der sich einer moralischen
Macht unterordnet, ist für Durkheim an der Wertschätzung und Anerkennung
infolge von vorschriftsmäßigem Verhalten erkennbar. Bleiben diese bei morali-
scher Harmonie aus, so geht dem Individuum die Voraussetzung dafür ab, das
eigene Selbstbewusstsein hervorzubringen. Ohnehin ist es ausgeschlossen, dass
dieses einer reinen Schöpfung des Individuums entspringt. Für dessen Selbstbe-
wusstsein stehen seiner Initiative, so Durkheim, vorgefertigte Zivilisationsgüter
jeglicher Art zur Verfügung (ebd., S. 315). Das Individuum wird somit von ver-
schiedenen moralischen Kräften durchdrungen, die für seine Stärkung unent-
behrlich sind.
Obendrein macht Durkheim diese Durchdringung auch für die unfassbare
Seite des Individuums, nämlich die „Seele“ verantwortlich. So nennt er auch die
totemistische Glaubensvorstellung über die Sakralität des Individuums, von der
nur die eine von dessen zwei Seiten, nämlich die von dem Totem- und Ahnen-
wesen herstammende Seite betroffen ist, weil sie den Ursprung mit jener abend-
ländischen Idee teilt. Ohne transzendiert zu sein, geht dem Individuum die Dua-
lität ab. Wenn Durkheim also von der Seele spricht, so reduziert er sie nicht auf
die im Denken des Abendlandes gleichnamige Idee. Stattdessen will er auf diese
Weise die Zweiheit des Individuums aufgreifen, von der er denkt, dass sie zu
allen Zeiten vorkommt (ebd., S. 354): An jedem Körper, der für die profane Sei-
te des Individuums steht, schließt eine heilige Seite an. Die klassische Idee der
Seele beruht zuletzt nicht darauf, dass sie sich den Sinnen entzieht. Ihr eigentli-
ches Wesen ist die Sakralität, was aus dem radikalen Gegensatz zum Profanen
herrührt. Für die totemistischen Gläubigen ergibt sich, den oben erwähnten My-
then zufolge, die heilige Seite des Individuums aus der Verwandtschaft mit den
Ahnen des Clans und dem Totem, wobei dieses und jene nicht verschieden sind.
Das Individuum hat eine Seele, weil es von der anonymen Kraft betroffen ist.
Die global bekannte Idee der Seele ist also, sofern ihr die Sakralität wesentlich
ist und sie Ehrfurcht auf sich ziehen kann, keine Illusion, sondern sie hat Ursa-
chen und sie erfüllt eine elementare Funktion. Durkheim erklärt das folgender-
maßen: Auf der einen Seite weist die Seele eine Verbindung zu nur einem Indi-
viduum auf und auf der anderen Seite findet man sie in den Vertretern aller Ge-
nerationen eines Clans wieder. Beides kann sie, so Durkheim, weil sie vom Kör-
per des Individuums unabhängig ist. Anders ausgedrückt: Die anonyme Kraft
lässt sich in den einzelnen Clanangehörigen nieder, ohne ihrem eigenen Wesen
einen Schaden zuzufügen (ebd., S. 391).
„So wie man in der Seele die charakteristischen Attribute des mana findet, so genü-
gen zweitrangige und oberflächliche Veränderung, dass sich das mana als Seele in-
dividualisiert“ (ebd.; Herv. im Orig.).
244 3 Émile Durkheims Welt
Wenn sich die anonyme Kraft im Individuum festsetzt, wird sie die Ehrfurcht
bewirken, die ihr auch ansonsten eigentümlich ist. Von den zwei Seiten der Dua-
lität lässt sich die heilige Seite auf die anonyme Kraft zurückführen. Was aber
der anonymen Kraft gelingt, ist auch der Macht des Sozialen möglich. Das Indi-
viduum verinnerlicht das Soziale, ohne das es keine Aussicht auf Selbstbewusst-
sein hat. Insofern es hinter den Verhaltensvorschriften des Sozialen steht, hat es
zuvor Ziele in sich eingemeindet, die nicht aus seiner eigenen Schöpfung her-
vorgehen. Das verinnerlichte Soziale löst auf Seiten des betroffenen Individuums
das aus, was es eigentümlicherweise bewirkt: Man wird sich der eigenen Unter-
ordnung gegenüber einer äußeren Instanz bewusst, die sich ohne Einsatz physi-
schen Zwangs einen Vorrang verschaffen kann (ebd., S. 388). Es besteht also
äußerste Andersartigkeit zwischen dem Sozialen im Individuum und dessen kör-
perlicher Konstitution,133 weil letztere an der Geltung der verinnerlichten Ziele
unbeteiligt ist. Darauf stützen sich die zwei Seiten des Individuums. Auf diese
Weise kann Durkheim erklären, dass von der einen Seite außer dem Körper
nichts übrig bleibt, zieht man das verinnerlichte Soziale ab. Er schreibt:
„Wenn wir tatsächlich in uns den Begriff der moralischen und religiösen Imperative
nicht hätten, wäre unser psychisches Leben nivelliert, alle unsere Bewusstseinszu-
stände stünden auf der gleichen Ebene und jedes Gefühl der Dualität wäre ver-
schwunden“ (ebd., S. 389).
Durkheim geht aber noch weiter. Er legt den Zusammenhang zwischen der Idee
der Seele und der modernen Idee der „Persönlichkeit“ offen. Würde das Soziale
nicht für die Dualität des Individuums sorgen, dann büßte es jede Chance auf
eine Persönlichkeit ein, denn schließlich ist es nicht in der Lage etwas hervorzu-
bringen, was dessen reine Erfindung ohne den Zusatz vorgefertigter Dinge ist.
Auf die eine Seite der Dualität hat es Zugriff. Obwohl die Macht des Sozialen, so
Durkheim, das Individuum zwar unterwirft, bleibt die individuelle Initiative üb-
rig, die das Soziale in einer je einzigartigen Weise umsetzt (ebd., S. 398).134 Die
Dualität ist daher ein universelles Phänomen, denn das Soziale gibt es nicht ohne
Individuen, in denen es sich niederlässt und somit ist die Seele keine errungene
Idee einer zivilisatorischen Etappe, sondern ein logische Folge von Gesellschaft
133 Peter Berger verknüpft Durkheims Ergebnisse über die Faktoren des anomischen Selbstmords
mit den Überlegungen zur Seele, ohne die dem Individuum die Möglichkeit abgeht, die subjek-
tiven Erfahrungen zu ordnen. Er schreibt: „Der heilige Kosmos, der den Menschen übergreift
und in seine Wirklichkeitsordnung einschließt, bietet ihm so den Schutz des Absoluten vor
dem Grauen der Anomie“ (Berger 1988, S. 27).
134 Aus dem Grund schließt Peter Berger die „totale Sozialisation“ aus (vgl. Berger 1988, S. 16).
Die einzigartige Umsetzung des Sozialen lässt Habermas in seiner Kritik an Durkheim aus,
wenn er Folgendes schreibt: „Das Individuum verdankt seine Identität als Person ausschließ-
lich der Identifizierung mit, bzw. der Verinnerlichung von Merkmalen der kollektiven Identi-
tät; die persönliche Identität ist eine Spiegelung der kollektiven […]“ (Habermas 2006, S. 91
f.).
3.5 Kollektivapotheose (Die elementaren Formen des religiösen Lebens) 245
(ebd., S. 393). Das bedeutet wiederum: Insofern die eine Seite der Dualität aus
dem individualisierten Sozialen besteht und sie an der Vergänglichkeit der ande-
ren Seite nicht teilhat, ist es die moralische Kraft, die das Individuum überlebt.
Weil sich das Soziale im Individuum integriert, haben alle, die davon be-
troffen sind, etwas gemeinsam, was davon ausgeschlossen ist zu vergehen. In
jedem Individuum ist einer externe, transzendente Macht eingelassen, die sich in
jeder Generation aufs Neue verkörpert. Durkheim führt darauf den Glauben an
die Unsterblichkeit der Seele zurück (ebd., S. 396). Die persönliche Seite der
Seele hat in der Initiative im Umgang mit dem verinnerlichten Sozialen ihren
Ursprung. Hingegen ist die Seite der Seele, die Durkheim das „moralische Be-
wusstsein“ nennt (ebd., S. 412), die Verlängerung des Sozialen im Individuum,
der es Stärkung und Schutz verdankt.
Aus den totemistischen Mythen liest er heraus, was als Symbol für das mo-
ralische Bewusstsein dient. Die äußere Instanz, mit der sich die totemistischen
Gläubigen angeschlossen fühlen, wenn sich ihr moralisches Bewusstsein be-
merkbar macht, wird durch die Ahnenwesen des Clans symbolisiert. Das konsta-
tiert Durkheim anhand der mythischen Funktionen und Merkmale der Ahnen,
und zwar glauben sich die Clanangehörigen geschützt und gestärkt, weil sie die
eigene Abstammung auf die Ahnenwesen zurückführen bzw. sich selbst bloß als
deren „Double“ ansehen (ebd., S. 408). Durkheim führt somit den Glauben an
die Verwandtschaft mit den Ahnen des Clans auf die eigensinnige Interpretation
der moralischen Kraft zurück, von der die Clanangehörigen betroffen sind. Es
sind die verinnerlichten Imperative und nicht die persönliche Seite der Seele,
deren Höherwertigkeit das Individuum sich selbst gegenüber einsieht. Der un-
persönliche Teil der Seele ist bei allen Angehörigen des Clans nicht verschieden,
weil er seinen Ursprung im Sozialen hat. Er ist das verinnerlichte Soziale, das
einen kontrollierenden Einfluss auf die Persönlichkeit ausübt. Die Befolgung des
moralischen Bewusstseins stärkt schließlich die Clanangehörigen in der Weise,
wie er sich durch Verwandtschaft mit den Ahnen des Clans gestärkt fühlt (ebd.,
S. 412), d.h. im Denken der Clanangehörigen ist die Quelle für die Selbsterhö-
hung in den Ahnenwesen repräsentiert. Die Ahnen sind das Symbol für die
Macht des Sozialen im Clan, die jeden verstorbenen Angehörigen überlebt. Die
Höherwertigkeit der Ahnen beruht aber nicht auf der geglaubten Verwandtschaft.
Stattdessen verhält es sich umgekehrt (ebd., S. 329): Die Unterwerfung löst den
Verwandtschaftsglauben aus, weil sie gegenüber der moralischen Kraft erfolgt,
die sich auf alle Angehörigen des Clans auswirkt. Voraussetzung ist die Unter-
werfung, an die der eigensinnige Verwandtschaftsglaube anknüpft.
Was sich also im Individuum radikal von der körperlichen Konstitution un-
terscheidet, ist das verinnerlichte und trotz individueller Gestaltung in seinem
Wesen nicht veränderte Soziale. Es individualisiert sich, bleibt den Sinnen ent-
zogen und wird im Falle, dass das Individuum verstirbt, nicht unmittelbar mit
dessen Körper verschwinden. An der Seele drückt sich das individualisierte So-
246 3 Émile Durkheims Welt
ziale aus, wenn das Individuum die eigene Tatkraft für geltende Orientierungs-
möglichkeiten einsetzt.135 Die stets vom Körper andersartige Seele geht demnach
auf die Durchdringung des Individuums durch das Soziale bzw. durch das Ah-
nen- und Totemwesen zurück und deswegen ist diese jeweils einzigartige Appli-
kation, nämlich die Seele das, was das Individuum zu einem heiligen Wesen
macht. Die Sakralität ist also dem Individuum hinzugefügt, da es in seiner kon-
stitutiven Beschaffenheit nichts aufweist, was suggeriert, dass es heilig ist. Seele
und Persönlichkeit sind nicht das eigenständige Werk des Individuums, sondern
beruhen darauf, dass sich das Individuum dem verinnerlichten Sozialen unter-
wirft. Die Selbsterhöhung und das Selbstbewusstsein überhaupt lassen sich los-
gelöst vom Sozialen nicht bewerkstelligen.
Die Macht des Sozialen ist also, obwohl ihre Wirkungen denen natürlicher
Kräfte vergleichbar ist, weder eine physische Macht, noch wird sie als solche
vorgestellt. Der Widerstand des Individuums bereitet ihr nicht allenthalben
Komplikationen, weil es sich in der Hinsicht ehrfürchtig zeigt, als dass es sich
ihretwegen Opfer auferlegt. Ferner entnimmt es ihr, wenn sie es durchdringt,
eine Stärkung, auf die es nicht verzichten kann. Darin stimmt sie mit der anony-
men Kraft überein, die sich im totemistischen Glauben auf den heiligen Dingen
niederlässt. Nur das Soziale ist in der Lage, Ehrfurcht gegenüber bestimmten
Dingen einzufordern, die an sich nichts aufweisen, was die außerordentliche
Bewunderung mobilisieren kann. In ihren wesentlichen Eigenschaften ist an-
sonsten nichts, was die Ehrfurcht rechtfertigt. Die moralische Kraft kann ein
profanes Ding sakralisieren, wobei nichts, gleich wie nutzlos es ist, davon ausge-
schlossen ist, in den Kreis der heiligen Dinge aufgenommen zu werden (ebd., S.
62). Heilige Dinge haben moralische Züge und sie haben empirische Züge, aber
nur die Ersten erschaffen Sakralität. Das Material der Dinge kann die anonyme
Kraft nicht ins Leben rufen. Sie transzendiert sie in der Weise, wie sie in das
Individuum eindringt, nur schreibt dieses sie einem äußeren Objekt zu.
Wenn die totemistischen Gläubigen die Efferveszenz der Zeremonie erklä-
ren wollen, dann täuschen sie sich, wenn sie nur das Totemabbild zum Urheber
der Erregung machen. Ihnen ist aber bewusst, dass sie die Wirkung einer ihnen
äußerlichen Ursache trifft, denn schließlich erleben sie Gefühle, die sie alleine
nicht hervorrufen können. Was sich den heiligen Dingen sinnhaft entnehmen
lässt, reicht nicht aus, deren Sakralität und die registrierte Selbsterhöhung herlei-
ten zu können. Durkheim macht die Komplexität des Sozialen dafür verantwort-
lich, dass die anonyme Kraft materiellen Trägern zugeordnet wird. Es ist um-
ständlich, einen Zwang zu erklären, der zudem mit behaglicher Unterwerfung
135 Diese Erleichterung ist eine unverzichtbare Funktion der Religion, die Thomas Luckmann wie
folgt kennzeichnet: „Das Vorhandenseins eines Bedeutungsreservoirs enthebt den Einzelnen
der so gut wie unerfüllbaren Aufgabe, auch nur ein rudimentäres Bedeutungssystem zu erzeu-
gen“ (Luckmann 1967, S. 192).
3.5 Kollektivapotheose (Die elementaren Formen des religiösen Lebens) 247
versammelt ist (ebd., S. 327). Das Symbol steht schließlich zur Stelle, wenn die
Interaktionen der Angehörigen in der Versammlung des Kollektivs efferveszie-
rend wirken und die individuelle Tatkraft dadurch zunimmt. Für die Angehöri-
gen ist es das Symbol, das die Effekte der Versammlung anrichtet und die verur-
sachende Eigenschaft, um die der materielle Träger des Symbols ergänzt ist,
erneuert sich. Ein Kollektiv kann also nicht entstehen, ohne dass sich Symbole
entwickeln. Sind Dinge attribuiert, so erhalten sie Eigenschaften, die sie faktisch
nicht aufweisen und die somit durch die Erfahrung nicht erreichbar sind. Über-
sinnliches ist daher für Durkheim unvermeidbar, es ist eine logische Folge des
sozialen Lebens (ebd., S. 618). Er schreibt:
„Eine Gesellschaft kann nicht entstehen, noch sich erneuern, ohne gleichzeitig Idea-
les zu erzeugen. Diese Schöpfung ist für sie nicht irgendeine Ersatzhandlung, mit
der sie sich ergänzt, wenn sie einmal gebildet ist, es ist der Akt, mit dem sie sich
bildet und periodisch erneuert“ (ebd.).
Die Totemabbildung sucht man nicht aus, damit sie an die kognitiv bequeme
Stelle der Kirche tritt, d.h. das Symbol wird der Kirche nicht hinzugefügt. Statt-
dessen erfüllt sie den Zweck, den Gläubigen bewusst zu machen, dass sie einer
Moral unterstehen. Vor diesem Hintergrund tritt der Ursprung der Sakralität her-
vor. Weil nämlich ein heiliges Ding ein Symbol ist, das für etwas anderes steht
und das Symbol, das zuallererst ein gewöhnliches Zeichen ist, nicht anders als
aus der mittels Zeichen möglich gemachten Synthese der Interaktion entsteht,
kann die Sakralität nur arbiträr entstanden sein. Durkheims Ergebnis ist nun re-
konstruierbar: Die Totemabbildung symbolisiert zweierlei, und das sind zum
einen das Totem und zum anderen die Kirche. Sie ist das Zeichen, mit dem sich
die Clane unterscheiden und mit dem sie ihre Einzigartigkeit sichtbar machen.
Die Kirche verehrt sich also selbst.
„Es ist, ganz allgemein gesprochen, nicht zweifelhaft, dass eine Gesellschaft alles
hat, um in den Geistern, allein durch ihre Wirkung auf sie, das Gefühl des Göttli-
chen zu erwecken; denn sie ist für ihre Mitglieder das, was ein Gott für seine Gläu-
bigen ist“ (ebd., S. 307).136
136 Stephan Moebius (2004) untersucht eine Initiative im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts von
Seiten einiger französischer und deutscher Intellektueller, die sich u.a. und insbesondere von
Durkheims Arbeiten zur Religion inspirieren lassen. Ihr Vorhaben, die Sakralsoziologie, so ihr
Stichwortgeber George Bataille, (ebd., S. 3251) sieht die Erforschung, aber auch die Initiierung
sakraler Zeiten in modernen Gesellschaften vor. Man beabsichtigte die in nicht-modernen Ge-
sellschaften erforschte Integration durch Efferveszenz und Selbsterhöhung in modernen Ge-
sellschaften ausfindig zu machen und zu bewirken, um damit die Integrationsdefizite durch In-
dividualisierungsfolgen aufzufangen, bevor das faschistischen Bewegungen gelingt (ebd., S.
3256). Dass sich Durkheims Überlegungen dafür eignen, überrascht Adorno nicht (vgl. Adorno
1976, S. 15).
3.5 Kollektivapotheose (Die elementaren Formen des religiösen Lebens) 249
Insofern die Sakralität der Totemabbildung während eines Kults die maximale
Intensität erreicht, geht von der Versammlung eine integrative Kraft aus. Auf
Seiten der Gläubigen erhöht sie nicht nur die Kräfte, sondern sie aktualisiert die
Besinnung auf die Zugehörigkeit zur Kirche, weil das Symbol, das für sie steht,
deren Geistesgegenwart beherrscht. Die Apotheose der Gemeinde ermutigt das
Individuum und integriert die Kirche und das macht jede Glaubensvorstellung so
widerstandsfähig gegen rationale Widerlegungen. Schließlich verhindern diese
Wirkungen, die Wissenschaft gegen Glaubensvorstellungen in Stellung zu brin-
gen, um Religion zu falsifizieren und als Illusion bloßzulegen (ebd., S. 610).
Wer solch eine Enthüllung betreibt, der kann das nur, wenn er sich blind zeigt
für die Kausalzusammenhänge. Die Wirklichkeit der Religion lässt sich weder
durch Überredung, den Glauben zu verwerfen, noch durch Widerlegung der
Glaubensvorstellungen ausschalten. Stattdessen kann das Ausbleiben der Kulte
die Religion gefährden, denn aufgrund ihres sozialen Ursprungs ist sie darauf
angewiesen, dass ihre Symbole zum Gegenstand des Handelns ihrer Gläubigen
werden. Durkheim will daher anhand der Kultpraktiken die Gültigkeit seiner
Ergebnisse bestätigen. Das kann er mittels der verborgenen Wirkungen der Kul-
te, die deren bekundeten Zwecken nicht entsprechen müssen. Kulte für die Initia-
tion, die Vermehrung des Totemwesens, die Erinnerung an die Taten der Ahnen,
die Trauer um die Verstorbenen und die Unglücke, die den Clan heimsuchen,
erzielen Wirkungen, die unentbehrlich sind. Wenn nämlich die Sakralität sozia-
ler Natur ist, dann lassen sich die periodischen Versammlungen im Hinblick auf
die Effekte untersuchen, die sich am Gläubigen und an der Kirche zeigen.
Mit der Initiation werden die Clanangehörigen durch eine Reihe von nega-
tiven Kulten in die Kirche eingeführt, damit sie sich anschließend an den positi-
ven Kulten beteiligen können. Die Riten sehen vor, dass der Neuling sich in Un-
terlassungen übt. Er muss eine Zeit lang isoliert im Wald leben, darf keine Frau-
en sehen, muss streng fasten, darf nicht reden etc. (ebd., S. 455 ff.). Die Initiation
beruht ausschließlich auf Verzichtleistungen. Durkheim greift darüber hinaus auf
Material zurück, das die Riten infolge von Todesfällen, Missernten, Dürreperio-
den und anderen Unglücken beschreibt. In diesen Fällen zeichnen sich die Kult-
praktiken vor allem dadurch aus, dass man sich Wunden zufügt und allgemein
Schmerzen erleidet oder diese in einer besonders erregten Weise zum Ausdruck
bringt (ebd., S. 572 ff.). Der Intichiuma ist ein positiver Kult, mit dem die
Fruchtbarkeit von Totemtier oder -pflanze entfacht werden soll. Er teilt sich in
zwei Phasen: Als erstes werden heilige Orte aufgesucht, an denen die Clanahnen
als Felsen oder Bäumen verkörpert sind. Meist wird der Staub, der sich auf den
Naturkörpern befindet, in verschiedene Richtungen verstreut, um die Vermeh-
rung zu initiieren (ebd., S. 481 ff.). Im zweiten Akt findet die eigentliche Zere-
monie statt, bei der nach strengen Regeln einige Teile eines zubereiteten Totems
gemeinsam verzehrt werden. Wer sich am Mahl nicht beteiligt, setzt seine
Fruchtbarkeit aufs Spiel (ebd., S. 490 ff.). Ein Intichiuma kann ferner auch als
250 3 Émile Durkheims Welt
heit des Initiierten hat sich hingegen nichts geändert, an dem sich die neue Zu-
weisung in der Ordnung des Clans und die Selbsterhöhung ablesen ließen.
Zu den negativen Akten, die unabhängig von der Initiation und von den ne-
gativen Kulten überhaupt bestehen, gehören schließlich sämtliche Verbote, um
die heiligen Dinge von allem Profanem fernzuhalten. Neben Verboten, die ent-
weder das Material der heiligen Dinge schützen oder ihre Thematisierung ein-
schränken, gibt es Imperative zur Unterlassung profaner Tätigkeiten während der
Tage, an denen man die Aufmerksamkeit auf die heiligen Dinge konzentrieren
muss (ebd., S. 444 ff.). Da es einerseits Verbote zum Schutz des Materials heili-
ger Dinge sind, andere Verhaltensvorschriften aber in keinem Bezug zu deren
materiellen Beschaffenheit stehen, zeigt sich, dass die negativen Akte nicht die
heiligen Dinge an sich betreffen, sondern die anonyme Kraft, genauer: ihr Trans-
zendenzvermögen. Durkheim folgert daher ein weiteres Wesensmerkmal der
heiligen Dinge, nämlich ihre Ausdehnungsfähigkeit und somit erklärt er, dass die
Verbote die anonyme Kraft beeinflussen.
„Wegen der innewohnenden Ansteckung all dessen, was heilig ist, kann ein profanes
Wesen ein Verbot nicht verletzen, ohne dass sich die religiöse Kraft, der er sich un-
berechtigt genährt hat, auf ihn ausdehnt und ihn beherrscht“ (ebd., S. 471).
Man kann die Verbote aber nicht erklären, wenn man bloß ihren schützenden
Dienst für die heiligen Dinge offenbart. Ihre eigentliche Funktion tritt zwar des-
wegen hervor, weil sie mehr als nur die konstitutive Beschaffenheit der heiligen
Dinge isolieren. Die Verbote überschreiten die heiligen Dinge, weil sie im
Dienste der anonymen Kraft stehen, von der die heiligen Dinge ihrerseits betrof-
fen sind. Im Falle des Vergehens aber, bei dem das Material der heiligen Dinge
entweder verletzt wird oder durch das Delikt faktisch nicht berührt wird, dehnt
sich, so Durkheim, die anonyme Kraft auf den Täter aus, denn es ist ausschließ-
lich sie, die durch die Verbote isoliert wird. Da die Sakralität der heiligen Dinge
in keinem Zusammenhang mit ihren empirischen Merkmalen steht, ist auch die
Ursache für ihre Verehrung von diesen losgelöst. Sonst müssten die Verbote
einzig die heiligen Dinge vor dem profanen Kontakt schützen. Was die Vereh-
rung hervorruft, sind „hypostasierte kollektive Kräfte, d.h. moralische Kräfte“
(ebd., S. 474), die ihrerseits nicht in den heiligen Dingen ihren Ursprung haben
und somit braucht es nicht erst ein Vergehen, das einen materiellen Schaden an
den heiligen Dingen anrichtet, damit sich die anonyme Kraft ausdehnt. Wer das
Sakrileg verübt, wird, wenn man ihn nicht physisch bestraft, mindestens missbil-
ligt (ebd., S. 441), d.h. was ihn befällt, ist, wie im Falle der Sakralisierung der
heiligen Dinge, keine physische Kraft. Heiligen Dingen und dem Täter wird et-
was hinzugefügt, das an der jeweiligen empirischen Beschaffenheit keine Ände-
rung bewirkt. Dehnt sich also die anonyme Kraft auf den Täter aus, so erlebt er
eine Schande. „Das Sakrileg beleidigt die allgemeine Meinung, die dagegen rea-
252 3 Émile Durkheims Welt
giert“ (ebd.). Das Objekt der Sakralisierung und der Missbilligung wird im einen
wie im anderen Fall von einer externen Kraft durchdrungen.
Mit Missbilligung konfrontiert man auch diejenigen Clanangehörigen, die
anlässlich von Todesfällen und anderen Unglücken nicht bereit sind, sich die
rituellen Schmerzen anzutun. Dass die Trauer an solchen Anlässen verordnet ist,
erkennt Durkheim an der Kluft der Emotionen, von denen die ethnographischen
Studien berichten. An den Trauernden beobachtet man neben dem betrübten
Klagen auch durchaus fröhliche Szenen, die sich mit dem Jammer abwechseln
(ebd., S. 581).137 Für die Bedrängung der Gläubigen zur Trauer spricht auch die
Überschneidung der Kultpraktiken, denn die Pflicht zur Verwundung besteht,
einerlei ob ein Angehöriger des Clans verstirbt oder der Churinga gestohlen
wird. Ferner gleichen sich die Kultpraktiken trotz der unterschiedlichen Anläs-
sen, weil sich jeweils Szenen abspielen, die Durkheim der Efferveszenz zuord-
net. Die Gläubigen treffen sich, um gemeinsam ihre Körper zu verwunden und
die Erregung steigt, den Beobachtungen zufolge, zunehmend an (ebd., S. 587).
Die Mythen über die Trauerriten spiegeln, so Durkheim, die verborgene Wir-
kung der erregenden Selbstverstümmelung. Die Clanangehörigen glauben näm-
lich die Seele des Verstorbenen, der man unmittelbar nach dem Tod eine gemei-
ne Laune zuschreibt, im Laufe der Zeremonie besänftigen zu können (ebd., S.
588). Dieser Wandel der Gefühlslage entspricht dem der Trauernden, nachdem
der Kult fortgeschritten ist. Die im Kollektiv erlebte Erregung wirkt moralisch
erholend. „Man lässt die Trauer hinter sich, und dies gelingt gerade dank der
Trauer selbst“ (ebd.).
Nun die positiven Kulte. Weder der Kult, der mit dem gemeinsamen Mahl
endet, noch die Imitation des Totems ist faktisch in der Lage, den Nachwuchs
von Tieren oder Pflanzen zu erzielen. Gemäß dem formellen Zweck aber sind sie
dafür da. Stattdessen erneuern sich aber mit dem Intichiuma, so Durkheim, die
Sakralität und die Kirche. Wenn sich die Clanangehörigen im Totem repräsen-
tiert sehen und das Totem die Mahlzeit während des Vermehrungskultes ist, so
führt sein Verzehr dazu, auch das in sich aufzunehmen, was es symbolisiert,
nämlich die anonyme Kraft. Somit fügt man sich das zu, was die Seele des Indi-
viduums ausmacht und allen Clanangehörigen gemeinsam ist, d.h. durch die
Nahrungskommunion wird die Wesensverwandtschaft zwischen den Gläubigen
137 Daran knüpft Mauss in seinen Überlegungen zum sozialen Drang an, der den Ausdruck von
heftigen Gefühlen anlässlich von Todesfällen vorschreibt. Er notiert: „Doch alle diese kol-
lektiven, simultanen Ausdrucksformen, die moralischen Wert und obligatorische Kraft haben,
sind mehr als bloße Äußerungen der Gefühle des Individuums und der Gruppe, es sind Zei-
chen, verstandene Ausdrücke, kurz, eine Sprache. Diese Schreie sind gleichsam Sätze und
Wörter. Man muss sie sagen, doch wenn man sie sagen muss, so deshalb, weil die ganze Grup-
pe sie versteht. Man äußert seine Gefühle also nicht nur, man äußert sie an die Adresse der an-
deren, da man sie ihnen äußern muss. Man äußert sie sich selbst, indem man sie den anderen
und für die anderen zum Ausdruck bringt“ (Mauss 2012, S. 614).
3.5 Kollektivapotheose (Die elementaren Formen des religiösen Lebens) 253
und der anonymen Kraft aktualisiert (ebd., S. 496). Weil die Quelle der Seele
dem Individuum äußerlich ist und das verzehrte Totem sie vertritt, durchdringt
die Mahlzeit und somit die anonyme Kraft das Individuum, so dass nicht nur die
Seele, sondern auch sein Platz in der Kirche erneuert wird. Schließlich unter-
stützt der Intichiuma das symbolische Überleben des Totems. Obwohl der Kult
nicht die biologische Fortpflanzung garantieren kann, setzt er die Sakralität des
Totems fort, weil es das Kultobjekt ist, zu dessen Ehren die Versammlung veran-
staltet wird: Auf der einen Seite wird ein Exemplar des Totems geopfert, um die
anonyme Kraft, die darin gehütet ist, für die Vermehrung des Totems aufzuwen-
den (ebd., S. 501). Die damit geleistete Gabe wird dafür investiert, ihr Symbol zu
erhalten. Auf der anderen Seite wiederholt sich der abseits der heiligen Dinge
liegende Ursprung der Sakralität, denn man macht das Totem für die Folgen der
Interaktionen des Intichiuma verantwortlich. Der Kult ernährt also die Glaubens-
vorstellung über das Totem. Durkheim schreibt:
„Was der Gläubige in Wirklichkeit seinem Gott gibt, sind nicht die Nahrungsmittel,
die er auf den Altar niederlegt, noch das Blut, das er aus seinen Adern fließen lässt:
es ist sein Denken“ (ebd., S. 509).
Das ist insbesondere an den mimetischen Intichiuma erkennbar. Das ethnogra-
phische Material gibt her, wie erwartungswidrige Folgen des Kults erklärt wer-
den (ebd., S. 489): Gelingt der Nachahmungskult nicht und die Vermehrung
bleibt aus, so verschulden das magische Eingriffe von Feinden des Clans.
Kommt es bereits vor der Durchführung des Kults zur Fortpflanzung, so ver-
dankt man das einem insgeheim von den Clanahnen durchgeführten Intichiuma.
Durkheim schließt daraus, dass ein Scheitern des Vermehrungskults im Denken
der Gläubigen nicht vorgesehen ist. Das lässt sich erklären, indem man die ei-
gentliche Wirkung berücksichtigt, die in der Tat eine Versammlung zur Folge
hat. Was die Kultpraktiken in jedem Fall bewirken, ist ein moralisches Wohlbe-
hagen aufgrund der kollektiven Aufmerksamkeit für die Glaubensvorstellungen,
die während der ökonomischen Tätigkeiten des profanen Alltags weniger präsent
sind (ebd., S. 527). Die Nachahmung des Totems hat also eine schöpferische
Kraft, nur wirkt sie nicht auf das verehrte Tier oder die Pflanze, sondern auf die
Moral. Noch mehr tritt das im Falle der Erinnerungsriten hervor. Wenn ein Kult
bloß anlässlich der Ahnen durchgeführt wird und man deren Leben und Taten
imitiert, so erhebt man nicht den Anspruch auf die Vorgänge der Natur einzu-
wirken.
Durkheim kann die moralische Funktion, die er für den Vermehrungskult
ausfindig gemacht hat, anhand des Darstellungskults bekräftigen. Die totemisti-
schen Gläubigen geben, den erhobenen Daten zufolge, keinen bekundeten
Zweck für die Nachahmung der Ahnen an, die mit dem Totemwesen zusammen-
fallen (ebd., S. 544). Alles, was während des Kults geschieht, hat das Leben der
Ahnen zum Gegenstand. Die Darsteller rekonstruieren berühmte Taten und die
254 3 Émile Durkheims Welt
Gesänge berichten von ihnen, so dass der Kult schlichtweg zur Pflege der Erin-
nerung dient (ebd., S. 546 f.). Auffällig ist für Durkheim, dass die Kultpraktiken
weitestgehend denen gleichen, die man ausführt, um die Vermehrung des To-
tems herbeizuführen.
Die „Grundfunktion des positiven Kults“ kann er nun benennen (ebd., S.
556): Weil die gleichen Kultpraktiken in einem Fall einen materiellen Dienst
erweisen, während mit ihnen in einem anderen Fall keine Nützlichkeitsvorstel-
lungen verbunden sind und sie stattdessen bloß die Vergegenwärtigung der Ver-
gangenheit erzielen, überschneiden sich die Kulte in einer Wirkung: der Erneue-
rung der Sakralität und der kirchlichen Integration. Der soziale Ursprung der
Sakralität hat zur Folge, dass die Glaubensvorstellungen verkümmern, wenn die
Versammlungen der Gläubigen ausfallen.138 Die positiven Kulte, die keinen
wirklichen Anlass beanspruchen, haben trotzdem eine Wirklichkeit. „Sie sind für
unser moralisches Leben genauso notwendig wie die Nahrungsmittel für unser
psychisches Leben“ (ebd., S. 561). Der Vermehrungskult und der Erinnerungs-
kult sorgen also deswegen für das Fortwirken der anonymen Kraft, weil sie dazu
beitragen, dass sie sich in den Gläubigen und in ihrem materiellen Träger erneu-
ert. Somit kann Durkheim eine umgekehrte Abhängigkeit erklären, d.h. nicht nur
das Individuum ist vom Sozialen abhängig, sondern auch dieses von jenem.
Die Kulte haben also andere als von den Mythen behauptete Wirkungen.
Während sich der Initiierte äußerlich nicht wandelt, bewirkt die moralische
Harmonie die Selbsterhöhung und den Aufstieg im Clan. Die Schande erlebt
man nicht, wenn man die heiligen Dinge an sich verletzt, sondern das, was sie
repräsentieren. Schließlich die positiven Kulte, die allesamt nicht in der Lage
sind, die Konstitution der heiligen Dinge zu fördern, weil sie den Gesetzen der
Natur unterstehen. Die Kulte können aber, wenn sich schon ihre Intention nicht
realisieren lässt, erreichen, die Sakralität der heiligen Dinge und somit auch die
Integration der Kirche zu fördern. Was Durkheims Untersuchung der Kulte auf-
tut, ist also Folgendes: Beachtet man nur die bekundeten Zwecke, so entbehren
die Kulte die Widerspruchsfreiheit, denn sie verletzen das Prinzip der Kausalität.
Im Denken der Gläubigen kann ein und dieselbe Ursache, die mittels der ver-
schiedenen Kulte ins Werk gesetzt wird, unterschiedliche Wirkungen erzeugen.
Beachtet man hingegen die verborgenen Funktionen der Kulte, dann wird die
Aktualisierung der Symbole erkennbar und es lässt sich, ohne gegen das Prinzip
der Kausalität zu verstoßen, konstatieren, dass die einzelnen Riten auf die Gläu-
bigen und die Kirche wirken. Wenn ein identischer Kult für verschiedene Zwe-
cke eingesetzt wird, dann zeigt sich, dass seine eigentliche Funktion die Moral
des Individuums und die moralische Einheit des Kollektivs betrifft.
138 Werden Kulte nicht mehr durchgeführt, so entspricht das der Säkularisierung ihrer formellen
Zwecke (vgl. Berger 1988, S. 27).
3.6 Krise und Individuum (Physik der Sitten und des Rechts) 255
Alles in allem: Der Totemismus hat mit dem Selbstmord etwas gemeinsam.
In Durkheims Studie spielt er im Gegensatz zur Kraft der Moral eine minimale
Rolle. Im Hinblick auf das, was das Soziale bewegen kann, verzichtet Durkheim
darauf, die Auskunft der Gläubigen einzuholen. Gleichwohl rechnet er das Han-
deln der Gläubigen an. Insbesondere ihre Beteiligung an den Kulten, mit der sie
das Sakrale zwar auch verlautbaren und verehren, es vor allem aber wiederher-
stellen. Sie sind also deshalb keine unerhebliche Marginalie, weil sie die Symbo-
le eines Kollektivs nähren, die ihrerseits nicht aus dem nichts resultieren. Inso-
fern mit der Studie eine Demonstration der Kraft der Moral139 vorliegt, zählt
auch sie zu Durkheims Beiträgen, die Konsolidierung der von ihm vertretenen
Disziplin zu unterstützen. Die Studie leistet daher eine Offenbarung, indem sie
das Soziale als die Kausalität einer Kraft freilegt, die ansonsten von dem Glau-
ben lebt, die Dinge ins Werk zu setzen, ohne hierfür ihrerseits von einer Kraft
betroffen zu sein. Indem er zum einen auf die Ursachen der heiligen Dinge stößt
und zum anderen zeigt, dass sich die Kraft der Moral wie eine Naturkraft verhält,
ohne aber tatsächlich eine physische Kraft auszuüben, macht er das erfahrbar,
was es andernfalls fertig bringt, als unhintergehbar zu gelten. Er schreibt: „Die
Moral besteht zwar nur aus Begriffen, aber diese Begriffe sind Kräfte, welche
die Menschen bewegen und beherrschen“ (Durkheim 1995, S. 260). An anderer
Stelle schreibt er: „[…] there is no morality that is not infused with religiosity“
(Durkheim 1960a, S. 335). Weil er das Dafürhalten widerlegt, dass es etwas gibt,
was aus sich heraus besteht, er somit ermittelt, wie die Dinge, deren autonome
Wirklichkeit man nicht abstreitet, auf Kräfte, und zwar auf soziale Kräfte ange-
wiesen sind, berechtigt er, diese Kräfte erforschen zu können.
3.6 Krise und Individuum (Physik der Sitten und des Rechts)
139 Durkheims Religionslehre zeigt, so William Pickering, dass man eine Gesellschaft untersuchen
kann, wenn man ihre Religion in den Mittelpunkt stellt (vgl. Pickering 2002, S. 29).
140 Durkheim erwähnt, dass sich vor allem Frankreich für die Entwicklung der Soziologie als
Disziplin eignet, weil sich dort die Auflösung traditioneller Ordnungen beobachten lässt (vgl.
Durkheim 1960b, S. 383).
141 Durkheims Engagement zu Konsolidierung der Soziologie auf der einen Seite und zur Refor-
mierung der Gesellschaft auf der anderen Seite besteht für Hans-Peter Müller nicht so isoliert
voneinander wie es andere auslegen und Durkheim selbst stets betont hat. Das lässt sich daran
erkennen, dass sich sein Reformprogramm ohne seine Konzeption der Soziologie als Wissen-
schaft nicht entwickeln lässt (vgl. Müller 2009, S. 231).
256 3 Émile Durkheims Welt
Gehen praktische Empfehlungen nicht auf die Wissenschaft, sondern auf politi-
sche Leidenschaften zurück, so sind grundsätzlich grenzenlos. Wer ohne Rück-
griff auf die Wissenschaft weiß, was für etwas gut ist, der wird nicht ausschlie-
ßen können, einen Irrtum zu begehen, da er auch nicht garantieren kann, die Lei-
denschaft beiseite zu lassen (vgl. Durkheim 1976, S. 119). Bei der Erforschung
der Ursachen eines Gegenstands muss man, so Durkheim, vermeiden, dass ihm
diese hinzugefügt werden (ebd., S. 156). Hält man das ein, so lässt sich in Erfah-
rung bringen, wie sich ihm helfen lässt. Wird aber die Entscheidung über das,
was für einen Gegenstand erstrebenswert ist, nicht ihm selbst entnommen, son-
dern dem Menschen überlassen, dann wird das als erstrebenswert gelten, was mit
viel Verve vorgetragen wird. Durkheim schreibt:
„Das Ziel der Humanität verfließt also ins Unendliche, entmutigt die einen durch
seine Entfernung und stachelt dagegen die andern an, die die Gangart beschleunigen
und sich in Revolutionen stürzen, um sich ihm ein wenig zu nähern“ (Durkheim
1984, S. 163).
Hingegen sind wissenschaftliche Erkenntnisse für die Entscheidung über Erstre-
benswertes von Vorteil, weil man, wenn sich zuvor feststellen ließ, was einen
Gegenstand erhält, weiß, in welche Richtung er sich im Hinblick auf seine Be-
wahrung verändern lässt. „Wichtig ist, das Wesen der Gesellschaft zu erkennen
und nicht die Art, in der sie sich selbst begreift, denn diese kann falsch sein“
(Durkheim 1976, S. 118).
Seine Studien stellt Durkheim in den Dienst der Krisenerkennung und deren
Bewältigung.142 Dieses Engagement ist auch in seiner unvollständig überlieferten
Vorlesung Physik der Sitten und des Rechts (1991) erkennbar. In der moralsozio-
logischen Vorlesung lotet er aus, welche Bedingungen erforderlich sind, damit
partikulare Moralen der gesellschaftlichen Krise gerecht werden. Er untersucht
aber auch, was dazu führt, dass eine zentrale Voraussetzung für universelle Mo-
ral gegeben ist, und das ist die Schwächung partikularer Moralen, mit denen der
Anspruch verbunden ist, dass sie universeller Moral übergeordnet sind. Im Kern
beruht letztere für Durkheim darauf, dass Moralen, die dem Individuum zumu-
ten, mehr sie als sich selbst zu respektieren, so geschwächt werden, dass sie über
den Respekt für das Individuum an sich nicht dominieren können. Während er in
der Arbeitsteilung in erster Linie ungeplanten Faktoren für die Möglichkeit der
Individualität, also für die Schwächung von kollektiven Homogenitätszumutun-
gen nachgeht, deckt er in der Physik wiederum auf, dass kollektive Homogeni-
tätszumutungen ihrerseits dazu beitragen, den Respekt und den Schutz für das
Individuum, uns zwar unabhängig von Partikularitäten zu ermöglichen. Die Re-
konstruktion dieses Verhältnisses zwischen partikularen Moralen und der univer-
142 König sieht in Durkheims Einsatz der Erkenntnisse für den Entwurf von praktischen Konse-
quenzen das, was Karl Popper die Stückwerk-Sozialtechnologie genannt hat (vgl. König 1973,
S. 480).
3.6 Krise und Individuum (Physik der Sitten und des Rechts) 257
sellen Moral erfolgt auf den nächsten Seiten. Das Verhältnis lässt sich im Zu-
sammenhang mit Durkheims Einschätzung der Wirksamkeit von partikularer und
universeller Moral hinsichtlich Minderung von Orientierungslosigkeit erfassen.
Daher sollen die folgenden Arbeitsschritte helfen, die Rekonstruktion durchzu-
führen: Durkheims Rückgriff auf die Selbstmordraten erlauben ihm, einen empi-
rischen Befund über die „Störung der kollektiven Ordnung“ vorzulegen. Eine
knappe Wiederholung seines Zugangs zum Phänomen des Selbstmords im Hin-
blick darauf, an ihm Erscheinungen der Krise abzulesen, steht als erstes an. Die
Skizze ist erforderlich, weil seine Empfehlung, die Berufsgruppen zu stärken,
von den festgestellten Ursachen hergeleitet wird. Die Darstellung seiner Empfeh-
lung erlaubt, auf einige Bedingungen für partikulare Moral in modernen Gesell-
schaften zu stoßen. Das lässt sich insbesondere an den Vorteilen der beruflichen
Moralen gegenüber anderen partikularen Moralen erarbeiten. Durkheims Ausei-
nandersetzung mit der Dreyfus-Affäre verhilft im nächsten Schritt, den von ihm
erkannten Nutzen des Kults des Individuums zu verstehen. Seiner Interpretation
von Mordstatistiken lässt sich zunächst entnehmen, dass das sakrale Individuum
die Zurückdrängung von Moralen voraussetzt, für die das Individuum sekundär
ist. Inwiefern diese Zurückdrängung in bestimmten Maßen und in einem Balan-
ceverhältnis erfolgen muss, verrät im letzten Schritt die Staatslehre Durkheims.
Dass sich moderne Gesellschaften zu seinen Lebzeiten in der Krise befan-
den, stellt er insbesondere in der Selbstmord-Studie anhand von statistischen
Daten fest.143 Statistiken über die dokumentierten Selbstmorde entnimmt er, dass
die Zahl der Freitode in Preußen, Frankreich, Österreich, Sachsen, Belgien,
Schweden, Dänemark und Italien im Längsschnitt um bis zu 411% zunehmen
(vgl. Durkheim 1973, S. 434). Die außergewöhnlich hohe Selbstmordrate ist ihm
ein Indikator für den abnormen Zustand der Normen (ebd., S. 20). Die Ergebnis-
se der Studie zeigen: Während zunehmender Egoismus und Anomie in den Da-
ten sichtbar werden, verringert sich der Altruismus. Mit anderen Worten: Zum
einen bringen sich die Menschen über das gewöhnliche Maß weit hinausgehend
um. Zum anderen aber nehmen sie sich nicht das Leben, weil sie ihre Schuldig-
keit tun müssen oder den Tod einer unrevidierbaren Ehrverletzung vorziehen.
Wenn man nun den individuellen Anlass des Einzelfalles unberücksichtigt lässt
und stattdessen die Gesamtzahl der Selbstmorde während einer bestimmten Zeit
betrachtet, dann lässt die Selbstmordrate eines Landes unter Berücksichtigung
von u.a. Konfessionen, Familienstand, Geschlecht und Berufsgruppe die Ursa-
chen hervortreten, zu denen man anhand der subjektiven Gründe für den Freitod
nicht gelangen kann (ebd., S. 378). Vor diesem Hintergrund lassen der Anstieg
143 Während sich Durkheim, so Müller, in der Arbeitsteilung nur theoretisch mit Anomie und
gesellschaftlichen Krisen beschäftigt, entwickelt er auf der Grundlage der Studie zum Selbst-
mord eine „empirische Krisenhypothese“ (vgl. Müller 1983, S. 139). Hans Joas sieht im
Selbstmord einen Beitrag zur Suche nach Möglichkeiten für eine Moral, die sich, anders als in
der Arbeitsteilung untersucht, nicht zu entwickeln schien (vgl. Joas 1999, S. 89).
258 3 Émile Durkheims Welt
des egoistischen und anomischen Typus und der Schwund der altruistischen
Selbstmorde erkennen, wie es um die Kraft überindividueller Ziele bestellt ist.
Durkheims Schlussfolgerung lautet: Die gesellschaftliche Krise ist Realität, weil
die hohe Selbstmordrate nur eine der Folgen von Egoismus und Anomie ist. Die
zahlreichen Toten sind ein Indikator eines pathologischen Zustands und keine
Folge des individualistischen Zeitgeistes. Er schreibt: „Die steigende Flut der
Selbstmorde ist daher nicht als Zeugnis für den Vormarsch unserer Zivilisation
zu betrachten, sondern als Signal für eine Krise, eine Störung [...]“ (ebd., S. 437).
Weil sich in den Daten über die Suizide das umgekehrte Verhältnis von Alt-
ruismus einerseits und Egoismus und Anomie andererseits ablesen lässt, schließt
Durkheim auf die Orientierungslosigkeit als wesentlichen Herd der Krise. Maß-
lose Beschäftigung mit sich selbst, die den Egoismus kennzeichnet, folgt auf den
Sinnverlust und begünstigt die Vereinzelung. Die Orientierung an überindividu-
ellen Zielen bleibt aus, so dass sich die Handlungserfahrungen des Egoisten re-
duzieren, der sich selbst zunehmend zum Gegenstand des Nachdenkens macht.
Überindividuelle Ziele sind in modernen Gesellschaften den Auswirkungen der
Wissenschaft und insbesondere ihres Impetus ausgesetzt, nach dem das Bestehen
von grundsätzlich allen Dingen infrage gestellt wird (ebd., S. 325). Alles, was
einst fraglos hingenommen wurde und stabile Orientierung anbot, kann der Kri-
tik unterzogen werden. Infolgedessen gewinnt die Reflexion an Bedeutung und
Orientierungen werden unsicher. Einen „nahen Verwandten“ nennt Durkheim
den anomischen Selbstmord (ebd., S. 454), weil auch ihn die Schwächung der
überindividuellen Ziele verschuldet. In der Arbeitsteilung erwähnt er die unzu-
längliche Entwicklung der organischen Solidarität im Wirtschaftsleben, auf die
er die Anomie zurückführt (vgl. Durkheim 2008a, S. 437). Fehlen regelmäßige
und dichte Interaktionen bei der Ausübung spezialisierter Funktionen, weil sich
die Wirtschaftsmärkte unbegrenzt ausdehnen, so werden sich die moralischen
Regeln, die sich der zunehmenden Arbeitsteilung verdanken, nicht verstetigen
können (ebd., S. 439). Unter diesen Umständen ist es nicht möglich, dass sich
Kollektive bilden, aus denen heraus sich Verhaltensregeln zum Vorteil von kol-
lektiven Interessen formen (ebd., S. 47). Vor allem die Interaktionen in der Wirt-
schaft sind aber, so Durkheim, im Besonderen auf geltungsstarke Verhaltensre-
geln angewiesen, da es die wirtschaftlichen Funktionen sind, die infolge der In-
dustrialisierung die früher im Vordergrund stehenden Tätigkeiten des Militärs,
der Verwaltung und der Religion überholen (ebd., S. 44). In modernen Gesell-
schaften nimmt also das Berufsleben eine herausragende Rolle im Leben der
Individuen ein und daher folgert er, dass der Bedarf an Verhaltensregeln für die
wirtschaftlichen Funktionen besonders wichtig ist. Hier sind Regelungen zudem
deswegen angebracht, weil sich die Vorschrift zur Vermehrung des Wohlstands,
die die Industrialisierung begleitet, nachteilig auf die einstigen Verhaltensregeln
in der Wirtschaft auswirken. Sie werden dem Streben nach Wohlstand unterge-
ordnet (vgl. Durkheim 1973, S. 292). Dass Regelungsbedarf besteht, erschließt
3.6 Krise und Individuum (Physik der Sitten und des Rechts) 259
sich ihm aufgrund der hohen Rate an anomischen Selbstmorden, die in mehreren
Ländern von denen verübt werden, die einen Beruf in Handel und Industrie aus-
üben. Es sind die wohlhabenden Menschen, deren Freitod auf die Wirkungen der
Anomie zurückgeht (ebd., S. 295).
Seine Ergebnisse veranlassen ihn, sich dafür stark zu machen, eine besonde-
re Sekundärgruppe zu begünstigen, nämlich die Berufsgruppe (ebd., S. 449). Ihre
Sträkung begründet er wie folgt: Weil sie ein „moralisches Milieu“ darstellt, das
anschlussfähig ist an die Dominanz des Wirtschaftslebens, ist sie ein geeignetes
Mittel gegen die schadhafte Orientierungslosigkeit. Auf moralische Milieus kön-
nen, so Durkheim, weder das Individuum noch Moral überhaupt verzichten. Das
erklärt er wie folgt: Innerhalb eines Herrschaftsverbands entsteht ein Kollektiv,
wenn es Individuen gibt, deren Interessen und Tätigkeiten gleich und abgeson-
dert sind (vgl. Durkheim 2008a, S. 55) und in deren Interaktionen bestimmte
Zeichen regelmäßig wiederkehren, so dass sich unter ihnen die Orientierung an
der Zusammengehörigkeit ausbilden kann (vgl. Durkheim 2010a, S. 341). Gibt
es ein Kollektiv, so gibt es auch Interessen, die es allein betreffen und deren Un-
terstützung die Angehörigen als Zumutung erfahren. Durkheim schreibt:
„Nun ist aber diese Bindung an etwas, was das Individuum überschreitet, diese Un-
terordnung der Einzelinteressen unter ein Gesamtinteresse, die eigentliche Quelle
jeder moralischen Tätigkeit. Damit sich nun dieses Gefühl präzisieren und bestim-
men und auf die gewöhnlichen oder bedeutsamen Umstände auswirken kann, über-
trägt es sich in bestimmte Formeln; und infolgedessen entsteht ein Korpus morali-
scher Regeln“ (Durkheim 2008a, S. 56).
Wenn also die Angehörigen des Kollektivs seine Interessen berücksichtigen und
pflegen, ordnen sie sich ihnen unter. Diese Unterordnung ist es, die für Moral
unverzichtbar ist. Das moralische Milieu ist nicht das Kollektiv, denn der Zweck
der moralischen Regeln ist etwas, was sich qualitativ von der Summe seiner An-
gehörigen unterscheidet, schließlich entsprechen die Interessen des Kollektivs
nicht den summierten Interessen der Angehörigen, denn sie sind sozialen Ur-
sprungs. In Durkheims Suche nach dem Zweck der Moral wird zum einen der
individuelle Eigennutz und zum anderen der Eigennutz anderer ausgeschlossen,
aber auch die Summe individueller Interessen bleibt außen vor. Anders ist das,
wenn man die Interessen eines Kollektivs berücksichtigt, die sich aus der Syn-
these seiner Angehörige ergeben (vgl. Durkheim 1976, S. 104). Durkheim dazu:
„Die Moral beginnt also dort, wo das Gruppenleben beginnt, weil erst dort
Selbstlosigkeit und Hingabe einen Sinn erhalten“ (ebd., S. 105). Ziele, die das
Individuum veranlassen, eigennützige Ziele zurückzustellen, sind synthetisch
entstanden. Ohne ihre Befolgung geht dem Individuum die Quelle dafür ab, Ob-
jekt der Verbundenheit anderer zu sein, denn durch die überindividuellen Ziele
eines moralischen Milieus ist dafür gesorgt, dass diejenigen zueinander finden,
denen sie erstrebenswert sind (vgl. Durkheim 2008a, S. 57).
260 3 Émile Durkheims Welt
Die Moral der Berufsgruppen gehört zum Typus der Moral, deren Befol-
gung nicht unterschiedslos allen zugemutet wird. Während universelle Moral das
Verhalten gegenüber anderen einzig auf der Grundlage des Menschseins regelt,
beruhen die weitaus häufiger vorkommenden partikularen Verhaltensregeln auf
spezifischen Qualitäten wie Alter, Geschlecht, Generation, Verwandtschaftsgrad
oder Staatsangehörigkeit (vgl. Durkheim 1991, S. 13). Partikulare Moralen sind
aber für diejenigen, die die jeweiligen Qualitäten aufweisen, universell geltend
und sie verhalten sich relativ autonom gegenüber anderen Verhaltensregeln die-
ses Typus. Widersprüche zwischen den partikularen Moralen sind sogar gewöhn-
lich. Zum Beispiel ist die Infragestellung in der Wissenschaft verbindlich, wo-
hingegen sie dem Priester und dem Soldaten untersagt ist (ebd., S. 14). Durk-
heim trennt die Moralen, weil es seine Absicht ist, auf den „moralischen Poly-
morphismus“ hinzuweisen, der für moderne Gesellschaften kennzeichnend ist.
Die wachsende Spezialisierung der Arbeitstätigkeiten und die Herausbildung
neuer Funktionen führt nämlich zur Vermehrung der durchaus auch wider-
sprüchlichen partikularen Moralen (ebd., S. 18). Weil aber die partikulare Moral
im Allgemeinen keine ungewöhnliche Erscheinung ist, – denn schließlich beru-
hen die Verhaltensregeln, die je nach Alter, Generation und Verwandtschafts-
grad gelten, auf organischen Qualitäten und somit sind sie zwar eingeschränkt,
aber darin wiederum auch universell geltend – ergibt sich die Eigenart der mo-
dernen Gesellschaften aus dem Anwachsen der partikularen Moralen und nicht
überhaupt aus ihnen.
Was aber die Moral der Berufsgruppen im Besonderen gegenüber anderen
partikularen Moralen unterscheidet, ist die Indifferenz bei Vergehen von Seiten
derjenigen, die nicht die spezifischen Qualitäten aufweisen, um von den partiku-
laren Verhaltensregeln betroffen zu sein. „Fehler, die nur die Ausübung eines
Berufes betreffen, erfahren jenseits des eigentlichen Berufsmilieus allenfalls
einen unbestimmten Tadel“ (ebd., S. 15). Weil die Verhaltensregeln eines Beru-
fes nur Ordnung für die speziellen Tätigkeiten und für das Verhältnis der Betei-
ligten des moralischen Milieus schaffen, haben sie abseits des Berufes keine Gel-
tung. Durkheim stellt das wesentliche Merkmal der partikularen Moral der Be-
rufsgruppen in den Vordergrund, weil vor allem ihre Indifferenz die Kraft der
Sanktion gefährdet, die schließlich für Moral überhaupt wesentlich ist (ebd., S.
10). Sofern also der mit der Selbstmord-Studie aufgedeckte Regelungsbedarf die
moderne Wirtschaft belastet und ihre globale Ausdehnung außerdem dazu führt,
dass die einstigen Berufsgruppen an ihrer lokalen Bindung, die sich mit der Aus-
richtung der Wirtschaft nicht mehr vereinbaren ließ, zugrunde gegangen sind
(ebd., S. 59), wirkt sich die Gleichgültigkeit im Falle von Regelverstößen güns-
tig für die bereits von ihm festgestellte Anomie aus.
„Sie [Arbeitnehmer und Arbeitgeber; C.A.] werden allenfalls durch eine diffuse
Meinung sanktioniert, und da diese Meinung sich nicht auf regelmäßige Beziehun-
3.6 Krise und Individuum (Physik der Sitten und des Rechts) 261
gen zwischen den Individuen stützt, da sie aus demselben Grund keine ausreichende
Kontrolle über das individuelle Handeln auszuüben vermag, fehlt es ihr an Konsis-
tenz und Autorität. Daher lastet die Berufsmoral nur mit einem sehr geringen Ge-
wicht auf dem Gewissen des Einzelnen und schrumpft letztlich zu einem Nichts zu-
sammen“ (ebd., S. 21).
Nun lässt sich der Effekt verstehen, den sich Durkheim mit seinem Vorschlag für
die Minderung der Anomie voraussieht, denn wichtig ist ihm an „der Berufs-
gruppe vor allem die moralische Kraft“ (Durkheim 2008a, S. 51). Die Berufs-
gruppe stellt ein Orientierungsangebot zur Verfügung und schützt mit Verbun-
denheit gegen Vereinzelung. Das Individuum ist davor bewahrt, Sinnvorgaben in
sich selbst zu suchen und ist im Berufsleben, das in modernen Gesellschaften
den Alltag und den Lebenslauf überhaupt dominiert, von Verhaltensregeln be-
troffen (vgl. Durkheim 1973, S. 450). Das Defizit an Regeln in der modernen
Wirtschaft kann Durkheim somit erschließen, indem er zunächst die Bedingun-
gen des moralischen Milieus skizziert, um anschließend auf ihren rudimentären
Bestand aufgrund der rasanten und ausgedehnten Wirtschaftsentwicklung zu
stoßen. Seinen Vorschlag verteidigt er aber, indem er Unzulänglichkeiten ande-
rer Lösungen für die Krise offenbart, um sie mit den Wirkungen der Berufsgrup-
pen zu kontrastieren. Der spezifische Nutzen der Berufsmoral wird also kennt-
lich, indem er zeigt, was sie im Gegensatz zu anderen Lösungen erzielen kann.
Worin sie sich als unzulänglich erweisen, soll als nächstes erarbeitet werden,
denn das gibt zu erkennen, wovon partikulare Moralen in modernen Gesellschaf-
ten überhaupt betroffen sind.
Eine andere Lösung ist mit dem Appell von Seiten des Staates verbunden,
sich die Zusammengehörigkeit zu vergegenwärtigen (vgl. Durkheim 2008a, S.
429). Gegen diese Lösung wendet er ein, dass die Orientierung an der Vorstel-
lung der Zusammengehörigkeit, die Differenzen überwölbt, nicht ausreicht, um
im Alltag präsent zu sein. Abseits politischer Großereignisse kann sich das Ge-
bot der Zusammengehörigkeit gegen die Vielfalt der alltäglichen Zumutungen
nicht durchsetzen (vgl. Durkheim 1973, S. 443).
„Jedem Individuum“, fragt er, „begreiflich zu machen, dass es nicht allein bestehen
kann, sondern ein Teil des Ganzen ist, von dem es abhängt? Aber eine derartige
Vorstellung, die wie alle komplexen Vorstellungen abstrakt, vage und im Übrigen
nur kurzfristig wirksam ist, kann gegen die lebhaften, konkreten Eindrücke nichts
erreichen, die die Berufstätigkeit beständig in uns hervorruft“ (Durkheim 2008a, S.
429).
Die Distanz zwischen Individuum und Staat erkennt Durkheim auch an den Fol-
gen der Zentralisierung der Herrschaft. Indem hierfür der Staat zunehmend die
Sekundärgruppen entmachtet, schwächt er auch ihre moralischen Milieus, was
wiederum den Egoismus und die Anomie fördert, statt sie zu reduzieren. Auf der
einen Seite entzieht also der Staat dem Individuum die moralischen Kräfte und
262 3 Émile Durkheims Welt
auf der anderen Seite mutet er ihm solche Ziele zu, die sich, weil sie umfassend
sind und das Besondere überschreiten, nur schwer vorstellen lassen und sich
gegen die alltäglichen Pflichten nicht durchsetzen können (vgl. Durkheim 1973,
S. 463 f.).
Dass der Staat gegen Egoismus und Anomie nicht viel ausrichten kann, er-
klärt Durkheim darüber hinaus, indem er auf die fortschreitende Spezialisierung
der wirtschaftlichen Tätigkeiten verweist, die sich dadurch auch dem staatlichen
Einflussbereich entziehen. Die Kompetenz des Staates reicht, ihm zufolge, für
den zunehmenden und immer spezifischer werdenden Regelungsbedarf in der
Wirtschaft nicht aus (vgl. Durkheim 2008a, S. 46). Was den Verhaltensregeln
gelingen kann, die sich aus den verschiedenen Berufgruppen schöpfen, das ist
dem Staat nicht möglich. Weder kann er also eine moralische Einheit auf der
Grundlage von Gemeinsamkeiten herstellen, der Differenzen gegenüber unterle-
gen sind, noch kann er für Verhaltensregeln sorgen, für die es Fachwissen
braucht, das er angesichts fortschreitender Ausdifferenzierung nicht aufbringen
kann.
Die Stärkung der Berufsgruppen zieht Durkheim auch gegenüber der Reli-
gion vor. Ihre Unzulänglichkeit lässt sich ohnehin am Nachlassen des altruisti-
schen Selbstmordes ablesen, d.h. befinden sich Gesellschaften in Krisen, die sich
Egoismus und Anomie verdanken, so wird man dort wenig Individuen vorfinden,
deren Individualität nur gering ausgebildet ist. In diesem Fall liegen keine güns-
tigen Bedingungen für den altruistischen Selbstmord vor. Auf die geringe Indi-
vidualität beruhen aber auch Religionen. Vor den Folgen der Krise ist man ge-
schützt, wenn man die eigene Tatkraft abrufen und in Bahnen lenken kann. Wer
gläubig ist, dem stehen Verhaltensregeln zur Verfügung, die Orientierung für
den Alltag spenden und deren Rechtfertigung sich aus dem Symbol ihrer Schöp-
fer herleitet, und das ist Gott (vgl. Durkheim 1973, S. 444). Der göttliche Ur-
sprung der Verhaltensregeln lässt aber nicht zu, nach anderen Gründen für ihre
Befolgung zu suchen. Nur erweisen sich der Kritik entzogene Verhaltensregeln
als nicht mehr zeitgemäß.
„Die Religion verringert also den Hang zum Selbstmord, nur soweit sie dem Men-
schen das Recht zur Gedankenfreiheit entzieht. Aber es ist heutzutage schwierig,
dem Verstand des Individuums Fesseln anzulegen und es wird immer schwieriger
werden“ (ebd.).
Neben der Gedankenfreiheit macht auch die Wissenschaft der Religion zu schaf-
fen, denn für alles, was man auf Gott zurückführt, gibt sie alternative Antworten,
die jenen Zusammenhang infrage stellten. Die zunehmende Autorität der Wis-
senschaft mindert insofern die Geltung jener auf religiösen Ursprung beruhenden
Verhaltensregeln, weil sie sich nicht mehr darauf beschränkt die Phänomene der
Natur, sondern auch die religiösen und moralischen Handlungen und die
menschliche Psyche zu ihren Gegenständen macht (vgl. Durkheim 2010a, S.
3.6 Krise und Individuum (Physik der Sitten und des Rechts) 263
631). Die Religion erweist sich für Durkheim also deshalb als unzulänglich, weil
man zum einen anhand der beiden in der Krise vorherrschenden Selbstmordty-
pen auf Bedingungen schließen kann, die den religiösen Altruismus beeinträchti-
gen. Zum anderen wird die Rechtfertigung der religiösen Verhaltensregeln zu-
nehmend instabil.
Obwohl Durkheim die Berufsgruppen als Antwort auf die gesellschaftliche
Krise gegenüber Staat und Religion vorzieht, schließt er Auswirkungen der Letz-
teren nicht aus. Allerdings zählt er weniger auf die konfessionellen Religionen,
sondern es ist die Sakralisierung des Individuums, mit deren integrativen Kraft er
rechnet. Der Kult des Individuums ist neben der Stärkung der Berufsgruppen die
andere Antwort auf die Krise. Während im Fall der Berufsmoral partikulare Ver-
haltensregeln helfen, bietet das Individuum die Möglichkeit, der Krise mit Effek-
ten universeller Verhaltensregeln beizukommen. Erste Aussagen zur heiligen
Eigenart des Individuums kommen bereits in der Arbeitsteilung vor, wo Durk-
heim aber die Integrationsleistung dieses Kults geringer einschätzt als die Kraft
der organischen Solidarität (vgl. Durkheim 2008a, S. 228). Er konstatiert zwar
einen Kult für die „Würde der Person“ (ebd., S. 227), nur schließt er noch aus,
dass ihre Sakralität ausreicht, um die Funktion auszuüben, die ansonsten von
einer Kirche erzielt wird.144
Seine spätere Skepsis gegenüber dem Solidaritätstypus, der sich mit der Ar-
beitsteilung entwickelt, korrespondiert mit der Neueinschätzung der Heiligkeit
der Person, der er nun zutraut, für moralische Einheit sorgen zu können. Das
bringt er in seiner Positionierung zur Dreyfus-Affäre zum Ausdruck, die er in
Der Individualismus und die Intellektuellen (1986b) kundtut. Dieser Sachverhalt
spielt sich wie folgt ab: Der Französische Hauptmann Alfred Dreyfus wird 1894
wegen Spionage und Staatsverrat verurteilt, was zu einer Spaltung zwischen Be-
fürwortern und Gegnern der Verurteilung führt. Letztere führen das später auf-
gehobene Urteil auf Dreyfus Zugehörigkeit zum Judentum zurück (vgl. hierzu
Schulze 2004, S. 249). Ohne sich explizit auf die eine oder andere Seite zu
schlagen, nimmt sich Durkheim den Vorwurf der Unterstützer der Verurteilung
vor, die Frankreich von Desintegration145 bedroht sehen, wenn die Würde der
Person gegenüber allen anderen Ideen dominiere (vgl. Durkheim 1986b, S.
144 Martin Sellmann führt Durkheims Einschätzung auf seinen Fortschrittsoptimismus zurück, der
in seinem frühen Werk dadurch erkennbar wird, dass er auf die Arbeitsteilung als Quelle der
Integration setzt. Erst die spätere Definition der Religion unter Berücksichtigung der Abgren-
zung zur Magie, so Sellmann, macht es Durkheim möglich, den Individualismus wie eine Reli-
gion zu behandeln (vgl. Sellmann 2007, S. 308 f.). Zu Durkheims gewandelter Einstellung ge-
genüber dem Kult des Individuums vgl. auch König 2002, S. 47.
145 Für Anti-Dreyfusards fallen Individualismus und Anarchie zusammen (vgl. hierzu Lukes 1999,
S. 333 ff.), und genau die Widerlegung dieser besonderen Identifikation ist Durkheims Anlie-
gen (vgl. Durkheim 1986b, S. 62).
264 3 Émile Durkheims Welt
54).146 Dreyfus Unterstützer wehren sich nämlich gegen die Verurteilung, weil
sie bereits in der Vorverurteilung von Seiten der Medien und der Massen die
Persönlichkeitsrechte des Betroffenen nicht gewahrt sehen. Die andere Seite
macht ihnen jedoch den Vorwurf, mit der Vergottung der menschlichen Würde
die Einheit des Landes zu gefährden, weil sie auf diese Weise den individuellen
Selbstbezug und die Minderung von kollektiven Bindungen vorantriebe. Mit
seiner Wortmeldung ergreift Durkheim Partei für den Individualismus, den er
anhand seiner unverzichtbaren Wirkungen verteidigt.147
Der konkrete Sachverhalt ist für sein Anliegen belanglos, da er vielmehr um
eine Richtigstellung des Individualismus bemüht ist. Er schreibt: „[…] vergessen
wir die Geschichte selbst und die traurigen Schauspiele, deren Zeuge wir waren“
(ebd.). Darüber hinaus konstatiert er, dass der Fall Dreyfus in der Debatte ohne-
hin in den Hintergrund geraten ist, wohingegen der Individualismus und die Un-
terstellung der von ihm ausgehenden Gefahr für die moralische Einheit eines
Landes zum Gegenstand des Streits geworden sind. Es wird erkennbar, „[…]
dass die Geister sich viel eher an einer Prinzipien- als an einer Faktenfrage ge-
schieden haben“ (ebd.). Durkheim beabsichtigt, die Irritation aufzulösen, die auf
die sprachliche Ähnlichkeit zwischen dem Individualismus und der Vorstellung
von der übergeordneten Orientierung an dem individuellen Eigennutz zurückgeht
(ebd., S. 66). Lässt man letztere mit dem Individualismus als einer geltenden
kollektiven Vorstellung zusammenfallen, so schließt man folglich aus, dass es
überindividuelle Ziele einer individualistischen Moral überhaupt geben kann. Im
Denken der Gegner des Individualismus ist er dafür verantwortlich, die Orientie-
rung an Erstrebenswertem zu beeinträchtigen. Diese Identifikation lehnt Durk-
heim jedoch ab. „Aber“, erwidert er, „unannehmbar ist die Unterstellung, dieser
Individualismus sei der einzige, der existierte oder möglich wäre“ (ebd., S. 55).
Sogar die Instrumentalisierung des von ihm befürworteten Individualismus zur
Rechtfertigung des Eigennutzens kann die Sakralisierung des Individuums nicht
diskreditieren (ebd., S. 60), d.h. wenn man auf die Würde des Individuums ver-
146 Eine Wortmeldung des Literaturkritikers Ferdinand Brunetières veranlasst Durkheim, seinen
Beitrag zu schreiben. Der aktive Anti-Dreyfusard, Brunetière griff in seinem Text die auf der
Seite von Dreyfus stehenden Intellektuellen an, weil sie sich weigerten ein Gerichtsurteil zu
akzeptieren. Es waren Rationalismus, Individualismus und Liberalismus, die in Denken
Brunetières in einer überheblichen Weise von den Intellektuellen vorangetrieben werden.
Durkheim selbst schließt sich deren Unterstützung an (Richter 1960, S. 179). Für ihn wiederum
haben die Zweifel am Gerichtsurteil nichts mit Arroganz zu tun, sondern es liegt in der Natur
der Sache, dass Intellektuelle ihr Urteil erst dann aussprechen, wenn es keinen Grund zum
Zweifeln gibt (vgl. Durkheim 1986b, S. 62). Im Ganzen nimmt Durkheim vor dem Hinter-
grund der Dreyfus-Affäre Notiz von einen Anstieg des Antisemitismus, den er als ein gesell-
schaftliches Krisensymptom deutet (vgl. Durkheim 2008c, S. 322). Brubaker konstatiert, dass
sich das Ethnische der französischen Nation im Zusammenhang mit der Dreyfus-Affäre verfes-
tigt (vgl. Brubaker 1994, S. 141).
147 Steven Lukes und Devyani Prabhat sehen in Durkheims Wortmeldung handlungsorientierte
Vorschläge zur Bekämpfung von Rassismus (vgl. Lukes/Prabhat 2013, S. 175).
3.6 Krise und Individuum (Physik der Sitten und des Rechts) 265
weist, um das Handeln zugunsten des eigenen Wohls zu kaschieren, liefert man
zwar den Gegnern des Individualismus solche Beispiele, die ihren Vorwurf un-
terstützen, aber man nivelliert nicht seine eigentliche Funktion, die Durkheim
aufzudecken gewillt ist. Im Kontext der Dreyfus-Affäre ist es sein Anliegen, die
moralischen Kräfte des Individualismus zu präsentieren. Der Verleumdung des
Individualismus tritt er nämlich entgegen, indem er den Nachweis bemüht, dass
ausgerechnet die Apotheose des Individuums für moralische Einheit sorgt, statt
ihr gefährlich zu werden.
Dieser andere Individualismus ist mit der Orientierung am individuellen Ei-
gennutzen sogar unvereinbar, weil er sich nicht von den partikularen Qualitäten
eines Individuums herleitet, sondern auf der Qualität beruht, die keinem Indivi-
duum abgehen kann, und das ist das Menschsein an sich.
„Denn der Mensch, der auf diese Weise Liebe und Achtung des Kollektivs genießt,
ist nicht das beeindruckbare, empirische Wesen, wie wir es in jedem von uns sehen;
es ist der Mensch schlechthin, die ideale Humanität […]“ (Durkheim 1973, S. 395).
Es ist dem Individualismus nur dann möglich, das Gebot über den Respekt vor
der Würde des Individuums zu universalisieren, wenn er diese nicht auf eine
Qualität zurückführt, die nicht unterschiedslos alle aufweisen (vgl. Durkheim
1986b, S. 56). Ordnet man das Individuum an sich allem anderen über, so lässt
sich zwischen ihm und der Orientierung am individuellen Eigennutz insofern
nicht vermitteln, als diese um ihretwegen, wenn sie also über allem steht, den
Respekt vor der Würde des Individuums übergehen kann. Die Vergottung des
Eigennutzes des Individuums auf der einen Seite und des Individuums an sich
auf der anderen Seite schließen sich also gegenseitig aus. Das ist für Durkheim
ein Grund für die Unzulässigkeit von jener Identifikation des Individualismus,
denn die Orientierung am Individuum an sich als einem finalen Zweck schließt
aus, dass man, einerlei welcher Anlass besteht, über es hinwegsieht. „Der so ver-
standene Individualismus ist definitiv die Glorifizierung nicht des Ichs, sondern
des Individuums im Allgemeinen“ (ebd., S. 60).
Der Respekt richtet sich an die Qualitäten des Individuums, die abstrakt und
allgemein sind, was zur Folge hat, dass ihnen Partikularitäten untergeordnet
werden. Wenn also nicht das einzelne Individuum, sondern das verehrt wird, was
das Individuum mit ausnahmslos allen teilt, dann erfolgt zwangsläufig die eigene
Zurückstellung (ebd., S. 59). Das schafft nur die moralische Überlegenheit, die
von Individuum an sich ausgeht (vgl. Durkheim 1973, S. 394). Es aber als einen
erstrebenswerten Zweck durchzusetzen, kann nur auf einen sozialen Ursprung
zurückgehen. Durkheim dazu:
„Weit davon entfernt, nur unseren Instinkten zu schmeicheln, weist sie uns ein Ideal
zu, das unendlich weit über die Natur hinausgeht; denn wir haben nicht von Natur
aus diese weise und reine Vernunft, die, frei von jeglichen persönlichen Beweg-
266 3 Émile Durkheims Welt
gründen, ins Abstrakte hinein Gesetze über ihr eigenes Verhalten erlassen würde“
(Durkheim 1986b, S. 59).
Somit ist eine Voraussetzung für die Sakralisierung des Individuums gegeben,
denn der Respekt für die allgemeinen Qualitäten des Individuums transzendiert
das Individuum (vgl. Durkheim 1973, S. 392) und macht es achtsam dafür, das
Individuum vor dem profanen Zugriff zu bewahren. Das verhält sich als „[…]
eine Religion, in der der Mensch zugleich Gläubiger und Gott ist“ (vgl. Durk-
heim 1986b, S. 57). Durkheim stützt sich auf seine Definition der Religion, da-
mit er konstatieren kann, dass die moralische Überlegenheit des Individuums
und die integrative Kraft, die ihm entspringt, im Wesentlichen für seine Sakrali-
sierung und die Religion der Menschheit verantwortlich sind (ebd., S. 62).148
Wo eine Religion ist, da gibt es auch Frevel. Auch der Kult des Individu-
ums kennt Sakrilege, wozu auch der Selbstmord gehört. Wer Hand an sich legt,
verfügt auf der einen Seite zwar über sich selbst, aber er verletzt auch etwas, was
ihn überschreitet und worüber er nicht frei verfügen kann (vgl. Durkheim 1973,
S. 396). Die zunehmende Missbilligung des Selbstmords im Laufe der Geschich-
te korrespondiert, so Durkheim, mit den zunehmenden Rechten des Individuums
(ebd., S. 390), d.h. wo der altruistische Selbstmord weniger vorkommt, dort ist
das Individuum nicht der strengen Pflicht zur Angleichung ausgesetzt, es verfügt
stattdessen über mehr Entscheidungsfreiheit im Hinblick auf die eigene Biogra-
phie und somit wird ihm der Freitod auch nicht zugemutet. Das Individuum ist
zwar vor Angriffen auf seine Würde geschützt, es muss aber auch das, was diese
konstituiert, mit Respekt behandeln und schützen (ebd., S. 396). Schließlich lässt
sich der altruistische Selbstmord dann seltener beobachten, wenn statt der Pflicht
zum Tod die Missbilligung des Selbstmords vorherrscht.
Der Fall Dreyfus ist nicht anders. Weil das Allgemeine des Individuums
wie ein heiliges Ding verehrt wird, erfolgt die Missbilligung im Falle der Verlet-
zung seiner Freiheit und seines Ansehens nicht deswegen, weil ein bestimmtes
Individuum betroffen ist, sondern weil nicht die Qualitäten respektiert werden,
die es mit allen teilt. Durkheim erklärt, dass nicht die Anteilnahme für Dreyfus
für den Widerstand gegen seine Verurteilung sorgt, sondern die Verletzung sei-
ner Würde. Bleibt die Erhebung aus, wenn man mit einem heiligen Ding despek-
tierlich umgeht, so ist es auch um seine Sakralität geschehen (vgl. Durkheim
1986b, S. 65). Dass sich die Faktenfrage im Fall Dreyfus in eine Prinzipienfrage
gewandelt hat, wird nun verständlich. Wenn sich die Würde aus dem Spezifi-
schen eines Individuums herleitete, dann wäre die Missbilligung einer Verlet-
zung nicht kategorisch zu erwarten. Weil man jede Verletzung eines Individu-
ums missbilligt, gleich was es von anderen unterscheidet, ist es die Sakralität des
Individuums an sich, die man verteidigt. Insofern zudem das Symbol, für das die
148 Hans Joas wendet dagegen ein, dass es Durkheim nicht gelingt, die Außeralltäglichkeit der
Religion des Individuums aufzuzeigen (vgl. Joas 2004, S. 71).
3.6 Krise und Individuum (Physik der Sitten und des Rechts) 267
Bereitschaft abverlangt wird, Opfer zu bringen, nicht wie sonst den Gläubigen
äußerlich ist, nützt ihnen der Kult des Individuums mehr als nur für die übliche
Selbsterhöhung. Obendrein gilt nämlich jedem einzelnen Gläubigen der Respekt,
der die Profanierung verhindern soll (vgl. Durkheim 2008a, S. 478).
Die Sakralität des Individuums ist sogar in der Lage, für die Übereinstim-
mung trotz Vielfalt von Verhaltensregeln zu sorgen, da sie sich besonders in
modernen Gesellschaften dafür eignet, sich gegenüber der Heterogenität der ver-
ehrten Dinge durchzusetzen. Der Bedarf an Individualität, der sich der Arbeits-
teilung verdankt und das ungestrafte Hervortreten der Individualität lassen er-
kennen, dass Zumutungen, die Homogenität vorsehen, weniger Geltungskraft
aufweisen. Die zunehmende Heterogenität verhindert aber auch die Dominanz
einer Kollektivvorstellung und daher konstatiert Durkheim, dass das für die
Überwölbung der vielfältigen Unterschiede übrig bleibt, was keinem Individuum
abgeht, nämlich die Würde. Sie taugt dafür, für alle zum Gegenstand der Vereh-
rung zu werden.
„Der Individualismus bedeutet nicht nur keine Anarchie, sondern stellt fortan das
einzige Glaubenssystem dar, das die moralische Einheit des Landes sicherstellen
kann“ (Durkheim 1986b, S. 62).
An dem Widerstand gegen die Behandlung von Dreyfus wird also für Durkheim
deutlich, dass das Individuum an sich zur kollektiven Vorstellung wird, mit der
sich die für moderne Gesellschaften übliche Indifferenz gegenüber den Gescheh-
nissen in den verschiedenen Handlungsbereichen überwinden lässt.
Durkheim favorisiert demnach den Kult des Individuums, da er, anders als
die partikulare Moral der Berufsgruppen, den Zweck erfüllt, Abhilfe gegen die
gesellschaftliche Krise zu leisten, indem er dem moralischen Polymorphismus
als eine umfassende Größe überwindet. Auf der einen Seite
„[...] findet sich infolge einer weitergehenden Arbeitsteilung jeder Kopf auf einen
anderen Punkt des Horizonts gerichtet, jeder reflektiert einen anderen Gesichtspunkt
der Welt; infolgedessen unterscheiden sich die Einstellungen von einem Subjekt
zum nächsten“ (ebd., S. 63).
Auf der anderen Seite ist das Individuum dafür qualifiziert, das heilige Ding des-
jenigen Kollektivs zu sein, dem sich die Angehörigen aller spezifischen Kollek-
tive zuordnen lassen, d.h. es ist als das Symbol geeignet, um den sakralen Kern
moderner Gesellschaften zu bilden. Weil hier keines der spezifischen Kollektive
den moralischen Polymorphismus dominieren kann, bleibt nur noch das Indivi-
duum an sich übrig.
Damit Durkheim aber den Kult des Individuums gegen die Krise in Stellung
bringen kann, ist es vonnöten, zum einen die Bedingungen für die Verhaltensre-
gel zu nennen, die den Schutz des Individuums vorsieht und zum anderen zu
erklären, wie dieser Schutz funktioniert. In der Physik der Sitten und des Rechts
268 3 Émile Durkheims Welt
greift er auf statistische Daten zurück, um die Faktoren zu untersuchen, die für
das Ausmaß des Schutzes maßgeblich sind. Er kann zeigen, dass die Verehrung
des Individuums nicht dafür ausreicht, um auch für dessen Schutz und für die
Minderung der Vergehen gegen das Individuum zu sorgen. Schließlich stößt er
darauf, dass die universelle Moral des Individuums partikulare Moral, allen vo-
ran die staatsbürgerliche Moral, nicht entbehren kann. Dieses Balanceverhältnis
soll nun anhand Durkheims Interpretation der Mordstatistiken und seiner Staats-
lehre rekonstruiert werden.
Die Geltungskraft der Verhaltensregel, die das Individuum schützt, liest
Durkheim am Vergleich von Mord- und Kriminalitätsstatistiken ab. Zunächst die
Daten: Innerhalb von 55 Jahren reduziert sich in Frankreich die Zahl der Morde
um 62 %. Ähnliches lässt sich in anderen fortgeschrittenen Gesellschaften be-
obachten, während es in den weniger fortgeschrittenen Gesellschaften und in den
ruralen Regionen im Allgemeinen zu keinem Rückgang kommt (vgl. Durkheim
1991, S. 161). Die Zahl der Morde ist vor allem in den Ländern hoch, in denen
der Katholizismus dominiert (ebd., S. 168). In Kriegszeiten und im Kontext von
politischen Krisen bleibt die rückläufige Tendenz der Mordfälle aber aus. Unmit-
telbar nachdem die französische Justiz nach Ende des Krieges im Jahr 1871 ihre
Arbeit wieder aufnimmt, lässt sich eine Zunahme der Morde um 45 % feststellen
(ebd., S. 167). Obwohl weniger Morde verzeichnet werden, steigt die Zahl der
Delikte wie Diebstahl und Körperverletzung in den fortgeschrittenen Gesell-
schaften um bis zu 400 % (ebd., S. 162).
In den Ländern, denen der Rückgang in der Mordstatistik fehlt, hat sich die
Minderung solcher Kollektivgefühle noch nicht ereignet, die auch während eines
Krieges im Vordergrund stehen. Das sind Zumutungen zur Verteidigung der
Ehre von Kollektiven, gegenüber denen das Individuum an sich zurücksteht
(ebd., S. 163). Die verlangten Eingeständnisse gehen insofern über das Maß des
gewöhnlichen Selbstverzichts hinaus, als sich das Individuum mit einer Opferbe-
reitschaft konfrontiert sieht, für die sein Leben gleich ist. Wo das der Fall ist, da
gelten darüber hinaus für Vergehen gegen die Ehre der Kollektive gewalttätige
Antworten als angemessen. Unter diesen Bedingungen liegt der Respekt für das
Individuum an sich nur rudimentär vor. Mit der Interpretation der Zahlen beab-
sichtigt Durkheim aber nicht, den weniger fortgeschrittenen Gesellschaften die
Pflicht zum Mord anzuhängen. Durkheim folgert, dass hier die Empfindlichkeit
für das individuelle Leid gering ist, weil das Individuum sein Leben für das Kol-
lektiv einsetzen muss, d.h. es gelten moralische Zwecke, die dem individuellen
Leid übergeordnet sind (ebd., S. 165). Er notiert:
„Wenn Ruhm und Größe des Staates als das höchste Gut erscheinen, wenn die Ge-
sellschaft etwas Heiliges und Göttliches darstellt, dem alles andere unterzuordnen
ist, dann steht sie so hoch über dem Einzelnen, dass die Sympathie und das Mitleid,
das der Einzelne einflößen mag, nichts gegen die gebieterischen Forderungen der
verletzten Gefühle ausrichten können. Wenn es darum geht, einen Stammvater zu
3.6 Krise und Individuum (Physik der Sitten und des Rechts) 269
verteidigen oder einen Gott zu rächen, was zählt da schon das Leben eines Men-
schen“ (ebd., S. 163 f.).
Durkheim führt auch den Anstieg der Morde infolge von Kriegen und politi-
schen Krisen auf die erhöhte Leidenschaft zurück, der die Würde des Individu-
ums und die Ablehnung des Leids unterliegen (ebd., S. 166).
Die ausbleibende Reduzierung der Morde in den weniger fortgeschrittenen
Gesellschaften und ihre kriegsbedingte Zunahme haben also ihre Ursache in dem
Gewicht der Kollektive und der Gleichgültigkeit gegenüber dem Individuum.
Für Durkheim ist das an die frühe Antike anschlussfähig, in der Mord nicht be-
straft werden musste, wohingegen die schwersten Strafen für Asebie gegenüber
religiösen Wesen verhängt wurden (ebd., S. 158). Individuelles Leid war gegen-
über der Ehre der Götter belanglos. Mit dem Rückgriff auf die Mordstatistiken
will er aber nicht darauf hinaus, die zunehmende Missbilligung individuellen
Leids für den Rückgang der Morde in fortgeschrittenen Gesellschaften verant-
wortlich zu machen. Die Unterstellung, der zufolge der Schutz für das Individu-
um an sich dadurch bewirkt wird, dass es zum Gegenstand der Verehrung wird,
nimmt er nicht an.
„Zweifellos besteht ein Zusammenhang zwischen der Entwicklung des Individua-
lismus und dem Rückgang der Morde, aber ersteres hat letzteres nicht unmittelbar
herbeigeführt“ (ebd., S. 162).
Die Daten über Delikte abseits des Mordes dienen ihm hierfür als Beleg. Verbre-
chen, die hinterlistig durchgeführt werden, ein mehr an Kalkulation erfordern
und nicht den Leidenschaften entsprechen, in deren Schatten auch die Morde
stehen, nehmen zu, ohne jedoch die Abwehr hervorzurufen, auf die ein Mord
trifft. Weil die Delikte zahlenmäßig nicht wie die Morde nachlassen, folgert
Durkheim, dass die zunehmende Verehrung des Individuums nicht die Ursache
für die Verringerung der Morde ist. Schließlich schafft es dieser Respekt nicht,
die Zahl der anderen Delikte zu mindern. Sein Ergebnis lautet daher: Der Schutz
des Individuums an sich verdankt sich dem Geltungsverlust der Kollektive und
ihrer Zumutung, sich ihnen nicht nur unterzuordnen, sondern auch die Bereit-
schaft aufzubringen, sich tatsächlich für sie zu opfern. Das Individuum an sich
wird sich nämlich nicht durchsetzen können, solange die Pflicht dominiert, für
die Ehre eines Kollektivs einzustehen.
„Wie wir gesehen haben, kam es parallel zu den Fortschritten jener kollektiven Ge-
fühle, die den Menschen schlechthin, das menschliche Ideal, das materielle und
geistige Wohl des Einzelnen zum Gegenstand haben, zu einer Abschwächung jener
kollektiven Gefühle, die der Gruppe, der Familie oder dem Staat auch unabhängig
von dem Nutzen gelten, welche der Einzelne aus ihnen ziehen mag“ (ebd., S. 163).
Also verschuldet nicht der Respekt für die Sakralität des Individuums dessen
Schutz, sondern die Minderung der Pflichten, die von Individuum verlangen,
270 3 Émile Durkheims Welt
keine Rücksicht auf das Individuum an sich zu nehmen. Wenn die Zumutung,
sich für kollektive zu opfern, nicht zwischenzeitlich wieder an Geltung gewinnt,
ist die universelle Moral stark. Nur weil sich aber das Individuum als heiliges
Ding durchsetzt, schreckt man nicht davor zurück, einem anderen Leid anzutun.
Im Hinblick darauf wirkt sich stattdessen die Einbuße der Moral aus, die einen
schonungslosen Einsatz für Kollektive vorsieht, denn für Durkheim gehört zu
dieser Bereitschaft die Disposition, sich nur in geringem Maße gegen gewalttäti-
ges Handeln zu hemmen. Wenn eine partikulare Moral solches Verhalten ver-
langt, dem man sogar das eigene Wohlergehen unterzuordnen hat, bewirkt sie
auch, dass man sich gleichgültig zeigt gegenüber menschlichem Leid überhaupt
(ebd., S. 165).
Auf den Geltungsverlust einer solchen partikularen Moral ist aber auch das
Individuum angewiesen, damit es möglich ist, es mit der Würde des Heiligen
auszustatten. Der Schutz des Individuums ist demnach über allem verbindlich,
solange der Schutz von Kollektiven nur eine der vielen nebensächlichen Verhal-
tensregeln ist. Zwar ist der Respekt für das Individuum schlechthin von der
Schwächung der Verhaltensregeln abhängig, die unerbittliche Selbstaufopferung
nicht ausschließen, auf partikulare Moral überhaupt zu verzichten, kann sich die
universelle Moral wiederum nicht leisten. Mit dem Nachweis hierfür kann Durk-
heim einen Widerspruch auflösen, der in seinen Anregungen zur Erwiderung der
Krise enthalten ist. Er besteht wie folgt: Auf der einen Seite favorisiert Durk-
heim die partikulare Moral der Berufsgruppen. Das sind Verhaltensregeln, die im
Allgemeinen die Gestaltung der Individualität einschränken und darüber hinaus
für die in der Biographie und im Alltag des Individuums dominanten Interaktio-
nen zuständig sind. Auf der anderen Seite setzt er auf die integrative Kraft, die
von der Religion der Menschheit ausgeht, weil sich ansonsten keinerlei Sakrali-
tät anbietet, um der modernen Heterogenität Herr zu werden. Wie kann Durk-
heim also eine partikulare Moral befürworten, obwohl er auch auf Verhaltensre-
geln zählt, mit denen das Individuum im Hinblick auf ein Ziel homogenisiert
wird, das aber zugleich die Heterogenität der Individuen unterstützt? Die Ant-
wort liefert er mit seinen Überlegungen zu einer weiteren partikularen Moral,
und das ist die staatsbürgerliche Moral.
Durkheim kann zeigen, dass der Staat solche Effekte hervorruft, die das In-
dividuum an sich braucht. Obwohl auch der Staat dem Individuum zumutet, sich
Zwecken unterzuordnen, die an eine partikulare Zugehörigkeit gebunden sind
und eben nicht das Individuum an sich betreffen, trägt er für dieses Sorge, aber
nicht indem er sich um das Ausbleiben von Vergehen gegen das Individuum
kümmert. Insofern sich infolge der Schwächung der rückhaltlosen Pflichten für
Kollektive die partikularen Zugehörigkeiten dem Individuum an sich unterord-
nen und dafür nicht allein der ihm entgegengebrachte Respekt ausreicht, unter-
sucht Durkheim die Funktion des Staates im Hinblick auf jene Schwächung. Er
3.6 Krise und Individuum (Physik der Sitten und des Rechts) 271
kann sie aufdecken, aber hierfür braucht er zunächst Definitionen der politischen
Gesellschaft, des Staates und der Demokratie.
Als erstes die politische Gesellschaft, die er nicht mit dem Staat zusammen-
fallen lässt. Durkheim sucht die spezifischen Merkmale, die sie von anderen
Dingen unterscheidet. Die stabile und rechtmäßige Über- und Unterordnung ist
zunächst das Merkmal, das keiner politischen Gruppe, also auch der politischen
Gesellschaft nicht fehlen kann (ebd., S. 64). Die Macht der politischen Gesell-
schaft ist keiner weiteren Macht untergeordnet. Sie kann weitere Gruppen integ-
rieren, ohne aber ihrerseits von einer politischen Gesellschaft umfasst zu werden
(vgl. Durkheim 1996b, S. 208). Weil die dauerhafte Macht ein Merkmal ist, das
ebenfalls andere Dinge wie z.B. die antike Familie aufweisen, prüft er, ob es
zulässig ist, das Territorium und die Anzahl der Untergeordneten für die Defini-
tion der politischen Gesellschaften zu veranschlagen. Die Einwände gegen diese
Merkmale helfen ihm, das weitere Merkmal der politischen Gesellschaft an die
dauerhafte Macht anzuschließen. Das Territorium kann kein Merkmal sein, weil
es zum einen politische Gesellschaften ausschließt, die umherziehen und an kein
festes Territorium gebunden sind. Zum anderen wird das Merkmal politischen
Gesellschaften der Vergangenheit nicht gerecht, denen das fixe Territorium un-
bekannt war (vgl. Durkheim 1991, S. 66). Die Anzahl der Untergeordneten lässt
sich ebenfalls nicht zu den Merkmalen zählen, da es nicht möglich ist, das Mi-
nimum derjenigen festzulegen, die von der dauerhaften Macht betroffen sein
müssen. Nichtsdestoweniger ist die Quantität der Untergeordneten nicht unwe-
sentlich, da sie eine Voraussetzung der Über- und Unterordnung erfüllt. Diese
ist, so Durkheim, schließlich erst dadurch anerkannt, dass sich verschiedene Kol-
lektive aneinander binden. Hört diese Vereinigung auf, so verschwindet auch die
dauerhafte Macht. Er notiert:
„Da politische Gesellschaften die Existenz einer Autorität voraussetzen und da solch
eine Autorität nur dann entsteht, wenn die Gesellschaft mehrere elementare Gesell-
schaften in sich vereint, bestehen politische Gesellschaften notwendig aus mehreren
Zellen oder Segmenten“ (ebd., S. 70).
Die gemeinsame Unterordnung verschiedener Gruppen unter eine Macht ist für
diese grundlegend und mit diesem Merkmal kann man die politische Gesell-
schaft von anderen Dingen unterscheiden.
Durkheim besteht darauf, auch einen Unterschied zwischen dem Staat und
der politischen Gesellschaft zu machen, obwohl sich sein Wirken von dieser
nicht vollkommen isolieren lässt. Der Staat ist für ihn „die spezielle Gruppe von
Funktionsträgern“, die für die Macht der politischen Gesellschaft steht (ebd., S.
72). Ferner trennt er den Staat von Instanzen wie der Verwaltung oder dem Mili-
tär, die seine Entscheidungen in die Tat umsetzen, da er sonst das wesentliche
Merkmal des Staates verzerrt (vgl. Durkheim 1996a, S. 45). Was dem Staat un-
tergeordnet ist und eine ausführende Funktion ausübt, dem geht ein ausschließ-
272 3 Émile Durkheims Welt
lich auf den Staat zutreffendes Merkmal ab. Das Soziale und der Staat sind
mächtig, beide können das Individuum bedrängen, nur lässt dieser seine inneha-
bende Macht mit Bedacht wirksam werden. „Thus the State is above all an organ
of reflection“ (ebd., S. 46). Während die Macht des Sozialen nicht bewusst pla-
nend und kalkulierend eingesetzt werden kann, ist das im Wesentlichen dem
Staat möglich. Das Reflexionsvermögen ist das Merkmal für die Definition des
Staates, das weder die ihm untergeordneten Instanzen noch die politische Gesell-
schaft aufweisen. Letztere kann es zwar ohne einen Staat und basierend auf der
mechanischen Solidarität geben, der Staat aber ist ohne die politische Gesell-
schaft nicht möglich, denn schließlich zeichnet ihn die Rationalität seiner Macht
aus, die er im Besonderen auf einen Gegenstand richtet, und das ist die politische
Gesellschaft. Die Entscheidungen des Staates sind aber, weil sie die politische
Gesellschaft betreffen, von dieser nicht losgelöst. Aus diesem Grund lehnt es
Durkheim ab, nicht zwischen ihr und dem Staat zu unterscheiden.
„Der Staat ist ein spezielles Organ, das die Aufgabe hat, bestimmte Vorstellungen
zu entwickeln, die für die Gemeinschaft bindend sind. Diese Vorstellungen unter-
scheiden sich von den übrigen kollektiven Vorstellungen durch ein höheres Maß an
Bewusstheit“ (Durkheim 1991, S. 75).
Anders als die Macht des Sozialen übt der Staat seine Macht aus, indem eigens
hierfür qualifizierte Funktionsträger die Kosten und Ziele der Machtausübung
bedenken. Die Funktion der Verfassungen und der kodifizierten Ordnungen
überhaupt besteht schließlich darin, die Macht des Staates der Macht des Sozia-
len überzuordnen und die Reflexion und Diskussion über ihren Einsatz zu regeln
(vgl. Durkheim 1996a, S. 47). Die Versammlungen der Funktionsträger erfüllen
demnach den Zweck, Diskussionen über die Entscheidungen des Staates zu füh-
ren, um somit seine Macht, anders als sich die Macht des Sozialen verhält, in
rationale Bahnen zu lenken.
Neben politischer Gesellschaft und Staat definiert Durkheim auch die De-
mokratie im Hinblick darauf, den Voraussetzungen des Individuums an sich
nachzugehen. Die Definition des Staates bereitet jedoch Schwierigkeiten, sie mit
einer bestimmten Vorstellung von Demokratie zu vereinbaren. Durkheim lehnt
es ab, die Machtausübung des Staates als deckungsgleiche Resonanz der Macht
der politischen Gesellschaft zu begreifen. Demokratie kann nicht die Staatsform
sein, deren wesentliches Merkmal die getreue Wiedergabe dieser Macht ist (vgl.
Durkheim 1991, S. 131). Das weist er zurück, weil sich auf dieser Grundlage
eine Definition der Demokratie folgewidrig zur Definition des Staates verhält.
Ein Staat liegt vor, insoweit er sich anhand seines Reflexionsvermögens von der
politischen Gesellschaft abhebt und daher kann es nicht möglich sein, die Demo-
kratie als Reflex von jener zu kennzeichnen, ohne dass sich diese Definition zu-
gleich als Nachteil für das Wesensmerkmal des Staates erweist. Obwohl der
3.6 Krise und Individuum (Physik der Sitten und des Rechts) 273
Staat unter dem Einfluss der politischen Gesellschaft steht und sich seine Macht
wiederum auf diese auswirkt, fallen beide nicht zusammen.
„Man sollte also nicht sagen, die Demokratie sei die politische Verfasstheit einer
Gesellschaft, die sich selbst regiert und in der die gesamte Nation an der Regierung
teilhat. Solch eine Definition wäre ein Widerspruch in sich. Genauso gut könnte
man sagen, die Demokratie sei eine politische Gesellschaft ohne Staat. In Wirklich-
keit ist der Staat entweder ein von der übrigen Gesellschaft unterschiedenes Organ,
oder er ist gar nicht“ (ebd., S. 119).
Wenn die Demokratie darauf basiert, dass der Staat auf die Macht der politischen
Gesellschaft reduziert wird, büßt er seine eigentümliche Macht ein. Das bemerkt
Durkheim wie folgt:
„Denn die Demokratie setzt einen Staat, ein Regierungsorgan, voraus, das von der
übrigen Gesellschaft unterschieden ist, wenngleich es in enger Beziehung zu ihr
steht, und die genannte Sichtweise ist die Negation jeglichen Staates im eigentlichen
Sinne des Wortes, weil sie den Staat in der Nation aufgehen lässt“ (ebd., S. 132).
Was aber den Staat kennzeichnet, das hilft Durkheim dabei, die Definition der
Demokratie zu entwickeln. Der Staat beruht auf der reflektierten Machtausübung
und kein Staat kann abgesondert von der politischen Gesellschaft bestehen, da
seine Macht von der Vereinigung der Untergruppen in jener abhängt. Insofern es
nicht ausbleiben kann, dass der Staat an die politische Gesellschaft angeschlos-
sen ist, ist es möglich, die Staatsformen anhand dieser Verbindung zu differen-
zieren. Belässt der Staat seine Reflexionen im Verborgenen, so wird die politi-
sche Gesellschaft nicht über die Abwägungen und Motive seine Machtausübung
in Kenntnis gesetzt. Macht er sie hingegen transparent, so ermöglicht er, dass es
auch auf Seiten der politischen Gesellschaft zu Diskussionen und Reflexionen
über seine Machtausübung kommt, nur hat das zur Folge, dass er seinerseits von
diesen Vorgängen in der politischen Gesellschaft betroffen ist.149 Ein wesentli-
ches Merkmal der Demokratie ist für Durkheim demnach die Aufmerksamkeit
für die Reflexionen des Staates und ihre Wirkung auf diese (ebd., S. 119). Die
Kommunikation zwischen Staat und politischer Gesellschaft grenzt die Demo-
kratie von anderen Staatsformen ab. In ihr gibt es Institutionen, die nur deswegen
bestehen, damit es zur Kommunikation kommen kann und deren Zweck ist, dass
die politische Gesellschaft über die Reflexionen des Staates in Kenntnis gesetzt
wird. Wo der Staat hingegen primär nach außen orientiert ist und die Repräsen-
tanten der politischen Gesellschaft als sakral gelten und somit keinen Kontakt zu
profanen Menschen haben, da ist die Kommunikation zwischen Staat und politi-
scher Gesellschaft gering entwickelt (ebd.). In der Demokratie ist das anders:
„Die Bürger werden über das Tun des Staates auf dem laufenden gehalten, und der
Staat informiert sich von Zeit zu Zeit oder sogar laufend über das, was in den Tiefen
der Gesellschaft geschieht“ (ebd., S. 124).
Darüber hinaus ist die Macht eines Staates im Falle minimaler Kommunikation
mit der politischen Gesellschaft geringer, als es die Macht eines demokratischen
Staates ist. Das deckt Durkheim anhand des zweiten Merkmals für die Definition
der Demokratie auf. Die Anregung des staatlichen Reflexionsvermögens geht,
ihm zufolge, von der politischen Gesellschaft aus. Erschöpft sich die mechani-
sche Solidarität infolge der im größer werdenden Gesellschaften, so werden die
Traditionen immer weniger zweckdienlich und „der Geist des Prüfens und der
freien Kritik“ nimmt zu (ebd., S. 134). Indem immer mehr Dinge, deren Prüfung
einst untersagt war, zum Gegenstand der Reflexion werden und die politische
Gesellschaft dies dem Staat aufdrängt, nimmt auch dessen Macht zu. Sind hin-
gegen Dinge davon ausgeschlossen, einer Kritik unterzogen zu werden, so wer-
den, da man sich ihre Ursachen und Folgen nicht vergegenwärtigt, Initiative zu
ihrer Änderung ausbleiben. Die Kommunikation zwischen Staat und politischer
Gesellschaft ist demnach gering ausgeprägt, denn auf Seiten letzterer dominieren
die Traditionen, während sich die Aufmerksamkeit des Staates mehr nach außen
als nach innen richtet. Durkheim konstatiert also, dass die Reflexion des Staates
in geringem Maße genutzt wird, wenn er wenig mit der politischen Gesellschaft
kommuniziert (ebd., S. 124). Weil es in modernen Gesellschaften nicht vor-
kommt, dass Dinge davon ausgeschlossen sind, ihren Ursachen und Folgen
nachzugehen, ist auch der Horizont des Staates größtmöglich ausgeweitet.
„Heute dagegen sind wir der Ansicht, dass es in der öffentlichen Ordnung nichts
gibt, was dem Zugriff des Staates prinzipiell entzogen wäre. Wir glauben, dass
grundsätzlich alles beständig infrage gestellt und einer Überprüfung unterzogen
werden kann und dass wir hinsichtlich der Entscheidungen, die getroffen werden,
nicht durch die Vergangenheit gebunden sind. In Wirklichkeit ist die Einflusssphäre
des Staates heute sehr viel größer als früher, weil der Bereich des klaren Bewusst-
seins heute größer ist“ (ebd., S. 121).
Vor allem auf Dinge, die man der Erziehung, Gesundheit und Wirtschaft zuord-
net, richten Staat und politische Gesellschaft ihre Aufmerksamkeit. Nehmen die
Dinge zu, die zum Gegenstand der Reflexion werden, so führt das zu einem
Mehr an Plastizität. Die Widerstandskraft gegen Änderungen der Dinge sinkt,
wenn gefragt wird, welchen Faktoren sie sich verdanken und was sie ihrerseits
hervorrufen. Im Hinblick auf den Staat hat das folgende Konsequenz: Wenn die
sozialen Regelmäßigkeiten nicht mehr der Gestaltung durch den Staat entgehen
können, so ist er ihnen gegenüber nicht mehr so machtlos wie einst, d.h. indem
er sich um die Regelung von immer mehr Dingen kümmern kann, nimmt auch
seine Macht zu (ebd., S. 126). Das kommt insbesondere darin zum Ausdruck,
dass der Staat in der Lage ist, demographische Daten über die politische Gesell-
3.6 Krise und Individuum (Physik der Sitten und des Rechts) 275
schaft zu sammeln. Vor diesem Hintergrund tritt insgesamt das Mehr an Macht
auf Seiten des modernen Staates gegenüber seinem absoluten Vorgänger hervor.
Mit dem Wesensmerkmal der Demokratie ist somit auch ein Machtzugewinn
verbunden, der dadurch entspringt, dass immer mehr Dinge dem Verstand zu-
gänglich gemacht werden.
Zusammengenommen legt sich Durkheim drei Definitionen vor. Die politi-
sche Gesellschaft besteht aus verschiedenen Gruppen, die sich einer stabilen
Macht unterordnen, wobei ihre gemeinsame Unterordnung eine Bedingung der
Macht ist. Die Gruppe der Funktionsträger, die im Namen der politischen Ge-
sellschaft ihre Macht mit Bedacht ausübt, ist der Staat. Die Demokratie ist
schließlich die Staatsform mit enger Kommunikation zwischen Staat und politi-
scher Gesellschaft und ausgedehnter Besinnung des Staates für die Gegenstände
im Innern. Auf dieser Grundlage lässt sich nun erklären, wie der Staat dem Indi-
viduum an sich einen Dienst erweist.
Durkheim geht der Frage nach, welche Sorge der Staat gegenüber dem In-
dividuum zu leisten hat und er schließt im Hinblick darauf aus, dass sich die
Aufgabe des Staates bereits erschöpft hat, wenn er eine negative Gerechtigkeit
gewährleistet. Wenn der Staat das Individuum davor beschützen muss, Opfer
eines Vergehens von Seiten seinesgleichen zu werden, dann ist damit noch nicht
gesagt, was das Schützenswerte am Individuum hervorgebracht hat. Stattdessen
setzt diese Aufgabenzuweisung sogar voraus, dass das, was der Staat zu beschüt-
zen hat, bereits mit dem Individuum gegeben ist. Weil aber die Erklärung über
dem Ursprung des zu beschützenden Werts fehlt, erachtet Durkheim die Be-
schreibung dieser Aufgabe des Staates als unzulänglich (ebd., S. 78). Geht man
also davon aus, dass sich der Staat nur darum kümmern muss, willkürliche Ver-
gehen gegen das Individuum abzuwehren, so ist damit einbegriffen, dass der
Wert des Individuums unabhängig vom Wirken des Staates ist. Die Begründun-
gen der negativen Gerechtigkeit führen lediglich aus, warum der Staat das Indi-
viduum schützen soll und rekurrieren darauf, dass der Wert des Individuums mit
dessen Geburt gegeben ist oder aus sich dessen Beschaffenheit als moralisches
Wesen herleitet (ebd., S. 98). Durkheim wendet dagegen ein, dass ein mit dem
Individuum gegebener Wert mit der sukzessiven Achtung in Widerspruch steht,
die dem Individuum im Laufe der Zeit entgegengebracht wird. Die Entwicklung
der Achtung für das Individuum kann nicht begrenzt sein. Schließlich gibt es
Taten, die in der Gegenwart als Angriff auf das Individuum gedeutet werden, in
der Vergangenheit aber nicht als ein Vergehen galten. Wenn also die Achtung
mit dem Individuum gegeben wäre, dann wäre sie fest umrissen, nur wächst sie
mit der Zeit an, was somit einen Widerspruch darstellt. Ausgeschlossen ist auch,
die Verfestigung der Achtung durch ethische Begründungen hervorzubringen,
denn anstelle einer fundierten Argumentation braucht es die Macht des Sozialen,
damit sich die Achtung durchsetzt (ebd., S. 88). Er fasst zusammen:
276 3 Émile Durkheims Welt
„Als Basis des individuellen Rechts dient nicht der Begriff des Individuums, wie es
ist, sondern die Art und Weise, wie die Gesellschaft mit ihm umgeht, wie sie das In-
dividuum begreift und welchen Wert ihm beimisst. Entscheidend ist nicht, was das
Individuum ist, sondern was es wert ist, und umgekehrt, was es sein soll“ (ebd., S.
98).
Die zunehmende Achtung für das Individuum führt ferner die Schwierigkeit her-
bei, es an eine partikulare Moral des Staates anschlussfähig zu machen, die vor-
sieht, dass sich das Individuum ohne Rücksicht auf sich selbst den Zwecken des
Staates hingibt. Das scheint sich außerdem widersprüchlich mit dem bereits auf-
gezeigten Machtgewinn des Staates zu verhalten. Zum einen steigt der Wert des
Individuums und zum anderen verbucht der Staat mehr Macht für sich. Die einst
von Seiten des Staates an das Individuum gerichtete Zumutung, sich schonungs-
los für ihn einzusetzen, lässt sich nunmehr nicht aufrechterhalten, ohne zugleich
die Achtung für das Individuum zu missachten (ebd., S. 84). Für diese partikula-
re Moral des Staates ist vielmehr ein Individuum notwendig, dem die Freiheit,
Entscheidungen für sich selbst zu treffen, unbekannt ist. Anspruch auf ein eige-
nes Leben abseits der kollektiven Vorstellungen darf in diesem Fall nicht beste-
hen (ebd., S. 83).
Durkheim konstruiert also zwei Probleme. Erstens legt er offen, dass man
den Zweck des Staates nicht darin sehen kann, das Individuum vor Angriffen
anderer zu schützen, ohne Angaben darüber zu machen, wie es überhaupt dazu
gekommen ist, dass das Individuum zu schützen sei. Zweitens sieht er eine Dis-
krepanz zwischen der Aufforderung des Staates an das Individuum, Opfer für ihn
zu bringen und der Verehrung, die man an das Individuum an sich richtet. Seine
Lösung lautet: Es wächst zum einen die Macht des Staates an und das Individu-
um wird zum anderen zu einem heiligen Ding. Die Entwicklungen von Staat und
Individuum verlaufen nicht nur parallel, sondern sie stehen in einem Zusammen-
hang. Da es nicht sein kann, dass dem Individuum ein Schutz gebührt, dessen
Grund ihm selbst entspringt, bedarf es hierfür einer Kraft, und das ist der Staat.
Zwischen Staat und Individuum lässt sich vermitteln,
„[…] wenn wir das Postulat aufgeben, wonach die Rechte des Individuums mit dem
Individuum gegeben sind, und stattdessen davon ausgehen, dass erst der Staat diese
Rechte einsetzt“ (ebd., S. 85).
Das Individuum an sich ist den einstigen Zwecken des Staates entgegengesetzt,
jedoch lassen sich die beiden miteinander in Einklang bringen, wenn man in
Rechnung stellt, dass jenes vom Staat abhängt. Durkheim leitet das her, indem er
nachweist, dass mit der Macht des Staates auch die Achtung des Individuums
wächst. Das macht er folgendermaßen: Erst die Zügelung jedes moralischen Mi-
lieus lässt überhaupt Individualität zu, da ansonsten das Individuum seinerseits
nicht den Anspruch erheben wird sie zu bilden. Abseits der Wirkungen des Sozi-
alen mangelt es dem Individuum an Handlungsfähigkeit, zu der er von sich aus
3.6 Krise und Individuum (Physik der Sitten und des Rechts) 277
nicht kommen könnte. Ihr Urheber sind zwar die moralischen Milieus, in denen
das Individuum handelt, nur hat seine Beteiligung auch eine Schattenseite. Der
Nachteil eines jeden moralischen Milieus ist die Homogenität, die es von den
Angehörigen verlangt, wobei sie nicht als Belastung empfunden wird, solange
das moralische Milieu souverän ist. Das nennt Durkheim das Gesetz der morali-
schen Mechanik. „Jede Gesellschaft ist“, schreibt er, „despotisch, soweit nicht
etwas von außen hinzutritt, das ihren Despotismus in Grenzen hält“ (ebd., S. 90).
Zunächst verhindert schlechterdings die Größe der Gesellschaft, dass sich die
Homogenitätsanforderung eines moralischen Milieus durchsetzt. Trifft jedoch
die Dominanz eines moralischen Milieus zu, so greift das Kollektivbewusstsein
um sich, ohne dass es dem Individuum möglich ist, sich der Angleichung zu wi-
dersetzen. Wenn sich partikulare Moralen nicht gegenseitig schwächen, so wirkt
sich das zulasten der Individualität aus. Gegen die moralische Mechanik leistet
der Staat das Folgende:
„Es ist also notwendig, dass über all diesen Mächten lokaler, familialer, kurz: se-
kundärer Art eine allgemeine Macht steht, die allen ihr Gesetz aufzwingt und jede
dieser Mächte daran erinnert, dass sie nicht das Ganze ist, sondern ein Teil des Gan-
zen, und dass sie nicht für sich behalten darf, was grundsätzlich dem Ganzen gehört“
(ebd., S. 92).
Die Funktion des Staates ist demnach nicht negativ, denn er verhindert nicht
einen Vorgang, der erfolgt wäre, wenn dem Individuum die Wirkungen des mo-
ralischen Milieus abgingen. Indem der Staat nicht zulässt, dass sich ein morali-
sches Milieu souverän gegen andere abhebt, erzielt er, was dem Individuum ge-
mäß der tatsächlichen Achtung gebührt (ebd., S.101). Durkheim folgert sogar,
dass dem Staat vorwiegend der Kult des Individuums zur Verfügung steht, um
dem Zweck nachzukommen, auf den er nicht verzichten kann, er muss nämlich
für Einheit abseits aller Differenzen sorgen, d.h. er muss sich bemühen, „den
Kult zu organisieren“ (ebd., S. 102). In dieser Hinsicht ist es für Durkheim aber
ausgeschlossen, dass der Staat einen Kult ins Werk setzt, da ein solcher seinen
Ursprung im Sozialen hat. Stattdessen hat der Staat dafür zu sorgen, dass das,
was für die Ausrichtung eines bestehenden Kults erforderlich ist, auch verfügbar
ist (vgl. Durkheim 1972, S. 39).
Der Staat steuert somit einen unentbehrlichen Beitrag zur Individualität bei,
indem er moralischen Milieus im Weg steht, wenn ihre partikulare Moral in un-
eingeschränkter Weise das Individuum bedrängt. Obwohl Durkheim in der Vor-
lesung eine Begründung dafür liefert, dass es sich bei dieser Wirkung um eine
staatsbürgerliche Pflicht des modernen Staates gegenüber dem Individuum han-
delt und ihm der individualistische Staat nützt, den Widerspruch zwischen des-
sen zunehmenden Macht und dem zum moralischen Gegenstand aufgestiegenen
Individuum aufzulösen, ist die Individualität nicht nur ein Resultat, das sein soll.
Vielmehr ist das Individuum eine Folge seiner Definitionen von politischer Ge-
278 3 Émile Durkheims Welt
sellschaft und Staat. Insoweit jene nämlich auf der stabilen Macht beruht, die
wiederum durch die Vereinigung unterschiedlicher Gruppen zustande kommt
und schließlich der Staat ihre Macht rational ausübt, setzt das Individuum sie
voraus. Sind die unterschiedlichen Gruppen stark, so ist die Macht des Staates
herabgesetzt und umgekehrt. Liegt aber ersteres vor, so halten die Gruppen ge-
mäß dem Gesetz der moralischen Mechanik die Individualität zurück. Hingegen
bringt die Macht des Staates, die er daraus schöpft, dass er die Gruppen nieder-
hält, wertvolle Effekte für das Individuum an sich mit und es wird verständlich,
warum Durkheim schreibt: „Je stärker der Staat, desto größer die Achtung vor
dem Individuum“ (vgl. Durkheim 1991, S. 85).
Daran schließt Folgendes an: Weil sich die Macht der Staates einerseits der
Zurückhaltung der Gruppen verdankt und andererseits dadurch gesteigert wird,
dass sich die politische Gesellschaft in der Demokratie zunehmend selbst zum
Gegenstand der Reflexion macht und somit die Aufmerksamkeit für die Vorgän-
ge im Innern verstärkt, wird auch das Individuum an sich gefördert. Der demo-
kratische Staat verlangt vom Individuum, sich an der Reflexion zu beteiligen und
sich die Gründe und das Abwägen der Gründe für die Machtausübung des Staa-
tes zu vergegenwärtigen. Durkheim dazu: „Die Demokratie, wie wir sie definiert
haben, ist in der Tat die Staatsform, die unserer heutigen Auffassung vom Indi-
viduum am besten entspricht“ (ebd., S. 130).
Andererseits warnt Durkheim auch davor, die Macht des Staates einer dau-
ernden Kommunikation mit der politischen Gesellschaft zu opfern. Wenn sie
sich ihm allzu sehr aufdrängt, kommt es zu einer „Fehlform der Demokratie“ auf
Kosten seiner rationalen Machtausübung (ebd., S. 136). Demnach ist es erforder-
lich, dass die Reflexion auf Seiten der politischen Gesellschaft und die Kommu-
nikation mit ihr von Seiten des Staates in Maßen erfolgen.
Und schließlich kann es sich selbst der moderne Staat nicht leisten, ganz
von seiner partikularen Moral abzusehen. „Sie zielt nicht auf das Individuum,
sondern auf die nationale Gemeinschaft“ (ebd., S. 103). Solange der Staat nicht
vor seinesgleichen, also vor äußeren Gefahren geschützt ist, kann er, so Durk-
heim, nicht darauf verzichten, auch den Kult um sich selbst zu pflegen. Darüber
hinaus leistet auch dieser Kult einen Beitrag dafür, das Individuum vor Egoismus
oder Anomie zu bewahren, denn auch die politische Gesellschaft ist eine „mora-
lische Autorität, deren Joch für ihn so heilsam ist“ (ebd., S. 107). Folgendes
muss man dabei bedenken: Zum einen stimmen der Kult des modernen Staates
insofern mit dem Kult des Individuums überein, als dass auch letzterer wie jener
in der Lage ist, die Verehrung seitens der Angehörigen der politischen Gesell-
schaft in eine gemeinsame Richtung zu kanalisieren. Zum anderen ist der Kult
des Staates dem Individuum an sich nützlich, da er eine von dessen Vorausset-
zungen sicherstellt. Durkheim erklärt daher, dass man sich nicht bloß zu einem
Instrument des Staates macht, wenn man seiner partikularen Moral folgt, denn
man unterstützt Zwecke, von denen das Individuum nicht auszuschließen ist
3.6 Krise und Individuum (Physik der Sitten und des Rechts) 279
(ebd., S. 102). In dieser Hinsicht lässt sich, ihm zufolge, sogar zwischen Natio-
nalismus und Kosmopolitismus vermitteln. Weil die Funktionen in modernen
Gesellschaften zunehmen und diese somit störanfällig werden, kann der Staat die
inneren Belange nicht mehr wie früher vernachlässigen. Somit wird ein nach
innen gerichteter Nationalismus erforderlich, der statt auf Animositäten nach
außen auf dem Individuum an sich beruhen kann. Sobald der Nationalismus in
individualistische Bahnen gelenkt wird, hört der Widerspruch zwischen ihm und
dem Kosmopolitismus auf. Die beiden lassen sich harmonisieren, wenn der Staat
sich im Hinblick darauf engagiert, im Innern dafür zu sorgen, dass es angemes-
sene Prämienverteilungen für spezifische Leistungen gibt, dass es also „eine
immer enger werdende Beziehung zwischen den Verdiensten der Bürger und
ihrem Stand gibt“ (vgl. Durkheim 2006, S. 126). Was aber Durkheim postuliert,
ist kein Plädoyer, sondern er leitet die Begründung für den Nationalismus nach
innen von den Faktoren der Anomie her. Indem der Staat nicht nur Vergehen
gegen das Individuum an sich verhindert, sondern den Kult pflegt, der das Indi-
viduum zum Gegenstand hat, fördert er die Bedingungen für zufriedene Indivi-
duen, die mit angemessenen Prämien für erbrachte Leistungen rechnen können.
Der nach außen gerichtete Nationalismus lässt sich hingegen nicht mit dem
Kosmopolitismus verbinden, weil er ein partikulares Ziel vorgibt, das auf Kosten
des weitestgehend abstrakten Gegenstands der Moral verfolgt wird. Mit ihm ist
es ausgeschlossen, die verschiedenen Staaten auf ein gemeinsames Ziel auszu-
richten, wie es dem Nationalismus nach innen gelingt (ebd., S. 127). Durkheim
notiert:
„Wenn der Staat kein anderes Ziel hat, als seine Bürger zu Menschen im vollsten
Sinne des Wortes zu machen, dann werden die staatsbürgerlichen Pflichten nur noch
einen Sonderfall der allgemeinmenschlichen Pflichten darstellen“ (Durkheim 1991,
S. 109).
Insbesondere der innere Nationalismus pflegt also die Voraussetzung, dem das
Individuum seine Individualität verdankt.
Nichtsdestoweniger wirkt sich auch die Macht des Staates nachteilig auf das
Individuum aus. Durkheim versäumt es nicht, die Gefahr eines mächtigen Staa-
tes außer Acht zu lassen. Dessen Wirkungen unterscheiden sich, wenn er seiner-
seits nicht gezügelt wird, nur in einer Hinsicht von denen der Gruppen einer poli-
tischen Gesellschaft: Das Individuum ist einer partikularen Moral ausgesetzt, die
es nicht wie sonst diffus, sondern rational bedrängt (ebd., S. 92). Die Schlussfol-
gerung lautet:
„die Kollektive Macht, die der Staat verkörpert, bedarf ihrerseits eines Gegenge-
wichts, wenn sie der Befreiung des Individuums dienen soll; sie muss von anderen
kollektiven Mächten im Zaum gehalten werden, und zwar von jenen Sekundärgrup-
pen […]. Wenn es auch nicht gut ist, dass sie allein wären, so muss es sie dennoch
280 3 Émile Durkheims Welt
geben. Erst aus diesem Konflikt der gesellschaftlichen Kräfte erwachsen die indivi-
duellen Freiheiten“ (ebd., S. 93).
Erneut zieht er die Berufsgruppen allen anderen vor, um diese Funktion auszu-
üben. Gegen territoriale Gruppen wendet er ein, dass ihre partikulare Moral an-
gesichts der wachsenden Mobilität und der zentralen Stellung des Berufes nicht
mehr die Kraft hat, das Individuum an lokale Belange zu binden (ebd., S. 147).
Territoriale Verbundenheiten sind der partikularen Moral der Berufe unterlegen.
Die Berufsgruppen erweisen sich für Durkheim in zweifacher Weise als nützlich:
Sie verhindern die Vereinnahmung des Individuums durch den Staat und sie be-
wahren den Staat davor, dass ihn die politische Gesellschaft vereinnahmt (ebd.,
S. 139).
Alles in allem: Mit den reformpolitischen Einlassung bleibt Durkheim sei-
ner Methodologie treu. Er empfiehlt erstens, die Bildung von Berufsgruppen zu
unterstützen und er spricht sich zweitens dafür aus, dass der Staat für regelmäßi-
ge Ehrerweisungen gegenüber dem Individuum sorgt, das in der modernen Ge-
sellschaft zum Gegenstand der Präferenz aufgestiegen ist. Die beiden Vorschläge
üben keinen Einfluss auf seine Studien aus, da er sie erst auf der Grundlage von
Untersuchungsergebnissen entwickelt. Indem er Wissenschaft abseits der Politik
betreibt und sich für letztere an jener bedient, schützt er seine Untersuchungen
davor, durch politische Willensrichtungen verzerrt zu werden. Insofern er die in
seinem Denken dominierenden Missstände der modernen Gesellschaft aus empi-
rischen Ergebnissen über die schwachen oder starken Ursachen der Solidarität
abliest, ist es ferner schwer, ihm den Vorwurf zu machen, dass seine Krisendiag-
nose kulturpessimistisch gefärbt ist. Der Selbstmord hilft ihm dabei besonders,
eine empirisch hergeleitete Krisendiagnose vorzulegen. Was nämlich die empi-
risch häufigen Selbstmordtypen veranlasst, und das sind der egoistische und der
anomische Freitod, das zieht auch andere desintegrative Folgen nach sich.
Sogar seine Reformvorschläge kommen ohne Drang aus. Weder die Stär-
kung der moralischen Milieus im Allgemein und speziell in der Wirtschaft noch
der Kult des Individuums, den Durkheim zu pflegen auffordert, entspringen sei-
nen persönlichen Sympathien. Vielmehr handelt es sich um Schlussfolgerungen
auf der Grundlage seiner Studien. Das moralische Milieu der Berufsgruppe soll
die festgestellte Orientierungs- und Regellosigkeit auffangen und der favorisierte
Kult des Individuums ist ein zweckmäßig erfolgreicher Nexus gegen den morali-
schen Polymorphismus, der wiederum angesichts der zunehmend erforderlichen
Individualität eine unvermeidliche Folge ist. Jedoch wird die Verehrung des In-
dividuums nicht nur durch diesen in der Arbeitsteilung aufgedeckten Bedarf an
Individualität möglich, sondern auch durch die immer mehr ins Abseits gerate-
nen Kollektivvorstellungen, welche die unnachsichtige Aufopferung für einzelne
Kollektive vorsehen, erringt das Individuum seine zentrale Stellung. Er beruft
sich daher auf die Sakralität des Individuums, weil sonst nichts anderes übrig
3.6 Krise und Individuum (Physik der Sitten und des Rechts) 281
bleibt, was allen Individuen gemeinsam ist und weil den Pflichten zum Schutz
der Ehre von Kollektiven die Souveränität abgeht. Die Krisendiagnose auf der
einen Seite und seine Empfehlungen auf der anderen Seite entspringen also nicht
Durkheims Meinung. Die Stellungnahme stellt hingegen eine konsequente Fort-
setzung der wissenschaftlichen Ergebnisse für die Praxis dar.
Durkheim kann schließlich die partikulare Berufsmoral und zugleich die
universelle Moral des Individuums unterstützen, ohne sich in einen Widerspruch
zu verstricken. Obwohl letztere die Schwächung der partikularen Moralen zur
Voraussetzung hat, ist die Sakralität des Individuums von diesen abhängig. Be-
rufsmoral und staatsbürgerliche Moral üben Einfluss aufeinander aus, so dass die
Kraft beider nur in Maßen wirkt. Indem der Staat die partikularen Moralen mä-
ßigt, schafft er eine Voraussetzung für das Individuum überhaupt. Er verhindert,
dass die zugemutete Bewahrung der jeweiligen kollektiven Eigenheiten die Indi-
vidualität unterbindet. Nichtsdestoweniger halten die Kollektive die partikulare
Moral des Staates in Schranken, die schließlich in der Lage ist, ihren Drang rati-
onal auszuüben. Schließlich lässt sich Durkheims zweiter Widerspruch auflösen.
Seine Folgerung, der zufolge der Staat sich um den Kult des Individuums sorgen
muss, ermöglicht, die staatbürgerliche Moral, die er ebenfalls zu den partikularen
Moralen zählt, mit der universellen Moral des Individuums zu vereinbaren. Inso-
fern die Aufgabe des Staates, für moralische Einheit in der politischen Gesell-
schaft zu sorgen, allgemein ist, denn er kann seinerseits nicht auf sie verzichten,
wird aus der staatsbürgerlichen Moral, die auf dem Kult des Individuums beruht,
eine universelle Moral. Anders als die sonstigen moralischen Einheiten bietet der
Kult des Individuums dem Individuum weit mehr als den gewöhnlichen Schutz,
denn in diesem Fall muss sich der Gläubige notfalls nicht für die Solidarität op-
fern, denn das wäre ein Sakrileg. Darüber hinaus kann das Individuum die Grün-
de dafür, dass das Individuum an sich als erstrebenwert gilt, zum Gegenstand der
eigenen Reflexion machen, da dieser Kult nicht wie andere die Reflexion seiner
Sinnhaftigkeit untersagt. Denn schließlich ist er „[…] eine Religion, in der der
Mensch zugleich Gläubiger und Gott ist“ (Durkheim 1986b, S. 57).
4 Nation, Individuum und moralischer
Polymorphismus
Durkheims Studien werden nun im Hinblick auf die moralische Wirksamkeit der
Nation in modernen Gesellschaften untersucht. Vorab werden als erstes die bis-
herigen Arbeitsschritte rekapituliert und als zweites wird die folgende Auseinan-
dersetzung skizziert.
Zur Erinnerung: Weber tut sich schwer damit, die Definition der Nation auf
einem oder mehreren Gemeinsamkeitsmerkmalen abzustellen, zu denen er u.a.
Sprache, Konfession, Rasse und die alltägliche Lebensführung zählt. Was empi-
risch für eine Nation das exklusive und besondere Gemeinsamkeitsmerkmal ist,
kann eine andere Nation ihrerseits aufweisen, nur dass beide nicht eine einzige
Nation bilden. Allenfalls teilen verschiedene Nationen somit ein und dasselbe
Gemeinsamkeitsmerkmal. Das wiederum können deren Angehörigen, die in ei-
nem anderen Land zwar als Minderheit leben, folgerichtig auch besitzen, jedoch
teilen sie mit dessen Nation ein Gemeinsamkeitsmerkmal anderer Art, so dass sie
sich letzterer zurechnen. Webers bevorzugtes Beispiel hierfür sind diejenigen
Deutsch-Elsässer, welche die politische Erinnerung, also das für die französische
Nation als ausschlaggebend geltende Gemeinsamkeitsmerkmal teilen. Indes gibt
es ethnische Gruppen, deren favorisiertes Gemeinsamkeitsmerkmal das ist, was
eine Nation auch für sich beansprucht, nur dass jene für sich nicht verlangen, sie
deswegen als Nationen einzustufen. Dann nennt er unbestritten etablierte Natio-
nen, denen dieser Status einst von Pionieren der Ethnographie als indiskutabel
erschien. Sein Beispiel hierfür ist China. Schließlich berücksichtigt er das vor-
zugsweise gesetzte Gemeinsamkeitsmerkmal von Nationen, nämlich die Spra-
che, die er aber ebenfalls nicht als Definitionsmerkmal akzeptiert, weil es nicht
selten vorkommt, dass eine Sprache von vielen verschiedenen Nationen gespro-
chen wird oder weil ihre Exklusivität modernen Ursprungs ist, ohne dass aber
die sprachliche Heterogenität innerhalb einer Nation nivelliert ist. Sprache erach-
tet er somit als unzulänglich für die Definition der Nation, da sie in der Realität
nur als fragwürdiges Gemeinsamkeitsmerkmal vorkommt, wozu er auch Kultur-
güter der Kunst zählt, deren Verstehen durchaus überfordern kann und Angehö-
rige einer Nation eher zu etischen Beobachtern macht. Weber ausdrücklich dazu:
„Es gibt keinen soziologisch eindeutigen genetischen Begriff von Nation und
Nationalität, der an den Begriff Kultur anknüpft“ (Weber 1913, S. 72; Herv. im
Orig.). Insgesamt insistiert er, dass sich kein Gemeinsamkeitsmerkmal ausfindig
machen lässt, das davon ausgeschlossen ist, als dasjenige in Anspruch genom-
men zu werden, was eine Nation als das ihr Eigentümliche erachtet. Die Hetero-
genität und Inkonsistenz der wirklichen Nationen schließt daher aus, auf die De-
finition der Nation anhand von Gemeinsamkeitsmerkmalen zu schließen. Wenn
ein Gemeinsamkeitsmerkmal deshalb für die Definition der Nation nicht aus-
reicht, weil es andernorts empirisch zu besonderen Gruppen gehört, die von sich
aus nicht die Nation hervortreiben, somit eine solche zu sein, überhaupt nicht
beanspruchen, oder stattdessen auf ein anderes Gemeinsamkeitsmerkmal zu-
rückgreifen, dann ist die Schlussfolgerung ausgeschlossen, dass für Nation das
Gemeinsamkeitsmerkmal unmittelbar wesentlich ist. Zu den Zwecken des ersten
Kapitels gehörte zunächst, Webers Einwände gegen solche Definitionen der Na-
tion plausibel zu machen, für die besondere Gemeinsamkeitsmerkmale elementar
sind. Man kann der Nation nicht anhand empirisch gemeinsamer Qualitäten –
wie beispielsweise Sprache, Rasse, Kultur oder Sitte – ihrer Angehörigen auf die
Spur kommen.
Webers Widerlegung lässt sich für einen weiteren Zweck des ersten Kapi-
tels aufgreifen, und das sind seine Angaben zur Erforschung der Nation. Er be-
merkt, dass die ethnische Gruppe nicht mit der Nation zusammenfällt. Daher
braucht es ein Wesensmerkmal, das sie von jener abhebt. Die Gemeinsamkeits-
merkmale, die für eine Vergemeinschaftung bedeutsam sind, können nicht das
besondere Merkmal der Nation sein, denn im Gegensatz zur ethnischen Gruppe,
welche die in üblichen und von Weber abgelehnten Definitionen der Nation ins
Gewicht fallende Gemeinsamkeitsmerkmale aufweist, ist ihr die Nation um et-
was voraus, das ihr wesentliches Merkmal ausmacht, und das ist der Staat. In
Webers Manuskript Gemeinschafen laufen die Aufzeichnungen zu ethnischen
Gemeinschaften auf die Schwierigkeit hinaus, die mit den partiell für die Verge-
meinschaftung der ethnischen Gruppe schuldigen Qualitäten verbunden sind. Für
ethnische Gruppen wirken sich Gemeinsamkeitsmerkmale aus, die sich unter-
schiedlichen Kategorien unterordnen lassen und deren Kraft zur Mobilisierung
von Opposition und Vergemeinschaftung sich in jeweils unterschiedlichen Grö-
ßen bemessen lässt. Daher folgert er, dass eine Sortierung der betreffenden Zu-
sammenhänge die ethnische Gemeinschaft obsolet werden ließe. Das ist im Falle
der Nation nicht anders:
„Der bei exakter Begriffsbildung sich verflüchtigende Begriff der `ethnischen´ Ge-
meinschaft entspricht nun in dieser Hinsicht bis zu einem gewissen Grade einem der
mit pathetischen Empfindungen für uns am meisten beschwerten Begriffe: demjeni-
gen der `Nation´, sobald wir ihn soziologisch zu fassen suchen“ (Weber 2009, S.
50).
4.1 Weber, Ziegler und Durkheim 285
Will man Nation erforschen, so steht man vor ähnlichen Problemen, da sich, so
Weber, für die jeweiligen Gemeinsamkeitsmerkmale nicht nur innerhalb der Na-
tion, sondern auch im Vergleich zwischen Nationen mit jeweils einer Kategorie
entstammenden Gemeinsamkeitsmerkmalen unterschiedliche Auswirkungen
beobachten lassen (ebd., S. 76). Viel wichtiger ist aber etwas anderes: Nation
und ethnische Gruppe lassen sich auf der Grundlage von Gemeinsamkeitsmerk-
malen ohne Weiteres nebeneinander stellen. Damit aber auf Seiten der Ersteren
das für sie Ausschlaggebende übrig bleibt, muss man den erfolgreichen oder
ersehnten Anspruch auf einen Staat veranschlagen. Stellt man beispielsweise die
Nation auf die Sprache ab, so kann sie keinen Kontrast bilden, denn:
„Was sie [die Nation; C.A.] gegenüber der bloßen Sprachgemeinschaft inhaltlich
mehr besitzt, kann dann natürlich in dem spezifischen Erfolg, auf den ihr Gemein-
schaftshandeln ausgerichtet ist, gesucht werden, und dies kann dann nur der geson-
derte politische Verband sein“ (ebd., S. 50; Herv. im Orig.).
Die Zwecke des ersten Kapitels lassen sich nun um einen weiteren ergänzen:
Weber stößt auf die Nation, indem er einen bestimmt gearteten Ablauf sozialen
Handelns ausfindig macht. Soziales Handeln, das an gefühlter Zusammengehö-
rigkeit auf der Grundlage von gleich welchen Gemeinsamkeitsmerkmalen orien-
tiert ist, kennzeichnet die Nation, wenn sie auf den eigenen Staat gerichtet ist.
Mit dem ersten Kapitel sollte ermittelt werden, dass der Vergemeinschaftung der
Nation der Staat und nicht die gemeinsamen Qualitäten wesentlich ist, wobei die
Ausrichtung auf den eigenen Staat keine unmittelbare Folge der gemeinsamen
Qualitäten ist, denn das lässt u.a. die Heterogenität der nationalen Gemeinsam-
keitsmerkmale nicht zu. Weber bemerkt:
„Es ließe sich ein Begriff von Nation wohl nur so definieren: Sie ist eine gefühlsmä-
ßige Gemeinschaft, deren adäquater Ausdruck ein eigener Staat wäre, die also nor-
malerweise die Tendenz hat, einen solchen aus sich hervor zu treiben. Die kausalen
Komponenten aber, die zur Entstehung eines Nationalgefühls in diesem Sinne füh-
ren, können grundverschieden sein“ (Weber 1913, S. 50).
Daran lässt sich etwas anderes anschließen, das für das erste Kapitel bedeutsam
ist. Weber legt zugrunde, dass jeder politische Verband die Anmaßung disponi-
bel macht, sich dessen Machtprestige anzurechnen, was wiederum Auswirkun-
gen auf das Handeln derjenigen hat, die sich dergestalt gleichsetzen: Sie verwen-
den sich für den Herrschaftsverband. Das Machtprestige ist auch im Falle der
Nation gegeben. Auf die Initiative der Intellektuellen führt Weber es zurück,
dass sich das prätendierte Machtprestige nunmehr in die Nation abändert (vgl.
Weber 2009, S. 74). Intellektuelle propagieren, schreibt er, besondere Kulturgü-
ter als nationale Gemeinsamkeitsmerkmale, die mit Machtprestige ausgestattet
sind und ihrerseits die Hingabe ihnen gegenüber durch das Sich-Gleichsetzen
bewirken können. Im Falle dieser Personengruppe sieht er die Anmaßung her-
286 4 Nation, Individuum und moralischer Polymorphismus