J* M* Bochehski
Wege zum
philosophischen
Denken
nführung
n die Grundbegriffe
Nachschlagewerke
Herders Sprachbuch
Ein neuer Weg zu gutem Deutsch
60000 Wörter und 36 neue Rahmenartikel
über den richtigen Sprachgebrauch
Band 470, 832 Seiten, 2. Aufl.
Helmut Schoeck
Soziologisches Wörterbuch
Band 312, 400 Seiten, 10. Aufl.
in der Herderbücherei
Dr. med. Klaus Thomas
Konzentration
für geistige Arbeit
und Lebensgestaltung
R ü c k k e h r z u m We s e n t l i c h e n
Hinkehr zur Mitte
„Mir fehlt die Konzentration." Das ist eine Klage, die man
oft hören kann. Sie verweist auf ein Grundübel unserer
modernen Welt, das Ursache ist für viele Fehlentwicklungen
und Erkrankungen. Mit ein paar Konzentrationsübungen
allein ist dem nicht beizukommen. Notwendig ist die Ein
sicht, daß Konzentration eine Grundkraft ist, die wir auf allen
Gebieten des Lebens zurückgewinnen müssen - und können.
Anhand vieler Beispiele aus den Gebieten der Psychologie,
Pädagogik, Philosophie, Medizin und Religion zeigt der
Autor, wie die Rückkehr zum Wesentlichen die Voraus
setzung dafür schafft, daß wir selbst der Überforderung des
Tages erfolgreich begegnen und anderen in kritischen Situa
tionen helfen können, sich selbst nicht zu verlieren.
in der Herderbücherei
Herderbücherei
Band 62
Was ist eigentlich Philosophie? Wem mag sich diese
Wege zum
Philosophischen Denken
Herderbücherei
Veröffentlicht als Herder-Taschenbuch
8
I N H A L T
Vorwort . . . 7
Das Gesetz . . . 11
Die Philosophie . . . 23
Die Erkenntnis . . . 35
D i e Wa h r h e i t . . . 46
Das Denken . . . 58
Der Wert . . . 69
Der Mensch . . . 81
Das Sein . . . 92
Das Absolute . . . 11 4
DAS GESETZ
I I
scheint mir sogar, daß die Zahl solcher sozusagen auto
matischer Menschen, die alles gebrauchen und nichts ver
stehen, immer größer wird. Eine geradezu erschreckende
Tatsache ist es, daß von den meisten Radiohörern nur
sehr wenige sich je für die Struktur dieses wahren
Wunders der Technik, des Empfängers, interessiert
haben.
Aber wäre es auch so, daß wir fast alle jedes Inter
esse für die Geräte verloren hätten, so darf man doch
hoffen, daß es mit dem Gesetz anders ist. Denn das Ge
setz ist nicht nur ein Werkzeug. Es greift tief in unser
Leben — es ist die Voraussetzung unserer Kultur; es ist,
wie gesagt, das Element der Klarheit und Vernünftig
k e i t i n u n s e r e r We l t s i c h t .
Und deshalb scheint es mir, dai^ wir uns einmal auch
diese Frage stellen sollen: Was ist ein Gesetz?
Es genügt, diese Frage zu stellen und etwas darüber
nachzudenken, um einzusehen, daß das Gesetz etwas
sehr Merkwürdiges und Befremdliches ist. Dies kann
vielleicht am besten in folgender Weise gezeigt werden.
Die Welt, die uns umgibt, besteht aus vielen und sehr
verschiedenen Dingen, aber alle diese Dinge — Seiende,
sagen die Philosophen — besitzen gewisse gemeinsame
Eigenschaften. Unter „Ding" oder „Seiendes" verstehe
ich hier überhaupt alles, was in der Welt anzutreffen
ist — etwa Menschen, Tiere, Berge, Steine undsoweiter.
Die gemeinsamen Eigenschaften dieser Dinge sind,
unter anderen, die folgenden:
Zuerst sind die Dinge alle an irgendeinem Ort — ich
bin zum Beispiel in Fribourg und sitze jetzt an meinem
Arbeitstisch. Dann sind sie während einer bestimmten
Zeit — es ist etwa heute Montag 12 Uhr für mich.
Drittens kennen wir kein einziges Ding, das nicht an
1 9
irgendeinem Zeitpunkt entstanden wäre, und soweit wir
es wissen, sind alle Dinge vergänglich. Es kommt eine
Zeit, wo sie verschwinden. Viertens unterliegen sie alle
dem Wechsel: einmal ist der Mensch gesund, ein an
deres Mal krank — einmal ist der Baum klein, dann
wird er groß undsoweiter. Fünftens ist jedes dieser
Dinge einzeln, individuell. Ich bin ich und kein anderer,
dieser Berg ist genau dieser Berg und kein anderer
Berg. Alles, was in der Welt ist, ist individuell, einzeln.
Endlich, und das ist sehr wichtig, sind alle uns be
kannten Dinge in der Welt so geartet, daß sie auch
anders sein und auch nicht existieren könnten. Freilich
meinen einige Menschen, sie seien notwendig, dies ist
aber ein Irrtum. Sie könnten auch nicht sein, und wahr
scheinlich ohne großen Schaden für das Ganze.
Das sind also die Kennzeichen jedes Dinges in der
Welt: jedes ist in einem gewissen Raum, in einer Zeit; o
jedes entsteht, vergeht, ändert sich, ist ein Individuum
und ist nicht notwendig. So ist die Welt, oder so wenig
stens scheint sie zu sein.
Nun aber erscheint in dieser gemütlichen, raumzeit
lichen, vergänglichen und aus lauter individuellen
Dingen bestehenden Welt das Gesetz.
Das Gesetz aber hat keine der oben genannten Eigen
schallen der Dinge — keine einzige.
Denn erstens hat es überhaupt keinen Sinn, zu sagen,
daß ein mathematisches Gesetz an irgendeinem Ort sei;
wenn es besteht, dann besteht es überall zugleich. Frei
lich mache ich mir von diesem Gesetz ein Bild in meinem
Kopf, aber das ist nur ein Bild. Das Gesetz ist nicht
mit dem Bild identisch, sondern es ist draußen. Und
dieses Etwas ist über jeden Raum erhaben.
Zweitens auch über die Zeit. Es hat keinen Sinn, zu
1
sagen, daß ein Gesetz gestern entstanden ist oder daß
es zugrunde gegangen ist. Es wurde wohl an einem ge
wissen Zeitpunkt erkannt, vielleicht wird man an einem
anderen Zeitpunkt einsehen, daß es falsch — daß es
kein Gesetz war; aber das Gesetz selbst ist ja zeitlos.
Drittens unterliegt es keiner Änderung und kann
auch keiner unterliegen. Daß zwei und zwei vier sind,
bleibt so in Ewigkeit ohne jede Änderung — es wäre
widersinnig, eine solche Änderung sich an ihm zu
denken.
l a
würdig. Die Welt, unsere Welt, mit welcher wir täglich
zu tun haben, sieht ganz anders aus als diese Gesetze.
Sie ist schön bunt und enthält verschiedene, sozusagen,
Gattungen von Gegenständen; alles, was sie enthält,
hat jedoch den uns vertrauten Charakter des Räum
lichen, Zeitlichen, Vergänglichen und Individuellen und
Nicht-notwendigen. Was wollen in dieser Welt diese
unräumlichen, überzeitlichen, allgemeinen, ewigen und
notwendigen Gesetze? Sehen sie da nicht aus wie Ge
spenster? Wäre es nicht viel einfacher, wenn man sie in
irgendeiner Weise wegerklären, aus der Welt schaffen
könnte, so daß es sich am Ende zeigen würde, sie seien
im Grunde gar nicht anders als die gewöhnlichen Dinge
der Welt? Das ist der erste Gedanke, welcher auftaucht,
wenn man sich einmal darüber Klarheit verschafft
15
durch sozusagen dinglich wäre, daß man in ihr über
haupt keine Gesetze hnden würde; diese wären nur
Fiktionen unseres Denkens. Ein Gesetz würde in diesem
Fall nur im Gedanken des Wissenschaftlers — zum Bei
16
Zuerst kann jeder sehen, daß wenigstens eine Tat
sache dadurch nicht erklärt ist. Ich meine nämlich die
17
ein zweites. Wenn man die Gesetze in das Denken ver
setzt, hat man sie dadurch noch gar nicht erledigt. Sie
bestehen nicht mehr in der äußeren Welt, gelten aber in
unserer Seele weiter. Nun ist aber die menschliche Seele,
das menschliche Denken und überhaupt alles, was
menschlich ist, auch ein Teil der Welt und hat alle
Kennzeichen des Weltlich-Dinglichen.
Wir berühren hier zum erstenmal das merkwürdige
Geschöpf, das wir selbst sind: den Menschen. Es ist nicht
der Ort, schon hier über ihn zu meditieren. Eines soll
jedoch gesagt werden — und ich möchte es mit der gan
zen Schärfe, deren ich fähig bin, sagen, denn ganze
Berge von Vorurteilen stehen in dieser Beziehung auf
dem Wege zum richtigen Verständnis unseres Problems.
Was ich sagen möchte, ist nämlich dieses: Wir finden
I im Menschen vieles Einmalige, was in der übrigen
: Natur nicht zu finden ist. Dieses Einzigartige, Ein-
j malige, von dem Rest der Natur Verschiedene heißt
! meistens das „Geistige" oder der „Geist". Der Geist
ist nun ganz sicher ein interessantes, packendes Phäno-
I men des Philosophierens. Aber sosehr der Geist von
allem anderen in der Welt verschieden ist, bleibt er
i doch — und damit alles was in ihm steckt — ein Teil
i der Welt, der Natur, wenigstens in dem einen Sinne,
: daß er, genau wie alles übrige, wie dieser Stein, wie
der Baum vor meinem Fenster, wie meine Schreib
maschine zeitlich, räumlich, veränderlich, nicht-notwen
dig und individuell ist. Ein überzeitlicher Geist ist ja
' Unsinn. Es mag sein, daß er ewig dauern wird, aber in
wieweit wir ihn kennen, dauert gerade, das heißt, er ist
ein zeitliches Ding. Es ist schon wahr, daß er weite
Strecken des Raumes überblicken kann, aber alle Gei
ster, die wir kennen, sind an einen Leib gebunden und
d a m i t r ä u m l i c h . Vo r a l l e m h a t d e r G e i s t n i c h t s N o t w e n
19
wenn man dies so nennen will — neben den Dingen,
dem Realen, noch etwas anderes, nämlich eben die Ge
setze; ihre Art und Weise, zu sein, nennt man das
Ideale. Man sagt, daß die Gesetze zu den ideal Seien
den gehören. Anders gesagt, gibt es zwei Grundarten
des Seienden — das Reale und das Ideale.
Es wird nicht ohne Interesse sein, festzustellen, daß
die genannten zwei Deutungen des Gesetzes — die po
sitivistische und die, sagen wir, idealistische im weite
sten Sinne des Wortes, sehr wenig mit dem Streit der
großen Weltanschauungen zu tun haben. So ist zum
Beispiel der Christ kraft seines Glaubens gar nicht an
diese Art des Idealismus gebunden; er glaubt, daß es
einen Gott und eine unsterbliche Seele gibt, sein Glaube
verpflichtet ihn aber gar nicht, an das Ideale zu glau
ben. Auf der andern Seite behaupten zwar die Kommu
nisten, alles sei materiell — sie wollen sagen ding
lich —, nehmen aber gleichzeitig an, daß es ewige, not
wendige Gesetze, und zwar nicht nur im Denken, son
dern auch in der Welt selbst gibt. Sie sind also in ge
wissem Sinne viel mehr idealistisch als die Christen.
Der Streit ist kein weltanschaulicher Streit; er gehört
ganz in die Philosophie.
Zu unserem Problem zurückkehrend, ist noch zu sa
gen, daß jene, die das Anders-Sein des Gesetzes, also
das ideale Sein anerkennen, sich in verschiedene Schu
len teilen, je nach der Auffassung dieses Idealen. Das
wird verständlich, wenn man sich die Frage stellt, was
unter der Existenz des Idealen zu verstehen sei, wie
man es sich denken soll. Darauf gibt es nämlich, im gro
ßen und ganzen, drei wichtigste Antworten.
Die eine lautet: Das Ideale besteht unabhängig vom
Realen, sozusagen an sich; es bildet eine besondere
9 0
Welt vor und über der dinglichen Welt. In dieser ,
idealen Welt gibt es selbstverständlich keinen Raum
und keine Zeit, keine Änderung und keine bloße Fak- j
tizität — alles ist ewig, rein, unveränderlich und not- |
wendig. Diese Auffassung wird oft dem Schöpfer un-
serer europäischen Philosophie, Plato, zugeschrieben. F.r
hat als erster das Problem des Gesetzes aufgestellt und
scheint es in dem besagten Sinne gelöst zu haben.
Die andere Lösung sagt: Das Ideale besteht schon, ;
aber nicht getrennt vom Realen — es existiert nur im
Realen. Genauer gesehen, gibt es in der Welt nur ge
wisse Strukturen, einen gewissen sich wiederholenden
Aufbau der Dinge — man nennt sie Wesen —, die so
geartet sind, daß der menschliche Geist in ihnen die
Gesetze ablesen kann. Formulierte Gesetze kommen
nur in unserem Denken vor — aber sie besitzen eine
Endlich gibt es noch eine dritte Lösung, die ich schon '
berührt habe in der Auseinandersetzung mit dem Po- ;
sitivismus: sie leugnet nicht, daß Gesetze ideal sind, j
meint aber, daß das Ideale nur im Denken vorkommt.
Daß die Gesetze für die Welt gelten, kommt davon, daß j
die Struktur der Dinge durch eine Projektion der Ge
dankengesetze entsteht. Dies ist, skizzenhaft referiert,
die Lehre des großen deutschen Philosophen Immanuel
Kant.
21
über sie bestand und noch immer besteht. Vor drei Jah
ren konnte ich in der bekannten amerikanischen Uni
versität Notre Dame, nahe Chicago, einer Diskussion
beiwohnen, an welcher mehr als hundertfünfzig Philo
sophen und Logiker teilnahmen. Alle drei Redner wa
ren inathematische Logiker, und alles, was gesagt
wurde, nahm eine mathematisch-logische hoch wissen
schaftliche Form an. Die Diskussion dauerte zwei Tage
und drei Nächte fast ohne Unterbrechung. Und es han
delte sich genau um unser Problem. Professor Alonzo
Church, von der Universität Princeton, einer der be
deutendsten mathematischen Logiker der Welt, vertrat
die platonische Lehre — im wesentlichen genauso, wie
sie der Altmeister einmal auf der Agora in Athen ver
teidigt hatte. Und ich muß gestehen: mit viel Erfolg. Es
ist ein ewiges Problem der Philosophie — vielleicht nur
für uns Moderne, die so viel Gesetze kennen und für
die sie so wichtig geworden sind, viel brennender als
für irgendeine andere Epoche.
DIE PHILOSOPHIE
23
Es gibt nun zuerst eine Ansicht, nach welcher die
Philosophie ein Sammelbegriff für alles wäre, was noch
nicht wissenschaftlich behandelt werden kann. Dies ist
zum Beispiel die Ansicht von Lord Bertrand Russell
und von vielen positivistischen Philosophen. Sie machen
uns darauf aufmerksam, daß bei Aristoteles Philoso
phie und Wissenschaft dasselbe bedeuteten und daß
später die einzelnen Wissenschaften sich aus der Philo
sophie losgelöst haben: zuerst die Medizin, dann die
Physik, später die Psychologie, zuletzt sogar die For
male Logik selbst, welche, wie bekannt, heute meistens
an den mathematischen Fakultäten gelehrt wird. Oder,
anders ausgedrückt, es gebe überhaupt keine Philoso
phie in dem Sinne, wie es zum Beispiel eine Mathe
matik gibt, mit ihrem besonderen Gegenstand. Einen
solchen Gegenstand der Philosophie gebe es nicht. Man
bezeichne damit lediglich gewisse Versuche, verschie
denartige, noch unreife Probleme zu klären.
Dies ist ganz gewiss ein interessanter Standpunkt,
und die angeführten Argumente sehen zuerst über
zeugend aus. Sieht man sich aber die Sache etwas näher
an, dann erheben sich ganz große Zweifel. Denn, er
stens, wäre es so, wie jene Philosophen sagen, dann
sollten wir heute weniger Philosophie haben als etwa
vor tausend Jahren. Das ist aber sicher nicht der Fall.
Philosophie gibt es heute nicht weniger, sondern eher
mehr als je. Und ich meine nicht nur der Zahl der Den
ker nach — es werden deren heute etwa zehntausend
sein —, sondern auch der Zahl der behandelten Pro
bleme nach. Vergleicht man die Philosophie der alten
Griechen mit der unseren, so sieht man, daß wir uns im
zwanzigsten Jahrhundert nach Christus bedeutend mehr
FVagen stellen als die Griechen gekannt haben.
24
Zweitens ist es schon wahr, daß verschiedene Diszi
25
Probleme. Sie hat sicher hie und da auch diese Funk-
^tionDie
ausgeübt , aber sie ist noch etwas mehr als das.
zweite Meinung behauptet dagegen, daß die Phi
losophie nie verschwinden wird, auch wenn sich alle
möglichen Wissenschaften von ihr loslösen — denn sie
ist nach dieser Meinung keine Wissenschaft. Sie er
forscht, wie man sagt, das Überrationale — das Un
begreifbare, das über dem Verstand oder wenigstens an
seiner Grenze Liegende. Sie hat also mit der Wissen
schaft, mit dem Verstand nur wenig Gemeinsames. Ihr
Gebiet liegt außerhalb des Rationalen. Philosophieren
heißt demnach nicht mit der Vernunft nachforschen,
sondern auf irgendeine andere Weise, mehr oder weni
ger „unvernünftig". Das ist eine heute weit verbreitete
Meinung, besonders auf dem europäischen Kontinent —
und sie wird unter anderen durch gewisse sogenannte
Existenzphilosophen vertreten. Ein ganz extremer Ver
treter dieser Richtung ist sicher Professor Jean Wahl,
der führende Pariser Philosoph, für welchen es im
Grunde keinen wesentlichen Unterschied zwischen Phi
26
— und das sind meistens philosophische Fragen — der
Mensch sich aller seiner Kräfte bedienen muß, also auch
des Gemütes, des Willens, der Phantasie — wie ein
Dichter. Zweitens, daß die Grundgegebenheiten der
Philosophie dem Verstand gar nicht zugänglich sind —
man soll sie also mit anderen Mitteln zu erfassen ver
28
die Physik, die Welt des Lebens durch die Biologie,
jene des Bewußtseins durch die Psychologie, die Gesell
schaft durch die Soziologie erforscht. Was bleibt für
Philosophie als Wissenschaft? Was ist ihr Gebiet?
Darauf erhalten wir seitens verschiedener philoso
phischer Schulen sehr verschiedene Antworten. Ich
werde einige der wichtigsten unter ihnen aufzählen.
Erste Antwort: Erkenntnislehre. Andere Wissen
schaften erkennen; die Philosophie erforscht die Mög
lichkeit des Erkennens selbst — die Voraussetzungen
und die Grenzen der möglichen Erkenntnis. So Im
manuel Kant und viele unter seinen Nachfolgern.
Zweite Antwort: die Werte. Jede andere Wissen
schaft untersucht das, was ist; die Philosophie erforscht
dagegen, was sein soll. Diese Antwort haben zum Bei
spiel die Anhänger der sogenannten Süddeutschen
Schule und zahlreiche zeitgenössische französische Phi
losophen gegeben.
D r i t t e A n t w o r t : d e r M e n s c h — u n d z w a r a l s Vo r a u s
9 0
steins und der meisten logischen Positivisten der Gegen
wart.
U
det. Durch ihre Methode — weil der Philosoph sich den
Gebrauch keiner unter den vielen Methoden der Er
kenntnis verbietet. Er ist zum Beispiel nicht wie ein
Physiker verpflichtet, alles auf die sinnlich beobacht
baren Phänomene zurückzuführen, das heißt, sich auf
die empirisch-reduktive Methode zu beschränken; er
kann auch die Einsicht in das Gegebene gebrauchen und
a n d e r e s m e h r.
Anderseits unterscheidet sich die Philosophie von den
anderen Wissenschaften durch ihren Gesichtspunkt.
Wenn sie nämlich einen Gegenstand in Betracht zieht,
sieht sie ihn immer und ausschließlich sozusagen vom
Standpunkt der Grenze, der grundlegenden Aspekte.
In dem Sinne ist die Philosophie eine Grundlagen
wissenschaft. Dort, wo andere Wissenschaften stehen
bleiben, wo sie, ohne weiter zu fragen, Voraussetzungen
annehmen, fängt der Philosoph erst an zu fragen. Die
Wissenschaften erkennen — er fragt, was ist das Er
kennen; die andern stellen Gesetze auf — er stellt sich
die Frage, was ein Gesetz sei. Der Alltagsmensch und
der Politiker sprechen vom Sinn und von der Zweck
mäßigkeit — der Philosoph aber fragt, was man unter
Sinn und Zweck eigentlich verstehen soll. Somit ist auch
die Philosophie eine radikale Wissenschaft — in dem
Sinne, daß sie auf die Wurzeln geht, und tiefer als
irgendeine andere; daß sie dort, wo die andern zufrie
den sind, weiterfragt und weiterforschen will.
Wo die eigentliche Grenze zwischen einer Spezial-
wissenschaft und der Philosophie liegt, ist oft nicht
l'eicht zu sagen. So ist zum Beispiel die im Laufe unseres
Jahrhunderts sich so schön entwickelnde Grundlagen
forschung in der Mathematik ganz sicher eine philo
sophische Forschung, aber gleichzeitig ist sie mit den
82
mathematischen Untersuchungen eng verbunden. Es
gibt jedoch einige Gebiete, in welchen die Grenze klar
ist. Dies ist einerseits die Ontologie, die Disziplin, wel
che nicht von diesem oder jenem, sondern von den all
gemeinsten Sachen, wie dem Ding, der Existenz, der
kligenschaft und ähnlichem, handelt. Anderseits gehört
h i e r h i n d a s S t u d i u m d e r We r t e a l s s o l c h e r — n i c h t w i e
sie sich in der Entwicklung der Gesellschaft zeigen, son
dern in sich selbst. In diesen beiden Gebieten grenzt die
Philosophie einfach an nichts — es gibt überhaupt keine
Wissenschaft außer ihr, die sich mit diesen Gegenstän
den befaßt oder befassen kann. Und die Ontologie wird
dann in den Forschungen auf anderen Gebieten voraus
gesetzt, womit schon ein Unterschied im Hinblick auf -
andere Wissenschaften, die von der Ontologie nichts
wissen können, zustande kommt.
^So wurde die Philosophie von den meisten großen
Philosophen aller Zeiten gesehen. Eine Wissenschaft,
also keine Dichtung, keine Musik, sondern ein ernstes,
nüchternes Forschen. Eine Universalwissenschaft in dem
a'a
gehen. Ein großer Denker und kein Skeptiker — im
Gegenteil, einer der größten Systematiker der Ge
schichte —, der heilige Thomas von Aquin, hat einmal
gesagt, daß nur wenige Menschen und erst nach langer
Zeit und nicht einmal ohne Zumischung von Irrtümern
die Grundfragen der Philosophie lösen können.
Aber der Mensch ist schon zum Philosophieren be
stimmt, ob er es will oder nicht. Ich darf Ihnen aber
abschließend noch eines sagen. Trotz der ungeheuren
Schwierigkeiten, die es mit sich bringt, ist das Philoso
phieren eine der schönsten und edelsten Sachen, die es
im menschlichen Leben geben kann. Wer auch nur ein
mal mit einem echten Philosophen in Berührung ge
kommen ist, wird sich immer von ihr angezogen fühlen.
DIE ERKENNTNIS
r
35
des Lebens, jeder Unterschied zwischen Echtem und
Falschem, zwischen Richtigem und Schiefem, zwischen
Gutem und Bösem zugrunde gehen. Es ist eine ernste
Angelegenheit. Dazu kommt noch, daß es keineswegs
an Gründen fehlt, die für Gorgias und gegen unsere
gewöhnliche Sicherheit, daß es Dinge und erkennbare
Dinge in der Welt gibt, sprechen. Es wird schon besser
sein, sich einmal die Frage um diese drei Sätze klar zu
stellen und zu versuchen sie zu beantworten. Ich möchte
Sie also heute zu einer Meditation darüber einladen.
Zweitausend Jahre nach Gorgias hat ein anderer
Philosoph, der Franzose Rene Descartes, eine solche
Meditation für sich durchgeführt. Es wird vielleicht am
besten sein, ihm wenigstens in der Darstellung der
Gründe für den Zweifel zu folgen.
Wir bemerken also, Descartes folgend, daß unsere
Sinne uns nur zu oft getäuscht haben. Ein rechteckiger
Tu r m s i e h t v o n w e i t e m r u n d a u s . M a n c h m a l m e i n e n w i r
etwas zu hören oder zu sehen, was gar nichts ist; einem
Kranken scheinen manchmal auch süße Speisen bitter.
D i e s a l l e s s i n d w o h l b e k a n n t e Ta t s a c h e n . D a z u k o m m t
noch, daß wir Träume haben, und oft ist es so, daß wir
während des Traumes sicher zu sein glauben, daß der
Traum Wirklichkeit sei. Wie können wir nun wissen,
daß wir auch jetzt nicht träumen? In diesem Augen
blick glaube ich, daß dieser Tisch und das Mikrophon
und die hellen Lampen rings herum wirklich sind. Was
aber, wenn es ein Traum wäre?
Dinge gibt
Die meisten Philosophen, die seine Gedankengänge
untersucht haben, sind aber mit dieser Seite seines
Systems nicht einverstanden. Sie sagen, und mir scheint
mit Recht, daß Descartes zwei ganz verschiedene Sachen
verwechselt hat: den Inhalt des Denkens und den Den
kenden selbst. Zwar meinen wir alle, daß, um irgend
ein Denken zu haben, schon ein Denkender dasein
muß — falls man aber alles, auch die mathematischen
Wahrheiten, in Zweifel gezogen hat, wird auch diese
Wahrheit fraglich. Wir haben vom cartesianischen
Standpunkt aus kein Recht, dies zu behaupten. Somit
beweist das Cogito nur eines, daß es nämlich ein Denken
gibt — wobei hier das Wort „gibt" einfach bedeutet,
daß solche oder andere Inhalte vorschweben. Ein
Schluß auf die Existenz, auf das Dasein des Denkenden
ist ganz unberechtigt. Man sollte — so bemerkte bos
haft ein späterer Philosoph — nicht sagen: Ich denke,
also bin ich — sondern: Ich denke, also bin ich nicht.
.^-58
Dinge gibt und daß wir sie erkennen können. Hier steht
aber diese Voraussetzung selbst in Frage. Es handelt
sich bei dem Wege um einen jener Fälle, in welchen
etwas mehr als die speziellen Wissenschaften notwendig
ist — wo man sozusagen unmittelbar die Rolle und die
Wichtigkeit der Philosophie sehen kann.
Wie also sollen wir vorgehen? Eines ist klar: einen
Beweis, in welchem aus etwas schon Erkanntem etwas
anderes erschlossen wird, können wir hier nicht haben.
Denn der Skeptiker, wie Gorgias, bezweifelt alles, also
auch unsere Voraussetzungen. Er würde auch die Regel,
nach welcher wir schließen, in Zweifel ziehen. Diesen
spiel: Ich lege mich ins Bett, und bevor ich einschlafe,
s e h e i c h m e i n e n N a c h t t i s c h m i t d e m We c k e r. A m M o r -
gen steht er weiter da, und der Wecker ist auch nicht
verschwunden, ja, es liegt mehr Staub auf dem Tisch
als am Abend. Dies läßt sich am besten erklären, falls
man annimmt, daß es wirklich einen Nachttisch, einen
Wecker, ein Zimmer und so weiter gibt, und daß ich
diese Dinge erkenne. Oder ich sehe eine Katze, die
links erscheint, dann hinter meinem Rücken verschwin
det und wieder auf der rechten Seite auftaucht. Das
kann man wieder am besten dadurch erklären, daß man
sagt, es gibt eine wirkliche Katze, die hinter meinem
Rücken weitergeht. Natürlich könnte der Skeptiker
sagen, das alles sei Schein, aber geordneter Schein —
jedoch ist es sicher einfacher, eine Wirklichkeit an
zunehmen.
41
einiges unter dem Erkannten den anderen Menschen
mitteilen können. Und solange mir jemand kein besseres
Argument bringen wird als jene, die ich bei Descartes
finde, sehe ich keinen Grund, meine Meinung zu ändern.
Damit ist schon viel gewonnen — jedoch nicht so
viel, wie man zuerst glauben könnte. Denn erstens
haben wir bis jetzt keinen Nachweis, daß es eine Wirk
lichkeit außei- dem Bewußtsein gibt. Das ist eine ganz
andere und viel schwierigere frage, die wir in der
nächsten Meditation behandeln werden. Es könnte
nämlich auch so sein, daß es zwar Dinge gibt und eine
Wirklichkeit, daß diese aber sich ganz innerhalb unseres
Denkens befinden. Wir hätten auch in diesem Falle eine
42
Primat des Ich, andrerseits um die vermeinte Not
wendigkeit in unserer Frage, zu emotionalen Erleb
n i s s e n Z u fl u c h t z u n e h m e n .
Es gibt heute ziemlich viele Denker, die glauben,
meine eigene Existenz sei für mich sicherer als alles
andere — oder sogar das einzige ganz Sichere. Nun
wird niemand — außer den Skeptikern — daran zwei
feln, daf^ er selbst wirklich existiert. Ich kann aber nicht
einsehen, warum dies sicherer sein sollte als die Tat
sache, daß es etwas in der Welt gibt. Mir scheint sogar,
daß der letztgenannte Satz Es gibt etwas eine gewisse
Priorität vor dem Satz Ich bin besitzt. Denn mich selbst
erkenne ich sozusagen erst auf Umwegen. Zuerst bin
ich auf den Gegenstand gerichtet, ich erfasse etwas in
der Welt — vielleicht schlecht, vielleicht oberflächlich,
aber mit größter Gewißheit. Daß es etwas gibt, und
zwar zuerst etwas, was vor mir liegt — ein Nicht-Ich,
wie die Philosophen zu sagen pflegen —, das scheint die
sicherste Wahrheit zu sein.
4.S
Ähnliches hört man manchmal in Gestalt einer popu
lären Widerlegung des Skeptizismus: Schlagen Sie, so
sagt man, den Skeptiker auf den Kopf, dann wird er
schon begreifen, daß es etwas außer ihm gibt, nämlich
ihre Faust. Dies scheint einleuchtend zu sein — wer
würde das Dasein einer Faust, die ihn schlägt, be
zweifeln? Nun bezweifle ich sie gar nicht, sehe aber
kaum, wie sie uns in unserer Frage helfen könnte, und
dasselbe gilt auch vom Erdbeben, von Haß, Liebe und-
soweiter. Denn was erlebe ich, wenn jemand mich auf
den Kopf schlägt? Einerseits fühle ich durch den Tast
sinn die Hand; andererseits erlebe ich den Schmerz, die
Wut undsoweiter. Würde man nun voraussetzen, daß
uns die Sinne immer täuschen — wie es die Skeptiker
tun —, dann würde das erste überhaupt nichts beweisen
für die Existenz dieser Faust. Und der Schmerz oder
die Wut noch viel weniger, da man sehr wohl Schmer
zen oder Wut erleben kann, ohne daß irgend etwas von
draußen auf uns wirkt. Entweder wissen wir also schon
4 4
Jedoch ist die Tatsache, daß es einen Sumpf gibt, daß
es einmal einen Gorgias mit seinen drei Sätzen gegeben
hat, nicht ohne Bedeutung und nicht ohne Nutz für den
nüchtern denkenden Philosophen. Was der Skeptiker da
sagt, ist freilich ungeheuerlich übertrieben und deshalb
einfach falsch. Aber einen wahren Kern enthält seine
45
DIE WAHRHEIT
F l s i s t l e i c h t e i n z u s e h e n , d a ß d i e s e s Z u t r e ff e n s o z u
48
Wir kennen aber auch ernstere Bedenken gegen die
Unbedingtheit der Wahrheit. Im Gegensatz zur land
läufigen Meinung gibt es heute nidbt nur eine, son
dern mehrere Geometrien: neben jener von Euklid,
welche in den Schulen gelehrt wird, bestehen die
Geometrien von Rieman, von Lobatschewskij und noch
andere. Und zwar ist es so, daß gewisse Sätze, die
in einer dieser Geometrien wahr sind, in einer anderen
falsch sind. Fragt man also einen heutigen Geometer,
ob ein gewisser Satz wahr oder falsch sei, so muß er zu
erst fragen: In welchem^Sy^em? Die geometrischen
Sätze sind also in weitem Grad im Hinblick auf das
System relativ.
Schlimmer ist noch, daß dasselbe von der Logik gilt.
Auch in der Logik gibt es verschiedene Systeme, so daß
die Frage, ob ein gewisser logischer Satz wahr ist, ohne
Bezug auf ein bestimmtes System gar nicht beantwortet
werden kann. Zum Beispiel gilt der bekannte Satz vom
ausgeschlossenen Dritten — daß es regnet oder nicht
regnet — wohl in der sogenannten klassischen Logik
von Whitehead und Russell, aber nicht in der Logik
von Professor Hey ting. Die Wahrheit der logischen
Sätze ist also relativ in dem gesagten Sinne.
Man könnte nun meinen, daß es doch einen Weg
geben muß, um zu entscheiden, welches unter allen
diesen Systemen richtig ist, ob es stimmt oder nicht. So
einfach liegen aber die Dinge nicht. Handelt es sich
zum Beispiel um die Geometrie, so sagen die Fachleute,
daß die euklidische sich in unserer kleinen Umwelt gut
bewährt, daß aber im Weltraum eher eine andere auf
die Tatsachen paßt. Es wäre also so, daß ein Satz unter
gewissen Umständen wahr, unter anderen aber falsch
wäre. Dies ist ein gewichtiges Bedenken.
49
Nehmen wir nun an, daß es so weit ist, wie diese
Kenner es sagen, daß es im Gebiet der Mathematik und
der Logik verschiedene Systeme gibt und daß gewisse
Sätze in dem einen wahr, in dem anderen falsch sein
können. Es entsteht dann unmittelbar die Frage, was
veranlaßt uns, das eine und nicht ein anderes unter
diesen Systemen zu wählen? Es handelt sich doch nicht
um eine reine Willkür. Der Physiker — Einstein zum
Beispiel — hat eine bestimmte Geometrie nicht deshalb
gewählt, weil das ihm Spaß machte; er hatte dafür ernste
Gründe. Welche Gründe? Hier taucht eine Antwort auf,
welche von großer philosophischer Bedeutung ist. Diese
Antwort sagt, daß der Wissenschaftler und im allge
meinen der Mensch einen Satz oder ein System nicht
deshalb als wahr ansieht, weil sie auf die Wirklichkeit
zutreffen, sondern deshalb, weil dies ihm nützlich ist.
So zum Beispiel wählt ein Physiker eine nicht-eukli
dische Geometrie deshalb, weil er damit leichter, besser,
vielleicht überhaupt seine Theorien aufbauen und die
Wirklichkeit erklären kann.
Ist es aber so, dann soll man jene Sätze als wahr be
zeichnen, welche uns nützlich sind. Wahrheit ist Nütz
lichkeit — so sagt man. Das ist der sogenannte prag-
matistische Begriff der Wahrheit, welcher vor allem von
William James, dem berühmten und liebenswürdigen
amerikanischen Denker, entwickelt wurde und heute
viele Anhänger hat.
An dieser Lehre ist nun so viel richtig, daß es ganz
sicher Ausschnitte der Wissenschaft gibt, in welchen
wir Sätze nur deshalb annehmen, weil sie uns für die
weitere Forschung oder für den Aufbau von Theorien
nützlich sind. Zwei Sachen sind hier jedoch zu beachten.
Zuerst, daß wir in solchen Fällen eigentlich nicht wissen,
50
ob die betreffenden Sätze wahr oder falsch sind; sie
sind ja nur nützlich. Und warum sollte man diese Nütz
lichkeit gerade „Wahrheit" nennen und von der Rela
tivität der Wahrheit sprechen, das ist schwer einzusehen.
Zweitens, daß auch, wenn es sidi um die Nützlichkeit
handelt, wir nicht umhin können, wenigstens einige
wahre Sätze zu kennen — und ich meine „wahre" im
gewöhnlichen Sinn des Wortes. Ein Physiker hat zum
Beispiel eine Theorie aufgebaut und meint, sie sei nütz
lich; wie kann er das begründen? Nur so, daß er sie an
den Tatsachen erprobt. Das heißt aber wieder, daß er
gewisse Sätze aufstellt, die durch die direkte Beob
achtung bestätigt sein sollen. In irgendeinem Labora
torium schreibt dann irgendein Wissenschaftler zum
Beispiel den folgenden Satz: „Unter diesen und diesen
Umständen stand heute um 10 Uhr 20 Minuten 15
Sekunden der Zeiger des Amperemeters auf soundso
viel." Nun ist der letztgenannte Satz nur dann wahr,
wenn er wirklich zutrifft, wenn der Zeiger des Ampere
meters tatsächlich zu jener Zeit unter den genannten
Umständen dort stand und nicht anderswo. Also auch
als Pragmatist muß man zugeben, daß es gewisse wahre
Sätze gibt im aristotelischen Sinne; die übrigen nenne
man aber besser nicht „wahr", sondern einfach „nützlich".
Soviel über die erste Frage. Wir wenden uns jetzt der
zweiten zu. Sie lautet: Was ist dieses Etwas, mit dem
ein Satz übereinstimmen soll, um wahr zu sein? Man
könnte meinen, die Lage sei klar: der Satz muß mit der
Sachlage, mit dem Stand der Dinge, wie sie außer uns
sind, übereinstimmen, um wahr zu sein. Aber auch hier
gibt es Bedenken.
Nehmen wir zum Beispiel den Satz: „Diese Rose ist
rot." Wollen wir behaupten, daß er genau dann wahr
51
ist, wenn die Rose wirklich rot ist, dann hören wir, daß
es in der äußeren Welt überhaupt keine Röte gibt, denn
alle Farben entstehen erst in unseren Sehorganen als
Ergebnisse der Wirkungen gewisser Lichtwellen, die
auf unsere Augen fallen. Eine äußere Farbe gibt es gar
nicht. So lehren unsere Physiologen. Also kann es nicht
stimmen, daß unser Satz genau dann wahr ist, wenn er
auf die äußere Sachlage zutrifft; denn eine solche gibt es
gar nicht. Worauf muß also ein Satz zutreffen, um wahr
zu sein?
52
letzten Meditation gesagt, daß die Sache sich am leidi-
testen so erklären läßt, daß man eine „äußere" Katze
annimmt, die hinter meinem Rücken weitergeht. Die
Idealisten können eine solche Katze nicht anerkennen,
denn ein Äußeres gibt es für sie im strengen Sinne des
Wortes gar nicht. Sie sagen aber, daß die Katze so weit
wirklidi ist, daß sie durdi mich nadi Gesetzen gedadit
wird. Sie ist deshalb keine Einbildung, sondern Wirk
lichkeit. Übrigens ist der ganze Raum, in welchem ich
mich mit der Katze befinde, mein eigener Körper und-
soweiter, auch wirklidi, das heißt: nach Gesetzen ge
dacht.
53
einander verbunden sind — so zum Beispiel, wenn ich
mir eine Sirene denke: diese besteht nämlich aus einer
halben Dame und einem halben Fisch; um die Sirene zu
schaffen, muß ich beide irgendwo gesehen haben. Das
ist offenbar und sicher.
Deshalb sind die Idealisten gezwungen, ein zwei
faches Subjekt, einen zweifachen Gedanken, ein doppel
tes Ich anzunehmen: einerseits das sozusagen kleine,
persönliche Ich — dieses Ich nennen sie „empirisch" —
und ein großes, überpersönliches, transzendentales Ich,
oder das „Ich überhaupt". Es ist dieses zweite große,
transzendentale Ich, welches die Gegenstände schafft;
das kleine empirische Ich kann sie nur so nehmen, wie
sie durch das große „Ich überhaupt" gegeben sind.
Das alles ist aber, sagen die Gegner, die Realisten,
sehr problematisch und kaum glaubwürdig. Was soll
dieses transzendentale Ich sein, das eigentlich kein Ich
mehr ist, welches sozusagen über mir schwebt? Ein Un
ding, sagen die Realisten. So etwas gibt es gar nicht und
ist auch schwer faßbar. Dazu kommt noch, daß, wenn
wir unsere Erkenntnis näher betrachten, offenbar wird,
d a ß w i r i n i h r Ve r s c h i e d e n e s u n t e r e i n a n d e r k o m b i n i e
54
ser — so sagen die Realisten —, sich an die erste Mei
nung zu halten, und dies um so mehr, als sie die Natur
der Erkenntnis besser wiederzugeben scheint.
Freilich hat auch die realistische Auffassung ihre
großen Schwierigkeiten. Eine habe ich schon genannt —
es ist die Schwierigkeit, die aus der wissenschaftlich be
legten Tatsache stammt, daß es in der Welt keine Far
ben zu geben scheint. Es sieht hier so aus, als ob wir,
wenigstens in diesem Falle, durch unsere Erkenntnis
etwas geschaffen hätten: die Farben. Wir mögen an
Hand dieser Schwierigkeit sehen, was die Realisten zu
antworten haben.
Sie sagen dazu ein zweifaches. Erstens, sagen sie, darf
man die Grenze zwischen dem Erkennenden und der
Außenwelt nicht an der mensdilichen Haut anlegen. Sie
liegt vielmehr dort, wo der Übergang zwischen den
physischen und den psychischen Vorgängen zustande
kommt. Was der Geist auffaßt, sind die Ereignisse, so
wie sie sich im Organismus zeigen. Tragen wir rote
Brillen, dann sehen wir die grünen Gegenstände
schwarz — jedoch wird niemand behaupten, daß wir
diese schwarze Farbe durch unsere Erkenntnis gesdhiaf-
fen haben — im Gegenteil, sie ist ja da als Ergebnis der
Wirkung der Brillen. Ähnlich ist es mit den Augen.
Die Realisten sagen zweitens, daß wir in sehr vielen
Fällen nicht die Dinge in sich selbst, sondern auf uns
wirkend erfassen, also erfassen wir dann das Verhält
nis zwischen den Dingen und unserem Körper. So zum
Beispiel, wenn wir die rechte Hand in heißes, die linke
in kaltes Wasser taudien, dann aber beide in lauwar
mes. Wir fühlen dann Kälte in der rechten, Wärme in
der linken Hand. Das ist klar — sagen die Realisten.
Denn unser Temperatursinn erfaßt den Unterschied
55
zwischen der Temperatur der Haut in einem gegebenen
Glied des Körpers und der Außenwelt. Dieser Sinn er-
faßt aber und schafft gar nicht die Temperatur. Sie ist
gegeben.
Eine andere, etwas subtilere Schwierigkeit, die öfters
seitens der Idealisten hervorgehoben wird, besteht
darin, daß dasjenige, was erkannt ist, in der Erkennt
nis sein muß; also nicht draußen; also können wir von
einem Draußen gar nicht sprechen. Darauf antworten
aber die Realisten, dies sei ein Mißverständnis und
Aberglaube. Man faßt hier die Erkenntnis so, als ob sie
eine Schachtel wäre: ein Ding kann nur innerhalb oder
außerhalb der Schachtel sein. Nun ist aber die Erkennt
nis ganz sicher keine Schachtel. Man kann sie am besten,
wie es Edmund Husserl getan hat, einer Lichtquelle ver
gleichen: fällt ein Lichtstrahl auf ein Ding in der Dun
kelheit, so ist dieses Ding im Licht und doch ist es nicht
innerhalb der Lichtquelle.
Ich habe mich selbst vor Jahren nach schwerem Rin
gen für den Realismus entschieden, und je mehr ich dar
über nachdenke, desto mehr bin ich überzeugt, diese
Auffassung der Wahrheit sei die richtige. Ich weiß, daß
nicht jeder dasselbe tun wird; denn die Frage ist schwie
rig. Ganz unabhängig davon aber, was andere als Lö
sung annehmen werden, möchte idi vor einem Miß
verständnis warnen. In diesem Problem muß man sich
A ß
unser Geist alles schafft, oder im Gegenteil, daß er
nichts schafft außer der Kombination von Inhalten und
daß alles, was wir erkennen, in irgendeiner Weise außer
dem Geist vorhanden sein muß.
5 9
Denn erstens kann es überhaupt keinen roten Flecken
geben, wenn es um ihn keinen Grund gibt — und zwar
muß die Farbe des Grundes eine andere sein als die des
Fleckens. Das ist das eine, Zweitens stellen wir fest —
eine ziemlich einfache, aber doch merkwürdige Tat
sache —, daß der Flecken nicht nur eine Farbe, sondern
auch eine j^dehun^ haben muß, eine gewisse Länge
und Breite. Die Ausdehnung ist aber keine Farbe, sie ist
etwas ganz anderes, obwohl sie notwendig mit der
Farbe verbunden ist. Drittens genügt die Ausdehnung
allein noch nicht. Es muß noch eine Gestalty eine Forju.
des Randes vorhanden sein — der Flecken kann zum
fi n
ihnen vorhanden ist und wie grpß die erforderlidie
Denkarbeit sein muß, um sich in ihnen einigermaßen
zu orientieren.
61
durch den guten oder schlediten Willen kennenlernen.
Andere behaupten, daß ein Sprung der Freiheit oder
ähnliches ein Werkzeug des Wissens sei. Nun kann man
sich natürlich vorstellen, daß das Springen als eine Vor
bereitung für den Erkenntnisakt nützlich sein könnte.
Zum Beispiel wenn ich eine Kuh, die hinter der Mauer
^ y, steht, erkennen will, dann kann ein Sprung über die
Mauer dazu führen, daß idi sie erkenne. Aber nachdem
ich diesen Sprung mutig durchgeführt habe, muß ich doch
die Augen öffnen, und erst durch das Sehen werde ich
irgend etwas über die Kuh lernen. Kein Sprung der
F r e i h e i t o d e r ä h n l i c h e s k a n n m e h r s e i n a l s e i n e Vo r
ß 9
kann, der soll mir sagen wie; ich wäre ihm dafür sehr
dankbar. Falls er aber das nicht sagen kann, dann muß
er zugeben, daß ich durch das Schließen etwas gelernt
habe. Es kann nicht im Ernst bezweifelt werden, daß
wir dadurch sogar ständig vieles lernen.
Wie kommt nun ein Schließen zustande? Immer und
ohne Ausnahmen so, daß wir als Voraussetzungen
zweierlei haben: einerseits gewisse Prämissen, das heißt
Aussagen, Sätze, die schon als wahr bekannt sind oder
in irgendeiner Weise anerkannt sind; andererseits aber
eine gewisse Regel, nach welcher wir sdiließen. Zum
Beispiel, um zu erschließen, daß die Straße feucht ist,
kann ich die Prämissen haben: „Wenn es regnet, dann
ist die Straße naß" — und: „Es regnet." Dazu muß ich
noch die Regel kennen, welche bei den Logikern modus
ponendo ponens heißt; sie lautet etwa so: Hat man
einen Wenn-Satz — einen Satz, welcher mit „wenn"
anfängt — und dazu seinen Vordersatz, dann kann man
seinen Nachsatz anerkennen. Die alten Stoiker haben
diese Regel so formuliert: Wenn das erste, dann das
zweite; nun aber das erste; also das zweite. Die Logik
— oder genauer die formale Logik — ist die Wissen
schaft, die solche Regeln untersucht.
Von diesen Regeln gibt es aber zwei ganz verschie
dene Arten. Auf der einen Seite haben wir eine große
Menge von Regeln, die unfehlbar sind, das heißt, daß
das Ergebnis ganz sicher ist, wenn man diese Regeln
richtig anwendet. Ein Beispiel einer solchen Regel ist
gerade unser modus ponendo ponens; ein anderes Bei
spiel ist der wohl bekannte Modus des Syllogismus, nach
welchem man schließt: Wenn alle Logiker sterblich sind
und Lord Russell ein Logiker ist, dann ist auch Lord
Russell sterblich. Auf der anderen Seite aber gibt es sehr
63
viele Regeln, die nicht unfehlbar sind. Und das Heikle
im Leben und in der Wissenschaft ist, daß diese nicht
unfehlbaren Regeln in ihnen eine viel größere Rolle
spielen als die unfehlbaren.
Die Sache ist so wichtig, daß wir uns mit ihr ein
wenig näher beschäftigen müssen. Die nicht unfehlbaren
Regeln sind alle im Grunde gewisse Umkehrungen un
seres modus ponendo ponens. In diesem schließt man
v o m Vo r d e r s a t z a u f d e n N a c h s a t z — a l s o v o m e r s t e n
auf das zweite. Das ist eine unfehlbare Regel. In der
andern Art von Regeln geht man aber nach dem um
gekehrten Schema — etwa so: Wenn das erste, dann das
zweite; nun aber das zweite, also das erste. Daß dies
keine unfehlbare Regel ist, davon kann man sich über
zeugen, wenn man zum Beispiel so schließt: Wenn ich
Napoleon bin, dann bin ich ein Mensch; nun bin ich aber
ein Mensch; also bin ich Napoleon. Die Prämissen sind
hier beide wahr; der Schluß ist aber falsch — denn
Napoleon bin ich leider nicht. Die Regel ist also nicht
unfehlbar. Die Logiker würden sogar sagen, sie sei
falsch.
65
ist sicher; wir wissen aber bis jetzt nicht, wie dies mög
lich ist.
Idi bin mir nun wohl bewußt, daß alle diese Zweifel
Ihnen angesidits des großen Erfolges der Wissenschaft
als unbegründet erscheinen werden. Aber sagen Sie mir
bitte, welchen Grund Sie haben, anzunehmen, daß die
Sonne morgen wieder aufgehen wird. Sie werden wohl
sagen: weil es bisher immer so gewesen ist. Das ist aber
kein genügender Grund. Die Katze meiner Tante ist
auch jahrelang am Morgen durch das Fenster in ihr
Zimmer gekommen; an einem Tag kam sie aber nicht
mehr. Wenn man aber sagt, die Gesetze der Natur seien
gleichförmig, dann frage ich, woher wir das wissen sol
len. Nur so, daß wir bis jetzt diese Gleichförmigkeit
beobachtet haben — gerade wie im Falle der Sonne
oder der Katze? Daraus folgt aber keineswegs, daß sie
morgen ebensowohl gleichförmig sein werden.
Diese Betrachtungen erlauben uns eine geklärte Hal-
tog der Wissenschaft gegenüber. Man könnte vielleicht
die Grundsätze dieser Haltung in folgender Weise for
mulieren:
67
Folgende: Der gute Arzt hatte überhaupt keinen wissen
schaftlichen Grund, eine solche Behauptung aufzustel
len. Um sie zu legitimieren, mußte er voraussetzen, daß
es nur Körper gibt. Das ist aber keine Naturwissenschaft,
keine Chirurgie, sondern reine, obwohl schlechte Phi
losophie.
Und das ist gerade die große Gefahr. Ganz gewaltige
Gebiete der Wirklichkeit sind noch nicht erforscht, sogar
der exakten wissenschaftlichen Forschung überhaupt
noch nicht erschlossen — vor allem, wenn es sich um den
Menschen handelt. Auch dort, wo die Forschung schon
im Gang ist, wissen wir unglaublich wenig. Was nun
vorkommt, ist, daß die Menschen die enormen Lücken
im wissenschaftlichen Wissen durch ihre private, mei
stens grob naive und falsche Philosophie füllen wollen,
die dann als Wissenschaft verkündigt wird. Das tun
natürlich nicht nur einige Wissenschaftler, sondern auch
viele andere Menschen. Aber die Wissenschaft genießt
eine so große Autorität, daß ihre Vertreter in dieser Be
ziehung am gefährlichsten sind, wenn sie außer ihrer
Kompetenz zu philosophieren anfangen.
Und wenn sich die Gesellschaft den Luxus erlaubt,
einige Philosophen zu haben, obwohl diese Philosophen
keine Flugzeuge und keine Atombomben erzeugen hel
fen, so hat es deshalb vielleicht einen guten Sinn. Denn
die Philosophie und sie allein kann uns vor Wahnsinn
warnen, der so oft seitens eines falschen Denkens unter
der vermeinten Autorität der Wissenschaft droht. In
einer ihrer wichtigsten Funktionen ist sie nichts anderes
als Verteidigung des echten Denkens gegen Schwär
merei lind Tinsinn.
DER WERT
69
Schauen, auch ein Stück Leben ist und daß die Goethe-
sche Gegenüberstellung von Theorie und Leben schief
ist. Es scheint mir, daß ein volles menschliches Leben
ohne wenigstens einige Augenblicke der reinen Theorie,
des reinen Schauens überhaupt kein menschliches Leben
wäre. Aber das Schauen ist sicher nicht alles in diesem
Leben und auch nicht alles, was es zum menschlichen
Leben macht. Das Werten und alles, was darauf folgt,
gehört zu diesem Leben ebenso wesentlich wie die
Theorie.
70
Mensch, sagt mit Empörung, er werde das nie tun. Nun
fragt Karl: Warum? es ist doch so einfach und würde
nützlich sein. Was wird darauf Ludwig antworten?
Versetzen wir uns in seine Lage. Was würden wir ant
worten? Ich fürchte, wir würden keine richtige Antwort
finden. Wir würden vielleicht sagen, es sei ein Verbre
chen, eine Gemeinheit, etwas Unerlaubtes, Schmutziges,
Sündiges undsoweiter. Würde aber unser Karl uns fra
gen, warum etwas Verbrecherisches, Schmutziges, Sün
diges undsoweiter nidit zu tun sei, da würden wir nur
sagen können, daß man solche Sachen einfach nicht tut.
Anders gesagt, wir würden nichts antworten. Einen Be-
weis, eine Begründung unserer Haltung könnten wir
überhaupt nicht bringen. Der Satz „Du sollst deiner
Mutter die Kehle nicht zerschneiden, um Geld für das
Trinken zu gewinnen", dieser Satz kann nicht begründet
werden. Er ist evident; man kann höchstens sagen, daß
es so ist und daß darüber nicht zu diskutieren ist.
So also ist die Lage. Versuchen wir, sie nun ein wenig
zu analysieren, um herauszufinden, welche Bestandteile
in dieser komplexen Situation eingeschlossen sind. J)a-
bei wenden wir die in der letzten Meditation beschrie
bene phänomenologische Methode an; denn eine andere
gibt es für diesen Gegenstand überhaupt nicht.
Wir stellen also zuerst fest, daß unser Satz „Du
sollst deiner Mutter undsoweiter" uns allen gegeben
erscheint. Er ist da, vor den Augen unseres Geistes, als
etwas, was von uns ganz unabhängig ist, in sich besteht,
genauso wie ein Gegenstand in der Welt, vielleicht ist
er nur härter als die einfachen Dinge. Er ist, wie die
Philosophen sagen, ein Seiendes. Welche Art von
Seiendem? Offenbar kein reales. Denn eine solche
71
ist der Satz überzeitlich und überräumlich geltend. Es
ist ideales Seiendes, derselben Art wie mathematische
Gebilde.
7 9
durch den Gegenstand bestimmt und durch die Einsicht
in diesen Gegenstand.
So weit die Beschreibung der Lage. Wir wenden uns
jetzt der Erklärung dieses merkwürdigen und so be
deutenden Phänomens zu. Ich möchte diesen Erklärungen
nur eine kurze Bemerkung über die verschiedenen hier
vorkommenden Begriffe und Arten der Werte voraus
schicken.
7.S
des Zarten, des Erhabenen undsoweiter — sollten auch
wohl bekannt sein. Das Charakteristische bei ihnen ist,
daß sie wohl ein Sein-sollen, aber kein Tim-sollen ent
halten. Sieht man zum Beispiel ein schönes Gebäude,
dann sieht man auch, daß es so sein soll, aber einen Ruf
an unser Gewissen bringt dieser Wert wenigstens un
mittelbar nicht mit sich. Endlich sind die religiösen
Werte wieder von einer anderen Art. Sie sind den
74
Beispiel unser Satz über die Mutter immer und überall
anerkannt ist. Das ist aber nicht der Fall. Die morali
schen Wertungen — und desto mehr die ästhetisdien
und die religiösen — sind zu verschiedenen Zeiten und
in verschiedenen Kulturkreisen sehr verschieden. Ein
75
I
eigenen Mutter in unserem Kulturkreis sozial schädlidi
wäre; denn erstens ist die Mutter dazu notwendig, das
Kind zu erziehen; zweitens kann sie vielleicht noch an
dere Kinder haben. Man kann sich aber eine Kultur
7 7
nämlich daraus, daß es keine zwei Menschen gibt, die
dieselbe Einsicht in einen Wert haben — einer sieht
besser den einen — etwa den Wert der Tapferkeit —
ein anderer einen andern Wert — zum Beispiel den
Wert der Güte oder der Reinheit. Und daraus folgt,
daß wir jemanden nicht als einen Verrückten bezeich
nen sollen, wenn wir sein Verhalten nicht verstehen.
Er mag vielleicht ein Held, ein Heiliger, ein Genius
sein. Leider ist das Verständnis dieser schlichten Wahr
heit wenig verbreitet, und die Besten unter uns, jene,
welche die klarste Einsicht in die Werte hatten, wurden
regelmäßig durch die Masse der Blinden verfolgt. Und
doch hängt der Fortschritt der Menschheit gerade von
diesen bessern, besser sehenden Menschen ab.
Das ist jedoch nur eine Seite dieses Wandels. Bei den
Werten ist es nämlich so, daß die Einsicht nicht nur von
der Begabung abhängt, sondern vor allem vom Willen.
Ein sehr anständiger Mensch sieht viel klarer als ein
weniger anständiger — er sieht nämlich besser die
Richtigkeit oder Unrichtigkeit einer Tat in diesem Be
reich. Es kommt deshalb auch vor, daß ein Mensch, der
viel begabter und viel gelehrter ist als ein anderer, in
einem Wertgebiet weit hinter ihm zu stehen kommt, ja
manchmal ein vollständiger Barbar in dieser Hinsicht
auf einem gewissen Wertgebiet sein kann.
So sieht der große Streit zwischen den Positivisten
und den Idealisten aus. Ich werde Ihnen nun noch sagen,
was ich selbst darüber meine. Ich bin der Ansicht, daß
der Positivismus nicht haltbar ist; er besteht nämlich,
wie mir scheint, in einer Verwechslung der Wertungen
mit dem Wert, unserer Sicht und unserer Reaktion auf
d i e W e r t e m i t d e n W e r t e n s e l b s t . A l l e Ta t s a c h e n ,
welche seitens des Positivismus angeführt sind, können
I R
ebensowohl vom Standpunkt des Idealismus gedeutet
werden; darüber hinaus ist aber der Idealismus nicht
7Q
Mit dieser Feststellung haben wir uns aber der
Grenze zwischen der theoretischen Philosophie, die nur
verstehen will, und der praktischen, die lehrt, was zu
tun ist, genähert. Es sei mir erlaubt, aus dieser zweiten,
praktischen Philosophie abschließend eine Wahrheit zu
nennen, die mir für das menschliche Leben zentral zu
sein scheint: das Licht, das Verständnis der Werte, und
die Kraft, sie zu verwirklichen, das ist, was wir in
diesem Leben für den Geist am meisten begehren
sollten.
RO
DER MENSCH
81
Schwestern sind. Dazu brauchen wir nicht zu den gelehr
ten Entwicklungstheorien zu greifen, nach welchen der
Mensch — freilich nicht von einem Alfen, wie öfters
gesagt wird — aber doch von einem Tier stammt. Daß
er nämlich ein Tier ist, ist offenbar auch ohne jede ge
lehrte Zoologie.
Er ist jedoch ein merkwürdiges Tier. Er hat an sich
vieles, was wir bei den anderen Tieren entweder gar
nicht oder aber nur in winzigen Spuren finden. Was
hier vor allem auffällt, ist, daß der Mensch vom bio
logischen Standpunkt aus eigentlich gar kein Recht
hätte, sich der gesamten Tierwelt so aufzudrängen, sie
so zu beherrschen und, als der gewaltigste Schmarotzer
der Natur, aus ihr zu profitieren, wie er es tatsächlich
tut. Er ist ja ein mißratenes Tier. Schlechte Augen, fast
kein nennenswerter Geruch, minderwertiges Gehör, das
sind sicher seine Kennzeichen. Natürliche Waffen, etwa
Klauen, fehlen ihm fast vollständig. Seine Kraft ist un
bedeutend. Er kann weder schnell laufen noch schwim
men. Dazu ist er nackt und stirbt viel leichter als die
meisten Tiere vor Kälte, Hitze und ähnlichem. Bio
logisch gesehen, hätte er kein Recht zur Existenz. Er
sollte seit langem untergegangen sein wie so viele an
d e r e m i ß r a t e n e Ti e r a r t e n .
82
zu machen. Von einem Aussterben der menschlichen Art
ist keine Rede. Was man fürchtet, ist eher, daß sie zu
zahlreich wird.
84
leicht in cine kurze Formel zu fassen; denn es ist sehr
85
punkt gerade sinnlos ist. Der Mensch kann sich aber
solche Sachen leisten, weil er von den biologischen
Gesetzen der Tierwelt in gewissem Umfange unab
hängig ist.
Ja, diese Unabhängigkeit geht noch weiter. Jeder
von uns hat das unmittelbare Bewulksein, frei zu sein —
es sieht so aus, als ob er, wenigstens während einiger
Augenblicke, alle Gesetze der Natur überwinden könnte.
Damit hängt aber noch etwas anderes zusammen. Der
Mensch ist nämlich — und vielleicht vor allem — der
m
per mit seinen physiologischen Vorgängen, und auch das
tierische Triebleben, etwas vom Geiste so Verschiedenes,
daß sich die Frage aufdrängt, wie eine solche Verbin
dung der beiden überhaupt möglich sein kann. Das ist
die zentrale Frage der philosophischen Wissenschaft
vom Menschen, der Anthropologie, wie man sie nennt.
Auf diese Frage gibt es verschiedene Antworten. Die
älteste und einfachste besteht darin, daß man einfach
leugnet, es gäbe im Menschen irgend etwas anderes als
den Leib und die mechanischen Bewegungen der Körper
teilchen. Diese Lösung ist jene des strengen Materialis
mus. Sie wird heute nur selten vertreten, und zwar unter
anderm wegen eines Argumentes, welches gegen sie
durch den großen deutschen Philosophen Leibniz ge
bracht wurde. Leibniz schlug nämlich vor, man denke
sich das Gehirn so vergrößert, daß man sich in seinem
Innern bewegen könnte wie in einer Mühle. Wir wür
den in ihm nur Bewegungen von verschiedenen Körpern
begegnen, nie aber so etwas wie einem Gedanken. Der
Gedanke und ähnliches müssen also etwas ganz anderes
sein als einfache Bewegungen der Körper. Natürlich
kann man auch sagen, daß es überhaupt keine Gedanken
und kein Bewußtsein gibt; das ist aber so offensichtlich
falsch, daß die Philosophen eine solche Behauptung nicht
ganz ernst zu nehmen pflegen.
Außer diesem extremen Materialismus gibt es auch
einen anderen, gemäßigten, nach welchem es zwar Be
wußtsein gibt, dieses aber nur als Funktion des Leibes —
eine Funktion, die sich von jenen der anderen Tiere nur
dem Grad nach unterscheidet. Dies ist eine viel ernster
zu nehmende Lehre.
87
eine starke Bekräftigung seitens der Wissenschaft zu
erhalten scheint. Sie unterscheidet sich von der genann
ten zweiten Art des Materialismus in zwei Punkten. Sie
meint erstens, daß es keinen Sinn hat, die geistigen
Funktionen einseitig dem Leib gegenüberzustellen. Der
Mensch, lehrt Aristoteles, ist ein Ganzes, und dieses
Ganze hat verschiedene Funktionen: rein physische,
pflanzliche, tierische und endlich auch geistige. Sie sind
alle Funktionen nicht des Leibes, sondern des Menschen,
des Ganzen. Und der zweite Unterschied besteht darin,
daß Aristoteles mit Plato in den geistigen Funktionen
des Menschen etwas ganz Besonderes sieht, was in den
a n d e r e n Ti e r e n n i c h t v o r h a n d e n i s t .
88
nämlich durch die sogenannte Existenzphilosophie und
den Existenzialismus. Wir haben nämlich verschiedene
Besonderheiten des Menschen betrachtet, die ihm alle
eine gewisse Würde und Macht verleihen, dank deren
d e r M e n s c h ü b e r a l l e a n d e r e n Ti e r e e r h a b e n i s t . A b e r
der Mensch ist nicht nur das. Er ist auch — und zwar
dank derselben Eigenschaften — etwas Unvollendetes,
Unruhiges und im Grunde genommen Elendes. Ein
Hund, ein Pferd frißt, schläft und ist glücklich; mehr
als die Befriedigung ihrer Triebe brauchen sie gar nicht.
Anders der Mensch: er schafft sich immer neue Bedürf
0 0
Plato hat einmal gesagt, daß die letzte Antwort auf
diese Frage nur durch einen Gott uns gegeben werden
könnte, durch eine vom Jenseits kommende Offenba
rung.
Das ist aber nicht mehr Philosophie, sondern Religion.
Das philosophische Denken stellt hier, wie in so vielen
anderen Gebieten, die Frage — es führt uns bis an eine
Grenze, an welcher der Mensch schweigend die nicht
mehr zu lichtende Dunkelheit schaut.
Q 1
DASS E I N
92
Bevor wir uns aber diese Frage stellen, wird es nütz
lich sein, einige terminologische Angelegenheiten zu
klären. In der Ontologie spricht man oft vom Sein, und
zwar gebraucht man dieses Wort nicht als ein Verbum,
sondern substantivisch; man sagt also nicht etwa: „es
ist angenehm, gesund zu sei}i \ sondern: „Das Sein ist
dieses und jenes". Wenigstens pflegen viele Ontologen
dieses Wort so zu gebrauchen. Was mich persönlich an
geht, so habe ich immer gefunden, daß es besser ist, nicht
vom Sein, sondern vom Seienden zu sprechen. Man
nennt nämlich alles, was in irgendeiner Weise ist, also
besteht, existiert, ein Seiendes. So ist jeder meiner ver
ehrten Leser ein Seiender, aber auch sein Taschentuch
und sogar seine gute oder schlechte Laune. Ja, die Mög
lichkeit, daß er morgen lacht, wird ein Seiendes — denn
es gibt eine solche Möglichkeit, sie besteht, sie ist da.
Alles, was ist, ist ein Seiendes — außer den Seienden
gibt es nichts.
Was nun das Sein betrifft, so ist es das Abstrakte
vom Seienden — so ungefähr wie die Röte das Ab
strakte vom Roten, die Wut von einem wütenden Men
schen oder Tier, die Höhe ein Abstraktes von einem
hohen Turm, undsoweiter. Eine fundamentale Regel
der philosophischen Methode besagt aber, daß man,
wenn möglich, alle abstrakten Worte auf konkrete zu
rückführen soll — denn dann wird die Forschung leich
ter und man ist wenigstens gewissermaßen vom Unfug
gesichert, welcher im Reich der Abstrakta nur zu oft
waltet. Man denke nur an allen Unsinn, welcher über
die Wahrheit geschrieben wurde, und zwar nur deshalb,
weil man sich nicht die Mühe gegeben hat, anstatt der
abstrakten „Wahrheit" das kleine und konkrete Wört
chen „wahr" zu gebrauchen. Aus diesem Grunde werde
ich auch hier, soweit möglich, das Wort „Sein" vermei
den und immer von Seiendem sprechen.
Es gibt nun, wie ich schon sagte, Meinungen, nach
weichen es keine Lehre vom Seienden geben kann. Eine
solche Meinung ist zuerst durch den erkenntnistheore
tischen Idealismus vertreten worden. Er meint, daß
alles, was von den Seienden gesagt werden kann, schon
in den Einzelwissenschaften gesagt wird — für die Phi
losophie bleibe nur die Aufgabe, klarzumachen, wie die
Erkenntnis in den Einzelwissenschaften zustande
94
wissenschaftliche Aussage sei; wenn ich aber behaupten
würde, er sei eine Substanz — die Substanz ist nämlich
ein ontologischer Begriff —, so sage ich überhaupt nichts
über die Wirklichkeit. Ich spreche nicht vom Hund, son
dern vom Wort „Hund". Die Ontologie soll also durch
eine allgemeine Grammatik ersetzt werden.
Die Ontologen fühlen sich jedoch auch durch diese
Argumentation nicht betroffen. Sie sagen, es sei nicht
klar, warum man bis zu einer gewissen Grenze die Be
griffe verallgemeinern dürfe — etwa nach der Reihe
Raubtier — Säugetier — Wirbeltier — Tier — Lebe
wesen —, weiter aber nicht; warum auf einmal, fragen
sie, dieser Sprung in das Sprachliche? Jede Realwissen
schaft kann mit den Mitteln der heutigen mathemati
schen Semantik in eine Sprachwissenschaft umgewandelt
werden: zum Beispiel statt von den Wirbeltieren zu
sprechen, kann man vom Gebrauch des Wortes „Wir
beltier" reden. 1st es aber einmal erlaubt, das Seiende
in Tiere und Pflanzen zu teilen, dann darf man viel
leicht auch allgemeinere Einteilungen bilden, die nicht
mehr der Biologie angehören, sondern einer allgemei
neren, der allgemeinsten aller Wissenschaften — und
das wäre die Ontologie. Tatsächlich haben sich diese
Gegenargumente zuletzt, besonders in den Vereinigten
Staaten Amerikas, als sehr einflußreich erwiesen. Ge
rade unter den führenden Logikern sind es viele, die
einmal in ihrer Mehrheit dem Positivismus gehuldigt
haben, die heute eifrig Ontologie treiben. Ein klassi
sches Beispiel ist der bekannte Logiker der Universität
Harvard, Professor Quine.
Noch eine dritte Meinung könnte formuliert werden.
Man könnte nämlich fragen, ob es überhaupt möglich
ist, irgend etwas vom Seienden im allgemeinen zu sa-
0 ^
gen, außer der Trivialität: „Das Seiende ist seiend",
oder: „Was ist, ist." Es ist nämlich nicht gleich einzu
sehen, welche Art von anderen Aussagen in dieser Wis
senschaft vorkommen könnte.
Mir scheint nun, daß man diese Frage am besten da
durch beantwortet, daß man einfach Ontologie treibt,
daß man ihre Probleme aufstellt und zu lösen versucht.
Das ist auch, was alle großen Philosophen der Vergan
genheit, von Plato bis Hegel, immer getan haben; und
heute, nach einer relativ kurzen Periode ohne Ontolo
gie, besitzen wir wieder eine lange Reihe von überzeug
ten Ontologen. Wir werden ihnen einfach in einigen
ihrer Untersuchungen folgen.
Und zuerst eine ganz kleine und auf den ersten Blick
leicht zu lösende Frage — die aber während der letzten
Jahrzehnte viele Diskussionen hervorgerufen hat: die
Frage um das Nichts. Wir haben gesagt, daß alles, was
ist, ein Seiendes ist. Daraus scheint zu folgen, daß es
außer dem Seienden nichts gibt. Und daraus könnte
man wieder ableiten, daß es ein Nichts gibt, also daß
das Nichts in irgendeiner Weise doch ist, existiert. Viel
leicht wird dies als ein Sophisma anmuten. Wir pflegen
zu sagen, daß etwas nicht ist — oder wie Sartre es noch
schärfer formuliert: daß es nichts gibt. Zum Beispiel:
wenn der Motor im Wagen streikt, schaut einer in den
Vergaser und sagt: „Im Vergaser gibt es nichts." Die
Frage lautet nun: ist dieser Satz wahr? Offenbar ist er
manchmal wahr. Wenn aber ein Satz wahr ist, dann
muß es in der Wirklichkeit so sein, wie er sagt. Das ist
die Definition der Wahrheit. Also muß es ein Nichts im
Vergaser geben.
Übrigens: wir sprechen sinnvoll vom Nichts, zum Bei
spiel jetzt rede ich darüber. Wenn ich aber über etwas
96
sinnvoll rede, dann muß dieses Etwas ein Gegenstand
sein. Andernfalls würde ich gar nicht darüber sprechen
können. Also ist das Nichts ein Gegenstand. Also ist
es. Und doch ist es nichts; also: es ist nicht.
Durch solche und ähnliche Gedanken wurden einige
zeitgenössische Denker — wie die genannten führenden
Existenzphilosophen — dazu bewegt, daß sie sagten,
das Nichts bestehe in irgendeiner Weise. Andere Phi
losophen folgen ihnen freilich nicht. Sie sagen, das
Nichts sei nur gedacht, es ist aber gar nicht. Mir per
sönlich scheint die Frage recht kompliziert und schwierig
zu sein. Ich würde vielleicht das Folgende sagen. Ich
würde bemerken, daß man zwischen dem realen und
dem idealen Seienden unterscheiden muß. Der Begriff
des Nichts ist ein ideales Seiendes — und ein Bild be
sonderer Art, des Mangels am realen Seienden. Das er
klärt, wie wir überhaupt von ihm reden können. Weiter
würde ich vielleicht sagen, daß ein Mangel etwas Re
ales sein kann. Daß zum Beispiel mein Freund l'^ritz in
diesem Cafe nicht ist, ist trotz allem etwas Reales. Es ist
nicht bloß durch mich gedacht — sondern ist schon so im'
Cafe. Nun ist die Frage nach dem Mangel eine sehr
sonderbare und sehr schwierige Frage. Es scheint mir
klar zu sein, daß gewisse Mängel an allem, was wir ken
nen, haften — schon deshalb weil alle diese Seienden
beschränkt und endlich sind. Damit kommen wir aber
97
und es sollte klar sein, daß keine Einzelwissenschaft sie
zu lösen vermag. Hier ist aber eine andere Frage:
Man spricht in der Alltagssprache und auch in der
Wissenschaft von der Möglichkeit. Zum Beispiel, sagt
man, hat ein Kind die Möglichkeit, ein Philosoph zu
werden, ein Stuhl aber nicht. Man könnte zuerst mei
nen, daß diese Möglichkeit etwas nur von mir Gedach
tes ist, dafS es in der Wirklichkeit nur solche Sachen gibt,
die schon sind. Das trifft aber sicher nicht zu; denn die
Tatsache, daß dieses Kind zum Beispiel zum Philoso
phen werden kann oder werden könnte, hängt gar nicht
davon ab, was irgend jemand darüber denkt. Auch
wenn es niemand gibt, der darüber denkt, bleibt es
noch immer wahr, daß das Kind diese Möglichkeit hat.
Das ist aber sehr merkwürdig. Es sieht so aus, als ob
wir im Realen selbst eine Unterscheidung durchführen
sollten, nämlich zwischen dem real Wirklichen — dem,
was schon sozusagen voll ist — und dem real Mög
lichen — dem, was werden kann. Nicht alle Philosophen
sind damit einverstanden: Parmenides, ein alter grie
chischer Denker, dann die Megariker und letztens der
deutsche Philosoph Nicolai Hartmann und Sartre be
haupteten, das Wirkliche und das Mögliche seien im
Grunde dasselbe. Dagegen meint Aristoteles und seine
Schule, man müsse beide scharf unterscheiden. Dadurch
entsteht eine weitere ontologische Problematik, die, wie
es scheint, fast immer im Zentrum der philosophischen
Diskussion gestanden hat und auch heute steht.
Ein drittes ontologisches Problem ist jenes der so
genannten Kategorien. Die Welt scheint nämlich so
aufgebaut zu sein, daß sie aus gewissen Dingen besteht,
welche durch Eigenschaften gekennzeichnet und unter
einander durch Beziehungen verbunden sind. Es sieht
Q K
also so aus, als ob wir in der Welt, im Realen, drei
verschiedene Aspekte oder Arten des Seienden unter
scheiden sollten. Zuerst die Dinge, oder wie man sie
nach Aristoteles zu nennen pflegt, die Substanzen —
etwa Berge, Menschen, Steine —, dann die .Eigenschaf
ten — zum Beispiel jene, die darin bestehen, daß ge
wisse Dinge rund, andere aber viereckig sind, gewisse
Menschen klug, andere dumm, gewisse Berge hoch, an
dere niedrig sind —, endlich Beziehungen oder Relatio
nen, wie die Beziehung des Vaters zum Sohn, des grö
ßeren zum kleineren, des Bürgers zum Staat, undso-
weiter. Man beachte, daß diese Einteilung weder mit
Wirklichkeit und Möglichkeit noch mit den sogenannten
Stufen des Wirklichen — etwa jenen des Stofflichen
und Geistigen — irgend etwas zu tun hat. Denn alle
Kategorien können — so scheint es wenigstens — eben
sowohl wirklich wie möglich sein, ebensowohl stofflich
wie geistig.
Die genannten drei Kategorien — Substanz, Eigen
schaft und Beziehung — werden tatsächlich in der
Praxis des Denkens immer vorausgesetzt. Sie sind es
zum Beispiel im gewaltigen mathematisch-logischen
Werk von Whitehead und Russell, welches die Grund
lage der neuzeitlichen Logik bildet. Wenn man aber
darüber nachdenkt, so tauchen große Schwierigkeiten
auf, und zwar in Hinblick auf jede der genannten drei
Kategorien. Die Eigenschaft ist sehr schwer faßbar —
die Versuchung liegt nahe, sie als etwas Unreales zu
denken. Noch schwieriger ist vielleicht, eine Beziehung
zu verstehen, die an sich das Merkwürdige hat, daß sie
sozusagen in irgendeiner Weise zwischen den Dingen
zu sein scheint. Aber auch die Substanz bietet nicht
QQ
einem Ding wissen, sind gerade seine Eigenschaften.
Sehen wir von ihnen ab, dann scheint überhaupt nichts
zu bleiben.
100
selbst vom subjektiven Standpunkt abhängt und im
Realen gar nicht begründet ist. Der Streit zwischen
ihnen und jenen Denkern, welche reale Wesenheiten
annehmen, ist immer einer der wichtigsten in der Philo
sophie gewesen.
Das zweite Problem ist ähnlich und wird seit Hegel
viel diskutiert. Nach Hegel sind nämlich alle Beziehun
gen eines Dinges dem Dinge selbst in dem Sinne „inner
lich", daß es ohne sie nicht bestehen kann. Anders ge
sagt, ein Ding wird durch seine Beziehungen zu dem,
was es ist; sie konstituieren sein Wesen. Sie sind alle
notwendige, innere Relationen. Dagegen meinen andere
Philosophen, daß es wohl einige solche wesensnotwen
digen Beziehungen gibt — zum Beispiel wird ein Sin
nesorgan durch seine Beziehung zum Objekt konsti
tuiert, etwa das Gehör durch die Beziehung zu den
Lauten —; aber es gibt auch unwesentliche, nicht kon
stituierende Relationen. So, sagen jene Philosophen, ist
es für den Menschen unwesentlich, ob er sitzt oder steht
— er bleibt ein Mensch —, oder anders gesagt, er ist
zuerst Mensch, und erst dann geht er in verschiedene
solche Beziehungen ein. Auch dieses Problem hat eine
sehr große Bedeutung für zahlreiche Gebiete, vor allem
für die Gesellschaftsphilosophie.
Wir haben damit einige ontologische Fragen genannt,
einige Beispiele der ontologischen Problematik skizziert.
Es sind bei weitem nicht alle, auch nicht alle grund
legenden Fragen dieser Disziplin. Es besteht zum Bei
spiel noch ein sehr wichtiges Problem des Unterschiedes
zwischen den sogenannten Stufen des Seienden — etwa
in der Reihe: Stoff — Leben — Geist. Ist dieser Unter
schied wesentlich, wie Aristoteles und Hegel meinten,
oder handelt es sich nur um mehr komplexe Strukturen
101
einer einzigen Grundschidit, mit dem naiven Materia
lismus und dem ebenso radikalen Spiritualismus? Was
ist — weiter — die Beziehung der Existenz — dessen,
wodurch ein Seiendes ist, besteht, und der Essenz —
dessen, was es ist? Wie stehen das ideale Seiende und
das reale zueinander? Soll man das Ideale als ein Ab
bild des Realen oder, umgekehrt, das Reale als ein Ab
bild des Idealen sich denken? Wie steht es mit der Not
102
DIE GESELLSCHAFT
1 (v^
oder nicht, ob man dem Staatspräsidenten mehr oder
weniger Macht geben will, ob man einen bestimmten
Staat zentralistisch oder föderalistisch einrichtet — dar
über muß in jedem P^all vom Standpunkt der Umstände
geurteilt werden; und das gerade tun die Praktiker,
nicht die Philosophen.
Aber es genügt nicht, die Umstände allein zu kennen,
um über solche Fragen zu entscheiden. Jene, die sagen,
alle gesellschaftlichen Angelegenheiten seien vom
Standpunkt ihrer Zweckmäßigkeit zu werten, sagen da
durch auch, daß ein Zweck, also ein Ziel, vorausgesetzt
ist. Welches Ziel? Darauf antworten einige, es handle
sich gar nicht um eine philosophische Frage: das Ziel sei
einfach die Macht des Staates. Aber der Philosoph fragt
hier: Und warum soll gerade die Macht des Staates un
ser Ziel sein? Wird nun der Vertreter der genannten
Meinung seine Ansicht in irgendeiner Weise zu recht
fertigen versuchen, dann treibt er nicht mehr Politik
oder Staatslehre, keine Wirtschaftstheorie, sondern
Ethik, also Philosophie. Und tatsächlich ist es so, daß
man ohne Philosophie — ob sie gut oder falsch sei, wis
senschaftlich oder dilettantisch — überhaupt keine An
sichten über die Gesellschaft vertreten kann. Denn alle
diese Ansichten hängen, wie gesagt, vom Ziel ab, und
die Bestimmung dieses Zieles gehört der Philosophie.
Jedoch ist die Frage nach dem Ziel des gesellschaft
lichen Handelns, obwohl zentral, nicht die erste Frage,
welche sich der Philosoph stellt. Das große, fundamen
tale Problem der sozialen Philosophie ist nämlich die
FVage nach der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Sie lau
tet: Was ist an der Gesellschaft wirklich, real — und
in welchem Grad? Ich werde hier nur diese Frage er
örtern, weil ich glaube, daß die Lösung aller andern, so
104
zum Beispiel der Frage um die Würde und Freiheit des
Menschen, nur eine Folgerung aus der Antwort sind, die
wir auf sie geben.
Die Lage ist nun folgende: jeder von uns empfindet,
daß ihm in der Gesellschaft eine Macht gegenübersteht,
die er lieb oder unlieb haben kann, die aber ganz sicher
sich nicht einfach wegdenken läßt wie unsere Phantasie
bilder. Zum Beispiel ist es uns nicht erlaubt — wie der
große englische Ökonom John Stuart Mill einmal so
eindringlich bewiesen hat —, uns so zu verhalten, wie
wir wollen, auch nicht in der am meisten freiheitlichen
Gesellschaft. Um nur eine Kleinigkeit zu nennen, müs
sen wir uns alle, ob wir wollen oder nicht, in gewissen
Grenzen an die herrschende Mode halten. Würde ich
105
dition gelernt — ich habe es von der Gesellschaft erhal
ten. Und auch was ich fühle und will, hängt in den mei
sten Fällen weitgehend von meiner Erziehung ab, von
dem, was die Gesellschaft als Ganzes jetzt fühlt und
meint.
108
etwas solches gibt es ja gar nicht —, sondern die Bürger,
oder genauer, jene unter ihnen, welche die Macht aus
üben. Die Pflichten dem Staat gegenüber sind also
Pflichten dem Staatsoberhaupt, den Beamten undso-
weiter gegenüber.
Sie werden mich selbstverständlich fragen: Wie aber
kann eine solche Behauptung ernst genommen werden?
Wie können jene Individualisten die evidente Tatsache
des Druckes erklären, welchen die Gesellschaft auf mich
ausübt? Tatsächlich leugnen sie ihn aber nicht und wis
sen ihn auch zu erklären. Sie sagen nämlich, daß er
durch die gegenseitige Wirkung der Einzelmenschen zu
stande kommt. Auch Elementarkörper, Elektronen, sa
gen wir, sind Einzeldinge, aber sie bilden doch im Atom
ein Ganzes, und zwar deshalb, weil sie gegenseitig auf
sich wirken — sich anziehen oder abstoi^en. So auch die
Menschen in der Gesellschaft. Daß dabei diese An
1 0 7
tarkörper, Protonen, Elektronen oder wie sie noch hei
ßen sollen. Desto mehr die Gesellschaft.
108
gesetzte Theorie aufgebaut haben. Und zwar gibt es
vom ontologischen Gesichtspunkte her zwei Arten sol
cher Theorien.
109
sich bestehend" meint. Der Mensch ist bei Hegel und
seinen Schülern ein dialektisches Moment der Gesell
schaft und nichts mehr.
Diese beiden Lehren führen wie der Individualismus
zu schwerwiegenden sozialethischen Folgerungen. Denn
ist die Gesellschaft das einzig wahrlich wirkliche Reale,
das einzige voll Existierende und der Mensch nur ein
Teil, ein Moment in ihr — dann sollte es klar sein, daß
er keine Eigenrechte haben kann. Er ist ja in der Ge
sellschaft, durch die Gesellschaft und für die Gesell
schaft. Was sich hier ergibt, ist ein sozialethischer Kol
lektivismus, ja Totalitarismus, nach welchem der
Mensch im Grunde genommen — obwohl dies in Wor
ten oft geleugnet wird — ein Mittel wird, die Gesell
schaft aber das einzige Ziel bleibt.
Orwell, der Verfasser des bekannten Zukunftsromans
„Neunzehnhundertvierundachtzig" hat das mit gro
ßer Schärfe eingesehen. Sein Held fragt den Henker
während der Folter, ob der Diktator, der „Große Bru
der", existiert. Der Henker fragt darauf, was das be
deuten soll. Lind das Opfer sagt: „Ja einfach, wie ich
existiere." Er erhält darauf eine Antwort, die sich aus
dem Sozialkollektivismus ergibt: „Du existierst gar
nicht." Der Einzelmensch existiert gar nicht, wenigstens
hat er keine volle Existenz. Er wird und soll ewig als
ein Werkzeug, als ein Mittel für das Ganze gebraucht
und rücksichtslos ausgenützt werden. Eigene Rechte
kann ein solches „Moment", ein solches „Unwesen"
nicht haben.
1 1 1
mehr als die Summe der Einzelmenschen ist: sie enthält
nämlich außer ihnen noch die realen Beziehungen unter
den Menschen und zum gemeinsamen Zweck.
Dazu kommt noch eine zweite fundamentale Lehre.
Die genannten Beziehungen, die uns in der Gesellschaft
verbinden, schweben ja nicht in der Luft. Sie sind in
etwas, im Einzelmenschen selbst begründet. Dieses
Etwas, das sie ermöglicht, ist das Gemeinsame in den
Menschen — und dynamisch, also ethisch gefaßt, ist es
das Gemeinwohl, jener Aspekt des Einzelwohls, welches
von den Menschen nicht nur gemeinsam angestrebt
wird, sondern auch nur gemeinsam erreicht werden
kann.
11 2
heute, welche furchtbare, lebensbildende und lebens
vernichtende Macht die großen Philosophien sein
können. Es ist heute vielleicht notwendiger als in
irgendeiner anderen Periode, daß jeder denkende
Mensch sich über seinen Ort in diesem, scheinbar so
abstrakten, und doch so brennend wichtigen Gebiet
Klarheit verschafft.
11
DAS ABSOLUTE
I 14
vor allem haben wir aus unserer langen Geschichte
eines gelernt, daß nämlich die Existenz Gottes eigentlich
durch keinen unter den großen Denkern je ernsthaft in
Frage gestellt worden ist. Das mag sonderbar klingen,
wenn man an die so zahlreichen sogenannten Atheisten
denkt. Sieht man sich aber die Sache näher an, so findet
man, daß der große philosophische Streit gar nicht um
die Existenz eines Absoluten, eines Unendlichen geht.
Dafs es ein solches gibt, behaupten mit derselben Ent
schiedenheit Plato, Aristoteles, Plotin, Thomas, Des
cartes, Spinoza, Leibniz, Kant, Hegel, Whitehead — und
auch, falls man die kleineren Geister mit diesen großen
vergleichen darf, die heutigen dialektischen Materia
listen, die offiziellen Parteiphilosophen des Kommunis
mus. Denn, indem diese die Existenz des christlichen
Gottes mit größter Wucht leugnen, pflegen sie gleich
zeitig zu behaupten, die Welt sei unendlich, ewig, un
begrenzt, absolut. Und was noch mehr ist: ihre Haltung
ist, wie jeder leicht feststellen kann, in manchem typisch
religiös. Die Frage lautet also nicht, ob es einen Gott
gibt, sondern: ob er eine Person, ein Geist ist. Das mag
merkwürdig scheinen, aber es ist schon so. Vielleicht
gibt es hie und da einige wirkliche Leugner des Ab
soluten; sie sind jedenfalls sehr selten und ohne größere
Bedeutung. Die umstrittene Frage ist nicht, ich wieder
hole, ob Gott existiert, sondern wie wir Ihn uns denken
sollen.
J15
" i
In dieser Hinsicht kann man nun die Philosophen in
zwei Klassen teilen nach der Methode, die sie ge
brauchen, um Gottes Dasein zu begründen. Ich werde
die ersten „Intuitionisten", die zweiten „Illationisten"'
nennen, obwohl beide Namen nicht ganz zutreffend
sind. Die Intuitionisten meinen, Gott, das Absolute,
sei in irgendeiner Weise direkt gegeben. Wir begegnen
ihm in unserer Erfahrung. Man muß gestehen, daß
solche Philosophen ziemlich selten sind, oder besser, daß
sie selten zugestanden haben, daß sie eine solche Lehre
halten. Doch würde dies für die genannten kommu
nistischen Philosophen wohl stimmen — einen Beweis
nämlich, daß es eine unendliche und ewige Materie gibt,
haben sie nie erbracht, sie scheinen also eine direkte Er
kenntnis davon zu besitzen. Der berühmte französische
Vo n d e n r e i n e n I n t u i t i o n i s t e n m u ß m a n d i e D e n k e r
11 6
sei eine Einsicht in das endlich Seiende, die so geartet
ist, daß sie das Unendliche zu erfassen erlaubt. Und
dann würde der Unterschied zwischen dieser Haltung
und jener der ausgesprochenen Illationisten vielleicht
nicht so groß sein, wie man es zuerst meinen könnte.
Der Illationisten gibt es wieder zwei Arten. Einige
unter ihnen — so der heilige Anselm von Canterbury,
Descartes, Spinoza, Hegel und manche andere — meinen,
man könnte Gottes Existenz a prioru ohne Bezug auf
die Erfahrung des endlich Seienden, sozusagen aus dem
bloßen Denken, erschließen. Wie man aus der Definition
eines Dreieckes seine Eigenschaften ableitet, ganz un
abhängig davon, ob es in der Welt Dreiecke gibt oder
nicht, so könnte man auch Gottes Existenz erschließen.
Dieser Beweis wurde aber durch Thomas von Aquin
und dann durch Kant widerlegt, und zwar mit einem
so großen Erfolg, daß er heute nur selten vertreten
wird.
11 7
Gesetzt, es gäbe in der Welt einen Drang zum Neuen,
so ist es nodi nicht einzusehen, warum dieses Neue ge
rade so und nicht anders geartet sein sollte. Selbstver
ständlich kann man sagen, daß es solche und nicht an
dere Naturgesetze gibt, die bestimmen, die verursachen,
daß der Apfel gerade rot oder gelb, nicht aber blau
wird. Aber damit ist die Frage nur verschoben. Warum
gibt es unter einer unendlichen Zahl von möglichen
Naturgesetzen gerade solche? Warum folgt die Ent
wicklung der Welt solchen Wegen und nicht anderen?
Darauf kann man selbstverständlich sagen — und es
wurde öfters gesagt —, daß wir darüber keine Antwort
geben können. Whitehead verwirft aber diese Haltung
ganz entschieden. Der Philosoph, sagt er, ist da, um
rational zu verstehen, um zu erklären. Er muß seinem
Wesen nach voraussetzen, daß es Erklärungen gibt, daß
Vernunft in der Welt waltet. Das ist ja die Grund
voraussetzung der Wissenschaft — der Unterschied
zwischen der Philosophie und den Einzel Wissenschaften
besteht nur darin, daß die Philosophie den Rationalis
mus ohne Einschränkungen anwendet, weit über die
Grenze, die den Einzelwissenschaften genügt.Der Philo
soph, so sagt Whitehead, hat das Recht und die Ver
pflichtung, immer zu fragen: Warum?
Und dann kommt man zur Feststellung, daß es einen
Gott geben muß — eine Macht über die Welt, welche
gerade den Gang der Welt bestimmt, und zwar eine
unendliche Macht. Er nennt sie „das Prinzip der Kon-
kretisation" — den Grund, weswegen die Sachen so
sind, wie sie sind, und nicht anders.
Dahinter steht wohl noch die folgende Überlegung,
die durch Whitehead selber nicht formuliert wurde, die
aber hier grundlegend ist: Warum, so fragte man, ist
11 8
eine Welt überhaupt, und gerade diese Welt, nicht eine
andere? Denn in ihr gibt es keinen Grund dazu. Nur
dann würde sie sich sozusagen selbst begründen, wenn
sie das Absolute wäre. Dann wäre aber auch das Abso
lute gegeben. Wir sind also in jedem Falle gezwungen,
ein solches anzunehmen.
11 9
zu formulieren gewußt: man muß, sagt er, zwischen
Gott und der Absurdität wählen. Und dann wählt er
selbst das Absurde, das Sinnlose. Es sei mir erlaubt,
hier am Rande zu bemerken, daß einer, der diesen Ge
dankengang von Sartre kennt, ihn unmöglich als bloßen
„Existentialisten", wie man sagt, kennzeichnen kann.
Sartre ist sicher ein Metaphysiker hoher Klasse. Auch
wenn er irrt, irrt er auf einer Ebene, die viele andere
gar nicht erreicht haben.
Jedoch wehren sich viele Philosophen gegen die An
nahme der Sinnlosigkeit in der Welt. Hat es, so fragen
sie, überhaupt einen Sinn, noch zu philosophieren, hat
irgendeine philosophische Erklärung noch eine Berech
tigung, wenn alles, was real ist, unsinnig sein soll? Und
ist es so, dann kann und soll ein Philosoph eher die Exi
stenz Gottes annehmen — trotz der furchtbaren Schwie
rigkeiten, die sie mit sich bringt —, als mit Sartre sich
zum Absurden zu bekennen.
Warum diese Schwierigkeiten? Ein Gläubiger, auch
ein gläubiges Kind, kennt ja keine Schwierigkeiten, an
Gott mit Liebe zu denken. Es ist ein vertrauter, klarer
Gedanke, so groß und erhaben auch Gott erscheinen
könnte. Aber der Philosoph ist in einer anderen Lage.
Gott ist für ihn nicht ein Gegenstand der Liebe und der
Verehrung, sondern des Denkens. Der Philosoph ver
sucht, muß versuchen, ihn zu verstehen.
Und hier taucht gleich als erste und fundamentale
Schwierigkeit die Einsicht auf, daß Gott von allem an
deren ganz, vollständig verschieden sein muß. Er muß
real sein, und doch in gewissem Sinne die Kennzeichen
des Idealen haben; denn er ist seinem Wesen nach not
wendig wie das ideal Seiende, also auch ewig, überzeit
lich, überräumlich — und doch individuell in gewissem
12Ü
Sinne des Wortes — ja mehr individuell als irgend
etwas anderes —, vollständig in sich geschlossen, leben
dig in einem Grade, den wir uns nicht vorstellen können.
Wir müssen ihm logisch alle jene Eigenschaften zu
schreiben, die wir als höchste Formen des Seienden hier
finden — also etwa die Geistigkeit, die Persönlichkeit,
undsoweiter. Gleichzeitig ist es aber unmöglich, irgend
etwas von ihm so auszusagen, daß unsere Worte den
selben Sinn dort hätten wie in der Beziehung auf die
Geschöpfe. Ja, auch wenn wir sagen, daß Gott ist, muß
dieses »isV' etwas anderes meinen als bei uns.
191
Weg nicht nur möglich ist, sondern auch wenigstens
skizzenhaft vorliegt. Es ist die Analogie-Lösung des
heiligen Thomas von Aquin. Ich kann sie hier nicht
weiter erörtern, möchte nur darauf aufmerksam machen,
daß wir heute, dank der Errungenschaften der mathe
matischen Logik, imstande sind, sie besser als je zu
formulieren und zu verstehen.
122
sondern über dem Geschöpflichen — es ist ein anderes
Sein und eine andere Wirkung.
Und dann noch die religiöse Frage. Kann der Gott
der Philosophen — das Unendliche, Notwendige, alles
begründende Seiende — derselbe Gott sein wie der
liebevolle Vater und Erlöser der Christen, die mit ihm
im Gebet zu sprechen glauben? Der Gott der Religion
unterscheidet sich vom Weltgrund der Metaphysiker in
einem entscheidenden Zug: er ist das Heilige. Was das
Heilige ist, kann niemand genau sagen, so wenig
einer sagen kann, was eigentlich ein Farbiges oder ein
Schmerzliches ist. Aber das Heilige ist im menschlichen
Bewußtsein, in der Erfahrung des Betenden gegeben —
es steht klar vor den Augen seines Geistes. Fällt dieses
Heilige mit der Unendlichkeit des Weltgrundes zu
sammen? Gibt es überhaupt eine Brücke zwischen dem,
was wir durch die Vernunft in der Philosophie erreichen
können, und dem Gegenstand der Verehrung und Hoff
nung, dem Prinzip der Liebe, welches die Religion ver
kündet?
19.S
Philosophie. Daraus, so meinen sie, folgt aber nicht, daß
der Gegenstand der philosophischen Gotteslehre in
irgendeinem Punkt mit dem Gott der Religion im
Widerspruch stehen sollte. Ein solcher Punkt ist tat
sächlich nicht aufzuweisen. Alles, was wir philosophisch
über Gott sagen können, wird auch ein religiöser Mensch
anerkennen; nur weiß er über ihn viel mehr als die
größten unter den Metaphysikern. Der Gegensatz be
steht nicht im Gegenstand, sondern in der Haltung des
Menschen. Der Philosoph schaut nach Gott als nach einer
vernünftigen Erklärung der Welt. Gott ist ihm not
wendig, nicht um ihn anzubeten, sondern um seinen
Rationalismus zu wahren: seine Annahme ist nichts an
deres als ein rücksichtsloses Bekenntnis zur Erklärbar
keit des Seienden, und wenn man hier von einem Glau
ben sprechen darf: der einzige, der vorausgesetzt ist, ist
d e r G l a u b e a n d i e Ve r n u n f t . Vo n e i n e r L i e b e z u G o t t
kann hier keine Rede sein — und wenn Spinoza von
einer vernünftigen Liebe Gottes sprach, dann meinte er
nur die Erkenntnis.
124
mag: daß sie sich selbst treu bleibt. In dieser Frage, wie
in allen anderen, erweist sie sich als lebensbildend und
fruchtbar nur, wenn sie durch einen echten Willen des
Verstehens und eine feste Haltung an die Vernunft ge
tragen wird. Denn die Philosophie ist nichts anderes
als die menschliche Vernunft ohne jede Rücksicht, ohne
jede Grenze, mit aller Kraft, deren wir fähig sind, auf
die Erklärung der Welt angewandt.
Kleines Philosophisches
Wörterbuch
Herausgegeben von Max Müller und Alois Halder
Herderbücherei Band 398, 344 Seiten, 8. Aufl.
Herderbücherei
J. M. BOCHENSKI
Formale Logik
3. Auflage
XXIII und 646 Seiten, 4 Tafeibeilagen. Leinen. ISBN 3 495 44115 8
(=Orbis academicus. Problemgeschichten der Wissenschaft
in Dokumenten und Darstellungen, Band III/2)
Logisch-philosophische Studien
Aufsätze von J. M. Bochenski, P. Banks, A. Menne und I. Thomas
Übersetzt und herausgegeben von A. Menne
VITI und 152 Seiten. Leinen. ISBN 3 495 47067 0