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Jörg Dünne

DIE KARTOGRAPHISCHE IMAGINATION

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periplous

Münchener Studien zur Literaturwissenschaft

Herausgegeben von

Tobias Döring, Martin von Koppenfels,


Inka Mülder-Bach und Robert Stockhammer

Periplous (períplouV, pl. períploi). Umschiffung, Küstenfahrt, aber auch schrift-


liche Navigationshilfe, welche Häfen sowie die Richtungen und Entfernungen zwi-
schen diesen auflistet. Die frühesten Exemplare sind für das 5. Jahrhundert v. Chr.
bezeugt.

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Jörg Dünne

DIE
KARTOGRAPHISCHE
IMAGINATION

Erinnern, Erzählen und Fingieren


in der Frühen Neuzeit

Wilhelm Fink

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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung
des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG-WORT

Umschlagabbildung:
Detail aus der Atlantikkarte von Pedro Reinel
(Mappa Europae cum partibus Africae, Asiae nec non Americae Septentr. ca. 1502).
Bayerische Staatsbibliothek, Cod.icon. 132.

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© 2011 Wilhelm Fink Verlag, München


(Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)

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Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München


Printed in Germany
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn

E-Book ISBN 978-3-8467-5149-7


ISBN der Printausgabe 978-3-7705-5149-1
INHALTSVERZEICHNIS

VORWORT:
DIE SCHRECKEN KARTOGRAPHISCHER IMAGINATION. . . . . . . 9

I. RAUM, KARTE UND TEXT IN DER FRÜHEN NEUZEIT. . . . . . 15

1. RAUMKONSTITUTION . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
a) Raumkonstitution als doppelte Artikulation . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
b) Raumgeschichte der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

2. KARTOGRAPHIE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
a) Zur Geschichte der frühneuzeitlichen Kartographie . . . . . . . . . . . . 35
b) Kartensemiotik und doppelte Artikulation: Bild – Schrift – Zahl. . 37
c) Zur doppelten Operationalität von Karten in der Iberischen Welt . . 42

3. GEOGRAPHISCHE UND KARTOGRAPHISCHE IMAGINATION . . . . . . . . . . 44


a) Imaginäre Geographien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44
b) Kartographische Imagination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
c) Zur Geschichte kartographischer Imaginationspraktiken . . . . . . . . 48

4. KARTEN UND TEXTE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59


a) Kartographisches Schreiben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
b) Karten als Imaginationsmatrix . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66

5. VON DER GEOGRAPHIE ZUR LITERATUR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71


a) Zur Trias von Chorographie, Geographie und Kosmographie . . . . 72
b) Chorographie: Topographien der Erinnerung und Chroniken . . . . 79
c) Geographie: Erzählen und Schiffbruchberichte . . . . . . . . . . . . . . . 81
d) Kosmographie: Fingieren und der Abenteuerroman . . . . . . . . . . . . 84

II. GARCILASO UND DIE ERINNERUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

1. RÄUME UND KARTEN DER ERINNERUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93


a) Der Raum der Mnemotechnik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94
b) Räume als Mnemotope . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96

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6 INHALTSVERZEICHNIS

2. GARCILASOS TRANSLATIONSDENKEN. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101


a) Translatio imperii: Eine Logik der Überbietung . . . . . . . . . . . . . . . 102
b) Translatio fidei: Eine Logik der Anspielung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
c) Translatio studii: Eine Logik der Supplementarität . . . . . . . . . . . . . 111

3. DIE BESCHREIBUNG CUZCOS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118


a) Cuzco beschreiben im 16. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
Cuzco in frühneuzeitlichen Drucken – Karten Cuzcos in Handschriften –
Eine indigene Kartographie Cuzcos?
b) Garcilasos Kartographie der Erinnerung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
Deixis und Phorik: Ein intratextueller Knotenpunkt – Kartographische
Matrix und methodische Rasterung – Erinnerungskatastrophen:
Die vier Höfe
c) Von der Karte zur Inszenierung des Raums: Fronleichnam
in Cuzco . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
Chor(e)ographien des politischen Körpers – Der Kopf des Inka –
Der Text als huaca

III. SCHIFFBRUCH UND ERZÄHLUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175

1. RAUM, KARTE UND ERZÄHLUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179


a) Carte und parcours . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180
b) Karte und Sujet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182
c) Möglichkeitsbedingungen kartographischer Narration . . . . . . . . . . 187

2. NAVIGATION UND AUFZEICHNUNGSTECHNIKEN . . . . . . . . . . . . . . . . . 188


a) Logbücher und roteiros. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188
b) Portolankarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191
c) Hohe See und die Krise der technischen Aufzeichnung . . . . . . . . . 194

3. DER SCHIFFBRUCH ZWISCHEN KONTINGENZ UND SUPPLEMENTÄRER


PROVIDENZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
a) Schiffbruch und Wunder bei Fernández de Oviedo . . . . . . . . . . . . 201
b) Mit der São Paulo auf einer nicht kartierten Route . . . . . . . . . . . . 204
Henrique Dias und die Kritik am Piloten – Die Weite des Meeres:
Vertikale und horizontale Ereignisse – Orientierung erzählt und erlebt:
Blutige Verortung

4. SCHIFFBRUCH UND DIE GEBURT DER ERZÄHLERSTIMME . . . . . . . . . . . 216


a) Schiffbrüche auf Karten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216
Kartenbilder von Schiffen und Schiffbrüchen – Zur Vermittlung von Bild
und Text auf Navigationskarten
b) Zur Geburt des Erzählens aus dem Schiffbruch . . . . . . . . . . . . . . . 227

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INHALTSVERZEICHNIS 7

c) Die Lusíadas als Kind des Schiffbruchs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232


Eine sprechende Kartenlegende: der Adamastor – Thetys und das
imaginierte Imperium – Luís de Camões und der Schiffbruch des Textes

IV. CERVANTES UND DIE FIKTION . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241

1. KARTEN UND FIKTION . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245


a) Reflexive und regulative Fiktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245
b) Fiktionalität und kartographische Imagination. . . . . . . . . . . . . . . . 250
c) Wahrscheinlichkeit und Räume des Wunderbaren . . . . . . . . . . . . . 254

2. APISTA JENSEITS VON THULE: FIKTIVE RÄUME ALS INDIFFERENZZONE . 263


a) Ränder und Inseln: Zur Imagination des Nordens vor Cervantes . . 265
Antonius Diogenes – Nicolò Zeno – Insularien – Olaus Magnus
b) Cervantes und die Carta marina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
Die Carta marina als Erzählmatrix – Karten, Wunder und Wahrschein-
lichkeit
c) Im Eismeer: Glatte Räume und regulative Werte . . . . . . . . . . . . . . 291

3. GEOGRAPHIE, KARTOGRAPHIE UND FIKTIONALITÄT . . . . . . . . . . . . . . 298


a) Karte, Erzählung, Text: Der lienzo der Pilger . . . . . . . . . . . . . . . . . 303
Der lienzo als Karte – Die Karte als Matrix: Zur Proliferation medialer
Repräsentationen
b) Karte, Lüge und Fiktion: Der lienzo der „falsos cautivos“ . . . . . . . . 315
c) Identitätsfiktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323
Politiken der Pilgerschaft bei Lope de Vega – Politische Räume ohne
Souverän

4. KOSMOGRAPHIE UND REGULATIVE FIKTION: ROM . . . . . . . . . . . . . . . 338


a) Vom Gottesstaat zur Bilderkammer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342
b) Rom, der gestirnte Himmel und die Suche nach dem Zentrum . . . 348
Das fehlende Zentrum Roms – Rom und die kosmischen Projektionen –
Auristela als „estrella fija“ und „estrella errática“

SCHLUSSWORT: JENSEITS DER KARTE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369

Übersetzungen fremdsprachlicher Zitate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379


Danksagungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405
Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411
Personenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439

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VORWORT
DIE SCHRECKEN
KARTOGRAPHISCHER
IMAGINATION

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Der portugiesische Historiker João de Barros beschreibt im sechsten Buch seiner
ersten, 1552 erschienenen Dekade über die Geschichte Asiens die Gefahren der
Indien- und Brasilienschifffahrt, wie sie auch nach den ersten Entdeckungsreisen
von Vasco da Gama und Pedro Álvares Cabral weiter bestehen. Dabei kommt er
auf folgende Imaginationsszene zu sprechen:
E ainda a muitos, vendo sòmente na carta de marear ~ua tam grande costa de terra
pintada, e tantas voltas de rumos que parecia rodearem as nossas naus duas vezes o
mundo sabido, por entrar no caminho doutro novo que queríamos descobrir, fazia
nêles esta pintura ~ua tão espantosa imaginação, que lhes assombrava o juízo. E se esta
pintura fazia nojo à vista, ao modo que faz ver sôbre os ombros de Hércules o Mundo
que lhe os poetas puseram, que quási a nossa natureza se move com afectos a se con-
doer dos ombros daquela imagem pintada, ¿como se não condoeria um prudente
homem em sua consideração, vêr este reino (de que ele era membro) tomar sôbre os
ombros de sua obrigação um Mundo, não pintado, mas verdadeiro, que às vezes o
podia fazer acurvar com o grã pêso de terra, do mar, do vento e ardor do sol que em
si cointinha; e o que era muito mais grave e pesado que êstes elementos – a variedade
de tantas gentes como nêle habitavam?*1

Diese Passage darf als eine der nachdrücklichsten frühneuzeitlichen Beschreibun-


gen eines Phänomens gelten, das Gegenstand dieser Studie sein wird, nämlich die
kartographische Imagination. Sowohl hinsichtlich des Gegenstandes der Imagina-
tion – die Aneignung der Welt – als auch des Mediums dieser Aneignung – der
Karte – beschreibt João de Barros eine möglicherweise für die gesamte Frühe Neu-
zeit prägende Form der Verknüpfung von Raum- und Mediengeschichte.
Raumgeschichtlich geht es um die Vorstellbarkeit des umfassendsten aller nur
denkbaren geographischen Räume, der ‚Welt‘, die im Zeitalter der Entdeckungen
immer weniger als abgegrenzter Kosmos, sondern zunehmend als offener Horizont
gedacht wird: Symptomatisch für diese Öffnung taucht in der zitierten Passage
neben der bekannten Welt, dem „mundo sabido“, eine neue Welt („outro novo
[mundo]“) auf, was im Kontext der Decadas nicht nur auf Amerika verweist, son-
dern auf die Geschichte der terrestrischen Globalisierung überhaupt. Über diese
räumliche Öffnung hinaus geht es João de Barros aber letztlich darum, diese proli-
ferierenden Welten („mundos“) zu einer umfassenden Welt („Mundo“) zusam-
menzufassen. Die Vorstellung einer Ganzheit von Welt in Zeiten der Proliferation

1 Barros (1945) I, VI/1, 224. Um den Fußnotenapparat nicht zu groß werden zu lassen, werden
alle Übersetzungen längerer, mit „*“ markierter fremdsprachlicher Zitate im Anhang dieser Stu-
die wiedergegeben.

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12 VORWORT

neuer Welten ist aber nicht voraussetzungslos, sondern bedarf spezieller Medien,
um vorstellbar zu sein.
In diesem medienhistorischen Zusammenhang tritt die Kartographie auf den
Plan. Für viele seiner Zeitgenossen, so João de Barros, genüge es offensichtlich, sich
die Entdeckung einer neuen Welt auf einer Navigationskarte vorzustellen, um ihre
Urteilskraft in Erschütterung zu versetzen („lhes assombrava o juízo“). Die erschre-
ckende Vorstellung („espantosa imaginação“) einer offenen Welt, die durch Karten
repräsentiert wird, ruft bei deren Betrachtern sogar körperliche Abwehrreaktionen
(„nojo“) hervor. Die Wahrnehmung einer zweidimensionalen Karte ist dabei auf
eine dreidimensionale Wirklichkeit bezogen. Um die Intensität der kartographisch
erzeugten Weltwahrnehmung zu schildern, versieht de Barros die Referenz von der
Karte auf die ‚wirkliche‘ Welt mit einem Zwischenschritt und greift dazu auf den
Mythos von Herkules und Atlas zurück: Die Ansicht der Welt in einer zweidimen-
sionalen Karte verursacht den Augen ein ähnliches Unwohlsein wie das Gewicht
der Weltkugel, die Herkules in dem Moment, als er sie Atlas abnimmt, auf seinen
Schultern zu spüren bekommt. Von hier aus wird nach Ansicht des Sprechers deut-
lich, wie groß die Last der Welt für das portugiesische Reich sein müsse, das eine
solche Last nicht nur in Form eines poetisch ausgemalten Mythos, sondern ‚tat-
sächlich‘ erfahre.
Auch wenn de Barros die Erfahrung der ‚wirklichen‘ Welt als Ziel setzt, ist es
bezeichnend, dass es ausgerechnet die Wahrnehmung einer Karte ist, die als auslö-
sendes Moment für die Erzeugung von Welt-Vorstellungen in höchster sinnlicher
Intensität auftritt. Damit wird eine ganz besondere Macht der Karte aufgerufen,
die sich nicht in ihrer Funktion bei der Entdeckung und Eroberung erschöpft,
sondern die darüber hinaus einen eigenen Vorstellungshorizont produziert. Karto-
graphisch gesteuertes Handeln sowie kartographische Imagination bleiben dabei
jedoch eng aufeinander bezogen: Im Unterschied etwa zum Staunen über wunder-
same Wesen auf mittelalterlichen mappaemundi verbindet sich das Erschrecken des
Kartenbetrachters bei João de Barros mit dem Nachvollzug der pragmatisch ge-
richteten Kartenlektüre, die auch Navigatoren zu Hoher See vornehmen: das Be-
stimmen von Küstenlinien („costa de terra pintada“) oder von wechselnden Schiffs-
kursen („voltas de rumos“) – beide beziehen sich auf Operationen in Portolankar-
ten, mit deren Hilfe Navigatoren ihren Kurs bzw. ihre Position im Verhältnis zum
Festland bestimmen. Statt einer Gegenläufigkeit von Imagination und Erfahrung
zeichnet sich hiermit ein Imaginationsbegriff ab, der aus dem gleichen Medium
hervorgeht, das auch die politische und ökonomische Aneignung dieser Welt in
der Frühen Neuzeit steuert: Sowohl die Imaginierbarkeit als auch die territoriale
Inbesitznahme von ‚Welt‘ – so zumindest die Ausgangshypothese der folgenden
Studie – gründen im 16. Jahrhundert im Medium der Karte.
Die imaginationsbildende Macht der Karte sowie die geopolitische Dynamik
der Globalisierung sind Mitte des 16. Jahrhunderts bei João de Barros, wenn auch
zum rhetorischen Zweck des Lobs des portugiesischen Reichs, noch hauptsächlich
negativ, das heißt als erschreckend dargestellt. Mediengeschichtlich wird sich das
Erschrecken vor den Möglichkeiten der Karte als Vorstellungsmatrix im Laufe der

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DIE SCHRECKEN KARTOGRAPHISCHER IMAGINATION 13

zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu einem Imaginationsdispositiv mit durchaus


positiv beschreibbaren Regeln wandeln, dessen Differenziertheit den Funktionen
der Karte bei der Repräsentation bzw. Aneignung eines Territoriums kaum nach-
steht. Verantwortlich dafür ist insbesondere eine Ausdifferenzierung verschiedens-
ter Kartentypen, die in den einzelnen Teilen dieser Studie näher untersucht wer-
den sollen. Es kann vermutet werden, dass auch die mit dem Herkulesmythos
evozierte poetische Imagination, die de Barros noch als metaphorisches Bindeglied
zwischen der Kartenwahrnehmung und der Wahrnehmung der wirklichen Welt
ansetzt, zunehmend direkt von dieser kartographischen Weltwahrnehmung affi-
ziert wird. Die ‚Bilder‘ der Einbildungskraft, die dabei entstehen, sind möglicher-
weise ebenfalls in immer stärkerem Maß von einer kartographischen Imagination
geprägt, mit der ein zunehmendes Bewusstsein für die irreduzible Medialität von
Imaginationspraktiken einhergeht.
Der hier an einem Beispiel eingeführte Zusammenhang von Karte und Imagi-
nation im Hinblick auf literarische Raumentwürfe der Frühen Neuzeit soll im
ersten Kapitel dieser Studie zunächst allgemein erläutert werden. Die drei anschlie-
ßenden Analysekapitel setzen sich eingehender mit historiographischen und fiktio-
nalen Texten ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts auseinander, die von be-
stimmten Formen kartographischer Imagination geprägt sind.

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I.
RAUM, KARTE UND TEXT
IN DER FRÜHEN NEUZEIT

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Um sinnvoll über die frühneuzeitliche Kartographie als Raummedium sprechen zu
können, das sowohl auf ein Territorium verweist als auch Vorstellungspraktiken
steuert, bedarf es eines Verständnisses von Räumlichkeit, das unterschiedliche
Raumbegriffe der aktuellen kultur- beziehungsweise sozialwissenschaftlichen For-
schung in eine Theorie der medialen Raumkonstitution integriert: Insbesondere
geht es um die Vermittlung zwischen dem physisch-geographischen Raum, der
häufig vor allem in geopolitischen Überlegungen als vorgegeben und mehr oder
weniger determinierend angenommen wird, und einem sozialen Raum, der im
Gegensatz dazu in der aktuellen sozialwissenschaftlichen Debatte vornehmlich un-
ter konstruktivistischen Rahmenbedingungen verhandelt wird. Im Medium der
Kartographie gewinnen, so die Vermutung, die die folgenden einführenden Über-
legungen leitet, die unterschiedlichen Positionen in der aktuellen Raumdiskussion
nicht nur Form, sondern lassen sich auch im Hinblick auf eine Theorie kartogra-
phischer Imagination miteinander in eine produktive Verbindung setzen. Ein sol-
cher Ansatz soll hier mit dem Konzept der ‚doppelten Artikulation‘ vorgestellt wer-
den, das die Voraussetzungen liefert, mit denen Karten in der Frühen Neuzeit
gleichzeitig als Medien der Weltschöpfung und als Instrumente der Territorialisie-
rung dieser Welt hervortreten und in dieser Doppelheit die zeitgenössische histori-
ographische und literarische Imagination nachhaltig prägen.

1. RAUMKONSTITUTION

Es hat sich in den letzten Jahren im Anschluss an Henri Lefebvre eingebürgert, von
der kulturellen „Produktion“ des Raums zu reden1 – ein Sprachgebrauch, der die
neue kulturwissenschaftliche Aufmerksamkeit auf Raumfragen als historisch verän-
derliche Kategorie wesentlich geprägt hat, der aber vermutlich ebenso viele Proble-
me schafft, wie er zu lösen vorgibt. Die sich mit der Auffassung des Raums als
Produkt verbindende Schwierigkeit ist dem Marxisten Lefebvre nicht verborgen
geblieben, und so unterscheidet er den Raum als Produkt einer sozialen Praxis ex-
plizit von Produkten im ‚materiellen‘ Sinn, für die der physische Raum, z.B. als

1 Lefebvre (1974).

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18 RAUM, KARTE UND TEXT IN DER FRÜHEN NEUZEIT

Rohstofflieferant, nur Produktionsbedingung darstellen würde.2 Als Grundlage


dieser Unterscheidung nimmt Lefebvre einen historischen Prozess der zunehmen-
den Entfernung kultureller Räume von der ursprünglichen physischen Natur an.
Die These der sozialen Produziertheit hat vor allem in neueren sozialwissenschaft-
lichen Raumtheorien großen Anklang gefunden.3 Der konstruktivistische Ansatz
dieser Theorien klammert dabei die Frage nach einer entfernten physischen Grund-
lage, von denen sich nach Lefebvre der soziale Raum immer weiter wegbewegt,
komplett zugunsten eines „Monismus“ des sozialen Interaktionsraums aus, wie
dies beispielsweise Martina Löw formuliert.4
Gegen diese konsequent konstruktivistische sozialwissenschaftliche Sicht auf
Raum regt sich jedoch Widerstand aus einer Perspektive, die den physischen Raum
in seiner Territorialität weder als unbeobachtbar noch, wie Lefebvre dies annimmt,
als im Verschwinden begriffen sieht. Vielmehr geht diese Sicht von einer „Perma-
nenz“ des Raums in seiner Territorialität aus, die anhand aktueller globaler politi-
scher Ereignisse immer deutlicher die vor allem in der Postmoderne popularisierte
Annahme vom Verschwinden des Raums als Illusion entlarvt.5 Hintergrund einer
solchen Sichtweise ist der Rückgriff auf die in Deutschland lange aufgrund ihrer
Nähe zum Nationalsozialismus verpönte6 Geopolitik: Insbesondere die Schriften,
die Carl Schmitt der geopolitischen Weltordnung widmet, in welcher räumliche
Territorialität begründenden Charakter hat, haben hierbei in letzter Zeit gesteiger-
te Aufmerksamkeit erfahren.7 Diese andauernde Frontstellung zwischen zwei
grundsätzlich verschiedenen Positionen, Raum zu denken, zeigt, dass die in Henri
Lefebvres Formulierung angelegte Grundschwierigkeit, die Kategorie des ‚Raums‘
in seiner Natürlichkeit oder kulturellen Produziertheit, in seiner Vorgängigkeit
oder Nachrangigkeit gegenüber sozialen Praktiken, als unhintergehbaren Kollek-
tivsingular oder als Vielfalt unterschiedlicher ‚Räume‘ angemessen zu situieren.
Diese Schwierigkeit begleitet den bisherigen Verlauf der Debatte um den so ge-
nannten spatial turn.8 Will man diese Schwierigkeit auflösen, kommt man nicht
umhin, den sozialen Raumkonstruktivismus, der sich ausgehend von Lefebvre ent-
wickelt hat, zu hinterfragen, ohne dabei in eine geodeterministische Position zu
verfallen. Es wird daher im Rahmen einiger grundlegender kulturanthropologi-
scher Überlegungen zu zeigen sein, wie Räumlichkeit jenseits von sozialkonstruk-
tivistischen und geodeterministischen Ansätzen gedacht werden kann – damit ver-
bunden ist ein bestimmtes Konzept von Medialität, das einen ersten allgemeinen

2 Vgl. dazu ebd., v.a. 39f.


3 Vgl. Löw (2001).
4 Vgl. ebd., 263-273.
5 Vgl. zur postmodernen „Bagatellisierung“ des Raums insbes. Maresch/Werber (2002).
6 Vgl. zur Wiederkehr geopolitischer Fragestellungen u.a. Osterhammel (1998) sowie – weitge-
hend affirmativ hinsichtlich der Wiederbelebung der damit verbundenen humangeographischen
deutschen Tradition seit Friedrich Ratzel – Schlögel (2003). Vgl. kritisch zum Anschluss Carl
Schmitts an diese Tradition Raffestin/Lopreno/Pasteur (1995) und Köster (2002).
7 Vgl. v.a. Schmitt (1997) und Schmitt (1995).
8 Vgl. dazu insbes. Döring/Thielmann (2008).

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RAUMKONSTITUTION 19

theoretischen Rahmen dieser Studie abstecken soll, der in der Folge mit Blick auf
frühneuzeitliche Karten und literarische Texte zunehmend eingegrenzt wird.9

a) Raumkonstitution als doppelte Artikulation


Auf die Frage, wie Territorialität und Zeichenhaftigkeit der Raumkonstitution in
einer grundlegenden Theorie der Medialität von Raum10 miteinander zu verknüp-
fen sind, ohne diese Relation nach einer Seite als begründendem Terminus aufzu-
lösen, antworten Gilles Deleuze und Félix Guattari in einer ihrer gemeinsamen
Schriften, die man als Grundlegung einer kulturellen Medientheorie des Raums
verstehen kann: Es geht um den zweiten Band ihrer Kritik der Psychoanalyse Ca-
pitalisme et schizophrénie, die unter dem Titel Mille plateaux erschienen ist.11 Ent-
scheidend ist dabei nicht die Art, wie Deleuze und Guattari mit Begriffen und
Medien der Räumlichkeit selbst umgehen – so verwenden sie zum Beispiel den
Ausdruck ‚Karte‘ im weitgehend abstrakt-topologischen Sinn eines Diagramms,12
das Relationen zwischen theoretischen Ebenen verdeutlichen soll, und auch ihre
geologische Metaphorik impliziert keine deterministisch-erdgeschichtlichen Prä-
missen, sondern entwirft eine Theorie-Topologie. Entscheidend ist hier vielmehr,
wie sie für eine Gleichursprünglichkeit von semiotischen Raum-Bezeichnungen
und territorialen Raum-Beherrschungen, von Raum-Ordnung und Ortung plädie-
ren und dabei auf dem Konzept der so genannten „doppelten Artikulation“ („dou-
ble articulation“) aufbauen, das sie über ein ihrer Meinung nach zu enges linguis-
tisches Verständnis hinaus auf anthropologische Fragestellungen zurückführen.
Das dritte Kapitel von Mille plateaux, das der „géologie de la morale“ gewidmet
ist, führt als zentralen Begriff die am Bild eines Hummers mit seinen zwei Scheren

9 Vgl. zur Skizzierung der Diskurstraditionen im Hinblick auf soziale und politische Räume bereits
die Einleitungstexte IV und V in Dünne/Günzel (2006), 289-303 und 371-385.
10 Die Medialität als Grundeigenschaft der Raumkonstitution ist hierbei von der Untersuchung der
Eigenheiten bestimmter medialer Dispositive zur Raumkonstitution zu unterscheiden – um die
Grundlagen des Raummediums Kartographie wird es im nächsten Teilkapitel dieser Einleitung
gehen.
11 Deleuze/Guattari (1980). Vgl. außerdem auch Deleuze/Guattari (1991), v.a. das Kapitel „Géo-
philosophie“, 82-108. Vgl. zum Raumdenken bei Deleuze und Guattari grundlegend Antonioli
(2003) sowie Günzel (2005). Es ist nicht zu leugnen, dass Deleuze und Guattari ihre Mille pla-
teaux als eine Metatheorie konzipieren, die nicht nur über kulturelle Topographien, sondern über
die grundlegende Topologie jeder nur denkbaren Kulturtheorie zu sprechen beabsichtigt (und
die sich somit u.a. als eine Kritik jener anderen psychoanalytischen Topologie des Begehrens
versteht). Es scheint jedoch, dass diese topologische Metatheorie heuristisch besonders fruchtbar
wird, wenn sie zur Beschreibung topographischer Phänomene herangezogen wird oder – in De-
leuze’ und Guattaris eigenen Worten – „reterritorialisiert“ wird.
12 Vgl. dazu insbes. Deleuze/Guattari (1980), 20f, wo sie die performative „carte“ dem in einer fes-
ten Struktur stillgestellten „calque“ gegenüberstellen – geographische Karten im engeren Sinn
gehören wohl eher zur letzteren Kategorie, was nicht ausschließt, dass sie performative Effekte
erzeugen, um die es in dieser Studie gehen soll.

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20 RAUM, KARTE UND TEXT IN DER FRÜHEN NEUZEIT

erläuterte „double articulation“ ein13 – ein Ausdruck, der vor allem in der Linguis-
tik gängig ist und dort nach André Martinet die doppelte Zerlegbarkeit natürlicher
Sprachen in Morpheme (nach Martinet: „Moneme“) als kleinste bedeutungstra-
gende Einheiten und in Phoneme als kleinste bedeutungsunterscheidende, aber
selbst nicht mit einer eigenen Bedeutungs-‚Substanz‘ versehene, sondern rein for-
male Einheiten bezeichnet.14 Deleuze und Guattari verstehen jedoch die doppelte
Artikulation im linguistischen Sinn als bloßen Spezialfall einer sehr viel allgemei-
neren Unterscheidung, die sich im Anschluss an Louis Hjelmslev nicht in erster
Linie mit der Unterscheidung von Form und Substanz, sondern mit der Unter-
scheidung von Inhalt und Ausdruck beschreiben lässt und damit – so zumindest
Deleuze und Guattari – über die linguistische Perspektive hinausführt15 zu einer
grundlegenden organischen Realität, die die beiden Autoren wiederum sehr allge-
mein mittels geologischer Metaphorik als die Ebene der „Stratifizierung“ beschrei-
ben.16 Indem Deleuze und Guattari die doppelte Artikulation von Zeichen hin-
sichtlich des Inhalts und des Ausdrucks an Grundbedingungen der Erscheinung
allen organischen Lebens zurückbinden, reden sie jedoch keinem determinieren-
den Naturalismus oder Biologismus das Wort, sondern betonen, dass erst die dop-
pelte Artikulation die Art und Weise darstellt, wie alles organische und insbeson-
dere das menschliche Leben überhaupt raumzeitliche Realität gewinnt – ihr geht
eine nicht stratifizierte und daher auch weder formal noch inhaltlich näher be-
schreibbare Intensität voraus, die in der Terminologie der Autoren als „Konsistenz-
plan“ („plan de consistance“) bezeichnet wird. Dieser räumlichen Intensität ohne
feste Struktur entspricht auf biologischer Ebene der „corps sans organes“ („organ-
lose Körper“).17
Deleuze und Guattari beschreiben im Rahmen ihres Kapitels menschlichen
Raumbezug in Form der doppelten Artikulation näherhin im Rückgriff auf den
französischen Anthropologen André Leroi-Gourhan, der in seinem Hauptwerk Le
geste et la parole den menschlichen Raum- (und Zeit-)Bezug als Ko-Evolution eines
gestisch-technischen und eines sprachlich-symbolischen Weltverhältnisses ver-
steht.18 Diese evolutionsbiologisch begründete doppelte Artikulation wird nach
Leroi-Gourhan möglich durch den aufrechten Gang des Menschen und durch die
damit korrespondierende Aufspannung eines Relationsfeldes zwischen der Hand,
deren Gesten den Werkzeuggebrauch und somit einen technischen Weltbezug er-

13 Vgl. Deleuze/Guattari (1980), 53-94, hier 53.


14 Vgl. Martinet (1965).
15 Vgl. zur Kritik am Imperialismus der strukturalen Linguistik, die auch die außersprachliche Welt
nach Maßgabe des Verhältnisses von Signifikant und Signifikat zu interpretieren versucht, De-
leuze/Guattari (1980), 85-87: Hjelmslev ist demnach „der einzige Linguist, der wirklich mit dem
Signifikanten und dem Signifikant breche“ („le seul linguiste qui rompe réellement avec le signi-
fiant et le signifié“, ebd., 85, FN 27).
16 Vgl. ebd., 58f.
17 Vgl. zum „plan de consistance“ ebd., 15/53, zum „corps sans organes“ ebd., 53/58 sowie Kap. 6
(185-204). Dabei sollen hier die evolutionsbiologischen Überlegungen der beiden Autoren, die
vor allem im Anschluss an den Biologen François Jacob entwickelt werden, ausgespart bleiben.
18 Leroi-Gourhan (1964); vgl. dazu auch Nitsch (2004).

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RAUMKONSTITUTION 21

möglichen, und dem Gesicht, das mit Auge und Mund sprachliche Zeichen arti-
kulieren beziehungsweise technische Gesten als solche wahrnehmen kann. Der
über die Hand bewerkstelligte gestische Weltbezug entspricht dabei der ersten Ar-
tikulation auf der Inhaltsebene, der über den Mund herbeigeführte sprachliche
Weltbezug entspricht der zweiten Artikulation auf der Ausdrucksebene.19 In der
ersten Artikulation konstituiert sich das, was Deleuze und Guattari die „machine
sociale“ nennen. Im Hinblick auf Raumfragen sind auf dieser Ebene die Macht-
techniken des Raums auf einer pragmatischen Ebene anzusiedeln. Die zweite Arti-
kulation bringt eine „machine sémiotique“ und somit semiotische Regime der
Räumlichkeit mit ihrer Verknüpfung von syntaktischen Zeichenbezügen und se-
mantischen Zeichenbedeutungen hervor.20 Erst in der rekursiven Verknüpfung
von Geste und Wort – beziehungsweise von Pragmatik und Semiotik – zu Opera-
tionsketten, bei denen Worte Gesten steuern und umgekehrt diese auf die Sprache
rückwirken,21 kann sich eine konkrete Räumlichkeit ‚artikulieren‘, die nach Deleu-
ze/Guattari nicht durch die statische Opposition von Territorium und dessen sym-
bolischer Repräsentation, sondern durch das dynamische Verhältnis zwischen Ter-
ritorialisierung, „Deterritorialisierung“ und „Reterritorialisierung“ geprägt ist.22
Dabei entstehen auch in medialer Hinsicht komplexe Formen der Überlagerung
von Geste und Sprache, wenn zum Beispiel aus der Tätigkeit der Hand die schrift-
liche Aufzeichnung erwächst, die als Alphabetschrift mit der Sprache des Mundes
verknüpft werden, aber auch davon unabhängige ‚operationale‘ Funktionen voll-
führen kann.
Im Verhältnis zu anderen bekannten Grundlegungen von Räumlichkeit und
Medialität bietet das hier mit Deleuze und Guattari skizzierte medienanthropolo-
gische Grundmodell23 entscheidende Vorteile: Als Raumtheorie vermeidet es eine
Festlegung auf eine geodeterministische Position, die von der prägenden Rolle des
Territoriums für symbolische Operationen ausgeht. Während etwa Carl Schmitt
annimmt, dass eine territoriale Ortung letztlich der Konstitution einer politischen
beziehungsweise symbolischen Ordnung, die er als nomos bezeichnet, vorausgeht,
sind Ortung und Ordnung bei Deleuze und Guattari gleichursprünglich und nie
untereinander subsumierbar, was sich in einer ständigen Gegenläufigkeit von De-
und Reterritorialisierung niederschlägt.24 Die spannungsreiche doppelte Artikula-

19 Ungeachtet dieser Grundspannung gilt es allerdings zu beachten, dass der symbolische Weltbe-
zug nicht nur über den Mund/das Gesicht läuft, genauso wenig wie der technisch-gestische Welt-
bezug sich auf die Hand beschränkt.
20 Zur Trias von Raumpragmatik, Raumtechnik (-syntaktik) und Raumsemantik vgl. ausführlicher
Dünne (2004a).
21 Zur wechselseitigen Voraussetzung von Sprache und Gestik bei der Ermöglichung von raum-
schaffenden Operationsketten nach Leroi-Gourhan vgl. Doetsch (2006), 197f, sowie im An-
schluss an Bruno Latour und die Actor-Network-Theorie Schüttpelz (2006).
22 Zum konstitutiven Verhältnis von De- und Reterritorialisierung vgl. bereits die Bemerkungen,
die im ersten Kapitel von Mille plateaux mit dem Titel „Rhizome“ als Prinzip der „rupture asigni-
fiante“ bezeichnet werden (Deleuze/Guattari 1980, 16-19).
23 Vgl. dazu auch Doetsch (2004) und Mahler (2004).
24 Schmitt (1997), v.a. 13-20. Es gibt ausgehend davon auch eine implizit bleibende Schmitt-Kritik

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22 RAUM, KARTE UND TEXT IN DER FRÜHEN NEUZEIT

tion steht bei Deleuze und Guattari andererseits auch gegen eine strukturalistische
oder sozialkonstruktivistische Position, die für beide Autoren Anfang der Siebzi-
gerjahre vor allem in Gestalt des semiotischen Strukturalismus erscheint und
Räumlichkeit auf semiotische Strukturen mit einer bestimmten Relation von Sig-
nifikanten und Signifikaten reduziert. Selbst wenn prozessorientierte Ansätze den
strukturalistischen ‚Fixismus‘ zugunsten einer dynamischen Konzeption der Ent-
stehung von sozialen Strukturen überwinden, beschäftigen sie sich aber nach De-
leuze und Guattari dennoch nur mit der einen Seite der doppelten Artikulation,
nämlich mit der des Ausdrucks.
Eine weitere Stärke des Ansatzes von Deleuze und Guattari besteht darin, dass
sie sich mit ihrem Bezug auf Leroi-Gourhan auch auf eine anthropologische Me-
dientheorie stützen, die Medialität überhaupt als ein konstitutives Moment der
Raumkonstitution deutlich werden lässt: Ein solches Verständnis der Medialität
von Raum beschränkt sich nicht darauf, wie dies etwa die bekannte These von
Marshall McLuhan25 impliziert, Medien als bloße Extensionen des Körpers anzu-
sehen, das heißt, mit Leroi-Gourhan gesprochen, das Gesicht zur Erweiterung der
Hand zu machen, das deren Funktionen zunehmend übernimmt; noch kassiert sie,
indem sie die Annahme einer gleichursprünglichen doppelten Artikulation voraus-
setzt, die grundlegende mediale Differenz zwischen Ausdruck und Inhalt zuguns-
ten des Monismus einer Medientheorie, die die Aneignung des physischen Raums
als direkte Funktion bestimmter Medientechniken ansieht.26 Sie beschreibt Räum-
lichkeit vielmehr in einer konstitutiven Doppelheit von machtbestimmter Territo-
rialisierung und von Symbolisierung. Letztere kann sich zwar durchaus in den
Dienst der machtgeprägten Raumaneignung stellen, mit der sie gleichursprünglich
ist, ohne sie jedoch einfach zu verdoppeln beziehungsweise in ihr aufzugehen.
Dieses Grundmodell eröffnet auch Möglichkeiten der historischen Differenzie-
rung. Im Sinne einer differenztheoretischen Anthropologie ist davon auszugehen,
dass Raumkonstitution nicht etwa von einem weitgehend naturnahen zu einem
zunehmend kulturell-technisch geprägten Raum fortschreitet, wie dies noch bei
Lefebvre und im Anschluss an ihn auch bei wichtigen Theoretikern der Postmoder-
ne wie Jean Baudrillard oder Paul Virilio angenommen wird.27 Vielmehr ist das
menschliche Raumverhältnis immer schon auf die doppelte Artikulation angewie-
sen und damit zumindest prinzipiell immer schon technisch und symbolisch ge-
prägt. Auf dieser Basis lassen sich konkrete Schwellen beschreiben, in denen solche
doppelten Artikulationen in Verbindung mit ganz bestimmten medialen Disposi-
tiven auftreten. Hier erfolgt also der Schritt von der Medialität jeglicher Raumkon-

bei Deleuze/Guattari (1980), 472, die in der Umkehrung der Annahme Schmitts von der Land-
nahme als Ursprung des ordnenden nomos diesen an die Siedlungsform des Nomadismus anbin-
den. Damit erkennen sie die deterritorialisierende Kraft an, die auch in bestehenden Formen
doppelter Artikulation wirkt bzw. sie – von außen oder von innen heraus – deterritorialisiert. Vgl.
hierzu bereits Deleuze (1968), 54, und Antonioli (2003), 24f.
25 McLuhan (2001).
26 So zu städtischen Räumen Kittler (1995) und allgemein Kittler (1986).
27 Vgl. exemplarisch Virilio (1980) und Baudrillard (1981).

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RAUMKONSTITUTION 23

stitution zur Untersuchung jeweiliger medialer Dispositive in einer konkreten his-


torischen Situation. Diese Untersuchung kann ohne teleologische Annahmen und
lineare Raumgeschichten auskommen – sie ist der Beschreibung dessen gewidmet,
was Michel Foucault in seiner Archéologie du savoir „Positivitäten“ nennt,28 also
sowohl diskursive als auch auf Macht bezogene Ereignisse, die nicht von einem
einheitlichen Ursprung aus deduziert werden können. Solche Positivitäten sollen
als nächster Schritt in kurzen raumgeschichtlichen Überlegungen zur Frühen Neu-
zeit vorgestellt werden, wobei zunächst unter Absehung von konstitutiven media-
len Operationen der vorläufige Versuch einer Beschreibung frühneuzeitlicher
Raumgeschichte hinsichtlich symbolischer sowie politischer Ordnungen unter-
nommen wird. Dieser Versuch soll im nächsten Unterkapitel auf die Untersu-
chung der ordnungskonstitutiven Funktion von mediengestützten Praktiken be-
ziehungsweise Operationen geöffnet werden, die für die Raumgeschichte der Frü-
hen Neuzeit entscheidend sind und die sich dabei des Leitmediums der Kartogra-
phie bedienen.

b) Raumgeschichte der Frühen Neuzeit


Warum bietet sich nun die Untersuchung der Frühen Neuzeit, vor allem auf der
Iberischen Halbinsel, als vorrangiger Untersuchungsgegenstand für eine so gestell-
te raumgeschichtliche Frage an? Möglicherweise wird an ihr eine besonders be-
deutsame historische Schwelle erkennbar, die mit einem starken Territorialisie-
rungsschub verbunden ist – ein Schub, der, folgt man Deleuze und Guattari, aber
auch entsprechende deterritorialisierende Gegenbewegungen sowie einen korres-
pondierenden ‚Semiotisierungsschub‘ beinhalten müsste. Diese Vermutung soll
Gegenstand des nun folgenden, kurz umrissenen Versuchs sein, die Konstitution
von Räumen in der Frühen Neuzeit auf historischer Grundlage zu denken.
Die spezifische raumgeschichtliche Signatur der Frühen Neuzeit scheint in ih-
rem Bezug auf Welt in einem bis dato nicht bekannten Sinn zu liegen. Martin
Heidegger behauptet in „Die Zeit des Weltbildes“, dass die Neuzeit nicht einfach
ein anderes Weltbild aufweise als die Antike oder die Frühe Neuzeit, sondern „daß
überhaupt die Welt zum Bild wird, zeichnet die Frühe Neuzeit aus.“29 Übertragen
auf die bisherigen Überlegungen implizieren Heideggers vielleicht über Gebühr
generalisierenden Überlegungen dennoch eine für die Mediengeschichte des
Raums höchst wichtige Aussage: Erst eine bestimmte Form der doppelten Artiku-
lation, die sich auf den Gegenstand ‚Welt‘ bezieht, indem sie gleichzeitig geeignete
Repräsentationsformen von Welt entwickelt, holt das „In-der-Welt-Sein“ aus der
Latenz heraus und lässt Welt zu einem intentionalen Objekt menschlichen Han-
delns werden. Von hier aus sollen kurz die beiden Seiten der doppelten Artikulati-

28 Vgl. Foucault (1969), 164.


29 Heidegger (1980), 88.

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24 RAUM, KARTE UND TEXT IN DER FRÜHEN NEUZEIT

on betrachtet werden, über die sich Welt in der Frühen Neuzeit konstituiert: zu-
nächst (a) die semiotisch-diskursive Konstitution von weltumspannenden Räumen
und darauf (b) die pragmatisch-politische Entstehung von Welt.
Zu a) Der wohl bekannteste Entwurf einer Diskursgeschichte des Raums ent-
stammt Michel Foucaults Vortrag von 1967 unter dem Titel „Des espaces autres“
und beschränkt sich auf eine grobe Skizze, die sich jedoch im Zusammenhang mit
Foucaults zeitgenössischen archäologischen Studien relativ nahtlos in dessen Mo-
dell epistemischer Formationen einordnen lässt. So nimmt Foucault zwei große
raumgeschichtliche Zäsuren einerseits in der Frühen Neuzeit und zum Anderen
am Ende des 18. Jahrhunderts an, die sich weitgehend in Übereinstimmung mit
seinem in Les mots et les choses entwickelten Periodisierungsmodell epistemologi-
scher Brüche bringen lassen. Allerdings gibt es hinsichtlich des ersten Bruchs, um
den es hier vor allem gehen wird, eine charakteristische Unschärfezone, die für die
folgenden Überlegungen von besonderer Bedeutung sein wird: Die mittelalterliche
Welt beruht demzufolge auf einer ‚vertikalen‘ Raumkonzeption, die Foucault als
„Lokalisationsraum“ („espace de localisation“) bezeichnet und die sich dadurch
auszeichne, dass in ihr ein natürliches „ensemble hiérarchisé de lieux“ vorherr-
sche.30 Foucault akzentuiert mit der Skizze seines „espace de localisation“ das, was
er beispielsweise in Les mots et les choses als das „Wissen der Ähnlichkeiten“ analy-
siert hatte,31 neu: In „Des espaces autres“ hebt er stärker die gottgegebene Schöp-
fungs-Ordnung hervor, die sich in den Orten der Dinge niederschlägt, und nicht
so sehr die in Les mots et les choses im Vordergrund stehende Möglichkeit, zwischen
einzelnen Ebenen Bezüge herzustellen. Der „espace de localisation“ entspricht da-
mit in etwa dem Realitätskonzept, das Hans Blumenberg den Wirklichkeitsbegriff
der „garantierten Realität“ genannt hat.32 Demgegenüber nimmt Foucault ab dem
17. Jahrhundert einen zunehmend von der Dimension der Horizontalität be-
stimmten Raum an, der von der Ausdehnung („étendue“) bestimmt sei und einen
unendlichen, offenen Raum („espace infini, et infiniment ouvert“) bereitstelle.33
Offensichtlich korrespondiert dieser unendliche Raum für Foucault mit der dis-
kursiven Ordnung der Repräsentation, in der das dreistellige Modell des Zeichen-
bezugs zwischen Elementen der Schöpfung, das durch eine im Schöpfungsplan
enthaltene Ähnlichkeit bestimmt ist, durch ein zweistelliges Verhältnis von Reprä-
sentierendem und Repräsentiertem abgelöst wird. Das so entstehende arbiträre
Zeichenmodell ist nach Foucault allein dazu in der Lage, der Offenheit der Welt
Rechnung zu tragen: Erst auf der Grundlage der „étendue“ ist also, so wäre Fou-
cault an Heidegger anzuschließen, so etwas wie ein Weltbild möglich – eine Form
der Repräsentation, die Foucault zufolge in der Moderne dynamisiert wird, indem
Räumlichkeit nun von wechselnden „emplacements“ bestimmt ist. In der moder-
nen Raumordnung ist das Raster der Weltwahrnehmung nicht nur ins Unendliche

30 Vgl. Foucault (1994), 753.


31 Vgl. Foucault (1966), 32-59.
32 Blumenberg (1969), 11.
33 Vgl. Foucault (1994), 753.

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RAUMKONSTITUTION 25

erweiterbar, sondern es verändern sich auch die einzelnen Elemente durch den
Druck der Historizität und lassen nur noch die topologische Beschreibung von
Nachbarschaftsbeziehungen an Stelle einer strukturellen Beschreibung der Ele-
mente an ihrem festen Ort zu.34
Zurück zur Schwelle, die Foucault Anfang des 17. Jahrhunderts ansetzt: Wenn
er als Paradigma dafür Galilei anführt, um gleichzeitig zu betonen, dass es ihm
weniger um die so genannte ‚kopernikanische Wende‘ der Kosmographie als viel-
mehr um die weltimmanente Offenheit gehe, so stellt sich die Frage, ob sich der
von Foucault aus Gründen der Kohärenz mit seinem Epistemenmodell ans Ende
des 16. Jahrhunderts verlegte epistemologische Bruch nicht mindestens seit Ende
des 15. Jahrhunderts abzeichnet. Meist wird die Entdeckung Amerikas als emble-
matisches Ereignis der ‚Öffnung‘ der Welt (und somit der Konstitution eines Welt-
Bilds im genannten Sinn) angesetzt,35 de facto suggeriert aber dieses Ereignis nur
am prägnantesten eine historische Zäsur, die in den Rahmen einer sehr viel umfas-
senderen Globalisierung des Wissens eingelassen ist. Vielleicht gilt es aber auch die
Foucaultsche Periodisierung nicht vorschnell aufzugeben, sondern sie als einen sig-
nifikanten Grenzbereich anzusehen, in dem neue Formen der Raumrepräsentation
erprobt werden, ohne dass diese sich der Geschlossenheit einer so genannten „Epi-
steme der Repräsentation“ fügen würden. Diese Erweiterung der Foucaultschen
Figur des Epistemenbruchs zu einer epistemologischen Übergangszone ist vor allem
für die Beschreibung der Formen und Funktionen des Mediums Kartographie im
16. Jahrhundert von entscheidender Bedeutung.
Zu b) Nach diesen Vorüberlegungen zur Historizität diskursiv bestimmter
Raumordnungsmodelle soll es in der Folge um die andere Seite der doppelten Ar-
tikulation gehen, das heißt um die frühneuzeitliche Ortung im Sinn des geopoliti-
schen Nexus von Territorialität und politischer Herrschaft. Die dezidierteste An-
nahme eines Nexus von Landnahme und politischer Herrschaft entstammt den
Schriften Carl Schmitts, die sich mit dem nomos, also den Grundlagen völkerrecht-
licher Ordnung in einem speziellen Sinn beschäftigen. Schmitt versteht politische
Ordnung nicht primär als den gesetzlichen Rahmen der Konstitution von politi-
scher Herrschaft, sondern als den jeglicher Konstitution positiver staatlicher Ord-
nungen vorausgehenden Akt politischer Souveränität, der, selbst außerhalb der
Ordnung stehend, diese Ordnung allererst konstituiert. In den Schriften, die dem

34 In metatheoretischer Hinsicht wirkt es so, als nähere sich Foucault mit den drei Raummodellen
unter sukzessiver Streichung voraussetzungsreicherer topographisch bestimmter Annahmen hin-
sichtlich der Möglichkeit räumlicher Beschreibungen einer theoretischen Topologie an, die als
Grundmatrix für alle denkbaren Wissensordnungen dienen kann.
35 Vgl. hierzu insbesondere die mannigfaltigen Darstellungen der Überschreitung der ‚Säulen des
Herkules‘ als plus ultra, das die Begrenztheit der mittelalterlichen „localisation“ zugunsten eines
Aufbruchs in den Raum der unendlichen Weite überwindet. Traditionsprägend, aber erst aus der
Perspektive des 17. Jahrhunderts, findet sich dies in Bacons Instauratio magna von 1620 – vgl.
dazu Besse (2003), 73-75, sowie Kiening (2006), 18-20. Bereits früher ist das plus ultra in der
gleichlautenden Devise des spanischen Königs und Kaisers des Hl. Römischen Reichs Karls V.
ausgeprägt.

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26 RAUM, KARTE UND TEXT IN DER FRÜHEN NEUZEIT

Nomosbegriff gewidmet sind,36 bemüht sich Schmitt in Anlehnung an geopoliti-


sche Überlegungen, die vor allem im Deutschland der Zwanziger- und Dreißiger-
jahre des 20. Jahrhunderts Konjunktur haben,37 die Konstitution politischer Ord-
nung nicht allein im performativen Akt der Souveränität zu begründen,38 sondern
zugleich an den Akt der Landnahme zu binden, wobei er die Tatsache der Ver-
knüpfung von Territorialität und politischer Herrschaft als Konstante der Grün-
dung politischer Gebilde seit der Antike annimmt. Für Schmitt beruht die Heraus-
bildung gesetzlicher Ordnung in ihrer diskursiven Verfasstheit auf der Landnah-
me, in der, wie er schreibt, „Ortung und Ordnung zusammenfallen“.39
Diese Erklärung des physischen Raums zum begründenden Moment politischer
Ordnung aus dem Geist der deutschen Geopolitik ist in ihren Grundlagen sicher-
lich problematisch – sie erfasst aber treffend ein entscheidendes Moment der früh-
neuzeitlichen geopolitischen Ereignisse: Was Schmitt über die Frühe Neuzeit zur
Konstitution des so genannten Ius Publicum Europaeum hervorhebt, ist ein massiver
und in diesem Umfang vorbildloser Territorialisierungsschub des Politischen. Da-
bei bedingen sich die Territorialisierung des Politischen und die Bewusstwerdung
einer weltumspannenden Dimension politischen Handelns im Sinn des Heidegger-
schen „Weltbilds“, das Schmitt ein „globales Liniendenken“ nennt.40 Er verknüpft
die relative Stabilisierung politischer Machtverhältnisse in einer „europazentrischen
Raumordnung“, die mit dem einhergeht, was Schmitt eine „Hegung“ des Krieges
nennt,41 mit der Möglichkeit, diese Ordnung durch die Landnahme nach außen
hin einer „Entlastung“ zuzuführen.42 Gleichzeitig trägt dieser Nomos dazu bei, eine
innereuropäische staatliche Ordnung zu stabilisieren. An Schmitts Beschreibung
lässt sich deutlicher als in vielen anderen Analysen geopolitischer Grundzüge der
Frühen Neuzeit eine Entwicklung von der ‚vertikalen‘ Zentriertheit der mittelalter-
lichen Welt auf die römische Kirche als letztlich legitimierender Instanz politischen
Handelns hin zu einer ‚horizontalen‘ politischen Ordnung erkennen, die sich als
Gefüge von Territorialstaaten dadurch profiliert, dass dieses Zentrum wiederum

36 Vgl. neben Schmitt (1997) vor allem die gesammelten Beiträge in Schmitt (1995), aber auch die
in den Fünfzigerjahren entstandene Einführung in Schmitts geopolitisches Denken unter dem
Titel Land und Meer – Schmitt (2001) –, wo Schmitt deutlicher als in anderen Schriften nicht
nur auf geopolitische Territorialisierung, sondern auch auf deren Gegenbewegungen eingeht.
Vgl. dazu Balke (1996).
37 Vgl. zum Kontext Sprengel (1996).
38 Vgl. hierzu insbes. Agamben (2002), 25-73.
39 Schmitt (1997), 50.
40 Ebd., erstmals 55.
41 Vgl. ebd., 112.
42 Vgl. ebd., 62. Schmitt unterscheidet insbesondere die Aufteilung der neu entdeckten übersee-
ischen Gebiete durch Spanien und Portugal seit dem Vertrag von Tordesillas im Jahr 1494 (der
noch im Zeichen des mittelalterlichen päpstlichen Missionsauftrags steht) von den sog. „Freund-
schaftslinien“ seit Mitte des 16. Jahrhunderts, die bestimmen, bis zu welchem Punkt eine territo-
riale Streitigkeit als Auseinandersetzung zwischen zwei souveränen Staaten gilt und ab wo ein
Raum ungeachtet etwaiger kirchlich garantierter Ansprüche als „frei okkupierbar“ (ebd., 101)
gilt.

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RAUMKONSTITUTION 27

über ein Außen verfügt, das als kolonisierbare Entlastungszone fungiert.43 Beson-
ders Spanien leistet der frühneuzeitlichen globalen Territorialisierung des Politi-
schen massiv Vorschub, während es gleichzeitig mittelalterliche Legitimationsmo-
delle in Anspruch nimmt, die von der tatsächlichen geopolitischen Entwicklung
zunehmend weniger gedeckt sind (was ihre Verbreitung gerade in der gegenrefor-
matorischen Restauration jedoch in keinster Weise schmälert).44
Wenn Schmitt sich aber allein auf die Territorialisierung konzentriert,45 blendet
er nicht nur die nach Deleuze und Guattari stets mit Territorialisierungsschüben
einhergehenden Gegenbewegungen der Deterritorialisierung aus,46 sondern er
konzentriert sich auch weitgehend auf das imperiale Modell, wie es sich im spani-
schen Kontext herausbildet. Zeitgleich und zum Teil sogar der spanischen Expan-
sion vorausgehend, entwickelt sich jedoch ab dem 15. Jahrhundert ebenfalls auf
der Iberischen Halbinsel, vor allem in Portugal, ein anderes Modell der Konstitu-
tion von ‚Welt‘, das nicht primär über ‚statisch‘-territoriale Landnahme funktio-
niert, sondern als Bewegungs-Modell zu denken ist. Charakteristikum dieser Art
von Globalisierung ist eine Netzwerkbildung, die in erster Linie der Entfaltung
ökonomischer Handelsbeziehungen dient,47 die sich aber auch in etwa in der welt-

43 In diesem Zusammenhang findet letztlich auch der Übergang von der ‚vertikalen‘, als gottgegebe-
ne Ordnung konzipierten Souveränitätslehre der „zwei Körper“ des Königs – vgl. dazu Kantoro-
wicz (1997) – auf das horizontal-kontraktualistische Modell des ‚Staatskörpers‘ statt, wie er sich
in Thomas Hobbes’ Leviathan niederschlägt.
44 Vgl. hierzu Schmitt (1997), 100: „Es ist ergreifend zu sehen, wie der erste große Landnehmer und
Inaugurator dieser Epoche, Spanien, genauer: die Krone von Kastilien und Leon, sich in vielen
Hinsichten an der Spitze dieser von Kirche und Mittelalter wegführenden Entwicklung zum Staat
befindet, während er gleichzeitig an den kirchlichen Rechtstitel seiner großen Landnahme gebun-
den bleibt.“ Diese Struktur als „Diskurs-Renovatio“ zu bezeichnen, wie Küpper (1990) dies aus
diskursgeschichtlicher Perspektive tut, trifft somit nur einen Teil der doppelten Artikuliertheit
spanischer Geschichte in der Frühen Neuzeit, da sie die Inanspruchnahme rehierarchisierender
Diskurse nicht mit den sich gleichzeitig abspielenden geopolitischen Umwälzungen abgleicht.
45 Vor diesem Hintergrund verwundert es auch kaum, dass Schmitt eine recht unverhohlene Apolo-
gie der Stabilität der kolonialen, eurozentrischen Weltordnung anstimmt und dass ihm der Zu-
sammenbruch dieser Ordnung im 20. Jahrhundert Anlass gibt, eine an ihre Stelle tretende
„Großraumordnung“ zu favorisieren, die dem für ihn drohenden Phantasma des Verfalls jegli-
cher geopolitischer Ordnung in unkontrollierbarer außerstaatlicher Gewalt entgegentreten soll.
Vgl. die Aufsätze in Schmitt (1995).
46 Peter Sloterdijk spricht im Hinblick auf aktuelle de-lokalisierte Gemeinschaften mit Bezug auf
den Kulturanthropologen Arjun Appadurai sogar davon, dass die Annahme einer Bindung von
Identität an ein physisches Territorium nichts weiter als der Restbestand einer langlebigen „terri-
torial fallacy“ sei, die durch eine jenseits des Territorialen stehende allgemeine Theorie „autogener
Gefäße“ abgelöst werden müsse. Vgl. Sloterdijk (1998-2004), Bd. 2, 999. Gegenüber dem exis-
tenzphilosophisch begründeten Globalisierungsdenken Sloterdijks, das er in seinem „Sphären“-
Projekt entfaltet, soll hier die unbestreitbare historische Bedeutung der frühneuzeitlichen Territo-
rialisierung hervorgehoben werden, jedoch in Wechselwirkung mit den ihr korrespondierenden
Deterritorialisierungsbewegungen.
47 Vgl. hierzu u.a. Brotton (1997), 83, der der „territorial expansion“ der kastilischen Krone ein
„transactional and commercial model of development“ der portugiesischen Krone gegenüber-
stellt. Vgl. allgemein zu frühneuzeitlichen Wirtschafts- und Kommunikationsnetzwerken im An-
schluss an Fernand Braudels Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Wallerstein (1974) sowie grund-
legend zu Netzwerken als „spaces of flows“ Castells (1991).

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28 RAUM, KARTE UND TEXT IN DER FRÜHEN NEUZEIT

umspannenden Kommunikation verschiedener religiöser Orden, allen voran des


Jesuitenordens, erkennen lässt.48 Wenn Serge Gruzinski in seiner Geschichte der
frühneuzeitlichen Globalisierung auf die hohe Mobilität sowohl vieler Kolonisato-
ren als auch von Kolonisierten im 16. und beginnenden 17. Jahrhundert hinweist
und bündig formuliert: „Mobilisation rime avec mondialisation“,49 so sucht er da-
bei im Anschluss an den indischen Historiker Sanjay Subrahmanyam eine Form
der Weltgeschichte,50 die nicht, wie so oft, Geopolitik allein an der Territorialität
festmacht, sondern an „connected histories“, die vor allem Mobilität und Netz-
werkstrukturen erfassen.51
Offensichtlich muss man also in der Frühen Neuzeit von zumindest zwei kom-
plementären Formen der Globalisierung ausgehen, die zueinander in der Span-
nung von Territorialisierung und komplementärer Deterritorialisierung stehen
und in denen Veränderungen politischer Souveränität und ökonomischer Bezie-
hungen eine Globalisierungsbewegung mit inhärenten Spannungen und Brüchen
hervorrufen.52 Damit hängt auch eine Abkehr von der in der Hispanistik – insbe-
sondere im angelsächsischen Raum – verbreiteten Fixierung zusammen, die früh-
neuzeitlichen Expansions- und Kolonialgeschichte ausgehend von der Iberischen
Halbinsel allein auf Amerika und somit auf die „Atlantische Welt“ zu beschrän-
ken.53 Vielmehr gilt es, wie es auch in den verschiedenen Analyseteilen dieser Stu-
die geschehen soll, das gesamte differenzierte Panorama der frühneuzeitlichen Glo-
balisierung in ihren verschiedenen Facetten in den Blick zu nehmen, die allein auf
der Iberischen Halbinsel bereits auf den unterschiedlichen Kolonisierungs- und
Expansionsmodellen in Spanien und Portugal aufruhen. Beide Modelle treten al-
lerdings in der Zeit der Personalunion zwischen der portugiesischen und der spa-
nischen Krone von 1580 bis 1640 in noch engere Wechselwirkung miteinander,
als dies zuvor bereits der Fall war.
Zusammenfassend zeigt sich also, dass nicht nur die doppelte Artikulation von
technisch-politischer und medialer, unter anderem sprachlicher Raumkonstitution
einen differenziellen Raumbezug hervorbringt, der sich in der Frühen Neuzeit zu

48 Vgl. zum frühneuzeitlichen Wissensnetzwerk der Jesuiten die Beiträge in Figueroa/Ledezma


(2005).
49 Gruzinski (2004), 40.
50 Vgl. zu diesem Begriff den Überblick bei Pomper/Elphich/Vann (1998).
51 Vgl. Gruzinski (2004), 29, im Anschluss an Subrahmanyam (1997).
52 Eine Globalisierungstheorie auf der Grundlage der von Deleuze und Guattari beschriebenen
Spannung zwischen De- und Reterritorialisierung ist auch die, vor allem auf die Moderne bezo-
gene, aber ebenfalls auf die Frühe Neuzeit zurückverweisende Studie Empire von Michael Hardt
und Antonio Negri (unabhängig davon, ob man ihre kapitalismuskritische Prognose einer noma-
disch-weltbürgerlichen „Multitude“, die das globale „Empire“ zum Einsturz bringen würde, ak-
zeptiert) – vgl. Hardt/Negri (2000).
53 Zum Konzept „Atlantic World“ vgl. exemplarisch Pieper/Schmidt (2005). Gruzinski (2004), v.a.
399-402, weist darauf hin, dass die starke Konzentration europäischer Historiker auf Amerika
einem latenten Amerikanozentrismus entspringt, den er in seiner (allerdings durchaus überzoge-
nen) Polemik als Fortsetzung der Iberischen Globalisierung der Frühen Neuzeit mit anderen
Mitteln ansieht.

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RAUMKONSTITUTION 29

nehmend weniger als vertikaler Gottes- und zunehmend mehr als horizontaler
Weltbezug manifestiert, sondern dass auch schon innerhalb der beiden Artikulati-
onen Spannungen und Überlagerungen auftauchen, die die besondere Komplexi-
tät frühneuzeitlicher Raumkonstitution ausmachen. Angesichts der hier näher zu
untersuchenden spezifischen medialen Gestalt der doppelten Artikulation, durch
die sich Räume konstituieren, kann die Beschreibung von festen Raumordnungen
nur einen propädeutischen Wert haben, der zur eigentlichen Kernfrage führt,
durch welche medialen Praktiken beziehungsweise Operationen sich solche Ord-
nungen konstituieren beziehungsweise verändern. Der damit verbundene Perspek-
tivenwechsel auf Fragen der Raumkonstitution stützt sich insbesondere auf neuere
raumtheoretische Ansätze, die nicht primär Ordnungsstrukturen, sondern Raum-
praktiken untersuchen.54 Um diese Ansätze wird es im Folgenden gehen.
Während die Praxistheorie von Pierre Bourdieu habitualisierte Handlungen un-
tersucht, die Regularitäten schaffen, mit denen sich sozialer Raum strukturiert, legt
Michel de Certeaus Untersuchung von Raumpraktiken den Akzent vor allem auf
die strukturverändernde Kraft der Praktiken, die bestehende Dispositive gegen den
strategisch geplanten Zweck „taktisch“ aneignen und dabei verändern.55 Dabei ist
Certeaus Fragestellung vor allem für die besondere Form von taktischer Subjekti-
vität fruchtbar, die sich aus solchen Praktiken konstituiert.56 Aber auch wenn man
sich, wie in dieser Studie, eher auf die Ebene der Beschreibung raumkonstitutiver
Operationen selbst konzentriert, liefert der Praxisbegriff wichtige Voraussetzun-
gen, um solche Operationen darzustellen.57 Übersehen wird bisweilen allerdings
im Rahmen von Praxistheorien des Raums, die an Bourdieu beziehungsweise Cer-
teau anschließen, dass auch Raumpraktiken einer doppelten Artikulation im hier
dargestellten Sinn unterliegen. Sie sind zugleich technisch-politischer als auch sym-
bolischer Art und es reicht beispielsweise nicht aus, diskursive Praktiken der Reprä-
sentation von Raum beziehungsweise der Kommunikation über Raum zu beschrei-
ben, sondern es geht auch darum, Techniken der Adressierung physischer Räume
in eine Praxistheorie des Raums mit einzubeziehen: Von Carl Schmitt ist dieses
spannungsreiche Verhältnis auf den bereits erwähnten Nenner des Nexus von
‚Ordnung‘ und ‚Ortung‘ gebracht worden,58 wobei Schmitt dieses Verhältnis nur

54 Zu einem Überblick über solche Praxistheorien vgl. die Einleitung IV in Dünne/Günzel (2006),
289-303, v.a. 299-302.
55 Vgl. grundlegend Bourdieu (1972) und Certeau (1990a), 71-135 zu den „arts de faire“ allgemein
(mit Kritik der Praxistheorie Bourdieus, 82-96) und 139-191 zu den „pratiques d’espace“.
56 Hier ist eine große Nähe zu den subjekttheoretischen Überlegungen in den späten Schriften von
Michel Foucault seit Ende der Siebzigerjahre nicht zu übersehen. Vgl. exemplarisch Foucault
(1984), 9-19.
57 Terminologisch soll hier in der Folge sowohl von raumkonstitutiven ‚Operationen‘ als von
Raum-‚Praktiken‘ die Rede sein: Der Praxisbegriff akzentuiert dabei stärker die subjektorientierte
Variabilität der Raumkonstitution, während sich raumkonstitutive Operationen eher auf die
technische Geregeltheit solcher Prozesse beziehen.
58 Schmitt (1997).

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30 RAUM, KARTE UND TEXT IN DER FRÜHEN NEUZEIT

ansatzweise medial denkt und vor allem auf den Zusammenhang von politischer
Verfasstheit und Territorialität bezieht. Dennoch lassen sich diese beiden Begriffe
zu Leitlinien einer Untersuchung machen, die Raumpraktiken als unhintergehbar
medialisierte Praktiken ansieht, welche immer in doppelter Hinsicht zu betrachten
sind: Zum einen hinsichtlich ihrer technischen Instrumentalität sowie ihrer Kraft
zur Verschiebung und Neuformierung instrumenteller Raum-Nutzungen, und
zum anderen hinsichtlich ihrer Fähigkeit, symbolische Ordnungen zu konstituie-
ren beziehungsweise zu verändern.59
Die Doppelheit aller räumlichen Operationen kommt im Praxisbegriff von Mi-
chel de Certeau grundsätzlich zwar in den Blick, wenn er empirische „arts de faire“
und sprachliche „arts de dire“ voneinander unterscheidet – er weist jedoch den
sprachlichen „arts de dire“ einen gewissen Vorrang zu.60 Dabei beruft er sich auf
die linguistische Pragmatik, die Sprechakttheorie der Philosophie und insbesonde-
re auf die Rhetorik, um beide Praxistypen miteinander in Beziehung zu setzen.
Certeau sieht also sehr wohl die doppelte Artikulation zwischen empirischen und
symbolischen Praktiken, er reduziert beide aber auf eine Analogie, die letztlich auf
einer sprachtheoretischen Grundlage gedacht ist.61 Dies wirft für eine praxistheo-
retische Beschreibung nicht rein sprachlich basierter Praktiken wie zum Beispiel
der Kartographie, einige Probleme auf, die näher zu untersuchen sind. Außerdem
ist Certeaus Praxisbegriff stärker auf die Störung beziehungsweise Unterwanderung
von gegebenen Ordnungen ausgerichtet62 als auf eine mögliche ordnungskonstitu-
tive Funktion. Hier soll es vor allem darum gehen, im Rahmen des Konzepts der
doppelten Artikulation eine Dynamik aus der jeglicher Form von Raumkonstituti-
on inhärenten Spannung zwischen Territorial- und Zeichenbezug heraus zu entwi-
ckeln, die zugleich Raumordnungen konstituiert und auch verändert.

59 Vgl. zu dieser Unterscheidung von instrumentellem und nichtinstrumentellem, ‚welterzeugen-


dem‘ Mediengebrauch auch Krämer (2000).
60 Vgl. zur Einführung der Begriffe Certeau (1990a), xl-xlii.
61 Certeau erscheint insofern als eine Grenzfigur im Hinblick auf die Entwicklung der neueren
Kulturwissenschaften: Einerseits trägt er dazu bei, die Kulturwissenschaft durch seine Insistenz
auf Praxis und Performanz auf die aktuelle Kulturtechnikforschung hin zu öffnen (vgl. Krämer/
Bredekamp 2003); gleichzeitig verankert er kulturelle Praktiken wieder in einem erweiterten Mo-
dell von Textualität oder Rhetorizität und zeigt sich insofern doch als Vertreter des Paradigmas
der ‚Textualität‘ und ‚Lesbarkeit‘ von Kultur (vgl. dazu exemplarisch Neumann 2000).
62 Insofern weist das Certeausche Verständnis von Praxis eine gewisse Ähnlichkeit mit dem von
Foucault für die diskursive Ebene entwickelten Konzept des Gegendiskurses („contre-discours“)
sowie – hinsichtlich der Raumkonstitution – mit der Heterotopie als Gegenort („contre-emplace-
ment“) auf. Vgl. zum „contre-discours“ v.a. Foucault (1966), 57-59, sowie zur Heterotopie als
„contre-emplacement“ Foucault (1994), v.a. 755 – vgl. zur Verknüpfung beider Konzepte War-
ning (1999).

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