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Mori Ôgai

und
das Schöne aus Deutschland

Einige Mutmaßungen

Peter Pörtner

„Gefährliche Deutsche!
Sie ziehen plötzlich ein Gedicht aus der Tasche
oder beginnen ein Gespräch über Philosophie.“ (Heinrich Heine)

Die nachfolgenden Vortrags-Notizen sollen und können


nicht mehr sein als Randbemerkungen und flankierende
Fragen zu dem (schon im Jahre 1989 erschienen) so
materialreichen wie maßgeblichen Aufsatz „Mori Ôgai
und die deutsche Ästhetik“ von Bruno Lewin. - Da sie
nur einen Teil der Lewinschen Gedanken aufgreifen, ein
wenig ergänzen oder modifizieren, viele wichtige De-
tails aber übergehen müssen, sei die Lektüre von „Mori
Ôgai und die deutsche Ästhetik“1 an dieser Stelle – ich
möchte sagen: - unbedingt empfohlen.
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
1!!Der!Text!ist!als!pdf0file!leicht!zugänglich!unter:!

http://www.dijtokyo.org/doc/JS1_Lewin.pdf.!
Zuerst!erschienen!in:!Deutsches!Institut!für!Japanstudien!(Hrsg.)!Japanstudien.!Jahrbuch!
des!Deutschen!Instituts!für!Japanstudien!1,!1989:!271–296.!
!
!
! 1!
Vom Schönen ist im Abendland viel und auf sehr ver-
schiedene Weise gesprochen und geschrieben worden.
Und oft auf ziemlich opake Art. Gerade den deutschen
Dichtern und Denkern, dafür müssen wir ihnen dankbar
sein, sind Formulierungen gelungen, die wohl niemals
erfasst werden können. Denken wir etwa, um einige der
bekanntesten Exempla zu nennen, an R. M. Rilkes Ver-
dikt am Anfang der Ersten Duineser Elegie: „...Denn
das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang“;
oder gar an G. W. F. Hegels Bestimmung, dass das
Schöne das „sinnliche Scheinen der Idee“ sei, am deut-
lichsten im dritten Abschnitt, „Die Idee des Schönen“,
der „Vorlesungen über die Ästhetik“: „Das Schöne
bestimmt sich dadurch als das sinnliche Scheinen der
Idee. Denn das Sinnliche und Objektive überhaupt be-
wahrt in der Schönheit keine Selbständigkeit in sich,
sondern hat die Unmittelbarkeit seines Seins aufzu-
geben, da dies Sein nur Dasein und Objektivität des
Begriffs und als eine Realität gesetzt ist, die den Begriff
als in Einheit mit seiner Objektivität und deshalb in
diesem objektiven Dasein, das nur als Scheinen des
Begriffs gilt, die Idee selber zur Darstellung bringt.“ –
Freilich erinnert Hegel schon in der Einleitung zu den
„Vorlesungen über die Ästhetik“ daran, dass „die Idee
als das Kunstschöne nicht die Idee als solche ist, wie sie
eine metaphysische Logik als das Absolute aufzufassen
hat, sondern die Idee, insofern sie zur Wirklichkeit
! 2!
fortgestaltet und mit dieser Wirklichkeit in unmittelbar
entsprechende Einheit getreten ist. Denn die Idee als
solche ist zwar das an und für sich Wahre selbst, aber
das Wahre erst seiner noch nicht objektivierten Allge-
meinheit nach; die Idee als das Kunstschöne aber ist die
Idee mit der näheren Bestimmung, wesentlich indi-
viduelle Wirklichkeit zu sein sowie eine individuelle
Gestaltung der Wirklichkeit mit der Bestimmung, in
sich wesentlich die Idee erscheinen zu lassen.“ - Diese
wesentlichen Modifikationen, die der Begriff der Idee
im Zusammenhang mit dem Schönen als dem Kunst-
schönen hier erfährt, hat die Rezeption nicht immer her-
meneutisch gewürdigt, was das Verständnis der Ästhe-
tik Hegels erschwert und auch verfälscht hat.

Aber auch J. W. v. Goethe versorgt uns mit Maximen,


die – wenn überhaupt - nicht leicht in die schöpferische
Tat umzusetzen sind: „Denn wer den Schatz, das
Schöne, heben will, // Bedarf der höchsten Kunst: Ma-
gie der Weisen.“

Vergessen wir auch nicht die heftige Auseinanderset-


zung zwischen dem Literaturwissenschaftler Emil Stai-
ger und den Philosophen Martin Heidegger über die
Bedeutung der Schlusszeilen des Gedichtes „Auf eine
Lampe“ von Mörike. „Ein Kunstgebild der rechten Art.

! 3!
Wer achtet sein? // Was aber schön ist, selig scheint es
in ihm selbst.“

Halten wir es vorerst - gleichsam bis auf Widerruf – lie-


ber mit dem pragmatischen James Joyce, der sagt: „Das
Ziel des Künstler ist die Erschaffung des Schönen. Was
das Schöne ist, ist eine andere Frage.“ Aber selbst Joy-
cens diskrete Verweigerung passt präzise in die abend-
ländische Tradition und ihre Vorliebe für Wesensfragen;
worin nach meiner Überzeugung das entscheidende Pro-
blem für ihre Rezeption durch Mori Ôgai bestand. Denn
auf seiner Jagd nach dem Eigentlichen verläuft sich das
abendländische Denken gern, vielleicht denk-notwen-
dig, in ein Paradox: Wenn und falls das Schöne nur das
Scheinen selbst ist, dann kann nichts (Anderes, Höheres,
womöglich Transzendentes) durch das Schöne hin-
durch-scheinen. Das heißt, andererseits, um einen Ter-
minus des Kunstwissenschaftlers Louis Marin zu ver-
wenden, das Scheinen selbst ist und bleibt dabei „opak“;
ein Zeichen, das nur sich selbst und/oder auf sich selbst
zeigt.

Die (europäische) Ästhetik wiederum, als eine Lehre


oder Philosophie vom Schönen, also in der Form, in der
sie uns mehr oder minder vertraut sein sollte, ist ein
Produkt des 18. Jahrhunderts. Wir verdanken es A. G.
Baumgarten (1717-1762), dass im Jahr 1750 „Ästhetik“
! 4!
(in Deutschland) zu einer Teildisziplin der Philosophie
wurde.

Und etwa hundert Jahre nach Baumgartens Geburt kon-


statiert und proklamiert – verkürzend und modo barba-
rico gesagt - Hegel schon und zugleich sehr verspätet
das Ende der Kunst; unter anderem in seinem mit dem
Blick auf die Götterdarstellungen des antiken Griechen-
lands gemünzten Diktum „Schöneres kann nicht sein
und werden“, denn, so schreibt er in den „Vorlesungen
über die Ästhetik“, im Abschnitt „Vom Romantischen
überhaupt“: „Dadurch ward die klassische Kunst die be-
griffsgemäße Darstellung des Ideals, die Vollendung
des Reichs der Schönheit. Schöneres kann nicht sein
und werden.“ – Daher rührt – nach und für Hegel – der
selbst schon alt gewordene „Vergangenheitscharakter“
der Kunst. Auch die Tatsache, dass Hegel in der Kunst
eine Gestalt, im Sinne von „nur eine Gestalt“ und „nur
eine Gestalt“ des absoluten Geistes sah, ist nicht nur aus
japanischer Perspektive keine Selbstverständlichkeit.

Die Frage nach dem Schönen, der Diskurs über das


Schöne im allgemeinen und dann – in jüngerer Zeit - in
der Gestalt der philosophischen Ästhetik haben im
Abendland – wohl spätestens seit Plato - eine eminente
Rolle gespielt und somit auch – sit venia verbo – eine
deutlich abendländische Färbung angenommen. – Da-
! 5!
bei, das sei noch einmal betont, zielte die Frage oft pri-
mär und explizit auf das Wesen der Schönheit (wobei
immer und obendrein auch die Frage nach der Wahrheit
mitklang). Das abendländische Schöne wollte, nicht erst
seit Hegel, auf den Begriff gebracht werden. Was man
von seiner japanischen Variante zumindest nicht im
gleichen Sinne behaupten kann. -

Nach dieser sehr knappen und nur stichwortartigen


Skizze der abendländischen Situation sei jetzt an die der
deutschen Ästhetik und Philosophie erinnert, mit der
Mori Ôgai, hundert Jahre nach Baumgartens Tod ge-
boren, konfrontiert war: Eine Situation, die er kennen
und verstehen lernen, interpretieren und in mehrfachem
Sinne ins Japanische übersetzen musste. Freilich auch
wollte.

Offensichtlich war er auf eine bestimmte Weise vor-


bereitet nach Deutschland gekommen: Er gehörte zur
Elite der jungen japanischen Intellektuellen. Auch muss
ihm bewusst gewesen sein, was seine Heimat von ihm
erwartete. Das heißt: Ôgai musste Entscheidungen tref-
fen. Und durfte dabei nicht nach eigenem Belieben und
eigenen Vorlieben verfahren. Mit anderen Worten: Er
handelte auch unter Bedingungen (und Zwängen), von
denen ich glaube, dass wir sie nicht kennen oder rekon-

! 6!
struieren können. Es bleiben uns nur Mutmaßungen
über Text und Kontext.

Immerhin war der Kontext, das heißt die Situation der


deutschen Ästhetik in der zweiten Hälfte – und vor
allem im letzten Drittel - des 19. Jahrhunderts so ein-
heitlich nicht. Erinnern wir uns – beispielsweise - nur
daran, dass Gustav Theodor Fechner schon 1876 in sei-
ner „Vorschule der Aesthetik“2 eine Abwendung von
einer idealistischen Deutung des Schönen gefordert hat-
te. Er schrieb: Man solle sich damit begnügen: „den Be-
griff des Schönen als einen Hülfsbegriff im Sinne des
Sprachgebrauches zur kurzen Bezeichnung dessen, was
überwiegende Bedingung unmittelbaren Gefallens ver-
einigt, zu verwenden.“

Warum nenne ich gerade Fechner? - Weil der für Ôgai


doch so maßgebliche Eduard von Hartmann die Vor-
stellungen Fechners mit auffällig normativen Argumen-
ten heftig kritisiert hat. In seinem 1886 erschienenen
Werk „Die deutsche Ästhetik seit Kant“3, bestreitet von
Hartmann, der – als Sohn eines Generals - 1865 seine
Offizierslaufbahn eines Knieleidens wegen hatte auf-
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
2!!In!der!Auflage!von!1876!abzurufen!unter:!

https://archive.org/details/vorschulederaest12fechuoft.!
Zuletzt!aufgerufen!am!7.!Januar!2014.!
3!!In!der!Auflage!von!1886!abzurufen!unter:!

https://archive.org/details/aesthetik01hart.!
Zuletzt!aufgerufen!am!7.!Januar!2014!
! 7!
geben müssen, „dass die Ästhetik überhaupt in das Feld
empirisch beobachtbarer Tatsachen hineinreiche. Sie
stehe vielmehr „ganz und gar auf der der Physik entge-
gengesetzten Seite der Welt“ und sei „ohne Rest eine
philosophische Disziplin, wie die Naturphilosophie es
auch ist“: Die „Aesthetik als solche“ fange erst da an,
wo über „die Grundlagen der blossen Erfahrung hinaus
und zur Erklärung derselben fortgeschritten wird“. Die
„sogenannte ‚experimentelle Aesthetik’“, wie von Hart-
mann die Lehre Fechners nennt, sei gar keine Ästhetik,
sondern könne „höchstens Material für die selbe her-
beischaffen, übrigens ein Material von sehr untergeord-
netem Werthe, ohne welches die Aesthetik sehr gut fer-
tig werden kann.“ Die Auseinandersetzung mit der
Ästhetik war für von Hartmann offensichtlich etwas
sehr Prinzipielles („ohne Rest eine philosophische Dis-
ziplin“). Die künstlerische Praxis lag nur am Rand sei-
nes ästhetischen Interesses.

In seiner eigenen „Philosophie des Schönen“4 sagt von


Hartmann, dass „dasselbe Ding an sich bei allen normal
organisierten Menschen die gleiche subjektive Erschei-
nung auslöst, so daß die normale unbewußte Reaktion
der Subjekte, welche die subjektive Erscheinung un-
mittelbar produziert, von der Ästhetik nicht beachtet zu
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
4!!In!der!Ausgabe!von!1886!ebenfalls!abzurufen!unter:!

https://archive.org/details/aesthetik01hart.!
Zuletzt!aufgerufen!am!7.!Januar!2014.!
! 8!
werden braucht und der Psychologie überlassen werden
kann.“ – Es ging ihm also darum, den „wahren“ Wert
des Schönen vor subjektiven Urteilen oder gar Gefühlen
zu schützen. Von Hartmann geht tatsächlich, man
möchte sagen: auf philosophisch mutwillige Weise, so
weit, zu sagen, dass wer anders (als er selbst) wahr-
nimmt, nicht „normal organisiert“ sei: Was von der
ästhetischen Norm, schaffend oder rezipierend, ab-
weicht, ist in den Augen von Hartmanns pathologisch. -
Es wundert folglich nicht, dass von Hartmann – so-
zusagen als normativ-regulative Direktive an die Adres-
se der Künstler als Diener und Hersteller des Schönen -
auch die Darstellung von „Rothaarigen, Schielenden
und Buckligen“ als eine „pathologisch abnorme Kunst“
denunziert. Und damit kunstferne grundsätzliche Über-
legungen zu normativen Anweisungen ummünzt.

Von Hartmanns Philosophie wird in der Regel beschrie-


ben: als eine Synthese aus – vor allem – Hegel, Scho-
penhauer, auch Spinoza und Leibniz, aber auch der zeit-
genössischen Naturwissenschaft. Trotz seiner Kritik an
Fechner rechnet man ihn auch zu den in einem gewissen
Maße erfahrungsorientierten „induktiven Metaphysi-
kern“. Trotz des ausgesprochen synkretistischen, ja
eklektizistischen Eindrucks, den man von seiner Philo-
sophie gewinnen kann, vielleicht gewinnen muss, - wird
ihm doch aufgrund seiner Glücks-Lehre auch eine Nähe
! 9!
zum Buddhismus nachgesagt (auch das wohl eine Scho-
penhauerscher Rest) - , dürfen wir nicht vergessen, dass
von Hartmann selbst seine Philosophie als einen geisti-
gen Monismus beschrieb, dessen Grundlage das abso-
lute Unbewusste sei (hier kommt nicht zuletzt auch
Schelling ins Spiel), gleichsam das Trägerelement von
Materie und Bewusstsein; eben das, was für Hegel der
absolute Geist gewesen war oder gewesen sein sollte.
Dass von Hartmann, der ja auch als Mitbegründer des
Neovitalismus gilt, ein Gegner Darwins war, dessen
Lehre man im zeitgenössischen Japan gerade zu rezi-
pieren begonnen hatte5, braucht wohl kaum erwähnt zu
werden. Da der Darwinismus als Sozialdarwinismus in
der mittleren Meiji-Zeit eine so wichtige Rolle gespielt
hat, sei ein kurzer grundlegender und/aber ein wenig
theoretischer Exkurs erlaubt:

In einem gewissen Sinne war Japan auf den Darwi-


nismus gut vorbereitet. Und zwar dank zweier „Mängel“
oder zweier „Leerstellen“. Erstens fehlt im ostasiati-
schen Denken die Vorstellung von einem Schöpfergott
und damit auch das Modell für eine Subjektkonstitution
alt-europäischer Art. – Der Mensch als Ebenbild der
Gottheit. Oder – wie Mephisto es in Goethes „Faust“
unübertrefflich ausdrückt: der „kleine Gott der Welt“.
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
5!!Vgl.!Peter!Pörtner,!„Der!missbrauchte!Darwin?!Zur!Rezeption!der!Evolutionstheorie!in!

Japan“,!in:!!Gottfried!Magerl!und!Reinhard!Nick!(Hg.),!Evolution!–!Entwickling!und!
Dynamik!in!den!Wissenschaften,!Böhlau!Verlag!Wien!Köln!Weimar,!2010,!1070124.!
! 10!
Zweitens fehlt – folgerichtig – auch das Konzept eine
„Schöpfung“ im prägnanten Sinne der creatio ex nihilo
durch einen Schöpfergott, der in der Tradition ja auch
conditor mundi genannt wurde. Die Welt ist hier nicht
geschaffen, sie ist irgendwie plötzlich, wenn auch ohne
einen big bang, plötzlich „da“; wofür der sinojapanische
Terminus , kaibyaku, steht: Sie ist ihrem Wesen
nach „Hervorkommnis“; insofern unterscheidet sie sic
nicht von Natur im Sinne des shizen, , all dessen,
was „von selbst“ (ist, sozusagen). Dieser (östliche)
mundus increatus zeigt sich als ein geschlossenes Kon-
tinuum; außerhalb dessen keine „zweite“ Welt, weder in
einem platonischen Sinne (als ein adamantines Reich
der Ideen), noch nach einer wie auch immer gearteten
jüdischen oder christlichen Vorstellung. Es gibt nur die
manbutsu, , die Zehntausend Dinge, die alles sind.
Ludwig Wittgensteins berühmte Bestimmung variie-
rend, kann man sagen: Die Welt ist hier alles, und als
solches genau nur all das, was der Fall ist. - Also durch-
aus kompatibel mit dem, was Darwin „a web of com-
plex relations“ genannt hat. Natürlich entwickelt eine
solche Welt auch entsprechende Wahrnehmungsformate
für das Schöne; aber keinesfalls eine Idee vom Schönen,
auch nicht im abgeschwächten Sinne Hegels; - mono no
aware, sabi, wabi, yûgen, fûga no makoto, mezurashi,
omoshiroshi, okashi etc. sind keine Ideen; auch Zeami
Motokiyos viel beschworene „Blüte“, , hana, gehört
! 11!
zur Spezies der Ideen, wenn man sie in einem Dar-
winschen Horizont so nennen darf. Sie verfolgen auch
keine Ideen. Stattdessen meinen sie prägnante Formen
der Wahrnehmung, in denen sich ein bestimmter Bezug
zu den Dingen und den Zeichen manifestiert. In diesem
Sinne deute ich auch Lewin, wenn er seinen Aufsatz
„Mori Ôgai und die deutsche Ästhetik“ folgendermaßen
beginnt: „Der Begriff des Schönen ( bi) und die Be-
schäftigung mit dem Schönen war dem älteren Japan
selbstverständlich nicht fremd; allein schon Termini wie
mono-no-aware, okashi, yügen, wabi, sui u.v.a. (vgl.
Hisamatsu 1963) beziehen sich auf Aspekte des Schö-
nen, die beispielsweise in der traditionellen Literatur
Japans entdeckt und beschrieben worden sind. Doch die
Wissenschaft vom Schönen ( bigaku) als philoso-
phische Disziplin ist wie so manches materielle und
immaterielle Gut in der Meiji-Zeit aus dem Westen nach
Japan verpflanzt worden.“ – Zu diesen nach Japan ver-
pflanzten (immateriellen) Gütern gehört eben auch die
„Idee“ von der die abendländischen Philosophen und
Ästhetiker reden.

Wie eigenwillig die Japaner beim „Verpflanzen“ abend-


ländischer Güter nach Japan vorgingen, zeigen gerade
die naturwissenschaftlichen oder als naturwis-
senschaftlich geltenden Disziplinen: Der Darwinismus
wurde zum Beispiel von dem amerikanischen Zoologen
! 12!
Edward Sylvester Morse (1838-1925), einem Absol-
venten der Harvard-Universität, der seit 1877 an der
Kaiserlichen Universität Tôkyô Evolutionstheorie lehrte
(und ansonsten japanische Keramik sammelte) in Japan
bekannt gemacht. Von Anfang an gleichsam in Engfüh-
rung mit der so genannten „sozialdarwinistischen“ Ideen
Spencers, die Julia Adeney Thomas „the West greatest
intellectual export to Japan in the late nineteenth cen-
tury“ nennt. Seine Vorlesungen wurden von einem sei-
ner Schüler, Ishikawa Chiyomatsu, ins Japanische
übertragen und im Jahr 1881 veröffentlicht. Die ja-
panischen Biologen reagierten zunächst nicht sehr posi-
tiv auf den Advent der Evolutionstheorie in Japan; wohl
auch weil sie dieser Theorie nicht wirklich gewachsen
waren. Sie hatten gegen Ende des 18. Jahrhunderts von
Carl Peter Thunberg die Linnésche Taxonomie gelernt,
an der sie sich auch noch das 19. Jahrhundert lang
orientierten. Sie betrieben im Grunde Naturgeschichte.
Das änderte sich erst um 1910 mit dem Import des Men-
delismus, der die „moderne“ Biologie in Japan initiierte.
Auf der anderen Seite aber wurden zwischen 1877 und
1900 über 30 japanische Übersetzungen Herbert Spen-
cerscher Werke publiziert und auf eine Weise ange-
eignet, die David Pollack in einem anderen Kontext als
„fracture of meaning“ beschrieben hat.

! 13!
Aber nun endlich zurück zu von Hartmann, einem der
temporären Leitfiguren Mori Ôgais, - der übrigens sei-
nerseits in Japan schon mit evolutionistischen Gedanken
Bekanntschaft gemacht hatte. - Ich rekapituliere: Eduard
von Hartmann war ein sehr abendländischer Metaphy-
siker. – Diese Aussage ist in unserem Kontext nicht so
trivial, wie sie vielleicht klingen mag: Friedrich Nietz-
sche hatte schon im Jahr 1874 von Hartmanns „Philo-
sophie des Unbewussten“ scharf kritisiert, ja als naiv
denunziert und von Hartmann selbst als „Modephilo-
söphchen“ (dis)qualifiziert, womit er allerdings dessen
Popularität und Erfolg als Schriftsteller – nicht ohne
eine Prise Kollegenneid - bestätigte. – Zwischen 1869
und dem Aufenthalt Ôgais in Deutschland erlebte von
Hartmanns „Philosophie des Unbewußten“ 20 Auflagen.
- Das Wort „Modephilosöphchen“ findet sich schon in
einem Brief Nietzsches vom 14. Juni 1874 an den Leip-
ziger Hofrat Marbach, einem von Nietzsche geschätzten
Übersetzer aus dem Altgriechischen. Ich zitiere die
Stelle, weil Nietzsche sich hier explizit auf die
ästhetische Urteilskraft von Hartmanns bezieht. – Be-
merkenswert ist auch, in welchen Zusammenhang
Nietzsche seine Bemerkung stellt. Er schreibt: „Was
Shakespeare angeht – kennen Sie das ekelhafte Pam-
phlet unseres Modephilosöphchen E. von Hartmann
gegen Romeo und Julia? Wir leben in einer wunder-
lichen Zeit; die deutsche Gesinnung knarrt in ihren
! 14!
Angeln; und die Gefahr ist gross.“ - Nietzsche schrieb
dies in einer Zeit, als Komponisten, die gezielt für die
„Massen“ schrieben, Salonmusik komponierten, „Mode-
komponisten“ genannt wurden. Offensichtlich sah er in
von Hartmann und seiner Philosophie analoge Fälle.
Wir sollten also – neben dem abendländischen Meta-
physiker – auf unserer geistigen Hinterhand halten, dass
von Hartmann – auch - ein Modephilosoph war, weil
diese Tatsache Ôgais Rezeption zweifellos beeinflusst
hat. Zu von Hartmanns „Philosophie des Unbewussten“
hatte Nietzsche angemerkt: „Selten haben wir eine lu-
stigere Erfindung und eine mehr philosophische Schel-
merei gelesen als die Hartmanns.“ - - Auf dem Ehren-
grab von Hartmanns auf dem Berliner Friedhof Colum-
biadamm kann man lesen, dass von Hartmann da ganz
anders dachte: „Die Macht der Philosophie ist die größte
Macht unter den Mächten des Geistes.“ Diese Grab-
schrift, scheint mir, sagt viel über das Macht-Pathos von
Hartmanns und seines Denkens aus, ein Pathos von dem
auch Raphael von Koeber getragen wurde, dessen Ein-
fluss auf die moderne japanische Philosophie und Lite-
ratur nicht unterschätzt werden darf:

Der bedeutende Kulturvermittler Raphael von Koeber


lebte und wirkte von 1893 bis 1923 in Japan. (Warum
sein Münchner Hausdiener 1912 Selbstmord beging, ist
mir nicht bekannt.) Von Koeber, von dem es heißt, dass
! 15!
er 17 Jahre lang dieselbe Winterkleidung trug, war Leh-
rer von Natsume Soseki, Watsuji Tetsurô und Nishida
Kitarô (seinen Arbeitstisch, den er Nishida geschenkt
hat, und auf dem dieser sein „Zen no kenkyû“ geschrie-
ben haben soll, kann man noch heute in Unoke besich-
tigen). Auch Hatano Seiichi hat bei von Koeber studiert.
Raphael von Koeber hatte schon 1884 in Breslau ein
Buch mit dem Titel „Das philosophische System Eduard
von Hartmanns“6 veröffentlicht. Die ersten Zeilen der
„Einleitung“ dieses Buches lauten sehr bestimmt und
bestimmend, geradezu im Ton einer Verfügung: „Das
Studium der Philosophie soll keinen anderen als rein
philosophischen Zweck verfolgen. Dieser Zweck ist die
Befriedigung unseres metaphysischen Bedürfnisses, mit
welchem Namen wir mit Schopenhauer das allen Men-
schen inwohnende, aber bei den Meisten unbewusste,
noch schlummernde Streben nach Erkenntnis des We-
sens und des Zusammenhangs der Dinge bezeichnen.“ –
Offensichtlich verband er mit dieser Aussage auch –
wenn nicht (s)eine Mission, so doch - ein pädagogisches
Programm: das auch in den Japanern – weil ja allen
Menschen – in(ne)wohnende aber noch schlummernde
metaphysische Bedürfnis aufzuwecken.

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
6!!In!der!Ausgabe!von!1884!abzurufen!unter:!

http://de.scribd.com/doc/178056332/Koeber0Das0Philosophische0System0Eduard0
Von0Hartmanns.!
Zuletzt!aufgerufen!am!7.!Januar!2014.!
!
! 16!
In seiner – als stark autobiographisch geltenden – Er-
zählung „Môsô“, „Illusionen“, von 1911, nennt Ôgai ne-
ben Schopenhauer, Stirner, Mailänder und auch Nietz-
sche vor allem Eduard von Hartmann und seine „Philo-
sophie des Unbewußten“ (von 1869) als die Autoren, in
deren Schriften er sein Lebensgefühl während seines
Deutschlandaufenthalts gleichsam gespiegelt sah; was
sachlich gesehen sehr merkwürdig ist. Denn hatte er aus
Japan wirklich ein Lebensgefühl mitgebracht, das sich
in diesen Schriften spiegeln konnte? Musste er es durch
die Lektüre nicht vielmehr erst lernen? Von Hartmanns,
des „Modephilosöphchen“, „Ästhetik“ bezeichnet er in
„Môsô“ als die „damals vollkommenste und außerdem
reich an schöpferischen Einsichten“ 7 . Ich persönlich
glaube, dass er von Hartmanns „Ästhetik“ erst nach sei-
ner Rückkehr nach Japan wirklich gelesen hat. Ist es
nicht merkwürdig, dass der Naturwissenschaftler Mori
Ôgai, wenn er sich nach mehr als 25 Jahren an seine
Epoche in Deutschland erinnert, nicht von Denkern wie
dem bereits genannten Fechner oder Lotze oder Wundt
spricht, welche die zeitgenössischen neuen Naturwis-
senschaften in ihr Denken – auf je eigene Weise – zu
integrieren versuchten? - Nishi Amane, Ôgais Onkel
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
7!!Alle!Zitate!aus!Môsô/Môzô!aus!der!deutschen!Übersetzung!von!Peter!Pörtner,!

abzurufen!unter:!http://de.scribd.com/doc/139953552/Peter0Portner0Mori0Ogais0
Moso0Mozo.!
Zuletzt!aufgerufen!am!7.!Januar!2014!
! 17!
und der andere große Sohn Tsuwanos, hingegen hatte
sich am positivistischen Denken englischer und fran-
zösischer Provenienz orientiert. Das deutsche – grob
gesagt spekulative und idealistische – Denken blieb in
den ersten zwei Jahrzehnten der Meiji-Zeit in Japan
praktisch unbekannt und fand auch kaum Interesse.
Offensichtlich hatte der junge im Aufbau begriffene
Meiji-Staat andere Probleme vor Augen als die Idee des
Weltgeistes oder die des Schönen.

Warum war die Situation in und ab den 1880er Jahren


anders? Warum war es jetzt möglich, dass Hegel und
von Hartmann et. al. in Japan gesellschaftsfähig wurden
und der verinnerlichende Effekt des Deutschen Idea-
lismus seine guten Dienste leisten konnte? - Hier müsste
man freilich detailliert über die Rolle Inoue Tetsujirôs
nachdenken, der von 1884 bis 1890 in Deutschland (als
erster Geisteswissenschaftler, dessen Auslandsstipen-
dium von der japanischen Regierung finanziert wurde) –
anscheinend und seiner eigenen Beschreibung nach lust-
los - den Deutschen Idealismus – studierte, - auf
Empfehlung seines Lehrers von Koeber! - in Berlin den
Kontakt mit Eduard von Hartmann suchte – und sich
mit ihm anfreundete – und privatissime unterrichtet
wurde. Ist es also nicht nur eine Frage persönlicher in-
tellektueller Vorlieben, wenn der Naturwissenschaftler
Ôgai sich der spekulativ-idealistischen deutschen Tra-
! 18!
dition zuwendet, einer Weltinterpretation, die der
japanischen so fern war, dass, um sie zu verstehen und
sich anzueignen, zunächst einmal die Worte, ja neue
Wortarten, wie die, mit denen man Abstrakta bezeich-
nen konnte, gemünzt, eine ganze neue Begrifflichkeit
geschaffen werden musste, um sie überhaupt auch nur
in der japanischen Sprache repräsentieren zu können?
Zu den prominentesten dieser Neologismen gehören be-
kanntermaßen, aber nicht zufällig „tetsugaku“, , für
„Philosophie“, und „bigaku“, , für „Ästhetik“. Und
die Wortmünzer, die hier das Größte geleistet haben,
kennen wir schon: Nishi Amane, Inoue Tetsujirô und
auch - auf seine eigene Weise - Mori Ôgai. Zu den
Übersetzungen Ôgais von Teilen der „Ästhetik“ von
Hartmanns merkt Bruno Lewin an: „Die oft schwierigen
Gedankengänge des Originals hat Ôgai sinngemäß und
kaum verkürzt wieder gegeben, terminologische Pro-
bleme durch ad-hoc-Bildungen gelöst.“ – Ich frage:
Wirklich „gelöst“? - Man darf das bezweifeln; ohne da-
mit auch am Genie Ôgais zu zweifeln. Bekannt ist der
Streit Ôgais mit Tsubouchi Shôyô – in den Jahren 1891-
2 - über die sogenannten „versteckten Ideen“, womit
Shôyô den Reichtum an Ideen meinte, die sich in Sha-
kespeares Dramen „versteckten“ und von den Lesern
erst aufgedeckt – so wie Schätze gehoben - werden
müssten. Bruno Lewin stellt diesen Disput auf folgende
Weise dar: „In dem Artikel "Die versteckten Ideen der
! 19!
Waseda-bungaku" (Waseda-bungaku no botsurisô) in
der Zeitschrift Shigarami-zôshi kritisierte Ôgai den
Standpunkt Shöyös, und es entbrannte ein Literatenstreit
über mehrere Aufsätze hin, der im wesentlichen auf
unterschiedliche Interpretationen des Begriffs risô
hinauslief, dem Shôyô als Anglist die allgemeine Be-
deutung von ,ideas' unterlegte, während Ôgai mit dem
deutschen ,Idee' operierte. Ôgai argumentierte mit der
Ästhetik Hartmanns, den er als "Meister Fiktiv" (Uyûs-
ensei) zu Worte kommen ließ. Diese Darlegungen wa-
ren vergleichsweise abstrakt und oft wohl auch un-
verständlich für den Kontrahenten Shôyô wie für andere
Leser. Wenn Ôgai Shôyô Mangel an ,Theoretisieren'
(danri) vorwarf, so legte er selbst sicher ein Übermaß
davon an den Tag. Ôgai war ein polemischer Geist,
nicht ohne intellektuelle Arroganz, die in den kritischen
Beiträgen zu Anfang seiner schriftstellerischen Karriere
deutliche Konturen zeigte.“ - Ich möchte behaupten,
dass sich im Unverständnis Shôyôs und der Arroganz
Ôgais, auf die Lewin anspielt, exemplarisch die Verle-
genheit zeigt, mit einem Fremden, das man sich angeei-
gnet zu haben glaubt, so umzugehen, als wäre es schon
ein Eigenes. Die Verlegenheit ergibt sich daraus, dass es
kein inhärentes Kriterium für die Richtigkeit oder auch
nur die Angemessenheit des eigenen Verstehens geben
kann. – Ein Dilemma, das schon mit dem Problem

! 20!
verglichen wurde, mitten auf dem Meer ein Floß zu
bauen.

Ist Ôgais Bemerkung aus dem Jahr 1902, dass seine Be-
schäftigung mit der deutschen Ästhetik ein „chronisches
Leiden“ sei, nur ein launischer Stoßseufzer; oder möch-
te er andeuten, dass er die Schmerzen der Aneignung
eines Fremden exemplarisch in seiner Auseinanderset-
zung mit der deutschen Ästhetik erfahren hat? - Im-
merhin diagnostiziert hier ein Arzt einen repräsentativen
Teil seines Lebens und seiner Arbeit in medizinischen
Termini. - In „Môsô“ insistiert Ôgai – auch hier bemer-
kenswerter Weise mithilfe sehr europäischer Metaphern
– nachdrücklich darauf, dass die Menschen, er sagt: das
Kind, der Bürokrat, der Student, der Stipendiat, alle nur
Rollen spielen. Könnte es sein, dass Ôgai gerade im
Versuch der Aneignung des Fremden dieses So-tun-als-
ob besonders schmerzlich empfand? Ist es zu gewagt
oder gar abwegig, jene recht berühmte Peitschen-Passa-
ge in Môsô auch auf seine Rolle als „Kulturvermittler“
zu beziehen und in dem „chronischen Leiden“ an der
deutschen Ästhetik eine Folge des Zwangs, des viel-
leicht selbst-auferlegten Zwangs zu sehen, eine Arbeit
zu leisten, mit der er sich nicht wirklich, wie wir sagen,
„identifizieren“ konnte?! -

Wie beschrieb er diesen Zustand selbst? - : „Was habe


! 21!
ich getan, seit ich geboren wurde? Wie von einer Peit-
sche angetrieben habe ich mich auf das Studium gewor-
fen, überzeugt, dass es mich fähig macht, etwas zu lei-
sten, dass es mich vervollkommnet; und vielleicht bin
ich diesem Ziel auch etwas nähergekommen. Aber
gleicht meine Tätigkeit nicht der eines Schauspielers,
der auf einer Bühne seine Rolle herunterspielt? Hinter
dieser Rolle muß doch noch etwas anderes stecken!“

Zusammen mit Ômura Seigai wollte Ôgai einen „Abriss


der Geschichte der Ästhetik“, Shinbi-shikô, herausbrin-
gen, der bei den Alten Griechen beginnen und mit Edu-
ard von Hartmann enden sollte. Das halbfertige Manu-
skript, das heißt, das Manuskript in der Form, wie es
1898 vorlag, ist erst 1952 in der Ôgai-Werkausgabe des
Iwanami-Verlags veröffentlicht worden. Der „Abriss“
sollte sich an Max Alexander Friedrich Schaslers „Äs-
thetik als Philosophie des Schönen und der Kunst“ (des-
sen erster bereits Teil 1872 erschienen war) orientieren.
In den 1890er Jahren blieb Ôgai den deutschen Ent-
wicklungen in Sachen Ästhetik noch auf der Spur; las,
exzerpierte, übersetzte und referierte. Welche Autoren
hielt er für relevant und repräsentativ? - Zum Beispiel
den Kantianer und Hartmannianer Johannes Immanuel
Volkelt, dessen Vortragsreihe „Ästhetische Zeitfragen“
(von 1884) in einem Zeitschriftenartikel vorstellte. Da-
neben den Neukantianer Otto Liebmann, dessen Werk
! 22!
„Zur Analysis der Wirklichkeit“ 8 (von 1876) Ôgai –
nach der Neuauflage von 1900 – teilübersetzte; wobei er
sich auf die Teile beschränkte, in denen Fragen der
Ästhetik thematisiert werden. In einem davon,
überschrieben „Ideal und Wirklichkeit“ heißt es (diese
Stelle vermittelt einen plastischen Eindruck von dem
hohen rhetorischen (den Ton von Hartmanns noch über-
steigernden) Pathos dieser Philosophie, das den Autor
über mehrere hundert Seiten nicht verlässt): „Über-
haupt, menschliche Kunst und Wissenschaft, Recht, Ge-
setz, politische Ordnung und Weiterentwicklung, Sitt-
lichkeit und Religion, genug unsere Cultur sind sie nicht
reale Sprößlinge des Ideals? Man raube der Menschheit
ihre höchsten Ideale, ihre absoluten Werthideen; und es
verschwindet die Humanität, es bleibt nur übrig die
bestia triumphans.“ An einer anderen Stelle heißt es:
„Genug, Aesthetik und Ethik schwingen sich in das
Reich der Ideale hinauf, während die Wahrheitsfor-
schung an die Scholle der Realität gefesselt ist.“ – Und
damit: Genug.

Ôgais letzter Beitrag zur deutschen Ästhetik erschein


1902 und war die Übersetzung der Einleitung zu einer
nachgelassenen Schrift des Philosophen Heinrich von
Steins (1857-1887), die erst postum – unter dem Motto
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
8!!In!der!Auflage!von!1900!abzurufen!unter:!

https://archive.org/details/zuranalysisderw00liebgoog.!
Zuletzt!aufgerufen!am!7.!Januar!2014.!
! 23!
„Der Mensch ist die Seele der Dinge“ - im Jahr 1897 er-
schienen war. Sein Titel: „Kann man die Ästhetik als
Wissenschaft etablieren?“ Im deutschen Original lautet
der Titel: „Ist Aesthetik als Wissenschaft möglich?“
Heinrich von Stein nennt als seine Referenzen: Fechner,
Vischer, Semper und Richard Wagner. Seine „Ein-
leitung“ lässt sich als eine implizite Kritik an der
Ästhetik Eduard von Hartmanns lesen. Die Nähe zu
Fechner ist offensichtlich. Zugleich liegt aber über dem
Ganzen – bei aller Wesens- und Innerlichkeitsorien-
tiertheit – auch ein sensibel selbstkritisch-skeptischer, ja
fast sprachkritischer Ton. Ich finde es sonderbar und
bedenkenswert, dass gerade ein Text, der die Rückwen-
dung auf die konkrete Kunstäußerung propagiert, ten-
denziell also der „japanischen“ Wahrnehmung des
Schönen sich annähert, Ôgais letzter Beitrag zum The-
ma war. Heinrich von Stein schreibt: „Aesthetik be-
deutet `Lehre vom Gefühl´. Man hat das Wesen der
Aesthetik nur unvollständig erfasst, wenn man sie als
Lehre vom Schönen definiert und durch halblogische
Schematisierungen oder durch Deduktionen aus einem
metaphysischen System zu erschöpfen meint. Die Auf-
gabe der Aesthetik ist eine Kühnheit. Man muss gleich-
sam das Senkblei von der Oberfläche in die Tiefe hinab-
lassen. Denn es handelt sich um das innere Menschen-
wesen. Der einzelne Mensch aber kennt seine eigene
Tiefe nicht, mit Überraschung wird es oft gewahr, wenn
! 24!
sie sich als unerwarteter Entschluss ihm kund giebt. Sie
ist eigenartig, unmittelbar. Es erhebt sich daher die Fra-
ge: Giebt es überhaupt eine Zusammengehörigkeit der
Menschen in bezug auf das Innere? Sind wir nicht in
unseren Gefühlen, ebenso wie in unseren Launen, indi-
viduell verschieden? Wie können wir auch nur gewiss
sein, ob wir alle bei demselben Worte genau dasselbe
empfinden?“ - Welche Gedanken gingen beim Lesen
oder auch beim Übersetzen dieser Worte, die von Hart-
mann (und seine philosophische Entourage) niemals
hätte akzeptieren können, Ôgai durch den Sinn? – Hein-
rich v. Stein fährt fort: „Kann man hier von Gesetzen
sprechen? Ist eine Wissenschaft hierüber denkbar? Dem
entgegen ist zu behaupten: Es giebt `grosse Kund-
gebungen des Gefühls´, die dennoch eine Aesthetik
möglich machen. Dies sind die Kunstwerke. (...) Die
Kunstwerke sind prägnante Fälle, an denen die That-
sachen des menschlichen Innern für die Aesthetik
fassbar werden.“ -

Ôgai hätte vielleicht gerade mit den Gedanken anfangen


sollen, die in seinem letzten Beitrag zur deutschen
Ästhetik angesprochen wurden. Sehr wahrscheinlich hat
von Stein sie noch niedergeschrieben, als Ôgai sich
schon in derselben Stadt, Berlin, befand.

Schon Bruno Lewin resümiert: Ôgais „Vermittlungsver-


! 25!
suchen der deutschen Ästhetik blieb das erwartete Echo
versagt.“ Und ergänzt: „...anders als manche Zeitgenos-
sen, die ihre Studien der westlichen Ästhetik in eigenen
Schriften verarbeiteten, hat Ôgai kein eigenes Werk zur
Ästhetik geschaffen, sondern die deutschen Ästhetiker
für sich sprechen lassen. Auch blieb es bei Ansätzen,
Ausschnitten und Kurzfassungen, was einer Verbreitung
über einen kleinen interessierten Leserkreis hinaus
kaum förderlich war.“ Auch Lewin meint freilich nicht,
dass Ôgai gescheitert ist. Wir wissen: Er hat Enormes
geleistet. Aber wie beurteilte Ôgai selbst seine Lei-
stung? Was galt ihm selbst als eine Art Surplus, das
über die Vorstellung seiner Leistung als des Produkts
eines „chronischen Leidens“ hinausging? Also mehr als
(nur) das Symptom eines Symptoms war?

Ôgai war eine in einem prägnanten Sinne tragische Fi-


gur (im Spiel der Verhältnisse), weil er das Trauma der
Meiji-Transformationen in und mit seinem Intellekt und
in und mit seiner Psyche nicht nur gleichsam bis zur
Neige auskosten musste; vielleicht auch wollte. Glück-
lich hat ihn auch die geniale und manische Beschäf-
tigung mit dem Schönen aus Deutschland nicht ge-
macht. - Das hilft zu verstehen, warum er seinem so ge-
nannten Spätwerk (auch mit der Rückkehr zum kanbun-
Stil) eine Art Recherche versucht, nicht nach einer ver-
lorenen Zeit, aber nach einer verlorenen Welt. Eine Re-
! 26!
cherche freilich, die, das wissen wir aus Heinrich von
Kleists „Marionetten-Theater“, nicht gelingen kann;
weil sie den unmöglichen Umweg über eine Unend-
lichkeit von Erkenntnis nehmen müsste.

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