In der Reihe TOPOS POIETIKOS finden Arbeiten ihren Ort, die sich auf
der „imaginären“ Grenzlinie zwischen Philosophie und Literatur- bzw.
Sprachwissenschaft bewegen und die besonderen Texturen von Theorie
und Dichtung zu ihrem Untersuchungsgegenstand machen: Poiesis ist
(Kunst)gestaltung im Wort.
Streng methodisch und theoretisch reflektierte Wissenschaft der
Literatur und der Sprache ist offen auf die Philosophie hin, indem sie
sich der philosophischen Modellbildung bedient.
Einer Literaturwissenschaft, die darüber hinaus ihren theoretischen
Anspruch nicht in der Applikation vorgefundener Modelle erschöpft,
sondern sie am konkreten Gegenstand auffindet bzw. durch ihn heraus-
gefordert produziert, und einer Philosophie, die ihren Kontakt mit der
Dichtung nicht auf Illustrationszwecke beschränkt, sondern ihren Dis-
kurs selbst als Art der Literaturproduktion begreift, wird mit der Reihe
TOPOS POIETIKOS ein Forum geschaffen.
Robert André
Gespräche
von Text zu Text
Celan – Heidegger – Hölderlin
MEINER
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme
© Felix Meiner Verlag, Hamburg 2001. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen
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ten. Satz: Kusel, Hamburg. Druck: Strauss, Mörlenbach. Buchbinderische Verarbei-
tung: Schaumann, Darmstadt. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-
Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff.
Printed in Germany.
VORBEMERKUNG
I. DER KONTEXT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
III. POSITIONSBESTIMMUNGEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
A. Die stehenden Tempel Celans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
B. Die Athenertempel Hölderlins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
1. „Ein heimathloser Sänger“. Neuorientierung um 1800 . . . 64
2. Der Athenerbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
3. Vaterländischer Gesang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88
C. Das Dastehen des Tempels bei Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . 98
1. Die Aporie von Sein und Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
2. Die Kehre und wozu Hölderlin? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
3. Götterflucht und Germanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
4. Das Kunstwerk als heiliger Bezirk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
5. Nach 1945 – Wozu Dichter? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
D. Zwischenresümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
3. Hölderlintürme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
a) Plural und Verdoppelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204
b) Das Datum des Gedichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207
C. Hoffen auf ein Gespräch (1967) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
1. Schenkend-verschenkte Hände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
2. Todtnauberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216
Die Wissenschaft von der Literatur hat wie die Philosophie das Privileg, daß
sie ihr methodisches Vorgehen nicht aus einer dritten Quelle herbeizitieren
muß, sondern daß sie gerade in den bedeutendsten Werken Texte vorfindet,
die gleichermaßen die Bedingungen und Möglichkeiten ihres eigenen Status
als auch die Voraussetzungen einer möglichen Lektüre erörtern. Daran gilt es
anzuknüpfen. Die Literaturwissenschaft muß durchaus nicht selber Literatur
sein, um von ihren Texten erfahren zu können, wie mit ihnen umzugehen
möglich sei; sie muß sich allerdings auf diese einlassen und sie lesen. Versucht
man dies aber so, daß die Kriterien für den auf den Begriff zu bringenden Ge-
genstand diesem selbst entnommen werden, dann erweist sich das Privileg der
Literaturwissenschaft als eine kaum handhabbare Bürde. Denn wenn sich ei-
ne Literatur genötigt sieht, sich der Frage anzunehmen, wie es um die her-
meneutischen Bedingungen der Lektüre bestellt ist, wird zunächst einmal
deutlich, daß ein derartiges Entgegenkommen der Literatur auf Erfahrungen
von Unverständnis ihr gegenüber beruhen muß. Das Zugehen auf den Leser
erweist sich im Näheren als eine grundlegende Konfrontation, die kenntlich
macht, daß das an den Text herangetragene Leseverständnis jenes bedingt,
was eine Literatur geben und bedeuten könnte.1 Das wiederum impliziert,
1 Die Geschichte der Gattung des Vorworts, das – noch bevor der Text beginnt – auf die
hermeneutische Situation einzuwirken versucht, müßte sich über einen Mangel an ‚Vor-
kommnissen‘ dieser Art nicht beklagen. Vier berühmte Beispiele seien hier erinnert:
Jean-Jacques Rousseau: Seconde Préface zu: Julie ou La Nouvelle Héloïse (1761), in: ders.:
Œuvres Complètes, publ. par Bernard Gagnebin et Marcel Rymond, Vol. 2, Paris 1961,
12–30; vgl. hierzu Paul de Man: Allegory (Julie): „The best place in the text of Julie to en-
rich one’s understanding of ‚reading‘ is without doubt the second Preface, sometimes re-
ferred to as ‚Dialogue on the novel‘ and staging a confrontation between author and reader
in the conventional form of an apologia“, in: ders.: Allegories of Reading. Figural Language
in Rousseau, Nietzsche, Rilke and Proust, New Haven/London 1979, 188–220, hier 195;
Friedrich Hölderlin: Vorrede zu: Hyperion oder der Eremit in Griechenland (1797/99), in:
ders.: Sämtliche Werke, ‚Frankfurter Ausgabe‘ (FHA), hg. von Michael Knaupp und Diet-
rich E. Sattler, Bd. XI, Frankfurt a. M. 1982, 579; Heinrich Heine: Vorrede zu: Französische
Zustände (1832), in: ders.: Sämtliche Schriften, hg. von Klaus Briegleb, Bd. V, München/
Wien 1981, 91–105, die ‚mißverstehende‘ Rezeption dieses Textes machte wiederum eine
Vorrede zur Vorrede (1832) notwendig, ebd., Bd. IX, 10–14; Charles Baudelaire: Au Lecteur
zu: Les Fleurs du Mal (1857), in: ders.: Sämtliche Werke / Briefe, in acht Bänden, Bd. III, hg.
von Friedhelm Kemp und Claude Pichois, München/Wien 1975, 54–57. – Literaturanga-
2 Der Kontext
daß eine Literatur insbesondere dann bedeutsam ist, wenn sie eine erneute
Verständigung über die Bewandtnisse des Lesens zu veranlassen vermag.
Wenn dagegen aber – was unvermeidlich ist – ein Leseverständnis schon vor
der Lektüre besteht und damit unkenntlich vor der Literatur steht – was zu
vermeiden wäre –, gelingt gerade das nicht, was eine lesende Philologie be-
günstigen sollte: nämlich ihre Lektüre vom jeweiligen Text her legitimeren zu
können. An die Literatur anzuknüpfen kann darum nicht heißen, der Kon-
frontation mit dem Text mit fertigen Lesemodellen aus dem Wege zu gehen.
Muß sich eine Wissenschaft von der Literatur auch nicht eines ihr fremden
Metadiskurses bedienen, um ihre Lektüre zu begründen, so ist gleichwohl
deutlich, daß sie es mit einer Sprache zu tun hat, die ihr gegenüber derart
fremd ist, daß sich das Anliegen erschwert, von der Literatur selbst eine ge-
festigte Methodik des angemessenen Lesens, Verstehens und Auslegens zu
bekommen. Daraus aber wiederum den Schluß zu ziehen, die Wissenschaft-
lichkeit der Lektüre deshalb nicht auf den in vielerlei Hinsicht vagen Grund
der so unterschiedlichen einzelnen Literaturen stellen zu können und sich
statt dessen ausschließlich an die Rationalitätskriterien der anderen Wissen-
schaften zu halten, hat den Preis, daß die Literatur zu einem Objekt degra-
diert wird, dessen erkenntniskritische Potenz von vornherein beschnitten ist.
Statt die Möglichkeit offen zu halten, die Geltung einer Literatur in einer
Lektüre analysierend zu erproben und sich auf diesem Wege neue Einsichten
und Bezüge zu erschließen, verkäme die Literatur im Anschluß eines schein-
bar gefestigten Wissenschaftsverständnisses zum Beiwerk, das die kognitive
Leistung der Wissenschaft nur noch in ihren schönen Formen veranschauli-
chen dürfte.
Wenn dagegen aber gilt, wie Werner Hamacher hervorhebt, daß in den
„Texten [der Literatur] selbst – und zwar als Texten – eine Dimension der kri-
tischen Erkenntnis ihrer eigenen Verfassung eingeschrieben ist“, und wenn
ferner gilt, daß eine Wissenschaft von der Literatur hierin ihren „sachlichen
Grund“ haben muß, um wissenschaftlich sein zu können, dann wird vorerst
fraglich bleiben müssen, ob es überhaupt „eine Wissenschaft von der Litera-
tur geben kann“.2 Denn wissenschaftlich wäre die Lektüre von literarischen
Texten dann, wenn sie in der Auseinandersetzung mit ihrem Text allererst die
Regeln des möglichen Verstehens freilegt. Das impliziert, daß prinzipiell mit
jeder Lektüre von literarischen Texten von neuem die Fundamente der Lite-
raturwissenschaft auf dem Spiel stehen. Ob aber die einzelnen Lektüren, die
nach der jeweiligen Regel des Verstehens fragen, je das einlösen können, was
ben, denen in Klammern eine Sigle beigefügt ist, werden fortan so im Text wiedergegeben,
vgl. das Siglenverzeichnis unten S. 229.
2 Werner Hamacher: Lectio. De Mans Imperativ (1989), in: ders.: Entferntes Verstehen,
eine Wissenschaft als Wissenschaft verheißt, daß diese nämlich ihren propä-
deutischen Charakter bereits überwunden und im Aufstellen von unumstöß-
lichen Prinzipien zu sich selbst gefunden habe, muß mindestens solange
bezweifelt werden, bis die Lektüre akzeptiert, daß sie den Buchstaben ihrer
Texte zu folgen hat und daß mithin das Lesen notwendigerweise propädeu-
tisch bleibt.
Die gangbare Alternative zu dem unwägbaren Wagnis, nämlich beispiels-
weise der Dichtung Paul Celans auf ihren nonkonformen Pfaden zu folgen
und dabei unwillkürlich in Widersprüche hineinzugeraten, die das Selbstver-
ständnis einer Literaturwissenschaft grundlegend berühren müssen, ist das
Verfahren, Differenzen und Antagonismen, welche diese Texte hervorrufen
und begleiten, als sachlich vorgefundene zu konstatieren und nach empirisch-
wissenschaftlichen Kriterien zu präsentieren. Durch die Darlegung eines ob-
jektiv vorgefundenen Widerstreits, den die Gedichte Celans intern und an
ihren Rändern in vielerlei Hinsicht austragen und bewirken, kann sich die
Wissenschaft selbst dadurch schadlos halten, daß sie beispielsweise mittels ei-
nes Vergleichs einen Kontrast gewinnt, der in das für sich besehen Unzu-
gängliche und Dunkle Struktur und Klarheit zu bringen versucht. Damit wird
nicht nur das derart zur Darstellung Gebrachte dem Wissen zugänglich
gemacht, sondern die Wissenschaft kann sich zudem als Vollbringer einer un-
entbehrlichen Leistung erweisen; ist sie es doch, die selbst die schmerzlich-
sten Konflikte auf den Begriff zu bringen hilft. So fällt es unbestritten leich-
ter, mit dem Unverständlichen in und mit dem Unverständnis gegenüber
Celans Dichtung ‚umzugehen‘, wenn ein Dritter mit ihr konfrontiert wird.
Gegen die Praxis der zahlreichen komparatistischen Analysen stellen sich
darum aber auch Bedenken ein. Denn mögen diese Untersuchungsanordnun-
gen auch aufschlußreiche Anhaltspunkte geben, die den literaturgeschichtli-
chen Stellenwert von Celans Dichtung – und damit nicht zuletzt ihre Unver-
gleichbarkeit – im erweiterten Kontext verdeutlichen, so muß gleichwohl
skeptisch machen, daß auf diesem Wege die Verunsicherungen bezüglich ei-
nes hermeneutischen Zugriffs, die Celans Gedichte je bewirken und auf die
sie immer wieder aufmerksam machen, besonders leicht kaschiert werden
können.
Symptomatisch scheint diese Ausflucht insbesondere für die vergleichen-
den Untersuchungen zu sein, die Paul Celans und Martin Heideggers Texte
aufeinander beziehen. Denn einer der Gründe, warum so oft darüber speku-
liert wurde, was sich zwischen Celan und Heidegger zugetragen habe, dürfte
auch der sein, daß sich gerade in der Person Heideggers jene Erfahrung re-
präsentieren läßt, die man unvermeidlich selbst beim Lesen von Celans Ge-
dichten macht, aber – insbesondere als deutscher Leser – nur mit Unlust ein-
räumen mag: daß man nämlich mit dieser Sprache nicht zurecht kommt, daß
man den Gehalt dieser Dichtung wohl ahnt, sich von ihr darum gar geahndet
4 Der Kontext
fühlt, die Gedichte aber nicht derart versteht, daß man ihnen gegenüber zu
einem sicheren und ruhigen Stand kommt. Zu fragen muß also erlaubt sein,
ob sich in der gegen Heidegger erhobenen Anklage, er habe „Mangel an Ge-
spür“3 und ihm fehle gegenüber Celan „das menschliche Mitempfinden und
die Bedachtsamkeit“,4 nicht auch das eigene Unvermögen gegenüber Celans
Dichtung zu erkennen gibt. Durch die Anklage aber erhält das Unverständ-
nis einen Namen, ohne daß man sich selbst damit auseinandersetzen müßte,
Celan nicht zu verstehen. Eine derart uneingestandene Affinität zu Heideg-
ger muß sich freilich unfreiwillig in eine Aversion gegen den Philosophen ver-
sieren.
Ungeachtet dieser Bedenken gegen eine vergleichende Analyse spricht
gleichwohl vieles dafür, gerade der Konstellation zwischen Celan und Hei-
degger näher auf den Grund zu gehen. Daß sich bereits so viele literatur-
wissenschaftliche Essays und Feuilletonartikel zum Verhältnis zwischen den
beiden geäußert haben, verdankt sich vordergründig einer Begebenheit, die
Aufsehen erregen mußte. Im Juli 1967 besuchte Celan Heidegger in dessen
Schwarzwaldhütte. Dieses Zusammentreffen, das Gerhart Baumann in seinen
Erinnerungen eine „epochale Begegnung“ 5 nennt, setzt bis heute Affekte frei
und nimmt schon darum das Nachdenken weiterhin in die Pflicht. In Frei-
burg und schließlich in Todtnauberg trafen sich zwei, deren Namen je, um es
mit einem Wort Foucaults auszudrücken, „das Ereignis eines gewissen Dis-
kurses sichtbar“ machen.6 Diese beiden unterschiedlichen Diskurse haben
wohl eine Geschichte, ihr Aufeinandertreffen scheint aber eben darum alles
andere denn möglich. Denn auf der einen Seite steht Celan als Dichter, Über-
lebender der Shoah und Jude (so der Titel von John Felstiners Celan-Biogra-
phie 7), auf der anderen befindet sich Heidegger als der deutsche Wesensden-
ker, der sich 1933 faktisch mit den Tätern des Genozids verbündete (wenn er
3 Jean Bollack: Vor dem Gericht der Toten. Paul Celans Begegnung mit Martin Heidegger
und ihre Bedeutung, in: Neue Rundschau (1998) H.1, 127–156, hier 149.
4 Sieghild Bogumil: „Todtnauberg“, in: Celan-Jahrbuch 2 (1988), 37–51, hier 39.
5 Gerhart Baumann: Erinnerungen an Paul Celan. Frankfurt a. M. 1986, 74. Es ist be-
merkenswert, daß erst mit diesen Erinnerungen die Spekulationen über das Verhältnis zwi-
schen Celan und Heidegger auf breiter Ebene geführt wurden. Vor Baumann hatten aller-
dings schon Hans-Georg Gadamer (Sinn und Sinnverhüllung, in: Zeitwende 46 (1975),
312–329), Beda Allemann (Heidegger und die Poesie, in: Neue Zürcher Zeitung vom 15.
April 1977) und Otto Pöggeler (Mystische Elemente im Denken Heideggers und im Dichten
Celans, in: Zeitwende 53 (1982), 65–92; Spur des Worts: zur Lyrik Paul Celans, Frei-
burg/München 1986, insb. 259 ff.; sowie Celans Begegnung mit Heidegger, in: Zeitmitschrift
5 (1988), 123–132) an ihre Zeugnisse erste Deutungsversuche angeschlossen.
6 Vgl. Michel Foucault: Was ist ein Autor? (1969), in: ders.: Schriften zur Literatur, Frank-
sung, übersetzt von Holger Fliessbach, heißt: Paul Celan. Eine Biographie, München 1997.
Der Kontext 5
diesen auch weder bewirkt noch gewollt hat) und der auch nach der militäri-
schen Niederschlagung der deutschen Hybris durch die Alliierten keine Not-
wendigkeit sah, sich zu diesem Konnex eingehender öffentlich zu äußern.8
Die Tatsache dieser divergenten Provenienz mußte darum die Frage aufwer-
fen, was Celan bewogen haben mag, Heidegger in dessen unversehrt geblie-
benen Refugium aufzusuchen?
All jene, die hierauf eine Antwort zu geben versuchten, konnten feststel-
len, daß sich an dieser Diskursstelle in extremis die inhaltlich-geschichtlichen
sowie methodischen Schwierigkeiten komprimieren. Denn die Beantwortung
der Fragen, welchen Bezug Celan zu Heidegger hat und welche Erwartungen
seinen Besuch begleitet haben, ist auch bedingt durch die generell geführte
Diskussion, unter welchen Prämissen Heideggers Philosophie denn noch zu
würdigen sei, nachdem dieser sich in der nationalsozialistischen „Bewegung“9
engagiert hatte. Es überrascht darum nicht, daß den ersten Interpretationen
zur Begegnung zwischen Celan und Heidegger – die in die Zeit des soge-
nannten Historikerstreites fielen – dann nur wenige Jahre später die Ende der
1980er Jahre sowohl in Frankreich, Westdeutschland als auch in Nordameri-
ka geführte Debatte über die systematische Bedeutung von Heideggers Be-
teiligung am Nationalsozialismus folgte.10 Zu diesen Streitpunkten, nämlich
erstens, wie eine sich einlassende Auseinandersetzung mit Heideggers Den-
ken auszusehen hätte und zweitens, unter welchem methodischen Gesichts-
8 Überliefert ist nur der anstößige Vergleich, den Heidegger 1949 in Bremen geäußert
hat: „Ackerbau ist jetzt motorisierte Ernährungsindustrie, im Wesen der Sache das Selbe
wie die Fabrikation von Leichen in Gaskammern und Vernichtungslagern, das Selbe wie die
Blockade und Aushungerung von Ländern, das Selbe wie die Fabrikation von Wasserstoff-
bomben.“ Zit. n.: Wolfgang Schirmacher: Technik und Gelassenheit. Zeitkritik nach Heideg-
ger, Freiburg i. Br. 1983, 25. Auf Heideggers Äußerung wird unten S. 132 f. eingegangen.
9 Vgl. die oft zitierte Stelle aus Heideggers Vorlesung Einführung in die Metaphysik
löste nicht erst Heideggers Beteiligung am Nationalsozialismus einen Streit über dessen
Philosophie aus. Schon unmittelbar nach dem erscheinen von Sein und Zeit (SuZ) in Tü-
bingen 1927 wird insbesondere Heideggers Sprache, die über die Grenzen der hergebrach-
ten Metaphysik hinaus will, angegriffen. Vgl. Maximilian Beck: Referat und Kritik von Mar-
tin Heideggers ‚Sein und Zeit‘, in: Philosophische Hefte 1 (1928), 5–44. Das methodische
Problem, wonach man diesem Denken entweder in seiner eigentümlichen Sprache und Be-
grifflichkeit Folgen müsse oder aber ihm äußerlich bleibe, beschreibt Heidegger selbst als
ein Grundproblem der Philosophie überhaupt: „Die absolute Metaphysik gehört mit ihren
Umkehrungen durch Marx und Nietzsche in die Geschichte der Wahrheit des Seins. Was
aus ihr stammt, läßt sich nicht durch Widerlegungen treffen oder gar beseitigen. Es läßt
sich nur aufnehmen, indem seine Wahrheit anfänglicher in das Sein selbst zurückgeborgen
und dem Bezirk einer bloß menschlichen Meinung entzogen wird. Alles Widerlegen im Fel-
de des wesentlichen Denkens ist töricht. Der Streit zwischen den Denkern ist der ‚lieben-
de Streit‘ [Hölderlin] der Sache selbst“, ders.: Brief über den „Humanismus“ (BüH) (1946),
in: Wegmarken (1967) Frankfurt a. M. 31996, 313–364, hier 336.
6 Der Kontext
11 Paul Celan: Gesammelte Werke, Frankfurt a. M. 1986, Bd. II, 255; fortan ohne Sigle
14 Vgl. Celans Anmerkung zum Begriff der „Interferenz“ gegenüber Hugo Huppert, in:
ders.: „Spirituell“. Ein Gespräch mit Paul Celan, in: Werner Hamacher / Winfried Men-
ninghaus (Hg.): Paul Celan, Frankfurt a. M. 1988, 319–324, hier 321.
8 Der Kontext
neu offenzulegen vermag; und allein dann wird spürbar, daß die hier zu erör-
ternde Konstellation nicht einfach resümierend bilanziert werden kann, ohne
daß genau das zum Gegenstand der Auseinandersetzung wird, was unver-
meidlich die Kriterien für einen Vergleich fraglich werden läßt. Schon darum
wird die Analyse fortwährend von der für das methodische Vorgehen so be-
unruhigenden Frage begleitet sein, wie denn Celans Hölderlin- und Heideg-
gerlektüre in seinen Gedichten zu lesen möglich sei?
Diese Frage gebietet, auf die methodischen Prämissen der Lektüre zu ach-
ten. Damit soll allerdings nicht ein Rückzug auf rein theoretisch-hermeneu-
tische Problemstellungen vorbereitet werden, die von den einzelnen Gedich-
ten erneut absehen würden. Untersucht man aber die Genese von Celans
Dichtung im angegebenen Kontext, dann stellen sich in ihrer ganzen theore-
tischen Tragweite jene Probleme, die unmittelbar die philologische Arbeit be-
treffen. Denn der Forderung, man möge beispielsweise die Bedeutung von
Heideggers Denken für Celans Entwicklung nicht nur aus den poetologi-
schen Überlegungen entnehmen, die Celan öffentlich erstmals im Januar
1958 in seiner Bremer Ansprache (III, 185 f.) und dann vor allem im Oktober
1960 in seiner Meridian-Rede (III, 187–202) formuliert hat, sondern Celans
Position gegenüber Heidegger solle auch oder gar vorwiegend von seinen Ge-
dichten her aufgegriffen und vorgeführt werden, scheinen sich die Gedichte
selbst zu widersetzen. Mit Recht hat sich gerade in der Celan-Philologie eine
ausgeprägte Skepsis bemerkbar gemacht, die zu verstehen gibt, daß selbst
dann, wenn sich in den Gedichten direkte Anklänge und Allusionen befinden
mögen, die z. B. auf die Hölderlin- und Heideggerlektüre Celans zurückzu-
führen seien, sich das methodische Bedenken einstellt, das fordert, die Ge-
dichte nicht auf die möglicherweise gegebenen Referenztexte zurückzustut-
zen. Beide Forderungen stehen sich folglich so gegenüber, daß man sich wie
an einer Kreuzung stehend entscheiden muß. Entweder wagt man es, vom
Gedicht her einer bestimmten Relation nachzugehen, die einsichtig machen
könnte, inwiefern dieser Dichtung ein poetologischer Prozeß inhärent ist, der
unter anderem auf Hölderlins Schriften und Heideggers Denken eingeht,
oder aber, um das Gedicht vor unzulässigen Vereinnahmungen zu retten, be-
gnügt man sich mit der Strukturbeschreibung einer Dichtung, die sich wahr-
lich einer Eins-zu-Eins-Auflösung widersetzt. Mögen auch einzelne Bezüge
eine für sich selbst sprechende Evidenz aufweisen, so ist das grundlegende
Problem schwer von der Hand zu weisen, daß es ein Bärendienst wäre, einen
Kontext nachweisen zu wollen, der scheinbar die verbindlichen Koordinaten
gibt, die das Gedicht wie auch immer fixieren helfen könnten. In diesem Sin-
ne aber lassen sich Celans Gedichte nicht verketten.
Diese Einsicht schließt an die schon früh systematisch begründeten Ein-
wände von Peter Szondi und anderen an, die zu bedenken gegeben haben, daß
der Blick auf die konkreten Begleitumstände von Celans Textproduktion all-
Der Kontext 9
15 Vgl. Szondis Text Eden (1971) zum Gedicht Du liegst (II, 334), in: ders.: Celan-Stu-
dien. Schriften II, Frankfurt a. M. 1978, 390–397; in der Folge ähnlich: Jean Bollack: „Eden“
nach Szondi, in: Celan-Jahrbuch 2 (1988), 81–105; Jacques Derrida: Schibboleth. Für Paul
Celan, Graz / Wien 1986, insb. 38–41; Winfried Menninghaus: Wissen oder Nicht-Wissen.
Überlegungen zum Problem des Zitats bei Celan und in der Celan-Philologie, in: Jahrbuch für
internationale Germanistik, Bd. 21, Bern/ Frankfurt a. M. / New York / Paris 1987, 81–96.
16 So Elke Günzel: Das wandernde Zitat. Paul Celan im jüdischen Kontext, Würzburg
1994.
17 Vgl. den Band Lesarten. Beiträge zum Werk Paul Celans, hg. von Axel Gellhaus und
Andreas Lohr, Köln / Weimar / Wien 1996; darin: dieselben / Rolf Büchner: Die historisch-
kritische Celan-Ausgabe. Ein vorläufiger Editorischer Bericht, 197–226.
18 Axel Gellhaus: Das Datum des Gedichts. Textgeschichte und Geschichtlichkeit des Tex-
tes bei Celan, in: Lesarten (Anm. 17), 177–196, hier 196; vgl. auch den Editorischen Bericht,
ebd., 200 ff.
10 Der Kontext
festellung bei der Interpretation der Gedichte geben sollen. So ist es nur kon-
sequent, wenn die mit den Materialien des Nachlasses vertrauten Herausge-
ber den hochgesteckten Erwartungen entgegentreten: „Viele Benutzer der hi-
storisch-kritischen Ausgabe der Werke Celans mögen deshalb enttäuscht von
ihr sein, weil die textgenetischen Apparate nur in den seltensten Fällen in-
haltlich-thematisch kommentierende Wirkung haben.“19 Nichtsdestotrotz
werden mit großem Aufwand die Quellen und Dokumente gesichtet, zuge-
ordnet und nach und nach publiziert.20 Manch einer verspricht sich hiervon,
die Textgenese und damit jene Schreibsituation rekonstruieren zu können, in
der sich Celan beim Verfassen der einzelnen Gedichte befunden haben mag.
Axel Gellhaus versucht diese Bemühungen trotz aller sich hiergegen stellen-
den methodischen Widersprüche mit einer Bemerkung Celans zu stützen:
„Das Unbehagen angesichts der Daten läßt sich aber auch anders formulie-
ren, es resultiert aus dem Dilemma des Literaturwissenschaftlers, der jeden
positivistischen Umgang mit der Dichtung für poetologisch unangemessen
hält, der aber auch Celans wiederholt zitierte Bemerkungen kennt, in denen
er auf dem Realismus und der Gegenständlichkeit der eigenen Gedichte be-
steht“.21 Müßte aus diesem Dilemma nicht die Konsequenz gezogen werden,
sich als Leser bewußt vom auktorialen Fingerzeig zu emanzipieren, der „auf
19Ebd., 207.
20In der Tübinger Ausgabe, Vorstufen, Textgenese, Endfassung (TCA), Frankfurt a. M.,
sind hg. von Jürgen Wertheimer et al. die Bde. Sprachgitter (1996), Die Niemandsrose
(1996), Der Meridian (1999), Atemwende und Fadensonnen (2000) erschienen. Die histo-
risch-kritische Ausgabe, hg. von Rolf Büchner et al., Frankfurt a. M., veröffentlichte: Bd. 7,
Atemwende (1990), Bd. 8, Fadensonnen (1991), Bd. 10, Schneepart (1994), Bd. 9, Lichtzwang
(1997). Hinzukommen: Die Gedichte aus dem Nachlass von Paul Celan (N), hg. von Ber-
trand Badiou, Jean-Claude Rambach und Barbara Wiedemann, Frankfurt a. M. 1997; Celan
/ Nelly Sachs: Briefwechsel, hg. von Barbara Wiedemann, Frankfurt a. M. 1993 und Celan /
Franz Wurm: Briefwechsel, hg. von Barbara Wiedemann in Verbindung mit Franz Wurm,
Frankfurt a. M. 1995.
21 Gellhaus: Datum des Gedichts (Anm. 18), 181. Gellhaus erinnert hier an Celans Satz:
„Glauben Sie mir – jedes Wort ist mit direktem Wirklichkeitsbezug geschrieben“, zit. n. Ar-
no Reinfrank: Schmerzlicher Abschied von Paul Celan, in: die horen 16 (1971), Nr. 83, 73. –
Auch Christine Ivanovićs Arbeit (Das Gedicht im Geheimnis der Begegnung. Dichtung und
Poetik Celans im Kontext seiner russischen Lektüren, Tübingen 1996), die ganz im Bann des
Nachlasses von Paul Celan steht, spricht in diesem Sinne von einem „philologische[n] Spa-
gat“ (ebd., 4), den die Celan-Philologie zu vollbringen habe. Dennoch bleibt diese Er-
kenntnis für das methodische Vorgehen ihrer sehr informativen „komparatistische[n] Re-
zeptionsforschung“ (ebd.) ohne Folgen. Das ist insbesondere darum bedenklich, weil Iva-
nović zugleich suggeriert, daß erst die „auf der Dokumentation aufbauende Interpretation
[…] sich der wissenschaftlichen Diskussion [stellt]: Sie macht sich überprüfbar“ (ebd., 18).
Damit signalisiert sie dem Diskurs, welche Lektüre von sich noch behaupten darf, wissen-
schaftlich zu sein. – Abzuwarten aber wird sein, was diese Wissenschaft tatsächlich aus der
„‚Goldgrube‘, durch deren Funde manches Geheimnis seiner immer wieder als hermetisch
qualifizierten Dichtung gelüftet werden kann“ (ebd., 17), zu gewinnen in der Lage ist.
Der Kontext 11
dem Realismus“ der Gedichte besteht, weil das Eingeständnis zu machen ist,
daß das Lesen von Celans Dichtung wiederholt dann scheitert, wenn es das
Intendierte in die begriffliche Sprache der verstehenden Wissenschaft zu
übersetzen versucht? Kann Gellhaus auch dahingehend recht gegeben wer-
den, daß eine Beschränkung auf rein poetologische Fragestellungen nicht hin-
zunehmen ist, nur weil prinzipiell jene Konstellation nicht hinreichend aus-
zumachen sei, welche das Gedicht an sein bestimmtes historisches Datum
bindet, so muß doch noch einmal genauer nachgefragt werden, was denn den
Realismus von Celans Gedichten ausmacht und wie dieser zu kennzeichnen
wäre. Denn stellt man diese Frage nicht als eine rhetorische, deren Antwort
sich von selbst versteht, dann könnte ein Besinnen auf die Poetologie dieser
Dichtung gerade dadurch ermöglicht werden, daß man in Betracht zieht, daß
das Dilemma des Literaturwissenschaftlers weniger im vom Autor Paul Celan
eingeforderten Realismus dieser Gedichte liegt, als in dem ärger liegenden
Problem, daß sich das Reale dieser Dichtung vielleicht gerade der Sprache der
Wissenschaft entzieht, weil diese einen anderen Begriff von der Realität hat.
Erneut ist also zu prüfen, ob die Unterscheidung zwischen Celans Poetologie
und der Gegenständlichkeit seiner Gedichte nicht einem Vorverständnis zu-
grunde liegt, das diese Dichtung gerade attackiert; – dieser für die Diskussio-
nen in der Celan-Philologie so zentrale Punkt wird an gegebener Stelle auf-
gegriffen werden.22
Trotz dieses ungeklärten Dilemmas – in dem doppelten Sinne, daß es ist
und noch zu klären bleibt, worin es denn besteht – bietet der Nachlaß Celans
gleichwohl die Chance, jene Bezüge bewußter wahrzunehmen, die diese
Dichtung in sich aufgenommen, versammelt und weitergeführt hat. Denn
wenn die durch die Materialien des Archivs zum Teil recht plausibel rekon-
struierbaren Relationen zu anderen Texten nicht als Ingredienzen des Ge-
dichts aufgefaßt werden, die der Auslegung eine Form von Gewißheit geben,
wenn hingegen der Blick auch wieder umgedreht, nämlich vom Gedicht her
zu den sogenannten Quellen zurückgegangen würde, dann könnte das Ge-
dicht bei allen Vorbehalten als ein Anfang genommen werden, der in einen zu
eröffnenden Fragekomplex allererst hineinreicht. Das bedeutet, daß sich die
auffindbaren Referenzen als durch das Gedicht veränderte Marksteine einer
erst noch zu spezifizierenden Problemkonstellation erweisen, die das im Ge-
dicht gezeitigte Denken als solche erstmals aufbricht. Geht man dem vom
Gedicht aus nach, dann fängt die Arbeit dort an, wo Aufklärung versprochen
schien. Angeregt durch das im Nachlaß zu Entdeckende, könnte sich der
Lektüre eine Heuristik entfalten, die unversehens einen anderen Gegenstand
vorfindet. Nicht mehr nur die um den Autor sich generierende Celan-For-
schung wäre zu bewerkstelligen, sondern von Celans Dichtung her wären
Gänge in die Literatur-, Geistes- und Realgeschichte möglich, die neue Ein-
blicke auf diese eröffnen. Das Desiderium für die künftige Celan-Forschung
wäre demnach eine durch dessen Gedichte und Übersetzungen vermittel-
te „fremde Nähe“23 zum Text Kafkas, Mandel’štams, Pessoas, Rimbauds,
Shakespeares etc. Gerade weil sich Celans Dichtung nicht nur auf die tief-
greifende Zäsur in der Geschichte des 20. Jahrhunderts bezieht, sondern
selbst immer wieder eine Zäsur zu setzen vermochte,24 welche die Möglich-
keitsbedingungen sowohl des Dichtens als auch des Lesens von Literatur of-
fenlegt, ist sie eine Art Zeitprisma, das eine spezifische Textnähe beispiels-
weise zur Dichtung Hölderlins vermittelt, die weder eine historisch-kritische
noch gar eine ‚zeitlose‘ Lektüre von Hölderlins Schriften herzustellen ver-
möchte. Es ist also zu prüfen, ob von Celans Gedichten her eine Intertextua-
lität zu entdecken ist, die nicht auf eine Quellenkunde25 reduziert wird, son-
dern die vielmehr in die Lage versetzt, etwa Hölderlins Dichtung aus neuer
Perspektive anders wiederzuentdecken. Denn stellt man sich als Leser der
hermeneutischen Grundfrage, unter welchen Bedingungen Texte aus einer
entfernten Zeit und aus fremd gewordenen kulturellen und politischen Kon-
texten heute rezipiert werden können, dann könnte gerade der gleichsam ver-
kürzende Umweg über Texte, die aus der Mitte ‚unserer Epoche‘ eine Aus-
23 Vgl. den nach einer Notiz von Celan betitelten Ausstellungskatalog „Fremde Nä-
he“. Celan als Übersetzer, zusammengestellt von Axel Gellhaus et al., Marbach a. N.
1997, 14.
24 Inwiefern die Shoah als Zäsur anzusehen ist, muß weiterhin bedacht werden; vgl.
hierzu: Dan Diner (Hg.): Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt a. M. 1988.
Von Diners Ansatz, der die Shoah als Zivilisationsbruch begreift, distanziert sich Amir
Eshel: Zeit der Zäsur. Jüdische Dichter im Angesicht der Shoa, Heidelberg 1999, 21 f. Die Zä-
sur der Shoah ist jedenfalls nicht, wie Philippe Lacoue-Labarthe vorschlägt, mit dem zu ver-
gleichen, was Hölderlin unter einer „Cäsur“ begriff; vgl. ders.: Die Fiktion des Politischen.
Heidegger, die Kunst und die Politik (Paris 1987), Stuttgart 1990, 67 ff. Diesbezüglich geht
Jean-François Lyotard kritisch auf Lacoue-Labarthe ein, vgl. Lyotard: Heidegger und „die
Juden“, Wien 1988, 98–103. Bedenklich ist es ebenfalls, Hölderlins „Cäsur“, die den Verlauf
der Tragödie dahingehend korrigiert, daß sich ein „Gleichgewicht“ einstellt (vgl. Hölderlin:
Anmerkungen zum Oedipus und Anmerkungen zur Antigonae, in: Werke, Große Stuttgarter
Ausgabe (StA), hg. von Friedrich Beißner, Stuttgart 1943–1985, Bd. V, 196 f. u. 265 f.) mit
Celans „Atemwende“ gleichzusetzen. Dies versucht Sieghild Bogumil: Celans Hölderlin-
lektüre im Gegenlicht des schlichten Wortes, in: Celan-Jahrbuch 1 (1987), 81–125, insb. 86 f.
Zum Problem vgl. auch die Arbeiten von Bernhard Böschenstein: Hölderlin und Celan, in:
Hamacher / Menninghaus (Hg.): Paul Celan (Anm. 14), 191–200 und Lacoue-Labarthe:
Katastrophe, in: ebd.: 31–60; sowie ders: Dichtung als Erfahrung, Stuttgart 1991.
25 Schon Julia Kristeva hat den Terminus der Intertextualität ausdrücklich von einem
„banalen Sinne von ‚Quellenkritik‘“ abgegrenzt. Sie hat ihn darum durch den Begriff der
„Transposition“ ersetzt. Dieser Terminus „hat den Vorteil, daß er die Dringlichkeit einer
Neuartikulation des Thetischen beim Übergang von einem Zeichensystem zu einem ande-
ren unterstreicht.“ Dies.: Die Revolution der poetischen Sprache, Frankfurt a. M. 1978, 69.
Der Kontext 13
einandersetzung mit dem alten Werk auf sich genommen haben, einen Zu-
gang zur überlieferten Literatur herstellen. Ungeachtet der Tatsache, daß auf
diesem Wege das grundlegende hermeneutische Problem vom alten auf den
neuen Text verschoben wird, können sich in der Vermittlung durch Celans
Gedichte Lektüren des Älteren ergeben, die in dieser Form beachtliche Ein-
sichten freilegen. Gerade weil das Lesen von Literatur einem historisch ge-
wachsenen und gleichwohl meist unbewußten Deutungsraster unterliegt, das
als solches erst in Differenzerfahrungen einsichtig wird, werden beispielswei-
se bestimmte in Hölderlins Dichtung angelegte Tendenzen erst dadurch les-
bar, daß sie durch die jüngere Dichtung aufgenommen und sub-versiv, das
heißt unauffällig aber wortgetreu auf die eigene Zeiterfahrung hin gewendet,
fortgeführt werden.
Indes ist hervorzuheben, daß es bei der (Re-)Konstruktion der Text-zu-
Text-Relationen, die sich aus der Lektüre von Celans Gedichten ergeben,
nicht ausreicht, diese mit Hilfe der unter dem Stichwort Intertextualität dis-
kutierten produktions- und wirkungsästhetischen Kategorien zu erschließen.
Es gilt darum, diesen Gesichtspunkten systematisch noch vorgeordnet, die
Frage wach zu halten und zu explorieren, wie gerade dann, wenn Celan auch
als Leser vorgestellt wird, die Möglichkeitsbedingungen des Lesens gelesen
werden können? Von Celans Gedichten her die Lektüre dieser Konstellatio-
nen aufzunehmen, bedeutet darum auch, im Text auf jene Textzeichen zu ach-
ten, die überhaupt auf einen intertextuellen Bezug verweisen. In diesem Zu-
sammenhang ist Eckhard Lobsien zuzustimmen, der an der sich in den 1980er
Jahren methodisch so ambitioniert gebenden und sich zugleich etablierenden
Intertextualitätstheorie bemängelt, daß sie das, was sie mit der Dezentrierung
des Autor-Subjekts in Aussicht stellt, nämlich den Texten in ihrer von der In-
tention des Autors unabhängigen Eigenheit gerechter zu werden, nicht selten
selbst konterkariert. „Gerade Texte, die den Leser in der Immanenz ihres Sy-
stemaufbaus halten und ihn so an intertextuellen Expeditionen hindern, die
ihn dabei in zutiefst paradoxe rhetorische und semantische Operationen ver-
wickeln, vermögen Irritationseffekte zu erzeugen, die in der ästhetischen Er-
fahrung das tatsächlich zugänglich machen, was die Intertextualitätstheorie
lediglich postuliert.“26 Nun ist einer der Irritationseffekte von Celans Gedich-
ten, daß gerade die sogenannte textimmanente Lektüre den Umstand eröff-
net, daß diese Dichtung notwendigerweise über sich hinausgeht. Sichtbar
wird dieses etwa daran, daß sich die Gedichte vorzugsweise im Gespräch mit
einem anderen konstituieren: – du. Die Begegnung und das Gespräch sind für
die Dichtung Celans aber nicht deshalb konstitutiv, weil diese Literatur ein
26 Eckhard Lobsien in seiner Rezension des Buches: Wolf Schmid / Wolf-Dieter Stem-
pel (Hg.): Dialog der Texte: Hamburger Kolloquium zur Intertextualität, Wien 1983, in: Poe-
tica 17 (1985), 372–376, hier 375 f.
14 Der Kontext
stimmen, daß „Texte allgemein und im besonderen literarische Texte als Teil kommunikati-
ven Handelns“ erfaßt werden können, ders.: Funktionen intertextueller Textkonstitution, in:
Ulrich Broich und Manfred Pfister (Hg.): Intertextualität: Formen, Funktionen, anglistische
Fallstudien, Tübingen 1985, 197–242, hier 205. – Wie sehr aber gerade das Ausbleiben einer
erhofften Kommunikation das Schreiben initiiert, gibt Celan in seiner Meridian-Rede zu
erkennen: „vor einem Jahr, in Erinnerung an eine versäumte Begegnung im Engadin, brach-
te ich eine kleine Geschichte zu Papier“, III, 201. Damit aber ist die Kommunikation nicht
einfach von der Rede zum Text auf ein anderes Medium vertagt worden. Diese „kleine Ge-
schichte“ – vgl. Celans Prosatext Gespräch im Gebirg, III, 169–173 (vgl. auch Anm. 96) –
führt vielmehr vor, woran das „Reden“ scheitert.
28 III, 199. Daß draußen die poetologische Standortbestimmung dieser Dichtung ist,
verdeutlicht sich auch daran, daß Celan zwischenzeitlich erwog, dem Gedicht Engführung
im Band Sprachgitter noch einen weiteren Zyklus folgen zu lassen und diesen Draußen zu
betiteln, vgl. TCA Sprachgitter, 104.
Der Kontext 15
Akt jedoch anderes denn Willkür ist, macht eine Bemerkung Walter Benja-
mins deutlich. Wenn dieser sich als Geschichtsschreiber fragt: „Wovor kann
aber etwas Gewesenes gerettet werden?“, dann dürfte seine Antwort auch für
jene Texte gültig sein, die neben Celans Gedichte zu legen und erneut zu deu-
ten wären: „Nicht sowohl vor dem Verruf und der Mißachtung, in die [das
Gewesene] geraten ist als vor einer bestimmten Art seiner Überlieferung. Die
Art, in der es als ‚Erbe‘ gewürdigt wird, ist unheilvoller als seine Verschollen-
heit es sein könnte“.29 Ebenso wie die von Benjamin attackierte Historio-
graphie steht auch die Literaturwissenschaft in der Gefahr, zum Diener einer
bestenfalls nichtssagenden Überlieferung zu werden, indem sie ihren Gegen-
stand in der besten Absicht zu erinnern und als Erbe zu würdigen versucht.
Damit ihr dieses jedoch nicht blind unterläuft, sollte sie die Gelegenheit nut-
zen, Celans mit Zuversicht versehene Bohrungen30 in den sprachlichen „Gip-
fel[n] der Zeit“31 als im Benjaminschen Sinne destruktive Akte der Rettung
zu verstehen.32 Das aber heißt nicht, sich damit zu begnügen, von Celan her
Hölderlins Texte um jeden Preis ‚anders‘ zu lesen, sondern es gilt vordring-
lich, die poetologischen und mithin methodischen Implikationen aufzuneh-
men und zu analysieren, die Celan in seinen Auseinandersetzungen mit Höl-
derlins Texten aufwirft und (erneut) sichtbar macht. Celans Gedichte werden
also als Interventionen verstanden, die an neuralgischen Punkten eine kon-
frontierende Konstellation mit anderen Texten inszenieren. In diesen Inter-
ventionen geht es nicht darum, den Prätext zu nutzen, um sich ihm gegen-
über als originell abzuheben. Vielmehr legen – und das wird zu demonstrie-
ren sein – Celans Gedichte durch ihr tiefprüfendes33 Bohren in den früheren
Texten deren aufbewahrtes Problembewußtsein frei, um sich auf diesem
Wege selbst die Möglichkeit zu eröffnen, eine Sprache zu finden, die den
jeweiligen aktuellen Anforderungen nachkommt.
29 Walter Benjamin: Archiv Ms 473, in: ders.: Gesammelte Schriften (GS), Frankfurt a. M.
Stollen!“, I, 153.
31 Vgl. Hölderlins Hymne Patmos, 1. Strophe, StA II, 165.
32 „Erst der Verzweifelnde entdeckte im Zitat die Kraft: nicht zu bewahren, sondern zu
reinigen, aus dem Zusammenhang zu reißen, zu zerstören; die einzige, in der noch Hoff-
nung liegt, daß einiges aus diesem Zeitraum überdauert – weil man es nämlich aus ihm her-
ausschlug.“ Benjamin: Karl Kraus, GS II.1, 334–367, hier 365. Vgl. auch Heinrich Kaulen:
Rettung und Destruktion. Untersuchungen zur Hermeneutik Walter Benjamins, Tübingen
1987; Klaus Garber: Rezeption und Rettung. Drei Studien zu Walter Benjamin, Tübingen
1987.
33 Hölderlin sagt in der Hymne Friedensfeier vom „gottgegebnen Geschenke“: „Tief-
prüfend ist es zu fassen“, in: ders.: Friedensfeier, hg. und erläutert von Friedrich Beißner
(Bibliotheca Bodmeriana IV), Stuttgart 1954, v. 59 f.
16 Der Kontext
A. AUTOPSYCHOGRAPHIE
Im Jahre 1929 schrieb der in Lissabon geborene und während seiner Jugend-
zeit in Südafrika aufgewachsene Dichter Fernando Pessoa (1888–1935) das
für seine Dichtung insgesamt programmatische Gedicht Autopsicografia.34 Es
ist ein Gedicht über die Bedingungen des Schreibens und Lesens und gibt da-
mit Anlaß zu einer Lektüre, die eben diese Bedingungen und deren Konse-
quenzen hinterfragt.
Autopsicografia ist eines jener insgesamt sieben ausgewählten Gedichte, die
Paul Celan im Frühjahr 1954 mit Hilfe von Edouard Roditi aus dem Portu-
giesischen ins Deutsche übersetzte. In der Neuen Rundschau wurden diese
Übertragungen schließlich 1956 veröffentlicht.35 Aufmerksam geworden ist
Celan auf den portugiesischen Dichter wohl durch die von Roditi und Alain
Bosquet herausgegebene Zeitschrift Exils: Revue semestrielle de poésie inter-
nationale, die 1952 ihre erste Ausgabe in der Librairie Stock in Paris unter an-
derem mit Texten Pessoas in französischen Übertragungen versah.36
Das sieben Jahre nach seiner ersten Beschäftigung mit Pessoa von Fritz Ar-
nold an Celan gemachte Angebot, weitere Texte des Portugiesen zu überset-
zen, lehnte dieser dann mit der Begründung ab, daß er aus ihm „nur mittelbar
zugänglichen Sprachen nicht übersetzen kann“.37 Um so bemerkenswerter ist
es, daß Celan mit Autopsicografia ein Gedicht ins Deutsche „übergesetzt“38
hat, welches das Problem der Mittelbarkeit respektive Mitteilbarkeit explizit
macht. Es dürfte die in diesem Gedicht umrissene „Phänomenologie des Poe-
34 Fernando Pessoa: Obras completas I: Poesias de Fernando Pessoa, fundada por Luís de
Montalvor, Lissabon (1942) 61996, 237; – Burghard Baltruch hält Autopsicografia für das
„wichtigste unter Pessoas programmatischen Gedichten“, ders.: Bewußtsein und Erzählun-
gen der Moderne im Werk Fernando Pessoas, Frankfurt a. M. et al. 1997, 185, Anm. 14.
35 Die Neue Rundschau 67 (1956), H. 2/3, 401–410.
36 Vgl. Celan als Übersetzer (Anm. 23), 166.
37 Celan: Brief an Fritz Arnold, 16. April 1961, zitiert ebd., 170.
38 Im Zusammenhang seiner Picasso-Übertragungen bemerkt Celan am 1. April 1954 –
genau in der Zeit, als er auch mit Pessoa beschäftigt ist – gegenüber Peter Schifferli, dem
Leiter des Arche Verlag in Zürich: „der Picasso-Text will nämlich nicht nur übersetzt, son-
dern auch – wenn ich ein Heidegger-Wort missbrauchen darf – übergesetzt sein. / Sie se-
hen: es handelt sich für mich – mitunter – um eine Art Fergendienst.“ Zitiert nach: Celan
als Übersetzer (Anm. 23), 399.
18 Das Ethos der Sprache lesen
AUTOPSICOGRAFIA AUTOPSYCHOGRAPHIE
O poeta é um fingidor. Der Dichter macht uns etwas vor:
Finge tão completamente So weit treibt er sein Spiel,
Que chega a fingir que é dor Daß Kummer, den er wirklich fühlt,
A dor que deveras sente. Gespielter Kummer wird.
E os que lêem o que escreve, Und der dann liest, was jener schrieb: 5
Na dor lida sentem bem, Statt jener Doppelpein
Não as duas que ele teve, Empfindet er ein Drittes nun:
Mas só a que eles não têm. Den Schmerz, den er nicht fühlt.
E assim nas calhas de roda Und so, dem Geist zum Zeitvertreib,
Gira, a entreter a razão, Rollt sie auf ihrem Gleis: 10
Esse comboio de corda Die kleine Spielzeug-Eisenbahn,
Que se chama o coração. Gemeinhin ‚Herz‘ genannt.
Fernando Pessoa Paul Celan
Der Titel des Gedichts ist eine Deviation. Statt Autopsychographie würde man
lieber das bekannte und mithin verständliche Wort Autobiographie lesen wol-
len. Doch daß ein Gedicht den Namen einer anderen literarischen Gattung an-
führt,41 so als wollte es lehrhaft zu einer Definition über diese ansetzen, wür-
de nicht minder irritieren. Das Gedicht hebt allerdings, wie sich dann zeigt,
durch die Anspielung auf ein anderes literarisches Genre das Spezifische sei-
ner eigenen Gattung hervor. Der Titel bereitet die Leser jedenfalls darauf vor,
daß in diesem Gedicht Programmatisches zur Sprache kommt. Inhaltlich
scheint er zu bestätigen, daß die Lyrik jene literarische Form ist, in der wie He-
gel sagt „das einzelne Subjekt“ und „das Gemüt mit seinem subjektiven Urteil,
seiner Freude, Bewunderung, seinem Schmerz und Empfinden“,42 kurz die
39 Celan dachte daran, eine solche Phänomenologie auszuarbeiten, hier zit. n. Axel
Gedichten sind hier und im folgenden in der typographischen Gestalt nach der Ausgabe
der Gesammelten Werke gesetzt.
41 Zu den Schwierigkeiten, die Autobiographie als literarische Gattung zu bestimmen,
vgl. Paul de Man: Autobiographie als Maskenspiel, in: ders.: Die Ideologie des Ästhetischen,
hg. von Christoph Menke, Frankfurt a. M. 1993, 131–146.
42 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik (1818–1828), hg. von Friedrich Bassenge,
Psyche des Einzelnen, Bewußtsein erlangt. Doch durch die befremdliche Ab-
weichung nimmt der Titel schon vorweg, was erst nach dem Lesen des Ge-
dichts verständlich werden kann: daß nämlich insbesondere die Lyrik der
Ort in der Sprache ist, in dem angezeigt werden kann, ja muß, daß der Über-
gang von der Psyche des einzelnen Subjekts zur Schrift, die einem allgemei-
nen Bewußtsein zugänglich ist, problematisch ist. Warum das so ist, und wie
das Gedicht auf diese Differenz eingeht, das soll im folgenden vorzugsweise
an Celans Textversion erörtert werden, welche ganz der Forderung nach-
kommt, ihres „Anders- und Verschiedenseins“, ja ihres „ G e s c h i e d e n -
s e i n s “ vom Original eingedenk zu bleiben.43
Die erste Strophe entblößt den Dichter, indem sie sich ganz auf die Seite
des Rezipienten stellt und aus dieser Perspektive das Artefakt beim Namen
nennt: uns Lesern macht der Dichter etwas vor (v. 1), er fingiert etwas für real
gegeben, was nicht der Wirklichkeit entspricht. Damit scheinen sich die er-
sten Verse dessen zu bezichtigen, was seit der Antike variiert wiederholt wor-
den ist: Die Dichter lügen.44 Aber was hier eine Dichtung über sich selbst
schreibt und dabei en passant über das Schreiben zum besten gibt, wiegt
schwerer noch als der altbekannte Tadel, die Dichter würden nur eine Schein-
welt erfinden.45 Denn mit diesem Vorwurf ist zugleich die Option bekundet,
es würde neben der ihrem Wesen nach täuschenden Imagination des Dichter-
Spiels (v. 2) in und mit der Sprache die Wahrheit ausgedrückt werden können.
Doch auch dieses Selbstverständnis wird in der im Gedicht entwickelten Au-
topsychographie erschüttert. Denn während der Dichter von sich (Autopsycho)
als Autor einer Schrift (graphie) Bericht gibt, beschreibt er weniger seine Psy-
che, sondern dekonstruiert vornehmlich die Fassungskraft der Schrift. Das
Gedicht setzt also zu einer Analyse der Schrift an, die sowohl den Vorgang
des Lesens als auch die Möglichkeiten, welche die Sprache überhaupt zur Mit-
teilung gewährt, grundlegend auf die Probe stellt.
Die Tragweite dieser Problemstellung ergibt sich aus dem Umstand, der die
Eigenanalyse des Dichter-Spiels veranlaßte. Jene war notwendig geworden,
weil der Wunsch unerfüllt blieb, von dem, was der Dichter als das Wirkliche
43 Vgl. Celan: Brief an Werner Weber, 26. März 1960, in: Celan als Übersetzer (Anm.
23), 397.
44 Ausgerechnet „der erste griechische Dichter, der sich mit Namen nennt“, nämlich
Hesiodos von Askra, räumt im Prooemium zur Theogonie ein, daß die Musen, welche sei-
nen Gesang ermöglichen, auszeichne, sowohl zur Lüge als auch zur Wahrheit fähig zu sein.
Vgl. Wilfried Stroh: Hesiods lügende Musen, in: Herwig Görgemanns und Ernst A. Schmidt
(Hg.): Studien zum antiken Epos, Meisenheim am Glan 1976, 85–112, hier 85 f. Diese Er-
kenntnis gibt der Dichtungstheorie seitdem zu denken. Vgl. auch Manfred Fuhrmann:
Dichtungstheorie der Antike. Aristoteles – Horaz – ‚Longin‘. Eine Einführung, Darmstadt
21992, insb. 89–92.
45 Vgl. Platon: Politeia, 599 a.
20 Das Ethos der Sprache lesen
erfährt und von dem er mit Gewißheit fühlt (v. 3), daß es ist, zu berichten.
Dieses Scheitern und seine Folgen (Und ... dann, v. 6) geben jenen sich selbst
inkriminierenden Versen, mit denen das Gedicht einsetzt, eine weitergehen-
de Signifikanz. Nicht weil er sein Spiel zu weit getrieben hat, verhindert zu sa-
gen, wie und was der gefühlte Kummer wirklich (v. 3) sei, sondern es zeigt
sich dann in den Ausführungen der zweiten Strophe, daß es im Wesen der
Schrift selbst liegt, daß das, was jener schrieb (v. 5), für den Leser nicht mehr
als ein gespielter Kummer (v. 4) sein kann. Was zunächst als Ursache in einem
Kausalverhältnis erscheint (So weit treibt er sein Spiel, / Daß, v. 2 f.), erweist
sich vielmehr als Konsequenz einer Einsicht: Nicht weil der Dichter spielt,
fühlt der Leser den niedergeschriebenen Kummer nicht (v. 8), sondern weil
dieser das Geschriebene nicht fühlen kann, bleibt jenem nur, seinen Kummer
schreibend vorzuspielen. Daß sich der Dichter gleichwohl als verursachendes
Subjekt darstellt, das tatsächlich etwas setzt und inszeniert,46 verdankt sich
der hier zurückgelegten Erkenntnisstrecke (weit, v. 2). Indem diese im Ge-
dicht analytisch ausgemessen wird, zeigt sich, daß Dichter und Leser je auf
ihre Weise an der Schrift abprallen: Während dieser einen Schmerz empfindet,
den er nicht fühlt (v. 7 f.), kann jener seine Doppelpein (v. 6) wohl noch be-
nennen, nicht aber wirklich (v. 3) vermitteln. Dieses asymmetrische Verhält-
nis zwischen Dichter und Leser hebt Celans Text noch dadurch hervor, daß
der dritte Vers, Daß Kummer, den er wirklich fühlt, und der achte, Den
Schmerz, den er nicht fühlt, nahezu identisch gestaltet sind und auf diese Wei-
se die hier betonte Differenz augenfällig machen. Damit erweist sich der Ein-
gangsvers der zweiten Strophe als der Differenzpunkt, an dem sich der, der
dann liest und jener, der schrieb (v. 5), trennen, wo sie sich doch zum einan-
der verstehenden Austausch treffen sollten.
Den ‚ehrlichen‘ Dichter zeichnet aus, diese Demarkation, die die Linie der
Schrift immer schon präsupponiert, selber zu präsentieren. Das erlaubt und
nötigt ihn gleichermaßen, das Spiel (v. 2) der Sprache nicht nur zu spielen,
sondern eigens darauf aufmerksam zu machen, daß ihm keine andere Wahl
bleibt, als unter dem Gesetz zu schreiben, welches den Übertritt des un-
mittelbar Wirklichen ‚über‘ die Schrift untersagt. Für den Leser bedeutet
dies, daß er die andere Seite der Linie, die der Dichter gibt, indem er sie
zieht, nicht einsehen kann. Ihm bleibt jenes ‚Ursprüngliche‘ verborgen, das
zum Schreiben bewogen haben mag. So hinkt der Leser nicht nur immer hin-
terher (dann, v. 5) und kann nicht nur nicht ermessen, welchen wirklichen
Kummer (v. 3) der Dichter seinen Zeilen anvertrauen wollte, sondern ihm
entgeht darüber hinaus all zu leicht auch des Dichters anderer Kummer (v. 4),
46 Entsprechend betont Georges Güntert beim Wort fingidor (v. 1) den „vollen, lateini-
schen Sinn, also auch den der Neuschöpfung“, ders.: Das fremde Ich. Fernando Pessoa, Ber-
lin / New York 1971, 107.
Autopsychographie 21
der sich dadurch einstellt, daß diese Grenze der Sprache nicht aufzuwei-
chen ist.
Beides zusammen bewirkt die Doppelpein (v. 6). Daß sie unmittelbar mit
dem Darstellungsproblem zusammenfällt, ist zu betonen. Es wäre sonst nicht
zu verstehen, warum denn auch das Spiel des Dichters mit dem Darstellungs-
vermögen der Sprache eine Pein sein sollte und es würde sonst übersehen
werden, wie analytisch genau das Wort Doppelpein diesen Sachverhalt faßt.
Die Doppelpein ist darum eine doppelte, weil sie systematisch mit dem wirk-
lichen Kummer einhergeht. Denn dieser verlangt, daß man sich – und erst
recht der Dichter – des Kummers wegen um die Sprache kümmert. Der wirk-
liche Kummer und das Sichkümmern um die Sprache machen das Problem
der Darstellung allererst bewußt, welches eben das der Doppelung ist. Der
Schmerz respektive der Kummer muß ‚verdoppelt‘ werden, aber er kann in
der Sprache nicht einfach wiederholt werden. Die Doppelpein ist demnach die
Pein an der verfehlenden Doppelung dessen, was unabweisbar nach Darstel-
lung verlangt. Der Kummer ist ein Affekt, der nicht für sich bleiben kann; er
drängt sein mit Sprache begabtes Subjekt an die Grenze des in der Sprache
Sagbaren. Im Wort Doppelpein ist dieses unerfüllte und darum aporetische
Verhältnis zwischen Schmerz und Sprache zusammengedacht. Der Doppel-
konsonant pp im ersten Teil des Kopulativums Doppel-pein wiederholt wohl
das eine P der Pein. Der Leser aber liest und empfindet ein Drittes nun (v. 7):
Ein Wort mit dreifachem p, das nicht derart auseinanderzudividieren möglich
ist, so daß der einfache und unmittelbare Schmerz zu fühlen wäre, welcher der
Darstellung vorausgeht. Darum spielt der Dichter uns etwas vor. Ihm bleibt,
weil er die Grenze der Sprache nicht um- oder übergehen kann, aber gleich-
wohl seinem Gefühl zur Sprache verhelfen muß, nur, die Sprache als Spiel
zum Sprechen zu bringen. Dergestalt spricht das Gedicht von der Psyche der
Graphen: Auto-psycho-graphie.
Dem entspricht, daß das Gedicht insbesondere in den ersten beiden Stro-
phen auto-analytisch verfährt. Celan betont das durch die vier zwischenge-
setzten Kola (v. 1, 5, 7 u. 10), welche die argumentativen Schritte des Ge-
dichts strukturieren. Und auch Pessoa hat durch die Iteration des einsilbigen
Strophenanfangs (O, E, E) angezeigt, daß sich an die Eingangs geleistete
Analyse eine auf zwei Ebenen gezogene Konklusion (Und ... dann, v. 5; Und
so, v. 9) anschließt. Diese ist: Übrig bleibt ein Gedicht, das auf eine (wirkli-
che) Erfahrung referiert und gleichwohl dem Leser nur eine ‚leere‘ Form gibt,
die sich nicht auf einen einfachen Sachverhalt zurückübersetzen läßt. Aus
dem ersten und ernsten Kummer (v. 3), der den Dichter das Spiel der Sprache
bis an die Grenze des Sagbaren – So weit – treiben (v. 2) ließ, ist etwas gewor-
den, das nun dem Geist zum Zeitvertreib (v. 9) dient. Es sind darum die Leser,
die sich unbewußt etwas ‚vor-lügen‘, wenn sie den gespielten Kummer mit dem
verwechseln, was sie für den authentischen, das Herz (v. 12) betreffenden
22 Das Ethos der Sprache lesen
Schmerz halten. Das Gedicht aber gibt zu bedenken, daß Herz und Schrift
notwendigerweise auseinanderfallen.
Irritierend aber bleibt, daß dieses Gedicht von sich selbst sagt, daß es ein
Spiel treibt. Warum sollte es ihm diesbezüglich möglich sein, wahr zu spre-
chen und bei klarem Bewußtsein nicht zu täuschen? Es ist ihm darum über-
haupt zu mißtrauen. Diese grundlegende Skepsis potenziert sich nochmals
dadurch, daß das Gedicht in der abschließenden Strophe praktiziert, was ge-
meinhin (vgl. v. 12) von einer Dichtung erwartet wird und dergestalt dem ge-
rade zuvor desavouierten Trug wieder Vorschub leistet. Lügt das Gedicht al-
so doch, indem es uns Lesern falsche Bedingungen vormacht?
Die letzten Zeilen entwerfen die Metapher von der kleinen Spielzeug-Ei-
senbahn, die sich auf vorherbestimmtem Gleis (v. 10 f.) fortbewegt. Daß auf
dem Umweg über einen bildhaften Vergleich das eigentlich Gemeinte (so,
v. 9) gesagt wird, scheint nach dem zuvor Erkannten nicht mehr zulässig.
Denn dergestalt wird ein inneres Band zum Signifizierten suggeriert, dessen
nicht zu kompensierende Zerrissenheit doch gerade die Doppelpein (v. 6) aus-
mache, die der Dichter zu ertragen habe. Was bewirkt dieser Tonwechsel der
abschließenden Strophe, die einem naiven „Gedicht im Gedicht“47 gleicht,
das im Grunde ein solches nicht mehr sein dürfte? Paradoxerweise evoziert
ausgerechnet dieser Rückfall in ein metaphorisches Sprechen ein Bild, wel-
ches das zuvor Analysierte zu synthetisieren scheint. Dieses Bild steht für das
Spiel der Sprache. Es darf also nicht mehr als bloßer Schein sein. Denn das,
worauf es als Metapher zielt, um so (v. 9) das Gemeinte zu umschreiben, ist
kein Eigentliches, sondern das Bild für jene leere Anschauung, die gemeinhin
für voll genommen und Herz genannt (v. 12) wird. Wie aber kann eine Meta-
pher eine leere Anschauung treffen und derart vorstellig machen? So bleibt
ein Bild, das nicht nur die Vorstellung des Geistes vom Herzen, sondern die
Metapher als solche ad absurdum führt. Damit aber wird grundsätzlich frag-
lich, ob es denn überhaupt noch hinter allem mit der Sprache Vorgespielten
ein Verborgenes gibt? Hinterrücks ist der alte Dichtertopos torpediert, wo-
nach der Dichter daran leidet, nicht adäquat „Des Herzens Meinung“48 sagen
zu können. Auf genau diesen Topos aber lief zuvor die Analyse der Schrift in
der ersten und zweiten Strophe hinaus. Ist des Dichters Kummer also nie
wirklich und ernst gewesen und ist selbst die Doppelpein am Ende nur fin-
giert? Gibt es folglich neben oder hinter der Schrift und ihren Bildern über-
haupt kein unsagbares Pathos? Gilt damit für das Gedicht insgesamt, daß es
nicht mehr als eine Spielzeug-Eisenbahn ist, mit der sich keine wirkliche Weg-
strecke zurücklegen läßt, weil es eine solche bloß simuliert, um dem Geist die
Zeit zu vertreiben? Gegen derartige Vermutungen wäre anzuführen, daß sich
im Spiel der Sprache noch etwas anderes als sie selbst zu erkennen gibt, daß
also eine Form von Mitteilung gegeben ist, gerade weil der literarische Text
auf das Spielerische seiner Darstellung eigens verweist. Denn etwas (vgl. v. 1)
muß dem zugrunde liegen, das dem Dichterspiel sowohl Raum als auch An-
trieb gibt. Läßt sich dieser Grund genauer bestimmen? Wie verhält es sich et-
wa mit der affektgeladenen Energie respektive mit dem Trieb, der das Treiben
(vgl. v. 2) des Dichters zur Sprache hin motiviert – ganz gleich, ob die Le-
ser das Fingierte des Textes dann (v. 5) nur zum gelangweilten49 Zeitvertreib
(v. 9) benützen oder nicht? Äußert sich diese Energie nicht doch im Text und
gibt sich so als sein Wirkliches zu erkennen?
Expressis verbis kann das Gedicht diese Fragen nicht beantworten, weil es
bereits aufgewiesen hat, daß die hierfür erforderliche Gewißheit des Sa-
genkönnens, wie es wirklich sei, fehlt. Es ließe sich mithin für dieses Gedicht
konstatieren, was nach Hamacher für „literarische Texte von Rang“ generell
gilt: An „die Stelle der unzweifelhaften Existenz eines Referenten [versuchen
sie] das Pathos ihrer Negativität zu setzen“.50 Gerade dann, wenn ein Subjekt
schmerzhaft erfahren muß, daß es von einem Affekt in die Pflicht genommen
ist, diesem zur Sprache zu verhelfen und doch einsehen muß, daß die Figuren
und Tropen der Sprache dem nicht entsprechen können – das ist die Doppel-
pein von Schmerz und Erkenntnis, die offenbart, wie sehr das Subjekt durch
die Sprache bedingt ist –, bleibt diesem ‚Subjekt‘ allein noch eine literarische
Sprache, die ihre metaphorischen Bilder negiert, um in dieser Negativität das
Pathos vorzustellen. Diese Literatur muß und will dann vor allem „eine Spra-
che der Desillusionierung über die Bedeutungsfähigkeit der Sprache“ sein.
Damit die Illusion der Sprache aber als solche sichtbar wird, darf die Sprache
der Affekte „nicht etwas, sondern bloß ihr eigenes Sprechen, keine Vorstel-
lungen mehr, sondern [nur] die Form des Vorstellens selbst“ artikulieren.
„Insofern ist die Figur des Pathos nicht mehr eine für das Pathos, sondern das
Pathos selbst“.51 Heißt das letztlich, daß die Sprache allein noch in dieser ne-
gativen Gewißheit eine verbindliche Bedeutung annehmen kann? Hamacher
49 Bemerkenswert ist, daß sich Baudelaire in Les Fleurs du Mal (Anm. 1) an den schein-
heiligen Leser, „[au] Hypocrite lecteur“ (v. 40), wendet, um diesen auf das häßlichste und
schmutzigste unser Laster – „nos vices, / Il en est un plus laid, plus méchant, plus im-
monde!“ (v. 32 f.) – aufmerksam zu machen: „C’est l’Ennui! – l’œil chargé d’un pleur
involontaire“ (v. 37). Gerade im Gefühl der Langeweile aber, und damit dann, wenn der Ver-
such sich die Zeit zu vertreiben mißlingt, setzt sich eine unwillkürliche Regung frei: „un
pleur involontaire“. – Daß sich Baudelaire überhaupt an seine Leser wendet, zeigt nach
Walter Benjamin, daß er „mit Lesern gerechnet [hat], die die Lektüre von Lyrik vor Schwie-
rigkeiten stellt“, ders.: Über einige Motive bei Baudelaire, GS I.2, 607. Vgl. in diesem
Zusammenhang auch die Eingangs (S. 1) aufgestellten Thesen.
50 Hamacher: Lectio (Anm. 2), 163.
51 Ebd., 164.
24 Das Ethos der Sprache lesen
legt diese Folgerung zumindest nahe, wenn er zunächst festhält: „Nicht die
Macht, sondern die Ohnmacht des Gefühls – seine Wahrheit, daß es der Spra-
che nicht mächtig sei und daß keine Sprache ihm entsprechen könne – schafft
die Verbindung zwischen dem Subjekt der Rede und dem des Verstehens. […]
Die Sprache des Pathos wäre also die Sprache des reinen Verstehens im Me-
dium der Negativität.“52 Das Verbindende zwischen dem Subjekt der Rede
und dem Leseverständnis wäre also ein Text, der vorführt, daß er nur ein „Me-
dium der Negativität“ sein kann, das qua Eigenanalyse das Problem der Dar-
stellung als unmögliche Doppelung eines Sachverhalts – und die hiermit ver-
bundene Pein – bewußt hält. Bezüglich des Gedichts Autopsychographie
scheint sich damit widersinniger Weise zu bestätigen, daß ausgerechnet die
absurde Metapher von der sich im Kreise53 drehenden Spielzeug-Eisenbahn
der Sprache des Pathos, welches die Sprache des Herzens sein sollte, als ‚Ent-
Sprechung‘ entspricht.
Nichts ist also gesagt, außer, daß es nichts zu sagen gibt? Dann aber ist
nachzufragen, was denn eine Lektüre, die auf die unvermeidliche Verfehlung
der Sprache aufmerksam macht, von denjenigen Lesern unterscheidet, die den
vorgetäuschten Kummer nach wie vor als den wirklichen Schmerz begreifen?
Kongruiert mit dem negativen und reinen Verstehen schließlich ein schmerz-
freies Lesesubjekt, das sich von seiner ersten gefühlsbetonten und darin nai-
ven Blindheit zu einer unantastbaren Abgeklärtheit modifiziert hat? Hama-
cher warnt davor, dieser so verständlichen „Verführung der Negativität“54
schlicht Folge zu leisten. Diese Art von wissenschaftlicher Lektüre von li-
terarischen Texten mag in dem Aufweis der Negativität den Grund ihres Ge-
schäftes festhalten wollen, und sie mag sich einreden, daß sie affirmativen
Feststellungen und bloßen Versicherungen gegenüber eine Denkbewegung
voraus habe, weil diese – Stichwort „Erklärungsphilologie“55 – nicht davor
zurückschrecken, literarische Texte in klar bedeutsame kommunikative Situa-
tionen zurückzuübersetzen. Ihr bleibt dann aber nicht mehr, als sich darauf
zu beschränken, zum Ausdruck zu bringen, wie wenig über Texte an sich aus-
gesagt werden kann, und sie müßte sich damit begnügen, auf die blinden
Flecken der anderen Lektüren hinzuweisen. Doch in dem Grade, wie der li-
52
Ebd., 165.
53
Vgl. die Übersetzung der letzten Strophe von Georg Rudolf Lind: „Und so fährt auf
ihrem Gleise, / unterhaltsam dem Verstand, / eine Spielzeugbahn im Kreise, / unser Herz
genannt“ in: Pessoa: Poesie, Frankfurt a. M. 1962, 127; sowie die französische Übertragung
von Michel Chandeigne und Patrick Quillier: „Ainsi, sur ses rails circulaires / Tourne, ac-
caparant la raison, / Ce petit train à ressorts / Qui s’appelle le cœur.“ in: Pessoa: Je ne suis
personne. Une anthologie, publ. par Robert Bréchon, Paris 1994, 95, beide Hervorh. von
mir.
54 Hamacher: Lectio (Anm. 2), 165.
55 Ebd., 151.
Autopsychographie 25
terarische Text vor unzulässigen Aneignungen bewahrt würde, stellt sich die
Frage, ob eine Wissenschaft, die von sich weiß, daß sie Zurückhaltung üben
muß und sich allenfalls ex negativo zur Sache äußern kann, sich nicht selbst
ins Abseits stellt, weil sie sich schließlich zu einer Blindheit zweiter Ordnung
gesteigert hätte. Eine solche negative Gewißheit droht, wie Hamacher aus-
führt, „so nüchtern, pragmatisch und illusionslos sie sich“ beim Rückzug auf
eine rein „negative Epistemologie, eine negative Hermeneutik oder eine ne-
gative Dialektik“ gibt, dazu zu verkommen, „eine Logologie des Pathos, eine
Pathologie [zu] betreiben, die – unkritisch gegen ihren Begriff der Kritik –
die Bewegung der Intentionalität, statt sie zu analysieren und sie in den Tex-
ten analysiert zu lesen, mechanisch bloß wiederholt.“56 Statt sich den herme-
neutischen Schwierigkeiten beim Lesen eines spezifischen Textstücks noch
hinzugeben, von dem als je Einzelnem nicht behauptet werden kann, daß es
ein „von allen referentiellen Bezügen freies Spiel von Signifikanten“ sei, das
nicht auch einer „semantischen Gravitation“57 unterliegt, bündelt sich diese
„negative Totalisierung“58 lieber in einer ‚Einsicht‘, die ihr Spiegelbild ironi-
scher Weise wiederum in einer Metapher findet. Die Metapher für die negati-
ve Gewißheit aber ist – womit die dritte Strophe einen bitteren Ton erhält –:
„Und so, dem Geist zum Zeitvertreib / Rollt sie auf ihrem Gleis: / Die klei-
ne Spielzeug-Eisenbahn. / Gemeinhin ‚Herz‘ genannt.“ Mit der Metapher
von der Spielzeug-Eisenbahn, die mechanisch und permanent iterativ um das
kreist, was sie nicht sein kann, nämlich das Herz der Dinge, hätte sich hier die
Rhetorik auf einer zweiten Stufe bestätigt, daß sie einen ‚treffenden‘ Aus-
druck besitzt. Dem Vorzug, der von Seiten der negativen Gewißheit der Me-
tonymie gegenüber der Metapher eingeräumt wird, nämlich dem, daß jene der
Arbitrarität der Sprache Rechnung trage, wäre wiederum performativ wider-
sprochen. Damit gilt unter verkehrten Vorzeichen von dieser wissenschaftli-
chen Lektüre, was Paul de Man für die Literatur nachzuweisen versucht, daß
nämlich „die Behauptung der Vorherrschaft der Metapher über die Metony-
mie ihre Überzeugungskraft dem Gebrauch metonymischer Strukturen ver-
dankt.“59 Hamacher hebt diesen Widerspruch auf Seiten der Literaturtheorie
hervor, damit ihr nicht einfalle, sich mit dem derart ‚Erkannten‘ zufrieden zu
geben. Denn wäre „das Pathos der Defiguration tatsächlich der determinie-
rende Zug in der Struktur literarischer Texte, so wäre die seiner metonymi-
schen Bewegung entsprechende Lektüre, paradox, deren Metapher.“60 – Die
Metapher wäre nolens volens rehabilitiert; wenn sie nun auch nicht mehr der
56 Ebd., 166.
57 Ebd., 167.
58 Ebd.
59 Paul de Man: Allegorien des Lesens, Frankfurt a. M. 1988, insb. 43–50, hier 45.
60 Hamacher: Lectio (Anm. 2), 166.
26 Das Ethos der Sprache lesen
Sprache des Herzens zur positiven, sondern der Sprache des Geistes zur nega-
tiven Gewißheit verhilft.
Gibt es aber im Gedicht selbst vielleicht einen Hinweis, der dazu auffor-
dert, noch einmal genauer zu lesen, ohne die zwar reflektierte aber dennoch
verblendete Kreisbewegung jener ‚zweiten Gewißheit‘ nochmals zu wieder-
holen? Denn das Bild von der Spielzeug-Eisenbahn, die man Herz heißt, ist
noch in anderer Hinsicht unstimmig. Im Unterschied zu Pessoa hat Celan um
das ‚Herz‘ (coração) einfache Anführungszeichen gesetzt. Das Herz ist also
nicht einfach mit der Eisenbahn identisch. Ein Unterschied deutet sich an,
der die Leser dazu auffordert, nicht bloß um den Text herum zu kreisen und
von ihm zu behaupten, er bedeute nur seine eigene Bedeutungslosigkeit. Statt
dessen wird man wohl eher zu einem zyklischen Lesen veranlaßt, damit die
Lektüre nicht bei ihrem eingefahrenen Textverständnis stehen bleibt. Was be-
deutet es also, daß Celan um das ‚Herz‘ Anführungszeichen gesetzt hat? Ei-
niges spricht dafür, daß er es so gleichsam vor den verfälschenden Vorstel-
lungen des Geistes zu ‚beschützen‘ versucht und ferner an die Leser den Wink61
gibt, die zuvor aufgeworfene Frage nach dem Antrieb dieses so weit getriebe-
nen Spiels der Sprache, trotz der epistemologischen Einwände, weiter zu ver-
folgen. Auch wenn die Frage nach der Bedeutung der Anführungszeichen un-
beantwortet bleiben muß, so könnte in diesem unbegründbaren Dichter-Spiel
etwas zum Vorschein kommen, das dem eher unscheinbaren Wechsel der Per-
spektive zu entnehmen wäre, der sich in den drei Strophen vollzieht. Denn
was mit einer einvernehmlichen Übereinkunft mit den Lesern begann (uns, v.
1),62 erweist sich schließlich als eine unversöhnliche Leserschelte, die deut-
lich macht: Gemeinhin sitzt ihr Leser einer Pein erzeugenden Verwechslung
auf, wenn ihr das beim Lesen Empfundene entweder als den gemeinten Herz-
schmerz (v. 7 f.) auffaßt – diesen Lesern ist zu sagen, daß das Herz nur eine Ei-
senbahn ist – oder aber als das leere Spiel der Sprache begreift – diesen Lesern
ist zu sagen, daß die Spielzeug-Eisenbahn nur das in einfache Anführungs-
zeichen gesetzte ‚Herz‘ ist. Beiden Deutungen widersetzt sich das Gedicht,
indem es ausdrücklich auf der Differenz besteht, die es vor der Einvernahme
bewahrt: qua absurder Metapher gegen die naiven, qua bitter-ironischer Me-
tapher der absurden Metapher gegen die so reflektierten Leser.
Diese Differenz, auf die das Gedicht Autopsychographie alle seine Leser so
oder so stößt, hat weitere Implikationen. Sie wird bestimmt durch die para-
[Georg Büchners] ‚Leonce und Lena‘ diese den Worten unsichtbar zugelächelten An-
führungszeichen, die vielleicht nicht als Gänsefüßchen, die vielmehr als Hasenöhrchen, das
heißt also als etwas nicht ganz furchtlos über sich und die Worte Hinauslauschendes ver-
standen sein wollen?“, III, 202.
62 Auch hierin eine deutliche Differenz zu Pessoas ersten Satz, der das Subjekt des Aus-
doxe Simultaneität, welche die Schrift als Schrift unabdingbar mit sich bringt:
Denn der Text bezieht sich auf ein vergangenes Geschehen (schrieb, v. 5) und
verspricht zugleich, zukünftig (dann, v. 5) vermittels des Lesers eine Bedeu-
tung anzunehmen. Diese Gleichzeitigkeit der verschiedenen Zeitebenen
könnte Anlaß zu der Vermutung geben, daß insbesondere der literarische
Text der Zeit enthoben ist und so eine unmittelbare Sinnübertragung zwi-
schen Autor und Leser bewirken könnte, etwa derart, daß der Leser sich
gänzlich im ästhetischen Text verliert „und man also nicht mehr den An-
schauenden von der Anschauung trennen kann, sondern beide eines gewor-
den sind“.63 Damit würde aber vorausgesetzt, daß die auseinanderlaufenden
Zeitbezüge, die im Text gleichzeitig wirksam sind, von diesem bereits stillge-
stellt wären. Daß das Gegenteil der Fall ist, macht unser Gedicht, das uns per-
manent zur Distanz zwingt, deutlich. Es fordert vielmehr anzuerkennen, daß
sich die Präsenz einer unmittelbar sinnlichen Gewißheit ( fühlt, v. 3 u. 8) nicht
als eine solche im Text zeigen kann. Schließt das auch nicht aus, daß der Le-
ser, der den abwesenden Schmerz des Dichters nicht fühlen kann, diesen als
abwesenden – ein Drittes nun – empfindet (v. 7), so heißt das nichtsdestowe-
niger, daß dort, wo die Schrift ist, keine unmittelbare Präsenz gegeben ist. Es
sei denn, sie würde von einer Kontemplation abgelöst, die das prinzipiell
Fremde – den singulären Schmerz, der sich in der Schrift wider besseren Wis-
sens mitzuteilen versucht – dadurch negiert, daß schlicht jeder Unterschied
zwischen Leser und Text und damit auch der Unterschied zwischen der Ge-
genwart der Lesezeit und der auf Vergangenes und Zukünftiges verweisenden
Zeit des Textes getilgt oder aber, dem entsprechend und nicht minder pro-
blematisch, daß das Fremde des Textes generell auf die terra incognita ver-
bannt würde. Sowohl diese als auch jene Restriktion seitens des Lesers ver-
bietet aber die auch in einem lyrischen Text gegebene referenzielle Funktion
der Sprache, deren Scheitern hier bezüglich der Darstellung des Pathos zwar
angezeigt ist, die darum aber nicht ignoriert werden kann. Fraglos gerät das
Lesen damit in eine Aporie, die als solche verdeutlicht, daß die Zeitlichkeit
der Schrift nicht still zu stellen ist.
63 Arthur Schopenhauer: Sämtliche Werke, Bd. I, Die Welt als Wille und Vorstellung, Drit-
tes Buch, § 34, Frankfurt a. M. 1986, 257. Die Hervorhebung ist nicht von Schopenhauer,
sondern stammt von Karl Heinz Bohrer: Das absolute Präsens. Die Semantik ästhetischer
Zeit, Frankfurt a. M. 1994, 177. Bohrer versucht unter veränderten (nicht-metaphysischen)
Vorzeichen an Friedrich Wilhelm Joseph Schellings Anschauungs- und Schopenhauers
Kontemplationsbegriff (ebd., 176–184) anzuschließen, um die ästhetische Erfahrung jegli-
cher Zeitlichkeit zu entheben und statt dessen das absolute Präsens der Kunst herauszu-
streichen. Daß sich Bohrer hier für die Beschreibung einer ästhetischen Erfahrung mit Tex-
ten an Schopenhauer orientiert, ist allerdings schon darum problematisch, weil Schopen-
hauer nicht Texte sondern vielmehr einen beliebigen „gerade gegenwärtigen natürlichen
Gegenstand“ im Sinn hat, mit dem er eins zu werden versucht.
28 Das Ethos der Sprache lesen
Das Gedicht gibt vielmehr zu bedenken, daß die Schrift sich per se über ei-
ne Zeitstrecke erstreckt. Das heißt insbesondere für literarische Texte, die
ihren eigenen Status bedenken und sich mithin hierin selbst zum Gegenstand
werden, daß sie wohl darin auto-nom sind, daß sie sich selbst das Gesetz ge-
ben, sich auf die Suche nach ihrem Gesetz zu machen, doch bleiben sie eben
dadurch nicht einfach bei oder für sich, sondern bringen das sie Determinie-
rende zum Scheinen. Es zeichnet diese Literatur aus, daß sie gezeitigt ist, weil
sie gleichzeitig in zwei Richtungen auf ein Abwesendes zuhält. Auf jenes, auf
das sie (zurück-)referiert, mit dem sie aber nicht – und damit auch nicht der
Leser – identisch werden kann, und andererseits auf ein Zukünftiges, das im
Leser erwartet wird. Die Schrift ist in diesem Sinne nicht der Zeit enthoben,
sondern sie transzendiert in die Zeit. Genaugenommen ist sie es, die Zeit als
solche gibt, weil sie temporale Erfahrungen formt und strukturiert; entweder
implizit in ihrer Syntax, die so beispielsweise jegliche Form von Narration er-
möglicht, oder aber, indem sie sie eigens als Grund ihrer selbst anzeigt und
derart der Anschauung und Reflexion anheim stellt. Soll die Zeit aber nicht
nur thematisch aufgeführt werden, sondern in ihrer Relation zum Text zur
Sprache kommen, dann bedarf es hierfür einer Textbewegung, die ihren ar-
biträren Zeichencharakter vorstellig macht. Denn erst dann, und das zeigt die
Eigenanalyse in Autopsychographie, läßt sich erkennen und wird für das Lesen
virulent, daß die Schrift und die Zeit eine miteinander verwandte Struktur
aufweisen. Jenes sich selbst zugleich Hinterher- und Vorwegsein, das die
Schrift gleichermaßen bedingt und bewirkt, und das damit fortwährend Un-
eingelöste, das sie verspricht – „Der Dichter macht uns etwas vor“ (v. 1) –,
gilt ebenso für eine wie auch immer ausgebildete Zeitvorstellung. Dieses zeigt
sich nicht zuletzt daran, daß das, was eine Schrift und ihre Zeit respektive ei-
ne Zeit und ihre Schrift je versprechen mögen, sich nur dann einlösen könn-
te, wenn sie sich selbst annihilieren würden. Sollte sich in der Zeit anderes
denn Zeit ereignen, etwa das Wahre,64 dann müßte auch die Schrift und damit
ihr bis dato uneinholbares Vor- und Zurückverweisen wenigstens einmal aus-
setzen. Um hier das Bild der dritten Strophe aufzugreifen: Die Spielzeug-Ei-
senbahn müßte ent-gleisen.
Daß sie nicht entgleist, sondern auf ihrem Gleise weiterrollt, macht denn
auch die Leserschelte aus. Ein Lesen, welches die beunruhigende Zeitlichkeit
des Geschriebenen ignoriert, indem es schlicht den Text dazu gebraucht, sich
die Zeit zu vertreiben (v. 9), ermöglicht es, die Graphen und jenes, was allein
sie geben können, zu übergehen. Damit werden aber die möglichen Einsich-
ten in die Bedingtheit etwa der Geist- und Herzvorstellungen ausgeschlos-
64 Hier sei bereits auf die Verse Hölderlins hingewiesen, auf die später (S. 129 f.) zurück-
zukommen sein wird: „Lang ist / Die Zeit, es ereignet sich aber / Das Wahre.“ Hölderlin,
Mnemosyne, StA II, 193.
Autopsychographie 29
sen, welche das Gedicht erörtert, indem es sie erst im Verhältnis zu Schmerz
und Schrift analysierend problematisiert und dann in einem Bild zusammen-
faßt. Nur eine Lektüre, welche die Graphen nicht als in ein vermeintliches
Verstehen Übersetztes über-liest, könnte die Schrift in der Schrift selbst aus-
setzen lassen. Dafür müßte zuvorderst dem angeblich so ‚leeren‘ Bild von der
Spielzeug-Eisenbahn nachgegangen werden, da es als Bild anzeigt, was vom
Lesen gefordert wäre: Der scheinbar ins Leere gehende Lauf des Textspiels ist
derart nachzuvollziehen, daß sich im wiederholten Lesen die Implikationen
der Lektüre zu erkennen geben. Dem mag das entsprechen, was Friedrich
Schlegel von einer Philologie erwartet: „Alles kritische Lesen […] ist cyk-
lisch.“65 Nur im erneuten Lesen können sich die Prämissen einer Lektüre zu
erkennen geben, die zu ermitteln dem kritischen Lesen aufgegeben sind. Zu
lesen wäre also das, was das Lesen steuert und antreibt. Das Gedicht selbst
schlägt – in dem vieldeutigen Bild von der Spielzeug-Eisenbahn versteckt –
diese Rückbewegung vor: Gefordert ist die Relektüre der Lektüre.66
Damit verwandelt sich die in der dritten Strophe gegebene Metapher der
Metapher – das Herz selbst ist ja nicht eigentlich die substantielle Mitte, son-
dern die Metapher par excellence – in eine Allegorie, die das Lesen zu einem
zyklischen Verfahren animiert und es damit auf jene kritische Spur bringt,
welche die Verfehlungen des ersten (naiven) und zweiten (reflektierteren) Le-
sens nicht nochmals wiederholt. Durch diese Allegorie (des Lesens) be-
kommt die Frage nach dem Verhältnis zwischen Pathos und Logos respektive
dem zwischen Psyche und Graphen noch einmal eine andere Bedeutung, weil
die Allegorie, anders als die Metapher es vermöchte, seine mögliche Bedeu-
tung einfordert. Hiergegen wird sich auch eine negative Gewißheit nicht im-
munisieren können.
Paul de Man hat unter anderem in seiner Proust-Lektüre vorgeführt, daß
auffälligerweise dann, wenn die Figur der Metapher problematisch wird, weil
sie der Erwartung nicht gerecht werden kann, den adäquaten Ausdruck des
Gemeinten geben zu können, die Allegorie als Supplement für diese eintritt.
Die Allegorie nimmt nach de Man eine „superposition“67 ein, die im Unter-
65 Friedrich Schlegel: Zur Philologie. II, Nr. 73, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausga-
be: Bd. 16, Fragmente zur Poesie und Literatur I, hg. von Hans Eichner, Paderborn 1981, 67.
Die Notiz lautet vollständig: „Alles kritische Lesen, alles Lesen mit Rücksicht auf Klassi-
zität <auf Charakter> ist cyklisch. (So habe ich immer gelesen. Winkelmann). Studium ver-
dient nur das Lesen genannt zu werden, was cyklisch ist.“ Wie wenig damit aber über das
Lesen gesagt ist, war auch Schlegel bewußt. Er fragt sich darum weiter (Nr. 74): „Aber was
ist denn überhaupt Lesen? Offenbar etwas Philologisches.“
66 Ohne Schlegel selbst zu nennen, erinnert de Man in seinem Text Lesen (Proust) an
den „Gemeinplatz“, daß zwischen „Lektüre und Kritik“ eine „enge Beziehung“ besteht;
wobei die Lektüre notwendigerweise ein „Wiederlesen“ zu sein hat, vgl. ders.: Allegorien
des Lesens (Anm. 59), 91.
67 De Man: Allegory (Julie) (Anm. 1), 205; vgl. auch Hamacher: Lectio (Anm. 2), 169.
30 Das Ethos der Sprache lesen
68
Hamacher: Lectio (Anm. 2), 170.
69
De Man: Allegory (Julie) (Anm. 1), 206, vgl. auch Hamacher: Lectio (Anm. 2), 170.
70 Vgl. Hamacher: Lectio (Anm. 2), 174 f.
71 Ebd., 174. Mit dieser Wortwahl referiert Hamacher unausdrücklich auf Benjamin, der
den wesentlichen Konnex zwischen dem Zustand des Grübelns und der Allegorie in fol-
gender Notiz festhält: „Der Grübler, dessen Blick, aufgeschreckt, auf das Bruchstück in
seiner Hand fällt, wird zum Allegoriker.“, Zentralpark, GS I.2, 676; vgl. auch Ursprung des
deutschen Trauerspiels, GS I.1, 203–430, insb. das Kap. Allegorie und Trauerspiel, 336 ff.
Autopsychographie 31
pessoa ist nicht nur mit die Person zu übersetzen, es kann zudem die Konno-
tation einer Maske haben,72 die etwas fingiert und somit das Inkognito der
Person, welche sich hinter ihr verbirgt, bewahrt. Darüber hinaus kann a pes-
soa aber auch niemand heißen. Es ist also nicht einmal gewiß, daß jemand (a
pessoa) sich hinter der Maske versteckt. Wer nun trägt dieses Requisit, das uns
jener Dichter vorhält, der bekanntlich in verschiedenen „Heteronymen“73
auftrat, ohne doch sich selbst hinter diesen so unterschiedlichen Identitäten
verstecken zu wollen, weil er glaubhaft vormachen konnte, die jeweils neue
Identität tatsächlich angenommen zu haben?
– „O poeta é um fingidor“ (v. 1). Was bei der Übersetzung des portugiesi-
schen Originaltextes verloren geht, ist, daß im Wort fingidor bereits das Wort
für Schmerz, dor, enthalten ist, welcher – wie das Gedicht beklagt – durch die
sprachliche Darstellung immer schon zu etwas anderem geworden ist. Dem
zum Trotz ist also bereits im ersten Vers – diesseits des durch das Masken-
spiel Vorgetäuschten – das ex-poniert, was eine erste Lektüre dahinter zu ent-
decken meint. Dieser Verwechslung tritt das Gedicht auch durch seine Gra-
phen entgegen, die gleichsam autosemantische Silben freilegen. Wenn es zu-
vor hieß, die Schrift müsse in der Schrift selbst aus-gesetzt werden, damit das,
was allein sie geben kann, nicht überlesen werde, dann ist damit also die Emp-
fehlung – oder eher die Forderung – ausgesprochen, abermals anders zu le-
sen; das heißt diesseitiger, der Wörtlichkeit und damit auch der Kontingenz
der Sprache zugewandt. Da sich diese Ebene des Gedichts nicht übersetzen
läßt, kann auch Celans Text nur als Original gelesen werden. Genau diesen
Zusammenhang zwischen der Bedeutung der spezifischen Wörtlichkeit li-
terarischer Texte und der Frage, was angesichts dessen überhaupt noch Treue
beim Übersetzen heißen kann, hat auch Walter Benjamin herausgestellt:
„Treue in der Übersetzung des einzelnen Wortes kann fast nie den Sinn voll
wiedergeben, den es im Original hat. Denn dieser erschöpft sich nach seiner
dichterischen Bedeutung fürs Original nicht in dem Gemeinten, sondern ge-
winnt diese gerade dadurch, wie das Gemeinte an die Art des Meinens in dem
bestimmten Worte gebunden ist.“74
Die Übersetzung verlangt vorzugsweise eine Treue gegenüber der Art des
Meinens. Sie steht damit vor der schwierigen Aufgabe, jenes, was an bestimm-
te Worte gebunden ist, in der Literarizität der eigenen Sprache sprechen zu las-
sen. Das macht denn auch verständlich, warum Celan später nicht mehr aus
72 Vgl. den Klappentext – die Maske des Buches – von folgenden Ausgaben, die beide
von Georg Rudolf Lind übersetzt und mit einem Nachwort versehen sind: Fernando Pes-
soa: Alberto Caeiro Dichtungen. Ricardo Reis Oden, Frankfurt a. M. 1986; ders.: Dokumen-
te zur Person und ausgewählte Briefe, Frankfurt a. M. 1992.
73 So Edouard Roditi: Schein und Sein in Leben und Dichtung des Fernando Pessoa, in:
Ethos – Ethos als schicksalhafter Wahrheitsentwurf.“ Abgedruckt in: Celan als Übersetzer
(Anm. 23), 398.
Engführung 33
Textverstehen gar nicht zuläßt: Es ist eine Über-forderung. Ihr Resultat aber
ist, daß weder das Verständnis vom Text noch die Leser lesend die gleichen
bleiben können. Wer liest, transzendiert über sich und den Text hinaus und
wird unwillkürlich und vielfältig mit (seiner) Zeit konfrontiert.
B. ENGFÜHRUNG
Wie explizit sich das Ethos der Sprache zu erkennen geben kann, um anderes
denn Lesen, zumindest aber eine andere Praxis des Lesens zu verlangen, zeigt
Paul Celan in seinem zyklisch angelegten Langgedicht Engführung (I, 195–
204), welches das oben angedeutete zyklische Lesen geradezu erzwingt.78
Pessoas Gedicht Autopsicografia wurde hingegen von der Forschung zumeist
so aufgefaßt, daß es mit einer mehr oder weniger treffenden Metapher enden
würde. So deutet Güntert das Bild von der „Aufzieh-Eisenbahn“ als einen
„Circulus vitiosus“.79 Den vergeblichen Versuchen des Sisyphos vergleichbar,
sei nach Güntert in dem Bild von der niemals endenden Zirkelbewegung zum
Ausdruck gebracht, daß es nicht möglich sei, einen Zugang zum Wesentlichen
zu finden. Das Gedicht treffe damit die auch bei Pessoa immer wieder durch-
schlagende agnostische Grundeinstellung, die generell der intellektuellen Si-
tuation am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in Portugal entsprochen
habe. Das hieraus resultierende „metaphysische Vakuum“80 versuchte Pessoa
dann in seiner Dichtung mit verschiedenen esoterischen Lehren auszufüllen.
Wollte man Pessoas Gedicht auch auf diesem Wege ‚erklären‘ – womit die
Beunruhigung, die von dem Gedicht Autopsicografia ausgeht, allerdings nur
unzureichend beseitigt ist –, so greift dieses Verfahren nicht bei der Überset-
zung von Celan. Gegen ein derartiges Leseverständnis hat Celan selbst ent-
scheidende – wenngleich stumme – Zeichen (‚Herz‘) gesetzt. Noch deutlicher
wird diese Differenz dann in Celans eigener Dichtung. Bei aller Skepsis, die
Celan allerorten anbringt und zu bedenken gibt, so ist er doch weder Agno-
stiker noch Esoteriker. Diese wie jene Gewißheit, die das Verhältnis zwischen
Text und Wirklichkeit für sich auf die eine oder andere Weise zu entscheiden
meint, ist in Celans Engführung gerade deshalb nicht am Werk, weil dieses Ge-
dicht, so weit es ihm überhaupt möglich ist, die Wirklichkeit seiner Zeit sucht.
78 Joachim Seng hat die zyklische Verfaßtheit von Celans Lyrikbänden herausgearbei-
tet, vgl. ders.: Auf den Kreis-Wegen der Dichtung. Zyklische Komposition bei Paul Celan am
Beispiel der Gedichtbände bis „Sprachgitter“, Heidelberg 1998.
79 Güntert: Das fremde Ich (Anm. 46), 96 f. Güntert übersetzt die letzte Strophe: „Und
Gedichte. Mensagem. Englische Gedichte, Frankfurt a. M. 1994, 201 ff., hier 202.
34 Das Ethos der Sprache lesen
Was aber ist mit dieser Aussage nach allem zuvor zum Gedicht Autopsycho-
graphie Entwickelten jetzt noch gesagt? Nichts weniger als dies, daß ausge-
rechnet die Wirklichkeitssuche81 des Gedichts eingängige Gewißheiten über
den sogenannten Realitätsbezug des Textes geradewegs unterläuft. Schon aus
diesem Grunde ist hier die Lektüre zur Vor- und Rücksicht angehalten. Ist es
auch nicht fraglich, daß Celans Engführung aus der Perspektive eines Überle-
benden der Shoah geschrieben ist,82 so sagt dies vorläufig jedoch nicht mehr,
als daß jenes, was denn nach diesem Geschehen83 nun das Wirkliche sei, aller-
erst auf den Begriff – und genauer: zur Sprache – gebracht werden muß. Es
ist damit vielleicht sogar unterstellt, daß dieses Unterfangen überhaupt nur
von dieser Sprache, als Gedicht, geleistet werden kann. Mag man auch als Le-
ser von einer solchen Anmaßung des Gedichts nicht ausgehen, so hat sich
gleichwohl das Lesen darauf vorzubereiten, daß mit der Lektüre nicht nur die
bereits sedimentierten Bilder von dem, was man für das real Gegebene hält,
sondern auch die mit ihnen einhergehenden Kategorien, die diesen Bildern
Struktur geben, zur Disposition stehen. Das Lesen erweist sich somit schon
darum als eine Über-forderung, weil der Grund, auf dem es basiert, nicht vor-
ausgesetzt werden kann. Das Ethos dieser Sprache besteht nicht zuletzt dar-
in, daß ihr Grund lesend erst noch erschlossen werden muß.
Celan selbst hat in einem Brief, der auf die Anfrage einer 10. Klasse des Al-
ten Gymnasiums zu Bremen eingeht, den Zusammenhang zwischen Wirk-
lichkeit, Gedicht und Lesenden zu bestimmen versucht. Er schrieb diesen Brief
just an dem Tag, als er mit der Arbeit an der Engführung begann: „Gedichte
sind […] ein Versuch, sich mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen, ein Ver-
such, Wirklichkeit zu gewinnen, Wirklichkeit sichtbar zu machen. Wirklich-
keit ist für das Gedicht also keineswegs etwas Feststehendes, Vorgegebenes,
sondern etwas in Frage Stehendes. Im Gedicht ereignet sich Wirkliches, trägt
Wirklichkeit sich zu. Davon ergibt sich für den Lesenden zunächst die Be-
dingung, das im Gedicht zur Sprache Kommende nicht auf etwas zurückzu-
führen, das außerhalb des Gedichts steht. Das Gedicht selbst ist sich, sofern
es ein wirkliches Gedicht ist, der Fragwürdigkeit seines Beginnens wohl be-
81
Vgl. Celan: Bremer Ansprache, III, 186.
82
Daß Celans Engführung unmittelbar im Zusammenhang seiner Übersetzung von
Jean Cayrols Skript zum Film Nuit et brouillard von Alain Resnais steht, welches wieder-
um auf der Vorlage des Buches von Olga Wormser und Henri Michel (Tragédie de la
déportation 1940–1945. Témoignages de survivants des camps de consentration allemands, Pa-
ris 1954) basiert, ist rekonstruiert; vgl. IV, 75–99 und Celan als Übersetzer (Anm. 23),
223–234. Seng hat diesen Kontext in seiner Interpretation der Engführung hervorgehoben,
vgl. ders.: Zyklische Komposition (Anm. 78), insb. 269–283.
83 Vgl. Celans sehr bedacht gewählte Worte während seiner Bremer Ansprache im Ja-
nuar 1958, welche die deutschen Täter nicht beim Namen nennen: „[Die Sprache] ging
hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah; aber sie ging durch dieses Gesche-
hen“, III, 186.
Engführung 35
ENGFÜHRUNG
*
VERBRACHT ins
Gelände
mit der untrüglichen Spur:
84 Celan: Brief vom 17. Februar 1958, in: Hermes. Schülerzeitung des Alten Gymnasiums,
Bremen April 1958, Nr. 3/4. Vgl. auch James K. Lyon: Der Holocaust und nicht-referentiel-
le Sprache in der Lyrik Paul Celans, in: Celan-Jahrbuch 5 (1993), 256.
85 Auch Felstiner zitiert Auszüge aus diesem Brief, übergeht aber signifikanter Weise
gerade jenen Satz, der sich an den Lesenden wendet, vgl. Biographie (Anm. 7), 161.
86 Celan bezeichnet gegenüber dem Setzer die jeweils durch ein Asterisk unterschiede-
nen Sequenzen der Engführung als „Partien“ eines einzigen Gedichts, vgl. TCA Sprachgitter,
89.
87 Peter Szondi: Durch die Enge geführt. Versuch über die Verständlichkeit des modernen
Gedichts, in: ders.: Celan-Studien, Schriften II, Frankfurt a. M. 1978, 345–389, hier 356.
36 Das Ethos der Sprache lesen
Das den ersten Satz abschließende Partizip steht bereits mitten im ersten Vers
der zweiten Strophe (vgl. v. 4). Von dieser Strophe könnte man erwarten, daß
sie nach dem Doppelpunkt die untrügliche Spur (v. 3) genauer spezifizieren
und sich näher über den oder die auslassen würde, die ins / Gelände verbracht
(worden?) sind. Scheint doch das Gedicht, wie die zwei bestimmten Artikel
(ins, v. 1; der, v. 3) andeuten, eine konkrete Szenerie im Sinn zu haben. Doch
nur über die Spur, nicht aber über das, was sie verursachte, gibt es eine Aus-
kunft: Gras, auseinandergeschrieben.
Auseinandergeschrieben ist ein deplaciertes Wort. Gras hinterläßt dann eine
Spur, wenn es etwa von einem realen Gewicht niedergedrückt wird. Es könn-
te also auseinandergetreten, zerstampft oder niedergefahren sein, aber wie ist
es dem Schreiben möglichen, im Gras eine Spur zu hinterlassen? Das Gedicht,
das in den ersten Versen von der Deportation in ein bestimmtes Gelände
spricht, unterbricht seine Darstellung mit einem Wort, das offensichtlich
nicht ins (Satz-)Gefüge paßt. Genau an der Stelle, wo etwas nicht stimmt,
weil etwas versetzt ist und damit selbst verbracht ist, erscheint ein Wort, das
dem Schreiben eine Wirkung zuerkennt: Gras, auseinandergeschrieben. Diese
erste Hälfte der vierten Zeile ist jedoch kein Surrogat für das Erwartete, son-
dern eher Anzeichen dafür, daß überhaupt Worte fehlen, welche die angefan-
gene Beschreibung eines Geschehens fortsetzen könnten. Statt die Erzählung
fortzuführen, stellt sich die Schrift selbst als bestimmendes Aktivum vor, das
gestaltend eingreift. Damit scheint angezeigt, daß die Darstellung immer
schon mehr ist, als lediglich ein unselbständiger – und angeblich untrüglicher
– Informationsträger von Inhalten. Weil die Schrift das Darzustellende deter-
miniert, bleibt ihr gerade dann, wenn sie benötigt ist und dennoch scheitert,88
88 Damit ist nicht behauptet, daß jene Ereignisse, die mit den ‚Begriffen‘ Shoah und Au-
schwitz bezeichnet sind, schlichtweg nicht darstellbar seien. Richtig vielmehr ist, daß das
durch die historischen Wissenschaften festgehaltene Wissen über die Vorgänge der Ver-
nichtung, und wer an diesen wie beteiligt war, durch Fotos, Filmaufnahmen, schriftliche
Engführung 37
nur, selbst nach draußen zu treten. Allein so kann sie noch darauf hinweisen,
daß sie ihren Mangel – nämlich die angedeutete Szene nicht hinreichend und
wenn nicht verfälschend, allenfalls elliptisch darstellen zu können – nicht mit
der verantwortungsscheuen Versicherung kaschiert, selber nicht in Erschei-
nung treten zu dürfen. Das Ethos dieser Sprache zeigt sich also schon daran,
daß sie den Status, bloß ein passiver Vermittler des Gemeinten zu sein, nicht
akzeptiert, weil sie immer schon mehr und darum aber zugleich auch weniger
als das Gemeinte ist. Statt Vorgegebenes wiederzugeben, greift das Schreiben
über seine vom common sense zugewiesenen Befugnisse hinaus, deplaciert
sich und behauptet, selbst eine Spur im Gras bewirkt zu haben, von der ein-
fach zu berichten, ihm nicht möglich ist.
Wenn es aber überhaupt möglich ist, daß das Gras dieses Geländes aus-
einander-geschrieben werden kann, dann darum, weil dieses Gras sich seiner-
seits grundlegend in die Schrift eingeschrieben haben muß. Denn die Sprache
des Gedichts ist selbst durch anderes determiniert, das mit ihr einhergeht:
In diesen ersten Zeilen des Gedichts deutet sich an, was Celan das Datum
des Gedichts nennt,89 welches die Sprache als abstrakt-universelle zwar von
sich weist, das sie aber – als Gedicht – formt und gibt. Denn die Sprache
ist selbst immer schon verbracht. Wenn dem so ist, dann muß hier wechsel-
seitig gelten: Das Bewirkte bewirkt. Schon darum liegt die Wirklichkeit nicht
einfach vor, sondern muß durch das Gedicht gesucht und erwirkt wer-
den. Die Schrift bewirkt eine untrügliche Spur im Gras nur insofern, als zu-
gleich gilt, daß das Gras in der Schrift eine Spur bewirkt. Die Schrift ist als be-
wirkte also selbst eine Spur, die allerdings nicht untrüglich ist. Denn sie ist
von anderer Art. Sie kann nicht physisch erschritten und erschaut wer-
ja! Es bleibt seiner Daten eingedenk, aber – es spricht. Gewiß, es spricht immer nur in sei-
ner eigenen, allereigensten Sache.“ III, 196. Vgl. zu diesen Sätzen, insbesondere zu dem
denkwürdigen „Gelenkstück“ eingedenk, aber – es spricht, Klaus Briegleb: Paul Celans
Landkarte, in: Karol Sauerland (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung in der Literatur, War-
schau 1996, 121–130; sowie: Derrida: Schibboleth (Anm. 15), 21. Auf den Begriff des Da-
tums im Zusammenhang mit Celans Dichtung wird unten noch ausführlich eingegangen,
vgl. S. 50 ff., 178 f. und 207 ff.
38 Das Ethos der Sprache lesen
den, sondern sie muß als Hinweis auf ein hier nicht zu Beschreibendes gele-
sen werden.
Wie die Schrift als diese Spur ihre Leser in ihr Gelände versetzt, ist an den
ersten fünf Versen der Engführung zu studieren, welche auf die dann folgen-
den Imperative (v. 6 f.) hinführen. Die jeweils genau acht Worte, die dem Verb
auseinandergeschrieben vorausgehen und nachfolgen, scheinen sich bei der Be-
schreibung des Geländes zu ergänzen. Doch es erweist sich, daß jenes, was
zunächst noch als das bestimmte Gelände mit der Spur im Gras vor dem ima-
ginären Auge des Lesers als abgebildete Wirklichkeit Gestalt findet, sich nach
der Intervention durch das Wort auseinandergeschrieben nicht mehr aufrecht
erhalten läßt. Das auch die imaginierte Wirklichkeit strukturierende Gesetz
der Kausalität läßt sich nicht mit diesem Verb vereinen. Das Lesen muß also
dieser Gesetzesübertretung wegen stocken; erst recht, wenn es weiterliest.
Denn die Buchstaben bedeuten fortan, daß sie in ihrer ‚Materialität‘ sind, was
sie just beschreiben. Sie werden darum, wenn man sie nicht mehr (vgl. v. 6 f.)
als mimetisches Zeichen liest, zum Kristallisationspunkt einer anderen Imagi-
nation, die das zuvor bedeutete Bild vom Gelände aufnimmt, um es transfor-
miert vor die nun schauenden Augen zu bringen. Die Buchstaben, die so-
weit noch unproblematisch wirkliches Gras vorstellen lassen, fordern jetzt
von der Einbildungskraft, daß sie selbst als die Schatten der Halme angese-
hen werden und daß das Papierblatt in dieser Vision den schauenden Augen
zum weißen Stein wird. Die Buchstaben werden in unerwarteter Weise ‚an
sich‘ perlokutionär; geradeso als ob sich endlich der alte (magische) Wunsch
erfüllt hätte, daß die Schrift das, was sie sonst nur konstatieren kann und
wodurch sich das von ihr Beschriebene immer auch von ihr entfernt, in ihrer
Performanz endlich selbst ‚ist‘. Doch dieses Schattengelände ist die Schrift
nur, weil sie an das, was sie nach wie vor nicht ist, gebunden bleibt. Das Bild
der Schatten werfenden Buchstaben bedeutet auch: Sehr tief muß sich die
Schrift auf ihren eigenen Grund niederbeugen, um von diesem Gras, das sie
nicht ist, wenigstens die Schatten der Halme sichtbar machen zu können. Die-
se Neigung verlangt auch vom Leser einiges, der diese Buchstaben zu lesen
und schließlich anzuschauen versucht, und von denen er nicht recht wissen
kann, wie es sich mit ihnen verhält und wie er sich ihnen gegenüber verhalten
soll.
Auseinandergeschrieben. Ein einziges Wort – am rechten Platz deplaziert –
bewirkt, daß eine Unsicherheit über das Verhältnis zwischen Beschriebenem
und Beschreibendem und über deren jeweiligen Status entsteht, weil beide
Ebenen sich für einen Lesemoment übereinandergelegt haben. Für den Leser
bedeutet das, daß er selbst unversehens in ein Gelände verbracht ist. Zunächst
kam es darauf an, sich nicht eine reale Spur vorzustellen, sondern die Schrift
selbst als eine Spur dieser Spur zu lesen. Dann mußte dieses Lesen zu einem
‚unmittelbaren‘ Schauen werden: Die Buchstaben verschwinden als solche
Engführung 39
und transformieren sich zu Halmen. Die anschließend direkt an den Leser ge-
gebenen Anweisungen vergegenwärtigen nachträglich diesen Prozeß.
6 Lies nicht mehr – schau!
Schau nicht mehr – geh!
Noch bevor man aber den ersten Imperativ vernimmt, ist dessen Forderung
bereits erfüllt. Indem dieser hervorhebt, was längst geschehen sein mußte, be-
stätigt er jedoch weniger die gemachte Leseerfahrung, sondern verunsichert
sie erneut. Das Lesen, das doch bereits ein Schauen war, wird wieder von sei-
nem Bilde getrennt. Denn nur so kann der vom Text angesprochene Leser
vernehmen, was nun von ihm gefordert wird. Daß der erste Imperativ
schließlich wieder negiert wird und sich dafür nochmals wiederholt, schau! /
Schau (v. 6 f.), verdeutlicht, daß sein Ausspruch vereitelt, was er bewirken
sollte. Gerade er, der einen neuen Anfang setzten will, kommt zu spät. Nun
heißt es: Schau nicht mehr – geh! (v. 7). Hier wäre innezuhalten, damit dieser
erneute Einsatz verstanden werden könnte. Es gilt nun aber Folge zu leisten.
Auch diese zweite respektive vierte Forderung wird am Anfang der dritten
Strophe wiederholt. Diesmal aber nicht, um sie zurückzunehmen, sondern
um die möglichen Fragen, warum und wohin denn zu gehen sei, zu antizipie-
ren. Endlich scheint eine grundlegende Transformation eingeleitet zu sein.
Das Lesen, das ein Gehen sein soll, ist auf eine andere Spur gesetzt.
Doch statt einer Zielvorgabe wird nun angezeigt, daß du (schon) zuhause
bist und daß darum zu gehen sei, weil deine Stunde keine Schwestern hat. Das
kann heißen, daß dieser Stunde keine weiteren folgen werden, weil es schlicht
die letzte und damit, wie Szondi es deutet, die „Stunde des Todes“ ist.90 Zu-
mindest ist sie so einzigartig, daß sie keiner anderen Zeit ähnlich beziehungs-
weise ‚verwandt‘ ist. Bei ihr aber, die sich schlechterdings von allen anderen
Stunden unterscheidet, ist zu verweilen, weil diese Stunde der Ort ist, an dem
das Text-du sein kann, was es ist. Nur hier, wo deine Stunde keine Schwestern
hat, bist du – Einzelkind in der vereinzelten Stunde – zuhause. Das du ist, was
es ist, durch diese Stunde. Diese ist insofern weniger die Stunde des du (dei-
ne), als daß es ihr gehört. Diese Stunde aber läßt das du nur dann zuhause sein,
wenn es auf sie weiterhin ‚hört‘. Weil die Zeit aber nicht still hält, also als sol-
che keine letzte Stunde kennt, sondern vielmehr permanent die jeweils ge-
genwärtige negiert, muß das du gehen, um zuhause sein zu können.
Die Identität dieses singulären du, sein Dasein und Zuhause, ist durch eine
spezifische Stunde und das, was sich in ihr ereignet(e) – was diese Stunde zur
besonderen macht – bestimmt. Diese Zeit und jenes spezifische Dasein sind
aneinander wechselseitig gebunden, wenngleich beide alles andere denn
gleichberechtigt sind. Zwar ist es die Bewegung der Zeit, die diese Singula-
rität ermöglicht, aber sie ist es auch, die diese wieder aufzuheben droht. Zu-
hause bleiben kann also nur, wer sich fortwährend gegen den Fortgang der
Zeit behauptet. So muß dieses du, wenn es das, was es ist, sein will, gehen und
derart die Differenz aufrechterhalten, welche die Zeit als Kontinuum nivel-
liert.
Das Gehen ist also dadurch eine Ankunft zuhause, daß es nicht mit der
kontinuierlich fortschreitenden Zeit mitgeht. Das gehende du wird dadurch
zum Kristallisationspunkt einer Differenz, die mithin die Zeit spaltet. Es ist
dieser Spalt, der sein Zuhause ist und nur in dieser Teilung der Zeit ist dieses
du. Das Ankommen zuhause wäre dahingehend das Erkennen der eigenen
Zeitgebunden- und Kreatürlichkeit von diesem die Zeit unterscheidenden
Differenzpunkt her.
Markiert wird diese Differenz in der Zeit und im Sein des du durch den
dritten Gedankenstrich zwischen den beiden Finita bist – / bist (v. 9 f.). Diese
Differenz ist für das du – und folglich für jedes finite Dasein, das als du an-
gesprochen werden kann – konstitutiv. Zugleich scheint damit signalisiert,
daß auch die beiden Gedankenstriche zuvor, welche die Imperative (v. 6 f.)
auseinanderhalten, mit diesem die Zeit unterscheidenden Differenzpunkt im
Zusammenhang stehen. Denn nur für dieses die Zeit spaltende du werden
diese Imperative überhaupt stimmhaft, welche schrittweise auf das zurück-
weisen, was allem Wissen- (lesen) und Erfahrenkönnen (sehen) vorausgeht:
Auf dieses noch einzuholende Zuhause-sein soll sich das endliche du gehend
zubewegen.
So wenig allerdings festgestellt werden kann, woher die Imperative kom-
men, so offen bleibt, was sie bezwecken. Worin ihr Telos auch besteht, in der
dann erhobenen Forderung zu gehen wird das Ethos dieser Schrift, die von
sich bereits behauptete, eine Spur im Gras gelegt zu haben, schließlich expli-
zit. Das Lesen, das ohnehin fortwährend dem unausgesprochenen Imperativ
ausgesetzt ist, den Text verstehen zu müssen, wird durch die erste Forderung,
Lies nicht mehr – schau, zusätzliche Aufmerksamkeit abverlangt. Indem es
aber sogleich heißt, daß statt zu schauen vielmehr zu gehen sei, wird das ethi-
sche Moment des Textes schließlich apodiktisch. Denn nicht mehr zu lesen,
ist dem Lesen dann wesentlich, wenn der Text mehr sein möchte, denn ein
bloßer Zeitvertreib. Damit ist angezeigt, daß es in diesem Gelände um ande-
res als um ein leeres Dichter-Spiel ‚geht‘. Diese praktische Dimension unter-
streicht der illokutionäre Sprechakt des Imperativs, der als solcher etwas in
Aussicht stellt, das über ihn selbst und damit über den Text hinausgeht. Er ist
eine Forderung, die zugleich ein Versprechen in Aussicht stellt, das allerdings
nicht ausbuchstabiert ist. Die Koexistenz dieser beiden Momente ist charak-
teristisch für das hier waltende Ethos.91
Das Wesentliche an den Befehlen ist, daß dem Rezipienten zum einen nicht
die Freiheit gelassen ist, ihn nicht zu vernehmen und daß dieser zum anderen
nicht wissen kann, wann sich das erfüllt, was auch immer sich mit ihm an-
zukündigen scheint. Einmal aber auf die Empfängerposition versetzt, muß
der dergestalt zum du gewordene Rezipient antworten – und zwar ohne zeit-
lichen Aufschub. Der Imperativ fordert augenblicklich eine Entscheidung.
Durch sein Erscheinen stellt er sicher, daß sich der Gemeinte nicht der Pflicht
entledigt, die ihm diese Performanz auferlegt. Der Empfänger muß nun, ganz
gleich wie, dem Befehl Folge leisten. Entsprechend hat er nun allein die mit-
gegebenen Konsequenzen auf sich zu nehmen; er ist in die Verantwortung ge-
nommen, sich für etwas bereit zu halten, von dem er gleichwohl nicht wissen
kann, was und wie es auf ihn zukommen wird.
Verheißen scheint, daß im Befolgen der Anweisung (geh!) etwas möglich
wird, was durch die bisherige Art und Weise des Lesens und Schauens verhin-
dert wurde. Liegt den Imperativen also gerade daran, daß überhaupt (erst-
mals) ein Sehen und schließlich ein Lesen möglich werden könnte? Die Ab-
stufung, die sich aus der zweifachen Negation (v. 6 f.) ergibt, scheint darauf
hinzuweisen. Das zunächst Geforderte (schau!) muß zurückgenommen wer-
den, weil noch Grundlegenderes zu beachten ist. Faßt man die Aufeinander-
folge der Imperative in dieser Perspektive, dann scheint ausgerechnet in der
Form eines Befehls versprochen zu sein, daß das du ein geschärftes Wahrneh-
mungsvermögen und darin eine Subjektivität erlangen könnte, wenn es zu-
hause ankäme.
Welche Aporien allerdings dieser Offerte inhärent sind, das erweist sich,
wenn man abermals näher auf das spezifische Verhältnis zwischen den Impe-
rativen und dem derart angesprochenem du, sowie auf die Konstitution, die
das anvisierte Zuhause hat, eingeht. In seinem Die Verpflichtung überschrie-
benen Kapitel bezieht sich Jean-François Lyotard in seinem Hauptwerk Der
Widerstreit auf Emmanuel Lévinas,92 um mit diesem das „Skandalon“ zu be-
denken, das im „ethischen Satz“ geschieht. Das Unheimliche am „ethischen
Satz“ ist nicht nur, daß er gleichzeitig ein Versprechen und eine Verpflichtung
ist, sondern vor allem, daß er sich in Szene setzt, ohne seine Herkunft zu ver-
raten. Die Imperative in der zweiten Strophe von Celans Engführung stellen
nach diesen Kriterien eine „ethische Situation“ her. Lyotard schreibt: „Ein
Sender taucht auf, dessen Empfänger ich bin und von dem ich nichts weiß,
Immanuel Kant auch die moralischen Gesetze, die jedermann „als G e b o t e ansieht, wel-
ches sie aber nicht sein könnten, wenn sie nicht a priori angemessene Folgen mit ihrer Re-
gel verknüpften, und also Ve r h e i ß u n g e n und D r o h u n g e n bei sich führten“; ders.:
Kritik der reinen Vernunft (1781, 1787), hg. von Raymund Schmidt, Hamburg 1993,
B 839.
92 Vgl. Jean-François Lyotard: Der Widerstreit (Paris 1983), München 21989, Kap. Die
außer daß er mich auf die Empfänger-Instanz situiert. Die Gewalt der Offen-
barung liegt in der Vertreibung des Ichs aus der Sender-Instanz, von der aus es
sein Geschäft der Nutznießung, Machtausübung und Erkenntnis betreibt. Sie
ist das Skandalon eines auf die Du-Instanz verschobenen Ichs. Durch das Be-
greifen dessen, wodurch es ergriffen wird, versucht das zum Du gewordene
Ich wieder Herr seiner selbst zu werden. Es bildet sich ein weiterer Satz, in
dem es in die Sender-Position zurückkehrt, um das Skandalon des Satzes des
anderen und seiner eigenen Enteignung zu rechtfertigen oder zurückzuwei-
sen, ganz gleich. Als unvermeidliche Versuchung ist dieser neue Satz immer
möglich. Aber er kann das Ereignis nicht ungeschehen machen, sondern nur
zähmen und meistern und damit die Transzendenz des anderen vergessen.“93
Als Skandalon bezeichnet Lyotard das Auftauchen eines bestimmenden
Senders, der selber unbestimmt bleibt. Das angesprochene Subjekt wird auf
die Du-Instanz verrückt, ohne daß es die gleichsam aus dem Nichts kom-
mende Stimme lokalisieren oder erkennen könnte. Die sich hieraus ergeben-
de Asymmetrie macht die „Gewalt der Offenbarung“ aus. Sie unterscheidet
sich darin grundlegend von einer dialogischen Situation, in der die Ich-Du-
Relation idealtypisch symmetrisch und damit jederzeit austauschbar wäre.
Das durch das asymmetrische Verhältnis seiner Selbstherrlichkeit beraubte
Ich kann diese ihm nicht einsichtige Anmaßung durch einen fremden Ande-
ren, die das soweit gebräuchliche Maß des Ichs als untauglich bloßstellt, nun
bestenfalls regulieren, nicht aber derart ausräumen, als ob sie nie geschehen
wäre. Die Meisterung dieser unübersichtlichen Gegebenheiten, das ist der
Versuch einer Rettung des Selbst, bedarf einer kognitiven Anstrengung, die
schließlich die alte Unversehrtheit wiederherstellen soll. Lyotard betont, daß
dieser vom Du angestrebte Übergang zum (alten) Ich, durch einen „kogniti-
ven Satz“ erfolgt, der den ethischen „vergessen“ machen muß (vgl. 190). „Die
Geduld des Begriffs durchforscht die Ungeduld der Forderung“ (194). Doch
der Satz, der diese Ungeduld auf den Begriff zu bringen versucht, ist ein Wis-
sen, das „nur glauben [kann], daß es begreift“ (190). Denn der Widerstreit
zwischen dem ethischen und dem kognitiven Satz ist derart, daß er spekula-
tiv nicht aufgehoben werden kann. Auch dann, wenn das angerufene Du auf
einer vermeidlich höheren Ebene wieder eine Sprache spricht, die es ihm er-
laubt, sich in die Ich-Instanz zurückzubringen, bleibt die sich im ethischen
Satz zu erkennen gegebene „Dissymmetrie“ (192) unüberwunden und damit
wirksam. Denn das verpflichtende Versprechen wird durch den kognitiven
Satz allenfalls erklärt, nicht aber auf- oder gar eingelöst. Eine mögliche Ein-
lösung aber setzt die Fähigkeit zur „Erleidbarkeit (passibilité)“ (191) jener
Differenz voraus, die der ethische Satz als unvorhersehbarer Einfall in die
Welt des Ichs offenbart hat. Das hieße aber anzuerkennen, daß der ethische
94 Den „Beschluß“ der zweiten Kritik von 1788 leitet Kant mit den Satz ein: „Zwei Din-
ge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je
öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: d e r b e s t i r n t e H i m -
44 Das Ethos der Sprache lesen
wiesen zu sein. Das Speichenrad ist sich allenfalls selbst der Stern, der in die-
ser Nacht, die keine Sterne braucht, Orientierung gibt.
Dieses Rad befindet sich an einem Ort, der von den Parametern der Ord-
nung des Ganzen nicht erkannt wird; – hier aber ist das du zuhause. Kann
auch nicht vorausgesetzt werden, daß das Rad das Bild oder Gleichnis für das
zuvor und danach genannte du (v. 6–10 und 15) ist, weil die gesamte erste
Partie der Engführung auszeichnet, daß alternierend und übergangslos zwei
verschiedene Modi von Sätzen aufeinander folgen, nämlich einmal solche, die
eine Szene beschreiben und zum anderen jene, die sich unmittelbar an ein du
wenden und von ihm berichten, so stellt sich dennoch der Effekt einer Ana-
logie zwischen den eine Geschichte andeutenden Bildern (das Verbrachtsein
ins Gelände, das Rad in der Nacht) und dem du ein, wenn auch durch die Pa-
rataxe die unvermittelte Stellung dieses radikal auf sich selbst zurückgeworfen
dus um so eindringlicher wird.
Die letzten Worte, nirgends / fragt es nach dir (v. 14 f.), welche die Lage die-
ses unerkannten und durch kein anderes Subjekt anerkannten Fürsichseins
anzeigen, klingen dann – einmalig im gesamten Gedicht – noch zweimal in
den Übergängen zur zweiten und dritten Partie nach, bis schließlich selbst
das Reflexivpronomen, das keinen Reflex erhielt, mit dem den Übergang ab-
schließenden Gedankenstrich verhallt: „Nirgends / fragt es –“ (I, 198). Wenn
es sich in der dann folgenden Partie zum Ich zu erheben versucht und nach
außen ruft: „Ich bins, ich, / ich lag zwischen euch, ich war / offen“ (ebd.),
dann fällt schließlich schroff auf, daß ausgerechnet das Zuhause, das die Vor-
bedingung für eine gestaltete Subjektivität in einer mit anderen geteilten Welt
wäre, sich als ein wortloser Abschied von einer solchen Weltkonzeption er-
weist. Dieses Ich bleibt gänzlich unbemerkt: „ihr / schlaft ja“ (ebd.). Keine
Frage erreicht dieses einst offene und nun gespaltene Ich, dessen wiederholte
Beteuerungen ein Ich zu sein, die fundamentale Differenz nur unterstreicht:
Es ist kein Ich, weil es nicht an das gebunden ist, was allgemeinhin die Augen
lesen oder schauen könnten: Es ist vielmehr von einem Imperativ erfaßt, der
es unwiderruflich an ein Ungebundenes bindet: Geh – du.
Das Gehen ist die praktizierte Aufkündigung mit jenen, die nicht einmal
mehr fragen, weil sie offenbar von diesem schwärzlichen Feld und der es um-
greifenden sternenlosen Nacht nichts wissen wollen. Dort, in dieser Nacht zu
sein, bedeutet konsequenterweise, daß jegliche Vermittlung aussetzt. Wenn
sich keine Frage um dieses du kümmert, dann ist auch die Sprache keine ge-
meinsame. Das betont der weitere Verlauf der Engführung. Während die einen
nicht „sahn“, aber viel „von / Worten“ redeten (vgl. I, 198), wird dieses ver-
brachte du durch „ein Wort“ bedrängt (I, 199):
Kam, kam.
Kam ein Wort, kam,
kam durch die Nacht,
wollt leuchten, wollt leuchten.
Asche.
Asche, Asche.
Nacht.
Nacht-und-Nacht. – Zum
Aug geh, zum feuchten.
Der zentrale fünfte Abschnitt der Engführung, der selbst wiederum aus neun
Versen gebildet ist, nennt in seiner Mitte das Wort, das – wie von selbst – wie-
der und wieder durch die Nacht kam: Asche. / Asche, Asche. Erstmals sind an
diesem Punkt die verschiedenen Ebenen des Gedichts ‚enggeführt‘; das ist
insbesondere die Darlegung der Notwendigkeit, daß das adäquate Wort für
die hier nötigende Wirklichkeit ankommen wollte. In schneller Folge drängen
(wollt, wollt und geh, zum) die ausnahmslos einsilbigen Worte – die dergestalt
noch in der Iteration ihren singulären Status (ein Wort) behaupten – auf den
zweisilbigen Abschluß der Strophe zu, dessen klingende weibliche Kadenz sie
förmlich aufzufangen versucht. Diese rhythmische Auffälligkeit und der für
Celans späte Dichtung so ungewöhnliche Reim lassen erkennen, daß der
Schluß der beiden Strophen, leuchten und feuchten, etwas repräsentiert, das
erlangt werden müßte, aber jenseitig liegt. Das hier etwas überwunden wer-
den müßte, signalisiert deutlich der Gedankenstrich vor dem abschließenden
Satz. Es ist damit eine Barriere angezeigt, welche auch die Grenzen und Mög-
lichkeiten der Sprache berührt, deren Aufgabe es wäre, das eine Wort leuchten
und präsent werden zu lassen, das zum feuchten Aug zu gehen vermöchte.
Asche wäre dieses Wort, weil es ein ‚letztes‘ Wort sein könnte. Es würde al-
les sagen und ihm müßte nichts hinzugefügt werden. Es kommt aber nicht nur
einmal, sondern unaufhörlich. Das nicht nur deshalb, weil die Nacht nicht
aufhört Nacht zu sein, sondern weil andere sein Erscheinen über „Jahre“ (I,
199) vereitelten, indem sie diesem ‚letzten‘ Wort fortwährend „ins Wort“ fie-
len (vgl. I, 201), wodurch es nicht mehr als eines unter Tausenden ist.95 Da-
mit ist grundlegend fraglich, welches Wort sich denn noch als das ausweisen
kann, das letzte Gültigkeit beanspruchen könnte? An dieser in mehrfacher
Hinsicht zentralen Stelle verdeutlicht sich von neuem die ganze Not und das
Dilemma der Doppelpein. Zum prinzipiellen Ungenügen, daß Worte fehlen,
die zum Schmerzen gehen könnten, kommt hinzu, daß die Unterscheidung
zwischen jenem Wort, das ankommen können muß, damit das Notwendige
95 Vgl. die Verse: „die Welt, ein Tausendkristall, / schoß an, schoß an.“, I, 202; siehe auch
gesagt ist, und der leeren Sprache derjenigen, die nur viel von Worten reden,96
nicht ‚augenfällig‘ ist. Um genau diese Unterscheidung muß darum die Eng-
führung – und Celans Dichtung überhaupt – ringen. Es gilt eine Möglichkeit
zu finden, die es erlauben würde, diesen Unterschied überhaupt noch wahr-
zunehmen (I, 201):
[…] es blieb
Zeit, blieb,
es beim Stein zu versuchen – er
war gastlich, er
fiel nicht ins Wort. […]
[…] –: er, es
fiel nicht ins Wort, es
sprach,
sprach gerne zu trockenen Augen, eh es sie schloß.
Die Konsequenz dieses Versuchs ist ein fundamentaler Einschnitt: es ist der
unvermeidliche qualitative Wechsel vom feuchten Aug zu den trockenen Augen;
und es ist damit der unvermittelte Sprung vom Singular (Aug) einer Erfah-
rung, die sich nicht in freier Rede äußern kann, ohne mißverständlich zu sein,
zum Plural der vielen (Lese-)Augen, die im trockenen Sitzen und als solche
besser nichts sehen und verstehen – das Wort schloß die Augen – als im ver-
meintlichen Verstehen, erneut das Wort mißzudeuten. Das Wort beim gastli-
chen Stein ist das geschriebene Wort einer Dichtung, die selbst ein beharrlicher
Stein sein muß,97 damit sie nicht durch auf sie applizierte Verstehens- und
Verwertungsprozeduren mißbraucht wird.
Um unter diesen Bedingungen dennoch von der Asche im Wort Zeugnis ab-
legen zu können, muß diese Dichtung anderes als bloße Worte, sie muß ein
Zyklus sein, der immerzu auf eine stehende Achse verweist. Dieses im Wort
Asche zu lesen mögliche Anagramm, wird durch das Bild des rollenden Rades
in der Eingangspartie mit evoziert. Von diesem Anfangspunkt herkommend
erhält die fünfte Partie semantisches Gewicht: Denn die Asche/Achse ist als
kurz nach seiner Arbeit an der Engführung in seinem Prosatext Gespräch im Gebirg (1959)
zwischen reden und sagen macht: „‚Warum und wozu … Weil ich hab reden müssen viel-
leicht, zu mir oder zu dir, reden hab müssen mit dem Maul und mit der Zunge und nicht
nur mit dem Stock. Denn zu wem redet er, der Stock? Er redet zum Stein, und der Stein –
zu wem redet der?‘ ‚Zu wem, Geschwisterkind, soll er reden? Er redet nicht, er spricht, und
wer spricht, Geschwisterkind, der redet zu niemand, der spricht, weil niemand ihn hört, nie-
mand und Niemand, und dann sagt er, er und nicht sein Mund und nicht seine Zunge, sagt
er und nur er: Hörst du?‘“, III, 169–173, hier 171, Hervorh. von mir.
97 Vgl. den Anfang von Engführung und siehe oben S. 38.
Engführung 47
unverrückbare Leerstelle die Nabe, um die auf schwärzlichem Feld ein Rad
rollt. Sie ist die klaffende Wunde, die, weil sie „nicht vernarben“ will,98 lesend
nur umkreist werden kann.
So hermetisch das langsame Rollen des Rades um die eigene Achse auch er-
scheint, weil die Bedingungen für ein unmittelbares Sichmitteilen nicht gege-
ben sind, so ist diese Bewegung doch ein Klettern und tritt nicht nur leer auf
der selben Stelle. Die kletternden und fallenden Speichen zeigen an, daß sich
das Rad fortbewegt. Dieses Streben betont die dritte Strophe des ersten Ab-
schnitts auch dadurch, daß ohne Ausnahme alle Verse mit einem Verb begin-
nen, wobei die Geminatio klettern, / klettern (v. 12 f.) zugleich die Haftung99
und Gebundenheit des Rades an das schwärzliche Feld pointiert. Der weitere
Verlauf der Engführung in den dann folgenden Partien kann als eine Bewegung
auf schwärzlichem Feld beschrieben werden, welche die hier klaffende (vgl. I,
199) Differenz wenigstens derart „aufs / neue“ „sichtbar“ (vgl. I, 203) zu ma-
chen versucht, daß es vielleicht doch zu einem „Gespräch“ (I, 204) mit jenen
kommt, die nicht durch jenes „[e]twas“ hindurch „sahn“ (vgl. I, 198), das
‚Dazwischen‘ liegt und das zwiefältige das zuhause des du ausmacht, das auf-
fälligerweise im Zentrum (Asche/Achse) des Gedichts nicht mehr erwähnt
wird. Wenn dieses gelänge, dann würden die Gespräche allerdings kaum als
solche in Erscheinung treten können. Am Ende der vorletzten Partie heißt es
schließlich (I, 204):
In der Eulenflucht, hier,
die Gespräche, taggrau,
der Grundwasserspuren.
Worauf die Engführung zusteuert, sind die Gespräche […] / der Grundwasser-
spuren. Diese sind taggrau wie die Eulenflucht genannte Abenddämmerung.
Diese Gespräche befinden sich auf der Schwelle zwischen Nacht-und-
Nacht.100 Was sie aber zu ihrer Voraussetzung haben, das zeigt sich, wenn das
98 Vgl. die Partie „Keine / Stimme“ (I, 149), die den Zyklus Stimmen abschließt. Diese
Verse wurde im übrigen erst nach Fertigstellung der Engführung im November 1958 ge-
schrieben obwohl der Zyklus Stimmen den Band Sprachgitter einleitet, vgl. TCA Sprachgit-
ter, 136 f.
99 Etymologisch ist das Verb klettern mit der Klette sowie der Bedeutung kleben ver-
wandt; vgl. Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache (1883), bear-
beitet von Walther Mitzka, Berlin 181960, 376.
100 I, 199. Vgl. auch Celans Bemerkung zum Charakteristischem seiner Dichtung im
Verhältnis zur französischen Lyrik. Er gab diese anläßlich einer Umfrage der Librairie Flin-
ker (1958): Die Sprache der deutschen Lyrik „ist nüchterner, faktischer geworden, sie
mißtraut dem ‚Schönen‘, sie versucht, wahr zu sein. Es ist also, wenn ich, das Polychrome
des scheinbar Aktuellen im Auge behaltend, im Bereich des Visuellen nach einem Wort su-
chen darf, eine ‚grauere‘ Sprache“, III, 167.
48 Das Ethos der Sprache lesen
An diesem derart bestimmten Ort müßten die Gespräche ihren Anfang neh-
men; denn beim / versteinerten Aussatz, haben sie ausgesetzt, weil in / der
jüngsten Verwerfung auch die Sprache verworfen wurde. Mit Hilfe von Lokal-
präpositionen (In der, beim, bei, in der, überm, an der), die auf ein und den
selben Ort eine sechsfach aufgesplitterte Perspektive richten, bemüht sich das
Gedicht um Konkretion und Genauigkeit. Präzise aber sind diese Verweise
nicht darum, weil sie anschaulich auf jene bestimmte, nun verschüttete Mauer
des „Tötungsterrains“102 referieren, die sowohl die tödlichen Kugeln fangen,
als auch möglichen Zeugen den Blick auf die Erschießungen verwehren soll-
te, sondern weil die deiktischen Indikatoren zugleich intern aufeinander ver-
weisen und dadurch das, was sich zwischen Flucht und Fang ereignete, sich
aber wissenschaftlich nicht verifizieren läßt, zu fassen versuchen. Zu dem,
was schlechterdings nicht dokumentiert werden kann, gehören unsere geflo-
henen Hände, die sich (immer noch) überm Todesort aufhalten. Diese Hände
sind den tötenden Händen entflohen und sind dennoch nicht entkommen.
Im Zusammenhang dieser Textstelle ist eine Vorstufe des Gedichts bemer-
kenswert:103
101 Celan notiert sich bei der Ausarbeitung der Engführung: „lerne / stammeln, lerne /
lallen“, in: TCA Sprachgitter, 100; vgl. unten Kap. Plural und Verdoppelung, insb. S. 207.
102 Vgl. Celans Übersetzung von Cayrols Kommentar zum Film Nuit et brouillard
(Anm. 82): „Sie haben ihren Galgen, ihr Tötungsterrain. / Der den Blick verborgene, für
Erschießungen eingerichtete Hof von Block elf; die Mauer mit Kugelfang“, IV, 87.
103 Celan: TCA Sprachgitter, 100.
Engführung 49
104 Die Notwendigkeit zum erstenmal ‚wieder‘ nach Auschwitz gehen zu müssen,
kennzeichnet auch Peter Weiss’ Text Meine Ortschaft, in: Atlas. Zusammengestellt von deut-
schen Autoren. Mit 43 Figuren, Berlin 1965, 31–43. Wenn Weiss schreibt: „Es ist eine Ort-
schaft, für die ich bestimmt war und der ich entkam“ (ebd., 32, Hervorh. von mir), dann
zeigt er jenen Konnex auf, der die Geflohenen zu Befohlenen macht. Vergleichbar dem Film
Nuit et brouillard (Anm. 82) beschreibt auch Weiss die verschiedenen Plätze und Gebäude
des Todesgeländes. Auch ihm fällt die Mauer mit dem „Kugelfang“ (ebd., 37) auf. – Celan
hat die Texte Weiss’, insbesondere jene, die sich auf Auschwitz beziehen, sehr kritisch rezi-
piert. Vor allem hat Celan die Darstellung der Opfer in Weiss’ Stück Die Ermittlungen,
Frankfurt a. M. 1965, beanstandet. Vgl. hierzu die Andeutung von Hermann Levin Gold-
schmidt, in: Peter Weiss: Briefe an Hermann Levin Goldschmidt und Robert Jungk. 1938–
1980, hg. von Beat Mazenauer, Leipzig 1992, 201. Celans Skepsis gegen Weise überliefert
auch Baumann: Erinnerungen (Anm. 5), 131.
50 Das Ethos der Sprache lesen
könnten – denn (noch) sind? Ihr Sein ist die flüchtige Existenz der Stimme
eines Über-Lebenden, der von sich weiß: Es / kann dich nicht geben.
Entsprechend desperat ist das anvisierte Gespräch, das ein gegenseitiges
Verstehen und eine gegenseitige Anerkennung zu ‚geben‘ vermöchte. Die Mi-
nimalbedingung für dieses aber wäre, daß der Aussatz als Ab-Grund des Ge-
sprächs anerkannt würde. Das heißt, daß das Gespräch nur dann stattfinden
könnte, wenn es bereit ist, auszusetzen, um so zu einem Gespräch mit dem
Befehl Geh zu werden. Denn nur wenn dieser akzeptiert und erkannt ist,
könnte sich weiteres ergeben. Erkannt aber wäre er erst dann, wenn er befolgt
würde. In diesem Sinne akzeptiert aber ist der Imperativ dann, wenn er ‚wie-
der‘ zur Sprache gefunden hat und also überhaupt Sprache geworden ist. Es
hat darum den Anschein, daß die Sprache selbst dieser Imperativ ist, denn in
ihr will er zuhause sein. Vorerst aber gilt, daß mit der bestimmten Mauer die-
ses Geländes auch das heimelige Wohnen in der Sprache verschüttet ist. Der
schon in Hölderlins Nachtgesang Hälfte des Lebens festgehaltene Befund, daß
allein die Mauern von der Aphasie Auskunft geben – „Die Mauern stehn /
Sprachlos und kalt, im Winde / Klirren die Fahnen.“ (StA II, 117) –, wird bei
Celan dahingehend konkretisiert, daß allein an der verschütteten Mauer dieses
Geländes der (letzte) Satz sichtbar105 werden kann, der das Aus in seinem
ganzen Ausmaß aus-spricht.
Für das Subjekt, das zuhause sein will, bedeutet das, daß ausgerechnet der
so existenzbedrohende Befehl, der zum Aus-Satz zu gehen auffordert, zu je-
nen Punkt führt, wo Gespräche über das, was ist, aufgenommen werden
könnten. Mit anderen Worten: dieser Imperativ determiniert nicht nur den
Grund des Realen, sondern er macht das Reale allererst vernehmbar. Daraus
ergibt sich die paradoxe Aufgabe, den Befehl, der notwendigerweise über die
Sprache hinaustreibt, weil er anderes denn Sprache ist, zur Sprache kom-
men zu lassen, damit das Reale und seine Geschichte Gestalt findet und dar-
in (an-)erkannt wird.
Einer Dichtung, die sich unter dieses Gesetz gestellt sieht – und der Impe-
rativ setzt dieses –, gelänge das Gespräch darum nur dann, wenn sie selbst aus-
setzt und dadurch wenigstens punktuell ihren Ab-Grund freilegt. Sie hat zu
zeigen, warum es diese Hände, die diese Sprache gestalten, nicht geben kann,
und warum diese Hände gleichwohl – gerade dann, wenn sie ihre paradoxale
(Nicht-)Existenz nicht verhehlen – als Gedicht ihr bestimmtes Datum ‚ge-
ben‘. Dieses Datum aber vermerkt kein Geschichtsbuch, das wirklichkeitsge-
treu die Fakten des Geschehenen zusammenstellt. Der immer wieder ange-
führte Wirklichkeitsbezug von Celans Dichtung ist a fortiori das Hinhören
105 Vgl. die Zeilen, die der Doppelpunkt angekündigt: „an / der verschütteten Mauer: //
sichtbar, aufs / neue: die / Rillen, die // Chöre, damals, die / Psalmen. Ho, ho- / sianna.“,
I, 203.
Engführung 51
auf den Zug dieses gegebenen Imperativs, den das Gedicht an die Sprache
weiterzugeben versucht.
Die paradoxalen Bedingungen der allenfalls im Verborgenen stattfindenden
Gespräche […] / der Grundwasserspuren unterstreicht dann nochmals der Be-
ginn der abschließenden Partie, die genau genommen nicht die letzte ist, weil
sie dem Gedicht kein neues Wort hinzufügt und als ganzes in Parenthese ge-
setzt ist. Der neunte Abschnitt wiederholt als Abbreviatur neuerlich das ge-
samte Gedicht und ist mithin die Engführung schlechthin, indem sowohl die
letzten Verse, auf die das Gedicht hinführt, als auch der allererste Satz des Zy-
klus’ rezitiert werden.
In der Übergangspassage, „(– – taggrau, / der / Grundwasserspuren –“ (I,
204), werden genau dort, wo die Gespräche abermals zu nennen wären, zwei
Striche als Leerzeichen gesetzt. Es ist dies das einzige Mal,106 daß die Repe-
tition ausdrücklich unterbleibt. Die beiden Gedankenstriche geben damit die
vakanten Stellen an, die in zukünftigen Gesprächen zu besetzen wären.
Schließlich wird im veränderten Zeilenumbruch der Anfang des Gedichts
derart ausgeschrieben, daß er sich in dieser Doppelung nochmals verdoppelt.
Aus vier Zeilen sind nun acht geworden (I, 204):
Verbracht
ins Gelände
mit
der untrüglichen
Spur:
Gras.
Gras,
auseinandergeschrieben.)
Das längste Wort der Engführung, das sich anfangs am ungewöhnlichen Orte
breit machte und auf eine die Schrift bestimmende Zäsur aufmerksam mach-
te, indem es durch eine semantische Verschiebung selbst eine bewirkte und
derart die Logik der Kausalität unterbrach, ist auch das letzte. Es erweist sich
als das programmatische Wort, das den Titel des Gedichts präzisiert.107 Die
Engführung ist ein Auseinanderschreiben und vice versa. In dieser Spannung
106 Vergleichbar ist nur noch das Verklingen des Reflexivpronomen „dir“ im Übergang
zur dritten Partie, an das eine stumme Textspur („ – “) erinnert, vgl. I, 198 und s. o. S. 44.
107 Besondere Aufmerksamkeit hat auch Jan Roelans dem Auseinandergeschriebenem
findet jene zyklische Bewegung statt, die, wie Szondi als erster bemerkte,
„nicht“ zu ihrem „Ausgangspunkt zurückkehrt“.108 Wo aber kommt das Le-
sen an, insbesondere wenn es durch die fortwährenden Repetitionen aufge-
fordert wird, immer noch einmal zurückzublicken? Das Gedicht lenkt in den
letzten Versen das Augenmerk zum zweiten Mal auf das Gras und damit auf
die Spur, die sich ‚in ihm‘ befindet, indem es dieses Wort durch die zweifache
Wiederholung erneut hervorhebt. Geht die Lektüre also noch einmal zum
wieder auseinandergeschriebenen Wort Gras, dann wird sie – retrospektiv –
an dieser Stelle sarG lesen. Die Inversion der Buchstaben evoziert fraglos die
in diesem Gelände Getöteten.109 Doch untrüglich ist diese Text-Spur nicht.
Denn der Sarg steht metonymisch für ein Sterben, das in einer Beerdigung
betrauert werden kann. Die Shoah aber hat genau dieses verunmöglicht, weil
in ihr die Menschen und ihr Sterben vernichtet wurden.110 Der Sarg ist dar-
um in der Tat ein ‚verkehrtes‘ Bild für das, was in diesem Gelände geschehen
ist. Liest man gleichwohl im Wort Gras das Anagramm Sarg, dann stößt die
Lektüre vielmehr auf jene „black box“, die das Gedicht nicht ‚ausleuchten‘
kann, in die es aber seine „Leser hineinzieht“.111 Eben darum erfährt die Lek-
türe keine empirischen Fakten, die ein vergangenes Geschehen aus der histo-
rischen Distanz heraus beschreiben, sondern sie wird in den vom Gedicht in-
dizierten Spuren und „Rillen“ (I, 203) vielmehr mit Zeichen112 konfrontiert
– gerade wenn sie auf jene Textstelle achtet, welche am eindringlichsten auf
den Tod fürchten, Schlimmeres fürchten als den Tod.“, ders.: Negative Dialektik (Anm. 88),
364. Vgl. auch Heideggers Unterscheidung zwischen dem Sterbenkönnen des Menschen
und dem Verenden der Tiere: „Sterben heißt: den Tod als Tod vermögen. Nur der Mensch
stirbt. Das Tier verendet.“, Heidegger: Das Ding, in: ders.: Vorträge und Aufsätze, Pfullin-
gen 1954, 177.
111 Zum Problem, die Shoah im Bild einer black box um-schreiben zu müssen, vgl. Dan
Diner: Aporie und Apologie. Über Grenzen der Historisierbarkeit des Nationalsozialismus,
in: ders. (Hg.): Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historiker-
streit, Frankfurt a. M. 1987, 70 f. Vgl. ebenfalls Brieglebs Beobachtung, daß Celan seine Le-
ser und Hörer derart „in die Leere“ hineinzieht, daß „die Dinge gedacht werden müssen,
deren Wissen uns noch bevorsteht, obwohl sie gewesen sind.“, ders.: Celans Landkarte
(Anm. 89), 127.
112 Vgl. Celans Übersetzung zum Film Nuit et brouillard (Anm. 82): „Das einzige Zei-
chen [von den in der Gaskammer getöteten] – aber das muß man ja wissen – ist die von
Fingernägeln gepflügte Decke. Beton läßt sich erweichen“, IV, 95.
Engführung 53
den vor möglichen Zeugen abgeschirmten Ort der Erschießungen (d. i. der
Kugelfang) verweisen –, die sie nachhaltig an die in der Eulenflucht geflohenen
Hände (I, 203) bindet. Die Flucht dieser Hände aber zeigt das Bedrohliche ei-
ner nicht abgeschlossenen Vergangenheit an, die sich auf die gegenwärtige
und damit immer zukünftige (Lese-)Zeit ausdehnt.
Nochmals drängender stellen sich damit die Fragen, unter welchen Bedin-
gungen sich die Gespräche der Grundwasserspuren ereignen, welchen Verlauf
sie nehmen könnten und was in ihnen überhaupt zur Sprache kommen kann,
wenn es diese geflohenen Hände sind, die hier die Dichtung formen. Findet
diese dichterische Sprache auch nur darum Gestalt, um sich in der andauern-
den Flucht zu behaupten, und wollte sie damit insbesondere auch das damit
einhergehende „Fliehen der Bedeutung“113 eindämmen, das alle ihre Aussa-
gen und damit die hermeneutische Praxis bedroht, so kann auch diese Dich-
tung die die Sprache durchgehend tangierende Flucht weder domestizieren
noch dies sich wünschen, steht am Ende der Flucht doch der Fang, genauer
der Kugelfang, der nicht nur eine tödliche Bedeutung hat, sondern überdies
den Tod des Bedeutsamen indiziert. So untrüglich diese Geschichtszeichen114
auch sind, diese Sprache kann sie nicht verbürgen.
Das Gespräch und damit die mögliche Validation von Bedeutungen wird
gleichwohl gesucht. Auch in diesem Zusammenhang erweist sich das Rad als
das Leitbild der Engführung. Nicht nur hebt es hervor, wie isoliert das ange-
rufene Dasein auf schwärzlichem Feld ist, nicht nur repräsentiert es die zykli-
sche Verfaßtheit des Gesamttextes und nicht nur unterstreicht es die Bedeu-
tung der Spur, auf der sich das Rad bewegt und die seine Bewegung zugleich
zurückläßt, sondern das Bild des Rades ist als Zitat selbst bereits eine Spur,
die Gespräche sichtbar macht, die das Gedicht Engführung mit anderen Texten
führt.
Celan schrieb die Engführung als seine Pessoa-Übertragungen bereits zwei
Jahre veröffentlicht waren. Dieser Hinweis ist darum bemerkenswert, weil
Celan jene Zeilen nicht wortwörtlich ins Deutsche übertrug, die da heißen:
„E assim nas calhas de roda / Gira, a entreter a razão“. Diese Verse der drit-
ten Strophe von Autopsicografia könnte man aber auch, „Und so dreht sich in
des Rades Speichen, / den Verstand zu unterhalten“,115 übersetzen. Die Be-
tonung der fragilen Speichen, die in dem Bild, das die Engführung gibt, die
113 Vgl. de Man: Lesen (Proust): „Als Schriftsteller ist Proust jemand, der weiß, daß die
Stunde der Wahrheit, gleich der Stunde des Todes, niemals rechtzeitig eintritt, da das, was
wir Zeit nennen, eben im Unvermögen der Wahrheit besteht, mit sich selbst übereinzu-
stimmen. A la recherche du temps perdu erzählt vom Fliehen der Bedeutung, aber dies be-
wahrt ihre eigene Bedeutung nicht davor, unaufhörlich auf der Flucht zu sein.“, in: ders.:
Allegorien (Anm. 59), 91–117, hier 112.
114 Vgl. Lyotards Kantlektüre in: ders.: Widerstreit (Anm. 92), 267–282.
115 Übersetzung von Burghard Baltruch (unveröffentlicht).
54 Das Ethos der Sprache lesen
treibende Kraft (klettern, klettern) des Rades ausmachen, hatte Celan bei sei-
ner Übersetzung der letzte Strophe von Pessoas Gedicht zurückgestellt und
dafür hervorgehoben, daß sich Pessoas Rad auf berechenbaren Gleisen be-
wegt und gerade hierin dem Geiste auf angenehme Weise die Zeit vertreibt.
Das Rad, von Pessoa mit Nietzsche als Symbol für die ewige Wiederkehr des
Gleichen eingesetzt – „Alles geht, alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des
Seins. Alles stirbt, alles blüht wieder auf ewig läuft das Jahr des Seins“116 –,
wird von Celan durch einen für seine Dichtung insgesamt unverzichtbaren
Begriff ergänzt. Was Celan mitdenkt, wenn er vom Rad spricht, ist das
schwärzliche Feld auf dem es klettert. Zum Rad gehört die Spur, die es verfolgt
und die es selbst bewirkt. Schon wenig später, im Juni 1961, bringt Celan die-
sen Zusammenhang im Wort „Radspur“ auf den Punkt.117 Das so runde und
darin so geschlossene Bild vom Rad der Geschichte, auf dem bereits die grie-
chische Schicksalsgöttin Tyche daherkam, mußte zu etwas gänzlich anderem
werden. Denn weder die Geschichte noch ihre Philosophie läßt sich weiter-
hin im Bild vom Rad metaphorisch zusammenfassen. Gefordert ist dagegen
eine Darstellung, die durch eine spezifische Spur präzisiert ist. Damit ist die
Sprache mitsamt ihren Tropen zweifelsohne überfordert. Denn sie müßte in
der Schrift eine Spur zu erkennen geben, die quasi seismographisch das Da-
tum eines singulären Geschehens aufzeichnet, um es derart zu wiederholen.
Ihre Glaubwürdigkeit gewinnt die Schrift dem gegenüber aber erst dadurch,
daß sie je von neuem und je anders die Unmöglichkeit einer solchen Wieder-
holung des für sich Singularität Beanspruchenden zu bedenken gibt.118
Die Spuren, die Celans Gedicht auf diese Weise gibt, sind darum zunächst
einmal Hinführungen auf jenes Bedenken, das das sich Entziehende zu be-
stimmen versuchen muß. An dieser Stelle sollte die (wissenschaftliche) Lek-
türe einhaken. Ihr wird dann auch auffallen, daß das Rad der Engführung, das
sich solipsistisch aus sich selber bewegt, in die Auseinandersetzung mit ande-
ren Texten führt, die sich ebenfalls mit der Darstellungsproblematik konfron-
tiert sahen und hieraus ihre poetologischen Konsequenzen gezogen haben.
Rotiert das Rad auch langsam, was der Analyse den schnellen Ausgriff auf
externe Bezüge erschwert,119 so setzt diese Drehung gleichwohl eine Zentri-
116 Friedrich Nietzsches: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen, in:
ders.: Werke in drei Bänden, hg. von Karl Schlechta, München/Wien 1954, Bd. II, 463. Bei
Nietzsche wird das Rad aber auch mit dem unschuldigen Neubeginn konnotiert. Celan, der
insbesondere mit Nietzsches Zarathustra bestens vertraut war, dürfte darum eher, den Kon-
trast noch zuspitzend, an folgende Stelle gedacht haben: „Unschuld ist das Kind und Ver-
gessen, ein Neubeginn, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heili-
ges Ja-sagen.“, ebd., 294, Hervorh. von mir.
117 Vgl. das Gedicht À la pointe acérée, I, 251 f.
118 Vgl. Derrida: Schibboleth (Anm. 15).
119 In der Meridian-Rede finden sich programmatische Äußerungen, die hervorheben,
Engführung 55
fugalkraft frei, welche die Lektüre derart nach draußen treibt, daß sie auf
mindestens zweierlei gestoßen wird: Sie muß die Flucht der geflohenen Hän-
de verfolgen, weil mit ihnen der immer schon problematische Sinn verflog,
der den Glauben an Gespräche zwischen autonomen Subjekten oder eine nai-
ve Lektüre von Texten noch gestattet hätte, und sie sollte die verborgenen
Reminiszenzen einbeziehen, in denen das Gedicht statt des nicht möglichen
Gesprächs dennoch eine Art Gespräch mit anderen Literaturen aufgenommen
hat, indem es u. a. deren poetologische Prämissen erkundet. Die oben her-
ausgearbeitete Differenz zwischen dem Text-du, dem es verwehrt ist, Ich zu
sein, weil es an sein Datum, wo es zuhause ist, gebunden ist, und den anderen,
die nicht nachfragen, weil sie schlafen,120 hat zur Folge, daß Gespräche nur
dann möglich werden, wenn es ein Bewußtsein um diese Differenz gibt. Die
Literaturen, mit denen sich Celan auseinandersetzt, scheinen für dieses Be-
wußtsein zu stehen. Das heißt, daß sich die geforderte Präzision – die Spur in
der Schrift – insbesondere dadurch ergibt, daß ein in der Geschichte der Li-
teratur tradiertes Problembewußtsein aufgegriffen wird, um es unter dem
„Akut des Heutigen“121 zu prüfen und den veränderten Erfordernissen
gemäß neu zu gestalten. Auf diesem Wege werden dann andersherum auch
Spuren in die (Literatur-)Geschichte hineingelegt, welche diese verändern.
Bevor im folgenden die sich hieraus ergebenden Anknüpfungspunkte für
eine transzendierende, das heißt gleichermaßen nach draußen und auf den Be-
gründungszusammenhang dieser Dichtung gehende Lektüre aufgenommen
werden, ist daran zu erinnern, daß die Lektüre in summa erfahren mußte, daß
die hermeneutische Situation, welche das Unverständliche in ein Verstehen
überführen soll, einer ethischen Situation entspricht. Insbesondere dann,
wenn das Textverstehen stocken muß, weil es durch den Text auf die du-In-
stanz versetzt wird, ist das Lesen versucht, sich vorzugsweise als erklärende
Literaturwissenschaft wieder in die Sender-Position zu bringen. Es liegt in
dieser Tendenz, daß sich die kognitiven Sätze um den Preis des Vergessens
ihrer eigenen Voraussetzungen genau „an Stelle der Erinnerungsspur“122 eta-
daß der Modus des Gedichts das Lesen zur Langsamkeit anhält, obwohl es selbst als Dich-
tung (der Kunst) vorauszueilen versucht, vgl. III, 194. Das Gedicht steht damit in Oppo-
sition zu einem schnell handhabbaren Sprachgebrauch, der die Möglichkeiten eines be-
deutsamen Sprechens verschleißt. Celan: „Niemand kann sagen, wie lange die Atempause
– das Verhoffen und der Gedanke – noch fortwährt. Das ‚Geschwinde‘, das schon immer
‚draußen‘ war, hat an Geschwindigkeit gewonnen; das Gedicht weiß das; aber es hält un-
entwegt auf jenes ‚Andere‘ zu“, III, 197; und: „Die Aufmerksamkeit […] ist, glaube ich,
keine Errungenschaft des mit den täglich perfekteren Apparaten wetteifernden (oder mit-
eifernden) Auges, es ist vielmehr eine aller unserer Daten eingedenk bleibende Konzentra-
tion.“ III, 198.
120 Vgl. oben S. 44.
121 Celan: Meridian, III, 190.
122 Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips, in: ders.: Gesammelte Werke, chronologisch
56 Das Ethos der Sprache lesen
geordnet, hg. von Anna Freud et al., London / Frankfurt a. M. 1940, 51967, Bd. XIII, 1–69,
hier 25. Freud hebt kursiv hervor: „das Bewußtsein entstehe an Stelle der Erinnerungsspur“;
vgl. auch Benjamin: Baudelaire (Anm. 49), 612–615.
123 Mit welcher Vorsicht aber selbst diejenigen Bezüge zu lesen sind, die sich als mut-
wie Dante. Vgl. den Aufsatz von Maria Behre: Naturgeschichtliche Gänge mit Demokrit und
Dante. Paul Celans „Engführung“, in: Christoph Jamme / Otto Pöggeler (Hg.): „Der
glühende Leertext“: Annäherungen an Paul Celans Dichtung, München 1993, 165–184. Ähn-
lich wie bei Lorenz: Schweigen (Anm. 109) fällt auch bei Behre auf, daß das Begehren, in
der Engführung eine versöhnliche Ausrichtung erkennen zu wollen, ein Interpretations-
verfahren favorisiert, das sich intertextueller Bezüge derart bedient, daß Celans Gedicht
selbst in diesen verschwindet. Beide Arbeiten bestätigen damit die oben (S. 3f.) angemerk-
Engführung 57
ten Befürchtungen. So meint Behre mit Blick auf Dantes Divina Commedia in den neun
Partien der Engführung einen dreistufigen Gang zu sehen, der nach „Höllennacht“ und
„Läuterungswirbel“ schließlich im „Himmelstag“ seine finale Aufhebung findet. Diese
Vorgabe führt dazu, daß entscheidende Textstellen in Celans Gedicht auf unhinnehmbare
Weise überlesen werden. So ist beispielsweise ihr Glaube verdächtig naiv, daß sich das
„Aschenfeld in der Einheit 5 […] als potentiell fruchtbarer Ort“ erweist (ebd., 169). Un-
gewollt zynisch wird es, wenn sie meint, daß sich die geflohenen Hände in der vorletzten
Partie „in Sicherheit begeben“ hätten (ebd., 175).
III. POSITIONSBESTIMMUNGEN
Weniger zufällig ist, daß die hier ausgewählten Allusionen auf Textstellen bei
Hölderlin und Heidegger treffen, in denen die Position der Dichtung und
Philosophie in ihrer geschichtsphilosophischen Dimension erörtert werden.
Für alle drei Autoren gilt, daß eine poetologische respektive philosophische
Standortbestimmung ohne die dezidierte Ausarbeitung eines Zeit- und Ge-
schichtsbegriffs schlechterdings nicht möglich ist. Dieser wird spätestens
dann unentbehrlich, wenn die jeweiligen Zeiterfahrungen – seien sie auch
noch so unvergleichlich – Antwort auf die beiden Fragen verlangen, was denn
nach und trotz allem bleibet und was Dichtung und Philosophie zu leisten in
der Lage sind, so daß die Hoffnung nicht gänzlich unbegründet wäre, daß
noch etwas anderes als das Bekannte zukünftig ankommen könnte.
Was wie ein hoffnungsvoller Ausblick einsetzt, der sich auf die gewisse Aus-
sage stützt, daß trotz allem noch Tempel stehen, erweist sich des weiteren als
ein immer skeptischer werdender Abgesang. Die zweite Hälfte dieser sechs
125 Hölderlin: Brod und Wein, StA II, 94; vgl. Heidegger: Hölderlin und das Wesen der
Dichtung (HWD) (1936), in: ders.: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung (EHD) (1944),
60 Positionsbestimmungen
Zeilen verkehrt das erste scheinbar unzerstörbare noch, in dem sich die Zäsur
der Zeit zu erkennen gibt, in ein sehr fragiles und schon fragliches wohl noch.
Schließlich nimmt in der zweiten Wortwiederholung dieser Strophe, durch
die Geminatio Nichts / nichts, der Zweifel überhand. Was zweifach genannt
werden muß, dessen eindeutiger Sinn ist bereits brüchig und wird in dieser
Darstellung nochmals strittiger. Wie steht es also um das (Nicht-)Verlorene,
das im letzten Wort erinnert wird? Findet hier eine dialektische Spekulation
statt, die das Verlorene in ein Unverlorenes transformieren könnte? Gibt es al-
so ein Immaterielles, das nicht zu Asche verbrannt ist? Leuchtet ein Stern, der
in dieser Nacht doch noch Licht gibt?
Obwohl sich diese Verse sowohl auf die zentrale mittlere als auch auf die
Eingangspartie zurückbeziehen, in der es hieß, daß die Nacht keine Sterne
braucht, wird nach dem Also kein abschließendes Fazit gezogen, das es erlau-
ben würde, wie Lorenz davon zu sprechen, daß das Gedicht Engführung „in
der Hoffnung auf einen eschatologischen Zustand [gipfelt], durch welchen
die Gefahr eines abermaligen Holocaust gebannt wäre.“126 Das Also zeigt
vielmehr die verpflichtende Konsequenz für eine Dichtung an, die im Ange-
sicht des unvermittelbaren – und darum ungebannten – Nichts sich immer
noch als Dichtung zu behaupten anschickt. In dieser Negativität gibt es nur
insofern ein ‚Resultat‘ (Also), als allein die Performanz des Gedichts unverlo-
ren ist – wenn es denn gelesen wird – und es nun selbst wie einer der Tempel
stehen muß,127 in dem die unerhörte Bitte an Gott, „Ho, ho- / sianna“,128 ver-
GA, Bd. 4, Frankfurt a. M. 61996, 33–48, hier 47; sowie: ders.: Wozu Dichter? (WD) (1946),
in: Holzwege, GA, Bd. 5, Frankfurt a. M. 71994, 269–320.
126 Lorenz: Schweigen (Anm. 109), 202. Lorenz glaubt, hier eine ausgerechnet durch die
jüdische Mystik verbürgte „messianische Deutung“ anbringen zu können, der zufolge „ge-
rade der Moment unfaßlichen Leids, die Düsternis der größtmöglichen Fremdheit zwi-
schen Mensch und Gott, eine Signalfunktion für den Kairos gottmenschlicher Einheit“ sei,
daß gar, wie er ausführt, „die Einheit Gottes mit sich selbst im Tod erst des – vernichteten
– Menschen gegeben sei“ (ebd.). Diese für Lorenz’ Text so symptomatische Projektion, die
zwanghaft die „vernichteten Menschen“ sinnstiftend in einer Einheit mit Gott aufgehoben
sehen möchte, ist beispielhaft für eine ideologisch motivierte Philologie, die wohl die
Schrecken der Geschichte benennt, dies aber in einer Weise, als ob diese ausgerechnet
durch Celans Dichtung „gebannt“ wären. Daß das Gegenteil der Fall ist, kann gerade auch
– wie die nachfolgende Lektüre zeigt – an den stehenden Tempeln nachgewiesen werden.
127 Daß Celans Engführung von mehreren Tempeln spricht, stützt die hier vorgeschlagene
These, daß die Tempel für eine sich ihrer historischen Verantwortung bewußten Dichtung
stehen, welche ihren poetologischen Voraussetzungen nachgeht; vgl. hierzu die Überlegun-
gen zum Übergang des singulären feuchten Aug zum Plural der trockenen Augen oben S. 46
und die generelle Diskussion zum unumgänglichen Plural dieser Dichtung unten Anm. 268.
128 I, 203. Unmittelbar vor und nach der zitierten Strophe klingt das Hosianna, he-
bräisch: ‚(Gott) hilf doch!‘, an, das, so Szondi, „die deportierten Juden oft, angesichts des
Endes“ beteten, ders.: Durch die Enge geführt (Anm. 87), 382. – Unerwähnt bleibt aller-
dings (nicht nur) bei Szondi, daß dieser traditionell entweder an den König (vgl. 2. Sam
Die stehenden Tempel Celans 61
zehrt aber unverklungen wieder und wieder als immer noch unerwiderter Im-
perativ widerhallt. Unverloren sind also einzig diese im Gedicht gebrochen
vermittelten Stimmen.
Aris Fioretos hat darauf hingewiesen, daß die durch den Versbruch abge-
trennten Silben Ho, ho- dem Ruf der Eule gleichen, daß mithin auf Hegels
„Eule der Minerva“ angespielt sei.129 Hegel schreibt in der Vorrede zu seinen
Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821): „Um noch über das Belehren,
wie die Welt sein soll, ein Wort zu sagen, so kommt dazu ohnehin die Philo-
sophie immer zu spät. Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit,
nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet und sich fertig ge-
macht hat. […] Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine
Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht ver-
jüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der ein-
brechenden Dämmerung ihren Flug.“130
Hegel räumt ein, daß die Philosophie, die als der „Gedanke der Welt“ er-
scheint, notwendigerweise „immer zu spät“ kommt. Erst wenn das Tagwerk
14, 4 und 2. Kön 6, 26) oder an Gott (vgl. Psalm 12, 2; 28, 9 und 118, 25) gerichtete Bittruf
beim Einzug Jesu in Jerusalem von denen, die ihn begrüßten, zu einem Jubelruf modifiziert
wurde (vgl. Mt 21, 9 u. 15; Mk 11, 9f.; Joh 12, 13). Dieses ist aus zwei Gründen festzuhal-
ten. Erstens, weil unmittelbar auf die Jubelrufe Jesus in den Tempel einzieht, um diesen zur
„Räuberhöhle“ verkommenen heiligen Ort zu „reinigen“; und zweitens, weil das Hosianna,
das den Christen als bereits erfülltes „Messianic password“ gilt, hierdurch zum signifikan-
ten Schibboleth wird, welches das Trennende zwischen Juden und Christen an seinem emp-
findlichsten Punkt trifft. Auf die auffällige semantische Umdeutung des Hosianna hat Eric
Werner in seinem 1946 veröffentlichten Aufsatz ‚Hosanna‘ in the Gospels, in: Journal of Bib-
lical Literature 65 (1946), 97–122, aufmerksam gemacht und festgestellt: „The Hosanna has
changed its original meaning“, ebd., 112. Vorbereitet wurde dieser Bedeutungswandel aber
bereits im Judentum selbst. Joachim Jeremias vermutet (ders.: Die Muttersprache des Evan-
gelisten Matthäus, in: Zeitschrift für die neutestamentarische Wissenschaft und die Kunde
der älteren Kirche 50 (1959), 270–274), daß das Hosianna bereits im vorchristlichen Juden-
tum eine Veränderung vom Bitt- zum Jubelruf erfahren hat. So ist dieser Ruf beispielsweise
fester Bestandteil des siebentägigen Laubhüttenfestes Sukkot. Dessen siebter Tag wird
„Hoscha’na-Tag“ genannt (vgl. ebd., 273). Allerdings war dieser Ruf „für die Menge ein un-
verständliches Fremdwort“ (ebd., 274) geworden, das seine ursprüngliche Bedeutung verlo-
ren hatte. Das Hosianna wurde damit zu einer semantisch unbestimmten Interjektion, die,
wie auch Augustinus festhält, vornehmlich eine Affektbekundung ist, der unterschiedliche
Bedeutungen einhergehen: „magis affectum iudicans, quam rem aliquam significans“, ders.:
In Iohannis Evangelium Tractatus, PL 1764, m 635, in: CORPVS CHRISTIANORVM, Bd.
36, TVRNHOLTI 1954, 440. Bedeutsam an dieser Entsemantisierung aber ist: „The history
of the Hosanna is a true mirror of the fate of Church and Synagogue. The ecclesia trium-
phans sang its hymns of praise and glory; while the pious Jews cried through the centuries:
‚We beseech Thee, O Lord, save now!‘“, Werner: ‚Hosanna‘, 122.
129 Aris Fioretos: Nothing. History and Materiality in Celan, in: ders. (ed.): Wordtraces.
getan ist, beginnt die Zeit der gesammelten Kontemplation. Diese vermag
dann die „vollendete“ Wirklichkeit als solche zu erkennen. Celan zeigt durch
die feine Modifikation vom Flug zur Flucht der Eulen an, daß sich eine solche
Vollendung der Geschichte nicht einstellen will. Denn es gibt keine entspre-
chende Distanz zur Wirklichkeit, so daß es möglich wäre, aus der Vogel-
perspektive über die vergangene Epoche zu räsonieren. Wenn es aber kein
abgeschlossenes Danach gibt, dann muß auch das Nach-Denken und die phi-
losophische Reflexion eine andere werden. Die Flucht der gelehrten Eulen ist
auch die Flucht vor der Einsicht, daß mit den geflohenen Händen der Impera-
tiv der vergeblich bittenden Stimmen in die offene Zeit der Gegenwart und
deren Zukunft hineingetragen ist.
Bereits der erste Zyklus des Bandes Sprachgitter machte deutlich: „Es sind
/ nur die Münder / geborgen.“131 Das muß nun am Ende des Gedichtbandes
heißen, daß nicht mehr und nicht weniger geborgen ist als dieser Imperativ
der geflohenen Hände, der – als Text – all jene angeht, die in einen dieser ste-
henden Tempel eintreten: Ist seine Forderung aber für die Leser zu vernehmen
oder bleibt er abermals unbeantwortet, weil er im doppelten Sinne unerhört
ist? Denn das Unerhörte an diesem Imperativ ist, daß er an den Bund erin-
nert, den Salomo für das Volk Israel mit Gott geschlossen hat. Nach dem Bau
des Tempels empfing Salomo Gottes Gebote: „Und es geschah des Herrn
Wort zu Salomo: / So sei es mit dem Haus [d. i. der Tempel], das du baust:
Wirst du in meinen Satzungen wandeln und nach meinen Rechten tun und al-
le meine Gebote halten und in ihnen wandeln, so will ich mein Wort an dir
wahrmachen, das ich deinem Vater David gegeben habe, / und will wohnen
unter Israel und will mein Volk Israel nicht verlassen“ (1. Kön 6, 11–13).
Gott verspricht, daß er bei seinem Volk Israel „wohnen“ will und daß er es
„nicht verlassen“ will. Dafür fordert er, daß die göttlichen „Gebote“ einge-
halten werden. Dieses Gebot und jene Versprechen sollen es zusammen er-
möglichen, daß das Band der Tradition geknüpft wird. Das Geheimnis dieses
Bundes erhält im Tempel eine Form. Er ist fortan die Stätte, an der das gött-
liche Gebot eine menschliche Stimme bekommt. Mit dem Tempel ist der
Grund für das Band gelegt, das in ihm mit der folgenden Generation immer
wieder von neuem initiiert werden kann, indem die prägende Urszene, daß
„des Herrn Wort“ geschah, im Ritual wiederholt wird. Erst mit dem Tempel
manifestiert sich also eine Gemeinschaft und bekommt Geschichte gerade da-
131 „Stimmen im Innern der Arche“, I, 149. Daß die Engführung auf den Zyklus Stim-
men (I, 147–149) zurückreferiert, machen noch andere Anzeichen deutlich: etwa die Ge-
meinsamkeit, daß unentzifferbare Sterne (*) im Raum zwischen den Partien leuchten und
das Gras, das an das gemähte „Grün“ (I, 147) denken läßt. Vgl. auch oben Anm. 98. Gras
und Grün haben im übrigen die gleiche sprachliche ‚Wurzel‘, vgl. Kluge: Etymologisches
Wörterbuch (Anm. 99), 267.
Die stehenden Tempel Celans 63
durch, daß das durch alle Zeiten hindurch Gültige in ihm gemeinsam angeru-
fen werden kann. Wenn Celans Gedicht nun aber mit den vergeblichen Bit-
ten, Ho, ho- / sianna (I, 203), die Frage aufwirft, ob das von Gott gegebene
Wort, „mein Volk Israel nicht [zu] verlassen“, gehalten wurde, wenn damit al-
so auch fraglich ist, was das für ein Gott sei, zu dessen Ehren der Tempel ge-
baut wurde, dann stellt sich auch die andere Frage, ob das Gedicht denn selbst
(noch) ein Tempel sein kann. Übernimmt es nach der jüngsten Verwerfung des-
sen angestammte Funktion und knüpft unter den Bedingungen, die diese un-
beantworteten Fragen anzeigen, ein anderes Band? Ein Band also, das sich
notwendigerweise auch anders auf die Tradition bezieht, der Celan nach Ot-
to Pöggelers Angaben skeptisch gegenüberstand?132
Es ist also danach gefragt, wie weitgehend jenes Fundament der Identität
stiftenden Tradition zerrüttet ist, auf dem mehr oder weniger bewußt jegliche
Form von Geschichtsschreibung fußen muß, indem diese die Tradition – in
welcher Wendung auch immer – fortschreibt. Vor diesem Hintergrund wird
an den stehenden Tempeln ein poetologisches Moment von Celans Dichtung
besonders deutlich: Diese Gedichte müssen und wollen sich gegenüber den
im Widerstreit liegenden Diskursen, die Geschichte zu schreiben versuchen,
derart positionieren, daß trotz der unvermeidlichen Aporien, in die Celans
Gedichte ihre Leser hineinziehen, jenes unwiederholbare Datum tradiert wer-
den kann, das beispielsweise in den wiederkehrenden Gedenkritualen der of-
fiziellen Erinnerungspolitik verloren zu gehen droht, die von Jahrestag zu
Jahrestag wiederholt werden.133 Daß dem unwiederbringlich Verlorenen noch
der Bewußtseinsschwund einhergeht, dem gilt es vor allem dort entgegenzu-
stehen, wo die guten Absichten wider Willen – „alle die Helfenichtse“ (III,
85) – diesen Schwund dadurch beschleunigen, daß das Unerhörte unbedacht
bleibt, daß es womöglich kein Band gibt, mit dem sich Bündnisse und Tradi-
tionen schließen ließen; – was impliziert, daß auch das Band der einen Be-
deutung, die aus dem Gedicht herausinterpretiert werden müßte, nicht vor-
ausgesetzt werden kann. Das Gedicht aber steht und fordert das Unerhörte
heraus. Als dieser Affront gibt es sein Datum an die Lesenden weiter, die –
wodurch sich die Konfrontation potenziert – nicht mehr lesen, sondern gehen
sollen.
Unter gänzlich anderen Vorzeichen haben sich auch Hölderlin und Heideg-
ger gefragt, was eine das Wesentliche stiftende Traditionsbildung ausmache.
Beide haben in diesem Zuge an die von den Göttern verlassenen griechischen
132 Pöggeler berichtet: „Sein Leben, so sagte Celan, habe ihm gezeigt, daß Traditionen
nichts helfen.“, ders.: Spur des Worts (Anm. 5), 407, Anm. 15.
133 Vgl. Klaus Briegleb: Unmittelbar zur Epoche des NS-Faschismus. Arbeiten zur politi-
Tempel gedacht und hierbei zugleich die Metapher des Kampfes respektive
Streites eingeführt. Weil sich erst im Kampf das recht verstandene Ge-
schichtsbewußtsein und mithin die Geschichte konstituiere, habe die Dich-
tung ebenso wie das philosophische Denken diesen Kampf auszutragen. Kön-
nen auch Dichtung und Philosophie die Geschichte weder bewirken noch gar
lenken, so sollen doch beide je auf ihre Weise dafür sorgen, daß das die Ge-
schichte Gründende freigelegt wird. Es gilt also, ad fontes, die Quellen der
abendländischen Geschichte wie zum ersten Mal in den Blick zu bekommen.
Diesen Ursprung hat Hölderlin unter anderem in Athen, Heidegger wieder-
um mit Hölderlin einzig im alten Griechenland ausfindig zu machen ver-
sucht, und das insbesondere in den Tempeln, in denen einst die Götter wohn-
ten. Denn diese Tempel sollen für die Beantwortung der Frage, welche Mög-
lichkeiten in den Auseinandersetzungen um die Zukunft der Länder nördlich
der Alpen zur Verfügung stehen, Orientierung geben. Ihnen kommt darum
für das eigene Selbstverständnis eine Schlüsselfunktion zu. Hypothetisch gilt
nun, daß Celan mit den stehenden Tempeln in der Engführung auf die spezifi-
sche Position eingeht, welche die Tempel einerseits in Hölderlins Dichtung
und andererseits bei Heidegger einnehmen. In welchem Zusammenhang ist
also bei den beiden, die Celan aufmerksam zur Kenntnis nahm, vom Tempel
die Rede?
Gut ein dreiviertel Jahr nach seinem unvermeidlich gewordenen Fortgang aus
Frankfurt – die Spannungen mit dem Hausherrn der Familie Gontard hatten
sich im September 1798 derart zugespitzt, daß Hölderlin seine Hauslehrer-
stelle aufgab und zu Isaac von Sinclair nach Bad Homburg ging – schreibt
Hölderlin im Sommer 1799 die Ode Der Main.134
Der Main.
Gleichsam von der Höhe Bad Homburgs aus, blickt das lyrische Subjekt in
süd-östlicher Richtung weit über Frankfurt hinaus in eine Ferne (v. 6), die es
nicht kennt (vgl. v. 5), die ihm aber als jenes Land gepriesen (v. 5) ist, in dem
die umherschweifenden Wünsche (v. 3) Resonanz erwarten dürfen. Dieser
Fernblick ist ein Rückblick sowohl auf den eigenen Werdegang als auch auf
die Schroffheit der Epochenumbrüche, die es mit sich bringen, daß dem Herz
und den Wünschen weder eine aufgeschlossene Heimat noch der Halt der al-
ten Säulen des Olympions (vgl. v. 10 f.) gegeben sind. Das erzeugt Irritatio-
nen. Diese bezeugt das irritierende Idiom: die Wünsche wandern (v. 3). Die
Ode signalisiert mit dieser Alliteration gleich in der erste Strophe, daß ihr
Gesang eine ins Ungewisse gehende Wunschverschiebung darstellt, deren
Ausgangspunkt allerdings weniger ungewiß sein dürfte: Denn statt zu der ge-
liebten Susette Gontard in Frankfurt, müssen die Wünsche nun zu den Inseln
Ioniens (v. 16) wandern. Das aber löst einen labyrintischen Tanz (v. 24) aus.
Daß sich Hölderlin mit der Ode diskret auf die in Frankfurt zurückgelas-
sene Geliebte bezieht, legt die befremdliche Reminiszenz auf den schönen
Main! (v. 31) nahe, der unvermittelt wie ein auf immer verlorener Intimus an-
gerufen wird, nachdem zuvor noch mit unbestimmtem Artikel Ein heimath-
loser Sänger (v. 26) besungen wurde. Mit dem Gedankenstrich (v. 30) wird die
einsetzende Reflexion, die den Konsequenzen eines von keinem beachteten
und darum unbetrauerten Sterbens im Exil nachgeht, abgebrochen und durch
eine plötzlich aufkommende Erinnerung verdrängt. Auf das einleitende wenn
(v. 30) folgt kein schlußfolgerndes dann mehr, sondern dem Sänger stellt sich
statt dessen ein Erinnerungsbild ein, das er selbst – folgt man der Stringenz
des Angedachten – bei anderen nicht auslösen wird, wenn er stirbt. Dieser
Sprung im Gedanken durch das Gedenken läßt den Eindruck entstehen, daß
schon im Ansatz zum Memento mori die Maske der anonymen Unbe-
stimmtheit (Ein Sänger) ihre Wirkung verliert und dadurch die authentische
Rede der ersten Person Singular wieder hervorbrechen kann. Immerhin er-
halten die beiden zuletzt zitierten Verse mit dem jähen Auftauchen des Sub-
jekts, das von sich „ich“ (v. 30 f.) sagt, besonderen Nachdruck. Doch ausge-
rechnet diese derart beglaubigte Rede erweist sich als eine metonymische Ver-
schiebung, die im schönen Main! die schöne Maid!, die nicht mein135 werden
135 Man könnte anführen, daß der hier besungene Main tatsächlich auch für Hölderlin
‚austauschbar‘ gewesen ist. Immerhin hat Hölderlin die Ode 1800 für eine weitere Publi-
kation überarbeitet und, wie ursprünglich schon einmal geplant, Der Nekar betitelt, vgl.
Die Athenertempel Hölderlins 67
FHA V, 572 u. 576 und Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe (SWB), hg. von Michael
Knaupp, München/Wien 1992, Bd. I, 253 f. Auffällig an der späteren Textversion aber ist,
daß die Spuren, die den schmerzhaften Trennungsaffekt von Susette Gontard preisgeben
könnten, fehlen. Darum ist zu vermuten, daß im Zuge der Überarbeitung auch der Main
ersetzt werden mußte, weil dieser Signifikant schmerzhaft das homophone Possessivpro-
nomen wachruft, das wiederum die Geliebte erinnert, die nicht mein sein darf.
136 V. 27–29, Hervorh. von mir. Wie sehr das Gedicht darauf aufmerksam macht, daß
die Dinge hier ‚verkehrt‘ liegen, zeigt sich auch daran, daß der Sänger wünscht, daß ihm das
Vaterland dienen möge und nicht, wie sonst die sprachliche Wendung gebraucht wird, daß
er dem Vaterland Dienst zu leisten wünscht.
137 Vgl. FHA V, 570–572; SWB III, 114.
138 Vgl. die nur wenige Jahre später (1801) geschriebene Hymne Der Rhein, die diesen
vität in Hölderlins Dichtung: „Uneßbarer Schrift gleich“, Stuttgart 1985, insb. das Kap. Der
verstellte Eros, 33–38. Ohne die Psyche Hölderlins analysieren zu wollen, „eine Absurdität,
die nur aus einem völligen Verkennen des analytischen Prozesses hervorgehen könnte“
(ebd., 243, Anm. 41), zeigt Nägele, welche Verschiebungen und Verdichtungen der Eros in
Hölderlins Texten auf dem Weg von den Liebesliedern zu den „unmittelbar das Vaterland
angehenden Gedichten“ (so Hölderlin im Brief an seinen Verleger Friedrich Wilmans vom
8. Dez. 1803, StA VI, 435) durchläuft.
68 Positionsbestimmungen
weiß, daß er bis zu seinem Tode wandern muß / Von Fremden […] zu Frem-
den (v. 26 f.), auf das die Geschichte überhaupt angehende Telos aufmerksam
zu machen, das durch den Verlauf der Geschichte gänzlich verloren zu gehen
droht und auf das es sich doch zu richten gelte.140 Gemeint ist der ferne (Ar-
che-)Ort, der dem Sänger Vor andern, so ich kenne (v. 5), die Möglichkeit ver-
spricht, die eigene Situation und das weitere Geschick Erfragen (v. 11) zu
können. Denn dort könnten sich nicht nur die quasi naturhaften Seufzer in
Gesänge wandeln (vgl. v. 20), sondern mehr noch könnte auf diese Weise der
Grund des zukünftigen Vaterlands gelegt werden. Mit Kristeva gesprochen,
könnten sich dort aus dem vorsprachlichen Seufzen, das einen „Ansturm des
Semiotischen“ kundgibt, „die symbolische Ordnung neu gestalte[n].“141 Statt
Frankreich ab März 1799 setzen bei Hölderlin weitere Reflexionen über die mögliche „Re-
volution der Gesinnungen und Vorstellungsarten“ (Brief an Johann Gottfried Ebel, 10. Ja-
nuar 1797, StA VI, 229) in Gang. Besonders die mögliche Entwicklung und Rolle, die
Deutschland hierzu einnehmen könnte und sollte, wird Hölderlin zur vordringlichen Fra-
ge. Gilt es doch, wider den Terror der republikanischen Truppen die Idee der Revolution zu
realisieren.
141 Kristeva: Revolution (Anm. 25), 71. Hölderlin besteht darauf, daß jedes Gedicht
„aus des Dichters eigener Welt und Seele hervorgegangen seyn muß“ (Allgemeiner Grund
[zum Empedokles], FHA XIII, 869), betont aber nachdrücklich, daß die „Empfindung […]
sich nicht mehr unmittelbar aus[drükt], es ist nicht mehr der Dichter und seine eigene Er-
fahrung, was [im Gedicht] erscheint“ (ebd., 868 f.). So hat auch der Gesang, der vom Seuf-
zen (vgl. v. 20) spricht, sich von diesem längst separiert. Eingeschrieben aber sind in diesen
seufzenden Gesang gleichwohl die Initialen der Person, die ihn initiiert haben dürfte: Su-
sette Gontard. Beachtlich ist immerhin, daß sich in vier der vierzig Verse der Ode Der Main
Wörter mit jenen Anfangsbuchstaben befinden, die an Susette Gontard erinnern (vgl. v. 8,
20, 33 u. 37). Vgl. auch die Bemerkungen zu den „sterblichen / Gedanken“ in der Hymne
Andenken von Pierre Bertaux: „Sterbliche Gedanken“ – S.G., in: ders.: Hölderlin-Variatio-
nen, Frankfurt a. M. 1984, 89–93 und von Michael Franz: Hölderlins Gedicht „Andenken“,
in: Text + Kritik, Sonderband VII (1996), Friedrich Hölderlin, 195–212, insb. 208–212;
sowie zum gleichen Phänomen in der Ode Diotima (FHA V, 419–426) ders.: Annäherun-
gen an Hölderlins Verrücktheit, in: Hölderlin-Jahrbuch (HJb) 22 (1980/81), 274–294, insb.
293 f. und ders. / Roman Jakobson: Die Anwesenheit Diotimas. Ein Briefwechsel, in: Le pau-
vre Holterling. Blätter zur FHA 4/5 (1980), 15–18. Selbstverständlich ist diese eigenwilli-
ge Buchstabencodierung nur eine Weise neben anderen, an der sich zeigt, wie sich bei Höl-
derlin das Pathos der Liebe in den republikanischen Patriotismus seiner späten Gesänge
wandelt, ohne daß darum der damit vollzogene Schnitt unkenntlich wird, der das Subjekt
des Gesangs gefährdet, weil dieses seine Biographie auf bestimmte Graphen reduzieren
muß. Andererseits ist es aber eben dieser Schnitt der Sprache, der das Subjekt überhaupt
konstituiert. Daß der hier markierte Übergang von „des Dichters eigener Welt und Seele“
in die symbolische Ordnung der Sprache nicht ohne Gefahr ist, unterstreichen alle drei hier
genannten Gedichte Hölderlins (Der Main, Diotima, Andenken), die so kryptisch an Su-
sette Gontard erinnern, durch die Weise, wie sie mehrdeutig vom Sterben sprechen. Denn
die Transformation des Gefühls in das „sterblich Lied“ (Diotima, StA II, 28) ist selbst im-
mer auch ein Sterben. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Hölderlins Brief an Christian
Die Athenertempel Hölderlins 69
also bei der unartikulierten Wehklage zu verharren, wären von jener Stätte her
vaterländische Gesänge in eine wirkmächtige Form zu bringen. Damit aber die
Wünsche den Sprung, der im Enjambement (v. 28 f.) visualisiert ist, auf die
Ebene der vaterländischen Ordnung vollziehen können, bedarf es jenes in der
Ode besungenen Telos, das nicht schon Ziel oder Zweck der Geschichte ist,
sondern das erst die Basis hergibt, die nach den Gestaltungsmöglichkeiten der
Geschichte fragen läßt (vgl. v. 11). Diesen Ort gilt es im Wettlauf gegen den
seinen Ursprung vergessenden Fortgang der Geschichte zu erreichen, „noch
eh der Nordsturm / Hin in den Schutt der Athenertempel // Und ihrer Göt-
terbilder auch dich begräbt“ (v. 11–13). Derart vertraulich angesprochen ist
das an Suniums Küste (v. 11) gelegene Olympion, das einsam steht (v. 14), wo
die Göttersöhne / Schlafen, im trauernden Land der Griechen (v. 7 f.).
Ludwig Neuffer vom 16. Februar 1797, der nicht nur verschwiegen von Susette Gontard
schwärmt, sondern auch festhält: „Es ist auch immer ein Tod für unsre stille Seeligkeit,
wenn sie zur Sprache werden muß.“, StA VI, 236. Roland Reuß verkennt darum die Reich-
weite der spezifischen Buchstabenanordnung, wenn er den Hinweis Bertaux’ auf Susette
Gontard (in der Hymne Andenken) „ein Aperçu“ nennt, „das dem Gehalt der Stelle jedoch
äußerlich bleibt“, ders.: „…/ Die eigene Rede des andern“. Hölderlins „Andenken“ und
„Mnemosyne“, Frankfurt a. M. 1990, 244, Anm. 438. So wie in der Ode Der Main der Ge-
dankenstrich (v. 30) anzeigt, daß der Gedanke an den eigenen Tod ‚sterben‘ muß, damit
statt dessen „Von Tagen der Lieb’“ (Andenken, StA II, 189, v. 35) am schönen Main erzählt
werden kann, so macht auch Hölderlins Hymne Andenken auf den kategorialen Widerstreit
aufmerksam, den seine Dichtung austrägt. In diesem Sinne ist der buchstäbliche Bezug auf
Susette Gontard nicht nur nicht äußerlich, sondern für Hölderlins Dichtung seit seiner
Frankfurter Zeit überhaupt wesentlich. Das Andenken an „die Freunde“ (ebd., v. 37), das
jenes an die Freundin impliziert, ist nicht ohne die Sprache – und mithin nicht ohne sterb-
liche Gedanken – zu haben (vgl. hierzu Hölderlins Verhältnisbestimmung von Sprache, Er-
kenntnis und Erinnerung unter dem Titel Wink für die Darstellung und Sprache in: Wenn
der Dichter einmal ..., FHA XIV, 319), welche die vor dem inneren Auge erscheinenden Er-
innerungen irreversibel zu etwas anderem macht. Genau dieser Umschlag von der erinner-
ten Anschauung in ein Zeichen des Gedächtnisses wird in den berühmten Schlußversen der
Hymne nochmals dargelegt: „Es nehmet aber / Und giebt Gedächtniß die See, / Und die
Lieb’ auch heftet fleißig die Augen, / Was bleibet aber, stiften die Dichter.“, v. 56–59, StA
II, 189. Das meist nicht mitgelesene aber des letzten Verses hebt hervor, daß die erinnerte
Lieb’ von der Dichtung nicht nur verwandelt gegeben, sondern in dieser Transformation
auch genommen wird. Denn nur weil die Dichtung die Lieb’, die sich an die Augen heftet,
(weg-)nimmt, indem sie sie in die See der Sprache überführt, kann die Dichtung Bleiben-
des stiften. Diesen Umschlag betont ebenfalls Hegel, wenn er daran erinnert, daß das „Ge-
dächtnis, das im gemeinen Leben oft mit Erinnerung, auch Vorstellung und Einbildungs-
kraft verwechselt wird, es überhaupt nur mit Zeichen zu tun hat“, ders.: Enzyklopädie, in:
Werke, Bd. 10, Frankfurt a. M. 1970, § 458, Zusatz. – Zu den Konsequenzen dieser auch von
Celans Dichtung angezeigten Differenz für eine „politische Philologie nach Auschwitz“,
welche mit den Zeichen der Dichtung den unwillkürlichen, ‚subjektiven‘ Erinnerungen an
das Tötungsgeschehen im allgemeinen Diskurs Anerkennung zu geben versucht, vgl.
Brieglebs Exkurs zu Hegels Unterscheidungen zwischen Erinnerung und Gedächtnis, in:
ders.: NS-Faschismus (Anm. 133), 95–102.
70 Positionsbestimmungen
Die Ode Der Main will anderes schon sein denn ein bloßes Liebeslied. Es
stimmt bereits das „reine Frohloken vaterländischer Gesänge“ an, welche
nicht mehr, wie Hölderlin 1803 vom „Liebeslied“ schreibt, ein „immer müder
Flug“ sind.142 Die Gesänge, die das Vaterland erneuern wollen, sind dagegen
ein gefährlicher Flug, der, weil er weiter und höher hinaus will, Wachsamkeit
verlangt. Denn dieser Flug bewegt sich mit dem Nordsturm gen Süden, nicht
aber, um wie dieser über die vergangenen Epochen und deren Kulturen ver-
kennend hinweg zu stürmen, sondern um in den Ruinen jener Welt / Die nicht
mehr ist! (v. 14 f.) das Gesetz auszumachen, wie die Geschichte – und damit
die des heimatlichen Nordens – idealerweise ihren (Bildungs-)Gang nehmen
sollte. Dieses Ideal, so ist die Hoffnung, die Hölderlin um diese Zeit noch
hat, läßt sich im Schutt der Athenertempel erahnen, sofern sich einer an jenen
Ort begibt, an dem einst Menschen von ihrem Dasein vielfältig Zeugnis ab-
legten.
2. Der Athenerbrief
Hölderlin bringt mit diesem Wink auf Athen seinen Briefroman Hyperion
oder der Eremit in Griechenland in Erinnerung. Denn nach Athen – mit eben
dem Ziel vor Augen, das Gesetz der Geschichte zu ergründen – haben sich
Hyperion und seine Mitstreiter aufgemacht. Von der „Wallfahrt“143 zu den
verlassenen Tempeln in den Ruinen von Athen erzählt der letzte Brief des er-
sten Bandes, den Hölderlin noch in Frankfurt am Main abgeschlossen hatte
und der Ostern 1797 bei Cotta erschien. Insbesondere dieser Brief hat große
Beachtung gefunden. Denn im Gespräch mit seiner geliebten Diotima legt
Hyperion am Beispiel der untergegangenen Welt der Athener nicht nur das
Wesen der Schönheit mit all seinen anthropologischen, geschichtsphilosophi-
schen und poetologischen Implikationen aus, sondern er kann sich schließ-
lich mit Hilfe seiner Angebeteten zu seiner zukünftigen Aufgabe ent-
schließen, sich zum „Erzieher unsers Volks“144 ausbilden lassen zu wollen.
142 Vgl. Hölderlin: Brief an Friedrich Wilmans, um Weihnachten 1803, StA VI, 436.
Christoph Jamme sieht in der Ode Der Main den ersten Schritt Hölderlins zu seiner „va-
terländischen Wendung“, vgl. ders.: „Ein ungelehrtes Buch“. Die philosophische Gemeinschaft
zwischen Hölderlin und Hegel in Frankfurt 1797–1800, Bonn 1983, 350. Gleichwohl hat die-
se Ode in der Hölderlin-Forschung kaum Beachtung gefunden, vgl. Paul Böckmann: Höl-
derlin und seine Götter, München 1935, 182 ff.; und Walter Hof: Hölderlins Stil als Ausdruck
seiner geistigen Welt, Meisenheim am Glan 1954, 153 ff.
143 Hölderlin: Hyperion oder der Eremit in Griechenland (Hyp), StA III; FHA XI; nach
Hegel, Schelling et al. anschließende Diskussion, wie die humanitäre Erziehung des Ein-
zelnen und des Volkes durch Religion, Philosophie und Dichtung gewährleistet werden
könnte, kann hier nicht aufbereitet werden. Auf diesen Kontext bezieht sich nicht nur der
Die Athenertempel Hölderlins 71
Getragen sind Hyperions Reflexionen durch das „große Wort, das εν δια-
φερον εαωτ (Das Eine in sich selbst unterschiedne) des Heraklit.“145 In die-
ser Formel ist jenes gegenüber Immanuel Niethammer angekündigte Prinzip
kondensiert, das nicht nur das Leiden an den „Trennungen, in denen wir den-
ken und existiren, erklärt“, sondern darüber hinaus den Weg weist, „den Wi-
derstreit verschwinden zu machen, den Widerstreit zwischen dem Subject
und dem Object, zwischen unserem Selbst und der Welt, ja auch zwischen
Vernunft und Offenbarung“.146 Damit ist in nuce Hölderlins philosophische
Ausgangslage skizziert, die ihm und seinen Zeitgenossen von Kant überge-
ben ist. Es gilt, einen Grund auszumachen, der die Philosophie und die Of-
fenbarungsreligionen gleichermaßen bestimmt, ohne daß, wie bei Fichte und
Schelling,147 „unsere praktische Vernunft zu Hilfe kommen müßte“148 und
ohne andererseits hinter Kant wieder in einen hergebrachten Dogmatismus
zurückzufallen. Ermöglichen soll dieses Bravourstück nach Hölderlin der
„ästhetische Sinn“.149 Mit diesem verbindet sich allerdings nicht nur der
Wunsch, jenes in verschiedenen „Graden der Begeisterung“ zu präsentieren
und damit erfahrbar zu machen, was die philosophische Abstraktion nur po-
stulieren darf, sondern auch die Einsicht, daß keine Begeisterung ohne ein
„nüchternes Besinnen“ auskommt.150 Dieser derart verstandene ästhetische
Sinn – Hölderlin spricht in seinen noch in Frankfurt geschriebenen Maximen
von dem „durch und durch organisirten Gefühl“ – soll dazu befähigen, „zu
rechter Zeit und am rechten Orte“ im „schnelle[n] Begriff“, „alles Einzelne
in die Stelle des Ganzen“151 zu setzen und derart den allgemeinen (Zeit-)Er-
fahrungen Gestalt zu geben. Hölderlin entwirft einen Begriff von der Schön-
Athenerbrief, sondern Hölderlins Briefroman überhaupt. Vgl. Manfred Engel: Der Roman
der Goethezeit. Band 1. Anfänge in Klassik und Frühromantik: Transzendentale Geschichten,
Stuttgart 1993.
145 Hyp I, 145. Daß Heraklits Wort nicht nur thematisch, sondern für den Roman über-
haupt konstitutiv ist, hat Gunter Martens herausgearbeitet, ders: „Das Eine in sich selber
unterschiedne“. Das Wesen der Schönheit als Strukturgesetz in Hölderlins „Hyperion“, in: Uwe
Beyer (Hg.): Neue Wege mit Hölderlin, Würzburg 1994, 185–198.
146 Hölderlin: Brief an Immanuel Niethammer, 24. Februar 1796, StA VI, 203.
147 Vgl. Stefan Metzger: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, in: Ulrich Gaier et al.: Höl-
derlin Texturen 3. „Gestalten der Welt“ Frankfurt 1796–1798, Tübingen 1996, 52–64, insb.
60 ff. und Gideon Stiening: Epistolare Subjektivität. Das Erzählsystem in Friedrich Hölder-
lins Briefroman „Hyperion oder der Eremit in Griechenland“, Diss. Marburg 1999, 241 f. [i.
E.]
148 Hölderlin: Brief an Niethammer, 24. Februar 1796, StA VI, 203.
149 Ebd.
150 „Da wo die Nüchternheit dich verläßt, da ist die Gränze deiner Begeisterung.“, Höl-
derlin: Sieben Maximen (1799), FHA XIV, 69; vgl. hierzu Johann Kreuzers Einleitung in:
Hölderlin: Theoretische Schriften, Hamburg 1998, XVIII f.
151 Vgl. FHA XIV, 70.
72 Positionsbestimmungen
152 Vgl. die hier nicht darzustellende Diskussion um Hölderlins Textfragment Seyn,
Urtheil, Modalität (1795) in: Dieter Henrich: Konstellationen. Probleme und Debatten am
Ursprung der idealistischen Philosophie (1789–1795), Stuttgart 1991; ders.: Der Grund im
Bewußtsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken (1794–1795), Stuttgart 1992; Michael
Franz: Hölderlins Logik. Zum Grundriß von „Seyn Urtheil Möglichkeit“, in: HJb 25 (1986–
87), 93–124 sowie Manfred Frank: Hölderlins philosophische Grundlagen, in: Gerhard Kurz
et al. (Hg.): Hölderlin und die Moderne. Eine Bestandsaufnahme, Tübingen 1995, 174–194.
Vgl. auch Hölderlins Brief an Hegel vom 26. Januar 1795, StA VI, 154 f.
153 Hyp I, 145. Heraklits Wort ist durch Hölderlins Lektüre von Platons Symposion und
Phaidros vermittelt. Dieter Bremer weist nach: „Hölderlin zitiert Heraklit in der von ihm
transformierten Wiedergabe Platons; er deutet das transformierte ‚große Wort […] des
Heraklit‘ im Medium der platonischen Dialektik, die er im ‚Phaidros‘, und nur dort, im Ver-
bund mit einem Konzept des Verhältnisses von Eros und Schönheit fand, welches das Schö-
ne als konkrete Offenbarung einer δéα vorgab, die zugleich sinnliche Gestalt und begriff-
liche Form bezeichnet.“, ders.: „Versöhnung ist mitten im Streit“. Hölderlins Entdeckung
Heraklits, in: HJb 30 (1996/97), 173–199, hier 189. Ulrich Gaier sieht die „Wurzel“ für
Hölderlins Ästhetik der Vermittlung durch das Schöne vorzugsweise in Johann Gottfried
Herders Schriften, vgl. ders.: ‚Hyperion‘: Compendium, Roman, Rede, in: HJb 21 (1978–
79), 88–143, hier 115.
154 Hyp I, 143. Zum Topos der Mitte bei Hölderlin vgl. auch Rüdiger Görner: Hölder-
zwungen wurde, unterscheidet sich darin von der anderer Völker. Während
aus der „Geistesschönheit der Athener der nöthige Sinn für Freiheit folgte“
(ebd.), haben die Völker, die im Süden und im Norden von der „schönen Mit-
te“ abirrten, diesen Sinn preisgegeben. „Der Aegyptier trägt ohne Schmerz
die Despotie der Willkür, der Sohn des Nordens ohne Widerwillen die Gese-
zesdespotie, die Ungerechtigkeit in Rechtsform.“155 Bei den Griechen hinge-
gen konnte die Schönheit zu jener Quelle werden, aus der dann je nach dem
Stand der Entwicklung Kunst, Religion, Philosophie und Dichtung sukzessi-
ve entsprangen. Der Dichtung kommt dabei die besondere Stellung zu, An-
fang und Ende dieses idealen Prozesses zu sein, weil sie noch das Unverein-
bare in ihrer Darstellung zu vereinen weiß. „Die Dichtung, sagt’ ich, meiner
Sache gewiß, ist der Anfang und das Ende dieser Wissenschaft [d. i. die Phi-
losophie]. Wie Minerva aus Jupiters Haupt, entspringt sie aus der Dichtung
eines unendlichen göttlichen Seyns. Und so läuft am End’ auch wieder in ihr
das Unvereinbare in der geheimnisvollen Quelle der Dichtung zusammen. /
Das ist ein paradoxer Mensch, rief Diotima, jedoch ich ahn’ ihn. Aber ihr
schweift mir aus. Von Athen ist die Rede“ (Hyp I, 144).
Dieser Textausschnitt ist charakteristisch für den gesamten Brief. Denn
während sich Hyperion auf der Überfahrt nach Athen über die systematische
Stellung der Philosophie zur Dichtung ausläßt, unterläuft ihm genau jenes,
was den von ihm gelobten Athenern nicht passiert wäre: Hyperion schweift
zusammen mit seinen Diskutanten aus. Paradox ist also nicht allein die For-
mulierung, daß am End’ das Unvereinbare in der geheimnisvollen Quelle der
Dichtung zusammenläuft, sondern daß diese Rede, die Anfang und Ende der
Philosophie zu überschauen meint, gerade jenes über-sieht, wovon die Rede
sein sollte: Athen. Diotima, die Schöne, moniert damit jene Tendenz, die Hy-
perions Name bereits zu erkennen gibt: denn Hyper-ion ist der „Darüber-
hingehende“.156 Ungeklärt bleibt aber, was Diotima an dieser Stelle ahnt:
155 Hyp I, 143. En passant markiert Hölderlin mit dem Schlüsselwort Geistesschönheit,
das hier provokativ von der Gesezesdespotie abgesetzt wird, seine Differenz zu Kant. Die-
ser wird dahingehend uminterpretiert, daß erst aus der Geistesschönheit der Sinn für Frei-
heit folgt, womit also dem Wesen der Schönheit das Primat im Denken zugesprochen wird.
Allerdings läßt Hölderlins Formulierung soviel Spielraum, daß Kants im § 42 der Kritik der
Urteilskraft (1790, 1793, 1799) vorgenommene Differenzierungen zwischen dem „Interes-
se am Schönen“ und dem am „Sittlich-Guten“, das auf der Autonomie gründet, nicht ni-
velliert werden müssen. Folgt bei den Athenern auch der Sinn für Freiheit aus der Geistes-
schönheit, so kann darum die Freiheit selbst noch nicht aus dem Schönen deduziert wer-
den.
156 „Hyperion wäre also der Darüber-hingehende, der Transzendierende und darin dem
Sonnengott ähnlich.“ So faßt Wolfgang Binder die Bedeutung von Hyperions Namen zu-
sammen, ders.: Hölderlins Namenssymbolik, in: ders.: Hölderlin-Aufsätze, Frankfurt a. M.
1970, 134–260, hier 183; vgl. auch den Kommentar in: Hölderlin: Sämtliche Werke und
Briefe, hg. von Jochen Schmidt, Frankfurt a.M 1994, Bd. II, 965 f.
74 Positionsbestimmungen
Dämmert ihr allmählich, was dieser Mensch nur auf poetische Weise in para-
doxen Metaphern ausdrücken kann oder spürt sie vielmehr, wie wenig Hy-
perion überhaupt verstanden hat? Immerhin ist dies nicht das erste, noch
sollte es das letzte Mal gewesen sein, daß Diotima Hyperion durch Anregun-
gen, Einsprüche, Erinnerungen, Fragen und gezielte Aufforderungen in Ver-
legenheit bringt und damit jene Weichenstellungen gibt, die seinen Horizont
auf das Nächstliegende hin zu erweitern versuchen. Es ist Hyperion dann
selbst, der sich bei der Ankunft „an der Küste von Attika“ „über die Art [s]ei-
ner Äußerungen“ verwundert und sich fragt: „Wie bin ich doch […] auf die
troknen Berggipfel gerathen, worauf ihr mich saht?“ (Hyp I, 149).
Doch kaum haben sie das Festland betreten, schweift Hyperions Imagina-
tion aufs neue umher und umschreibt in symbolträchtigen Bildern, welche
das harmonische Zusammenspiel von Natur und Kunst betonen, die Frucht-
barkeit der alten Zeit, als noch „unter den zärtlichen Athener-Händen“ die
„Marmorfelsen des Hymettus und Pentele“ Form gewannen (vgl. Hyp I,
150). Endlich interveniert Diotima abermals. Die Diskrepanz zwischen Hy-
perions Ausführungen und dem tatsächlich Gegenwärtigem scheint sie nicht
mehr dulden zu können: „O siehe! rief jezt Diotima mir plötzlich zu. / Ich
sah“ (Hyp I, 151). Hyperion aber sieht nicht einfach die Trümmer und Rui-
nen der alten Stadt, sondern er imaginiert sich erneut über das hic et nunc
hinaus und faßt seinen Eindruck von dem Ort, an dem einst die Quelle der
Schönheit ihre besten Früchte gebar, in drei Bildern, die den Verfall dieser
Welt aufzufangen versuchen:
„Ich sah, und hätte vergehen mögen vor dem allmächtigen Anblik. / Wie
ein unermeßlicher Schiffbruch, wenn die Orkane verstummt sind und die
Schiffer entflohn, und der Leichnam der zerschmetterten Flotte unkenntlich
auf der Sandbank liegt, so lag vor uns Athen, und die verwaisten Säulen stan-
den vor uns, wie die nakten Stämme eines Walds, der am Abend noch grünte,
und des Nachts darauf im Feuer aufgieng. / Hier, sagte Diotima, lernt man
stille seyn über sein eigen Schiksaal, es seye gut oder böse. / Hier lernt man
stille seyn über Alles, fuhr ich fort. Hätten die Schnitter, die diß Kornfeld
gemäht, ihre Scheunen mit seinen Halmen bereichert, so wäre nichts verloren
gegangen, und ich wollte mich begnügen, hier als Ährenleser zu stehn; aber wer
gewann denn?“157
Durch die Lektüre von Celans Engführung sensibilisiert, kann man beim
Wiederlesen dieser Passage mehrfach Anklänge vernehmen. Die hervorgeho-
benen Worte zeigen an, daß bestimmte Partikel dieser drei Bilder – die zu-
sammen die Möglichkeit einer Alternative zum unwiderruflichen Verfall der
einstigen Herrlichkeit andeuten, so daß bis heute (hier) nichts verloren gegan-
gen wäre – sich im Gedicht Celans wiederfinden, welches sich, wie oben ge-
158 Hyp I, 153, siehe hierzu auch die Bäume in den Hymnen Andenken und Mnemosy-
ne unten S. 164 ff. Vgl. Anselm Haverkamp: Laub voll Trauer. Hölderlins späte Allegorie,
München 1991.
76 Positionsbestimmungen
jüngen“ zu können (vgl. Hyp I, 141). Hyperion hingegen bildet seinen Ein-
druck von Athen nicht einfach ab, sondern wählt Gleichnisse, die primär
ihren allegorischen Charakter hervorheben, also selbst darauf hinweisen, daß
sie einer weiteren Ergänzung bedürfen. Weil auf den Geist nicht so selbstver-
ständlich rekurriert werden kann, wie Diotima es meint, haben diese Bilder
die Aufgabe, ihn überhaupt erst wieder zu erwecken. Benjamins Beobachtun-
gen bestätigend, daß „im Tode der Geist auf Geisterweise frei wird“,159 ge-
schieht dies zuvörderst dadurch, daß Athen als Leichnam (Hyp I, 151) vor-
gestellt wird. „Denn von selbst versteht sich“, wie Benjamin ausführt: „die
Allegorisierung der Physis kann nur an der Leiche sich energisch durchset-
zen.“160 Eben dies versucht Hyperion an Athen zu vollziehen. Als Leichnam
wird der historische Ort zu einer Allegorie, die helfen soll, jenen Geist zu
mobilisieren, mit dem sowohl die vergangene Geschichte gedeutet als auch
die zukünftige gestaltet werden könnte. Athen ist also dadurch bedeutsam,
daß es verwandelt erscheint: als Allegorie, die sich selbst dreifach anders dar-
stellt, bis da endlich ein Leser steht, der sie wie eine liegen gebliebene Ähre auf-
hebt und liest.
Das hieße jedoch, daß Athen nur dann unverloren bliebe, wenn es lesend
abermals verbrannt würde, um in dieser letztlich vernichtenden Verwandlung
durch den Leser in Geist aufzugehen. Die Semantik von Hyperions drei Bil-
dern legt diesen Schluß zumindest nahe: Die ersten beiden Bilder gehen
durch die Konjunktion (und) gekoppelt ineinander über und geben zusam-
men die horizontale und vertikale Koordinate vor, die beide auch das ent-
scheidende dritte Bild bestimmen: Der Leichnam liegt, doch die Säulen ste-
hen. Während die liegende Flotte unkenntlich ist, stehen die Säulen wie nakte
Stämme bloß. Damit werden mit jeder Koordinate auch Anfang und Ziel des
hermeneutischen Prozesses assoziiert: Was unkenntlich ist, soll durch die Lek-
türe in die Vertikale gebracht werden, damit es sodann unverhüllt dasteht.
Diese Enthüllung geschieht im Feuer, das die grünen Blätter von den Stäm-
men solange herunterbrennt, bis diese schließlich verwaist zurückbleiben.
Das helle Aufleuchten des Feuers in der dunklen Nacht läßt das unter den
Blättern des Walds verborgen Liegende im wahrsten Sinne aufgehen. Doch –
die Bilder versinnbildlichen es selbst – der Geistentfachung geht der Tod des
derart gedeuteten Objekts einher. Der Geist kann sich nur dann konstitu-
ieren und als konstant behaupten, wenn er seine verschiedenen endlichen Ob-
jekte über-lebt, wenn er sie mithin vernichtet. Soweit eine erste Auslegung
der allegorischen Bilder.
Es scheint also, als ob sich Hölderlins Roman für eine sich auf den Geist
berufende Rechtfertigungslogik eignen würde, die heute, angesichts des Fak-
tums der Ermordeten und Verbrannten der Shoah, indiskutabel ist, zumal ge-
rade auch der ‚Begriff‘ Holocaust derartige geschichtsphilosophische Ver-
rechnungen nahelegt, wonach die ‚Opfer‘ auf einer höheren Ebene ‚Sinn‘ ma-
chen würden respektive einer Notwendigkeit unterlägen. Doch Hölderlins
Roman als eine Doktrin einer solchen Theodizee denunzieren zu wollen, der
für das Erlangen des angestrebten Telos bereit sei, jedwedes Opfer zu recht-
fertigen, greift zu kurz. Denn die hier visualisierten Objekte verraten – so-
fern sie tatsächlich auf ihren Stamm heruntergebrannt werden –, daß sie Va-
rianten einer anderen Persistenz sind, die sich gegenüber dem seine Objekte
aufzehrenden Geist als resistent erweist: So steht dem Geist sowohl in den
verwaisten Säulen als auch in den nakten Stämmen, ja noch in den gemähten
Halmen jeweils ein Stab entgegen. Die drei Bilder ergeben eine Signifikan-
tenkette, deren gemeinsamer Stamm nicht nur phallisch ist, sondern die beim
stehenden Leser endet, der diese Signifikanten, ungebunden wie sie sind (ver-
waist, nakt und gemäht), wie Ähren aufnehmen muß. Es ist vom Ährenleser
kein großer Schritt, im nakten Stamm und im gemähten Halm den beständi-
gen, aber verwandlungsfähigen Buchstaben mitzulesen, der dem Geist nicht
bloß wie ein stehendes Gefäß161 dient, sondern diesem ebenso widersteht,
weil er immer auch anderes ist, als das, was der Geist in ihn hineinlegt oder
aus ihm herauslöst. Die Gleichung, die Torsi einfach mit Kunst zu ergänzen,
damit der Geist wie Feuer aufgeht, geht genauso wenig auf, wie der Versuch,
den Buchstaben in der Lektüre ihren Geist vollständig abzutrotzen. Die Fra-
ge: aber wer gewann denn?, kann jedenfalls nicht, wie Diotima es vorschlägt,
damit beantwortet werden, daß letztlich immer der Geist den Sieg aus allen
Verwerfungen davonträgt. Durch diese Resistenz haben Hyperions Bilder al-
lerdings die Merkmale einer Allegorie: Sie sind ein Torso in zweiter Potenz,
der sich nicht einfach für höhere Zwecke vereinnahmen läßt.
Die Analyse dieser Passage verdankt sich nicht zuletzt der Nachlese,162 zu
der Celans Engführung anregt. Indem – wie oben gezeigt – Celans Gedicht
die Schatten der Halme mit Buchstaben in Verbindung bringt, hebt es den
auch in Hyperions Bildern angelegten Zusammenhang zwischen der Ähre, die
an den Halmen des Korns hängt, und dem Sinn, den der Leser den Buchsta-
ben zu entnehmen versucht, hervor.163 Damit ist aber nicht nur auf die Kom-
161 Das Etymon des Wortes Stamm ist aus dem indogermanischen Wortstamm sta- ge-
bildet, das stehen bedeutet. Dieselbe Wurzel hat das griechische στáµνος, das übersetzt ste-
hendes Gefäß heißt und beispielsweise ein Weinkrug ist, vgl. Kluge: Etymologisches Wörter-
buch (Anm. 99), 737.
162 Der Ährenleser wird auch Nachleser genannt, weil er erst dann kommt, wenn die
Schnitter ihre Arbeit getan haben, vgl. Jacob u. Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch,
Leipzig/München 1854–1984, Bd. I, 199.
163 Vgl. oben S. 38 und unten zur Bedeutung des Korns in Hölderlins Hymne Patmos
S. 139 f. – Kant erläutert die Notwendigkeit, einen Zweck in den mannigfaltigen Dingen der
78 Positionsbestimmungen
plexität der Allegorese aufmerksam gemacht, sondern auch auf die Gefahr,
die eine das Verlorene retten wollende Spekulation auslöst. Denn Hyperions
versuchte Aufhebung der untergegangenen Welt in Athen übersieht, daß mit
der buchstäblich gegebenen Allegorie, die immer auch anderes bleibt, als ein
geistvolles Verstehen aufnehmen kann, tatsächlich etwas unverloren wider-
steht, was der Geist bereitwillig verlorengibt, weil er vor allem sich selbst –
als Selbst – retten will.
Hyperion ist allerdings für dieses Vergessen, das die Geistgewinnung er-
möglicht, beispielhaft. Das belegt der weitere Verlauf des Athenerbriefes, de-
ren entscheidende Etappen Celan ebenfalls erinnert, indem er mit dem kur-
zen Nacheinander der markanten Imperative: „Lies nicht mehr – schau! /
Schau nicht mehr – geh!“ (I, 197), exakt den Hyperion bestimmenden Rah-
men zusammenfaßt, den Diotima in dieser Phase der Athenexkursion vor-
gibt. Daß dem so ist, wird im folgenden plausibel werden. Deutlich aber muß
schon im vorhinein festgestellt werden, daß die Imperative, die Diotima ge-
genüber Hyperion ausspricht, zwar denen der Engführung gleichen, darum
aber weder die gleiche Funktion haben noch auf dasselbe verweisen.
Der hier besprochene Abschnitt (Hyp I, 151–154) wird nicht nur durch
Diotimas Aufforderung, „O siehe!“, eingeleitet, sondern schließt genau an
dem Punkt auch mit einem Imperativ ab, wo die Verwandlung der Ruinen
Athens in einen neuen Geist, angesichts der „Stummheit und Ödnis“ (Hyp I,
153) dieses Ortes, zu scheitern droht. Diotima: „Guter Hyperion! […], es ist
Zeit, daß du weggehst; du bist blaß und dein Auge ist müde, und du suchst dir
umsonst mit Einfällen zu helfen. Komm hinaus! in’s Grüne!“164 Hyperions
Auge dürfte von seinen vergeblichen Lese- und Deutungsbemühungen müde
geworden sein, die den Untergang von Athen nicht sinngebend erklären kön-
Natur annehmen zu müssen, und daß „das Prinzip einer mechanischen Anleitung zweck-
mäßiger Naturprodukte“ einer „teleologischen“ Anleitung nicht entbehren kann, u. a. da-
mit, daß „schlechterdings […] keine menschliche Vernunft […] die Erzeugung auch nur
eines Gräschens aus bloß mechanischen Ursachen zu verstehen hoffen“ kann, Kritik der
Urteilskraft, § 77, B 353, Hervorh. von mir. Liest man dem entsprechend bei Hölderlin und
Celan den Grashalm als Bild für den Buchstaben, dann dürfte – analog zu Kant – gefordert
werden, daß diesem ein Zweck und mithin ein Sinn zu Grunde liegt, der allerdings eine „be-
sondere Art der Kausalität“ voraussetzt, „die sich nicht in der Natur vorfindet“ (ebd., § 78,
B 355). Daß Hölderlin tatsächlich an Kants Beispiel vom Gräschen beziehungsweise Gras-
halm (vgl. ebd., B 299, B 338) gedacht haben wird, belegen folgende Worte Alabandas, die
er zu Hyperion beim Abschied sagt: „wächst doch kein Grashalm auf, wenn nicht ein eig-
ner Lebenskeim in ihm ist!“, Hyp II, 91. Ist der Buchstabe aber wie die Halme des grünen
Grases erst einmal gemäht und damit seines Grundes und der postulierten Kausalität ent-
hoben, dann muß dies auch Konsequenzen für seinen Sinn haben. Darum gilt schon für
den Hyperion-Roman, was Celan im ersten Gedicht des Zyklus Stimmen schreibt: „Was zu
dir stand / […] tritt / gemäht in ein anderes Bild.“, I, 147, Hervorh. von mir.
164 Hyp I, 154, Hervorh. von mir.
Die Athenertempel Hölderlins 79
nen. Die Versäumnisse der Schiffer und Schnitter sind nachträglich nicht aus-
zugleichen und Hyperion ist darum kurz davor, über seinen mißmutig
geäußerten „Einfall“, daß all der Verlust „wohl ein prächtig Spiel des Schik-
saals“ sei (Hyp I, 153), zu resignieren. Just in diesem Moment kann Diotima
ihn abermals mit der Aufforderung, endlich in’s Grüne zu gehen, retten.
Während die Lesenden der Engführung durch den Imperativ geh! aufgefordert
werden, dem Verlauf des Textes Folge zu leisten, der in die Geschichte ver-
weist, gestattet die Aufforderung Diotimas an Hyperion im Gegenteil die
Abwendung von der Welt und ihrer Geschichte.
Dem kommt Hyperion gerne nach und vergißt sogleich jene Deutungs-
schwierigkeiten, mit denen sich wohl noch seine Gefährten abgeben, die zu-
sammen mit „zwei brittischen Gelehrten“ vor Ort weiter verharren, um „un-
ter den Altertümern in Athen ihre Erndte“ zu halten (vgl. Hyp I, 154).
Während diese also noch versuchen, die gemähten Halme gelehrsam zu un-
tersuchen, kann sich Hyperion mit Hilfe von Diotima, die – so ist sich Hy-
perion auf einmal sicher – „einen herrlichen Kampf“ mit dem „heiligen Cha-
os von Athen“ bestanden hatte (vgl. ebd.), von seinen erfolglosen Bemühun-
gen um eine geschichtsphilosophische Theorie lösen. Dafür geht ihm jetzt
auf: Nun „herrschten Diotima’s stille Gedanken über den Trümmern. Wie der
Mond aus zartem Gewölke, hob sich ihr Geist aus schönem Leiden empor“
(ebd.). Das Leiden, das eben auch ein Leiden am eigenen Erklärungsnotstand
ist, verschwindet mit den stillen Gedanken Diotima’s, welche die Trümmer
und damit alles Fragmentarische der eigenen ausgesprochenen Gedanken ver-
gessen lassen. Die in Athen gesuchte Schönheit tritt Hyperion nun in Anbe-
tracht der Trümmer um so herrlicher in Diotimas Gestalt entgegen. In ihrer
Gegenwart scheint sich endlich zu bewahrheiten, was der allererste Absatz
des Briefes als Ouvertüre in Aussicht stellte, als diese das Thema der Wall-
fahrt nach Athen anstimmte: „Es giebt große Stunden im Leben. Wir schauen
an ihnen hinauf, wie an der kolossalischen Gestalt der Zukunft und des Al-
tertums, wir kämpfen einen herrlichen Kampf mit ihnen, und bestehn wir vor
ihnen, so werden sie, wie Schwestern, und verlassen uns nicht.“165
Die erste Sentenz hebt die großen Stunden hervor, die im Leben bestim-
mend sind. Der Plural wir unterstreicht, daß hier Erfahrungen angesprochen
sind, die Allgemeingültigkeit beanspruchen können sollen. Die großen Stun-
den sind offenbar grundlegend bestimmend. Sie sind wie ein Schicksal oder
ein Datum gegeben (Es giebt). An dieser Gabe gilt es sich zu bewähren, damit
diese Stunden uns nicht mehr verlassen. Sie sollen also bleiben. Dafür müssen
diese, die sich geben, in ihren Empfängern erst noch werden; sie müssen, so
der Vergleich, zu Schwestern werden. In diesem als Kampf verstandenen Pro-
zeß nehmen – wenn er gelingt – die Zeit und die Subjekte, gleichsam in fami-
liärer Bindung verwoben, Gestalt an. Daß die Zeit menschliche Gestalt ‚an-
nimmt‘, heißt, daß die Gabe der Zeit im Kampf angenommen wird. Wie aber
machen sich die großen Stunden bemerkbar?
Dieser herrliche Kampf um eine eigene Identität, und das zeigt der weitere
Verlauf des Briefes, wird nicht zuletzt mit der kolossalischen Gestalt der Zu-
kunft und des Altertums ausgetragen. Die eigene Gegenwart ist, so wäre zu
schließen, nur so groß, wie die Zeit, die ihr in Altertum und Zukunft entge-
gentritt. Es heißt aber, daß die großen Stunden im Leben so groß sind wie die
Gestalt der vergangenen und zukünftigen Zeit. Dem Vergleich zum Trotz be-
anspruchen diese großen Stunden Eigenheit. Sie sind im Kantischen Sinne
„ s c h l e c h t h i n g r o ß (absolute, non comparative magnum)“166 und darum
durch kein bekanntes Maß zu bestimmen, weil sie selbst maßgebend sind. So
werden auch Vergangenheit und Zukunft durch sie erst erschlossen.
Für Hyperion, der in der Tat zwischen der kolossalischen Gestalt des Alter-
tums und der Zukunft eingespannt ist, ohne daß er diese alleine bewältigen
kann, sind es Diotimas stille Gedanken,167 die einer Epiphanie gleich für ihn
zur großen Stunde seines Lebens werden. Das heißt, daß die vollzogene dia-
lektische Vermittlung, die im Leiden erst der Schönheit gewahr wird, Hype-
rion dadurch geschieht, daß er sich – durch Diotima dazu aufgefordert – in
den Garten von Angele zurückzieht, um sich von den Trümmern und damit
von der Diskrepanz zwischen dem zuvor entworfenen Ideal und der dann er-
fahrenen Realität abwenden zu können. Durch Diotima wird Hyperion also
nicht nur auf den trockenen Hochmut seiner Gedanken aufmerksam ge-
macht, sondern auch vor der Melancholie bewahrt, in die er angesichts der in
Trümmern liegenden Tempel zu fallen drohte; und durch sie wird er schließ-
lich von seinen hilflosen Einfällen erlöst, die die Gegensätze nicht auf den Be-
griff bringen konnten. Umso leichter fällt es Hyperion dann, den „Schiff-
bruch der Welt“168 freudig zu vergessen. Doch bevor sich Hyperion gänzlich
166
Kant: Kritik der Urteilskraft, § 25, B 81.
167
Hyp I, 154. Dem akribischen Ährenleser, der auf die Spitzen (vgl. den griech. Präfix
ακρο-) der Worte achtet, wird auch in den stillen Gedanken Diotimas das oben in Anm. 141
diskutierte Akrostichon (S.G.) lesen können. Diese ‚Spitzfindigkeit‘ gilt auch für die
großen Stunden im Leben.
168 Hyp I, 156. Das Motiv der Schiffer begleitet den Athenerbrief und spiegelt jeweils
Hyperions Gemütslage. Zunächst gelangen Hyperion und die anderen mit dem Schiff nach
Athen. Während dieser Überfahrt imaginiert Hyperion das ideelle Athen. Die damit ver-
bundenen Hoffnungen werden dann von dem Bild konterkariert, das Athen als zerschmet-
terte Flotte zeichnet. Schließlich aber scheint die Hoffnung wieder begründet, als Hype-
rion an Diotimas Seite ausruft: „Was kümmert mich der Schiffbruch der Welt, ich weiß von
nichts, als meiner seeligen Insel“ (Hyp I, 156); vgl. auch Friedbert Aspetsberger: Weltein-
heit und epische Gestaltung. Studien zur Ichform von Hölderlins Roman „Hyperion“, Mün-
chen 1971, 74. – Die Schiffer haben in Hölderlins Dichtung generell allerlei Gemeinsam-
keiten mit den Dichtern, weil sie die Übersetzung an ein anderes Ufer ermöglichen und
Die Athenertempel Hölderlins 81
von der Welt abwenden kann, um sein gewonnenes Glück zu genießen, ist es
dann abermals Diotima – als wollte sie verhindern, daß sie von Hyperions
Eros eingenommen wird –, die erneut einen Umschwung bei ihrem Freund
herbeiführt, indem sie ihn wieder in die Welt hinausschickt. Sie erklärt: „Aber
das Leben selber treibt uns heraus“ (Hyp I, 156). Um dem Nachdruck zu ge-
ben, setzt sie selbst zu einer Rede an, welche die zuvor zurückgelegte Ent-
wicklung Hyperions derart zusammenfaßt, daß insbesondere den gemachten
Verfehlungen und Mißerfolgen Notwendigkeit und mithin Gutes abgewon-
nen wird: „Aber dadurch ist nichts verloren. Wäre dein Gemüth und deine
Thätigkeit so frühe reif geworden, so wäre dein Geist nicht, was er ist; du
wärst der denkende Mensch nicht, wärst du nicht der leidende, der gähren-
de Mensch gewesen. Glaube mir, du hättest nie das Gleichgewicht der schö-
nen Menschheit so rein erkannt, hättest du es nicht so sehr verloren gehabt“
(Hyp I, 157). Erst der die schönen Trauben zersetzende Gärungsprozeß setzt
den den Geist belebenden Alkohol des Weines frei.169 Hyperion mußte also
erst einen solchen negativen Prozeß durchstehen, bevor sein Geist werden
konnte, was er ist und er in den Stand versetzt wurde, Diotimas Einsicht in
die Notwendigkeit dieser Negativität zu teilen: Ist doch das Resultat dieses
Prozesses nicht einfach Nichts, sondern vielmehr jenes, das schön genannt
werden kann.
Diotimas Rede wiederholt damit jene Gedanken, die Hyperion zuvor über
den Bildungsgang der Athener geäußert hatte. Hyperions Entwicklung solle
nun wiederum beispielhaft für die mögliche Entfaltung der künftigen Ge-
schichte sein. Entsprechend gipfelt Diotimas Rede in der Forderung, daß Hy-
perion in die Welt zurückgehen soll, um dort den „Bedürftigen“ zu geben,
„was du in dir hast“ (Hyp I, 158). Seine Erfahrungen, die so mühsam an den
Ruinen der Geschichte reiften, sollen nun nach außen treten, damit sie die
Zukunft gestalten können. Ihr ultimativer Imperativ lautet: „gieb –“ (ebd.).
Daß dies nicht einer jener leeren Gedanken ist, wie sie Hyperion zuvor auf
seinem „troknen Berggipfel“ (Hyp I, 149) geäußert hat, ist an seiner stam-
melnden Abwehr ablesbar: „Kein Wort, kein Wort mehr, große Seele! rief ich,
du beugst mich sonst, es ist ja sonst, als hättest du mit Gewalt mich dazu ge-
bracht –“ (Hyp I 158). Doch Hyperion wird sich nicht lange sträuben. Denn
die Gewalt der zunächst eher unmerklichen Interventionen Diotimas ist so
weil sie sich darüber hinaus dorthin aufmachen, wo zuvor noch keiner gewesen ist. Unten
wird dies im Zusammenhang der Hymne Andenken (Kap. Andenken und die Kluft zwi-
schen Dichten und Denken u. Zum Gesetz der Geschichte) aufgegriffen werden; vgl. auch
Heidegger: „Andenken“ (A) (1943), in: EHD, 79–151, insb. 135 ff.
169 Vgl. Gerhard Kurz: Mittelbarkeit und Vereinigung. Zum Verhältnis von Poesie und Re-
volution bei Hölderlin, Stuttgart 1975, 139; Gaier: ‚Hyperion‘ (Anm. 153), 123 u. Anm. 113;
sowie Martens: Wesen der Schönheit (Anm. 145), 195.
82 Positionsbestimmungen
dosiert, daß Hyperion sich zuletzt selbst entschließt, es nicht beim Erreich-
ten bewenden zu lassen.170
Daß dieser letzte Schritt von besonderer Tragweite ist, wird daran mani-
fest, daß Diotima ihre Position, von Hyperion umschwärmt zu sein – „Mein
Geist umschwebte die göttliche Gestalt des Mädchens, wie eine Blume der
Schmetterling“ (Hyp I, 155) –, dahingehend neu bestimmt, daß aus ihrer
Beziehung ein geschwisterliches Verhältnis wird. Diese Transformation ist
Voraussetzung für den Pakt, den sie Hyperion zu schließen vorschlägt. Hy-
perion soll zu Diotima wie ein Zwilling sein, damit er ihr wie „Pollux dem
Kastor“ „die Hälfte [s]einer Unsterblichkeit“ schenkt, die er als herrlicher
Mann und Erzieher künftig erringen wird (vgl. Hyp I, 159). Damit erfüllt sich
die im ersten Absatz des Briefes gewünschte Bewältigung der gegebenen
großen Stunden überraschend konkret: Diotima, die ihm diese (Lehr-)Stun-
de beschert, wird Hyperion zur geistigen Schwester. Als diese bewirkt sie, daß
Hyperion nun selbst den kämpferischen Entschluß faßt: „Es werde von
Grund aus anders! Aus der Wurzel der Menschheit sprosse die neue Welt!“
(ebd.). An diesem Bekenntnis zeigt sich denn auch ganz ungetrübt der idea-
listische Optimismus. Für Hyperion selbst heißt das: „Aber ich muß noch
ausgehn, zu lernen. Ich bin ein Künstler, aber ich bin nicht geschikt. Ich bil-
de im Geiste, aber ich weiß noch die Hand nicht zu führen“ (ebd.). Der Geist
muß sich also noch in geschikten Händen materialisieren, damit aus ihm – so
wie einst die zärtlichen Athener-Hände aus den Marmorfelsen ihre Tempel
schufen – „heilige Schiklichkeit“171 werden kann, die es auch vermag, das Va-
terland neu zu begeistern.172 Die große Stunde in Athen hat sich, wie es der
Anfang des Briefes versprach, buchstäblich in eine Schwester verwandelt, die
Hyperion nicht mehr verläßt. In Diotima steht ihm nun eine Schwester zur
Seite, die ihn vorerst in den Glauben versetzt, daß es Entschlüsse gibt, „die,
wie Götterworte, Gebot und Erfüllung zugleich sind“ (Hyp I, 160).
Es bleibt dem zweiten Band von Hölderlins Briefroman vorbehalten,
erstens aufzuzeigen, warum Diotimas Worte ein Versprechen sind, dessen
170 Es ist, als ob Diotima Hyperion auf eben jenen Wegen zur Selbständigkeit erzieht,
die auch Rousseaus Émile gehen mußte, vgl. Rousseau: Émile ou de l’éducation (1762), vgl.
Gaier: ‚Hyperion‘ (Anm. 153), 96 ff.
171 Vgl. Hölderlin: Brief an einen Unbekannten [nach StA an Christian Gottfried
Schütz] aus Bad Homburg, im Winter 1799/1800, StA VI, 381; vgl. auch die „schikliche[n]
Hände“ in Hölderlins Ode Blödigkeit, s. u. S. 214 f.
172 Daß der Athenerbrief seinen Abschluß in der künftigen Volkserziehung findet, ver-
weist zurück auf den Grund, der bereits im ersten Satz des Romans als Ursache der beiden
grundlegenden Affekte genannt wurde: „Der liebe Vaterlandsboden giebt mir wieder Freu-
de und Laid.“ (Hyp I, 7, Hervorh. von mir); vgl. auch Ulrich Gaiers Resümee: „Schon der
erste Band des Romans steht […] unter dem Zeichen des Vaterlands, in dem sich Begriffe
wie Natur, Schönheit, Liebe, Geist zur Organisation seiner Sphäre sammeln.“, ders.: Höl-
derlin. Eine Einführung, Tübingen / Basel 1993, 181.
Die Athenertempel Hölderlins 83
Erfüllung weiterhin ausbleibt, und zweitens, daß Diotima letztlich nur dann
Schwester im Geiste bleiben kann, wenn sie als begehrte Person in ihrer Indi-
vidualität preisgegeben wird, damit sich an ihr die Schönheit als transzenden-
taler Grund des Seins bewahrheite. An Diotima vollzieht sich damit, wie As-
petsberger es nennt, die „Gottwerdung des Menschen“.173 Konsequent ist es
in dieser Hinsicht und „der ganzen Anlage nach, nothwendig“, daß Diotima
im zweiten Band stirbt.174 Das Beklemmende aber, das mit dem Opfer Dio-
timas einhergeht – welche trotz ihres Abschiedsbriefes nicht die erhabe-
ne Tragik des selbst gewählten Todes an sich hat175 – und das sich auch in
Hyperions Schuldgefühlen ausspricht,176 ist besonders an der Geste Hype-
rions ablesbar, Diotima „verschenken“ zu wollen, wenn er dies nur könn-
173 Aspetsberger: Welteinheit (Anm. 168), 153–157, hier 154. Vgl. auch Friedrich Strack,
der bei Hölderlin den Absolutheitsanspruch des Ästhetischen vor dem Theoretischen und
Praktischen herausstellt. „Schönheit ist […] für Hölderlin in der Zeit des ‚Hyperion‘ das
irdisch gewordene Absolute – seine Version der Menschwerdung Gottes. An die Stelle des
christlichen Schmerzensmannes ist die antike Schönheitsgöttin getreten, die in Diotima
Gestalt annimmt.“, ders.: Hölderlins ästhetische Absolutheit, in: Wolfgang Wittkowski
(Hg.): Revolution und Autonomie. Deutsche Autonomieästhetik im Zeitalter der französischen
Revolution, Tübingen 1990, 175–191, hier 184. Sowohl Stracks Verweis auf den Topos von
der Menschwerdung Gottes als auch Aspetsbergers umgedrehte Formel von der Gottwer-
dung des Menschen sind griffig. Allerdings verdecken diese Formeln den Preis, den Diotima
zahlen muß, damit Hyperion an ihr die Apotheose feiern kann. Vgl. auch Marlies Janz, die
bezüglich Diotimas Tod von „Mord“ spricht, dies.: Hölderlins Flamme. Zur Bildwerdung
der Frau im ‚Hyperion‘, in: HJb 22 (1980/81), 122–142, hier 140.
174 Susette Gontard hatte offenbar gegen Diotimas Tod Einspruch erhoben. Hölderlin
rechtfertigt sich jedenfalls ihr gegenüber. „Verzeih mirs, daß Diotima stirbt. Du erinnerst
Dich, wir haben uns ehemals nicht ganz darüber vereinigen können. Ich glaubte, es wäre,
der ganzen Anlage nach, nothwendig.“, Brief vom Oktober / November 1799 aus Bad
Homburg, StA VI, 370. Hölderlin erweckt gegenüber Gontard durch das Präteritum Ich
glaubte den Eindruck, als ob er nun, nur wenige Wochen nach der Auslieferung des zwei-
ten Bandes, anders (in ihrem Sinne?) mit Diotima verfahren würde. Der Brief zeigt, daß
Hölderlin schon in Frankfurt – ehemals – gegenüber Susette Gontard den Gedanken
geäußert haben muß, Diotima sterben zu lassen. Die erzwungene räumliche Trennung von
seiner Geliebten im September 1798, dürfte also allenfalls die Dringlichkeit erhöht haben,
die Abwesende geistig zu vergegenwärtigen. Kann auch mit Gaier angenommen werden,
„daß der gesamte Briefkomplex im Zusammenhang mit dem Tod Diotimas erst in Hom-
burg entstanden sein muß“, ders.: Hölderlin (Anm. 172), 188, so bleibt doch festzuhalten,
daß – wie die Lektüre des Athenerbrief zeigt – die Anlage der Figurenkonstellation und da-
mit die Notwendigkeit den Geist der Schwester durch den Leichnam Diotimas zu gewin-
nen (vgl. oben S. 74), schon in Frankfurt gelegt wurde.
175 Vgl. Hyp II, 95–104. Hölderlin arbeitet zu diesem Zeitpunkt parallel an seinem Em-
pedokles-Projekt. Vgl. Theresia Birkenhauer: Legende und Dichtung. Der Tod des Philoso-
phen und Hölderlins Empedokles, Berlin 1996.
176 „[V]erlaidet ist mir meine eigne Seele, weil ich ihrs vorwerfen muß, daß Diotima
todt ist, und die Gedanken meiner Jugend, die ich groß geachtet, gelten mir nichts mehr.
Haben sie doch meine Diotima mir vergiftet!“, Hyp II, 109.
84 Positionsbestimmungen
te,177 um dafür den „Bruder!“ (Hyp II, 92) Alabander zum Bleiben zu bewe-
gen; – vermutlich hat sich Susette Gontard gerade an dieser Stelle gestoßen.
Sie wird sich sicherlich gefragt haben, warum der Glaube an die „unzerstör-
bare Seele“, welche die „Schönheit der Welt“ sei, sich nur darüber bewahrhei-
ten kann, daß die Stimme der toten Diotima noch einmal auf rätselhafte Wei-
se aus dem Jenseits erscheint, um Hyperion abermals – wie zuvor in Athen –
aus seinem Trübsinn mit „sanftem Schreken“ zu entrücken.178
Wenn Celans Engführung von einem du berichtet, das gehen soll, weil es zu-
hause ist und weil seine Stunde keine Schwestern hat (vgl. I, 197), dagegen aber
Hyperions große Stunde darin besteht, daß ihn seine Schwester auffordert, in
die Welt zu gehen, um dieser seinen erkämpften Geist zu geben, dann scheint
sich das mehrfach konstatierte Urteil zu bestätigen, daß Celan Hölderlins
Dichtung widerruft, daß er sich geradezu diametral von Hölderlin absetzt.179
Während Diotima Hyperion beiseite steht, ihm behutsam über die Klip-
pen180 der Geschichte hinweghilft, an denen die Schiffer Athens zerschellt
sind, und ihn dadurch auf das Zukünftige vorbereitet, verdeutlicht Celans
Gedicht, daß derlei Gewinn an dem Ort, wohin das du der Engführung ver-
bracht ist, nicht zu extrahieren ist.
Während Hyperion mit seiner Schwester die alten Tempel Athens aufsucht,
um dort, wo das Abendland seinen Anfang nahm, die Potentiale zu reaktivie-
ren, die in Religion, Philosophie und Dichtung für die Menschheit aufbe-
wahrt sind, gelangt der Leser der Engführung in das Gelände, in dem das
Abendland mitsamt seinen humanistischen Idealen nicht nur unwiederbring-
lich zugrunde gegangen ist, sondern – das wird der Lektüre abverlangt – im-
mer noch ein weiteres Mal zugrunde geht. Diese Stunde hat keine Schwestern
mehr, weil in der Eulenflucht181 jene Aufhebung aussetzt, die Hyperion noch
mit Diotimas Hilfe erlangte, indem sie die Erfahrung der Negativität
zunächst zuließ und nachher als notwendiges Moment des Bildungsprozesses
erklärte. Wenn aber eine solche Schwester nicht mehr gegenwärtig ist, dann ist
die spekulative Bewegung, deren Resultat der Tod und Niederlage über-le-
bende Geist ist, diffundiert.
177
Vgl. Hyp II, 82; hierzu Stiening: Epistolare Subjektivität (Anm. 147), 326.
178
Vgl. den Schluß des Romans, Hyp II, 122–124.
179 Richtungsweisend für dieses Verständnis wurde der Aufsatz von Götz Wienold mit
dem programmatischen Titel: Paul Celans Hölderlin-Widerruf, in: Poetica 2 (1968), 216–228.
180 Zu Hyperions Schiksaalslied siehe auch unten S. 155.
181 Das Attribut der sowohl weisen als auch kampfbereiten Stadtgöttin Athene ist be-
kanntlich die Eule. Das Zusammenlesen des Athenerbriefes mit der Engführung bestätigt da-
mit durchaus, daß sich die Eulenflucht, wie oben (S. 61) vorgeschlagenen, auf Hegels Eule
der Minerva bezieht. Hat doch auch Hyperion Minerva statt Athene angeführt (siehe das
Zitat S. 73), um sie mit der Philosophie zu vergleichen.
Die Athenertempel Hölderlins 85
Es kommt also insofern zu einem Widerruf durch die Engführung, als Ce-
lan gegenüber dem Gang Hyperions nach Athen eine Stunde anzeigt, die
nicht etwa ein kolossalisches Ausmaß hat (vgl. Hyp I, 136), sondern das Aus
jeglichen Maßes ist. Denn diese Stunde kann nicht im Kampf derart bestanden
werden, daß sie zur Schwester werden könnte; respektive: Da ist keine Schwe-
ster (mehr), die statt dem du den Kampf mit diesem Datum bestehen könn-
te. Diese Differenz hat weitreichende Konsequenzen. Während sich Hype-
rion und Diotima im zweiten Band beim Abschied gegenseitig versichern,
daß sie sich bis zum Wiedersehen am „Sternenhimmel“ erkennen wollen, der
ihnen „das Zeichen“ ihrer Zugehörigkeit ist (vgl. Hyp II, 19), ist das du der
Engführung auf die Nacht, die keine Sterne braucht, zurückgeworfen, ohne daß
eine Schwester oder sonst jemand nach ihm fragt (vgl. I, 197). Das ‚geschwi-
sterliche‘ Gespräch und mithin die auf höchster Ebene – der Sternenhimmel
symbolisiert nicht zuletzt Spinozas Aufforderung, die Dinge sub specie
aeternitatis zu erkennen – in Aussicht gestellte Vereinigung, die gemachte
Fehler, erfahrene Niederlagen und erlittenes Leid versöhnt, ist damit in Ab-
rede gestellt.182
182 Vgl. Baruch de Spinoza: Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt (1677),
Hamburg 1989, V. Buch, Lehrsatz 29. An dieser Stelle sei auf die Bedeutung Spinozas für
die Genese von Hölderlins Dichtung hingewiesen, vgl. Günther Mieth: Einige Thesen zu
Hölderlins Spinoza-Rezeption, in: Weimarer Beiträge, 24/2 (1978), H.7, 175–180; Mark R.
Ogden: Amor dei intellectualis. Hölderlin, Spinoza and St. John, in: Deutsche Vierteljahrs-
schrift 63 (1989), 420–460 und Margarethe Wegenast: Hölderlins Spinoza-Rezeption und
ihre Bedeutung für die Konzeption des „Hyperion“, Tübingen 1990. – Bezüglich der Versöh-
nung vgl. den gerne zitierten Satz aus Hyperions Vision, der ihm schlußendlich „seelig“
entfährt: „‚Versöhnung ist mitten im Streit und alles Getrennte findet sich wieder.‘“, Hyp
II, 124. Dieses Versprechen ist darin radikal, daß es nicht auf eine zukünftige oder jenseiti-
ge Erlösung vertröstet. Die Versöhnung folgt nicht – vielleicht – nach dem Streit, sondern
ist schon in diesem selbst zu entdecken. Spinozas Philosophie der Immanenz ist damit von
Hölderlin konsequent weitergedacht worden. Das aber heißt – und dies wird durch Wege-
nasts Darstellung von Hölderlins Spinoza-Rezeption mehr verschleiert denn kritisch dis-
kutiert –, daß Hölderlin insbesondere mit der Heraklitischen Formel des εν διαφερον
εαωτ, die in dem Streitmotiv am Schluß des Romans noch einmal zitiert ist, Spinozas On-
tologie grundlegend modifiziert, welche dem Weisen, der sich durch sie als Modifikation
der absoluten Substanz erkennt, ungeteilte Ruhe und Seligkeit in Aussicht stellt. Dies zeigt
sich unter anderem daran, daß die in Anführungszeichen gesetzte Vision Hyperions durch
die letzten beiden Sätze des Romans performativ relativiert werden: „So dacht’ ich. Näch-
stens mehr.“ Wo sich eben noch der Gedanke der Immanenz im Präsens entfaltete, klafft
auf einmal eine Lücke, weil der versöhnende Gedanke kurzerhand in die Vergangenheit ver-
setzt ist – So dacht’ ich. Die zum Abschluß gebrachte Erinnerungsarbeit des Erzählers – es
wird in dieser letzten Geste auf den Anfang des Romans zurückverwiesen – rundet sich
nicht mit Spinoza in der Gewißheit „wahrer Individualität“ harmonisch ab (vgl. Wegenast,
2 u. 202), sondern entläßt das schreibende Subjekt mitsamt seinen Lesern in eine beunru-
higende Offenheit, die unbestimmter nicht sein könnte: Nächstens mehr. Es ist die Be-
hauptung nicht aufrecht zu erhalten, daß Hölderlin Spinozas Philosophie durchweg affir-
mativ aufgenommen und im Hyperion ästhetisch realisiert habe. Wegenasts Versuch, diese
86 Positionsbestimmungen
These trotz der vorhandenen Differenzen zu stützen, indem sie darauf aufmerksam macht,
daß Spinoza sich der Schwierigkeit bewußt gewesen sei, „das Zugleich von Identität und
Selbstdifferenzierung des Alleinen logisch stringent zu entwickeln“ (ebd., 190), weicht der
Tatsache aus, daß Hölderlins Hyperion tatsächlich nicht in einer auf Spinoza bezogenen
Wahrheitsgewißheit zur Ruhe kommt, wie Wegenast beteuert (vgl. 215–231). Hölderlins
Roman bringt vielmehr in der Auseinandersetzung mit Spinoza die „‚Schwachstelle‘“ (vgl.
ebd., 191) von dessen Ethik zur Darstellung. Statt also diesen so kritischen Punkt nur kurz
zu erwähnen, wäre es gut gewesen, wenn Wegenast die Tragweite der Differenz zwischen
Spinoza und Hölderlins Konzeption des Hyperion tiefer ausgelotet hätte. So ist es symp-
tomatisch für Wegenasts Lektüre, daß sie das mit Spinoza kaum zu vereinbarende εν δια-
φερον εαωτυ Heraklits hinter der pantheistischen Formel des Εν Και Παν verbirgt. An-
schaulich wird dies etwa an ihrer Interpretation des „alten Thors“ von Athen, „wodurch
man ehemals aus der alten Stadt zur neuen herauskam, wo gewiß einst tausend schöne
Menschen an Einem Tage sich grüßten“, Hyp I, 153. Kann auch gesagt werden, daß sich
„im Bild der an einem Tage sich grüßenden ‚tausend‘ Menschen […] das Alleinheitsmotiv
[‚Eines und Alles‘] assoziiert“ sei, vgl. ebd., 206, so reduziert dieser Nachweis das Bild vom
alten Thor, wenn nicht ebenfalls hervorgehoben wird, daß an ihm die Bedeutung des εν δια-
φερον εαωτυ zum Ausdruck kommt. Denn insbesondere durch das alte Thor ist in die To-
pographie Athens das „Eine in sich selbst unterschiedne“ eingeschrieben, ausgeführt hat
dies Martens, Wesen der Schönheit (Anm. 145), 191 f.
183 Vgl. neben Wienold: Widerruf (Anm. 179), Klaus Manger: Die Königszäsur. Zu Höl-
derlins Gegenwart in Celans Gedicht, in: HJb 23 (1982–1983), 156–165 oder auch Bogumil:
Celans Hölderlinlektüre (Anm. 24).
Die Athenertempel Hölderlins 87
Besseren hinführt, weil sie, den Göttern ähnlich, sowohl in als auch über al-
lem steht.184
In der Ode Der Main kündigt sich durch das Fehlen der Schwester erstmals
an, daß sich Hölderlins Geschichtsverständnis differenziert. Die Annahme,
daß sich die anvisierte Erhebung über das „physisch und moralisch nothwen-
dige“ zu den „zartern und unendlichern Verhältnisse[n]“, die „aus dem Geiste
betrachtet werden“ müssen,185 kommen wird – und die Polis Athen ist das
Modell dieser „höhere[n] Aufklärung“ (ebd.) –, auch wenn, wie der Athener-
brief exemplifiziert, ein „schönes Leiden“ (Hyp I, 154) zu durchlaufen sei,
wird spätestens um die Jahrhundertwende dahingehend korrigiert, daß die Ge-
schichte vielmehr ein offener Prozeß mit ungewissem Ausgang ist.186 Noch
184 Entsprechend erhalten die Frauen ab 1799 in Hölderlins Dichtung eine andere Posi-
tion: aus der Geliebten Diotima ging zunächst die Schwester im Geiste hervor. Diese wird
schließlich zur heiligen Frau und Mutter. Es ist dies eine Transformation, die der Verlage-
rung von den „Liebeslieder[n]“ in „das hohe und reine Frohloken vaterländischer Gesän-
ge“ entspricht (vgl. oben Anm. 139 und 142). Explizit wird diese Entwicklung an der Ode,
die Hölderlin Der Prinzessin Auguste von Homburg (StA I, 311 f.) widmet, und am Gesang
des Deutschen (StA II, 3–5). Beide Texte wurden im Herbst 1799 geschrieben. Im Gesang
des Deutschen heißt es: „Den deutschen Frauen danket! sie haben uns / Der Götterbilder
freundlichen Geist bewahrt“ (StA II, 4, v. 41 f.). Diese Zeilen schrieb Hölderlin Prinzessin
Auguste in den frisch gedruckten zweiten Band des Hyperions, den er ihr ebenfalls zum
Geburtstag am 28. November 1799 übersandte. Die „deutschen Frauen“, denen hier der
Dank gebracht wird, weisen auf das „Höher[e]“, das zu rühmen dem deutschen Sänger
„Beruf“ ist (vgl. Der Prinzessin Auguste von Homburg, StA I, 312, v. 26 f.), haben sie doch
wie Diotima den „hohe[n] Geist!“ (ebd., v. 9) bewahrt. Sie unterscheiden sich damit von
der Schwester Diotima in Athen, welche die Höhen und Tiefen des Künstlers im Gespräch
begleitete. Die „deutschen Frauen“ haben dagegen nun die Aufgabe, die Hoffnungen hoch-
zuhalten und zu repräsentieren, die in das „Vaterland“ gesetzt sind, von dem Hölderlin
wünscht, daß es „aus / Liebe geboren und gut“ wie die himmlische Muse Urania sei (vgl.
StA II, 4 f., v. 49–56). In der Priesterin Germania findet die Modifikation der Diotimafigur
schließlich ihre höchste Entfaltung. Ihre Sache ist es, „der heiligen Erd’ / Einmal die Mut-
ter“ zu nennen (vgl. StA II, 152).
185 Vgl. Hölderlin: Über Religion, StA IV, 277 f.; bzw.: Fragment philosophischer Briefe,
FHA XIV, 48. Die FHA datiert die Entstehung des Fragments auf den Winter 1796/97;
ebenso vermutet Ulrich Gaier „mit hoher Wahrscheinlichkeit“, daß der Text Anfang Janu-
ar 1797 „in unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft zum ‚Ältesten Systemprogramm‘“ ent-
standen ist, vgl. Hölderlin Texturen 3 (Anm. 147), 230.
186 Das unterstreicht schon der Schluß des zweiten Hyperion-Bandes und ist insbeson-
dere das Ergebnis der Arbeit am Empedokles, die Hölderlin bereits 1797 in Frankfurt be-
gann und Anfang 1800 in Bad Homburg abbricht. „Mit dem Ende dieses Projekts [Empe-
dokles] gibt Hölderlin die Trias Einheit-Entzweiung-Vereinigung als zeitgemäß mögliche
Kunstform auf. Es ist das Denken von Geschichte als eines offenen Prozesses und die (frei-
lich gefährdete, durch keine geschichtsübergreifende Konstruktion mehr garantierte) Frei-
setzung von Sprache, die jene bewußtseinstheoretische Trias als tragischen Ton in der Ver-
fahrensweise des poetischen Geistes in sich integriert.“, so Johann Kreuzer: Einleitung
(Anm. 150), LX, vgl. auch XXXVI–XLVII.
88 Positionsbestimmungen
im Januar 1797, also in der Zeit, als der Abschluß des ersten Bandes des Hy-
perion kurz bevor stand und Hölderlin vermutlich den Athenerbrief schrieb,
sieht er – obwohl die „Welt eine ungeheure Mannigfaltigkeit von Wider-
sprüchen und Kontrasten“ ist – „eine künftige Revolution der Gesinnungen
und Vorstellungsarten“ kommen, weil „jede Gährung und Auflösung entwe-
der zur Vernichtung oder zu neuer Organisation nothwendig führen muß.
Aber Vernichtung giebts nicht, also muß die Jugend der Welt aus unserer Ver-
wesung wieder kehren.“187 Die Konklusion, die sich Hölderlin hier zum
„Trost“ (ebd.) abtrotzt, daß es eine allgemeine Vernichtung nicht geben kön-
ne, auch wenn er als Einzelner dafür verwesen müsse, verrät, daß sich Höl-
derlin, der sich wie Hyperion als Erzieher des Volks begreift,188 einem sehr
langen Atem verschreibt. In dem Maße aber, da Hölderlin erkennt, daß es
keine Gewißheit über das Weitere gibt, wird es ihm vordringlich, erstens ei-
nen „höheren Zusammenhang“189 zu gewinnen, von dem her die Situation
dieses „armen geist- u. ordnungslose[n] Jahrhundert[s]“190 erfaßt und be-
stimmt werden kann und zweitens durch die Dichtung fürsorglich Wege und
Weisen aufzuzeigen, die das einst lebendige Ideal nicht vergessen lassen. Es
muß also einer sein und bleiben, der „die Spur der entflohenen Götter / Göt-
terlosen hinab unter das Finstere bringt“.191 Beide Anforderungen bestim-
men schließlich den Gesang, den Hölderlin den „vaterländischen“ heißt.
3. Vaterländischer Gesang
Damit die Widersprüche erkennbar werden, die nicht nur im Einzelnen, son-
dern im Jahrhundert überhaupt walten, bedarf es einer „äußeren Sphäre“, die
sich der Dichter „in harmonische[r] Entgegensezung“ frei zu wählen hat.192
Nur durch das frei gewählte Heraustreten aus dem kindlichen Zustande, „wo
er [der Mensch] identisch mit der Welt war“ (StA IV, 257), können die
„fruchtlosen Widersprüche“ überwunden werden, die immer wieder dazu
führen, daß der Einzelne als Einzelner im „Mittelzustande zwischen Kindheit
187Hölderlin: Brief an Ebel, 10. Januar 1797, StA VI, 229. Daß die Gärung die Ankün-
digung des neuen Geistes sei, entspricht dem Verständnis des Athenerbriefes, vgl. oben
S. 81 und Anm. 169.
188 Im Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus, das im Kreis mit Hegel und
Schelling in Frankfurt etwa zeitgleich mit dem Athenerbrief entstanden ist, wird die „Poë-
sie“ als „Lehrerin der Menschheit“ konzipiert, vgl. StA IV, 298.
189 Vgl. Hölderlin: Über die Verfahrungsweise des poëtischen Geistes (1800), StA IV, 255.
190 Vgl. Hölderlin: Brief an Neuffer, 16. Februar 1797, StA VI, 235.
191 Vgl. Hölderlin: Brod und Wein, erste Fassung, ursprünglich Der Weingott / An Hein-
und reifer Humanität“ sich selber aufreibt (StA IV, 255). „Diß ist also der
Unterschied zwischen dem Zustande des Alleinseyns (der Ahndung seines
Wesens) und dem neuen Zustande, wo sich der Mensch mit einer äußern
Sphäre, durch freie Wahl in harmonische Entgegensezung sezt, daß er, e b e n
weil er mit dieser nicht so innig verbunden ist, von die-
ser abstrahiren und von sich, in so fern er in ihr gesezt
i s t , u n d a u f s i c h r e f l e c t i r e n kann, in so fern er nicht in ihr gesezt
ist, diß ist der Grund, warum er aus sich herausgeht, diß die Regel für seine
Verfahrungsart in der äußeren Welt“ (StA IV, 257).
Der angestrebte Zustand ist derart, daß sich der Mensch in harmonischer
Entgegensetzung mit einer äußeren Sphäre setzt. Erst dieses frei gewählte
Mitsein ermöglicht die für die gesuchte Erkenntnis unabdingbare doppelte
Differenz, die den Menschen einerseits von sich und seinem Alleinseyn ab-
strahiren läßt, weil er in diese ihm äußerliche Sphäre gesetzt ist, als auch zwei-
tens auf sich zu reflectiren erlaubt, weil er in dieser Sphäre nicht restlos auf-
geht. Denn er ist, wie Hölderlin festhält, trotz allem nicht in ihr gesezt. Durch
die harmonische Entgegensezung wird sich der Mensch bewußt, daß er weder
je ganz er selbst ist und damit all-kontrollierendes Subjekt, noch einfach
passives Teil eines Ganzen und damit bloß fremdbestimmtes Objekt. In der
Elegie Brod und Wein findet sich dieses Verständnis dann in der Zeile wieder:
„Allen gemein, doch jeglichem auch ist eignes beschieden“.193
Die derart verstandene Entgegensetzung wird insbesondere durch jene äuße-
re Sphäre ermöglicht, für die das Vaterland steht, das in diesem allgemeinen
Sinne nicht schon mit dem „Nationellen“ identisch ist.194 Die Entäußerung
193 Hölderlin: Brod und Wein, v. 45, StA II, 91. Dieser Gedanke ist indes nicht neu. Vgl.
Diotimas ‚Testament‘: „wie sollt ich scheiden aus dem Bunde, der die Wesen alle verknüpft?
[…] Nein! bei dem Geiste, der uns einiget, bei dem Gottesgeiste, der jedem eigen ist und
allen gemein!“, Hyp II, 102 f. und Über Religion, StA IV, 281. Dort ist auch der Begriff der
„Sphäre“ als eine „gemeinschaftliche Gottheit“ (ebd., 278) vorgedacht.
194 Vgl. Ulrich Gaier: Hölderlins vaterländische Sangart, in: HJb 25 (1986/87), 12–59;
zur Unterscheidung zwischen Vaterland und Nationellem siehe insb. 24–30. Der von Höl-
derlin gegenüber Casimir Ulrich Böhlendorff geforderte „ f r e i e Gebrauch des E i g e -
n e n “ (das Nationelle) wie des Fremden (Brief vom 4. Dezember 1801, StA VI, 425–428)
ist allerdings Vorbedingung für den vaterländischen Gesang. Für die Konzeption dieser Ge-
sänge hebt Gaier die Bedeutung des Begriffs der „Sphäre“ hervor, den Hölderlin 1800 in
der Verfahrungsweise (StA IV, 241–265) weiterentwickelte, vgl. Gaier, 30–35 u. 44–59. Zum
Begriff des Vaterlands bei Hölderlin vgl. u. a. auch Christoph Prignitz: Der Gedanke des
Vaterlandes im Werk Hölderlins, in: Jahrbuch des freien deutschen Hochstifts (1976),
88–113; Adolf Beck: Hölderlins Weg zu Deutschland, 1982 und Kurz: Mittelbarkeit und Ver-
einigung (Anm. 169), insb. 138–143. – Daß es nach den zwei von Deutschland ausgegange-
nen Weltkriegen allerdings einer Erklärung bedarf, welches Verständnis vom Vaterland Höl-
derlins vaterländischen Gesängen zugrunde liegt, ist insofern auch als hermeneutisches Pro-
blem ernst zu nehmen, als die ‚Trübung‘ dieses Signifikanten – und Vaterland ist gleichsam
der Signifikant schlechthin, der Begehrlichkeiten weckt und diesen eine Statt gibt – durch
90 Positionsbestimmungen
auf das Vaterland entspricht vielmehr dem, was Hölderlin die „zartern und
unendlichern Verhältnisse“195 respektive seit seiner Zeit im Tübinger Stift
mit Hegel das „Reich Gottes“ nennt.196 Der auf das Vaterland bezogene
Gesang hat also keine geringere Aufgabe, als die „Revolution der Gesinnun-
gen und Vorstellungsarten“ vorzubereiten.197 Daß hierfür insbesondere der
„deutsche Gesang“198 zuständig ist, daran läßt Hölderlin unter dem Eindruck
der Koalitionskriege allerdings keinen Zweifel. Ihm kommt es zu, den Geist
der griechischen Kultur unter den anderen Bedingungen, die für Hesperien
gelten, neu zu erwecken.
Die beunruhigende Frage aber, wie dies zu vollbringen möglich werden
könnte, wird für Hölderlin nach dem Hyperion-Roman und der Arbeit am
Empedokles zusehends komplexer. So ist für Hölderlins Verständnis der „va-
terländischen Umkehr“199 am Anfang des neuen Jahrhunderts die Einsicht
kennzeichnend, daß Athen nicht einfach wiederholt werden kann. Entspre-
chend betont er gegenüber Böhlendorff die Notwendigkeit, den „freien Ge-
brauch des Eigenen“ zu erlernen, wenn dieses auch das „schwerste“ sei.200
die im Namen des Vaterlandes begangenen Verbrechen nicht einfach ‚bereinigt‘ werden
kann, vgl. zu diesem Problem Nägele: „Uneßbarer Schrift gleich“ (Anm. 139), 120 f., sowie:
Deutsches Literaturarchiv Marbach (Hg.): Klassiker in finsteren Zeiten 1933–1945, 2 Bde.,
Marbach a.N. 1983, insb. die Kap. 16 f. und 27 f. – Hölderlin selbst regt in der Hymne
Patmos eine Reflexion über das Verhältnis von Vater und Buchstabe an, weil die Liebe zum
unzugänglichen Signifikat auf den Signifikanten verwiesen ist, vgl. unten S. 95 f.
195 StA IV, 277; vgl. Anm. 185.
196 Vgl. Hölderlin: Brief an Hegel, 10. Juli 1794, StA VI, 126 f.
197 Hölderlin: Brief an Ebel (Anm. 187). Vgl. auch die besondere Bedeutung, die Jürgen
Scharfschwerdt diesem Brief für Hölderlins Verständnis der Revolution zumißt, die in
Deutschland im Gegensatz zu Frankreich im stillen „zur Reife kömmt“ (ebd.). Nach der
Enttäuschung über den Verlauf der französischen Revolution und unter dem enormen Ein-
fluß von Kants kritischer Wende des Denkens, vermittelt vor allem durch Karl Leonhard
Reinholds Lehrtätigkeit in Jena von 1791 bis zum Frühjahr 1794, setzt Hölderlin nach
Scharfschwerdt auf zweierlei: a) auf eine philosophisch-moralisch-ästhetische Revolution
in der Trägergruppe der Wenigen, die dem Bildungsbürgertum angehören und b) auf den
mittelständischen Habitus einer häuslichen Lebensart, die dem Charakter des deutschen
Volkes entspricht, vgl. Scharfschwerdt: Friedrich Hölderlin. Der Dichter des „deutschen Son-
derweges“, Stuttgart 1994, insb. 93–99.
198 Hölderlin: Patmos, StA II, 172.
199 Vgl. Hölderlin: Anmerkungen zur Antigonae: „vaterländische Umkehr ist die Um-
kehr aller Vorstellungsarten und Formen. Eine gänzliche Umkehr in diesen ist aber, so wie
überhaupt gänzliche Umkehr, ohne allen Halt, dem Menschen, als erkennendem Wesen un-
erlaubt.“, StA V, 271.
200 Hölderlin: Brief an Böhlendorff, 4. Dezember 1801, StA VI, 425–428, dort auch die
folgenden Zitate; hierzu Peter Szondi: Hölderlins Brief an Böhlendorff vom 4. Dezember
1801. Kommentar und Forschungskritik, in: Euphorion 58 (1964), 260–275, und ders.: Über-
windung des Klassizismus. Der Brief an Böhlendorff vom 4. Dezember 1801, in: ders.: Höl-
derlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis, Frankfurt a. M. 1967, 85–104.
Die Athenertempel Hölderlins 91
Dieser „freie Gebrauch des Eigenen“ bedeutet allerdings nicht, sich vom an-
tiken Griechenland schlicht abzuwenden. Vielmehr hebt Hölderlin die Not-
wendigkeit hervor, daß es zu einer „Elastizität“ des Geistes kommen muß, so
daß dieser Eigenes und Fremdes gleichermaßen zu nutzen weiß. Denn das
„Pathos“, das den Griechen angeboren ist und von den „junonischen Abend-
ländern“ besonders angeeignet werden muß, darf sich nicht ohne „Nüchtern-
heit“ und „Präzision“ ausbilden. Das Nämliche gilt vice versa. „Die Griechen“
sind insofern weiterhin „unentbehrlich“.
Daß Hölderlin die Frage der Korrelation zwischen Fremdem und Eigenem
im Verlaufe des Jahres 1801 vordringlich beschäftigte – „Ich habe lange daran
laborirt“ (StA VI, 426) – ist auch an den Ermahnungen ablesbar, die er in der
ersten Strophe der Hymne Germanien ausspricht:201
Nicht sie, die Seeligen, die erschienen sind,
Die Götterbilder in dem alten Lande,
Sie darf ich ja nicht rufen mehr, wenn aber
Ihr heimatlichen Wasser! jezt mit euch
5 Des Herzens Liebe klagt, was will es anders,
Das Heiligtrauernde? Denn voll Erwartungen liegt
Das Land und als in heißen Tagen
Herabgesenkt, umschattet heut
Ihr Sehnenden! uns ahnungsvoll ein Himmel.
10 Voll ist er von Verheißungen und scheint
Mir drohend auch, doch will ich bei ihm bleiben,
Und rükwärts soll die Seele mir nicht fliehn
Zu euch, Vergangene! die zu lieb mir sind.
Denn euer schönes Angesicht zu sehn,
15 Als wärs, wie sonst, ich fürcht’ es, tödtlich ists,
Und kaum erlaubt, Gestorbene zu weken.
Das lyrische Subjekt sieht sich unter ein altes biblisches Gebot gestellt, näm-
lich nicht hinter sich zu sehen, weil andernfalls der Tod droht.202 Was für Lots
Familie gilt, nämlich den Blick von Sodom und Gomorrha zu lassen, damit ih-
re Flucht aus den von Gott verfluchten Städten gelingen kann, das gilt muta-
tis mutandis auch für das Hölderlinsche ich, das nicht rükwärts zum einst so
schönen Angesicht (v. 14 f.) der Götter Griechenlands blicken darf (v. 3). Denn
wer annimmt, als wären die Götter schön wie sonst, statt anzuerkennen, daß
sie gestorben sind (v. 15 f.), läuft Gefahr, wie einst Lots Frau, durch Erstarrung
zu Tode zu kommen. Der entscheidende Unterschied aber ist hier nicht, daß
201 Hölderlin: Germanien, v. 1–16, StA II, 149. Hölderlin schrieb die Hymne vermut-
lich 1801, vgl. Beißners Kommentar, StA II.2, 738 und SWB III, 232.
202 Vgl. Genesis 19, 17–26.
92 Positionsbestimmungen
Sodom und Gomorrha gottverflucht sind, die griechischen Städte mit ih-
ren Götterbildern hingegen schön, sondern daß sich das heiligtrauernde Herz
(v. 5 f.) des lyrischen ichs wie von selbst entschließt, nicht zurückzublicken:
was will es anders (v. 5). Nicht Gott entscheidet, sondern das Herz selbst. Wie
sehr sich dieser Entschluß allerdings der Einsicht in das Notwendige ver-
dankt, wird daran deutlich, daß er als Frage erscheint. Denn fraglich ist die-
ser Entschluß, weil er auf eine brenzlige (sprich fragliche) Situation zurück-
verweist und darüber auch fraglich macht, was denn überhaupt ein freier Ent-
schluß sei. Die hier zugrunde liegende Situation ist dadurch bestimmt, daß
der gegenwärtige Himmel, der voll von Verheißungen ist, drohend auch scheint
(v. 9–11). Gegen den etymologischen Sinn hebt Hölderlin durch die Bildfol-
ge, „voll Erwartungen liegt / Das Land und als in heißen Tagen / Herabge-
senkt, umschattet heut“,203 im Wort Verheißungen die bedrohliche Hitze her-
vor, die, wie es in dem schon 1800 geschriebenen Entwurf Wie wenn am
Feiertage lautet, das „entblößte Haupt“ zu versengen droht.204 Die Ver-
heißung selbst ist also eine Bedrohung, die nur dadurch annehmbar wird, daß
sie durch Schatten und Wasser gekühlt wird. Dies vermag die Trauer, die mehr
als eine bloße Klage ist. Denn sie befähigt das klagende ich (v. 5) trotz der aku-
ten Gefahr und trotz der Sehnsucht nach dem alten Lande der Griechen (v. 2),
sich dazu zu entschließen, beim verheißungsvollen Himmel zu bleiben (v. 11),
der über den heimatlichen Wassern! (v. 4) scheint. Das Befinden des ichs ist
darum genauer heiligtrauernd, weil es in der Trauer mit (v. 4) den heimatlichen
Wassern das Heilige ahnt (v. 9), das sich von oben aus dem Himmel herabsenkt
(v. 8). Unbedingte Voraussetzung für diese Trauer aber ist, daß die Seele nicht
zurück zur so anziehenden vergangenen Schönheit flieht (v. 12). Denn tödlich
wäre diese Flucht (v. 15), weil sie die Einsicht verhindert, welche dann in der
zweiten Strophe ausgeführt wird:205
Entflohene Götter! auch ihr, ihr gegenwärtigen, damals
Wahrhaftiger, ihr hattet eure Zeiten!
Nichts läugnen will ich hier und nichts erbitten.
Denn wenn es aus ist, und der Tag erloschen 20
Wohl trifts den Priester erst, doch liebend folgt
Der Tempel und das Bild ihm auch und seine Sitte
Zum dunkeln Land und keines mag noch scheinen.
203 Hölderlin: Germanien, v. 6–8, StA II, 149, Hervorh. von mir.
204 Vgl. Hölderlin: Wie wenn am Feiertage, v. 54–63, StA II, 119 f.
205 Hölderlin: Germanien, v. 17–23, StA II, 149.
Die Athenertempel Hölderlins 93
dieses erkannt ist, wird auch das Ausmaß dieser Flucht, daß nämlich kein Maß
mehr ist, einsichtig. Denn mit ihrer Flucht hat all das seinen Grund und Be-
stand verloren, was einst beanspruchen durfte, die Götter zu repräsentieren:
als da sind Priester, Tempel, Bild und Sitte. Was in dem dunkeln Land heute
noch an die wahrhaftigere Zeit ermahnt und dadurch Licht gibt, sind allein die
Grabesflammen und die Sage:206
Nur als von Grabesflammen, ziehet dann
25 Ein goldner Rauch, die Sage drob hinüber,
Und dämmert jezt uns Zweifelnden um das Haupt,
Und keiner weiß, wie ihm geschieht. Er fühlt
Die Schatten derer, so gewesen sind,
Die Alten, so die Erde neubesuchen.
30 Denn die da kommen sollen, drängen uns,
Und länger säumt von Göttermenschen
Die heilige Schaar nicht mehr im blauen Himmel.
Die entflohenen Göttern sind nur noch ex negativo an ihren Schatten ver-
nehmbar und indirekt daran, daß nicht einmal mehr Göttermenschen wie bei-
spielsweise einst Dionysos, Herakles oder auch Diotima im blauen Himmel
bereitstehen. Mit der zweiten Strophe bestätigt sich also, daß die Negation
im jambischen Auftakt – Nicht sie (v. 1) – am Anfang der Hymne, für das
Weitere tonangebend ist. Nur wenn die auf diese negative Weise markierte
Differenz beachtet wird, kann das, was kommen soll, sich einstellen und eine
neue Stätte finden. Für diesen Gesang bedeutet das, die Abwesenheit der
Götter zu präsentieren, damit immerhin deren Schatten fühlbar werden.
Fühlen aber kann diese vorzugsweise der Zweifelnde, der kaum weiß, wie ihm
geschieht. Daß die Götter, welche die Erde neubesuchen wollen, überhaupt
noch in dieser Abwesenheit gegenwärtig sind, macht sich allein an einem
Drängen bemerkbar. Es bedeutet für die Seele, die nicht rükwärts fliehn darf:
Sie soll dafür Sorge tragen, daß die Entflohenen neu kommen können. Die
dafür erforderlichen Bedingungen, einschließlich der „Gaabe / Zum Opfer-
mahl“, möchte dieser Gesang selbst bereithalten, so daß schließlich „schauen
mag bis in den Orient / Der Mann und ihn von dort der Wandlungen viele
bewegen.“207 Dieses Schauen bis in den Orient hat nichts mehr gemein mit
dem schalen Rückblick auf die vergangene „griechische Vortrefflichkeit“, von
der Hölderlin einst hoffte, die gültigen „Kunstregeln“ „abstrahiren“ zu kön-
nen;208 denn es ist ein Schauen, das bereit ist, sich den nötigen Wandlungen
auszusetzen. Daß dies vor allem bedeutet, nicht den Fehler zu wiederholen,
der den Griechen damals unterlief, das bestätigt nicht nur der oft zitierte
Brief an Böhlendorff, sondern ebenso folgendes Fragment aus dem Hombur-
ger Folioheft,209 das als eine Art Quintessenz Hyperions Erfahrungen in
Griechenland zusammenfaßt (StA II, 228):
meinest du,
Es solle gehen,
Wie damals? Nemlich sie wollten stiften
Ein Reich der Kunst. Dabei ward aber
Das Vaterländische von ihnen
Versäumet und erbärmlich gieng
Das Griechenland, das schönste, zu Grunde.
Wohl hat es andere
Bewandtniß jezt.
209 Nach Dietrich E. Sattler hat Hölderlin das Homburger Folioheft „Ende Oktober
oder Anfang November 1802“ angelegt, vgl. ders.: O Insel des Lichts! Patmos und die Ent-
stehung des Homburger Foliohefts, in: HJb 25 (1986–1987), 213–225, hier 213 u. 217.
210 Dafür spricht, daß sich auf der Höhe der ersten Zeile am rechten Rand des Manu-
skripts der Eintrag findet: „Zum Dämon“, vgl. StA II.2, 861 f. u. SWB I, 430.
211 Hölderlin: Brief an Böhlendorff (Anm. 200), StA VI, 426.
212 Vgl. Hölderlins Ode Blödigkeit, s.u. S. 214 f.
213 Vgl. die Verse: „Mein ist / Die Rede vom Vaterland. Das neide / Mir keiner.“, StA II,
337.
Die Athenertempel Hölderlins 95
wie vor entflohen sind. Darum heißt es am Schluß der vorletzten Strophe der
Hymne Germanien vom Wahrem: „Dreifach umschreibe du es, / Doch unge-
sprochen auch, wie es da ist, / Unschuldige, muß es bleiben.“214 Mit diesen
Versen indiziert Hölderlin die entscheidende Differenz zwischen der Schrift
und der freien Rede. Denn jene ist darum nötig, weil diese sich zu viel an-
maßt. Wer diese Differenz jedoch mißachtet, der macht sich nicht nur an der
Kunst schuldig, sondern der wird wiederum das versäumen, wofür das Vater-
ländische steht.215
Eben weil die Götter entflohen sind und darum das Jahrhundert „geist- u.
ordnungslos“ ist,216 bedarf es einer wandlungsfähigen Beständigkeit, die dies-
seits des unverfügbaren Geistes Zukünftiges eröffnet und vergangene Weis-
heit in Erinnerung hält. Da nach dem Priester auch die Tempel und Bilder, ja
selbst die Sitte es nicht mehr vermögen, diese Aufgabe hinreichend zu erfül-
len, hat der Gesang die Verantwortung, in das entstandene Vakuum hineinzu-
gehen. Er hat dieses überhaupt als ein solches sichtbar zu machen, ohne zu-
gleich zu suggerieren, daß er selbst diese Leere schon ausfüllen könnte. Was
sich bereits im Athenerbrief andeutete – worauf auch Celans Engführung hin-
weist –, daß sich nämlich neben dem Geist in den Texten die eigenständige
Persistenz der Buchstaben zu erkennen gibt, wird in die ab der Jahrhundert-
wende entstehenden „größere[n] Gedichte“217 programmatisch eingearbei-
tet. Denn allein das Besinnen auf das Literarische der Dichtung, das auch ein
Eingehen auf den die Dichtung ermöglichenden Buchstaben (littera) ist,
garantiert, daß nicht unter verkehrten Vorzeichen das Versäumnis der Grie-
chen wiederholt wird. Die viel gedeutete Schlußsentenz der Hymne Patmos
zielt besonders prägnant auf diese differente Zusammengehörigkeit von Va-
ter(land) und Buchstäblichkeit des Gesanges (StA II, 172):
ne lyrische größere Gedichte 3 oder 4 Bogen“ ankündigt, von denen er wünscht, „daß je-
des besonders gedrukt wird weil der Inhalt unmittelbar das Vaterland angehn soll oder die
Zeit“, StA VI, 435.
96 Positionsbestimmungen
218
Vgl. Hölderlin: Der Main, v. 11, StA I, 303, siehe oben S. 67 ff.
219
Vgl. Binder: Hölderlins Patmos-Hymne, in: ders.: Aufsätze (Anm. 156), 362–402,
hier 397.
220 Das Verb deuten ist nach dem Deutschen Wörterbuch (Anm. 162), Bd. II, 1038 von
der Form „ze diute“ abgeleitet, was heißt: vom Lateinischen in die Volkssprache überset-
zen, etwas verdeutschen und auf deutsch sagen. Vgl. auch Andrzej Warminski: Patmos. The
Sense of Interpretation, in: Modern language notes 91, 1 (1976), 478–500, insb. 481–483.
Die Athenertempel Hölderlins 97
und den Völkern.“221 Wehrlos ist ihr Rath nicht zuletzt darum, weil dieser
nicht praktisch umgesetzt werden kann, ohne daß er je von neuem auch miß-
deutet wird.222 Dem kann selbst die „Priesterin“ nicht entgegenwirken, die
von höchster Instanz im Auftrag des „Vaters“ durch den Adler „auserwählt“
wurde.223 Der Gesang, der sich jener Aufgabe annimmt, welche Tempel, Bild
und Sitte nicht mehr erfüllen, hat darum zunächst einmal anzuerkennen, daß
die Flucht der Götter grundlegend die Möglichkeiten der (Re-)Präsentation
hat fraglich werden lassen. Anders aber als dem Tempel ist es der Dichtung
möglich, sich auf diese sie ebenfalls bedrohende Crux zu beziehen. Denn sie
kann ihrer Aufgabe, das neue Ankommen der alten Götter zu ermögli-
chen,224 noch dadurch nachkommen, daß sie an ihre Leser den sie belasten-
den Vorbehalt – je wieder gedeutet werden zu müssen, ohne daß es eine Ge-
währ für die rechte Deutung gäbe – vorbehaltlos weitergibt. Für die Leser be-
deutet das, daß sie dieser Verschiebung der Aufgabenstellung folgen müssen.
Nur dann werden die Aporien einsichtig, mit denen es der deutsche Gesang
Hölderlins zu tun hat, und nur dann wird verständlich, warum den ge-
schichtsphilosophischen Fragen notwendigerweise die sprachphilosophi-
rektur der Reinschrift (StA II.2, 739): „auf beiden Seiten / Den Fittig spannend, mit ge-
spaltenem Rüken überschwingt / Die Alpen Zulezt“ (v. 46–48). Ausgerechnet derjenige,
dessen Rücken gespalten ist, vermag es, jene Kulturgrenze zu überschwingen, die das gefal-
tete Gebirge der Alpen bildet. Denn die Gegensätze, die hier aufeinandertreffen, kann nur
der neu belebend verspannen, der selbst wiederum die Gemüter spalten wird. Insofern sym-
bolisiert der Adler nicht nur die geschichtliche Bewegung des Geistes, der aus dem Süd-
Osten kommend im Nord-Westen ein neues Subjekt der Geschichte sucht, sondern an ihm
zeigt sich auch – gleichsam hinter dem Rücken des Bewußtseins (vgl. Hegel: Phänomeno-
logie des Geistes (1807), in: Werke, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1970, 80) – das kennzeichnende
Merkmal der Buchstaben: d. i. die Geister zu spalten. – Hegel wiederum führt den Adler an,
um den Widerstreit zwischen Glauben und Vernunft in einem Bild zu fassen: „Später sehen
wir den Gegensatz von sogenannten Glauben und sogenannter Vernunft, nachdem dem
Denken die Fittiche erstarkt sind; – der junge Adler fliegt für sich zur Sonne der Wahrheit
auf; aber noch als Raubtier gegen die Religion gewendet, bekämpft er sie. Das Späteste ist,
daß die Philosophie dem Inhalt der Religion durch den spekulativen Begriff, d. i. vor dem
Gedanken selbst, Gerechtigkeit widerfahren lasse; dafür muß der Begriff sich konkret er-
faßt haben, zur konkreten Geistigkeit durchgedrungen sein. Dies muß der Standpunkt der
Philosophie der jetzigen Zeit sein; sie ist innerhalb des Christentums entstanden und kann
keinen anderen Inhalt als der Weltgeist selber haben; wenn er sich in der Philosophie be-
greift, so begreift er sich auch in jener Gestalt, die vorher ihr feindselig war.“ Hegel: Vorle-
sungen über die Geschichte der Philosophie, in: Werke, Bd. 18, Frankfurt a. M. 1971, 99 f.
224 Vgl. Hölderlin: Germanien, v. 27–30, StA II, 149 f.
98 Positionsbestimmungen
225 Martin Heidegger: Hölderlins Hymnen „Germanien“ und „Der Rhein“ (GA 39)
als begrenzter „heiliger Bezirk“ setzt, Welt eröffnet und derart das „Sein des
Seienden“ allererst zum Scheinen bringt. Und in Wozu Dichter? zieht Hei-
degger 1946 – angesichts des „namenlosen Leidens“ (WD, 271) – die letzt-
mögliche Konsequenz seiner gerade auch an Hölderlin entwickelten Poeto-
logie: Der Tempel wird als „Haus des Seins“ begriffen. Dieses aber ist die
Sprache und vorzüglich die Dichtung.
Heidegger zitiert zu Beginn seiner im Wintersemester 1934/35 gehaltenen
Vorlesung zu Hölderlins Hymne Germanien drei Passagen aus dem Athener-
brief, ohne allerdings auf die angeführten Textstellen näher einzugehen.227
Was er seinen Zuhörern am Anfang mit dem ausführlich Zitierten auf den
weiteren Weg seiner Lesung mitgibt, ist eine erste Einstimmung darauf, wel-
che weitreichende Macht die Dichtung bei den Athenern einst hatte, die nach
Hyperion „der Anfang und das Ende“ der Philosophie ist (s. o. S. 73). Heideg-
ger suggeriert damit, was auch Hölderlins Hyperion annahm: Was damals
galt, das solle auch heute möglich sein, selbst wenn die Diskrepanz zwischen
dem alten Athen und dem gegenwärtigen Zustand des „deutschen Volkes“
kaum größer sein könne. Heidegger will seine Zuhörer jedenfalls mit dem im
wörtlichen Sinne unheimlichen Gedanken vertraut machen, daß Dichtung es
vermag, uns „aus unserer Alltäglichkeit“ derart herauszurücken, „daß wir nie
mehr so in die Alltäglichkeit zurückkehren, wie wir sie verlassen haben“ (GA
39, 22). Mit diesem Satz ist die zentrale Herausforderung angezeigt, die nicht
nur die Germanien-Vorlesung, sondern sämtliche Erläuterungen Heideggers
zu Hölderlin beschäftigen wird: Denn diese im 19. Jahrhundert kaum beach-
tete Dichtung sei als die „Macht“ zu verstehen (ebd.), die das geschichtliche
Dasein des deutschen Volkes von Grund aus neu zu stiften vermöge. Dieses
Verständnis an der Dichtung selbst zu entfalten und seinen Zuhörern und Le-
sern präsent zu machen, fühlt sich Heidegger als Denker berufen.
Warum das so ist und welche Schwierigkeiten Heidegger mit dieser ersten
Hölderlin-Vorlesung zu überwinden versucht, die mit dem Paradox spielt,
daß ausgerechnet ein „Gedicht, dünn, ohne Widerstand, verschwebend, ab-
seitig und bestandlos,“ (GA 39, 20) die eigentliche Macht sei, der es sich un-
terzuordnen gälte, das soll zunächst ein Exkurs verdeutlichen, der Heideg-
gers Denkweg228 auf Hölderlin zu in gebotener Kürze skizziert. Hierdurch
mag verständlich werden, was für Heidegger mit seiner ab 1934 öffentlich
dargelegten Lektüre zu Hölderlins Dichtung auf dem Spiel steht.
In Sein und Zeit fragt Heidegger nach dem Sinn von Sein. Er konzentriert sei-
ne Ausarbeitungen auf die Analyse des Daseins, weil dieses bereits ein vages
Seinsverständnis (vgl. SuZ, 5 f.) hat und als Stimmung, Befinden und Verste-
hen „immer schon“ in einem ontologischen Bezug zum Sein steht. Darüber
hinaus hat das Dasein das vorzügliche Merkmal, daß es „unter anderem die
Seinsmöglichkeit des Fragens hat“ (SuZ, 7). Die Frage nach dem Sinn vom
Sein stellt sich nur vom Dasein her, weil es allein für sich nach dem Sinn sei-
nes Seins fragen kann und, wie unbewußt auch immer, tatsächlich fort-
während seine Welt mit Sinn belegt. Heidegger zeigt auf, daß das Dasein fak-
tisch ein geworfenes ist, das „zunächst und zumeist“229 unverbrüchlich mit
seiner Umwelt zusammengedacht werden muß. Da das Verhältnis des Da-
seins zur Welt nicht nach der bisherigen Terminologie der Metaphysik als
Subjekt-Objekt-Relation aufgefaßt werden könne, wählt Heidegger den Ter-
minus technicus „In-der-Welt-sein“ (SuZ, 59 ff.). Die Grundverfassung des
Daseins als In-der-Welt-sein ist bestimmt durch den Modus des „Besorgens“
und „Sorgens“. Heideggers Analyse beschreibt einerseits diese Eingebunden-
heit des Daseins in die „Welt des Man“, zum anderen geht Heidegger der Fra-
ge nach, wie es um die Bedingung der Möglichkeit für das Ergreifenkönnen
des „eigentlichen Existierens“ bestellt ist, ob also das Dasein sich als einzel-
nes eine „eigenste, unbezügliche, unüberholbare Möglichkeit“ (SuZ, 250) des
Ganzseins geben kann, die es der Welt des Man entreißt.230 Um letztere
Möglichkeit als eine im Dasein bereits existenzial angelegte hervorzuheben,
führt Heidegger die in der Sorge wirksame Zeitlichkeit, nämlich das Moment
des „Sichvorwegseins“ (vgl. SuZ, 191 ff., 236 passim), konsequent zum Ende
hin fort. Denn erst dann, wenn das Dasein für sich die Möglichkeit seiner
Unmöglichkeit, seinen Tod, erblicke, eröffne sich ihm die Wahl, die den „ei-
gentlichen“ vom „uneigentlichen“ Seinsbezug scheidet. Heidegger verdeut-
licht, daß allein dem auf seinen je eigenen Tod vorlaufenden Dasein, eine „ei-
genste, unbezügliche, unüberholbare Möglichkeit“ des Ganzseins vorbehalten
sei (SuZ, 250).231
229 Heidegger gebraucht die Formel fortwährend, vgl. seine eigene Erläuterung, SuZ,
370.
230 Vgl. das Kap. Das mögliche Ganzsein des Dasein und das Sein zum Tode, SuZ,
§§ 46–53.
231 Hamacher führt gegen Heidegger an, daß die Möglichkeit der Unmöglichkeit auch
die andere Seite hat, selbst unmöglich zu sein. Was Heidegger also als die Möglichkeit des
eigenen Seinskönnens anzeigt, ist gerade darum, weil der Tod das schlechthin Nichtmögli-
che ist, dem Eigenen überhaupt unverfügbar. Der Tod ist mithin das andere, das nicht mein
eigen werden kann, vgl. Hamacher: Entferntes Verstehen (Anm. 2), 36–41.
Das Dastehen des Tempels bei Heidegger 101
Mit dieser Aussicht geht die methodische Frage einher, wie überhaupt der
unbedachte „Verfall an die Welt des Man“ ontologisch durchdrungen und auf
den Begriff gebracht werden kann. Diese Frage stellt sich umso dringender,
als Heideggers Befund des immer-und-je-schon Geworfenseins die Auswege
einer auf das Subjekt gegründeten Philosophie verschließt. Gegen den auf
einer scheinbar gesicherten Subjektivität ruhenden Standpunkt reklamiert
Heidegger, daß dieser in seiner Anlage die Aisthesis der Phänomene ne-
giert.232 Es gilt aber, von „den Sachen selbst“ her das gesuchte ontologische
Verständnis zu entwickeln. Die Notwendigkeit hierfür ergibt sich aus dem
Befund, daß das Dasein kein weltloses Subjekt ist, sondern vielmehr weltver-
stehend ist und immer schon etwas als etwas „auslegt“ (vgl. SuZ, 148 ff.).
Hiervon muß darum jegliche phänomenologische Philosophie ausgehen.
Die Kehrseite dieses Immer-schon, in dem sich das Dasein als geworfenes
befindet, ist der nie-ganz gegründete Zugang zum vollen Seinsverständnis
selbst. Hier deutete sich ein methodisches Problem an, auf das Heidegger be-
reits in der Einleitung von Sein und Zeit aufmerksam macht, und auf das das
hermeneutische Verfahren mit einer „merkwürdige[n] ‚Rück- oder Vorbezo-
genheit‘“ (SuZ, 8) einzugehen versucht. Das heißt: Die von Heidegger anvi-
sierte Möglichkeit des sich selbst in seiner ontisch-ontologischen Struktur
durchsichtig gewordenen Daseins, muß vornehmlich als eine Vorbereitung,
wenn nicht gar als eine Prolongation (etwa im Modus des Fragens) begriffen
werden, will die philosophische Auslegung des Sinns von Sein – die Herme-
neutik des Daseins – nicht in die Falle des Dogmatismus tappen. Heidegger
sieht am Ende seiner Fragment gebliebenen Analyse, daß ein grundsätzliches
Problem noch aussteht. Er stellt die entscheidende Frage, an der nicht zuletzt
hängt, ob sein nach-idealistischer Ansatz greifen kann: „läßt sich die Onto-
logie ontologisch begründen oder bedarf sie auch hierzu eines ontischen
Fundamentes, und welches Seiende muß die Funktion der Fundierung über-
nehmen?“ (SuZ, 436). Hier artikuliert sich nochmals die das ganze Werk
beunruhigende Einsicht, daß die geleistete Analyse nicht selbst schon die
Realisierung des Anvisierten sein kann. Doch die phänomenologische Unter-
suchung soll nicht nur vom Dasein ihren Ausgang nehmen, sondern sie soll
sich auch in diesem wieder niederschlagen. Andernfalls würde das eintreten,
was Heidegger als unvermeidliche Bedrohung seiner Studie deutlich vor Au-
gen sieht, daß nämlich die gewonnenen Begriffe ihre „Bodenständigkeit“ wie-
der verlieren und „zur freischwebenden These“ ‚entarten‘ (vgl. SuZ, 36). Dar-
um wiederholt Heidegger nach dem Durchgang der Analyse jene prägnante
Kurzformel, die bereits die Vorgabe für seine Anstrengungen bildete: „wor-
232 Phänomen ist das, was zum Erscheinen bringt und gleichwohl im Grunde verborgen
bleibt. Heidegger macht eine Dialektik geltend, wonach Phänomen „das Sich-an-ihm-
selbst-zeigende“ (SuZ, 31 passim) genannt wird.
102 Positionsbestimmungen
233 SuZ, 38 u. 436; wie bedeutsam für Heidegger diese Formel ist, welche die zirkuläre
Grundbewegung seines Denken betont, macht sein eigener Rückverweis aus dem Jahre
1946 deutlich, vgl. BüH, 343.
Das Dastehen des Tempels bei Heidegger 103
Warum aber, so ist weiter zu fragen, sah sich Heidegger veranlaßt, diese
synthetisierende Übertragung vom Dasein auf das Volk zu vollziehen? Es
fällt auf, daß die zitierte Passage die einzige in Sein und Zeit ist, in der Hei-
degger überhaupt vom Volk spricht – und das in einem Satz, der das wir der
Gemeinschaft zwischen Autor und Leser in Anspruch nimmt. Das scheint
dafür zu sprechen, daß hier eine Ungeduld wirksam ist, die die unauflösbare
Aporie zu überspringen versucht, die sich aus der geleisteten Analyse ergibt,
insbesondere was diese zur die Welt bestimmenden „Diktatur“ des Man fest-
hielt (SuZ, 126). Denn die Welt des Man steht dem möglichen Ganzsein des
Daseins nicht nur praktisch sondern existenzial entgegen. Heidegger ver-
sucht gleichwohl, die in der Daseinsanalyse hinsichtlich des Seins zum Tode
anvisierte Möglichkeit auf das Ganze – und d. h. hier nun auf das Volk – zu
‚erstrecken‘ (vgl. SuZ, 375). Wie das Dasein, so soll auch das Volk durch den
Vorlauf in seine „Ohnmacht“ in sich mächtig und dadurch für kommende Si-
tuationen hellsichtig werden. Diese Übertragung ist insofern berechtigt, als
das Dasein nicht bloß für sich steht, sondern als Geworfenes nur mit dem es
konstituierenden Ganzen ‚ganz‘ sein kann. Doch ist dieses Ganze, und das
weist Heidegger zuvor vornehmlich nach, gerade wegen der nivellierenden
Alltäglichkeit des Man, niemals ein einheitliches. Die sich hieraus ergebende
Crux behebt Heidegger nun mit der Fiktion des einen Volkes,238 das als ein-
heitliche Gestalt in der Lage wäre, geschichtsmächtig zu werden.
Plausibel versucht Heidegger dieses „Geschehen der Gemeinschaft“ da-
durch werden zu lassen, daß es etwas gibt, das dem anvisierten Kollektiv vor-
ausgeht und dergestalt gegenübersteht. Das ist der Entwurf, der die Gemein-
schaft als Einheit zusammenhält und ihr Richtung zu geben weiß. Nun
braucht aber auch der Entwurf, der dem Volk Gestalt geben soll, zuvor selbst
eine solche, wird doch die „Macht des Geschickes“ erst in der „Mitteilung“
und im „Kampf“ frei; also dann, wenn das Geschick Gestalt annimmt. In die-
sem Zusammenhang ist eine Nebenbemerkung Heideggers aussagekräftig,
die im Fortgang seiner Diskussion des oben zitierten Absatzes fällt und die
das Selbstverständnis zu erkennen gibt, das Heidegger dann sowohl in der
„Schweigen über die Ausrottung ‚der Juden‘“ (ebd., 86). Heideggers Schweigen nach 1945
ist nach Lyotard in Heideggers „existenzial-ontologischen ‚Ansatz‘“ begründet, der, sofern
er allein eine „Dekonstruktion“ ist, ihn „von der Frage abhält“, die „(nach Adorno) ‚Au-
schwitz‘ heißt.“, vgl. ebd., 87.
238 Das Reale dieser Fiktion erkundet Lacoue-Labarthe: Fiktion (Anm. 24); zum Wir-
respektive Volksbegriff vgl. Lyotard: Heidegger (Anm. 24), 105–110, sowie ders.: Widerstreit
(Anm. 92), 168 ff., 245 f. und 262 f.; vgl. ferner: Jean-Luc Nancy: Die undarstellbare Ge-
meinschaft (La communauté désœuvrée, Paris 1986), Stuttgart 1988, 36 ff.; Otto Pöggeler
versucht Heideggers Volksbegriff dadurch plausibel zu machen, daß er ihn in die Tradition
„Herders und des deutschen Idealismus“ einreiht, ders.: Es fehlen heilige Namen. Das Den-
ken Martin Heideggers in seinem Bezug auf Hölderlin, in: Zeitwende 48 (1977), 71.
Das Dastehen des Tempels bei Heidegger 105
Zeit seines Freiburger Rektorats 1933 als auch danach leitet. Bezüglich der
Frage, wie überkommene Existenzmöglichkeiten gewählt werden können,
wie also die eigene Geworfenheit übernommen und für die augenblickliche,
eigene Zeit gewonnen werden kann, spricht Heidegger vom „Helden“. Die
„Wiederholung einer gewesenen Existenzmöglichkeit“, die auf der „vorlau-
fenden Entschlossenheit“ basiert, ist, als ob „das Dasein sich seinen Helden
wählt“.239 Ohne diesen Helden, für den es sich zu entscheiden gilt, gibt es
kein sich realisierendes Wir. Er ist dessen Ermöglichungsgrund.
Vergleicht Heidegger auch den aus überkommenen Existenzmöglichkeiten
gewählten Entwurf mit einem Helden, so versteht er weder diesen noch je-
nen als ein selbstherrliches Subjekt, das in der Lage wäre, Geschichte zu ‚ma-
chen‘. Heideggers Vergleich unterstreicht allerdings, daß der Entwurf, der aus
einem Rückbezug zu Gewesenem gewonnen wird, wie ein Held vorangehen
muß. Angedeutet ist damit, daß es tatsächlich eines tatkräftigen Heldens be-
darf, damit der Entwurf als solcher für ein Volk wirksam werden kann. Denn
es müssen jene sein, die den „Kampf“ aufnehmen, dem Ganzen Gestalt zu
geben. Es ist folgerichtig, wenn Heidegger dann insbesondere nach seiner so-
genannten Kehre auszuloten versucht, was den Helden kennzeichnet und
welchen Bedingungen er unterliegt. In diesem Sinne sind dann für Heidegger
die „Kämpfenden“ und „Schaffenden“ (EM, 47) Helden, womit vorzugswei-
se der „Staatsmann“, der „Denker“ und nach 1934 auch der „Dichter“ ge-
meint sind. Nach 1945 wird Heidegger nicht mehr vom Staatsmann sprechen,
sondern sich auf die „Wagenden“ beschränken, die die Sprache wagen (WD,
309 ff.).
Anfang der dreißiger Jahre beginnt Heidegger seinen in Sein und Zeit ent-
worfenen fundamentalontologischen Ansatz umzukehren. Heidegger selbst
spricht in der Retrospektive davon, daß bereits Sein und Zeit zu einer „Keh-
re“ hinzuführen versuchte, so daß es zu einem anderen, „die Subjektivität ver-
lassenden Denken“ kommen könne.240 Dieser Gedanke erhält eine besonde-
re Dringlichkeit, nachdem sich Heidegger 1934 aus den ersten Reihen der na-
tionalsozialistischen Bewegung zurückzieht. Was also bedeutet die Kehre?
Heidegger versucht nicht mehr vom Dasein her den Sinn des Seins freizule-
239 SuZ, 385; Heidegger macht in einer anderen Nebenbemerkung darauf aufmerksam,
daß wir immer einen „‚Helden‘“ gewählt haben und sei es der ungewählte des Man, vgl.
SuZ, 371. Daß dieser ‚Held‘ der uneigentliche ist, darauf machen dort die Anführungszei-
chen aufmerksam.
240 Vgl. BüH, 327 f. Heideggers 1930 ausgearbeiteter Vortrag Vom Wesen der Wahrheit,
in: ders: Wegmarken (Anm. 233), 177–202, gilt als der erste Schritt der Kehre; vgl. Dieter
Sinn: Heideggers Spätphilosophie, in: Philosophische Rundschau 14 (1967), 81–182, bes. 83f.
106 Positionsbestimmungen
gen, sondern er faßt das Sein vielmehr als ein Wahrheitsgeschehen auf, das die
Geschichte durchzieht, sich aber vornehmlich den Schaffenden als „Wink“
oder „Ruf“ zu erkennen gibt und sich – wenn auch verborgen – im Kunst-
werk, in der Sprache des Denkers und im Staatsakt manifestiert.241 Heideg-
ger denkt das Sein also aus dessen ‚Nähe‘, auch wenn es sich unfaßbarer denn
je vom einzelnen Menschen entfernt.242 Augenfälliger Ausdruck für diese
notwendigerweise befremdende Nähe zum Sein – denn das Sein ist das
schlechthin Fremde – ist der Tonfall seiner Sprache, den Heidegger anschlägt,
weil die Kehre des Denkens „mit Hilfe der Sprache der Metaphysik nicht
durchkam.“243 Uwe Beyer meint darum, daß „Heideggers Denken nach der
‚Kehre‘ kein analysierendes mehr [ist], sondern: ein bedingungsloses Vereh-
ren des Seins.“244 Gibt es gerade auch in der deutschen Rezeption Stimmen,
die Heideggers Denken nach Sein und Zeit nicht mehr als wissenschaftliche
Philosophie ernst nehmen, so ist andererseits das anhaltende Interesse an
Heideggers späten Denkwegen genau darin begründet, daß Heideggers Seins-
verehrung tatsächlich nicht bedingungslos ist. Denn zwei Mangelerfahrungen
trüben den Seinsgedanken, und beiden geht Heidegger in seinen Ausführun-
gen nach. Erstens hat Heidegger in den Jahren 1933/34 leibhaft miterlebt,
daß er als Denker keinen „geschichtlichen Zustand heraufführen“ (EM, 8)
kann, wodurch er sich gezwungen sieht, das in Sein und Zeit Explizierte hin-
sichtlich der Relation zwischen Dasein, Zeitlichkeit, Geschichte und Sprache
noch einmal anders zu fassen; und zweitens hat Heidegger erneut einsehen
müssen, daß sein philosophischer Ort keinerlei Evidenz beanspruchen kann,
weil er sich nach den Kriterien der logischen Wissenschaften der Vermittlung
entzieht.
Ende Mai 1933 scheint es Heidegger greifbar nahe, daß das bereits 1929 be-
klagte Problem der Fundierung der sich in Beliebigkeiten verlierenden sepa-
raten Wissenschaften behoben werden könnte.245 Sieht es doch so aus, als
wenn sich die Wissenschaft unter seiner führenden Anwesenheit – Rekto-
rat – endlich wieder auf ihren „geistigen Auftrag“ besinnt.246 „Alle Wissen-
241 Wiederholt nennt Heidegger diese Trias und meines Wissens immer in dieser Rei-
henfolge, s.u. Anm. 266. Das legt den Gedanken nahe, daß er dergestalt eine Sukzession
vor Augen führt, die auf das Zukünftige verweist, wofür um 1935 noch der Staatsmann
steht, der das realisieren soll, was in gegenwärtiger Zeit der Denker aus der überlieferten
Dichtung auszulegen weiß.
242 Vgl. BüH, 331 f.
243 BüH, 328.
244 Uwe Beyer: Mythologie und Vernunft. Vier philosophische Studien zu Friedrich Höl-
1933/34 (1945), Frankfurt a. M. 1983, 9 passim; vgl. zum Auftreten des Geistes auf der po-
Das Dastehen des Tempels bei Heidegger 107
schaft ist Philosophie, mag sie es wissen und wollen – oder nicht. Alle Wis-
senschaft bleibt jenem Anfang der Philosophie verhaftet.“247 Da der Philo-
soph das Wesen der Wissenschaft kennt und ihr damit einen entscheidenden
Wissensschritt voraus ist, steht er im Zentrum der Wissenschaft selbst. Die
sonst so marginale Position der Philosophie könnte, so Heideggers Hoff-
nung, durch die Gunst der Stunde, die Hitlers Machtergreifung mitzubringen
scheint, überwunden werden. Die „Selbstbehauptung der Universität“ oder
gar die des Volkes ist aber nur dann möglich, wenn die Philosophie in die Mit-
te desselben rückt. Genau dieses versucht Heidegger 1933 mit seinem Amt
zu bewerkstelligen, nicht ohne dabei den Führungsanspruch seines Denkens
herauszustellen, den er auf die Universität als ganze zu übertragen versucht.
Entsprechend fordert er von der „Lehrerschaft“ der Universität, daß sie
durch die „Kraft zum Alleingehenkönnen“, „stark zur Führerschaft“ wer-
de,248 damit es über die „Studentenschaft“ zu einer „Bindung“ zwischen Wis-
senschaft und Volk komme. Heidegger spricht ferner, in Abgrenzung von der
„vielbesungene[n] ‚akademische[n] Freiheit‘“, die sich durch „Beliebigkeit“
und „Ungebundenheit“ auszeichne, von einer dreifach gegliederten „Bin-
dung“ durch Arbeits-, Wehr- und Wissensdienst.249 Diese Bindung soll es er-
möglichen, daß „die Volksgemeinschaft“, das „Geschick der Nation“ und der
„geistige Auftrag“ eine Einheit bilden.250 In diese Richtung, so diagnostiziert
litisch-philosophischen Bühne 1933 Jacques Derrida: Vom Geist: Heidegger und die Frage,
Frankfurt a. M. 1988. Aus der Fülle der Forschungsbeiträge, die dem Komplex Heidegger
1933 in seiner Vielschichtigkeit nachgehen, seien wenige Titel hervorgehoben: Guido
Schneeberger: Nachlese zu Heidegger, Bern 1962; Lyotard: Heidegger (Anm. 24); Bernd
Martin (Hg.): Martin Heidegger und das „Dritte Reich“. Ein Kompendium, Darmstadt 1989;
Briegleb: Das Verderben einer Kategorie: Heidegger 1933, in: ders.: NS-Faschismus (Anm.
133), 179–184. Zur Debatte, die das methodisch so bedenkliche Buch von Victor Farías:
Heidegger und der Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1989, auslöste, vgl. Jürg Altwegg
(Hg.): Die Heidegger Kontroverse, Frankfurt a. M. 1988.
247 Heidegger: Selbstbehauptung (Anm. 246), 11.
248 Ebd., 14; daß insbesondere diese Forderung Heideggers Eindruck hinterlassen hat,
dieses nicht in sich selbst als ein Selbst ruhen will und kann, sondern an ein anderes (das
Volk, die Geschichte, die Sprache und die Dichtung) gebunden sein muß, um das ganz An-
dere (das Sein) entbergen zu können, das sich dem Denken der Metaphysik entzieht. Die
Bindung wird von Heidegger allerdings in der Stunde, wo es scheint, daß das Denken
tatsächlich ins Ontische zurückschlagen könnte (vgl. oben S. 101 u. Anm. 233), so eng gefaßt,
daß er die Ambivalenz ‚unterbindet‘, die diesem Begriff auszeichnet; ist doch die Bindung
der Bezugspunkt von Differentem. An der Art und Weise, wie Heidegger dann in den fol-
genden Jahren den Begriff der Bindung gebraucht, kann nachvollzogen werden, wie und
wo er seinem Denken eine Unterkunft respektive eine Wohnung zu geben versucht.
108 Positionsbestimmungen
Heidegger, weise denn auch der „Marsch“ der Studentenschaft, deren „Ge-
folgschaft nicht erst zu wecken“ sei.251 – Und in der Tat: Studentenschaft und
Volksgemeinschaft folgen; nur folgen sie trotz der eingegangenen „Kompro-
misse“252 nicht dem Rektor. Auch die Wissenschaft bleibt Heideggers Den-
ken gegenüber gleichgültig. So muß er schon 1935 in höchst zweideutiger
Manier im Jargon der Zeit konstatieren, daß der Zustand an der Universität
„trotz mancher Säuberungen unverändert“ (EM, 36) sei. Dafür kann Heideg-
ger nun wieder von der „Grunderfahrung des Nichts“253 sprechen, von der
die Wissenschaft nichts wissen will. Er rückt von dieser ab, im Bewußtsein
um die unaufhebbare Differenz, die sein Denken von ihr trennt.
„Jede wesentliche Gestalt des Geistes steht in der Zweideutigkeit“ (EM, 7).
Heidegger spricht 1935 zu seinen Studenten von der Erfahrung, mißverstan-
den zu werden. Er begreift das Mißverständnis allerdings als Sache seines
Denkens. Denn das Mißverstehen folgt nicht einfach aus einer Unaufmerk-
samkeit, sondern betrifft das Denken grundlegend. Schon in der „Germani-
en“-Vorlesung 1934/35 bestimmt Heidegger das „dichterische“ und „denkeri-
sche Sagen“ so, daß das, „was in diesem Sagen erschwiegen wird“, nicht im-
mer gehört wird, auch wenn die Worte vernommen werden. Diesem Sagen
korrespondiert darum ein unvermeidliches Mißverstehen, das Heidegger ein
„wesentliche[s] Verhören“ nennt (vgl. GA 39, 41).
Als „Zweideutigkeit“ hatte Heidegger in Sein und Zeit den Umstand be-
stimmt, wonach ein echtes Verstehen sich nicht von der bloßen „Nachrede“
unterscheiden lassen könne. Die Zweideutigkeit ist danach gerade charakteri-
stisch für das entwurzelte Dasein, das der „Welt des Man“ unbewußt „verfal-
len“ ist (vgl. SuZ, §§ 35–38). Heidegger desavouiert die Zweideutigkeit nun
nicht mehr, sondern nimmt sie als conditio sine qua non für die Gestalt des
Geistes an. Mit der Kehre wechselt Heidegger gleichsam die Seite und macht
die unvermeidliche Zweideutigkeit für sein Denken und dessen Gestalt selbst
geltend. Es geht also nicht mehr allein darum, über die Zweideutigkeit als
Phänomen aufzuklären, sondern es wird angezeigt, daß das Denken mit ihr
auf allen Ebenen zu rechnen hat. Dem entspricht, daß Heidegger das Faktum
der Seinsvergessenheit systematisch grundlegender als in Sein und Zeit be-
wertet. Schien doch die Auslegung des Sinns vom Sein (vgl. SuZ, § 32 f.)
durch die spezifische ontisch-ontologische Struktur des Daseins in Sein und
Zeit noch durchführbar. Heidegger hebt nun deutlicher noch hervor, daß der
Entzug des Seins dem Sein wesentlich angehörig ist. Lakonisch hält er fest,
daß das Denken des Seins „unmittelbar immer Wenige angeht“ (EM, 8).
Heideggers 1935 gehaltene Vorlesung Einführung in die Metaphysik doku-
mentiert diesen Neuansatz in seiner Vielschichtigkeit. Im Unterschied zur im
Wintersemester 1934/35 gehalten Hölderlin-Vorlesung ist die Einführung von
Heidegger selbst 1953 veröffentlicht worden. Muß auch fraglich bleiben,
inwieweit der publizierte Text dem in Freiburg vorgetragenen voll ent-
spricht,254 so ist die Intention dieses Textes – gerade auch vor dem Hinter-
grund seines Publikationszeitpunktes – ‚authentisch‘ zu nennen. Denn Hei-
degger versucht die Defensivposition, in die er zunächst 1934 und dann 1945
geraten ist, umzukehren. Es geht ihm zu beiden Zeitpunkten um die Behaup-
tung (s)eines philosophisch und geschichtlich begründeten Mandats.
Die in Sein und Zeit explorierte Zeitlichkeit des Daseins faßt Heidegger
jetzt seinsgeschichtlich. Er besteht – hierin Hegel treu – auf der Verknüpfung
zwischen dem aktuellen Weltzustand und dem dadurch jeweils gegebenen
Seinsbezug. Weil Welt per se „immer geistige Welt“ sei (EM, 34), ist es Hei-
degger möglich, die Umkehr des waltenden Verhältnisses der „Weltverdüste-
rung“ (EM, 29 u. 34) – und der damit einhergehenden „Entmachtung“ und
„Mißdeutung des Geistes“ (vgl. EM, 34–37) – denkend zu erproben. Zur Fra-
ge steht, wie die „Erweckung des Geistes“ und die mit ihm verbundene „ur-
sprüngliche Welt geschichtlichen Daseins“ (EM, 38) vonstatten gehen kann,
wenn der Geist zur „Intelligenz“ und zum „Werkzeug“ eines planenden Be-
wußtseins verfälscht ist (vgl. EM, 35 f.).
Für Heidegger hängt die Erweckung des Geistes vom Fragen der Seins-
frage ab, die lautet: „‚Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr
Nichts?‘“ (EM, 1 passim). Ihr eigentliches Gewicht erhält diese Frage durch
ihren „Zusatz“ (EM, 21): und nicht vielmehr Nichts. Denn will man der Seins-
frage auf den Grund gehen und also das „Seiende im Ganzen“ fassen und
nicht erneut bei einem bekannten Seienden stehenbleiben, dann muß sich das
Seiende „fragenderweise in die Möglichkeit des Nichtseins“ hinaushalten
(ebd.). Den Effekt dieses Fragens versteht Heidegger als eine Eröffnung, so-
fern das Fragen ein Geschehnis ist, das „fragend verwandelt (was jedes echte
Fragen leistet), und einen neuen Raum über alles und durch alles wirft“ (EM,
23). Heidegger modifiziert also die Denkbewegung des „Seins zum Tode“, die
in Sein und Zeit den Umschlag ins Eigentliche bewirken sollte, und bezieht
254 Vgl. Peter Kemper: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“. Heideggers Begriff
von Freiheit im Zeitalter planetarischer Technik. Ein Diskussionsbericht, in: ders. (Hg.): Mar-
tin Heidegger – Faszination und Erschrecken. Die politische Dimension einer Philosophie,
Frankfurt a. M. 1990, 196–205, hier 201; Kemper gibt mit Verweis auf Hans Ebeling zu be-
denken, daß nicht alle nachträglich hinzugefügten Sätze auch als solche durch eckige Klam-
mer gekennzeichnet wurden.
110 Positionsbestimmungen
sie erneut auf das geschichtliche Ganze. Denn weil nach Heidegger zur Al-
ternative steht, ob über Europa „auf dem Wege der Vernichtung“ oder aber
„durch die Entfaltung neuer geschichtlich geistiger Kräfte aus der Mitte“ (EM,
29) entschieden wird, ist die Seinsfrage eine „durch und durch geschichtliche“
Frage (EM, 33). Für die mit weitreichenden Hoffnung besetzte Mitte, aus der
die geistigen Kräfte erwachsen sollen, steht das „nachbarreichste Volk und so
das gefährdetste Volk und in all dem das metaphysische Volk“ (EM, 29), von
dem Heidegger wünscht, daß es schöpferisch genug sei, seine geschichtliche
Bestimmung zu erkennen und seine ihm gegebene Überlieferung zu ergrei-
fen. Besonderen Nachdruck gibt Heidegger seiner Rede, die sich gleichsam
über seine Zuhörer an die deutsche Nation überhaupt wendet, dadurch, daß
er wiederholt betont, daß Europa und damit Deutschland gegenwärtig dem
„schärfsten Zangendruck“ (EM, 29) durch „Rußland und Amerika“ ausge-
setzt sei, welche „beide, metaphysisch gesehen, dasselbe“ seien (EM, 28, vgl.
auch 34). Die von Heidegger skizzierte Notsituation verlange eine Entschei-
dung, die allein darüber herbeigeführt werden könne, daß das deutsche Volk
„in sich selbst“ einen „Widerhall“ findet, damit es sein „Schicksal erwirken“
könne (EM, 29). Damit bringt Heidegger zugleich zum Ausdruck, daß er
auch 1935 noch hofft, daß seine ‚Rede‘ einen Widerhall erfährt, so daß der
Geist als die eigentliche Macht „Anerkennung“ findet, was, wie er dann
1951/52 rückblickend festhält, „der gesunde Menschenverstand am wenig-
sten vermag“.255 Denn nur der Geist könne jenen Anfang stiften, der die Ge-
staltung der Geschichte ermögliche. Für Heidegger heißt das, daß es um die
„Wiederholung“256 jenes Anfangs geht, der mit dem Immergleichen bricht
und damit „ein ganz Anderes“ freisetzt (EM, 32), das durch die Fixierung
(der Wissenschaften) auf Seiendes vergessen werde, aber gerade das sei, was
überhaupt Geschichte als solche eröffne.
Heidegger gibt also der alles verwandelnden Macht des Fragens eine ge-
schichtlich konkrete Physiognomie: Die Seinsfrage hat den Status einer
Schicksalsfrage, an der das „Schicksal Europas“ und das „der Erde“ überhaupt
hänge, und weitergehend betont er, daß „für Europa selbst unser [d. i. deut-
sches] geschichtliches Dasein sich als die Mitte erweist“ (EM, 32). Im wie-
derholt angeführten Topos der Mitte synthetisiert sich Heideggers Ge-
schichtsdenken: topographisch, weil Deutschland die Mitte Europas aus-
macht, das von „Rußland und Amerika“ bedrängt werde; und chronologisch,
weil nach einer langen Periode der Abriegelung und des Verfalls, wieder der
Bogen – hinweg über die Neuzeit, das christlich bestimmte Mittelalter und
255 Martin Heidegger: Was heißt Denken? (WhD) (1954), Tübingen 41984, 72.
256 Paradox an der „Wiederholung einer gewesenen Existenzmöglichkeit“ ist, daß die
Geschichte dem wählenden Dasein nur aus der Zukunft entspringt, vgl. Heidegger: SuZ,
385 f.
Das Dastehen des Tempels bei Heidegger 111
260 HWD, 33, vgl. Hölderlins Brief an die Mutter, Januar 1799, StA VI, 311; Heidegger
zitiert außerdem das „Bruchstück 13“ aus der Hölderlin-Ausgabe von Norbert von Hellin-
grath: Sämtliche Werke, Berlin 31943, IV, 262; vgl. „Bruchstück 37“, nach StA II, 325.
261 Vgl. Hölderlin: Dichterberuf, v. 64, StA II, 48 und Der Rhein, v. 44, StA II, 143; vgl.
seiner Philosophie stellt, nicht mehr angesichts des Vorwurfs, daß „die Metaphysik an der
114 Positionsbestimmungen
Wer sich an die Auslegung dieser Zeilen macht, hat die Flucht der Götter
gleichsam carte blanche als Tatsache anzuerkennen. Mit diesem Befund hat
das Denken zu beginnen, das überhaupt dann einsetzt, wenn es der Anwe-
Vorbereitung der Revolution [von 1933] nicht mitgewirkt“ habe (ebd.), sondern bemer-
kenswerter Weise u. a. an Hand von Karl Marx’ Maxime: „Die Philosophen haben die Welt
nur verschieden interpretiert, es kömmt darauf an, sie zu verändern“, vgl. Heidegger: Kants
These über das Sein (1961), in: Wegmarken (Anm. 233), 446 f.; zu Marx äußert sich Hei-
degger wiederholt insbesondere im BüH, 319–339.
263 BüH, 323 f.
Das Dastehen des Tempels bei Heidegger 115
senheit der Götter nicht gewiß sein kann. Auch Heidegger übernimmt Höl-
derlins Diagnose, hält aber sogleich fest, daß sich die „Göttlichkeit“ genau
darüber habe bewahren können, daß die Götter entflohen sind: „Daß die
Götter entflohen sind, heißt nicht, daß auch die Göttlichkeit aus dem Dasein
des Menschen geschwunden ist, sondern heißt hier, daß sie gerade waltet,
aber als eine nicht mehr erfüllte, als eine verdämmernde und dunkle, aber
doch mächtige“ (GA 39, 95). Heidegger begegnet damit der voreiligen
Schlußfolgerung, die da meinen könnte, daß aufgrund der Götterflucht keine
Göttlichkeit mehr walten würde. Es sei vielmehr so, daß jene Flucht dieses
Walten gerade ermögliche. Das Walten der Göttlichkeit wird dann präzisiert
durch zwei korrigierende „aber“, die betonen, daß die Göttlichkeit zwar un-
erfüllt und dunkel, aber doch mächtig sei. Diese Auslegung zielt darauf, im
Gewesenen das Wesende, beziehungsweise im Abwesenden das dergestalt ne-
gativ Anwesende lesen zu lernen. Die Nichtpräsenz der Götter verlange, daß
sie als „nicht mehr erfüllte“ Göttlichkeit erkannt werde, wodurch sie wieder
„mächtig“ würde. In eben dieser Spannung steht nach Heideggers Verständ-
nis die heiligtrauernde Grundstimmung des lyrischen Ichs, die in der ersten
Strophe der Hymne zur Sprache kommt. Das heiligtrauernde Herz (vgl. v.
5 f.) wendet sich von den entflohenen Göttern allein deshalb ab, um darüber
der gegenwärtigen Göttlichkeit teilhaftig zu werden. „Das Verzichtenmüssen
auf die alten Götter, das Ertragen dieses Verzichtes ist das Bewahren ihrer
Göttlichkeit“ (GA 39, 95). Weitergehend sei dieser bewahrende Verzicht das
Erharren der neuen Götter. Wird die Götterflucht nicht mehr geleugnet, wird
also „mit den entflohenen Göttern als Entflohenen“ ernst gemacht (GA 39, 97),
dann könne auch auf „der höchsten Spitze der wissend übernommenen Ver-
lassenheit […] deren innerster Umschlag in das wissende Erharren“ gesche-
hen (ebd.). Der anvisierte „Umschlag“, der eine neue Epoche bewirken und
mithin die „ursprüngliche“ Zeitlichkeit des Daseins offenbaren würde,264
kann aber nur dann eintreten, wenn die Folgen der Götterflucht und die
durch sie ausgelösten Verfallserscheinungen nicht nur als Stimmung gefühlt,
sondern wenn sie auch „eigens gesagt“ (GA 39, 97) werden. Entsprechend
liest Heidegger die zitierten Verse der zweiten Strophe von Germanien, die
von Priester, Tempel, Bild und Sitte sagen: „und keines mag noch scheinen“
(v. 23), nicht wie oben vorgeschlagen (s. o. S. 97 f.) – und das hat weitrei-
264 Vgl. GA 39, 109 ff. Heidegger selbst erinnert an dieser Stelle an die §§ 65 ff. in Sein
und Zeit. Die „eigentliche Zeitlichkeit“ des Daseins, die sich aus der „Sorgestruktur“ (SuZ,
323) desselben ableitet, faßt Heidegger in der Hölderlin-Vorlesung formelhaft so zusam-
men: „Die Schatten derer, so gewesen sind, besuchen uns neu, kommen auf uns zu, sind
zu-künftig. […] In diesem Nach-vorne-walten des Gewesenen in die Zukunft, die rück-
weisend das schon früher sich Bereitende als solches eröffnet, waltet das Zu-kommen und
Noch-wesen (Zukunft und Gewesenheit) in einem: die ursprüngliche Zeit“, GA 39, 108 f.,
vgl. auch oben Anm. 256.
116 Positionsbestimmungen
265 Hölderlin: Germanien, v. 21 f., StA II, 149, Hervorh. von mir.
Das Dastehen des Tempels bei Heidegger 117
266 GA 39, 100. Daß dieser „Eine“ letztlich Hölderlin selbst ist und daß auch Heideg-
ger einer jener „Schaffenden“ ist, der diese Dichtung so zu bedenken weiß, daß der Dritte
in Bunde, nämlich der „Staatsschöpfer“, das Volk zu sich selbst als Volk bringen kann, be-
tont Heidegger in den Jahren 1934/35 mehrfach, vgl. GA 39, 51 u. 144 f., siehe auch Kunst-
werk (Anm. 226), 49.
267 Vgl. Hölderlin: Germanien, v. 26–30, StA II, 149 f.
118 Positionsbestimmungen
dere ich verwandelt sich in das „stellvertretende Sagen“, das „ein Wort des
‚wir‘“ zu sagen vermag.
Hölderlins Hymne Germanien scheint diese Deutung Heideggers nahezu-
legen. Geht das lyrische ich der Hymne doch genau in dem Moment in den
Plural uns über, als die Zweifelnden (v. 26) genannt werden. Der Umschlag
vom ich zum wir antizipiert aus dieser Perspektive gleichsam die kommende
Inversion des Ganzen, welche – wenn überhaupt – durch die Zweifelnden ein-
geleitet würde. Und die Dichtung gäbe mit diesem Umschlag in den Plural zu
erkennen, daß sie selbst schon am Wendepunkt steht, der aus der Grund-
stimmung des heiligtrauernden Herzens (ich) ein Sagen für alle (wir) werden
läßt. Nach Heidegger stehen die Zweifelnden darum auch nicht für ein ver-
einzeltes Privatempfinden, sondern sagen das, was das geschichtliche Dasein
als Ganzes angeht. Der Umschlag vom ich zum wir, auf den Heidegger hier
insistiert, ist fraglos grundlegend; und das sowohl für Hölderlins Dichtung
als auch für Heideggers Auslegung. Warum aber die Schlußfolgerung, die
Heidegger an dieser Stelle zieht, nicht mit der oben vorgeschlagenen Lektü-
re von Germanien übereinstimmt, muß noch näher erörtert werden, weil an
diesem Umschlagspunkt auch die Differenz zwischen Celans und Heideggers
poetologischem Verständnis ersichtlich wird. Heideggers Beobachtung, daß
das ich (v. 3, 11, 15, 19) in Germanien nach dem Nennen der Zweifelnden ver-
schwindet (vgl. dem Plural uns, v. 26, 30), reiht sich jedenfalls ein in jene Spur,
auf die diese Studie wiederholt gestoßen ist: Denn der im wahrsten Sinne sig-
nifikante Umschlag vom je singulären Empfinden (Trauer) eines ichs zum
Zeichen, das dann der Sprache gehört, ist unweigerlich selbst ein Übergang in
den ‚Plural‘. Ist dieser doch gleichsam die Metapher – respektive die Synek-
doche –, die das Wesen der Sprache offenbart. Denn noch dann, wenn ein ein-
zelner ‚ich‘ sagt, ist dieses Sagen eine Doppelung und hierhin selbst schon
wieder ein Plural. Das heißt, daß der einzelne nicht als der Singuläre, der er
ist, in der Sprache angezeigt werden kann, weshalb Heidegger auch im ande-
ren Zusammenhang betont, daß das „eigentliche Selbstsein […] als schwei-
gendes gerade nicht ‚Ich-Ich‘“ (SuZ, 323) sagt. Der Plural, den Hölderlin mit
den Zweifelnden einführt, ist darum aber auch – und das zieht Heidegger
nicht in Erwägung – als Verzweiflung am unhintergehbaren Plural der Spra-
che zu lesen. Dieses hat wiederum Konsequenzen für das von Heidegger
behauptete Sagenkönnen eines „Wort des ‚wir‘“. Daß Celan gerade wegen
dieser entscheidenden Problematik anders an Hölderlin anschließt als Hei-
degger, wird weiter unten auch im Kontext seines bekanntesten Hölderlin-
Gedichts Tübingen, Jänner vernehmbar werden.268
268 Die Verzweiflung am Plural ist einer der Gründe dafür, daß Celan 1968 ein Gedicht
mit den Zeilen beginnt: „UNLESBARKEIT dieser / Welt. Alles doppelt.“ (II, 338). Zum Pro-
blem vgl. auch oben S. 46, Anm. 127 u. 141, sowie ferner unten S. 204 f.
Das Dastehen des Tempels bei Heidegger 119
Festzuhalten ist hier, daß Heidegger in der Hymne Germanien die Zwei-
felnden hervorhebt, weil sie allein die Herausforderung annehmen, die mit
der Flucht der Götter entstandene Not zur Sprache zu bringen. Der Tempel
dagegen, in dem die Götter einst wohnten, hat mit dem von Heidegger kon-
statierten Aufkommen der Kultur und dem Vergessen der Not der Götterlo-
sigkeit seinen ursprünglichen Kontext verloren. Seine Welt ist untergegangen
und er steht darum „unangebunden“ (GA 39, 99). Von ihm allein geht keine
Wandlung aus.
Der im November 1935 das erste Mal vorgetragene Aufsatz Der Ursprung des
Kunstwerkes ergänzt Heideggers Vorlesung zur Hymne Germanien und be-
reitet die zur Hymne Andenken vor, ohne daß Hölderlins Dichtung im ein-
zelnen erörtert würde. Heidegger geht es nicht um die Auslegung eines be-
stimmten Kunstwerkes, sondern um eine Klärung dessen, was dieses generell
auszeichnet. Genauer geht er der Frage nach, was es der Wahrheit erlaubt, sich
gerade in der Kunst ins Werk zu setzen. Insofern knüpft sein Aufsatz nicht
nur an die erste Hölderlin-Vorlesung an, sondern nimmt auch jene Überle-
gungen auf, die 1930 in dem Text Vom Wesen der Wahrheit269 entwickelt wur-
den.
Zu Beginn lotet Heidegger aus, wie die Kunst und ihre Herkunft zu be-
stimmen seien. Er macht dabei deutlich, daß die Klärung der Frage, in wel-
cher Weise sich Künstler, Werk und Kunst aufeinander beziehen, wer also wie
durch wen bedingt ist, nur gelingen kann, wenn sich das Denken auf eine
zirkuläre Struktur einläßt, wonach die Erhellung eines Moments dieser Trias
bereits ein ungeklärtes Vorverständnis der beiden anderen Momente voraus-
setzt. „Nicht nur der Hauptschritt vom Werk zur Kunst ist als der Schritt von
der Kunst zum Werk ein Zirkel, sondern jeder einzelne der Schritte, die wir
versuchen, kreist in diesem Kreise.“270 Das Kreisen im Kreise aber ist, wie
dieses hermeneutische Bekenntnis selbst demonstriert, genaugenommen eine
chiastische Figur. Denn es ist insbesondere die im Chiasmus vollzogene In-
version des zunächst evident Erscheinenden, die es erlaubt, jeweils das zu
vollbringen, was Heidegger einen „Schritt“ im Denken nennt.271 Die einzel-
Heidegger, Minneapolis 1987, Heideggers Schritt, beispielsweise das Wesen der Sprache aus
der Dichtung zu erläutern, dann aber das Wesen der Dichtung erst durch die Sprache zu er-
120 Positionsbestimmungen
nen Etappen, die von der Frage nach dem „Ursprung“ und „Wesen der Kunst“
zum „Werk“ und von dort her zum „Ding“ und zum „Zeug“ und dessen
jeweiliger „Wahrheit“ zurücklegt werden, um dann nach der „Wahrheit des
Wesens“ und genauer nach dem „Wesen der Wahrheit“ fragen zu können,
müssen hier nicht im einzelnen nachvollzogen werden. Hervorgehoben sei
nur, daß die Umkehrung der Perspektive jeweils so verläuft, daß der erneute
Rückbezug zum zunächst Plausiblen durch die Frage, was dieses zu bestim-
men ermöglicht, jedesmal von neuem eine tiefergehende Prüfung verlangt.
Auf diese Weise versucht Heidegger nicht nur die gewohnte „Fragestellung
der Ästhetik“ zu erschüttern (KW, 24 [28]), sondern er kommt so von ver-
schiedenen Seiten immer wieder auf das Werk zurück, in dem „ein Geschehen
der Wahrheit am Werk“ sei (KW, 21 [25]; 27 [30]). Heidegger versucht
schließlich, den Nachweis zu erbringen, daß das Denken, dem es um das We-
sen der Wahrheit geht, und das Kunstwerk, durch das Wahrheit geschieht,
gleichursprünglich seien.
Mit dem zweiten Abschnitt, der Das Werk und die Wahrheit überschrieben
ist, gelangt Heidegger zu dem bekannten hermeneutischen Problem, auf das
er bereits in der Vorlesung zur Hymne Germanien stieß: Uns sind Kunst-
werke aus vergangenen Epochen überliefert, aber die Welt, die sich einst in
ihnen bündelte, ist unwiederbringlich zerfallen und verloren. Auch wenn Bil-
der und Skulpturen in den Museen und alte Texte der Literatur durch kriti-
sche Editionen aufbereitet werden, so ist zu konstatieren: „Die Werke sind
nicht mehr die, die sie waren“ (KW, 26 [30]). Mit diesem Tatbestand gelangt
Heideggers Gedankengang in eine Aporie. Denn das Kunstwerk kann nicht
aus seiner bloßen Dinghaftigkeit her erschlossen werden. So ist es sinnlos,
beispielsweise „den Tempel in Paestum an seinem Ort und den Bamberger
Dom an seinem Platz auf[zu]suchen“ (KW, 26 [30]) und zugleich davon aus-
zugehen, dort noch die eigentliche „Welt“ dieser Werke vorzufinden. Was
aber ist ein Werk, das nicht mehr in seinen ursprünglichen Bezügen steht?
Heidegger, der im ersten Teil seines Aufsatzes überwiegend auf Vincent van
Goghs Gemälde eingeht, „das ein Paar Bauernschuh darstellt“,272 versucht
hellen, eine „chiastische Umkehr“ (ebd., 60), die einen Übergang von der „ontischen“ zur
„ontologischen Ordnung“ vollzieht. Warminski bezeichnet diese Bewegung darum auch als
einen „asymmetrischen Chiasmus“ (ebd., 61). Zum Chiasmus als für Heideggers Denken
eigentümliche rhetorische Bewegung, vgl. auch Jean-François Mattéi: The Heideggerian
Chiasmus, in: Dominique Janicaud / ders.: Heidegger from Metaphysics to Thought, Albany
1995, 39–150.
272 KW, 3 [9]. Zur Diskussion, die der Aufsatz von Meyer Schapiro auslöste (Das Stil-
leben als persönlicher Gegenstand, in: Marianne L. Simmel (ed.): The Reach of Mind. Essays
in memory of Kurt Goldstein, New York 1968), der Heidegger vorwirft, van Goghs Bild
mißinterpretiert und funktionalisiert zu haben, vgl. Jacques Derrida: Die Wahrheit in der
Malerei (1978), Wien 1992, 301–442.
Das Dastehen des Tempels bei Heidegger 121
dieses Problem zu umgehen, indem er nun danach fragt, ob es ein Werk gibt,
das die gesuchten Bezüge aus sich selbst heraus eröffnet. Er bejaht diese Fra-
ge, indem er sich einem Werk zuwendet, „das nicht zur darstellenden Kunst
gerechnet wird“ (KW, 27 [30]). Dieses Werk referiert nicht auf etwas anderes,
macht dafür aber um so deutlicher „das Geschehnis der Wahrheit im Werk
erneut sichtbar“ (ebd.). Das Werk, das diesen Anforderungen nach Heideg-
ger entspricht, ist der „Tempel“ (ebd.). Wobei er allerdings nicht die Ruine im
Sinn hat, über die Hölderlins Hyperion ohne Diotima verzweifelt wäre, son-
dern Heidegger spricht vom Tempel, als ob dieser noch in voller Pracht ste-
hen würde. Hierauf ist ausdrücklich aufmerksam zu machen, weil mit der
Einführung des Tempels der zuvor textbestimmende Modus des Fragens, der
altbekannte Zugangsweisen zur Kunst erschüttern sollte, nun in einen Modus
der Darstellung wechselt, der grundlegende Antworten vorbereitet. Zu die-
sem Zwecke entwirft Heidegger nun ein ideales Kunstwerk, das die nachfol-
genden Erläuterungen zum Wesen des Werks vorwegnimmt und illustriert.
„Ein Bauwerk, ein griechischer Tempel, bildet nichts ab“ (ebd.). Mit die-
sem Satz setzt der Kunstwerkaufsatz neu an. Daß sich an dieses „mit Absicht“
(ebd.) gewählte Werk grundlegende Überlegungen anschließen werden, ist
bereits an den beiden unbestimmten Artikeln abzulesen. Wichtig ist es Hei-
degger allerdings, sich auf einen griechischen Tempel zu beziehen, will sich
sein Denken doch nicht in einer ungefähren Abstraktion verlieren, sondern
das Verhältnis zwischen Wahrheit und Werk dadurch grundlegend bestim-
men, daß es sich an eine spezifische Überlieferung bindet. Mit diesem Bau-
werk, das selbst nichts abbildet, referiert Heidegger also auf die Epoche, an
der sich auch jene deutsche Tradition bei ihrer Suche nach dem Ursprung des
Kunstwerkes orientierte, in der Hölderlin stand.273 Heidegger aber will nicht
den historischen Ursprung der Kunst ausfindig machen, sondern vielmehr
der Frage nachgehen, wie aus dem „Sprung“, den die Werke der Kunst
zurücklegen, Geschichte „erspringt“ (vgl. KW, 65 f. [64 f.]). Vom Tempel heißt
es weiter: „Er steht einfach da inmitten des zerklüfteten Felsentales. Das Bau-
werk umschließt die Gestalten des Gottes und läßt sie in dieser Verbergung
durch die offene Säulenhalle hinausstehen in den heiligen Bezirk. Durch den
Tempel west der Gott im Tempel an. Dieses Anwesen des Gottes ist in sich
die Ausbreitung und Ausgrenzung des Bezirkes als eines heiligen“ (KW, 27
[30 f.]). Der Tempel steht. Daß dieses Stehen so „einfach“ nicht ist, deutet
sich bereits in Heideggers so schlicht daherkommenden Bild vom „zerklüfte-
ten Felsental“ an. Der Tempel steht inmitten einer unwirtlichen Landschaft.
Gerade weil er dort einfach steht, steht er im Gegensatz zu seiner unüber-
273 Daß Heidegger mit dem griechischen Tempel an Hölderlin denkt, belegt nicht nur
sein Interesse für den Athenerbrief und die Hymne Germanien, sondern auch sein Zitat aus
dem Entwurf Der Mutter Erde (StA II, 123–125), vgl. GA 39, 95.
122 Positionsbestimmungen
könne. Denn sie ist dann ein Werk, wenn sie jene weitreichende Geltung hat,
die der Denker dem intakten, von den Göttern nicht verlassene Tempel zu-
spricht. Wie sehr dieser das Paradigma verkörpert, das die oben angedeutete
Aporie umgeht, wonach es in der Folge von „Weltentzug und Weltzerfall“
keine Werke mehr geben könne (vgl. KW 26 [30]), verdeutlicht Heidegger in
den folgenden Sätzen, die auch einen Zusammenhang herstellen zwischen der
Bedeutung des Tempels und der hier nur als Möglichkeit gedachten Flucht
der Götter: „Der Tempel gibt in seinem Dastehen den Dingen erst ihr Ge-
sicht und den Menschen erst die Aussicht auf sich selbst. Diese Sicht bleibt
so lange offen, als das Werk ein Werk ist, so lange als der Gott nicht aus ihm
geflohen. So steht es auch mit dem Bildwerk des Gottes, das ihm der Sieger
im Kampfspiel weiht. Es ist kein Abbild, damit man an ihm leichter zur
Kenntnis nehme, wie der Gott aussieht, aber es ist ein Werk, das den Gott
selbst anwesen läßt und so der Gott selbst ist. Dasselbe gilt vom Sprachwerk.
In der Tragödie wird nichts auf- und vorgeführt, sondern der Kampf der neu-
en Götter gegen die alten wird gekämpft. Indem das Sprachwerk im Sagen des
Volkes aufsteht, redet es nicht über diesen Kampf, sondern verwandelt das Sa-
gen des Volkes dahin, daß jetzt jedes wesentliche Wort diesen Kampf führt
und zur Entscheidung stellt, was heilig ist und was unheilig, was groß und
was klein, was wacker und was feig, was edel und was flüchtig, was Herr und
was Knecht (vgl. Heraklit, Fragm. 53).“274
Erst das „Dastehen“ des Tempels eröffne dem Menschen „die Aussicht auf
sich selbst“. Heidegger betont schon im vorangegangenen Absatz, daß erst
durch das Tempelwerk der Mensch und seine Welt zu dem werden, was sie
sind, daß also der Tempel nicht einfach additional zum bereits „Anwesenden
hinzukommt“ (KW, 28 f. [32].) Weil der Tempel es ermögliche, den Blick um-
zukehren (vgl. ebd.), sei der Mensch durch ihn überhaupt in der Lage, auf sich
und die Dinge zu schauen. Dieses Vermögen habe das Werk generell dann,
wenn es nicht nur etwas zur Anschauung stellt, sondern wenn es idealiter das
„Sagen des Volkes“ verwandelt. Die Abfolge der von Heidegger gewählten
Beispiele, die zwischen dem Tempel, dem Bildwerk, der Dichtung und der Sa-
ge des Volkes und damit der Sprache überhaupt eine gemeinsame Linie zieht,
rechtfertige sich, wie er dann später erläutert, dadurch, daß „[a]lle Kunst […]
im Wesen Dichtung“ sei (KW, 59 [59]). Der im dichterischen Werk ausgetra-
gene „Kampf der neuen Götter gegen die alten“, zwinge das Volk sich zu ent-
scheiden, wie die Welt sei, die es durch das Werk empfange. Dieser Kampf
entscheide folglich auch darüber, ob die Götter fliehen oder nicht. Damit sie
274 KW, 29 [32], an dieser Stelle macht Heidegger den Bezug zu Heraklit explizit; vgl.
Heraklits Fragment: „Der Kampf ist der Vater von allem, der König von allem; die einen
macht er zu Göttern, die anderen zu Menschen, die einen zu Sklaven, die andern zu Frei-
en.“, Fragment 53, in: Die Vorsokratiker. Die Fragmente und Quellenberichte, übersetzt und
eingeleitet von Wilhelm Capelle, Stuttgart 1968, 135.
124 Positionsbestimmungen
nicht fliehen, muß das Werk als ein heiliger Bezirk gewahrt bleiben. Als Bün-
del- und Sammelpunkt aller Bezüge ist das Werk dann qualitativ mehr als die
auf es Bezogenen. So bleibt denn auch die Möglichkeit, sich entscheiden zu
können, „was heilig ist und was unheilig“ et cetera, von der Voraussetzung
bedingt, daß etwas als unverfügbar anerkannt wird, auf dem die Entscheidung
gründet. Darum bleibt das Werk immer auch „ein Nichtbewältigtes, Verbor-
genes, Beirrendes“ (KW, 42 [44]). Der Tempel ist also als die anfängliche
Eröffnung zu verstehen, die so lange währt, als der Kampf fortführend be-
stritten wird. Er ist genaugenommen selbst der entfachende Streit. Heidegger
nennt ihn darum auch den Streit zwischen „Welt und Erde“ (dem der Streit
zwischen Verstehen und Befinden entspricht), sofern der Streit nicht bloß als
zerstörerischer „Hader“, sondern als die „Selbstbehauptung“ des Wesens der
Streitenden verstanden wird (vgl. KW, 35 [37 f.]).
Die sich an den Tempel anschließenden Überlegungen Heideggers demon-
strieren bündig, wie das Wesen der Wahrheit zu verstehen sei und warum der
Denker eine Nähe zu jener Kunst sucht, die es einer geschichtlichen Ge-
meinschaft ermöglichen soll, sich als solche zu konstituieren. Dies ist vor
dem Hintergrund zu verstehen, daß Heidegger einerseits nachzuweisen ver-
sucht, warum es diese Gemeinschaft zur Zeit nicht gibt, er aber andererseits
über das Paradebeispiel eines Werkes einen Weg aufzeigen will, diesen Mangel
so zu überwinden, daß zugleich das Wesen der Wahrheit und damit der Den-
ker selbst ins Zentrum des (geschichtlichen) Geschehens rücken. Dieses Pro-
gramm ist der Subtext des Kunstwerkaufsatz. Der Tempel aber kann in diesem
Programm nicht mehr als eine Idealvorstellung sein, sind doch die Götter lan-
ge schon aus ihm entflohen. Würde der Tempel noch in der Weise stehen, wie
Heidegger ihn ausmalt und erläutert, dann könnte man wohl weitergehend
davon sprechen, daß in ihm der „Streit“ zwischen Erde und Welt ausgetragen
wird. Der Tempel wäre unter dieser Bedingung das vorübergehende Sichtbar-
machen der sich verschließenden „Erde“ durch das Aufstellen einer „Welt“,
die einem „geschichtlichen Menschentum“ „Maß und Entschiedenheit“ gäbe
(vgl. KW, 50 [51]). Und er könnte dann der „Riß“ sein, der nicht einfach das
Verborgene („Erde“) von der offenbaren Lichtung („Welt“) scheidet, sondern
der darüber hinaus „die Innigkeit des Sichzugehörens der Streitenden“ voll-
ziehen würde, indem er die „Gegenwendigen“ im Werk zusammenreißt (vgl.
KW, 51 [51]).
Daß der Tempel in dieser Form jedoch lange schon nicht mehr steht, läßt
Heideggers Darstellung zuweilen vergessen, kommt es ihm doch besonders
auf das Gegenwendige von Verbergendem und Offenbarendem an, weil diese
Gegenwendigkeit kennzeichnend für die besondere Affinität sei, welche die
Wahrheit zur Kunst habe. Denn sowohl die Kunst als auch die Wahrheit
trachten gleichermaßen danach, sowohl zu erscheinen als auch im Erscheinen
sich verborgen zu halten. Dem kongruent faßt Heidegger die Wahrheit vom
Das Dastehen des Tempels bei Heidegger 125
275 Es ist hier darauf hinzuweisen, daß Heidegger selbst die Kunst in diesem Sinne nicht
allegorisch nennen würde. Heidegger erwähnt die „Allegorie“ und das „Symbol“ nur in ei-
ner Nebenbemerkung, vgl. KW, 4 [9 f.]. In diesem Zusammenhang weist er – gegen die all-
gemeinhin verbreiteten „Rahmenvorstellungen“ der Kunsttheorie, die auf einem bestimm-
ten Allegorie- und Symbolbegriff basieren – den Gedanken zurück, daß das Kunstwerk wie
ein „Unterbau“ betrachtet wird, „darein und darüber das Andere und Eigentliche gebaut“
seien (ebd.). Einem solchen statischen Allegoriebegriff ist denn auch ein anderer entge-
genzuhalten, wonach das Andere, das Noch-nicht-Entborgene, in und mit der Kunst nur
geschieht, sofern das Werk als das gelesen wird, was nicht Kraft von Konventionen entzif-
fert wird, sondern im Akt des Lesens je von neuem sein Anderssein gewahr werden läßt,
vgl. oben Kap. Autopsychographie.
276 KW, 41 [43] u. 48 [49]); vgl. auch: „das ‚Un-‘ des anfänglichen Un-wesens der Wahr-
heit als der Un-wahrheit [deutet] in den noch nicht erfahrenen Bereich der Wahrheit des
Seins (nicht erst des Seienden)“, Heidegger: Wesen der Wahrheit (Anm. 240), 194.
126 Positionsbestimmungen
277 KW, 65 [64]. Celan hat an dieser Stelle wohl weniger deshalb ein Fragezeichen in sei-
nem Buch angebracht, weil das Aufgegebene und Mitgegebene genauer spezifiziert werden
müßte – Celan selbst spricht ja anläßlich einer Umfrage der Librairie Flinker (1958) von
dem „Bereich des Gegebenen und des Möglichen“, den seine Dichtung „auszumessen“ ver-
sucht (III, 167) –, als darum, weil Heidegger bezüglich der Kunst in unzulässiger Weise die
Ent- und Einrückung eines ganzen Volkes in Anschlag bringt.
278 StA II, 189; vgl. auch oben Anm. 141.
Das Dastehen des Tempels bei Heidegger 127
Im Kunstwerkaufsatz ist der Tempel das positive Beispiel dafür, wie der heili-
ge Bezirk der Kunst durch sie selbst erstritten wird. Dieser Streit wird von
Heidegger als Riß und als Stoß bezeichnet, um zu verdeutlichen, daß die
Kunst wesentlich einen Sprung (im Sinne eines Risses) im Gewöhnlichen
markiert, der als Differenzlinie einen Sprung (im Sinne eines Anfangs) in der
Geschichte stiften kann. Hier schließt dann Heideggers Vorlesung zu Höl-
derlins Hymne Andenken an.
Etwas im Andenken zu halten, ist im weitesten Sinne ein erinnerndes Be-
zugnehmen auf Gewesenes und darin ein Bewahren. Daß sich das Andenken
auch auf Zukünftiges beziehen kann, betont Heideggers Lektüre – darauf
wird noch einzugehen sein. Der andenkende Rück- oder auch Vorbezug ist
dann gesucht, wenn Wertgeschätztes abwesend ist. Insbesondere aber dann
wird das Andenken notwendig und erhält einen gesellschaftlich-geschichtli-
chen Rang, wenn etwas stattgefunden hat, das sämtliche bis dahin gültigen
Wert- und Ordnungsvorstellungen verunsichert und diese als wehr- oder gar
wertlos entstellt hat. Einer Zäsur von dieser Dimension entgegenzuwirken
und die zerrütteten und zerstörten Bezüge neu zu knüpfen, ist eine der Auf-
gaben des Andenkens. Entscheidend ist aber, daß der Einschnitt eines histo-
rischen Ereignisses dem Andenken nicht einfach im Wege steht und den Zu-
gang zwischen dem Jetzigen und dem Einstigen beziehungsweise dem Künf-
tigen erschwert, sondern daß eine derartige Zäsur das, woran überhaupt
gedacht werden kann, grundlegend determiniert. Das Andenken gilt darum
nie einfach dem Verlorenen oder Kommenden, sondern muß – paradox ge-
nug – immer auch der Zäsur selbst gelten.
Deutschlands Krieg gegen Europa 1939–1945 und vor allem die schließlich
planmäßig durchgeführte Verfolgung und Vernichtung der Juden, die sich
zwischen Gurs und Narwa, sowie zwischen Bergen und Athen zutrug,279 ist
279 Vgl. Martin Gilbert: Endlösung. Die Vertreibung und Vernichtung der Juden. Ein At-
280 Der Streit darum, in welchem Maße dies auch noch nach den historischen Ereignis-
sen im Jahre 1989 gilt, das inzwischen als Datum einer neuen Normalität (vgl. zuletzt die
Debatte um Martin Walsers Sonntagsrede zur Verleihung des Friedenspreis des Deutschen
Buchhandels 1998) verstanden wird, wird gerade auch in der Literaturwissenschaft ausge-
tragen, vgl. Vf.: „Herbeigezerrt, stirbt ein kurzer Verdacht.“ Durs Grünbein und ‚die deut-
schen Dinge‘ nach 1989, in: Gideon Stiening (Hg.): Verstockte Sünder. Selbstreflexionen li-
terarischer Autorschaft in der deutschsprachigen Literatur nach 1989, 7–33. [i. E.]
281 Vgl. Heidegger: Hölderlins Hymne „Andenken“ (Winter 1941/42), GA, Bd. 52,
Frankfurt a. M. 1982; ders.: Hölderlins Hymne „Der Ister“ (GA 53) (Sommer 1942), GA,
Bd. 53, Frankfurt a. M. 1984; sowie Heideggers erste Veröffentlichung seines Textes „An-
denken“, in: Paul Kluckhohn (Hg.): Hölderlin. Gedenkschrift zu seinem 100. Todestag. 7. Ju-
ni 1943, Tübingen 1943.
282 In: Heidegger: Holzwege (Anm. 125).
283 Vgl. u. a. WD, 269 f. [248], 277 [256], 290 [267], 292 [270].
284 StA II, 48; vgl. oben Anm. 261.
Das Dastehen des Tempels bei Heidegger 129
Zäsur. Die Finsternis der Weltnacht besteht darin, „daß kein Gott mehr sicht-
bar“ ist, der „die Menschen und die Dinge auf sich versammelt“ und dergestalt
die „Weltgeschichte“ fügt (vgl. ebd.). Die Welt ist aus den Fugen, weil es kei-
ne geistige Macht gibt, die sie bindet. Heidegger sieht sich eben darum mit
Hölderlin weiterhin der Aufgabe verpflichtet, ein Denken (und eine Sprache)
zu finden, das eine „Wende“ der „dürftigen Zeit“ vorbereiten könnte (WD,
270 [248 f.]). Allerdings erkennt auch Heidegger, daß die „Weltzeit jetzt“
(1946) finsterer denn je zuvor ist: „Vielleicht geht die Weltnacht jetzt auf ihre
Mitte zu. Vielleicht wird die Weltzeit jetzt vollständig zu der dürftigen Zeit.
Vielleicht aber auch nicht, noch nicht, immer noch nicht, trotz der unermeß-
lichen Not, trotz aller Leiden, trotz des namenlosen Leidens, trotz der fort-
wuchernden Friedlosigkeit, trotz der steigenden Verwirrung.“285
Trotz des fünfmal Umschriebenen, das die Dringlichkeit emphatisch und
hilflos zugleich unterstreicht, ist die „Mitte“ „immer noch nicht“ erreicht, auf
die Heidegger sein Denken nach wie vor orientiert. Die Mitte der Weltnacht
wäre die „Mitternacht“ (WD, 270 [249]) – gewissermaßen die erlösende
‚Stunde Null‘ – von der her das Geschick gewendet werden könnte. Doch
„immer noch“ ist es „nicht“ so weit. Denn das „namenlose Leiden“ allein
reicht nicht hin, den Wendepunkt zu erlangen, weil die „Not“ und „Friedlo-
sigkeit“ nur die „Verwirrung“ noch steigert. Vonnöten aber wäre, daß die
Menschen ihr Wesen erkennen und daß sie begreifen, was es heißt, daß der
Gott ausbleibt. Gesagt ist nach Heidegger beides durch Hölderlin, der wie
„wir“ dem selben „Weltalter“ angehört (vgl. WD, 269 [248]), wenn heute
auch – und hier deutet Heidegger einen graduellen Unterschied zu Hölder-
lins Erfahrung an – nicht einmal mehr das Dürftige der Zeit erkannt wird, das
im Fehl Gottes liegt, weil die „Durft nicht mehr erfahren“ und „nur noch als
der Bedarf erscheint, der gedeckt sein will“ (vgl. WD, 270 f. [249]). Von Höl-
derlin aber wäre weiterhin zu lernen, was das Wesen der Sterblichen sei. Hei-
degger zitiert aus dem Entwurf Mnemosyne:286
[…] Nicht vermögen
Die Himmlischen alles. Nemlich es reichen
Die Sterblichen eh’ in den Abgrund. Also wendet es sich
Mit diesen. Lang ist
Die Zeit, es ereignet sich aber
Das Wahre.
Die Welt hat durch den Fehl Gottes keinen festen Grund. Sie hängt in der
Luft, sie „hängt im Abgrund“ (WD, 270 [248]). Eine Wende wäre dann mög-
lich, wenn sich die Welt von Grund auf wendet, das heißt, wenn es Sterbliche
gäbe, die in den Abgrund hineinreichen, so daß dieser „erfahren und ausge-
standen“ würde (WD, 270 [249]). Es ist demnach das Wesen der Sterblichen
und ihre Aufgabe in oder doch mindestens an den Abgrund heranzureichen,
damit sich hierdurch Wahres ereignet und den Göttern ein neuer „Aufenthalt“
(ebd.) ermöglicht wird. Nur der sei in seinem Wesen, wer bereit sei, diesen
ungegründeten Ort, diesen Nicht-Ort aufzusuchen.
Hölderlin nennt den „Abgrund“ an anderer Stelle den „allesmerken-
den“.287 Damit ist nach Heideggers Auslegung gesagt, daß im Abgrund die
„Spuren der entflohenen Götter“ vermerkt sind (WD, 271 [250]). Wenn sich
also einer in den Abgrund begibt, könnte sich dann Wahres ereignen, wenn
die Spur zu den abwesenden Göttern aufgenommen würde. Zu fragen aber
ist, wie einer der Sterblichen in oder an den Abgrund gelangen kann? Hei-
degger sagt, daß von allen Sterblichen die Dichter am ehesten an den Ab-
grund gelangen, sofern ihnen ihr „Dichtertum“ „aus dem Dürftigen der Zeit
[…] zur dichterischen Frage“ geworden ist (WD, 272 [251]). Sofern sie an-
gesichts der Not der Zeit „das Wesen der Dichtung eigens dichten“ (ebd.),
reichen sie an den Abgrund, der das Weltalter bestimmt. So wäre zu schlie-
ßen, daß erst die transzendentale Rückbesinnung auf die Grundlagen der
Dichtung die Zeit und ihre Not offenbart. Die Not der Zeit und das Wesen
der Dichtung bedingen sich demzufolge dahingehend reziprok, als sich jene
Not dann gänzlich der Darstellung entzieht, wenn nicht die Bedingungen der
Darstellbarkeit selbst und das je neu zu bestimmende Wesen der Dichtung als
Problem erkannt sind. Wobei die Darstellungsproblematik mitnichten jen-
seits der Zeit zu veranschlagen ist, wenn sie auch immer schon das Denken
und die Literatur beschäftigt hat. Darum sagt Heidegger, daß da, wo das We-
sen der Dichtung eigens gedichtet wird, „ein Dichtertum zu vermuten [ist],
das sich in das Geschick des Weltalters schickt. Wir anderen müssen auf das
Sagen dieser Dichter hören lernen, gesetzt, daß wir uns nicht an der Zeit, die
das Sein verbirgt, weil sie es birgt, dadurch vorbeitäuschen, daß wir die Zeit
nur aus dem Seienden errechnen, indem wir dieses zergliedern“ (ebd.).
Hölderlin ist für Heidegger Dichter in diesem zeitbezogenen Sinne. Wobei
zu beachten ist, daß nach Heidegger die Zeit nicht „aus dem Seienden [zu]
errechnen“ sei, sondern daß sie kennzeichne, das verborgene Sein zu bergen.
Der Zeitbezug einer Dichtung ist hiernach also wesentlich der Bezug zum
sich entziehenden Sein. In diesem Sinne versteht Heidegger Hölderlins Fra-
ge, „wozu Dichter in dürftige Zeit?“,288 denn auch nicht als Anzeichen einer
transzendentalen Reflexionsbewegung, daß nämlich eine Dichtung dadurch
an den Abgrund der dürftigen Zeit gelangt, daß sie die Möglichkeiten zu er-
289 Vgl. Hölderlins Verse aus der Hymne Der Rhein: „Ein Räthsel ist Reinentsprunge-
nes. Auch / Der Gesang kaum darf es enthüllen.“, StA II, 143. Mit diesem kaum gibt Höl-
derlin zu bedenken, was der Gesang müßte, aber nicht vermag. Celan wird genau an der
Frage – die Heidegger (sich) nicht stellt –, was die Dichtung überhaupt sagen kann, bei
Hölderlin nachfragen, s.u. zum Gedicht Tübingen, Jänner (I, 226) Kap. Hölderlintürme.
290 Hölderlin: Brod und Wein, StA II, 94.
291 Heidegger: „Wie wenn am Feiertage …“ (1939–41), in: EHD, 49–77.
132 Positionsbestimmungen
Obwohl Heidegger gegen Ende seiner Ausführungen per Zitat der ein-
schlägigen Leitworte eine Verbindung zwischen Rilkes „Wagenderen […] im
Heil-losen“ und Hölderlins „Spur der entflohenen Götter“ herstellt (vgl.
ebd.), hat Rilke nicht den Rang, den Hölderlins Dichtung für Heidegger hat.
Denn Rilke bleibt trotz seines Wunsches, das menschliche Wollen in der Wei-
se des Sichdurchsetzens des technischen Vorstellens in ein anderes Wollen
umzukehren, wodurch die Dinge der Welt in den unsichtbaren „Weltinnen-
raum“ (Rilke) gerettet würden, mit dieser Opposition selbst noch der Logik
der Metaphysik verhaftet, die nach Heidegger gerade das Wesen der Technik
bestimmt. Gleichwohl bezieht sich Heidegger auf Rilke, weil mit ihm das
Dürftige unserer Zeit und damit das kaum vernommene Wesen der Technik
näher bestimmt werden könne. Dies sei dann möglich, wenn man „vorden-
kender“ noch sei als die Kritik, welche die „Rilkesche Besinnung“ vornimmt
(vgl. WD, 291 [269]). Dann nämlich könne sich ein „Wink in die Bereiche“
ergeben, „aus denen vielleicht eine ursprünglicher bildende Überwindung
des Technischen kommen könnte.“ (WD, 290 [268]). Bemerkenswert aber
ist, daß Heidegger trotz seiner angezeigten Differenz zu dem Dichter in sei-
nem Rilkereferat gerade jene Leitworte hervorhebt, die an seine eigenen an-
knüpfen. Dadurch wird zuweilen der Abstand zwischen den beiden unscharf.
Zu nennen ist hier insbesondere Heideggers Bezug auf Rilkes „unerhörte
Mitte“,292 die das Seiende als solches im Ganzen einsehen lassen soll. Des
weiteren ist das an Rilke erörterte Sprachverständnis zu nennen, wo Heideg-
ger vordringlich seine eigene Position zu erkennen gibt. Schließlich ist auch
die Auseinandersetzung, die zu der Frage führt, was dem sich durchsetzen-
den Wollen zu entgegnen sei, dem alles Seiende einschließlich des Menschen
Material und bloß zu verrechnendes Mittel zum Zweck sei, Heideggers eige-
nes Anliegen.
Um vor allem aber prüfen zu können, welchen Stellenwert Heidegger dem
Tempel auch nach 1945 noch gibt und in welcher Form dieser als Paradigma
Gültigkeit behält, soll nun auf eine Passage eingegangen werden, die verdeut-
licht, wie nach Rilke das waltende Seinsverständnis grundlegend umzukehren
wäre. Zu der anvisierten Alternative ist vorweg allerdings anzumerken, daß
Heidegger unter seine Kritik am sich durchsetzenden, technisch-rechnenden
Vorstellen des neuzeitlichen Subjekts – an dem sich das verborgene Wesen der
Technik offenbare, das die Menschheit in ihrem Wesen bedrohe (vgl. WD,
292 Zit. n. WD, 282 [260] passim; vgl. Rilke: Die Sonette an Orpheus (1922), II. Teil,
XXVIII, in: ders.: Die Gedichte, nach der von Ernst Zinn besorgten Ausgabe der Sämtli-
chen Werke, Frankfurt a. M. 1957, 714. Heidegger geht in seiner Rilke-Lektüre auffälliger-
weise besonders auf jene Stellen ein, in denen Rilke von der Mitte spricht. So auch auf das
Gedicht Schwerkraft, das beginnt: „Mitte, wie du aus allen / dich ziehst, auch noch aus Flie-
genden dich / wiedergewinnst, Mitte, du Stärkste.“, Rilke: Die Gedichte, 965.
Das Dastehen des Tempels bei Heidegger 133
Heidegger’s Confrontation with Modernity. Technology, Politics, and Art, Bloomington 1990,
129 ff.
134 Positionsbestimmungen
Das Argument für den von Heidegger pointierten Umkehrpunkt stellt sich
erneut in einer chiastischen Inversion dar: Brunnen gehen – gehen Wort
‚Brunnen‘. Zum Brunnen kommt nur, wer durch das Wort ‚Brunnen‘ geht.
Denn weil alles noch so Dinghafte nur durch die Sprache begegnet – wobei
Heidegger es vermeidet, daß er einer der extremen Positionen des Universa-
lienstreites zugeordnet werden könnte, wonach entweder universale post rem
oder aber universale ante rem gilt –, kann nur in der Sprache anderes denn
Sprache vernommen werden. Schematisch heißt das: Vor dem Brunnen befin-
det sich schon immer das Wort ‚Brunnen‘, aber wenn irgendwo, dann er-
scheint allein durch das Wort ‚Brunnen‘ anderes noch als der Brunnen, näm-
lich gewissermaßen das ‚Sein des Brunnens im Ganzen‘.295 Diese Denkfigur
soll begründen, warum Heidegger nach wie vor vom Tempel her denkt, um
zum Sein des Seienden zu gelangen. Weil die Sprache der Tempel des Seins sei,
müsse sie gewagt werden, damit das Wort als Wort vernommen und so über-
haupt anderes denn das Wort erfahren werden könne. Indem sich Heidegger
mit Rilke auf „das Innerste des Herzraumes“ als Raum der Umkehr einläßt,
gibt er auch zu erkennen, daß er mit der Dichtung, die die Sprache als Tempel
des Seins wagt, nicht mehr wie noch 1934/35 die Hoffnung verbindet, daß es
zu einer „großen Erschütterung des geschichtlichen Daseins des Volkes“ kä-
me, so daß dieses seine „geschichtliche Sendung“ „im Ganzen von Grund
aus“ übernähme (vgl. GA 39, 99). Was Heidegger nun noch für möglich und
geboten hält, ist, daß es Wagemutige gibt, die mit ihrer Sprache (Gesang)
„dem ankommenden Weltalter“ entsprechen, so daß dadurch weiterhin das
„Geschickliche“ bedacht werden könne (vgl. WD, 319 f. [295]).
295 Nicht zufällig ist es, daß Heidegger an Brunnen und Wald seinen Gedanken über die
Bedeutung der Sprache als Tempel des Seins vorführt. Steht doch einerseits der Wald
sprichwörtlich für das Ganze (Sein), das vor lauter Bäumen (Seienden) aus dem Blick gerät
und andererseits steht der Brunnen für das fortwährend Quellende, das stets bleibt. Eben
diese beiden Funktionen hat für Heidegger die Sprache. – Wald und Brunnen stehen im
übrigen auch für die deutsche Landschaft, in die der Tempel, der seinem Ursprung im
Süden hat, als Hütte Einzug gefunden hat. Sowohl Goethes Der Wandrer (1772) als auch
Hölderlins Gedicht mit dem Titel Der Wanderer (1796–1801) sprechen diese Bildsprache.
Goethes „Wandrer“ gelangt zu einem idyllischen Ort, in dem aus den „Trümmern“ eines al-
ten „Tempels“ eine bewohnbare „Hütte“ nahe beim „Brunnen“ gebaut worden ist, vgl.
ders.: Werke, Hamburger Ausgabe, kommentiert von Erich Trunz, München 161996, Bd. I,
38. Bei Hölderlin gelangt das wandernde „ich“ nach langer Ausfahrt zwischen dem Eis des
Nordpols und der Wüste Afrikas endlich wieder in die heimatliche Landschaft der ge-
mäßigten Breiten für die unter anderem der „Wald“ (v. 5, 55, 77), der „Brunnen“ (v. 9), „die
immer geschäfftige Mühle“ (v. 59) und das „heilige Grün“ des Grases (v. 41) stehen, vgl.
StA II, 80–83. – Zum Zusammenhang von Natur, Brunnen und Hütte vgl. auch Celans Ge-
dicht Todtnauberg, s. u. Kap. Todtnauberg.
Das Dastehen des Tempels bei Heidegger 135
D. Zwischenresümee
296 BüH, 364. Zu Hölderlins Pflege des Buchstabens vgl. oben Kap. Vaterländischer Ge-
sang, insb. S. 95 f.
136 Positionsbestimmungen
kens die Treue zu halten, nämlich die „Ankunft des Seins je und je zur Spra-
che zu bringen“.297 Doch reduziert sich sein Denken, das sich auf die Kritik
des verborgenen Wesens der Technik beschränkt, dabei zusehends auf be-
stimmte Grundformen – und der Tempel ist dessen Gestalt –, welche die kon-
kreten eigenen Verwicklungen in die Geschichte ausspart.298 Diese Reduk-
297 BüH, 363. Die Tendenz, sich auf die Sprache zu besinnen, faßt Heidegger 1959 dann
in der Formel: „Die Sprache als die Sprache zur Sprache bringen“, ders.: Der Weg zur Spra-
che, in: ders.: Unterwegs zur Sprache, Tübingen 1959, 239–268, hier 242. Vgl. hierzu auch
Stefan Grotz: Vom Umgang mit Tautologien: Martin Heidegger und Roman Jakobson, Ham-
burg 2000.
298 Ungewollt und doch Heidegger bei allen Unterschieden an diesem Punkt sehr ähn-
lich, findet man auch in der Celan-Forschung die unhinterfragte Vorstellung vor, wonach
die Shoah ein Phänomen neben anderen sei, an dem sich die Unmenschlichkeit der techni-
schen Möglichkeiten zeige, die die Menschheit im 20. Jahrhundert vollkommen von sich
entfremdet hätte. Es ist darum genau zu prüfen, was sich jeweils für ein Vorverständnis zu
erkennen gibt, wenn beispielsweise Marlies Janz in Celans Gedicht Engführung gleicher-
maßen die „faschistischen Vernichtungslager“ und „Hiroshima und Nagasaki“ evoziert
sieht, dies.: Vom Engagement absoluter Poesie. Zur Lyrik und Ästhetik Paul Celans, Frankfurt
a. M. 1976, 75, vgl. auch 83 u. 86. Dieser Zusammenschau von Shoah und Atombombe
haben sich andere angeschlossen; vgl. u. a. James K. Lyon: Judentum, Antisemitismus, Ver-
folgungswahn: Celans „Krise“ 1960–1962, in: Celan-Jahrbuch 3 (1989), 175–204, hier 181
oder Wolfgang Emmerich: Paul Celan, Reinbek 1999, 99 f. Nun hat Celan selbst Anlaß
zu diesen Deutungen gegeben. Am 10. August 1962 schreibt er an seinen in Moskau le-
benden Freund Erich Einhorn: „In meinem letzten Gedichtband (‚Sprachgitter‘) findest
Du ein Gedicht, ‚Engführung‘, das die Verheerungen der Atombombe evoziert. An einer
zentralen Stelle steht, fragmentarisch, dieses Wort von Demokrit: ‚Es gibt nichts als die
Atome und den leeren Raum; alles andere ist Meinung‘. Ich brauche nicht erst hervorzu-
heben, daß das Gedicht um dieser Meinung – um der Menschen willen, also gegen alle Lee-
re und Atomisierung geschrieben ist“, in: Paul Celan – Erich Einhorn: Briefe, hg. von Ma-
rina Dmitrieva-Einhorn, in: Celan-Jahrbuch 7 (1997/98), 23–49, hier 33. Was aber heißt es,
daß die Engführung gegen alle Leere und Atomisierung geschrieben ist? Wird das Gedicht
nicht gerade dann ‚entleert‘ und damit bedeutungslos, wenn etwa Lorenz scheinbar un-
berührt von seiner spezifischen Subjektstellung zur Geschichte in der Engführung ganz all-
gemein die „Leidensgeschichte der Menschheit“ wiederzuerkennen meint? Nicht zufällig
dürfte es sein, daß er diese undifferenzierte Diagnose mit Verweis auf Janz zu bestätigen
sucht, wonach es in der Engführung zu einer Verknüpfung zwischen den Vernichtungsla-
gern und „Hiroshima und Nagasaki“ komme, vgl. ders.: Schweigen (Anm. 109), 9, 38 u.
240 f. Von Lorenz ist es dann kein großer Sprung mehr zu der ‚Meinung‘ von Theo Buck,
wonach „Stalingrad und Auschwitz“ als Ausdruck des gleichen „Zeitgeschehen[s]“ zu be-
greifen seien; ders.: Angstlandschaft Deutschland. Zu einem Nachkriegssyndrom und seiner
Vorgeschichte in einem Gedicht Paul Celans, in: Dieter Breuer (Hg.): Deutsche Lyrik nach
1945, Frankfurt a. M. 1988, 138–165, hier 139. – Schon 1965 hat Hannah Arendt in einem
Briefwechsel mit Hans Magnus Enzensberger auf den problematischen Gedanken auf-
merksam gemacht, wonach Technik und Politik per se verbrecherisch seien. Während
Hiroshima als Teil einer Kriegsführung mit verbrecherischen Folgen zu verstehen sei, hat-
te im Unterschied dazu „Auschwitz“ nichts mit „Kriegsführung“ zu tun, vgl. Ein Brief-
wechsel, in: Merkur 19 (1965), 380–385, hier 385. Ausgelöst wurde die Debatte durch En-
zensbergers Buch Politik und Verbrechen, Frankfurt a. M. 1964.
Das Dastehen des Tempels bei Heidegger 137
tion ist nicht darin begründet, daß Heidegger weiterhin darauf besteht, die
Zeit und das sich entziehende Sein nicht aus Seiendem zu „zergliedern“ (vgl.
WD, 272 [251]). Doch weil Heidegger sich weigert, die historischen Ereig-
nisse der jüngsten Verwerfung und die damit verbundene Verantwortung mit-
samt den aufgekommenen „Antwortlosigkeiten“299 als für sein sich nach wie
vor seinsgeschichtlich verstehendes Denken wesentlich anzuerkennen, ab-
szindiert er sich von dem, was gerade die „Achtsamkeit des Denkens“ her-
ausfordert. Denn die aus der Shoah erwachsenen Überforderungen für das
Denken – und diese resultieren ja nicht aus einer Überschätzung der Philo-
sophie – haben jene Mitte zerstreut und zersetzt, die Heidegger bei seiner
Rückbesinnung auf den Tempel des Seins nach wie vor geltend macht. Hei-
degger widmet sich also nicht der Not, daß es womöglich keine Mitte geben
kann,300 und daß es mit dieser Einsicht auch nicht mehr möglich ist, die Spra-
che zum templum zu erklären. Aus diesem Grunde bleiben denn auch die von
ihm der Dichtung abgewonnenen Bilder formelhaft und leer. Das gilt auch
für das Wort von der Pflege des Buchstabens, das ausgerechnet der Hymne
entnommen ist, von der Heidegger hätte lernen sollen:301
Im Zorne sichtbar sah’ ich einmal
Des Himmels Herrn, nicht, daß ich seyn sollt etwas, sondern
Zu lernen.
Daß Hölderlin darauf besteht, nicht etwas zu seyn, könnte mit Heidegger da-
hingehend gedeutet werden, daß man sich nicht bei Seiendem aufhalten sol-
le.302 Doch Hölderlins Verse akzentuieren indessen nicht das Sein des Seien-
den im Ganzen, sondern die im Zorne sichtbar gewordene Forderung des
ben.
302 Heidegger hat sich zur Hymne Patmos nur sporadisch geäußert. Auf die bekannten
Verse, „Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch“, kommt er u. a. in seinem Band
Die Technik und die Kehre (Anm. 293) zu sprechen, insb. 28, 35 u. 41; vgl. ansonsten auch
EHD, 21 f. u. GA 39, 52–55. Aus welchem Grunde Heidegger einer Auseinandersetzung
mit diesem großen Gedicht Hölderlins aus dem Wege ging, mögen die folgenden Über-
legungen andeuten.
138 Positionsbestimmungen
Himmels Herrn: Zu lernen. Diese Forderung ist für das lyrische ich maß-
gebend, das hier die Position des Dichters und der Dichtung zu bestimmen
versucht. Offen allerdings ist, was gelernt werden müsse. Insofern ist die For-
derung (sollt) zugleich maßlos und ohne Referenz. Die unvollständige Infini-
tivkonstruktion gibt aber trotz des fehlenden ‚um‘ – wodurch der fehlende
Grund und damit das Aus-maß des Zorns angedeutet wird – mit dem Zu ei-
ne Richtung an: Es gilt, sich lernend über das Etwas-seyn hinaus zu erweitern
und sich dem zu öffnen, was allein der Affekt des Zorns freisetzt, weil dieser
anderes einsehen (sichtbar) läßt als das, was man ‚ist‘. Ja der Zorn offenbart
vielleicht Unverfügbareres und damit Grundlegenderes noch als das Sein
selbst. Denn die hier ausgesprochene Erfahrung ist die, daß das Da-seyn nur
dann lernend ist, wenn es nicht ist.
Soweit würde Heidegger Hölderlin wohl noch folgen. Hat doch gerade er
den Affekt als Befinden und Stimmung, etwa im Gefühl der Angst und in der
heiligen Trauer, zum Ausgangspunkt seines Denkens gemacht. Aber an der
Hymne Patmos läßt sich des weiteren eine Differenz zwischen Heidegger und
Hölderlin vernehmen, die beachtet sein will. Denn der Grund des Einsicht
gewährenden Affekts, von dem gerade auch Zu lernen wäre, daß er ohne Maß
und Mitte ist, ist in der Hymne Patmos spezifischer Provenienz. Hölderlin
schaut schon in der Hymne Germanien mit dem „Mann“ „in den Orient“, da-
mit „ihn von dort der Wandlungen viele bewegen“.303 Dieser Blick gen Süd-
Osten erhält in der dem Landgrafen von Homburg gewidmeten Hymne dann
via der Insel Patmos unverkennbar eine Konkretion: Das lyrische Ich gelangt
„nach / Jerusalem“.304 Entsprechend ist auch der Affekt, von dem Zu lernen
wäre. Denn Hölderlin nimmt in Patmos nicht nur auf die Ereignisse unmit-
telbar vor und nach Jesu Tod bezug, sondern ebenfalls auf die jüdische Tradi-
tion und Weisheit. So zitieren jene enigmatischen Verse, die vom im Zorne
sichtbar Gewordenen sprechen, Salomos Spruch: „Des HErrn Furcht ist An-
fang zu lernen“.305 Diesem Vers schenkte Hölderlin bereits in seinem Speci-
mina zu Salomon und Hesiod besondere Aufmerksamkeit, weil er, so Höl-
derlin, den „Grund aller Tugend“ nennt.306 Welche Bedeutung hat diese Re-
ferenz?
303 Hölderlin: Germanien, v. 37 f., StA II, 150. Folgt man Hölderlins Unterscheidung
zwischen Griechenland und dem Orient in seinem Specimina Versuch einer Parallele zwi-
schen Salomons Sprüchwörtern und Hesiods Werken und Tagen (1790), StA IV, 176–188,
dann meint Hölderlin auch in Germanien mit dem Orient vorzugsweise das Heilige Land
Israel.
304 Vgl. die späteren Überarbeitungen von Patmos, StA II, 182.
305 Vgl. Sprüche Salomo 1, 7, zit. n.: Die Bibel das ist die ganze Heilige Schrift des Al-
ten und Neuen Testaments nach der teutschen Uebersetzung D. Martin Luthers, Tübingen
1787.
306 StA IV, 177.
Das Dastehen des Tempels bei Heidegger 139
Die Hymne Patmos ist davon bestimmt, daß der Gott zwar nah, aber eben
darum auch „schwer zu fassen“ ist (vgl. v. 1 f.). Es bedarf darum eines Ver-
mittlers. Doch selbst die „Jünger“ und „Freunde“, die „unzertrennlich“ mit
Christus, „dem Sohne des Höchsten“, gegangen sind (vgl. v. 76–90), können
ihn nach seinem selbst gewählten Scheiden von der Welt (vgl. v. 106–111)
nicht „Im Gedächtniß“ (v. 143) behalten. Entsprechend entwickelt Hölderlin
in Patmos eine Dichtungskonzeption, die der Tatsache ins Auge sieht, daß
„lang schon ist / Die Ehre der Himmlischen unsichtbar“ (v. 212 f., vgl. auch
v. 149–151). Diese Nichtpräsenz der Himmlischen hat auch darin ihren
Grund – und hier setzt Hölderlin auch eine Spitze gegen Platons Phai-
dros307 –, daß nicht zu vermeiden ist, daß „von der Rede / Verhallet der le-
bendige Laut“ (v. 158 f.). In dieser furchtbaren Situation, die kennzeichnet,
daß „da und dort / Unendlich hin zerstreut das Lebende Gott“ (v. 121 f.),308
in der es also keine ordnende Mitte mehr gibt und nicht einmal mehr auszu-
machen ist, ob das Lebende Gott zerstreut oder umgekehrt Gott das Lebende,
antwortet der Anfang der elften Strophe auf die sich stellende Frage, wie die-
ser desperate Status quo zu verstehen sei – „was ist diß?“ (v. 151) – mit zwei
Bildern aus dem Matthäus-Evangelium, die zusammengezogen Hoffnung auf
einen Neuanfang machen sollen:309
Es ist der Wurf des Säemanns, wenn er faßt
Mit der Schaufel den Waizen,
Und wirft, dem Klaren zu, ihn schwingend über die Tenne.
Ihm fällt die Schaale vor den Füßen, aber
Ans Ende kommet das Korn,
Nach Matthäus prophezeit Johannes der Täufer, daß jener, „der nach mir
kommt, eine Worfschaufel in der Hand“ haben wird und daß „er seine Tenne
Lk 8, 5–15 und bereits Jer 4, 3. Auch Platon erläutert sein Argument für die lebendige Re-
de und gegen das Schattenbild des Geschriebenen mit dem Bild vom säenden Landmann,
vgl. Phaidros 276 a–b.; siehe auch oben Anm. 44. Zum Komplex Halm – Schrift im Hype-
rion und in Celans Engführung vgl. oben Anm. 163.
140 Positionsbestimmungen
fegen und seinen Weizen sammeln wird; aber die Spreu wird er verbrennen
mit unauslöschlichem Feuer“ (Mt 3, 11 f.). Der derart Angekündigte unter-
scheidet dann tatsächlich jene, die zwar hören, doch nicht verstehen, von den
Gläubigen, die seine gesäten Worte annehmen. Wie das geschieht, erläutert
Jesus in seiner Deutung des von ihm selbst zuvor (Mt 13, 3–9) gegebenen
Gleichnisses vom Sämann: „Wenn jemand das Wort von dem Reich hört und
nicht versteht, so kommt der Böse und reißt hinweg, was in sein Herz gesät
ist“ (Mt 13, 19). Mit dieser Erläuterung gibt Jesus nicht nur zu erkennen, daß
er sinnbildlich spricht, sondern droht vor allem jene, die das Gesagte nicht als
Gleichnis verstehen, sondern, statt zu hören, möglicherweise im Bild selbst
bleiben und sich dann fragen, ob denn dem Sämann nicht immer der Sen-
senmann folgt, der die Halme des Korns mäht und allegorisch an das Ende
der Zeit auf Erden gemahnt? Und tatsächlich könnte ausgerechnet Hölder-
lins Richtung und Ziel versprechender Vers, „Ans Ende kommet das Korn“
(v. 156), dem Bild eine solche konterkarierende Wende geben, wonach das
Ende nicht der Anfang des Reich Gottes, sondern buchstäblich der Tod ist.
Das Ende wäre dann nicht der den chaotischen Geschichtsverlauf aufheben-
de geistige Sinn, sondern im Gegenteil schlicht das Ende aller Möglichkeiten,
ja es wäre der Tod ohne Danach oder Auferstehung. Hölderlins Verse provo-
zieren zumindest auch diese Deutung und machen damit auf die unumgäng-
liche Inkonzinnität der auf Gleichnisse angewiesenen Rede überhaupt auf-
merksam. Diese Unangemessenheit ist insbesondere dann virulent, wenn die
das Gleichnis auflösen könnende Autorität (Mt 13, 19 ff.) nicht mehr anwe-
send ist, wenn also der ‚Gott entflohen‘ ist. So ist denn auch die Situation
nach dem Tod von Jesus die, daß seine Jünger in großer Zerstreuung zurück-
bleiben, weil auch das Pfingstereignis – „Drum sandt’ er Ihnen / Den Geist“
(v. 100 f.) – die Verwirrung nicht beheben konnte. Sein Tod erscheint in kei-
ner Weise sinnvoll, auch wenn versprochen ist, daß das Göttliche „wieder-
kommen“ soll „Zu rechter Zeit“ (v. 112 f.). Da der Grund aber, auf dem Neu-
es wachsen könnte, erodiert ist, weil nicht nur Jesus gegangen, sondern zuvor
schon die „Tempel“ ergriffen und zerstört wurden (vgl. v. 144 f.), steht dem
Wurf des Säemanns nichts Gesammeltes, sondern allein die zerstreuende
Kontingenz gegenüber. Hölderlins Wortwahl suggeriert zwar noch, daß der
Säemann den Waizen faßt, daß der Wurf dem Klaren zu geht und daß sich hier-
bei die Schaale vom Korn scheidet. Doch schon die im Anschluß geäußerte
Beschwichtigung, „Und nicht Übel ists, wenn einiges / Verloren gehet“
(v. 157 f.), rechtfertigt weniger, daß der Weg zum Klaren ein unvermeidlicher
Prozeß der Auslese sei, sondern gibt vielmehr zu verstehen, in welchem Maße
der Wurf des Säemanns nur blind sein kann.
In den folgenden Versen der elften Strophe verdeutlicht sich dann, daß das
Verstehen der Gleichnisse solange fehl gehen muß, solange man versuchte,
aus ihnen „Ein Bild zu bilden, und ähnlich / Zu schaun, wie er gewesen, den
Das Dastehen des Tempels bei Heidegger 141
Christ“ (v. 165 f.). Das einzige, worauf sich überhaupt noch eine Zuversicht
aufbauen läßt, ist, daß das „Unsterbliche Schiksaal“ waltet und daß „höher
gehet himmlischer / Triumphgang“ (v. 176–180). Dann nämlich könnte „Von
Starken“ zu gegebener Zeit das „Loosungszeichen“ gegeben werden, und der
Gesang könnte die „Todten“ wecken, ihnen also zur Auferstehung verhelfen
(vgl. v. 181–184). Die Hoffnung beruht hierbei auf einem komplexen Zusam-
menwirken zwischen dem stillen „Zeichen / Am donnernden Himmel“, das
der „ewige Vater“ gibt (vgl. v. 202–204) und dem Einen, der wie Christus
selbst bereit wäre, nicht etwas zu seyn, „sondern / Zu lernen“. Zu ihm könn-
ten die stillen Zeichen sprechen. So heißt es schließlich apodiktisch: „Und Ei-
ner stehet darunter / Sein Leben lang. Denn noch lebt Christus“ (v. 204 f.).
Für die an sich stille Dichtung bedeutet das, daß sie dem Donner der Himm-
lischen sowie dem im Zorne sichtbaren Gott beiseite zu stehen versuchen
muß. Auch hier fällt auf, daß letzterer bemerkenswerter Weise Züge des he-
bräischen Gottes hat. Dies ergibt nicht nur die Referenz auf Salomo an zen-
traler Stelle und der generelle Bezug auf den zornigen Gott der Apokalypse
des Johannes, welcher in seinem sich auf die hebräische Bibel stützenden
Buch310 das Ende der Welt und das Kommen des neuen Zeitalters ankündigt,
das legt auch die Hervorhebung der Notwendigkeit, den vesten Buchstab zu
pflegen nahe, womit Hölderlin unausgesprochen an die jüdische Talmud- und
Midraschtradition anschließt. Dieser Rückbesinnung auf die jüdischen Wur-
zeln korrespondiert, daß Hölderlin die mögliche Versöhnung nicht schon als
durch Jesu Opfertod erzielt betrachtet, sondern daß das Wiederkommen des
Göttlichen vielmehr noch aussteht, weshalb Hölderlin exakt in der Mitte der
Hymne unvermittelt, obwohl zuvor von Jesus die Rede ist, mit den neutralen
Pronomen es anschließt: „wiederkommen sollt es / Zu rechter Zeit.“311
Zusammengenommen heißt das, daß sich Hölderlin mit der Hymne Pat-
mos nicht mehr wie noch im Hyperion und im Empedokles allein an der anti-
ken griechischen Welt orientiert, sondern daß er sich auch (wieder) für die
Weisheit aus dem Lande „Galiläa“312 öffnet, weil das griechische Denken al-
lein offenbar nicht hinreicht, den kleinen immer noch scheibenförmig vorge-
stellten „Erdkreis“, den Hölderlin auch als „griechisch, kindlich gestaltet“313
bezeichnet, zu überwinden. Zu diesem Zweck schließt er sich aber nicht nur
den „Tempelherren, die gefahren / Nach Jerusalem“ an (SWB I,426), sondern
310 Vgl. Apokalypse des Johannes 1, 11 u. 22, 7. Hölderlin nahm der damaligen Lehrmei-
nung gemäß an, daß Johannes nicht nur der engste Vertraute von Jesus (Mk 5,37 ff.) gewe-
sen sei, der das Evangelium und die Briefe schrieb, sondern daß eben derselbe auf der Insel
Patmos auch die Apokalypse niedergeschrieben habe.
311 Patmos, v. 112, Hervorh. von mir.
312 Vgl. die späteren Überarbeitungen von Patmos, StA II, 181.
313 Vgl. Hölderlins Entwurf Kolomb, SWB I, 428; zu Kolumbus s.u. auch Celans Ge-
dicht Die Silbe Schmerz, Kap. Celan: Ausfahrt ohne Heimkehr. Die Silbe Schmerz.
142 Positionsbestimmungen
er sucht ebenso auch „Genua“ auf, wo „Kolombos“ geborenen wurde (StA II,
243, v. 30 f.). Steht dieser doch für die Seefahrer und Entdecker fremder Wel-
ten überhaupt, also für jene Helden, die – und darin sind die Schiffer den
Dichtern gleich – allen Widrigkeiten zum Trotz das Offene suchen. Und eben
diesen Kolombos vergleicht Hölderlin wiederum mit Moses. Hat dieser doch
sein Volk unter großen Entbehrungen aus Ägypten heraus durch die Wüste
in das gelobte Land geführt.314
Diese insbesondere im Homburger Folioheft unübersichtlich – und zudem
durch wiederholte Schreibansätze oft unentzifferbar – miteinander verfloch-
tenen geschichtlichen Anbindungen, in denen das dem Eigenen gegenüber-
stehende Fremde nicht allein griechisch ist, dürften Heidegger davon abgehal-
ten haben, sich eingehend auch mit der Hymne Patmos auseinanderzusetzen.
Der in der Hölderlin-Forschung verbreiteten These, daß sich auch an Patmos
ablesen lasse, daß sich Hölderlin „vom naturmythischen Pantheismus zu ei-
ner sich in der Folge christlich begründeten Dichtung“ gewendet habe,315
hält Heidegger entgegen, daß sich Hölderlin „zwar gewandelt, aber nicht ge-
wendet habe“ (A, 90, Anm.). Das aber bedeutet nach Heidegger, daß „sich
das Wissen von der Wahrheit des Griechentums und des Christentums und
d e s O s t e n s überhaupt“ mit Hölderlins Wandlung selbst wandelt, weshalb
die „gewohnten Bezirke und Zeitalter der historischen Betrachtung“ hinfällig
werden (ebd.). Heideggers Argument, das darauf beruht, daß Hölderlin dem
Eigenen „stets zugewendet war“, wenn er es auch „in der Wandlung erst ge-
funden“ habe (ebd.), unterschlägt allerdings, daß das Eigene Hölderlins sich
ebenfalls wandeln muß, je nachdem ob das Fremde griechisch, christlich oder
auch jüdisch ist. Andernfalls wäre das Fremde selbst nichts an sich ‚eigenes‘
314 Vgl. StA II, 878, v. 60–65; SWB III, 252 und vgl. 2. Mose 16, 2 ff.
315 Vgl. Wolfgang Binder: Patmos (Anm. 219), 396; Jochen Schmidt behauptet, daß sich
Hölderlin in Patmos in bewußter Absetzung vom „mosaischen Gesetz (γρáµµα)“ zum
pneumatischen Christentum hinwende, vgl. ders.: Hölderlins geschichtsphilosophische Hym-
nen. ‚Friedensfeier‘ – ‚Der Einzige‘ – ‚Patmos‘, Darmstadt 1990, 281. Allerdings kommt er
mit dieser Behauptung u. a. in die Schwierigkeit erklären zu müssen, wie dann die letzten
Verse der Hymne zu deuten seien, die so gar nicht mit dem pietistischen Leitwort des Pau-
lus zusammenpassen, wonach „der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig“ (2. Ko-
rint. 3, 6; vgl. auch Röm. 7, 6). Schmidts Konklusion, wonach die „Lösung des Problems
[…] nur darin liegen [kann], daß das Prinzip der pneumatisch-spekulativen Eklexis […]
auch das des Schlusses ist“, zwingt ihn zu der ‚geistvollen‘ Formulierung: „Der Buchstabe
der Bibel soll gepflegt werden, der dem Prinzip der bloßen Buchstäblichkeit widerspricht –
also die entsprechenden Partien aus dem Johannesevangelium, den Korintherbriefen und
der Apostelgeschichte“ (ebd. 286, Hervorh. von Schmidt). Schmidt macht damit gleich
selbst vor, wie selektiv eine eklektische Deutung ist, die um jeden Preis die Deutung eines
Textes dem Geist unterzuordnen versucht, wenn dafür auch die Buchstaben verdreht wer-
den müssen. Kein Zufall dürfte sein, daß Schmidts Auslegung Hölderlins Anknüpfungen
an die jüdische Bibel nicht diskutiert.
Das Dastehen des Tempels bei Heidegger 143
und nur eine Farce. Und da gerade auch um 1800 Athen und Jerusalem je ein
anderes ästhetisches und geschichtsphilosophisches Paradigma repräsentie-
ren,316 reicht es nicht hin, wenn Heidegger gegen die „gewohnten Bezirke
und Zeitalter der historischen Betrachtung“ polemisiert und das Fremde
schlechthin unter den „O s t e n überhaupt“ subsumiert. Hängt doch – und
das ist besonders hervorzuheben – von den verschiedenen Referenzen ab, wie
einzelne Bilder und die an ihnen entwickelten Gedanken näher bestimmt wer-
den können. Heidegger selbst unterstreicht ja an anderer Stelle, daß das Den-
ken eine bestimmte geschichtliche Herkunft haben muß, will es sich nicht auf
unbestimmte „Raum-Zeit-Vorstellungen“ „metaphysischer Art“ beschränken
(vgl. GA 53, 66). Für Heidegger ist das Denken darum notwendigerweise an
eine bestimmte Überlieferung und damit an eine bestimmte Fremde gebun-
den. Entsprechend besteht er darauf, daß dieses – eine – „Fremde des ge-
schichtlichen Menschentums der Deutschen für Hölderlin das Griechentum“
sei (GA 53, 67).
Am zentralen Bild vom Abgrund wird deutlich, wie bestimmend diese
„Geophilosophie“317 Heideggers für seine Lektüre Hölderlins ist, in der Je-
rusalem nicht vorkommt. Heidegger betont anhand von Hölderlins Entwurf
Mnemosyne, daß sich die Zeit nur dann wenden und die entflohenen Götter
nur dann erneut ankommen können, wenn die Sterblichen in den Abgrund
hineinreichen. Vor dem Hintergrund der Hymne Patmos zeigt sich aber, daß
316 Gerhard Kurz hebt hervor, daß insbesondere mit der französischen Revolution
Athen gegenüber Jerusalem aufgewertet wurde und sich eher als „Projektionsfläche“ und
Symbolspender anbot. Verband sich doch mit Griechenland die erhoffte politische Freiheit.
So schien etwa die Trennung von Staat und Religion nur im Vorbild Athen angezeigt zu
sein. „Gegenüber der griechischen Kultur mußte die jüdische Kultur ärmer erscheinen. Ge-
genständliche Kunst war in ihr verboten. Die griechische Kultur war reicher ausgebildet, sie
umfaßt die Sprache, Musik, die Plastik und das Theater“, ders.: Athen oder Jerusalem. Die
Konkurrenz zweier Kulturmodelle im 18. Jahrhundert, in: Wolfgang Braungart et al. (Hg.):
Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden, Bd. I, Paderborn et al. 1997,
83–96, hier 92. Daß sich Hölderlin mit den Vaterländischen Gesängen nun auch nach Jeru-
salem wendet, muß auch im Zusammenhang seiner Enttäuschung über den Verlauf der Re-
volution westlich des Rheins gesehen werden. Hierfür spricht, daß sich die Verse in der
Schlußstrophe von Patmos – „Wir haben gedienet der Mutter Erd’ / Und haben jüngst dem
Sonnenlichte gedient, / Unwissend“ (v. 220 ff.) – auf die Areopagrede des Paulus beziehen,
in der dieser den unwissenden Gottesdienst der Athener (vgl. Apostelgeschichte 17, 22 f. u.
30) mit den Worten angreift: „Gott, der die Welt gemacht hat und alles, was darin ist, er,
der Herr des Himmels und der Erde, wohnt nicht in Tempeln, die mit Händen gemacht
sind“ (ebd. 17, 24). Daß Hölderlin mit Paulus gegen den Sonnenmenschen Hyperion und
dessen Athen argumentiert, heißt aber nicht, daß er Paulus’ Glaubensbekenntnis einfach
übernimmt, vgl. oben Anm. 315. – Zum Komplex Athen versus Jerusalem vgl. auch: Leo
Strauss: Jerusalem and Athens. Some Preliminary Reflections, in: ders.: Studies in Platonic
Political Philosophy, Chicago 1983, 147–173.
317 Vgl. Lyotard: Heidegger (Anm. 24), 91 f. u. 108.
144 Positionsbestimmungen
die Sterblichen im Abgrund nicht, wie Heidegger es deutet, vom „Sein“ „an-
gegangen“ werden (vgl. WD 271 [250]), sondern daß sie in diesem vielmehr
dem Zorne Gottes und einer „Gewalt“ ausgesetzt sind, die „Entreißt das Herz
uns“ (v. 216). Daß Hölderlin tatsächlich den Affekt des göttlichen Zorns als
für eine Wende essentiell hervorhebt,318 klingt bereits in der ersten Strophe
von Patmos an, die beklagt, daß „furchtlos gehen / Die Söhne der Alpen über
den Abgrund weg / Auf leichtgebaueten Brüken“ (v. 6–8). Dieser den Ab-
grund übergehenden Furchtlosigkeit setzt dann das ich der Hymne seine im
Zorne sichtbar gewordene Erfahrung entgegen, die insofern eine aus dem Ab-
grund kommende Wende ist, als das ich erkennt, nicht mehr etwas seyn zu
können, sondern vielmehr lernen zu müssen: Denn nicht das Sein, sondern
dieser Imperativ, der einer bestimmten Geschichte angehört und darum auch
eine bestimmte Geschichte zum Hören bringt, ist das wendende Moment.
Diese Differenzierung zeigt, daß die spezifische Provenienz des Abgrun-
des das in ihm zu Lernende determiniert; – nicht zuletzt deshalb nennt Höl-
derlin den Abgrund den „allesmerkenden“.319 Dieses gilt es primär zu lernen,
um dem Sachverhalt Rechnung tragen zu können, daß sich mit dem Abgrund
sowohl bei Hölderlin als auch bei Heidegger und erst recht bei Celan jeweils
etwas anderes verbindet, wenn auch allen drei gemeinsam ist, daß sie vom
Abgrund her und auf den Abgrund zu ihr Denken und Schreiben orientie-
ren, weil, wenn überhaupt, nur von ihm her das noch Mögliche – möglich sein
könnte.
Der zu ermöglichenden Möglichkeit wegen denkt Heidegger mit Hölder-
lin beim Abgrund an das Wiederkommen der aus dem Tempel entflohenen
Götter. Und eben der Ankunft der entflohenen Götter wegen hält Heidegger
am griechisch geprägten Tempel fest, wenn diese Mitte dafür auch 1946 in die
‚unsichtbare‘ Sprache ‚verlegt‘ werden muß, damit dem abgründigen Sein wei-
terhin ein Aufenthaltsort zugedacht werden kann.
Aber eben dieser zu ermöglichenden Möglichkeit wegen gedenkt Celan –
und das ist als eine Entgegensetzung zu verstehen – im Gedicht Engführung
der geflohenen Hände, die „überm / Kugelfang“ (I, 203) harren. Denn die auf
diesen Abgrund weisenden Hände sind nur insofern noch die Eröffnung ei-
ner künftigen Möglichkeit, als sie hinreichend Hölderlins Bild vom Abgrund
318 Auch der Entwurf Mnemosyne, der zu Beginn konstatiert „Schmerzlos sind wir“ und
dann mit dem Worten endet, „dem / Gleich fehlet die Trauer“, beklagt das Fehlen des Af-
fekts, der, sofern er ausbleibt, die Himmlischen unwillig macht, vgl. StA II, 195f. Vgl. auch
Jochen Schmidt: Der Begriff des Zorns in Hölderlins Spätwerk, in: HJb 15 (1967–68),
128–157.
319 Vgl. Hölderlin: Die Titanen, StA II, 219 und Heidegger WD, 271 [250]. Die letzten
Verse von Hölderlins Fragment, das im Homburger Folioheft unmittelbar an den ersten
Entwurf zu Patmos anschließt, lauten: „und der Vogel des Himmels ihm / Es anzeigt. Wun-
derbar / Im Zorne kommet er drauf“, StA II, 219, Hervorh. von mir.
Das Dastehen des Tempels bei Heidegger 145
präzisieren. Keine leichtgebaueten Brüken mehr über den Abgrund weg zu span-
nen, heißt für Celan nicht, daß die Sprache der Tempel ist, in dem sich das Sein
entbirgt, sondern daß die Sprache durch „tausend Finsternisse todbringende
Rede“ gehen mußte und daß sie „‚angereichert‘ von all dem“ darum der alles-
merkende Abgrund ist, an den heranzutreten ist.320 Weil die Sprache „inmitten
der Verluste“ „unverloren blieb“ (III, 185) schreibt Celan in der Engführung:
„Also / stehen noch Tempel. / […] Nichts, / nichts ist verloren“ (I, 204). Da-
mit ist zunächst einmal gesagt, daß derer mehrere noch stehen und also keiner
von ihnen in der Mitte steht beziehungsweise selbst eine solche wäre. Zum an-
deren verweisen diese Tempel, wie der Kontext durch das gebrochene „Ho-,
ho- / sianna“ (I, 203 f.) zu verstehen gibt, nicht auf den griechischen, sondern
auf den jüdischen Ursprung. Celans Tempel stehen also für eine Sprache in der
Diaspora, deren Heimat schon seit Jahrtausenden die Buchstaben der Heili-
gen Schrift sind. Bei Celan aber hat dieser Bezug eine paradoxe Konsequenz –
und zwar eine, die es nicht mehr erlaubt die Dichtung weiterhin als stiftenden
Grund eines geschichtlichen Daseins zu denken –: die Tempel stehen für eine
dichterische Sprache, die sich selbst notwendigerweise zerstreut, weil sie nur
so das noch Mögliche offen halten kann: Etwa die „Gespräche […] der Grund-
wasserspuren“ (I, 204), auf die das Gedicht Engführung zuläuft.
In seinem Brief vom 22. November 1958 an die neuen Verleger Gottfried
und Brigitte Bermann Fischer nimmt Celan, nur wenige Wochen nachdem er
den Band Sprachgitter mit dem Zyklus Engführung für den Drucksatz fertig-
stellte, Hölderlins Bild aus der ersten Strophe der Patmos-Hymne auf: „[Das
Gedicht] ist kein Brückenschlagen, gewiß; aber es versucht, indem es an die
Abgründe herantritt, das hier noch Mögliche – möglich sein zu lassen. Es ver-
sucht es mit dem ihm von der durch die Zeit gegangenen Sprache an die Hand
gegebenen Mitteln, unter dem besonderen Neigungswinkel seiner (also mei-
ner) Existenz. Es versucht es, inmitten der Beschönigungen und Bemänte-
lungen, auf das ungeschminkteste. Es spricht ins Offene, dorthin, wo Spra-
che auch zur Begegnung führen kann.“321
Dem Gedicht sind durch die Sprache Mittel an die Hand gegeben. Es ist
gleichsam selbst eine Hand, die sich um einer Begegnung willen ins Offene
streckt. Doch die Ermöglichung der Begegnung erfolgt nicht dadurch, daß
Brücken geschlagen werden. Es ist vielmehr so, daß, um an die Abgründe her-
antreten zu können, jene durch das Gedicht erst einmal niedergerissen wer-
den müssen, damit auf das ungeschminkteste der besondere Neigungswinkel
sichtbar werden kann, der den Druck anzeigt, welcher die Existenz des Ge-
dichts belastet. Wenn Gedichte, wie Celan an anderer Stelle schreibt, prinzi-
piell wie ein „Händedruck“322 sind, dann nicht nur darum, weil sie der An-
fang einer Begegnung sein können, sondern auch deshalb, weil auf dem Ge-
dicht der Druck eines Datums lastet. Daß der Druck beispielsweise auch aus
einer einst abrupt abgebrochenen Begegnung resultiert, dürfte einer der
Gründe dafür sein, daß Celan in seinem Brief für einen kurzen Moment die
Existenz des Gedichts mit seiner eigenen – „(also meiner)“ – überblendet.
In diesem Zusammenhang ist an ein einschneidendes Ereignis in der Bio-
graphie Celans zu erinnern, das er gegenüber Eva-Lisa Lennartsson schilder-
te, als sie 1960 zusammen mit Nelly Sachs Celan in Paris und Zürich traf. Am
7. Juli 1941 begannen nach dem Einmarsch des rumänischen Militärs SS-
Truppen ihre mörderischen Handlungen gegen die in Czernowitz lebenden
Juden. Dabei kamen mehr als 3.000 Menschen zu Tode. Der Große Tempel
der Stadt wurde niedergebrannt.323 Knapp ein Jahr später, im Juni 1942, wur-
den Juden nach Transnistrien, zum südlichen Flußlauf des Bug, verschleppt.
Das Lager dort hieß Cariera de Piatr7a (dt. Steinbruch). Unter den Gefange-
nen waren auch Celans Eltern. Paul Celan selbst konnte sich rechtzeitig ver-
stecken und entkam so den Häschern. Nach der Verhaftung, so gibt Lenn-
artsson Celans Bericht wieder, ging er zum Lager am südlichen Bug, um sei-
ne Eltern zu suchen. Dort habe er „seine Hand durch den Stacheldrahtzaun
hindurchgestreckt und seines Vaters Hand ergriffen. Ein Wächter hat es ge-
sehen und Celan kräftig in die Hand gebissen [Celan]: ‚Und ich ließ Papis
Hand los – denk dir, ich ließ die Hand los und lief davon.‘“324 Mag Celans
Erzählung faktisch so auch nicht stattgefunden haben,325 so sagt sie gleich-
wohl eindringlich was Fakt ist. Denn Celans Worte setzen mit diesen ‚geflo-
henen Händen‘ eindringlich die ‚Schuld‘ eines Überlebenden ins Bild, der sei-
nen dann getöteten Eltern nicht helfen konnte. Diese ge- und nicht ent-flo-
henen Hände konnten sich zwar der Verhaftung entziehen, doch der Fluch
der Flucht verfolgt sie seitdem. Oben (S. 49 f.) wurde gezeigt, warum Celan
in einer Vorstufe zur Engführung diese Hände darum auch die hinbefohlenen
nennt. Sie unterstehen dem Imperativ, „zum Aussatz“ zurückgehen zu müs-
sen.326 Sie sind auf den Ort verwiesen, an dem die Sprache aus-setzt und der
Satz vor dem Aus steht. Denn zum Fluch der Flucht kommt das Dilemma,
daß die Flucht wohl Bedingung dafür ist, daß diese überlebenden Hände
schreiben können, doch das Schreiben erweist sich selbst abermals als eine
‚Flucht‘, weil es das Geschehene nur insofern mitzuteilen vermag, als zugleich
322 Celans Brief an Hans Bender vom 18. Mai 1960, III, 177.
323 Vgl. Felstiner: Biographie (Anm. 7), 36 und Celan als Übersetzer (Anm. 23), 48.
324 Eva-Lisa Lennartsson: Nelly Sachs och Hennes Vänner, in: Fenix 2, Nr. 3 (Stockholm
1984), 87, hier zit. n. Lyon: Celans „Krise“ (Anm. 298), 186.
325 Felstiner schätzt Celans Bericht als unwahrscheinlich ein, weil dieser nicht mit an-
327 Ebd.
328 Vgl. Celan: TCA Niemandsrose, 6 f.
329 Diese Aussage steht durchaus nicht im Widerspruch zu der Tatsache, daß gerade die
Shoah das Identität stiftende Moment für den Staat Israel wurde. Dies wurde allerdings nur
dadurch möglich, daß, wie Saul Friedländer rekapituliert, nach der Staatsgründung „ein of-
fizielles Gedenken an die Shoah auf den Plan“ trat, das die Vernichtung zugleich mit Erlö-
sung (WeGeula), Wiedergeburt (WeTekuma) und / oder Heldentum (WeGewura) ver-
knüpfte, vgl. ders.: Die Shoah als Element in der Konstruktion israelischer Erinnerung, in:
Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart (1987), H. 2, 10–22, hier 11.
148 Positionsbestimmungen
Celan schreibt und veröffentlicht die Engführung in der Zeit zwischen seinen
Preisreden in Bremen (26. Januar 1958) und Darmstadt (22. Oktober 1960).
Insbesondere in diesen öffentlichen Ansprachen gelingen Celan Formulie-
rungen, welche die Herkunft und den Werdegang seines Dichtens erläutern
und zugleich die Aporien seiner Poetologie des Datums seinen interessierten
Lesern zu bedenken geben. Daß sich Celan anläßlich dieser Okkasionen eine
poetologische Position erschreibt, die sich von Heideggers Denken unter-
scheidet, eben weil seinen Gedichten Daten eingeschrieben sind, gegen die
Heidegger sein Denken immunisiert, ist darzulegen versucht worden.330 Ver-
nachlässigt wird in diesem Zusammenhang aber zumeist, daß Celan nicht nur
seit 1953 die Schriften Heideggers intensiv studiert,331 sondern daß sich die-
se Auseinandersetzung bereits 1954 in einzelnen Gedichten niederschlägt, al-
so zu einem Zeitpunkt, als Celan seinen poetologischen Ort unter anderem
mit Heidegger auszuarbeiten beginnt. Dies bleibt zu beachten, um sehen zu
können, daß für Celan durchaus nicht im Vordergrund stand, wie das heute
330 Genannt seien u. a.: Mark M. Anderson: The ‚impossibility of poetry‘: Celan and Hei-
degger in France, in: New German Critique 53 (1991), 3–18; Felstiner: Biographie (Anm.
7); Véronique M. Fóti: Heidegger and the Poets, Atlantic Highlands, Humanties Press 1992,
insb. 78–110; Christopher Fynsk: The Realities at Stake in a Poem. Celan’s Bremen and
Darmstadt Addresses, in: Fioretos: Wordtraces (Anm. 129), 159–184; Gellhaus: Datum des
Gedichts (Anm. 18); Christoph Jamme: „Unserer Daten eingedenk“. Paul Celans „Der Me-
ridian“ in der Diskussion, in: Annemarie Gethmann-Siefert (Hg.): Philosophie und Poesie,
Bd. 2, Stuttgart/Bad Canstatt 1988, 281–308; Philippe Lacoue-Labarthe: Dichtung als Er-
fahrung (La poésie comme expérience, Paris 1986), Stuttgart 1991; Anja Lemke: Dichtung als
Zäsur – Zum Zusammenhang von Sprache, Tod und Geschichte in Celans Büchnerpreisrede
und Heideggers Hölderlin-Deutung, in: dies. / Martin Schierbaum (Hg.): „In die Höhe fal-
len“. Grenzgänge zwischen Literatur und Philosophie, Würzburg 2000, 233–255; Reinhard
Zbikowski: „schwimmende Hölderlintürme“. Paul Celans Gedicht „Tübingen, Jänner“ – dia-
phan, in: Jamme / Pöggeler (Hg.): „Der glühende Leertext“ (Anm. 124), 185–211; Krzysz-
tof Ziarek: Semiosis of Listening: The Other in Heidegger’s Writing on Hölderlin and Celan’s
„The Meridian“, in: Research in Phenomenology 24 (1994), 113–132.
331 Auf Heidegger wurde Celan vermutlich durch Ingeborg Bachmann in Wien auf-
merksam gemacht. Die im Nachlaß befindlichen Bücher lassen erkennen, daß Celan 1953
zunächst in Sein und Zeit, darauf in Holzwege – insbesondere den Kunstwerkaufsatz, Wozu
Dichter? und Der Spruch des Anaximander – und dann den 1947 publizierten Aufsatz Über
den Humanismus las. Ebenfalls seit 1953 kannte Celan Heideggers Erläuterungen zu Höl-
derlins Dichtung.
150 Etappen der Lektüre
332 Felstiner weist in seiner Biographie (Anm. 7) wiederholt darauf hin, wo und zu wel-
chem Zeitpunkt sich Celan mit Heidegger auseinandersetzt. Doch den Gedanken, daß sich
Celan in dem, was Heidegger entfaltet, auch wiederfindet, diskutiert er nicht.
Auftakt 151
A. AUFTAKT (1954)
Ende September, Anfang Oktober 1954 liest Celan die beiden je als Buch er-
schienenen Vorlesungen Heideggers Was heißt Denken? und Einführung in die
Metaphysik. Im Kontext dieser Lektüre schreibt er im südfranzösischen Mit-
telmeerort La Ciotat unter anderem das Gedicht Andenken (I, 121), das im
Band Von Schwelle zu Schwelle den Zyklus Mit wechselndem Schlüssel ab-
schließt. Ebenfalls im Zusammenhang dieses Studiums, von dem nicht nur
die Anstreichungen in seinem Exemplar der Einführung in die Metaphysik
zeugen, sondern auch ein eigens angelegtes Notizheft,333 schreibt Celan am
18. November 1954 einen Brief an Hans Bender, der sich mit poetologischen
Grundsatzfragen befaßt. Die Analyse dieser Texte erlaubt die Rekonstrukti-
on jener Ansatzpunkte von poetologischer Reichweite, die Celan in der Aus-
einandersetzung mit Heidegger beschäftigen. Wie also greift Celan Heideg-
gers in Was heißt Denken? entwickelte Differenzbestimmung zwischen dem
Dichten und Denken auf und wie führt er sie auch mit Blick auf Hölderlin
weiter? Erste Anworten hierauf gibt das Gedicht Andenken, in dem Celan auf
bemerkenswerte Weise Heidegger, Hölderlin und die differente Herkunft sei-
nes eigenen Dichtens miteinander verknüpft.
Heidegger fragt: Was heißt Denken? Die so betitelte Vorlesung entfaltet
und transformiert diese Frage dahingehend, daß der Akzent auf doppelsinni-
ge Weise auf das Verbum fällt. „Was uns denken heißt, gibt uns zu denken“
(WhD, 85). Gesucht ist also nicht eine Definition des Denkens, sondern ge-
fragt wird nach jener fordernden Macht, die zum Denken anhält. Nur inso-
fern man auf diesen Anfang des Denkens achthabe, könne das sichtbar wer-
den, was das zu-Bedenkende sei, ohne das kein Denken stattfinden könne.
Das gilt umso mehr, als sich das zu-Bedenkende, das Heidegger zu ermitteln
sucht, nur ex negativo zu erkennen gibt. Denn jenes, was zum Denken heißt
und was also das zu-Bedenkende ist, entzieht sich dem Verstehen. Das „Si-
chentziehen ist“ nach Heidegger aber „nicht nichts“ (WhD, 5). Heidegger
bringt es auf die knappe Formel: „Entzug ist Ereignis“ (ebd.). Dieser Einsicht
folgt nach Heidegger auch die Dichtung Hölderlins. Sie selbst ist ein Ereignis,
das den Entzug dessen wahrnehmen läßt, was zu bedenken sei. Anhand der
Hymne Mnemosyne versucht Heidegger dies darzulegen. Der Mensch ist „aller-
erst Mensch“, wenn er dem „Sichentziehende[n]“ folgt und dadurch ein „Zei-
gender“ und mithin selbst zum Zeichen wird, welches den Entzug vernehmen
läßt (vgl. WhD, 6). So jedenfalls deutet Heidegger Hölderlins ersten Vers des
Hymnenentwurfs: „Ein Zeichen sind wir, deutungslos“ (StA II, 195). An die-
ser Stelle muß allerdings auch festgehalten werden, daß Heidegger der „meta-
hermeneutischen“334 Dimension von Hölderlins Vers ausweicht und das Deu-
tenkönnen gerade dieser Zeichen selbst nicht zur Sache seines Denkens
macht. Worauf er vielmehr abhebt, ist der bei Hölderlin implizierte Zusam-
menhang zwischen Dichten und Denken: Denn beider gemeinsamer Grund
ist das Gedächtnis. Um dies plausibel zu machen, geht Heidegger auf den Ti-
tel der Hymne ein. Mnemosyne ist die Mutter der Musen. Sie, die Heidegger
mit „die Gedächtnis“ übersetzt (WhD, 6), gebiert neben Spiel, Tanz und Musik
die Dichtung. Daß Mnemosyne „die Gedächtnis“ ist, deutet aber für Heideg-
ger nicht nur auf ihre Fähigkeit, sich an Vergangenes erinnern zu können, son-
dern auch, daß das Gedächtnis „an das Gedachte“ denkt (WhD, 7). „Gedächt-
nis“ versammelt das Andenken, damit das bewahrt sei, „was überall im voraus
schon bedacht sein möchte“ (ebd.). Darum ist der „Quellgrund des Dichtens“
nicht irgendein „Vergangenes in der Vorstellung“ (ebd.), sondern vielmehr der
Grund des Denkens. Das Andenken hat diesen als solchen zu entdecken und
zu bewahren. Für die Dichtung folgt nach Heidegger daraus: Geht sie dahin
zurück, aus dem sie „entspringt“ (ebd.), dann wird sie das Andenken selbst als
das Grundlegende bedenken müssen. Was dann wiederum die Dichtung ge-
biert, nämlich das Gedichtete, ist die „An-dacht des Andenkens“ (ebd.).
Heideggers Unterscheidung zwischen den bloßen „Vorstellungen“, die Ver-
gangenes erinnern, und dem „Wesende[n]“ und „Gewesende[n]“ (ebd.), das
durch die Gedächtnisleistung der Kunst eigentlich zu bedenken wäre, schränkt
das, was die Dichtung sei und tun solle, auf das ein, was insbesondere Aufga-
be des Denkens ist. Heidegger selbst scheint diese von ihm veranschlagte
Übereinstimmung als zu weitgehend empfunden zu haben. So ermahnt er
(sich): „Wenn wir Hölderlins Wort eigens in den Bereich des Denkens einho-
len, dann müssen wir uns freilich hüten, das, was Hölderlin dichterisch sagt,
unbedacht mit dem gleichzusetzen, was wir unter dem Namen ‚das Bedenk-
334 Diesen Begriff wählt Peter Szondi, um das Gebiet der literarischen Hermeneutik
verlassen und aus einer Metahermeneutik heraus ein Verständnis ihrer selbst gewinnen zu
können, vgl. ders.: Einführung in die literarische Hermeneutik, Studienausgabe der Vorle-
sungen, Bd. 5, Frankfurt a. M. 1975, 408.
Auftakt 153
lichste‘ zu denken uns anschicken. Das dichtend Gesagte und das denkend
Gesagte sind niemals das Gleiche; aber sie sind zuweilen das Selbe, dann näm-
lich, wenn die Kluft zwischen Dichten und Denken rein und entschieden
klafft. Dies kann geschehen, wenn das Dichten ein hohes und das Denken ein
tiefes ist“ (WhD, 8 f.). Heideggers Ansatz, daß Dichten und Denken ge-
meinsam das Andenken dessen bewahren, was vor allem „im voraus schon be-
dacht sein möchte“ (WhD, 7), und daß beide gleichwohl nicht das „Gleiche“
sagen, sondern nur dann zuweilen das Selbe sind, wenn die „Kluft“ rein und
entschieden klafft, greift Celan in einem Gedicht vom Oktober 1954 auf, das
auf seine Weise selbst die Implikationen des Andenkens offenlegt (I, 121):
ANDENKEN
Schon dieses noch dem Frühwerk zuzurechnende Gedicht zeichnet aus, was
Celans Dichtung späterhin immer unzugänglicher erscheinen läßt: Was hier
noch den Charakter „surrealer Bildkompositionen“335 zu haben scheint, bil-
det bereits ein komprimiertes und artifizielles Geflecht von internen und ex-
ternen Referenzen, denen wenigstens ansatzweise nachzugehen ist, will man
erahnen, was in diesem Gedicht zusammenkommt. Darum werden im folgen-
den insbesondere die zahlreichen Allusionen auf Heidegger und Hölderlin
vorgestellt werden, die verdeutlichen, vor welche Hintergrund sich dann Ce-
lans weitere Entwicklung entfaltet. Zu beachten ist schon an diesem Gedicht,
daß es das Andenken an das Mandelauge des Toten (v. 3), dessen Weißhaar zur
Wolke geworden ist (v. 9–11), dadurch praktiziert, daß es zugleich das Anden-
ken als solches analysiert und hieraus seine Schlüsse zieht. Celan folgt jeden-
falls, so die näher zu beleuchtende Hypothese, Heideggers Forderung, wonach
gilt: „Alles Gedichtete entspringt aus der An-dacht des Andenkens“ (WhD, 7).
Diese An-dacht des Andenkens wird dadurch strukturiert, daß Celan Hei-
deggers Überlegung aufgreift, wonach das Denken tief und das Dichten hoch
seien (vgl. WhD, 8 f.). Um dieses Verhältnis zu erläutern, zitiert Heidegger
das nur zwei Strophen kurze Lied Sokrates und Alcibiades336 von Hölderlin,
worin Alkibiades den Sokrates fragt, warum er denn dem „Jünglinge“ huldigt:
„kennest du Größers nicht?“ (v. 2). Darauf setzt in der zweiten Strophe So-
krates seine Antwort mit den Worten an: „Wer das Tiefste gedacht, liebt das
Lebendigste“ (v. 5). Diese Zeile ist für Heidegger von besonderem Interesse
und zwar speziell die „nächste Nähe der beiden Verben ‚gedacht‘ und ‚liebt‘“,
welche „die Mitte dieses Verses“ bilden (WhD, 9). Denn diese Nähe verdeut-
licht, daß das „Mögen“ „im Denken“ ruht (vgl. ebd.). Was damit aber über
das Denken und das Mögen gesagt sei, das, so Heidegger, „ermessen wir erst,
wenn wir das Denken vermögen“ (ebd.). Und dieses wiederum „lernen wir
nie durch eine Abhandlung“, sondern, dem Schwimmen vergleichbar, nur
durch den „Sprung in den Strom“ (ebd.).
Diese „nächste Nähe“, die Heidegger mit Hölderlin zwischen den Verben
„‚gedacht‘ und ‚liebt‘“ hervorhebt und auch die Schlußfolgerung, daß jedem
Denken notwendigerweise ein „Sprung“ vorausgeht, bekommen bei Celan ei-
ne eigene Gestalt. In je einer Strophe schroff gegenübergestellt sind das Herz
(v. 1), das zu lieben vermag, und die Stirne (v. 7), welche sich auf das Denken
verstehen sollte. Mit dieser Zueinanderstellung scheint Celan Heideggers Bild
von der „Kluft“ in sein Gedicht übersetzt zu haben, welche zwischen dem ho-
hen Dichten und dem tiefen Denken klafft. Danach sind das Hohe und das
Tiefe gerade dann „das Selbe“, wenn man beide als eine Klippe versteht. Was
aber sagt dies über den von Heidegger anvisierten Sprung, der das Denken er-
möglichen soll? Hat man sich den Sprung ins Denken als den Sprung von der
Klippe vorzustellen, deren höchster Punkt die Dichtung ist? Und ist die Stir-
ne gerade deshalb gescheitert, weil sie diesen Sprung versuchte und statt im
Strom oder Meer im Grenzbereich zwischen Land und Meer gestrandet ist,
wie es ja auch vom Schiff heißt, daß es scheitert, wenn es an Fels oder Klippe
zerschellt?337 Wie also ist das Verhältnis zwischen Herz und Stirne im Gedicht
Celans bestimmt? Und was sagt hierüber die Apposition Klippenschwester,
welche die Stirne näher kennzeichnet? Sind das Herz, das sich von Feigen zu
nähren habe, und die Stirn, von der als Gescheiterter keinerlei Wachstum oder
336 Vgl. WhD, 9 und StA I, 260, Hölderlin bezieht sich auf die Lobrede des Alkibiades
auf Sokrates in Platons Symposion, 215 a–222 b.
337 Zum Motiv des Schiffbruchs vgl. nicht nur oben Hyperions Fahrt nach Athen
(S. 74), sondern auch Celans Interesse an Arthur Rimbauds Bateau ivre, an Mandel’štams
Bild von der Dichtung als Flaschenpost, das dieser in dem Essay Über den Gesprächspart-
ner (in: ders.: Die ägyptische Briefmarke, Frankfurt a. M. 1965, 140–149) anführt und an
Giuseppe Ungarettis Allegria di naufragi (dt. Freude der Schiffbrüche), vgl. Celan als Über-
setzer (Anm. 23), 255 f.
Auftakt 155
Kraft zu erwarten ist, Geschwister, die zugleich verwandt und doch hart von
einander unterschieden sind? Sind sie gar in dem Sinne Geschwister, wie sich
auch Hyperion und Diotima zu solchen bekannten (s. o. S. 82)? Immerhin
gibt es neben den offensichtlichen Allusionen zu Hölderlins Hymnen An-
denken und Mnemosyne auch eine auf Hyperions Schiksaalslied, auf das oh-
nehin der Titel des Gedichtbandes Von Schwelle zu Schwelle verweist.
Am „Ufer“ sitzend, sich von allen verlassen glaubend, blickt Hyperion
„still, von den Schmerzen des Abschieds müd, in die See, von einer Stunde
zur andern“ (Hyp II, 94). In diesem Moment der Besinnung fällt ihm das
Lied ein, das er „einst in glüklicher unverständiger Jugend“ Adamas „nachge-
sprochen“ hatte (ebd.). Dieses Schiksaalslied ist ebenfalls von einem ‚schrof-
fen‘ Gegensatz bestimmt. Während „droben im Licht“ „Schiksaallos“ die
Himmlischen wandeln (ebd.), ist das Schicksal für die Erdenbürger weniger
weich gebettet. Entsprechend heißt es in der letzten Strophe (Hyp II, 95):
Doch uns ist gegeben,
Auf keiner Stätte zu ruhn,
Es schwinden, es fallen
Die leidenden Menschen
Blindlings von einer
Stunde zur andern,
Wie Wasser von Klippe
Zu Klippe geworfen,
Jahr lang ins Ungewisse hinab.
Hyperion ist von Schmerzen über den Abschied erfüllt. Doch im rück-
blickenden „süßen Angedenken“338 versteht er nicht nur die Bedeutung des
alten Lieds, sondern mit ihm erkennt er auch den fallenden Verlauf des eige-
nes Schicksals. Waren in seiner Jugend einst Gefühl und Verstand (glücklich
und unverständig) zweierlei, so ist Hyperion durch den fortwährenden Fall
von Klippe / Zu Klippe schließlich dorthin gelangt, wo Herz und Stirn gleich-
sam Klippengeschwister werden konnten. Im „süßen Angedenken“ ‚fallen‘
beide zusammen. Der blind leidende Mensch wird just dann einsichtig, wenn
dieser durch das Schicksal derart geworfen wird, daß er in diesem Scheitern
sich selbst und das Fallgesetz der Zeit zu erkennen beginnt. Für diesen Sinn-
erwerb durch das Leiden hindurch, und sei es auch nur die Gewißheit des
Ungewissen, steht jedenfalls Hyperion.
Um nun aber sehen zu können, was sich im Gedicht Celans schroff auftut
und ob die Opposition zwischen Herz und Stirn kontradiktorisch zu verste-
hen sei, wonach sich die unterschiedlichen Vermögen, für die Herz und Stirn
halb metaphorisch, halb metonymisch stehen, gegenseitig ausschließen, oder
aber ob es wie bei Hyperion zu einem Zusammenwirken von Gefühl und Ver-
stand kommt, bedarf es zunächst einmal der Klärung, was Celans Gedicht
vom Herzen sagt. In der erste Strophe sind nämlich zwei miteinander ver-
schränkte Verkehrungen zu berücksichtigen. Denn nicht das Herz gedenkt
einer vergangenen Zeit, sondern die Stunde besinnt sich im Herzen (darin,
v. 2); und nicht das innere Auge der Erinnerung sieht den Toten, sondern das
Mandelauge desselben ist Gegenstand der Besinnung. Die Stunde ist also
nicht die gegebene Anschauungsform für das kontemplative Herz, sondern
sie ist selbst das Subjekt, dem das Herz Grund und Ort des Andenkens ist.
Die sich besinnende Stunde ist genaugenommen die Stunde, welche den Zeit-
lauf unterbricht. In ihr kommt die Zeit zum Stehen.339 So wird denn auch
keine Bewegung von „Klippe / Zu Klippe“ vorgeführt, sondern das Anden-
ken hat seinen Ort dort, wo eine Klippe schroff herausragt und die Stirne ge-
scheitert ist.
Weil die Stunde sich im Herzen stehend besinnt, dürfte sie es sein, die das
Herz zweifach auffordert: sei feigengenährt. Soll sich aber das Herz deshalb
von Feigen nähren, damit es sich dem Mandelauge des Toten besser nähern
kann? Durch die Evokation von Feige und Mandel bekommt das Andenken
jedenfalls einen Gehalt, dessen Signifikanz durch den wiederholten Imperativ
unterstrichen ist. Denn eine Affinität zwischen Feige und Mandel ergibt sich
nicht nur unmittelbar daraus, daß beide Bäume rund um das Mittelmeer
wachsen, sondern es sind auch die sexuellen Konnotationen, die beide Früch-
te haben und die vermuten lassen, daß das Herz fürwahr feigengenährt sein
muß, damit es an das Mandelauge des Toten denken kann.
Schon bei Griechen und Römern ist die Feige Symbol der Fruchtbarkeit.
In vielen Variationen geht mit ihr eine laszive Bedeutung einher.340 In der jü-
dischen Tradition steht der Feigenbaum auch für Schutz (1. Könige 5, 5) und
die Feigenfrucht erinnert an die Väter (Hosea 9, 10). Insofern weist die Fei-
ge im doppelten Sinne auf das Geschlecht, dessen Urahnen (genus) das ihre
(sexus) nach unerlaubter Erkenntnis hinter dem Feigenblatt verborgen haben
(1. Mose 3, 7). Dem ließe sich noch die religiös-eschatologische Bedeutung
hinzufügen, welche die Feige für die Evangelisten hat, die in ihr das das Reich
Gottes ankündigende Zeichen (Mt 24, 32; Lk 21, 29–31) sehen. Bemerkens-
wert ist hier aber vornehmlich – denn auch in zwei anderen Gedichten Celans
‚steht‘ die Feige für ein Begehren von erotisch-körperlicher Gestalt341 – der
339 Vgl. auch die gemeinsame Etymologie von Stunde und stehen im germanischen
und Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, hg. von Hanns Bächtold-Stäublin, Ber-
lin/New York 1987, Bd. II, 1306.
341 Vgl. aus dem Jerusalem-Zyklus vom Oktober 1969 das Gedicht Es stand (III, 96),
welches das Sexuelle geradezu überdeterminiert: „ES STAND / der Feigensplitter auf deiner
Auftakt 157
gen Lehmann (Hg.): Kommentar zu Paul Celans „Die Niemandsrose“, Heidelberg 1997,
179. Das im Mai 1961 geschriebene Gedicht Mandorla bezieht sich kritisch auf das Gedicht
Andenken (I, 121). Es ist gleichermaßen ergänzend und entgegensetzend. Etwa dadurch,
158 Etappen der Lektüre
Feige und Mandel geben dem Gedicht also neben der sexuell-poetologischen
auch eine topographisch-historische Ausrichtung, die von der Mittelmeerkü-
ste Südfrankreichs nach Osten führt. Diese Blickrichtung wird erwidert und
bestätigt durch die folgenden Strophen. Sowohl der Anhauch des Meers (v. 5)
als auch der Vergleich der im spätsommerlichen Licht wohl golden glänzen-
den sömmernden Wolke mit dem Vlies (v. 10 f.), das an das Schwarze Meer und
genauer an die fruchtbare Anschwemmungsebene Kolchis erinnert, wo Jason
und die Argonauten das Goldene Vlies suchten, weisen dorthin. Damit ist al-
lerdings nicht ausgemacht, ob der hier erinnerte Tote, wie Israel Chalfen
meint, Celans gescheiterter Vater sei, der vom Aufbruch nach Zion (so deu-
tet Chalfen feigengenährt) träumte, aber Palästina nie hat sehen können,344
oder ob vielleicht schon dieses frühe Gedicht „Dem Andenken Ossip Man-
delstamms“ gilt,345 dessen Verbundenheit gerade mit der Kolchis überliefert
ist.346 Muß also unbeantwortet bleiben, wem das Andenken konkret gilt, so
daß es das Weißhaar betreffend von der „Judenlocke“ sagt, daß sie „nicht grau“ (v. 8) wird
und insbesondere dadurch, daß die Einheit des Kompositums Mandelauge aufgebrochen
wird: „Dein Aug steht der Mandel entgegen“ (v. 10). – Als „mandeläugig“ hat Celan in dem
Gedicht Vor einer Kerze (I, 110 f.) auch die Gestalt des Leuchters (vgl. zur Menorah, 2. Mo-
se 31–34) und die Flamme der Kerze bezeichnet, die zum Gedenken an die „Mutter“ auf-
gestellt ist. Auch in diesem zu Von Schwelle zu Schwelle gehörenden Gedicht spielt Celan
auf den Zusammenhang von Gedächtnis und Geschlecht an. Die Gestalt der Flamme, die
dem „klaffenden Golde“ entschwebt, ist mandeläugig wie „Mund und Geschlecht“ (I, 110).
344 Vgl. Israel Chalfen: Paul Celan. Eine Biographie seiner Jugend, Frankfurt a. M. 1978,
127 f.
345 Vgl. die Widmung des Bandes Die Niemandsrose (I, 207), dem zunächst als Motto
Verse Hölderlins aus der Hymne Der Rhein vorausgehen sollten: „… Denn / Wie du an-
fingst, wirst du bleiben, / So viel auch wirket die Not …“, vgl. Celan: TCA Niemandsrose,
4. Hölderlin und Osip Mandel’štam derart in einen Zusammenhang zu stellen, erwog
Celan im übrigen noch einmal für das Gedicht In eins (I, 270), vgl. die Vorarbeiten, die Ver-
se aus Mandel’štams Band Tristia und Hölderlins Patmos beinhalten, TCA Niemandsrose,
106 f. Celans Notiz, „Am Mandelstamm zackernd, aufs neue“ (Notizbuch 15, 50, zit. n.
Celan als Übersetzer (Anm. 23), 15), deutet nicht nur darauf hin, daß Celan seine Überset-
zungen des russischen Dichters mit den Pindar-Übertragungen Hölderlins vergleicht, son-
dern auch, daß er bei allen Unterschieden eine Nähe zwischen Hölderlin und Mandel’štam
vernimmt. Zum Zackern, vgl. unten S. 217.
346 Vgl. Osip Mandel’štam: Stichotworenija, Leningrad 1974, 193 f. und die Biographie
seiner Frau Nedezda Mandel’štam: Das Jahrhundert der Wölfe. Eine Autobiographie, aus dem
Russischen von Elisabeth Mahler, Frankfurt a. M. 1971, 289. Diese Hinweise sind entnom-
men von Christoph Perels: Zeitlose und Kolchis. Zur Entwicklung eines Motivkomplexes bei
Paul Celan, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift, N.F. 29 (1979), 47–74, hier 60.
Auf Perels’ Studie wird bezüglich Celans Die Silbe Schmerz zurückzukommen sein. Leider
berücksichtigt Perels in seinem Aufsatz Celans Gedicht Andenken nicht. Wie bedeutsam
für Celan die Kolchis war, belegt auch Ivanović in ihrer Studie Geheimnis der Begegnung
(Anm. 21), 103 f., die eine Celan bekannte Passage aus Leo Schestows Buch Auf Hiobs Waa-
ge. Über die Quellen der ewigen Wahrheiten, Berlin 1929, zitiert, in der Schestow zwischen
der Kolchis und den Ländern der Verheißung, sowie zwischen den Argonauten und dem
Auftakt 159
ist dennoch deutlich, daß die Bilder der ersten beiden Strophen durch die un-
scheinbare aber folgenschwere ‚Addition‘ der dritten Strophe – Und (v. 9) –
eine Wendung nehmen, die auch auf die Bedingungen des Gedenkenkönnens
zurückweist und mithin poetologisch bedeutsam ist. Denn in der dritten
Strophe konkretisiert sich das Andenken auf jenen, dessen Weißhaar die Wol-
ke vermehrt. Da nicht nur bei Celan, sondern in der sog. Postholocaustlitera-
tur überhaupt,347 die Wolke mit dem Rauch der in den Krematorien der Ver-
nichtungslager verbrannten Getöteten buchstäblich assoziiert ist und also die
Wolken Gräber In der Luft (I, 290) sind, ist dieses mit der Wolke verbundene
Wissen von ihr nicht zu subtrahieren.
Diese Assoziation von Rauch und Wolke zu einem ununterscheidbaren Ele-
ment und dazu noch der Vergleich der Wolken mit dem Vlies, das zunächst
einmal das Fell und dahingehend das ‚Weißhaar‘ des Schafs ist, findet sich be-
merkenswerter Weise bereits in den Vorstufen zu Mnemosyne bei Hölderlin.
Dort bestimmt der Zusammenhang von Rauch, Wolke und Schaf allerdings
ein seltsam friedsames Bild, das auf die – von Heidegger oft zitierte – Gnome
folgt:348
[…] Lang ist
Die Zeit, es ereignet sich aber
Das Wahre.
jüdischen Volk eine Parallele zieht. Interessanterweise nennt Schestow in diesem Zusam-
menhang auch Kolumbus, auf den Celan in Die Silbe Schmerz eingeht, vgl. unten Kap. Ce-
lan: Ausfahrt ohne Heimkehr. Die Silbe Schmerz.
347 Eindringlich und unzweideutig ist die Verbindung zwischen den Toten, denen das
Andenken gilt, und der Wolke am Himmel auch in den Gedichten Hüttenfenster und La
Contrescarpe, die das Gedicht Die Silbe Schmerz umgeben. In Hüttenfenster heißt es: „Das
Aug, dunkel: / als Hüttenfenster. Es sammelt, / was Welt war, Welt bleibt: den Wander- /
Osten, die / Schwebenden, die / Menschen-und-Juden, / das Volk-vom-Gewölk, magne-
tisch / ziehts, mit Herzfingern, an / dir, Erde:“, I, 278. In La Contrescarpe findet sich die
eingeschobene Erinnerung von Celans erstem kurzen Aufenthalt am 9. November 1938 in
Berlin bei seiner Reise nach Paris: „Über Krakau / bist du gekommen, am Anhalter / Bahn-
hof / floß deinen Blicken ein Rauch zu, / der war schon von morgen“, I, 283.
348 Erste und zweite Vorstufe von Mnemosyne, StA II, 193, v. 16–25, bzw. StA II, 195,
v. 15–24.
160 Etappen der Lektüre
351 Diese Verknüpfung zwischen der See, dem Gedächtnis und der Mutter der Musen
(Mnemosyne) scheint weit hergeholt und darum unbegründet. Hätte Hölderlin tatsächlich
auf diesen Zusammenhang anspielen wollen, warum schreibt er dann nicht giebt Gedächt-
niß ‚das Meer‘. Die Erklärung hierfür könnte sein, daß Hölderlin gerade an dieser Stelle die
Initialen von Susette Gontard (Gedächtniß – See) ins Gedächtnis seiner Schrift eintragen
wollte, vgl. oben Anm. 141.
352 Während Beißner Andenken auf das Frühjahr 1803 datiert, zieht die Ausgabe von
Knaupp auch 1804 als Entstehungsjahr in Betracht, vgl. StA II, 800 u. SWB III, 289.
162 Etappen der Lektüre
353 WD, 317 f. [293]; Heidegger zitiert Rilkes Verse: „In Wahrheit singen, ist ein andrer
Hauch. / Ein Hauch um nichts. Ein Wehn im Gott. Ein Wind.“, vgl. Rilke: Die Sonette an
Orpheus (1922), I. Teil, III. Gedicht, in: ders.: Gedichte (Anm. 292), 676.
Auftakt 163
Moment das Mandelauge des Toten aufblicken. Denn erst wenn dieses Auge
aus der Geschichte zurückblickt, ist das Herz so feigengenährt, daß die Stun-
de des Andenkens sich auf das besinnen kann, was für Celan das Zu-Beden-
kende ist. Celan folgt Heidegger wohl darin, daß er in seinem Gedicht eben-
falls die Herkunft der Dichtung aus dem Gedächtnis (Mnemosyne, la mère)
hervorhebt, um so das Andenken selbst bedenken zu können. Doch führt
dies schon in diesem frühen Gedicht weniger dazu, das Gedächtnis als „die
Versammlung des Denkens“ (WhD, 1, vgl. auch 7) zu begreifen, als vielmehr
die Herkunft des Gedächtnisses zu bedenken, das sich einer spezifischen To-
pographie verdankt.
Diese Topographie ist zum einen historisch bestimmt, zum anderen ist sie
aber auch eine Topo-graphie im poetologischen Sinne, weil die Schrift der
Dichtung der Ort des Gedenkens ist. Die Zusammengehörigkeit dieser bei-
den Aspekte, die beide das Andenken determinieren und die je ein Moment
der Differenz zu Heidegger ausmachen, hat Celan insbesondere an Hölder-
lins Hymne Andenken studieren können. Auch Hölderlins Text zeigt an, was
Celan schon um 1954 – in seiner vollen Tragweite aber erst in den folgenden
Jahren – als Grundproblem seiner Dichtung ausführt: Das Gedicht hat den
unumgänglichen, aber beunruhigenderweise ambivalenten Umschlag der Er-
innerung in ein Gedächtnis-Zeichen zu vollziehen, weil sonst weder das An-
denken eine Statt findet, noch überhaupt das Gedicht ein Gedicht und der
Gesang ein Gesang ist. Das Beunruhigende an diesem Umschlag aber ist, daß
die Zeichen des Gedichts Gefahr laufen, deutungslos zu werden. So entrückt
und verstellt das Gedicht gerade das, was durch es erinnert werden soll. Ce-
lans sömmernde Wolke ist darum nicht einfach die unmittelbare Erinnerung
an den Toten, sondern als diejenige Wolke, die sich zwischen Licht und Schat-
ten stellt, zeigt sie an, daß sie sich auch vor das stellt, dessen das Gedicht ein-
gedenk ist. Auf dieses Problem gehen neben Hölderlins Entwurf Mnemosyne,
der die Deutungslosigkeit und Verlorenheit der dichterischen Sprache in der
Fremde zu bedenken gibt (vgl. StA II, 195), auch die Schlußverse der Hym-
ne Andenken ein (StA II, 189):
56 […] Es nehmet aber
Und giebt Gedächtniß die See,
Und die Lieb’ auch heftet fleißig die Augen,
59 Was bleibet aber, stiften die Dichter.
Hölderlins Verse heben wie bereits oben angemerkt wurde (s. Anm. 141) her-
vor, daß die Erinnerung an die Lieb’, welche die Augen fleißig heftet, vom Ge-
dächtniß nicht nur verwandelt gegeben, sondern auch genommen wird. Dieses
Zugleich von Nehmen und Geben macht darauf aufmerksam, daß das Anden-
ken immer auch ein Vergessen ist, weil die Dichtung eine Transformation
vollziehen muß. Denn die Dichter können nur dann Bleibendes stiften, wenn
164 Etappen der Lektüre
sie an Stelle der Erinnerung Zeichen setzen, in denen sich das Gedächtnis neu
ausformt. Celan – der im übrigen in seiner Hölderlin-Ausgabe nicht den im-
mer wieder zitierten letzten Vers, sondern nur die Zeilen 56 f. am Rand an-
strich, die das Verhältnis zwischen Gedächtnis und See betreffen – hat in sei-
nem Gedicht, indem er neben dem Feigenbaum auch Hölderlins Bildfeld von
Meer, Küste und Wind und die Differenzierung von Herz und Stirn354 auf-
greift, das visualisiert, was auch Hölderlin in seiner Hymne als zentral für den
widersprüchlichen Prozeß des Andenkens herausstellt. So ist die auffällige
Gemeinsamkeit beider Texte, daß sie jeweils eine Küstenlandschaft skizzie-
ren. Denn dieser Grenzbereich gibt Wesentliches über die Künste und die
Struktur des Andenkens zu erkennen. Insofern werden in den Bildern, die
insbesondere bei Hölderlin sehr präzise auf die Lokalitäten von Bordeaux und
den nördlich gelegenen Lauf der Garonne eingehen, auch die Prämissen und
Konsequenzen des Andenkens überhaupt vorgestellt. So ist die Klippe der
Ort des Andenkens, weil das Andenken nur dann ‚entspringt‘, wenn die Er-
innerung auf einen herausragenden Widerstand trifft, der sich im Gedächtnis
als pars pro toto einprägt. Genau in diesem pars pro toto besteht aber auch
das strukturelle Vergessen, das mit dem Andenken einhergeht. Darum muß
dieser Tendenz, daß sich etwas als das Ganze ausgibt, dadurch entgegenge-
wirkt werden, daß sie als solche vorgeführt und reflektiert wird. Hölderlins
Hymne beginnt (StA II, 188):
354 Vgl. die Entgegensetzung in der Mitte von Hölderlins Hymne: hier die „sterblichen
355 Vgl. den Anfang des Entwurfs der Hymne Mnemosyne: „Ein Zeichen sind wir, deu-
tungslos / Schmerzlos sind wir und haben fast / Die Sprache in der Fremde verloren“, StA
II, 195. – Zum entlaubten Mast vgl. oben auf S. 74 auch die „nakten Stämme“, die Hype-
rion in Athen sieht.
166 Etappen der Lektüre
DIE FELDER
Pappel und Finger ragen auf. Doch nicht jene steht am Rain zwischen den Fel-
dern und nicht dieser bemerkt den Saum des Gedankens, sondern es ist gera-
de umgekehrt. Diese Überkreuzung der ‚Bildfelder‘ lenkt die Aufmerksam-
keit auf das, was zwischen ihnen passiert. Dazwischen, das ist der Rain selbst,
welcher den Grenzstreifen zwischen zwei Feldern bildet, und in gewisser
Weise auch der Saum, an dem als Naht oder Randbereich etwas umgeschlagen
ist oder endet. Steht die Pappel also darum am Saum, weil der Gedanke dort
in das Andenken umschlägt beziehungsweise dieses in jenen? Pappel und Fin-
ger ragen jedenfalls wie Schwellen an einer Grenze auf. Darin sind sie mit
Hölderlins Eiche und Silberpappel vergleichbar.
Mit gehörigen Abstand zu Rain und Saum (Weit schon davor) kommt das
gefurchte Feld und damit die Arbeit des Landmanns zum Stehen, der eben-
falls seinen Boden wendet und umschlägt. Warum aber zögert die Furche?
Droht am Ende des Feldes – und der Tageszeit (Abend) – eine Gefahr? Allein
die vom Wind getragene Wolke zieht weiter. Sie zieht gleichsam statt der Fur-
che über die Begrenzung zwischen den Feldern hinaus. Das legt das umge-
kehrte Bild nahe, wonach die Wolke dann selbst vom aufragenden Finger ‚ge-
furcht‘ wird, wenn sie über die am Saum stehende Pappel hinwegzieht.
Dort, wo das Feld nicht ist und wo also die Furche noch nicht gezogen
wurde, dort ragen Pappel und Finger auf, um schließlich selbst in einer ande-
ren Sphäre eine Spur zu hinterlassen. Dort also, wo der Gedanke nicht ist, be-
ziehungsweise dort, wo er seine eigene Begrenzung denkt, am Saum – der
auch eine Last ist356 – wird das für einen Moment festgehalten, was sonst ein-
fach weiterzieht. Damit wird der Rain zwischen den Feldern zum Kreuz-
punkt, an dem die aufragende Vertikale (Pappel, Finger) mit der horizontal zie-
henden Wolke aufeinandertrifft. Die Pappel, die, wie dann in den beiden
Schlußzeilen deutlich gesagt wird, die Aufmerksamkeit an sich bindet – „Im-
mer dies Aug, dessen Blick / die eine, die Pappel umspinnt.“ (I, 120) –, über-
trägt auf der Grenze zwischen den Feldern stehend etwas: Überträgt sie den
Gedanken oder gar das Andenken? Die Wolke jedenfalls zieht über den Rand
des Gedichts Die Felder zum nächsten Gedicht (Andenken) weiter und zeigt
sich dort als sömmernde Wolke (I, 121).
Das nachfolgende Gedicht Andenken ist durch die Kollision zwischen dem
Anhauch des Meers und der Klippe gekennzeichnet. Dieses Aufeinandertref-
fen von amorpher Wolke und Gestalt erzwingendem vertikalen Gegenstand
(Finger, Pappel beziehungsweise schroffe Klippe) weist auf eine Konstellation,
die auch für den Schluß von Hölderlins Hymne bestimmend ist (StA II, 189):
Nun aber sind zu Indiern
50 Die Männer gegangen,
Dort an der luftigen Spiz’
An Traubenbergen, wo herab
Die Dordogne kommt,
Und zusammen mit der prächt’gen
55 Garonne meerbreit
Ausgehet der Strom. Es nehmet aber
Und giebt Gedächtnis die See,
Und die Lieb’ auch heftet fleißig die Augen,
Was bleibet aber, stiften die Dichter.
Erneut ist von den Schiffern die Rede, den Männern der Tat, die wie Kolum-
bus nach Indien aufbrachen. Genaugenommen aber geht es in der letzten
Strophe um den Ort, von dem sie ihre Reise ins Ungewisse begonnen haben.
Damit schlägt die Hymne einen Bogen zurück zum Anfang. Beidemal ist das
gezeichnete Bild durch eine Kreuzung der Horizontalen durch die Vertikale
strukturiert. Während der Nordost auf das scharfe Ufer mit seinen Bäumen
trifft, die diese Bewegung auffangen, sind es nun die in die Ferne gehenden
Männer, die an der luftigen Spiz’ aufbrechen. Die Gegenbewegung zum Gehen
betonend, kommt an dieser Spitze die Dordogne herab, um dann mit der
prächt’gen Garonne meerbreit auszugehen. Das von oben kommende und in
die Breite gehende Wasser der Flüsse korrespondiert dann in den Schlußver-
sen mit dem Geben und Nehmen der See. Das Gehen der Männer ist insofern
auch als ein Nehmen und also als ein Vergessen dessen reflektiert, was an der
luftigen Spitz’ herunterkommt.
Ist diese Spitze auch nicht identisch mit dem scharfen Ufer (v. 8), das Eiche
und Silberpappel überragen,357 so wird doch durch die semantische Anknüp-
fung (scharf und spitz) nochmals hervorgehoben, daß die Grenze zwischen
357 Während sich das scharfe Ufer auf die Hafenanlagen von Bordeaux bezieht, ist mit
der luftigen Spiz’ vermutlich die Landspitze Bec d’Ambès gemeint, an der die Garonne und
die Dordogne in die Gironde übergehen, vgl. auch Dieter Henrich: Der Gang des Anden-
kens. Beobachtungen und Gedanken zu Hölderlins Gedicht, Stuttgart 1986, 43ff.
168 Etappen der Lektüre
Land und Meer eine Gefahrenzone ist, die durch einen großen unmittelbar
aufragenden Höhenunterschied (Tief fällt, v. 10; luftig, herab, v. 51 f.) be-
stimmt ist. So hebt sich je eine Klippe von den breiten Gipfeln (v. 14) des
Ulmwalds beziehungsweise von dem meerbreiten Strom (v. 55 f.) ab. Indem
Hölderlin eine solche Differenz in seinen Bildern vorführt, macht er wie Ce-
lan deutlich, was das Andenken ist: Es ist die Raum- und Zeitgrenze, auf der
die Übersetzung von einer Sphäre zur anderen versucht wird. Konstitutiv für
das Andenken ist, daß es „eine Art Fergendienst“358 ist. Den Schiffern ver-
gleichbar setzt das Andenken von einem Ufer zum anderen über, mit der ent-
scheidenden Modifikation, daß diese Übertragung ein qualitativer Sprung in
eine andere Dimension ist: und das nicht nur zwischen den Zeiten, sondern
eben auch von der Erinnerung in die die Zeit gleichermaßen gebenden und
vergessenden Zeichen der Dichtung.
Die Dichtung hat also eine aufragende Spitze zu sein, die in der ‚breiten‘
Sprache einen Unterschied markiert, an dem das Andenken Kontur gewinnen
kann. Wie und auf welcher Grundlage die Dichtung dabei eine Übersetzung
eines konkreten Andenkens zu leisten vermag, das über das Anzeigen eines
bloß unspezifischen Unterschieds hinausgeht, das sind die Fragen, die in der
hier zu rekonstruierenden Auseinandersetzung Celans mit Heidegger und
Hölderlin im Mittelpunkt stehen. Das Anfang Dezember 1954 geschriebene
Gedicht Von Dunkel zu Dunkel spitzt dieses Problem auf die Frage zu, ob sich
denn der Grund des Dunkeln übersetzen lasse, und wie es zuweilen geschieht,
„daß sich ein Ferge fand?“ (I, 97). Die Frage ist mit Bedacht im Präteritum
formuliert, weil sie das Rätsel konstatiert, daß sich zuweilen tatsächlich ein
Gedicht einstellt, das wie ein Ferge das Andenken von Dunkel zu Dunkel er-
möglicht. Wie es aber dazu kommt, daß überhaupt ein Gedicht je das Anden-
ken freisetzt, bleibt gleichwohl ungeklärt. Darum stellt sich das Bild der
„Kluft“ (WhD, 9), das Heidegger gebraucht, um das Verhältnis zwischen
Dichten und Denken zu charakterisieren, bei Celan auch als die Kluft zwi-
schen dem Gedicht und jenen poetologischen Erklärungen dar, die es begriff-
lich zu fassen versuchen. Heideggers Differenzierung erhält bei Celan also ei-
nen anderen Akzent. Celan bewegt die Frage, wie das Andenken an die Toten,
das im Gedicht stattfindet, auch theoretisch vermittelt werden könnte. Zur
Klärung dieses Problems orientiert er sich wohl an Heidegger, doch ist schon
zu diesem frühen Zeitpunkt eine Differenz zu vernehmen. Während Heideg-
ger in Mnemosyne vorzugsweise jene sieht, die an das „Gedachte“ denkt
358 Vgl. die bereits oben (Anm. 38) im Zusammenhang des Pessoa-Gedichts zitierte
Formulierung Celans im Brief an Peter Schifferli vom 1. April 1954: „der Picasso-Text will
nämlich nicht nur übersetzt, sondern auch – wenn ich ein Heidegger-Wort missbrauchen
darf – übergesetzt sein. / Sie sehen: es handelt sich für mich – mitunter – um eine Art Fer-
gendienst.“ Zit. n.: Celan als Übersetzer (Anm. 23), 399.
Auftakt 169
(WhD, 7), ist – wie die Analyse des Gedichts Andenken zeigt – die Mutter
der Musen bei Celan nicht zu trennen von seiner getöteten Mutter und den
anderen Ermordeten.
Bei Hölderlin finden sich eingehende Überlegungen, die auf die Differenz
zwischen dem Rätsel, das das einzelne poetische Werk darstellt, und der theo-
retischen Rekonstruktion, die jenes transparent machen könnte, dadurch ein-
gehen, daß er das „Handwerksmäßige“ hervorhebt, das einer guten Dichtung
zugrunde liegt. So fordert er mit Seitenblick auf die antiken Poetiken in den
Anmerkungen zum Oedipus für die zeitgenössische Dichtung, daß man die
Dichtwerke nicht einfach „nach Eindrüken beurtheilt“, sondern „nach ihrem
gesezlichen Kalkul und sonstiger Verfahrungsart, wodurch das Schöne her-
vorgebracht wird.“359 Daß dies seitens der Rezeption meist nicht geschieht,
hat seine Ursache allerdings auch in der „modernen Poësie“ selbst. Denn die-
ser fehlt es, so beklagt Hölderlin, „besonders an der Schule und am Hand-
werksmäßigen, daß nemlich ihre Verfahrungsart berechnet und gelehrt, und
wenn sie gelernt ist, in der Ausübung immer zuverlässig wiederhohlt werden
kann.“360 Wieviel Hölderlin hieran liegt, belegen seine poetologischen Studi-
en, beispielsweise seine Lehre vom Wechsel der Töne. Zuverlässig wiederholbar
und mithin berechenbar wird durch diese theoretischen Anstrengungen aber
nur die Verfahrensweise respektive das „gesezliche Kalkul“, nicht aber das, was
Hölderlin den „Innhalt“ und den „lebendige[n] Sinn“ der Dichtung nennt.
Denn die „Verfahrungsart“ und der darzustellende „Innhalt“ sind zwar an-
einander gebunden, weil jene diesen bedingt, doch sind sie gleichwohl streng
voneinander zu unterscheiden. Während man das „gesezliche“ respektive „all-
gemeine Kalkul“ berechnen können soll, läßt sich der „lebendige Sinn“ nicht
berechnen, weil dieser sich aus dem „unendlichen aber durchgängig bestimm-
ten Zusammenhange“ ergibt, der dann wirksam ist, wenn ein „besondere[r]
Innhalt“ mit Hilfe des „allgemeinen Kalkul[s]“ zur Darstellung kommt.361
Solchen grundlegenden Überlegungen steht Celan nicht fern. Auch er
macht bei verschiedenen Gelegenheiten darauf aufmerksam, daß seine Ge-
dichte in gewisser Weise eine ‚Verfahrensart‘ haben. Doch die Hoffnungen,
362 Vgl. Hans Bender (Hg.): Mein Gedicht ist mein Messer. Lyriker zu ihren Gedichten,
Heidelberg 1955. – Jochen Meyer vom Deutschen Literaturarchiv in Marbach a.N. sei an
dieser Stelle für die Auskunft gedankt, daß Bender Celan am 13. September 1954 mit der
Bitte anschrieb, sich mit einem Gedicht und einem Essay zum „Handwerk des Gedichts“
an seinem Buchprojekt zu beteiligen.
Auftakt 171
rung und Erfahrung beteiligt – aber in welchem Maße? Könnte eine schärfe-
re, methodisch vorgenommene Introspektion hier mehr Klarheit schaffen?
Ich fürchte, es gehört zum Wesen des Gedichts, daß es die Mitwisserschaft
dessen, der es ‚hervorbringt‘, nur so lange duldet, als es braucht, um zu ent-
stehen ... Denn gelänge es dem Dichter, das freiwerdende Wort zu belau-
schen, es gleichsam auf frischer Tat zu ertappen, so wäre es damit wahr-
scheinlich um sein weiteres Dichtertum geschehn: ein solches Erlebnis dul-
det keinerlei Wiederholung und Nachbarschaft. So ephemer das einzelne
Gedicht auch sein mag – und Gedichte sind, trotz allem, vergänglich: das
‚freigewordene‘ Wort kehrt zuletzt wieder in die ‚alte‘ Sprache zurück, wird
Sprichwort, Wendung, Klischee –, es erhebt dennoch Anspruch auf Einma-
ligkeit, lebt und speist sich mitunter auch aus diesem Anspruch, ja dieser Ar-
roganz, glaubt immer, die ganze Sprache zu repräsentieren, der ganzen Wirk-
lichkeit Schach zu bieten ... Welch ein Spiel! So ephemer, so königlich auch. /
Im Zusammenhang mit der Frage nach dem Warum meines Dichtens habe ich
mich auf meine erste Begegnung mit der Poesie zu besinnen versucht: ich war
sechs Jahre alt und konnte Das Lied von der Glocke ‚aufsagen‘ ... Wer weiß,
ob nicht der Eindruck, den das auf meine Zuhörer machte, nicht alles Weite-
re ausgelöst hat ... / Verzeihen Sie: nun habe ich vielzuviel Worte gemacht, um
Ihnen zu sagen, warum ich Ihre Frage nicht zu beantworten weiß ... Nehmen
Sie’s mir bitte nicht übel! Und seien Sie herzlich gegrüßt. / Ihr Paul Celan“363
Celan entschloß sich zunächst, auf Benders Vorschlag einzugehen. Schon
der „Fragwürdigkeit“ seiner Gedichte wegen muß es ihm ein genuines Anlie-
gen sein, den Grund seiner Dichtung eruieren zu wollen und also auch die Fra-
ge aufzugreifen, ob das Gedichteschreiben auf einem Handwerk und mithin
auf einer verständlich zu machenden Methode beruhe. Doch dem ursprüngli-
chen „ja“ folgt schließlich „Unzählige[s]“, das sich all den Erklärungen wider-
setzt, die sich neben den Gedichten zu behaupten versuchen. Eben weil Celan
auf Benders Frage gründlich eingeht, drängt sich ihm das auf, was sich nicht
unter einen Begriff bringen läßt. Statt einer Antwort kommen Celan verschie-
dene Scherze in den Sinn. Der eine scheint unpassend und wird sogleich als
„kein besonders gelungener“ zurückgenommen: Denn würde es das „‚Hand-
werk zum Gedicht‘“ geben, dann hätte dieses, wie jedes andere Handwerk
auch, einen „goldenen Boden“. Die Dichtung könnte dem Dichter nicht nur
eine „bürgerliche Existenz“364 garantieren, sondern sie hätte vor allem einen
363 Celan: Brief an Hans Bender, 18. November 1954, in: Briefe an Hans Bender, hg.
von Volker Neuhaus, München 1984, 34 f. In Auszügen zitiert wurde dieser Brief auch von
Axel Gellhaus: Die Polarisierung von Poesie und Kunst bei Paul Celan, in: Celan-Jahrbuch
6 (1995), 51–91, hier 54. Vgl. auch ders.: Enthusiasmos und Kalkül. Reflexionen über den
Ursprung der Dichtung, München 1995, 301–351.
364 Eben dieses wünscht sich Hölderlin, während er in den Anmerkungen zum Oedipus
172 Etappen der Lektüre
seine Leser auf das Handwerksmäßige seiner Dichtung aufmerksam macht. Der erste Satz
der Anmerkungen beginnt: „Es wird gut seyn, um den Dichtern, auch bei uns, eine bürger-
liche Existenz zu sichern, wenn man die Poësie, auch bei uns, den Unterschied der Zeiten
und Verfassungen abgerechnet, zur µηχανη der Alten erhebt.“ StA V, 195.
Auftakt 173
seine „Mitwisserschaft“ selbst nur so einmalig wie die Sekunde des Gedichts.
Allgemeingültige und damit zeitunabhängige Aussagen über das Handwerk
zum Gedicht lassen sich mit diesem temporären Wissen nicht bilden. So
„ephemer das einzelne Gedicht“ ist, und es ist vergänglich wie ein Augen-
blick, weil es mit seinem Erscheinen auch schon wieder in die „‚alte‘ Sprache“
zurückkehrt, so ephemer können letztlich auch nur jene Gedanken sein, die
ihm nachgehen. Der Freiwerdung der Sprache im Gedicht gedanklich nach-
gehen zu wollen, ist indessen schon darum ein unmögliches Unterfangen,
weil dieses Geschehen „keinerlei Wiederholung“ und Nachbarschaft duldet.
Das Gedicht bleibt also ein Rätsel, das sich der Systematik und Methode,
wofür das Handwerk im Sinne Hölderlins steht, entzieht. Daß es gleichwohl
nicht nichts ist, sondern einen nachhaltigen „Eindruck“ hinterlassen kann,
das scheint Celan mit der elliptischen Erinnerung am Schluß des Briefes an-
zudeuten. Daß er als sechsjähriges Kind ohne jeglichen ‚Nebengedanken‘
Friedrich Schillers Lied von der Glocke „‚aufsagen‘“ konnte und damit seine
Zuhörer offensichtlich beeindruckte, dieses Ereignis wurde ihm selbst zu ei-
ner Erfahrung, die vermutlich „alles Weitere“ ausgelöst hat.
Wie die Eintragungen in dem Arbeitsheft belegen, in das Celan sein Ex-
zerpt aus Was heißt Denken? und Einführung in die Metaphysik zwischen dem
21. September und Mitte Oktober 1954 notierte,365 steht der Brief an Bender
ebenso wie die erwähnten Gedichte im Kontext der Beschäftigung mit Hei-
degger. Benders Anfrage vom 13. September 1954 dürfte Celans Lektüre die-
ser Schriften gerade für jene Textstellen sensibilisiert haben, in denen Hei-
degger zwischen den Werken des Denkens und Dichtens, der Hand und dem
Handwerk einen Zusammenhang herstellt. Diese Bemerkungen Heideggers
seien hier darum erinnert.
Schon in seinem Kunstwerkaufsatz sagt Heidegger, daß „das Denken ein
Handwerk ist“ (KW 3 [8]). Das gilt auch für die Dichtung. Doch sind die
Werke, die der Dichter schafft und wofür dieser selbstverständlich ein „hand-
werkliche[s] Können“ (KW 46 [47]) haben muß, nicht von der handwerkli-
chen Anfertigung her zu beurteilen. Handwerk und Kunst sind im Griechi-
schen allein deshalb unter dem einen Begriff τéχνη zusammengefaßt, weil, so
betont Heidegger, die Griechen darunter das Wissen verstanden, Anwesen-
des entbergen und derart vernehmen lassen zu können (vgl. KW 46 f. [47 f.];
vgl. auch EM, 122). Wenn Heidegger also auf das Handwerkliche Bezug
nimmt, dann deshalb, weil er es vom Wesen des Schaffens bestimmt sieht,
welches wiederum aufs engste mit dem Wesen der Wahrheit (s. o. S. 124 f.) zu-
sammenhängt. Kommt die Wahrheit doch erst im Werk hervor.
In Was heißt Denken? unterscheidet Heidegger dann nochmals ausdrück-
lich das Handwerk, im Sinne der Anfertigung von Dingen, vom „Hand-Werk“,
das jenem zugrunde liegt: „Wir versuchen hier das Denken zu lernen. Viel-
leicht ist das Denken auch nur dergleichen wie das Bauen an einem Schrein.
Es ist jedenfalls ein Hand-Werk. Mit der Hand hat es eine eigene Bewandtnis.
Die Hand gehört nach der gewöhnlichen Vorstellung zum Organismus unse-
res Leibes. Allein das Wesen der Hand läßt sich nie als ein leibliches Greifor-
gan bestimmen oder von diesem her erklären. Greiforgane besitzt z. B. der
Affe, aber er hat keine Hand. Die Hand ist von allen Greiforganen: Tatzen,
Krallen, Fängen, unendlich, d. h. durch einen Abgrund des Wesens verschie-
den. Nur ein Wesen, das spricht, d. h. denkt, kann die Hand haben und in der
Handhabung Werke der Hand vollbringen. / Allein das Werk der Hand ist rei-
cher, als wir gewöhnlich meinen. Die Hand greift und fängt nicht nur, drückt
und stößt nicht nur. Die Hand reicht und empfängt und zwar nicht allein
Dinge, sondern sie reicht sich und empfängt sich in der anderen. Die Hand
hält. Die Hand trägt. Die Hand zeichnet, vermutlich weil der Mensch ein Zei-
chen ist. Die Hände falten sich, wenn diese Gebärde den Menschen in die
große Einfalt tragen soll. Dies alles ist die Hand und ist das eigentliche Hand-
Werk. In ihm beruht jegliches, was wir gewöhnlich als Handwerk kennen und
wobei wir es belassen. Aber die Gebärden der Hand gehen überall durch die
Sprache hindurch und zwar gerade dann am reinsten, wenn der Mensch
spricht, indem er schweigt. Doch nur insofern der Mensch spricht, denkt er;
nicht umgekehrt, wie die Metaphysik es noch meint. Jede Bewegung der
Hand in jedem ihrer Werke trägt sich durch das Element, gebärdet sich im
Element des Denkens. Alles Werk der Hand beruht im Denken. Darum ist
das Denken selbst das einfachste und deshalb schwerste Hand-Werk des
Menschen, wenn es zu Zeiten eigens vollbracht sein möchte“ (WhD, 50 f.).
Heideggers Begriff vom Hand-Werk geht weit über das hinaus, was Benders
Frage nach dem Handwerk zum Dichten impliziert. Denn Heidegger geht in
der ihm eigenen Weise auf das zurück, was dem Werken der Hand vorausgeht.
Dafür fragt er zunächst einmal nach dem Wesen der Hand. Heidegger stellt
klar, daß nur der Mensch eine Hand haben kann, und daß also über das Hand-
werk nicht bloß so verhandelt werden könne, als ob es eine jederzeit erlern-
bare und wiederholbare Methode sei, die es erlaubt, bestimmte Dinge bere-
chenbar herzustellen. Reduziert man das Handwerk auf ein solches Schema,
wird das Wesen der Hand verkannt. Denn das „Werk der Hand ist reicher, als
wir gewöhnlich meinen“, weil die Hand nur ein Wesen haben kann, „das
spricht, d. h. denkt“. Das Charakteristische der Hand ist zum einen, daß sie
sich im „Element des Denkens gebärdet“, daß also das Denken mit ihr statt
findet, ja erst geboren wird – die Gebärde der Hand ist gewissermaßen der
status nascendi des Gedankens –, weshalb Heidegger auch betont, daß der
Mensch nur insofern denkt als er – mit seinen Händen – spricht. Zum ande-
ren schließt diese Bestimmung ein, daß die Hand nicht nur Dinge herstellt
und diese „reicht und empfängt“, sondern „sie reicht sich und empfängt sich
Differenzierung und Entgegensetzung 175
in der anderen“. Die Hand ist an sich selbst eine Gabe, sonst könnte sie kei-
ne Werke schaffen, die Gaben sind. Heidegger sieht nicht nur die Hand über
die Sprache im Denken gegründet, sondern diese im Wesen des Menschen be-
ruhende Fundierung impliziert zugleich, daß die Hand jene Gabe ist, die das
Denken gibt,366 sofern sie als das, was sie wesentlich ist, ‚begriffen‘ wird und
nicht bloß als ein Werkzeug, das Mittel zu einem ihr äußerlichen Zweck sei.
– Celan wird fünfeinhalb Jahre später, 1960, in ähnlicher Weise die Hand und
die Gabe als eine Sache begreifen. Doch genau an dem Punkt, wo sich Celan
und Heidegger besonders nahe zu kommen scheinen, wird die Differenz zwi-
schen den beiden erstmals explizit.
Daß Celan 1954 Benders Frage nicht beantworten konnte, hat seinen Grund
darin, daß er wie Heidegger einen anderen Begriff davon hat, was das Hand-
werk des Dichters sei. Celan und Heidegger kommen darin überein, daß sie
es bezüglich des Dichtens bzw. des Denkens nicht dabei belassen können,
vom Handwerk wie von einer Methode zu sprechen. Deutlich aber ist auch,
daß Celan und Heidegger nicht die gleiche Perspektive einnehmen. Während
Heidegger anzugeben weiß, daß alles Werk der Hand im Denken beruht, fällt
es Celan in seinem Brief schwer, hinsichtlich des Schreibens von Gedichten
überhaupt vom Handwerk zu sprechen. Dies liegt daran, daß er auf Benders
metaphorischen Gebrauch des Handwerkes bezogen bleibt und diese Vor-
stellung noch nicht im buchstäblichen Sinne als Werk der Hände analysiert
und umdeutet.
Mitte Mai 1960 dann, fünf Monate vor seiner Büchnerpreisrede, wird Ce-
lan von Bender ein zweites Mal gefragt, ob er sich an einer erneuten, erwei-
terten Auflage des Bandes Mein Gedicht ist mein Messer beteiligen möchte.367
In seiner zweiten Antwort kommt Celan noch einmal auf einzelne Formulie-
rungen seines Briefes vom November 1954 zu sprechen, modifiziert diese
aber. Bemerkenswert ist hieran zunächst, daß sich Celan sehr genau an seine
ursprüngliche Antwort erinnert, was belegt, daß in ihr Grundlegendes zur
Sprache kam, wenn sie auch vorläufig blieb. Nun schreibt er:
366 Heidegger führt dann später in seiner Lesung aus: „Der Gaben empfangen wir viele
und von mancherlei Art. Die höchste und eigentlich währende Gabe an uns bliebt jedoch
unser Wesen, mit dem wir so begabt sind, daß wir aus dieser Gabe erst die sind, die wir sind.
[…] Was jedoch im Sinne dieser Mitgift an uns vergeben ist, ist das Denken“ (WhD, 94).
367 Dieser Band erschien 1961 in München.
176 Etappen der Lektüre
„Paris, den 18. Mai 1960 / Lieber Hans Bender, / ich danke Ihnen für Ihren
Brief vom 15. Mai und Ihre freundliche Aufforderung, an Ihrer Anthologie
‚Mein Gedicht ist mein Messer‘ mitzuarbeiten. / Ich erinnere mich, daß ich
Ihnen seinerzeit sagte, der Dichter werde, sobald das Gedicht wirklich da sei,
aus seiner ursprünglichen Mitwisserschaft wieder entlassen. Ich würde diese
Ansicht heute wohl anders formulieren bzw. sie zu differenzieren versuchen;
aber grundsätzlich bin ich noch immer dieser – alten – Ansicht. / Gewiß, es
gibt auch das, was man heute so gern und so unbekümmert als Handwerk be-
zeichnet. Aber – erlauben Sie mir diese Raffung des Gedachten und Erfahre-
nen – Handwerk ist, wie Sauberkeit überhaupt, Voraussetzung aller Dich-
tung. Dieses Handwerk hat ganz bestimmt keinen goldenen Boden – wer
weiß, ob es überhaupt einen Boden hat. Es hat seine Abgründe und Tiefen –
manche (ach, ich gehöre nicht dazu) haben sogar einen Namen dafür. /
Handwerk – das ist Sache der Hände. Und diese Hände wiederum gehören
nur einem Menschen, d.h. einem einmaligen und sterblichen Seelenwesen, das
mit seiner Stimme und seiner Stummheit einen Weg sucht. / Nur wahre Hän-
de schreiben wahre Gedichte. Ich sehe keinen prinzipiellen Unterschied zwi-
schen Händedruck und Gedicht. / Man komme uns hier nicht mit ‚poiein‘
und dergleichen. Das bedeutet, mitsamt seinen Nähen und Fernen, wohl et-
was anderes als in seinem heutigen Kontext. / Gewiß, es gibt Exerzitien – im
geistigen Sinne, lieber Hans Bender! Und daneben gibt es eben, an jeder lyri-
schen Straßenecke, das Herumexperimentieren mit dem sogenannten Wort-
material. / Gedichte, lieber Hans Bender, das sind auch Geschenke – Geschen-
ke an die Aufmerksamen. Schicksal mitführende Geschenke. / ‚Wie macht
man Gedichte?‘ / Ich habe es vor Jahren eine Zeitlang mit ansehen und spä-
ter aus einiger Entfernung genau beobachten können, wie das ‚Machen‘ über
die Mache allmählich zur Machenschaft wird. Ja, es gibt auch das, lieber Hans
Bender, Sie wissen es vielleicht. – Es kommt nicht von ungefähr. / Wir leben
unter finsteren Himmeln, und – es gibt wenig Menschen. Darum gibt es wohl
auch so wenig Gedichte. Die Hoffnungen, die ich noch habe, sind nicht groß;
ich versuche, mir das mir Verbliebene zu erhalten. / Mit allen guten Wün-
schen für Sie und Ihre Arbeit / Ihr / Paul Celan // P.S. Lieber Hans Bender,
Sie haben, wie ich weiß, im Vorwort zur ersten Auflage Ihres Buches eine
Stelle aus meinem seinerzeit an Sie gerichteten Brief zitiert. Das bringt mich
auf den Gedanken, daß es Ihr Wunsch sein könnte, auch diese Zeilen hier zu
veröffentlichen. Für den Fall einer solchen Veröffentlichung möchte ich Sie
hier ausdrücklich bitten, diesen Brief als das zu bringen, was er ist: als einen
unter dem heutigen Datum an Sie gerichteten Brief.“368
368 Celans Brief ist bis auf das Postskriptum mit leichten Abweichungen abgedruckt in:
III, 177 f.; hier zit. n.: Briefe an Hans Bender (Anm. 363), 48f.
Differenzierung und Entgegensetzung 177
In seiner zweiten Antwort ist Celan nicht zu Scherzen aufgelegt. Sein Ton
verrät Bestimmtheit und reifliche Überlegung. Wenn man überhaupt vom
Handwerk im Hinblick auf die Dichtung sprechen möchte, dann nicht in un-
bekümmerter Manier, sondern nur so, daß man erkennt, daß das Handwerk
„Sache der Hände“ ist, daß also diese Hände „nur einem Menschen [ge-
hören], d. h. einem einmaligen und sterblichen Seelenwesen, das mit seiner
Stimme und seiner Stummheit einen Weg sucht“. Celan ist nach 1954 weiter
seinen Weg gegangen. In dieser Zeit wird er sich darüber bewußt, was das
„Gesetz“ seines Dichtens ist,369 welcher in Deutschland unbekannten Topo-
graphie sich seine Gedichte verdanken und warum er „auf einer andern
Raum- und Zeitebene“ als seine Leser steht, welche ihn nur „‚entfernt‘ ver-
stehen“ können.370 Manifest wird diese schreibend erworbene Klarheit, von
der Celan weiß, daß sie notwendigerweise dunkel ist,371 in seiner Ansprache
anläßlich der Entgegennahme des Bremer Literaturpreises, in dem 1959 ver-
öffentlichten Band Sprachgitter, der mit der Engführung abschließt, und nicht
zuletzt dann in der Meridian-Rede, die er zu dem Zeitpunkt, als er Bender
antwortet, schon intensiv vorbereitet. In wenigen Sätzen versucht Celan,
Bender das inzwischen Gedachte und Erfahrene gerafft anzudeuten, um sei-
nen neuen und zugleich alten Standpunkt begründen zu können.
Die entscheidende Differenz zum ersten Brief besteht darin, daß Celan
zwar einräumt, daß das Handwerk Voraussetzung aller Dichtung sei, daß er
sich aber nicht mehr auf die als müßig erkannte Frage einläßt, wie man denn
Gedichte ‚mache‘, worüber man dann so leicht zur „Machenschaft“ gelange,
statt anzuerkennen, daß es tatsächlich Gedichte gibt, die von „wahren Hän-
369 Nachdem Celan seinen Brief vom 18. Mai 1960 für die Publikation in Benders An-
thologie redigiert hat, schreibt er Bender abermals am „10. Feber 1961“. Er macht diesen
auf seine Meridian-Rede und seine Übersetzungen aufmerksam und fügt dann hinzu: „Viel-
leicht kommt einmal auch der Tag, wo man merkt, daß auch diese Arbeiten im Zeichen des
Gesetzes stehn, unter dem ich angetreten bin; all das sind Begegnungen, auch hier bin ich
mit meinem Dasein zur Sprache gegangen. Aber dazu müßte es wieder Leser geben“, zit. n.:
Briefe an Hans Bender (Anm. 363), 54.
370 Vgl. die Aufzeichnungen von Huppert: Ein Gespräch (Anm. 14), 319. Celans Be-
merkung bezieht sich auf die Zeit, als er die Gedichte des Bandes Sprachgitter schrieb.
371 Es ist das Wissen, daß die Klarheit nur am Dunklen sich zeigen kann, die Celan ins-
besondere an Hölderlin, aber auch an Heidegger schätzte: In dem Konvolut zur Meridian-
Rede findet sich der Satz: „noch das ‚exoterischste‘, offenste Gedicht ist dunkel; und, erlau-
ben Sie mir diesen vielleicht nicht ganz überflüssigen Hinweis: wenn irgend jem ein Dich-
ter, so war Hölderlin ein vir clarus.“, TCA Meridian, 85, Nr. 106, Manuskript A 17, 2. Noch
1970 soll Celan über Heidegger gesagt haben: „Im Unterschied zu solchen, die sich an sei-
ner Ausdrucksweise stoßen, sehe ich in Heidegger denjenigen, der der Sprache wieder ihre
‚limpidité‘ zurückgewonnen hat.“ Zit. n. Clemens Podewils: Namen. Ein Vermächtnis Paul
Celans, in: Ensemble 2 (1971), 67–70, hier 70. – Damit das Dunkle selbst am Wort für Klar-
heit nicht vergessen wird, bevorzugt Celan das fremde Idiom: clarus, limpidité.
178 Etappen der Lektüre
den“ kommen. Auch wenn diese Gedichte statt eines goldenen Bodens Ab-
gründe und Tiefen haben, die mit keinem Namen benannt werden können, so
ist gleichwohl unzweifelhaft, daß derartige Gedichte „wirklich da“ sind. Wie
weitreichend für Celan diese andere Perspektive ist, belegt ein während der
Vorbereitungen auf die Meridian-Rede mit allem Nachdruck notierter Satz:
„!!Nirgends von der Entstehung des Gedichts sprechen; sondern immer nur
vom entstandenen Gedicht!!“372 Nicht die produktionsästhetische Frage, wie
man denn Gedichte mache, ist für Celan von Belang, sondern vielmehr die
andere, ob es „Aufmerksame“ gibt, die das wie auch immer entstandene
Gedicht als einen „Händedruck“ empfangen können und dabei auch das
„Schicksal“ akzeptieren, das mit diesem „Geschenk“ gegeben wird. Das Da-
tum des Gedichts ist darum nicht allein auf den Moment der Entstehung des
Gedichts zu beziehen, sondern immer auch auf den erhofften Moment, da
das Gegebene – das Datum, das Geschenk – empfangen wird. Nicht zuletzt
darum geschieht das Gedicht nur selten.373
In seinem ersten Brief an Bender betonte Celan, daß die Gedichte es zwar
sowohl mit der „ganzen Sprache“ als auch mit der „ganzen Wirklichkeit“ auf-
nehmen, gleichwohl aber ephemer sind. Diese vergängliche Ganzheit stellt
Celan 1960 nun als das singuläre Moment seines Schreibens dar. Das Gedicht
ist gerade deshalb wahr, weil es das Geschenk einer bestimmten Hand ist.
Entsprechend fügt Celan seinen Zeilen die ausdrückliche Bitte hinzu, „diesen
Brief als das zu bringen, was er ist: als einen unter dem heutigen Datum an Sie
gerichteten Brief.“ Das Gedicht und auch das im Brief Gesagte ist ephemer,
aber beide haben ein bestimmtes Datum und einen Adressaten, nämlich ein
singuläres du.
Das Postskriptum verdeutlicht ein grundlegendes Problem, das Celans
Schreiben insgesamt betrifft. Celan rechnet damit, daß seine Zeilen veröf-
fentlicht werden, möchte aber für diesen Fall sichergehen, daß sie gleichwohl
als der „Brief“ eines bestimmten Seelenwesens an ein anderes aufgefaßt wer-
den. Dieser Text soll in seiner Singularität dadurch bewahrt bleiben, daß er
auch dann noch als Brief aufgefaßt wird, der unter einem bestimmten „Da-
tum“ steht, wenn er im Grunde keiner mehr ist, sondern in einer Anthologie
neben anderen Essays erscheint. Diese Paradoxie bestimmt auch jedes Ge-
dicht, das grundsätzlich alle anspricht und weiterhin der „ganzen Wirklich-
keit Schach“ bietet, sich aber dennoch nur an den einzelnen als einen solchen
wendet, um diesem Sterblichen sein Geschenk zu reichen.
Was diese Gabe aber sei, die auf diesem Wege gegeben wird, das läßt sich
genau dann, wenn der einzelne als singulärer beschenkt sein soll, nicht mehr
argumentativ erschließen, obwohl das „Schicksal mitführende Geschenk“ ge-
rade darin besteht, dem einzelnen Einblick in die Bedingungen der Sprache
und „dessen Zeit“ zu geben (vgl. III, 199). An diesem Punkt wird die Diffe-
renz zu Heidegger bedeutsam, dessen Denken ja ebenfalls Gaben reicht.
Denn Heidegger setzt auch dann, wenn er die Unbezüglichkeit des Daseins
hervorhebt, die das Sein zum Tode offenbart, auf die Gemeinschaft und das
Sagen, das „ein Wort des ‚wir‘“ ist.374 Hieran hält Heidegger bei allen Modi-
fikationen auch nach 1945 fest. Dies zeigt sich auch daran, daß er die ge-
wöhnlichen Meinungen zum Handwerk dadurch zu berichtigen versucht, daß
er sie auf den ‚eigentlichen Wesensgrund‘ zurückführt, so daß deutlich wer-
de, daß das Wesen der Hand im Wesen des Menschen ruhe. Während sich
Heidegger also auf das Wesen des Menschen beruft, kann Celan sein Beste-
hen auf dem Singulären, das in einer bestimmten Zeit durch das Gedicht von
einer zur anderen Hand gereicht wird, nicht begründen, sondern nur in apo-
diktisch klingenden Sätzen anzeigen, die allerdings nicht einfach ein privates
Jenseits oder ein inneres Exil behaupten, sondern als „Gegenwort“ (vgl. III,
189) die Konfrontation mit dem vorherrschenden und offenbar alles um-
spannenden Allgemeinen, den „finsteren Himmeln“, aufnehmen. Ein derart
apodiktischer Satz bestimmt auch den letzten Absatz des Briefes: „– es gibt
wenig Menschen. Darum gibt es wohl auch so wenig Gedichte.“ Für Celan
sind Gedichte Indikatoren, in denen sich Menschen und mithin wahre Hände
trotz allem zu erkennen geben. Es dürfte kein Zufall sein, daß Celan in einem
Brief, der das Handwerk zum Gedicht auf jene singulären Hände hin umdeu-
tet, die Gedichte als Schicksal mitführende Geschenke geben, mit dieser Pro-
vokation, daß es nur wenige Menschen gebe, in die Fußstapfen Hölderlins
tritt, der durch Hyperion in dessen sogenannten Schmähbrief ebenfalls Klage
führt, daß man in Deutschland zwar „Handwerker“ und „Denker“ sehe, aber
eben „keine Menschen“.375
374 Vgl. Heideggers Germanien-Lektüre (GA 39, 101) und s. o. S. 117 f. und Anm. 268.
375 Vgl. Hyp II, 112 f.; Celan besaß unter anderen die von Karl Justus Obenauer her-
ausgegebene dreibändige Ausgabe von Hölderlins Werken, Berlin/Leipzig, o. J. Dort ver-
merkte sich Celan Hyperions Schmähbrief, vgl. Bd. II, 175 f.
180 Etappen der Lektüre
Die angedeutete Differenz zwischen Heidegger und Celan darf jedoch nicht
so resümiert werden, als ob Heidegger auf einen Wesensgrund ziele, der als all-
gemeiner Bezug alles Seiende trage, während sich Celan auf das spezifische
Seelenwesen eines einzelnen zurückziehe, von dem sich schlechterdings nichts
mitteilen lasse. Zu einem derartigen Schluß gelangt Baumann in seinen Erin-
nerungen. Er faßt die „verschiedenen Sichtweisen“ von Heidegger und Celan
in dem Satz zusammen: „Heidegger pflegte alles weitsichtig zu bedenken, Vor-
geschichte, Bedingungen, Wirkungen als unteilbares Ganzes zu betrachten, für
Celan versammelte sich alles in einem Brennpunkt.“376 Diese Charakterisie-
rung ist prima facie nicht falsch, zeigt aber nicht die Differenz in ihrer Konse-
quenz für das Denken- und Darstellenkönnen des Singulären und des Allge-
meinen respektive des Allgemeinen im Singulären auf. Diese Differenz wird
erst dann deutlicher, wenn noch einmal die Frage gestellt wird, wie Celan und
Heidegger je zur Geschichte und mithin zur Sprache und zum Menschen ste-
hen. Denn erkennt man, daß für beide Geschichte, Sprache und Menschsein
unlösbar aneinander gebunden sind, gleichwohl aber je eine andere Systematik
oder genauer ein anderes Gesetz diesen Bezug bedingt, dann wird noch von
einer anderen Seite her ersichtlich, daß die beiden nicht allein der Abgrund ei-
nes anderen Schicksals und einer anderen geschichtlichen Wurzel trennt (s. o.
Kap. Zwischenresümee u. Andenken und die Kluft zwischen Dichten und
Denken), sondern auch ein radikal anderer Bezug zur Sprache und mithin ein
anderes Verständnis von dem, was das Wirkliche sei.
Nun könnte aber gerade in der von Celan angezeigten Zusammenführung
von Gedicht und Mensch eine weitere Gemeinsamkeit mit Heidegger beste-
hen. Denn auch Heidegger wirft immer wieder die Frage auf, was der Mensch
sei, und versucht sich ihr wiederholt dadurch zu nähren, daß er sie in den Zu-
sammenhang seiner Gedanken zum Wesen der Dichtung stellt. Denn erst
durch die Dichtung gelange der Mensch in das Offene seiner Ek-sistenz und
erst in der Auseinandersetzung mit ihr erstreite er seinem geschichtlichen
Dasein eine Gestalt. „Wer der Mensch sei, das bekommen wir nicht durch ei-
ne gelehrte Definition zu wissen, sondern nur so, daß der Mensch in die Aus-
einandersetzung mit dem Seienden tritt, indem er es in sein Sein zu bringen
versucht, d. h. in Grenze und Gestalt stellt, d. h. ein Neues (noch nicht An-
wesendes) entwirft, d.h. ursprünglich dichtet, dichterisch gründet“ (EM, 110).
Das Vermögen der Dichtung, Neues zu gründen und einen Anfang setzen zu
können, der eine geschichtliche Welt bestimmt und trägt, ist für Heidegger
der entscheidende Grund, warum er sich als Philosoph überhaupt auf die
Dichtung einläßt. Für ihn ist die Dichtung deshalb ursprünglich gründend,
weil sie sich einen Zugang zum Wesentlichen zu eröffnen vermag, der andere
hieran teilnehmen läßt. Um dieses zu belegen und um die Frage nach dem
Verhältnis zwischen Mensch und Dichtung als wesentliche Frage vorzustel-
len, zitiert Heidegger wiederholt folgende Zeilen aus dem Text In lieblicher
Bläue, den Hölderlin im Tübinger Turm wohl um 1807 schrieb:377
Voll Verdienst, doch dichterisch wohnet
Der Mensch auf dieser Erde.
In seinem 1936 publizierten Vortrag Hölderlin und das Wesen der Dichtung
stellt Heidegger diese Verse als eines der „fünf Leitworte“ vor, die Hölderlins
Dichtung charakterisieren (HWD, 33 u. 42). In diesem Dichterwort sei der
qualitative Unterschied (doch) angezeigt, der zwischen dem „Verdienst“ und
dem „Dichterischen“ besteht. Während sich die Menschen jenen durch ihr
Handwerk und durch ihr tägliches Bemühen erarbeiten, wird ihnen in einem
grundlegenden Sinne ein „Wohnen auf dieser Erde“ erst durch das Dichteri-
sche geschenkt. „‚Dichterisch‘ ist das Dasein in seinem Grunde – das sagt zu-
gleich: Es ist als gestiftetes (gegründetes) kein Verdienst, sondern ein Ge-
schenk“ (HWD, 42). Keine noch so harte Arbeit vermag jenes Wohnen im
grundlegenden Sinne herzustellen, weil alle diese verdienstvollen Tätigkeiten
immer schon zur Voraussetzung haben, daß der Mensch bereits wohnt.
Heidegger kommt in seinem 1943 veröffentlichen Aufsatz zu Hölderlins
Hymne Andenken erneut auf dieses Leitwort zu sprechen. Er fragt nun tiefer-
gehend nach, woher das Dichterische kommt und wo es denn wohnt, bevor es
selbst die Wohnstatt auf dieser Erde freilegt? Wenn das Dichterische allem
Verdienst entgegengesetzt und ebenfalls kein „Gemächte der Dichter“ ist
(A, 89), dann stellen sich die Fragen, was es denn sei und wie es erfahren wer-
den könne, wenn wir Menschen immer schon wohnen, nicht aber wissen, wie
das Dichterische dieses Wohnen hat einrichten können? Heidegger setzt sein
Fragen fort, indem er den Blick auf jenen lenkt, der hierüber Antwort geben
können müßte: „Wer anders vermag an das Wesen der Dichtung zu denken, als
die Dichter? Also müssen Dichter sein, die erst das ‚Dichterische‘ selbst zei-
gen und als den Grund des Wohnens gründen. Um dieser Gründung willen
müssen diese Dichter selbst zuvor dichtend wohnen. Wo können sie bleiben?
Wie findet und wo hat der dichtende Geist seine Heimat?“ (A, 89). Indem
Heidegger so fragt, führt er seinen Text Stück für Stück an jenes ‚Leitwort‘
heran, das er in seinem Aufsatz zum Wesen der Dichtung noch nicht aufnahm
und das ihm Anfang der 1940er Jahre aber der Schlüssel für das Verständnis
377 Heidegger war sich bewußt, daß die Herkunft dieser Verse fraglich ist, vgl. GA 39,
36 f.; A, 88 f. u. GA 53, 171. Denn ungeklärt ist, ob nicht Friedrich Waiblinger, der In lieb-
licher Bläue als erster 1823 in Stuttgart herausgab, in diesen Text gestalterisch eingegriffen
hat, vgl. SWB III, 354 und StA II, 372 u. 991 f.
182 Etappen der Lektüre
der Hymne Andenken ist und das darüber hinaus diese hermeneutische Funk-
tion auch in seiner Vorlesung zur Hymne Der Ister hat. Es sind dies jene Zei-
len Hölderlins, die dieser nach Friedrich Beißners Darstellung über die letz-
ten Verse der an sich schon vollendeten Elegie Brod und Wein (v. 152–156) in
„steile[r], verwirrt eilende[r] Schrift“378 ins Homburger Folioheft schrieb:379
nemlich zu Hauß ist der Geist
Nicht im Anfang, nicht an der Quell. Ihn zehret die Heimath.
Kolonie liebt, und tapfer Vergessen der Geist.
Unsere Blumen erfreun und die Schatten unserer Wälder
Diese Verse sind für Heidegger so bedeutsam, weil sich an ihnen gleicher-
maßen das Gesetz der Dichtung, die Grundwahrheit der Geschichte und das
Wesen des Menschen erschließen lasse. Denn jeweils gelte, daß erst durch die
Ausfahrt in die Fremde (Kolonie) das Eigene (die Heimath) zugänglich wer-
de. Weil für Heidegger Hölderlins Fragment die dichterische Ausgestaltung
der im Brief vom 4. Dezember 1801 an Böhlendorff geäußerten Reflexionen
ist, liest er beide Texte zusammen.380 Denn mit der Ausfahrt in die Fremde
verbindet sich nach Heidegger auch das Darstellungsproblem, das den deut-
schen Dichtern aufgegeben sei. Diesen sei nämlich, wie Hölderlin an Böhlen-
dorff schreibt, die „Klarheit der Darstellung“ sowie „Nüchternheit“ und
„Präzision“ ursprünglich mitgegeben, doch können diese Gaben erst dann
frei gebraucht werden, wenn sich die Nordländer der Fremde aussetzen und
sich vom „heiligen Pathos“ und vom „Feuer“ des griechischen Himmels an-
gehen lassen. Erst wenn dieses geschieht, sei das „Klare des Sagens“, wie Hei-
degger zusammenfaßt, bestimmt „durch das offene Erfahren des Darzustel-
lenden“ (A, 118).
Von Bedeutung sind Hölderlins Verse hier auch deshalb, weil sich Celan –
so die These – ebenfalls auf sie bezieht, um Heideggers Kommentar zur
Hymne Andenken seinerseits in einem Gedicht zu kommentieren, um sodann
auf diesem Wege Heidegger mit seinem differenten Welt- und Herz-bezug zu
378 Friedrich Beißner: Hölderlins Übersetzungen aus dem Griechischen, Stuttgart 1933,
147. Beißner, auf den sich Heidegger bezieht, hat als erster dieses Fragment veröffentlicht
und kommentiert.
379 StA II, 608. Auf die Debatte, wie Hölderlins Variante zu verstehen sei und ob man
ihr den Wert eines Philosophems geben dürfe, welches das wesentliche Motiv seiner späten
Dichtung sage, wird im folgenden nicht einzugehen sein, vgl. Szondi: Brief an Böhlendorff
(Anm. 200) und den durch seine eigene Thesenbildung bestimmten Forschungsbericht von
Hans Joachim Kreuzer: Kolonie und Vaterland in Hölderlins später Lyrik, in: HJb 22
(1980/81), 18–46.
380 Vgl. A, 87, zum Brief an Böhlendorff (StA VI, 425–428) s. o. S. 90 f. und Anm. 200.
Differenzierung und Entgegensetzung 183
Heidegger fragt, wo die Dichtung und die Dichter „wohnen“ und sieht in
Hölderlins Kolonie-Fragment eine Antwort, die sage, wo der Geist zu Hauß
ist. „Der Geist ist der wissende Wille des Ursprungs“ (A, 90). Diese Definition
korrespondiert mit Heideggers Annahme, daß das Dichterische der Grund für
das Wohnen auf dieser Erde sei. Denn erst durch den Geist erlange das „Wirk-
liche“ (im Sinne des Seienden, res extensa) sein Wesen, das Heidegger an die-
ser Stelle die „Wirklichkeit“ nennt: „Der Geist denkt die allem Wirklichen aus
der Einheit seines Wesens zukommende Wirklichkeit“ (ebd.). Sieht auch die
„Wirklichkeit“ im Sinne Heideggers vom „Wirklichen“ aus besehen unwirk-
lich aus, so verwandelt sich dieser Eindruck mit dem Erscheinen des Geistes
grundlegend. Damit dieses geschehen könne, bedürfe es des „Beseeler[s]“
(ebd.), der einer Gemeinschaft den Geist bringe. Durch diesen ‚Helden‘ kön-
ne der Geist erst „‚der Geist‘ der Geschichte eines Menschentums auf dieser
Erde werden“ (A, 91). Ein solcher Beseeler sei der Dichter, der zuvor in seiner
Seele die dichtenden Gedanken des Geistes in sich versammelt haben müsse.
Indem der Dichter auf der Erde seiend „und doch über sie hinaus den Himmel
zeigt und in diesem Zeigen erst die Erde in ihrem dichterischen Äther er-
scheinen läßt“, offenbare er „den dichtenden Grund des Wirklichen“ und brin-
ge durch die „gezeigte Wirklichkeit“ das Wirkliche „zum ‚Wesen‘“ (ebd.).
Der Geist des Dichters bzw. der „dichtende Geist“, der mit seinem Zeigen
den Erdensöhnen das dichterische Wohnen gründe, müsse allerdings „selbst
zuvor im gründenden Grund wohnen“ (ebd.). Also wird er, so wäre zu
schließen, „als dieser von Hause aus zu Hauß sein“ (ebd.). Wurzle doch auch
381 Vgl. Neue Rundschau 74 (1963) H. 1, 55–60. In folgender Reihenfolge sind hier die
Gedichte Eine Gauner- und Ganovenweise; Tübingen, Jänner; Mandorla; Anabasis; Die Sil-
be Schmerz und Was geschah? gedruckt. Celan war sehr darauf bedacht, daß „die Gedichte
in dieser – und keiner anderen – Reihenfolge“ gesetzt werden, vgl. Celans Brief an Fischer
vom 30. November 1962, in: Fischer: Briefwechsel mit Autoren (Anm. 321), 632.
184 Etappen der Lektüre
der Baum von Beginn an schon in seinem Grund. Und, so fügt Heidegger als
weiteres Beispiel an, kommt „doch selbst das leblose Ding, das eine mensch-
liche Hand anfertigt, bei seinem Beginn zuerst in seinem Entstehungsgrund
vor, um dann aus diesem Vorkommen im bearbeiteten Stoff durch die Her-
stellung hervorzukommen in sein Fertiges. Lebendiges und Lebloses west, zu
seinem Beginn wenigstens, wenngleich später nie mehr, an seinem Herkunfts-
ort und hat diesen zu solcher Zeit am reinsten inne“ (ebd.). Doch aus dieser
Innigkeit, die Lebendiges und Lebloses an ihrem Entstehungsgrund noch ha-
ben, die Entsprechung abzuleiten, der Geist unterliege ebenfalls dem Gesetz,
daß er als Keim dort zuhause ist, wo Wirklichkeit und Wirkliches noch unge-
schieden sind, ist für Heidegger eine Fehlannahme. Denn „der Geist ist Geist.
Sein Dichten west nach eigenem Gesetz“ (ebd.). Dieses Gesetz nun sage Höl-
derlins Wort, wonach zunächst einmal anzuerkennen sei: „Der Geist ist zum
Beginn im eigenen Hause nicht zuhaus“ (ebd.). Denn sobald der Geist ent-
sprungen ist, werde er derart entlassen, daß sich der Ursprung selbst nicht
mehr zeige, sondern sich hinter dem Entsprungenen „verbirgt und entzieht“
(A, 92). Halte sich der Geist auch für seine Heimat offen und versucht „am
Beginn im entsprungenen Heimischen unmittelbar die Heimat zu fassen“, so
gelinge ihm doch dieses nicht, weil sich die Heimat entziehe und er von ihr
gar „verstoßen“ werde (ebd.). Des Geistes erste Annahme, „unmittelbar im
Eigenen zu Hauß zu sein“ (ebd.), verzehre darum seine Wesenskräfte. Der
Heimat derart vergeblich zugewendet, erwache in ihm schließlich der Wille,
„um der Heimat willen das Unheimischsein, das ihm die sich verschließende
Heimat schon nahe bringt, eigens aufzusuchen“ (A, 93). Der Geist halte sich
also an die Fremde, aber eben an jene, „die zugleich an die Heimat denken
läßt“ (ebd.). Das ist die „Kolonie“. Sie müsse als „das auf das Mutterland
zurückweisende Tochterland“ verstanden werden. Das bedeutet: „Indem der
Geist Land solchen Wesens liebt, liebt er unmittelbar und verborgen doch nur
die Mutter“ (ebd.). Das erkläre auch, weshalb der Geist, der nur die Mutter
liebt, tapfer Vergessen sei. Vergessen nun könne man in mehrerer Hinsicht. Et-
was könne aus dem Sinn geraten, dann ist es entgangen. Zum anderen könne
etwas mit Absicht vergessen werden, „dann kommt es leicht zur Flucht in an-
deres, was uns gefangen nimmt, so daß wir dabei ‚uns vergessen‘“ (ebd.). Ne-
ben diesen Vorkommnissen führt Heidegger „noch ein anderes Vergessen“ an,
„bei dem nicht wir etwas vergessen, das vielmehr uns vergißt, so daß wir die
Vergessenen sind“ (ebd.). Ein solcher Fall tritt ein, wenn uns das „Geschick“
vergesse und wir „also kein Schicksal mehr empfangen, sondern nur auf der
feigen Flucht vor dem eigenen Wesensursprung im Geschehen umhertreiben“
(A, 93 f.). Eine solche feige Flucht schließt Heidegger für den Geist aber aus,
weil er von Hölderlin tapfer genannt wird. Das bedeute zweierlei. Erstens hat
der Geist die Auszeichnung tapfer zu sein, weil er verborgen seinen Ursprung
liebe, und zum zweiten zeichne den Tapferen aus, daß er vorausblickt und im
Differenzierung und Entgegensetzung 185
Das die Mitte der Hymne bestimmende Nicht ist es gut (v. 30), das wie eine
Zäsur der vorhergehenden Vorstellung eines süßen Schlummers unter Schatten
Einhalt gebietet, führt über die sterblichen / Gedanken auf das Gespräch hin.
Heidegger liest überraschenderweise diese beiden Optionen nicht als Alter-
Differenzierung und Entgegensetzung 187
native, daß also die sterblichen / Gedanken für den Zustand der Seellosigkeit
verantwortlich sind, hingegen das Gespräch für die Seele gut (v. 32) ist,
sondern er versteht das Gespräch vielmehr als das Denken der sterblichen
Gedanken (vgl. A, 123). Ja er faßt seine Ausführungen so zusammen, daß
gerade das „gute Gespräch […] die Sprechenden denkender im Denken der
sterblichen Gedanken“ mache (A, 126). Denn es seien jene Gedanken, die
nach Heidegger „das Seellose“ überwinden (vgl. A, 123). Indem der Dichter
an das denke, „was die Erdensöhne zuerst angeht“, nämliche ihre Sterblich-
keit, könne er ihr Wohnen auf der Erde gründen und ihnen zugleich aus sei-
ner Zwischenstellung zwischen Erde und Himmel heraus die Götter zeigen
(vgl. ebd.).
Binder stellt zu diesen Versen fest, daß Hölderlins sterbliche Gedanken
mitnichten als Gedanken ans Sterben zu deuten seien. Denn seellos sei ein
Schwäbizismus für ruchlos. Entsprechend übersetzt er Hölderlins Worte:
„um meine Seele, meine Offenheit gebracht infolge von sterblichen, mich an
Dingliches fesselnden Gedanken.“383 Bestätigung findet dieser Vorschlag
durch eine Parallelstelle im Hyperion: „Noch rauschen die Ströme in’s Meer,
und schattige Bäume säuseln im Mittag. Der Wonnegesang des Frühlings singt
meine sterblichen Gedanken in Schlaf. Die Fülle der alllebendigen Welt ernährt
und sättiget mit Trunkenheit mein darbend Wesen.“384 Danach wäre es auch
in Andenken der Schlummer aus duftendem Becher (v. 27 ff.), der den sterbli-
chen / Gedanken entgegenwirkt. Doch anders als der Schlummer vermag das
nach der zweifachen Zäsur (Nicht ist es gut, // ... Doch gut / Ist, v. 30 ff.) an-
geführte Gespräch, diese Gedanken mit Bewußtsein zu überwinden. Denn im
Gespräch mag sich das ergeben, was sowohl das Herz angeht als auch auf Tha-
ten hoffen läßt, welche geschehen (v. 34 ff.). Das Gespräch vermittelt also zwi-
schen der vita contemplativa und der vita activa. Es ist darum auch der Ort,
an dem sich der Gesang ankündigt, der dann die kommende Friedensfeier an-
stimmt:385
Viel hat von Morgen an,
Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander,
Erfahren der Mensch; bald sind wir aber Gesang.
Das Gespräch ist die ‚Mitte‘ zwischen den Subjekten, die sich in ihm über-
haupt als solche bilden. Der berühmte Vers, Seit ein Gespräch wir sind, sagt,
383 Vgl. Binder: Hölderlin: „Andenken“, in: Turm-Vorträge (1985/86), hg. von Uvo Höl-
scher, Tübingen 1986, 5–30, hier 16. Zur Diskussion um die sterblichen / Gedanken vgl.
oben Anm. 141.
384 Hyp I, 9 f., Hervorh. von mir.
385 Hölderlin: Friedensfeier (Anm. 33), v. 91–93. Siehe auch die dritte Fassung von Ver-
söhnender, der du nimmergeglaubt, StA II, 137, auf die sich Heidegger bezieht, HWD,
38–40.
188 Etappen der Lektüre
seit wann wir überhaupt sind.386 Heidegger, der schon in seinem Aufsatz zum
Wesen der Dichtung auf die Bedeutung des Gesprächs bei Hölderlin einging,
erläutert nun bezüglich der Hymne Andenken, in der Hölderlin das Gespräch
in das Zusagende und das Zuhörende (vgl. v. 33 f.) zu unterteilen scheint, den
Grund und Ursprung des Gesprächs: „Sagen und Hören bilden nur das ge-
sprochene Gespräch, indem sie das ursprüngliche Gespräch entfalten und bei
solcher Entfaltung selbst erst aus dem ursprünglichen Gespräch entspringen.
Dies ist der stets wörterlose Zuspruch des Zugeschickten, die lautlose Stim-
me des Grußes, in der sich die Zumutung dessen ereignet, was zuvor Einer
im Gemüt tragen muß, der durch die Stimme zum Zeigen bestimmt ist. In
solcher Zumutung stehen, heißt hören können. Das gibt den Wesensgrund
des echten Sagens“ (A, 124). Erneut macht Heidegger die grundlegende Un-
terscheidung geltend zwischen bloß „Wirklichem“, hier „das gesprochene
Gespräch“, und der im verborgenen liegenden „Wirklichkeit“, dem ursprüng-
lichen Gespräch. Letzteres sei durch den „wörterlosen Zuspruch des Zuge-
schickten“ beziehungsweise durch „die lautlose Stimme des Grußes“ be-
stimmt. Dieser wörterlose Zuspruch des ursprünglichen Gespräches wird da-
durch vermittelt, daß „Einer“ ihn zuvor in seinem Gemüt trug. Daraus ergibt
sich in der Tat eine zweifache ‚Zumutung‘. Zum einen die von Heidegger in-
tendierte, nämlich daß „Einer“ die „wörterlose“ und „lautlose Stimme“ des
Grußes hören könne und hieraus sein „echtes Sagen“ autorisiere, zum ande-
ren aber, daß das gesprochene Gespräch sich allein aus diesem Zuspruch ab-
leite, den dieser „Eine“ weitergibt. Gebe es diesen also nicht, dann bliebe folg-
lich nur das Gerede, weil sich ohne ihn kein Gespräch entfalten könne. Ent-
sprechend besteht für Heidegger das gute Gespräch darin, daß „das Gesagte
und das Gehörte das Selbe“ seien (A, 124, vgl. auch HWD, 39). Mögen auch
zwei sprechen und sich gegenseitig zuhören, so verstehen sie einander nur
dann, wenn sie zusammen auf jenen „Einen“ hören, der „zuvor“ die lautlose
Stimme vernommen hat.
386 In diesem Sinne schreibt Hölderlin im November 1802 an Böhlendorff: „das Ent-
stehen des Gedankens im Gespräch und Brief ist Künstlern nöthig. Sonst haben wir keinen
für uns selbst“, StA VI, 433. An diesem für das Subjekt konstitutiven Moment des Ge-
sprächs läßt sich erahnen, wie nötig auch für Celan das Gespräch ist, um dessen Ermögli-
chung sich seine Dichtung bemüht, vgl. oben S. 13 f., 47 f. und unten Kap. Schenkend-ver-
schenkte Hände, S. 211 ff.
Differenzierung und Entgegensetzung 189
dem Text ergibt, kann nicht behauptet werden. Vermutlich darum wurde Die
Silbe Schmerz nicht in diesem Kontext wahrgenommen.387 Es gibt hingegen
die Versuche, Celans Gedicht in andere intertextuelle Bezüge zu stellen. So
lesen Adelheid Rexheuser und Bernhard Böschenstein Die Silbe Schmerz im
Kontext von Jean Paul. Insbesondere die Frage nach der Relation zwischen
Sache und Zeichen bietet diesen Vergleich an.388 James Rolleston und Fiore-
tos wiederum lesen insbesondere die Schlußstrophe im Kontext der zehnten
Duineser Elegie Rilkes. Eben dieselbe Strophe deuten Cecile Cazort Zorach
und Charlotte Melin als eine Antwort auf das Gedicht Und niemand weiß
weiter von Nelly Sachs.389 Rolleston sieht darüber hinaus in dem Gedicht ei-
ne Anspielung auf Novalis’ Reflexion über „die Zahlen und die abstracten
Ausdrücke“390 und Perels macht auf die große Nähe zur von Gershom Scho-
lem beschriebenen „jüdische[n] Buchstabenmystik“ aufmerksam.391
Die unterschiedlichen Interpretationen machen deutlich, daß das Gedicht
in der Tat selbst Leerformen (v. 4) anbietet, in die dann seitens der Leser
annähend alles einzugehen scheint. Dem Begehren, diese Leerformen füllen
zu wollen, ja u. a. das Wort Leerformen selbst als eine Allusion auszuweisen,
kann sich auch die nachstehende Lektüre nicht entziehen, weil sich der Bezug
zu Heideggers Text „Andenken“ buchstäblich aufdrängt. Gleichwohl gilt auch
für das Folgende, was oben schon zur Engführung gesagt wurde: Es wird nicht
darum gehen, das Gedicht Die Silbe Schmerz mehr oder weniger plausibel da-
durch zu erklären, daß man den ‚eigentlichen Intertext‘ des Gedichts nach-
weist und gar versucht, auf diese Weise seine Entstehung zu rekonstruieren.
Aber es geht sehr wohl um die Möglichkeit, dieses Gedicht in einen Pro-
blemzusammenhang zu stellen, zu dem Celan Stellung bezieht. Diesen Zu-
sammenhang bilden die von Heidegger aufgeworfenen Thesen, daß erstens
die „Geschichtlichkeit der Geschichte […] ihr Wesen in der Rückkehr zum
387 Meines Wissens hat nur Martine Broda einen Zusammenhang zwischen Die Silbe
Schmerz, der „Hölderlinschen Dialektik vom Eigenem und Fremden“ und dessen Entwurf
Kolomb hergestellt, vgl. dies.: Dans la main de personne. Essai sur Paul Celan, Paris 1986, 48.
388 Adelheid Brüninghaus [Rexheuser]: „Den Blick von der Sache wenden gegen ihr Zei-
chen hin“. Jean Pauls Streckverse und Träume und die Lyrik Paul Celans, in: Jean-Paul-Jahr-
buch 2 (1967), 55–72; und Bernhard Böschenstein: Umrisse zu drei Kapiteln einer Wirkungs-
geschichte Jean Pauls: Büchner, George, Celan, in: Jean-Paul-Jahrbuch 10 (1975), 187–204.
389 James Rolleston: Consuming History. An Analysis of Celan’s Die Silbe Schmerz, in:
Psalm und Hawdalah. Zum Werk Paul Celans. Akten des Internationalen Paul Celan-Kollo-
quiums, New York 1985, hg. von Joseph P. Strelka, Bern / Frankfurt a. M. / New York / Paris
1987, 37–48; und Fioretos: Nothing (Anm. 129), 330 f. Cecile Cazort Zorach / Charlotte
Melin: The Columbian Legacy in Postwar German Lyric Poetry, in: German Quarterly 65
(1992), 267–293, hier 289. Vgl. Sachs: Gedichte, hg. von Hilde Domin, Frankfurt a. M. 1977,
55 f.
390 Vgl. Rolleston: Consuming History. (Anm. 389), 43.
391 Perels: Zeitlose (Anm. 346), 56 f.
190 Etappen der Lektüre
Eigenen“ habe, „welche Rückkehr erst sein kann als Ausfahrt in das Frem-
de “ (A, 95), daß zweitens entsprechend „die Dichter zuvor Schiffer“ sein
müssen (ebd.), damit diese drittens dann einer der „Einen“ sein können, die
den „wörterlose[n] Zuspruch des Zugeschickten“ (A, 124) annehmen und
schließlich das heilige Pathos in der Sprache zur Darstellung bringen.
Celan nun antwortet hierauf, indem er jenen Schiffer vorstellt, der wie kein
anderer den Aufbruch in eine neue geschichtliche Epoche symbolisiert und
den sich darüber hinaus Hölderlin als Vorbild gewählt hätte, wenn er ein Held
hätte sein wollen. Das ist Kolumbus, dem Hölderlin indirekt schon 1789 ei-
ne kurze Hymne widmete.392 Im Homburger Folioheft dann setzt er unter
dem Titel Kolomb mit folgenden Versen an:393
Wünscht’ ich der Helden einer zu seyn
Und dürfte frei es bekennen,
So wär’ es ein Seeheld.
Celan, ohne sich in dieser Weise mit Kolomb zu identifizieren, schreibt (I,
280 f.):
DIE SILBE SCHMERZ
392 Vgl. Hölderlins Brief an Neuffer vom Dezember 1789: „In einigen glüklichen Stun-
den arbeitete ich an einer Hymne auf Kolomb die bald fertig freichlich auch viel kürzer, als
meine andern ist“, StA VI, 47. Vermutlich meint Hölderlin mit diesem Text das Ruhmes-
gedicht Gustav Adolf (StA I, 85–87), oder aber die Neuffer angekündigte Hymne ist ver-
loren gegangen.
393 Hier nach StA II, 242, vgl. auch die Abweichung in SWB I, 425.
Differenzierung und Entgegensetzung 191
Vergessenes griff
nach Zu-Vergessendem, Erdteile, Herzteile
20 schwammen,
sanken und schwammen. Kolumbus,
die Zeit-
lose im Aug, die Mutter-
Blume,
25 mordete Masten und Segel. Alles fuhr aus,
frei,
entdeckerisch,
blühte die Windrose ab, blätterte
ab, ein Weltmeer
30 blühte zuhauf und zutag, im Schwarzlicht
der Wildsteuerstriche. In Särgen,
Urnen, Kanopen
erwachten die Kindlein
Jaspis, Achat, Amethyst – Völker,
35 Stämme und Sippen, ein blindes
Es sei
knüpfte sich in
die schlangenköpfigen Frei-
Taue –: ein
40 Knoten
(und Wider- und Gegen- und Aber- und Zwillings- und Tau-
sendknoten), an dem
die fastnachtsäugige Brut
der Mardersterne im Abgrund
45 buch-, buch-, buch-
stabierte, stabierte.
Das Gedicht Die Silbe Schmerz spricht von den Möglichkeiten und Konse-
quenzen der Verknüpfung. Ein Du wird an ein anderes übergeben; in Leerfor-
men geht alles ein; Zahlen werden in das Unzählbare mitverwoben; Vergessenes
greift nach Zu-Vergessendem; Edelsteine werden mit Völkern assoziiert und ein
blindes E s s e i schließlich knüpft sich in schlangenköpfige Frei-Taue.
Das Gedicht selbst knüpft, zunächst einmal vom Titel her, an das grundle-
gende Problem an, das oben im Zusammenhang der Gedichte Autopsychogra-
phie und Engführung diskutiert wurde: Das ist die Doppelpein und mithin die
Frage nach der Möglichkeit der Wiederholung des Schmerzes in der Sprache,
im Wort oder wenigstens in der Silbe. Sofern sich Schmerz und Sprache ge-
genüberstehen, stehen sich immer auch Fremdes und Eigenes gegenüber,
192 Etappen der Lektüre
ganz gleich, ob der Schmerz der Sprache fremd ist oder ob vice versa der
Schmerz als der eigene empfunden wird, der sich in die Sprache entäußern
soll, um derart in ihr heimisch zu werden. Daß der Schmerz aber in die Spra-
che ‚hineingeknüpft‘ werden müßte, das ist unhintergehbar gefordert. Es ist
der Schmerz selbst, der die Sprache (langue) herausfordert, ihm eine Form
(parole) zu geben. Und es ist andersherum das mit Sprache begabte Subjekt,
das erst dadurch zu sich selbst finden kann, daß es sich auf den Schmerz als
Fremden einläßt. Denn das Subjekt und seine Sprache können neben sich
nichts dulden, was sie nicht zu benennen wissen. Sie haben das Begehren, die
gesamte Wirklichkeit zu repräsentieren. Die Sprache muß ‚alles‘ sein, muß
selbst das ihr Fremde noch anzeigen, um es wenigstens auf diese Weise als ihr
‚eigenes‘ zu wissen. Hierfür stellt sie die Subjekte, die sich ihr verdanken, in
den Dienst. Auch Celans Gedicht unterliegt diesem Auftrag, auch sein Ge-
dicht bietet „der ganzen Wirklichkeit Schach“.394 Doch indem er den Auftrag
befolgt, unterwirft er die Sprache selbst einer Verwandlung, die für sie nicht
ohne Folgen bleibt.
Nun spricht das Gedicht nicht unmittelbar vom Schmerz oder von der Sil-
be, die das Wort ‚Schmerz‘ bildet. Es gibt vielmehr mit dem zeitlichen Ab-
stand einer Retrospektive Bericht von verschiedenen Prozessen, die zum ei-
nen die Geschichte betreffen und die zum anderen die Logik der Subjekt- und
Sprachbildung angehen. Indem aber zum Ausdruck kommt, wie in diese Ver-
wandlungen der Tod, der Mord, das Abgründige und auch der Imperativ, der
das Sein fordert, einwirken, erweist sich dieser Blick aus der Distanz zugleich
als ein in das Beschriebene involvierter.
Die erste Strophe des Gedichts skizziert in knappster Form, wie ein Sub-
jekt, das alles auf sich vereinigt, zu sich kam. Celans Zeilen nehmen dabei
Formulierungen Heideggers auf, die dieser bei der Bestimmung des „ur-
sprünglichen Gesprächs“ gebraucht:
Es gab sich Dir in die Hand:
ein Du, todlos,
an dem alles Ich zu sich kam. Es fuhren
wortfreie Stimmen rings, Leerformen, alles
ging in sie ein, gemischt 5
und entmischt
und wieder
gemischt.
Diese Strophe scheint selbst nur aus Leerformen zu bestehen. Denn wer ist
das Du, von dem es heißt, es sei todlos? Wer ist der andere, dem dieses Du
(v. 2) in die Hand (v. 1) gegeben wurde? Und wer oder was ist alles Ich, das
von dieser Übergabe zu profitieren schien und durch sie bei sich ankommen
konnte? Kann das todlose Du nicht sterben, obwohl es vielleicht schon um
sein Leben gebracht wurde? Die Hand hingegen, der es gegeben wurde, wird
einem sterblichen Menschen gehören. Doch konnte sie die Gabe annehmen?
Alle genannten Subjekte unterscheiden sich von den in der Dichtung Ce-
lans sonst vorkommenden Personalpronomen der ersten und zweiten Person
Singular dadurch, daß sie großgeschrieben sind. Sie sind von Abstrakta um-
geben, so daß es zunächst scheint, daß ein logisch-objektiver Ton das Gedicht
bestimmt. Doch mit der dritten Strophe tritt dann ein biblisch-narrativer Ton
hervor, der durch das durchgängige Präteritum getragen wird.
Der Negativbestimmung todlos folgt im zweiten Satz eine ebenso rätsel-
hafte: wortfreie Stimmen. Diese fuhren rings, zogen damit einen Kreis, in dem
alles hineingezogen und homogenisiert, dann entmischt und wieder gemischt
wurde. Stehen diese Stimmen, die mit ihren Leerformen eine gewaltige Ver-
wandlungskraft entfachten, im Zusammenhang mit dem impersonalen Neu-
trum Es (v. 1), das im erstes Satz die Subjektstelle einnimmt? Und weiter ge-
fragt, spielt Celan mit den wort-freien Stimmen, die in irgendeiner Form auch
mit dem tod-losen Du zusammenhängen müssen, auf den stets wörter-losen
„Zuspruch des Zugeschickten“ und die „lautlose Stimme des Grußes“ an, al-
so auf jene Gabe, die nach Heidegger das „ursprüngliche Gespräch“ bestimmt
(vgl. A, 124)? Wenn dem so wäre, dann darf hypothetisch unterstellt werden,
daß Celan in Abbreviatur eine Ich-Werdung beschreibt, die nicht nur eine Art
Rückkehr zu sich vollzogen hat, sondern die auch durch den Zuspruch eines
fremden Geschicks – des todlosen Du – bestimmt ist. Führt man die Analo-
gie zu den Deutungen, die Heidegger an Hölderlins Kolonie-Fragment ent-
wickelt, weiter, dann könnte dieses zu sich gekommene Ich, der zu Hauß an-
gekommene Dichter sein, dem es nun obliegt in seinen Darstellungen, den
Leerformen, alles hineingehen zu lassen. Was aber ist alles, und läßt es sich
näher bestimmen?
Und Zahlen waren
10 mitverwoben in das
Unzählbare. Eins und Tausend und was
davor und dahinter
größer war als es selbst, kleiner, aus-
gereift und
15 rück- und fort-
verwandelt in
keimendes Niemals.
Das Mitverwobensein der Zahlen in das Unzählbare berührt auch das oben
besprochene Verhältnis der Dichtung zum Handwerk, das für Hölderlin in
dem „unendlichen aber durchgängig bestimmten Zusammenhange“ zwischen
194 Etappen der Lektüre
dicht herausgelöst betrachtet, demonstriert unfreiwillig die nur auf die „logische Form“
blickende Analyse von Vincenzo Vitiello: Gegenwort. Paul Celan und die Sprache der Dich-
tung, in: Celan-Jahrbuch 5, 7–22, insb. 13 f.
398 Zorach / Melin: Columbian Legacy (Anm. 389), 287.
399 Ebd.
Differenzierung und Entgegensetzung 195
Heidegger hatte als eine Form des Vergessens jenes „andere Vergessen“ be-
schrieben, bei dem das Geschick „uns vergißt, so daß wir die Vergessenen
sind“ (A, 93). Wer aber „kein Schicksal mehr“ empfängt, ist nicht nur vom
ursprünglichen Gespräch ausgeschlossen, sondern dem bleibt nur die „feige
Flucht vor dem eigenen Wesensursprung“ (A, 93 f.). Für den Geist schließt
Heidegger eine solche Flucht aus, weil seine Ausfahrt in die Fremde schon
auf die Heimat projektiert sei. Er sei darum auch kein Vergessener.
Nun wollte Heidegger sicher nicht, als er Hölderlins Variante zu Brod und
Wein als Paradigma der „Grundwahrheit der Geschichte“ vorstellte (A, 89 ff.
u. GA 53, 60 f.), mit seiner Deutung zugleich zum Ausdruck bringen, daß Ko-
lumbus der herausragende Seeheld und Repräsentant des Weltgeistes sei, der
die technischen Neuerungen seiner Zeit zu nutzen wußte, um das Mittelalter
tatenreich zu überwinden. Es ist aber nicht auszuschließen, daß Hölderlin
auch an Kolomb dachte, als er seine für Heidegger so zentralen Verse notier-
te. Denn auch Hölderlins Studienfreund Hegel verstand die „portugiesischen
und spanischen Seehelden“, welche „einen neuen Weg nach Ostindien ge-
funden und Amerika entdeckt“ haben, ganz in diesem Sinne.400 Neben der
Erfindung der Buchdruckerkunst und des Schießpulvers, hat nach Hegel
„dieses Hinaus des Geistes, diese Begierde des Menschen, seine Erde kennen-
zulernen“ (ebd.), dazu beigetragen, daß „endlich nach der langen folgenrei-
chen und furchtbaren Nacht des Mittelalters“ in der Geschichte wieder ein
schöner Tag verkündet werden konnte (ebd., 491). Diesen preist Hegel als
„Tag der Allgemeinheit“ (ebd.), wenn er auch einräumt, daß „dieser Fort-
schritt […] noch innerhalb der Kirche geschehen“ ist (ebd., 490). Denn der
„Zweck des Kolumbus war auch besonders ein religiöser: Die Schätze der rei-
chen noch zu entdeckenden indischen Länder sollten, seiner Ansicht nach,
zu einem neuen Kreuzzuge verwendet und die heidnischen Einwohner der-
selben zum Christentume bekehrt werden. Der Mensch erkannte, daß die Er-
de rund, also ein für ihn Abgeschlossenes sei, und der Schiffahrt war das neu
erfundene technische Mittel der Magnetnadel zugute gekommen, wodurch
sie aufhörte, bloß Küstenschiffahrt zu sein“ (ebd. 490 f.).
Hegel unterstreicht in seiner die Geschichte im Sinne des Fortschritts deu-
tenden Art, daß Kolumbus’ Entdeckungen wohl das gehegte Weltbild der
Kirche falsifizierten, daß er aber gleichwohl als Botschafter der Kirche seine
Reise antrat. Nicht nur neue Erdteile, sondern eben auch die Herzen der heid-
nischen Einwohner sollten entdeckt und missioniert werden. Dahinter stand
der sanktionierte Wahn, daß nur dann, wenn diese Kindlein mit dem Geist
des Christentums beseelt würden, sie keine vom Geschick Vergessenen mehr
400 Vgl. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: Werke, Bd. 12, Frank-
wären. In diesem Geist sollten sie endlich erwachen (vgl. v. 33), kostete es sie
auch das Leben.
Diese realgeschichtlichen Implikationen von Hölderlins Kolonie-Fragment
könnten selbst dann mitgelesen werden, wenn Hölderlin sie selbst nicht in-
tendiert hätte. Heidegger aber kommt dieses nicht in den Sinn, weil er das
Grundgesetz der Geschichte an diesem Fragment zu exemplifizieren ver-
sucht. Dabei spricht einiges dafür, daß Hölderlins Bewunderung für die See-
fahrer und Entdecker von einer Skepsis begleitet ist und daß er gegenüber den
‚Tatenmenschen‘ Zwiespältiges empfand. Dies belegen folgende Verse, die
er im Homburger Folioheft im Zusammenhang seines Kolomb schrieb (StA
II, 242):
Gewaltig ist die Zahl
Gewaltiger aber sind sie selbst
Und machen stumm
die Männer.
Sicher ist der Eindruck, den Hölderlin etwa in Bordeaux von den zahllo-
sen Seefahrern gewinnen konnte, gewaltig. Und sicher bezeugt die Stumm-
heit auch eine Bewunderung für sie. Doch in dem Verschlagen der Sprache
ob der Gewaltigkeit der Männer, die schlechthin besteht, ganz gleich wie
viele es von ihnen gibt, gibt sich auch die Ahnung von der Gewalt zu er-
kennen, die von ihnen ausgeht, sobald sie in die Fremde ausfahren, um diese
sich anzueignen. Diese Ambivalenz kommt ebenfalls in dem Kolonie-Frag-
ment zum Vorschein. Denn daß der ausfahrende Geist tapfer Vergessen ist,
macht auch auf die Gewalt und Kriegsbereitschaft (tapfer) aufmerksam, der
immer auch ein Vergessen einhergeht. Heidegger bewahrt sich vor diesem
Gedanken, indem er das tapfer Vergessen als „wissende[n] Mut“ (A, 94) deu-
tet. Doch selbst in der Hymne Andenken klingt Hölderlins kritische Haltung
gegenüber den Männern der See an. Denn diese scheuen nicht zuletzt auch
deshalb die „Quelle“ (Andenken, StA II, 189, v. 39), weil diese im Unter-
schied zum Meer kein Vergessen duldet. Andersherum kann aber der „Reich-
tum / Im Meer“ nur dann gewonnen werden, wenn man den „geflügelten
Krieg“ nicht verschmäht und die Einsamkeit „unter / Dem entlaubten Mast“
(ebd., v. 40–46). Während Heidegger den geflügelten Krieg allein metapho-
risch als die Kunst die „Segel“ zu setzen und als den „Kampf mit dem Wid-
rigen der Winde“ begreift (A, 135 f.), vergißt er den tödlichen Krieg, den
die Entdecker und Kaufleute gegen die Völker, Stämme und Sippen geführt
haben.
Celan erinnert dieses Vergessen. Er führt in seinem Gedicht zu Heideggers
Lektüre „Andenken“ Kolumbus und mithin auch die anderen ‚Kolonielieben-
den‘ als Krieg führende Vergessende vor, die sich die angeblich vom Geschick
Vergessenen ‚griffen‘. Entdeckt wurden dabei Erdteile. Geteilt aber wurden
Differenzierung und Entgegensetzung 197
hierbei die gegriffenen Herzen, die als Folge wie die entdeckten Länder
schwammen, sanken und schwammen.401
Die Mordhandlungen der freien Entdecker wenden die Verse um die Mitte
von Celans Gedichts dann dahingehend, daß unüberhörbar Hölderlins Wor-
te vom „geflügelten Krieg“ und vom „entlaubten Mast“ nachhallen. Daß sich
Heidegger nicht auf die Realgeschichte der Kolonie liebenden Geister einließ
und daß er dem entsprechend Kolumbus ‚vergessen‘ hat, das mahnt Celan an,
indem er – fast zynisch – Heideggers Ausführungen zur Hymne Andenken
gleichsam adaptiert und aus dieser Textnähe zu ‚Ende‘ denkt: ‚Wenn der „ge-
flügelte Krieg“ sich nur gegen Wind und Wetter richtete, dann wurden folg-
lich von Kolumbus auch bloß Masten und Segel gemordet‘.
[…] Kolumbus,
die Zeit-
lose im Aug, die Mutter-
Blume,
25 mordete Masten und Segel. Alles fuhr aus,
frei,
entdeckerisch,
blühte die Windrose ab, blätterte
ab, ein Weltmeer
30 blühte zuhauf und zutag, im Schwarzlicht
der Wildsteuerstriche. In Särgen,
Urnen, Kanopen
erwachten die Kindlein
Jaspis, Achat, Amethyst – Völker,
35 Stämme und Sippen, […]
Wenn das „Gesetz der Geschichte“ von der Rückkehr bestimmt ist, dann ist
es die längst fällige Rückkehr des Vergessenen, welches das Zu-Bedenkende
bleibt. Wie aber kann dieses zutag kommen, welche Verfahrensweise muß
hierfür die Darstellung finden und was wäre schließlich an und mit ihr zu
denken?
Celan nutzt die Möglichkeiten der Annäherung von semantisch fern lie-
genden Bildfeldern, um aus den sich daraus ergebenden Überlappungen Ein-
sichten zu gewinnen, die sich beispielsweise dann freisetzen, wenn sich aus
ein und derselben Silbe unterschiedliche Morpheme bilden lassen. Möglich ist
401 Celan ging der Eroberung der Erd- und Herzteile in einem Gedicht aus dem März
1967 noch einmal nach: „WUTPILGER-STREIFZÜGE durch / meerisches Draußen und Drin-
nen, / Conquista / im engsten / untern Ge- / herz. / (Niemand entfärbt, was jetzt strömt.)
// Das Salz einer hier / untergetauchten / Mit-Träne / müht sich die hellen / Logbücher-
türme / aufwärts. // Bald / blinkt es uns an.“, II, 169.
198 Etappen der Lektüre
dies, weil die Silbe eine Zwischenstellung zwischen den semantisch noch
nicht besetzten Lauten und dem Wort einnimmt. Sie muß also selbst nicht
notwendigerweise mit der kleinsten morphologischen Einheit eines Wortes
identisch sein. Sie ist zwar, wie ihr Etymon verrät, die ‚Zusammen-fassende‘
(gr. sýn – lambánō),402 weil sie die Buchstaben zu einem Laut bündelt, sie hin-
tertreibt aber mitunter auch die semantische Einheit des Wortes und spaltet
es in unterschiedliche Signifikate auf.403 Darum insistiert Celan im Titel auf
der Silbe ‚Schmerz‘, obwohl diese mit dem Wort ‚Schmerz‘ identisch ist.404
Die konkreten paronomatischen und etymologischen Komponenten, die
in Die Silbe Schmerz zum Tragen kommen, hat Perels zusammengestellt. Er
weist insbesondere auf die indogermanische Wurzel *mer hin, die bestim-
mend ist für: „aufreiben, sterben, zurückzuführen [auf] russisch smert’: Tod
(dazu gehört die Bildung bessmertnyi: todlos bzw. unsterblich), sowie das
deutsche Wort ‚morden‘; eine fast gleichlautende indogermanische Wurzel
*(s)mer: denken, sinnen, sorgen, entwickelt sich unter anderem weiter zu la-
teinisch memoria.“405 Des weiteren hebt Perels die Paronomasien und Ho-
monymien zur Wurzel *mer hervor, als da sind: „französisch mère: Mutter,
französisch und jiddisch mer: Meer, und jiddisch merder: Mörder, woran
Marder (Vers 44 ‚Mardersterne‘) anklingt.“406 Was Perels jedoch vernachläs-
sigt, was aber im Gedicht erst die disparaten Elemente als miteinander ver-
bundene lesbar macht, ist das in den hier zitierten Versen zu beobachtende
Verfahren der bildlichen und sprachlichen Verknüpfung historischer Ereig-
nisse mit Termini des Nautischen und Botanischen. Dieses ist konkret in den
Blick zu nehmen, will man ermessen, wie Celan fremde Sinnzusammenhänge
so miteinander verknüpft, daß insbesondere jene Prämissen und immer schon
unterstellten Kausalitäten zersetzt und hinterfragt werden können, die das
Zeit- und Geschichtsverständnis organisieren. Nun suggeriert Celan durch
diese Annäherung nicht einen quasi-organischen Prozeß für die Entwicklung
der Geschichte. Denn er greift bei diesem Verfahren nicht auf eine Sinn ge-
bende Metapher der Natur zurück, welche das Erzählte umrankt. Vielmehr
geht es um die Andeutung eines verborgenen Konnex, dem sich Celan dar-
über anzunähern versucht, daß er bestimmte Termini technici in ihrem
mandsrose, 124.
405 Perels: Zeitlose (Anm. 346), 57; vgl. Kluge: Etymologisches Wörterbuch (Anm. 99),
Stichworte: Mord, 487 f., und Schmerz, 663 f.; sowie Hermann Menge: Langenscheidts
Großwörterbuch Griechisch-Deutsch, unter Berücksichtigung der Etymologie, Berlin/Mün-
chen/Wien/Zürich 221973, 445.
406 Perels: Zeitlose (Anm. 346), 57.
Differenzierung und Entgegensetzung 199
407 Der Knoten ist gleichsam das Paradigma des von Celan hier angezeigten Verfahrens.
Denn diese zu knüpfen ist nicht nur das unerläßliche Handwerk der Seefahrer, sondern der
Knoten ist auch, wie das ahd. knoto sagt, eine Knospe.
408 Vgl. Celan als Übersetzer (Anm. 23), 42–47; vgl. Das kleine Blumenbuch von Rudolf
Koch und Fritz Kredel, Leipzig 1933, Insel-Bücherei Nr. 281. Diesen Band schätzte Celan
sehr. Neben der Herbstzeitlosen sind in diesem Buch auch folgende im Zusammenhang des
Gedichts Todtnauberg und dem Gespräch im Gebirg bedeutsamen Pflanzen in Farbzeich-
nungen abgebildet: Breitblättriges Knabenkraut, lat. Orchis latifolia; Arnika; Augentrost und
Türkenbund.
409 Guillaume Apollinaire: Œuvres poétiques, publ. par Marcel Adéma et Michel Décau-
Umkehrung ist, die auf das gleiche hinausliefe. Auffällig nun ist, daß sich Ce-
lan und Heidegger an dem Punkt, bei dem das „Gesetz der Geschichte“ auf
dem Spiel steht, insofern ‚nahe‘ zu sein scheinen, als sich in diesem Zusam-
menhang beide ausdrücklich auf die Mutter besinnen. Bei Heidegger wird dies
daran offenbar, daß er sein Denken, wie oben dargestellt, auf die „Mutter der
Musen“ bezieht (WhD, 7) und daß er mit dem Geist verborgen das „Mutter-
land“ liebt, während dieser zum „Tochterland“ ausfährt (vgl. A, 93). Es
scheint gar so, daß Celan und Heidegger darin übereinkommen, daß nur über
die Tochter zur Mutter zurückgekehrt werden könne. „Das Gesetz der Ge-
schichte“ hieße dann: die Tochter-vor-der-Mutter.412
Celan spielt in Die Silbe Schmerz ohne Frage auf Heideggers in die drei
Momente Ursprung, Ausfahrt und Heimkehr gegliederte „Gesetz der Ge-
schichte“ an. Darauf deuten die wiederholten Dreierreihen: gemischt, entmischt
und gemischt; schwammen, sanken und schwammen; blühte ab, blätterte ab,
blühte zuhauf und zutag; Särge, Urnen, Kanopen; Jaspis, Achat, Amethyst; Völ-
ker, Stämme, Sippen. Daß er aber damit dieses Gesetz weder übernimmt noch
einfach umdreht, das ergibt der Bezugspunkt zum ausfahrenden Kolumbus,
der selbst eine spezielle Verbindung zur ‚Mutter‘ hat. Denn Kolumbus hat die
Mutter- / Blume deshalb im Aug, weil die Caravelle, mit der er 1492 seine er-
ste Reise ins Ungewisse antrat, den Namen Santa Maria trug.413 Die ‚heilige
Mutter Maria‘ trug ihn folglich über das Meer. Santa Maria ist aber zugleich
die mater dolorosa, die Schmerzensmutter. An ihr offenbart sich dergestalt
nicht nur ein verborgener Zusammenhang zum Schmerz, sondern im Wort
dolorosa überdies die Silbe ‚rosa‘.414 Für welchen Schmerz und für welchen
Niemand diese kaum zu erkennende Rose jedoch steht, klärt sich erst, wenn
man Hegels Darstellung erinnert, wonach Kolumbus im christlichen Auftrag
unterwegs war. Denn gerade im Jahr 1492 hat man in Spanien die christliche
Mission dahingehend verstanden, daß alle schon im 14. Jahrhundert zur Kon-
version gezwungen Juden abermals als Scheinchristen verfolgt wurden. Den
als Marranos beschimpften Juden warf man vor, hinter der Maske des Chri-
stentums am jüdischen Glauben und seinen Gesetzen abseits der öffentlichen
Sphäre festzuhalten. Die einsetzenden Verfolgungen bedeuteten, daß zeit-
gleich mit Kolumbus mehr als hunderttausend Juden ‚ausfahren‘ mußten: –
Alles fuhr aus (v. 25). Alles heißt hier: der Eine und zum anderen Tausende
412 Peter Mayer berichtet, daß in der jüdischen Tradition die Blume Herbstzeitlose
„Sohn-vor-dem-Vater“ genannt wird, vgl. ders.: Paul Celan als jüdischer Dichter, Diss. Hei-
delberg 1968, Landau 1969, 62; vgl. auch Perels: Zeitlose (Anm. 346), 55.
413 Zur Zeitlosen heißt es im Deutschen Wörterbuch (Anm. 162), Bd. XXXI, 566, daß
diese Blume „auf die jungfrau Maria wie auch auf junge mädchen als die früh blühenden be-
zogen“ sei.
414 Ebd. wird auch Achim von Arnim mit den Versen zitiert: „die blume heiszt nicht ro-
se, ... / sie heiszt die zeitenlose, / weil ihr die zeit nichts thut“.
Differenzierung und Entgegensetzung 201
(vgl. v. 11) mußten sich auf denkbar unterschiedliche Wege machen. Während
jener aber mit seinen Männern wieder heimfuhr, bedeutete die Ausfahrt für
die vertriebenen Juden zunächst die Flucht nach Portugal, später dann die
Diaspora in alle Welt: – ohne Rückkehr. An dieser Stelle wird die Differenz
zu Heidegger offensichtlich. Celan spricht zwar in der Meridian-Rede davon,
daß die „Umwege“, die er mit seinen Gedichten geht, ein „Sichvoraus-
schicken zu sich selbst“ seien und damit eine „Art Heimkehr“ (III, 201),
doch sind die auf diesen Umwegen freigelegten Einsichten grundlegend von
dem zu unterscheiden, was Heidegger die „Grundwahrheit der Geschichte“
(GA 53, 61) nennt. Denn das „Heimischwerden im Eigenen“ (ebd., 60) kann
für Celan nur heißen, illusionslos anzuerkennen, exiliert zu sein und mit sei-
ner Mutter- / Blume „zeltlos“ und „auf das unheimlichste im Freien“ (III,
186) zu stehen. In diesem Sinne ‚frei‘ dürften dann auch die Frei- / Taue sein,
von denen in der letzten Strophe die Rede ist (I, 281):
35 […], ein blindes
Es sei
knüpfte sich in
die schlangenköpfigen Frei-
Taue –: ein
40 Knoten
(und Wider- und Gegen- und Aber- und Zwillings- und Tau-
sendknoten), an dem
die fastnachtsäugige Brut
der Mardersterne im Abgrund
45 buch-, buch-, buch-
stabierte, stabierte.
Dem Verstehen entgegen steht der Schluß des Gedichts. Was als blind ge-
kennzeichnet ist, bleibt auch seiner Herkunft dunkel. Weder ein Schwarzlicht
(v. 30), das ja die weißen Flächen – zwischen den Buchstaben – hervorhebt
noch ein Navigationsgerät mit den Kurs angebenden Steuerstrichen (vgl. v. 31)
stehen als Verstehenshilfe zur Verfügung. Fioretos meint darum, daß der
gesperrt gedruckte Befehl E s s e i ‚gesperrt‘ sei und also als solcher seine
Unzugänglichkeit anzeige.415 Zorach und Melin versuchen sich dadurch zu
helfen, daß sie in den schlangenköpfigen Frei- / Tauen, in die der unvermittelt
auftauchende Imperativ sich knüpfte, ein Selbstzitat der Todesfuge wiederzuer-
kennen glauben.416 Denn diese spricht von dem schreibenden Mann, der im
Hause wohnt, „mit den Schlangen“ spielt und davon „träumet der Tod ist ein
Meister aus Deutschland“ (vgl. I, 41 f.). Analog hierzu wäre auch das Bild von
der fastnachtsäugigen Brut / der Mardersterne im Abgrund (v. 43 f.) zu verste-
hen. All das scheint dafür zu sprechen, daß Celan abschließend ein „sarcasti-
cally apocalyptic scenario“ entwirft.417
Zu fragen aber bleibt, wie sich dieses abgründige Szenario zur indizierten
Buchstäblichkeit der Schrift und zum Lesen derselben verhält. Schließt sich
doch hier die Frage an, ob Celan in diesen Versen auch auf die von Heidegger
vertretene Annahme eingeht, wonach der Dichter als der durch die „lautlose
Stimme“ des Geschicks gegrüßte „zum Zeigen bestimmt“ sei, so daß unter Men-
schen das einander verstehende Gespräch einsetze (vgl. A, 124). Heidegger je-
denfalls sah in Hölderlin diesen einen, der in diesem Sinne „Zeigen“ könne.
Wollte man also den soweit vorgeschlagenen textnahen Bezug zu Heideg-
gers „Andenken“-Lektüre auch bezüglich der letzten Verse des Gedichts wei-
tertreiben, dann ist zu prüfen, ob die schlangenköpfigen Frei- / Taue nicht auf
jene Überlegungen Heideggers anspielen, die von den „Dichtern“ sagen, daß
sie den „Schlangen gleich“ seien. Heidegger greift damit ein Wort von Höl-
derlin auf, welches dieser am Anfang seines dritten Entwurfs zur Hymne
Mnemosyne sagt: „und ein Gesez ist / Daß alles hineingeht, Schlangen gleich“
(StA II, 197). Da Hölderlin seinen ersten Entwurf zu Mnemosyne zuerst mit
Die Schlange und dann mit Das Zeichen überschrieb (StA II, 817), werde er-
sichtlich, so Heidegger, daß die Dichter so „zweideutigen Wesens“ wie die
Schlange seien. Denn die Dichter sind „Zeichen, die als zeigende zugleich ent-
bergen und verbergen“ (A, 115).
Daß im Kontext des Gedichts Die Silbe Schmerz die Frei-Taue in der Tat
auch deshalb schlangenköpfig sind, weil sie nicht nur ‚zweideutig‘, sondern
selbst ‚Zeichen‘ sind, das legt ein weiterer hier anzuführender Sachverhalt na-
he, der im unmittelbaren Zusammenhang der Entdeckung Südamerikas durch
Kolumbus und die anderen Seefahrer steht. Denn die Hochkultur der Inkas
hatte eine spezielle Form der ‚Schrift‘ entwickelt, auf die sich Celans Taue be-
ziehen könnten: den Quipu. Der Quipu ist eine Knotenschnur, die den Inkas
als Hilfsmittel zur Registrierung etwa von Steuereingängen und auch zur
Weitergabe von geschichtlichen Ereignissen diente. Er bestand aus vielen mit
Knoten versehenen Schnüren, die an einem Stock oder an einer Querschnur
befestigt waren. Die Zahl der Knoten im Zusammenhang mit bestimmten
Farben, die die Gegenstände oder Landschaften bezeichneten, ergaben die
Mitteilung. Im Verlaufe der kriegerischen Auseinandersetzungen mit den
Spaniern ist diese Knotenschrift im 16. Jahrhundert verloren gegangen.
An diese vergessene Schrift scheint Celan im wahrsten Sinne mit den
Frei- / Tauen anzuknüpfen, die dahingehend als Zeichen verstanden werden
können. Doch ein Zeigen im Sinne eines „echten Sagens“, das im „Wesens-
3. Hölderlintürme
Gut zwanzig Monate vor Die Silbe Schmerz schrieb Celan Ende Januar 1961
das Gedicht Tübingen, Jänner (I, 226). Beide Gedichte wurden zusammen in
dem kleinen Zyklus, den Celan für die Neue Rundschau konzipierte, zuerst
veröffentlicht.418
TÜBINGEN, JÄNNER
Käme,
käme ein Mensch,
käme ein Mensch zur Welt, heute, mit
dem Lichtbart der 15
Patriarchen: er dürfte,
spräch er von dieser
Zeit, er
dürfte
nur lallen und lallen, 20
immer-, immer-
zuzu.
(„Pallaksch. Pallaksch.“) 23
419 Die Verse 3–5 zitieren den ersten Vers der zweiten Triade in Hölderlins Hymne Der
Rhein (StA II, 143). Pallaksch (v. 23) ist der von Christoph Theodor Schwab (1846) über-
lieferte „Lieblingsausdruck“ des kranken Hölderlins, der nach Schwab sowohl Ablehnung
als auch Zustimmung bedeuten konnte, vgl. Der kranke Hölderlin. Urkunden und Dich-
tungen aus der Zeit seiner Umnachtung, hg. von Erich Trummler, München 1921, 109.
Differenzierung und Entgegensetzung 205
420 Vgl. Axel Gellhaus: Erinnerung an schwimmende Hölderlintürme. Paul Celan Tübin-
gen, Jänner, Marbach a.N. 1993, 6.
421 So deutet Bernhard Böschenstein die ersten Verse, ders.: Paul Celan: „Tübingen, Jän-
ner“, in: ders.: Studien zur Dichtung des Absoluten, Zürich / Freiburg i. B. 1968, 177–180,
hier 177 f.
422 Vgl. Zbikowski: diaphan (Anm. 330), 192 f.
423 Vgl. Foucault: Was ist ein Autor? (Anm. 6). An der Rezeptions- und Editionsge-
schichte Hölderlins läßt sich beispielhaft studieren, wie ein Autor überhaupt zu einen sol-
chen wird, vgl. u. a. Gunter Martens: Hölderlin-Rezeption in der Nachfolge Nietzsches. Sta-
tionen in der Aneignung eines Dichters, in: HJb 23 (1982/83), 54–78; Henning Bothe: „Ein
Zeichen sind wir, deutungslos“. Die Rezeption Hölderlins von ihren Anfängen bis zu Stefan
George, Stuttgart 1992 und Heinrich Kaulen: Rationale Exegese und nationale Mythologie.
Die Hölderlin-Rezeption zwischen 1870 und 1945, in: Zeitschrift für deutsche Philologie
113 (1994), 554–577.
206 Etappen der Lektüre
kannt werden müßte, ergänzt Zbikowski, daß Hölderlin in seinem Turm 1823
und 1825 auch von dem Zeichner und Lithographen Johann Georg Schreiner
besucht wurde.424 Nun befestigt Zbikowski durch diesen Hinweis die bio-
graphische Referenz und der Plural im Gedicht scheint damit begründet. Es
bedarf vielleicht noch einer weiteren Ergänzung bezüglich der ertrunkenen
Schreiner, um dann tatsächlich über das sogenannte Biographische hinaus die
poetologischen Implikationen dieses Plurals ermessen zu können.
Es ist im Zusammenhang der Frage, wie das Werden beziehungsweise das
Entspringen der Dichtung zu erklären sei, auf das „Handwerksmäßige“ ein-
gegangen worden. Hölderlin hatte auf seine Weise hierzu Stellung bezogen.
Der Schreiner nun ist jener ausgezeichnete Handwerker, der Schreine baut.
Heidegger hatte beiläufig die Vermutung ausgesprochen: „Vielleicht ist das
Denken auch nur dergleichen wie das Bauen an einem Schrein“, um dann
festzustellen, daß das Denken „jedenfalls ein Hand-Werk“ sei (WhD, 50 f.,
s. o. S. 174 f.). Aber auch unmittelbar auf Hölderlin bezogen, spricht Heideg-
ger vom Schrein. So konnte Celan im Vorwort zur zweiten Auflage der Er-
läuterungen zu Hölderlins Dichtung (1951) diese Vorüberlegung lesen: „Was
die Gedichte Hölderlins in Wahrheit sind, wissen wir trotz der Namen ‚Ele-
gie‘ und ‚Hymne‘ bis zur Stunde nicht. Die Gedichte erscheinen wie ein tem-
pelloser Schrein, worin das Gedichtete aufbewahrt ist.“425 Celan notierte sich
1954 in seinem Arbeitsheft, das er während der Lektüre von Was heißt Den-
ken? anlegte: „– i – Gedichte: ‚tem p e l l o s e r S c h r e i n‘“.426 Zieht man also
in Betracht, daß bei den Besuchen ertrunkener Schreiner nicht nur an Hölder-
lins Besucher, sondern auch an die tempellosen Schreine zu denken ist, welche
das Heiligste, gewissermaßen das Rein-entsprungene, bewahren, dann stellt
sich auch ein unmittelbarer Bezug zu dem Menschen mit / dem Lichtbart
der / Patriarchen her, der als diese geistige und weltliche Autorität berechtigt
scheint, von dieser Zeit – heute – sprechen zu können. Und es würde sich in
dieser Konjunktion noch einmal das von Celan gegenüber Bender Ausge-
sprochene als bedeutsam erweisen, wonach zwischen dem seltenen Gedicht,
das als tempelloser Schrein ertrunken ist, und der Feststellung, daß es „wenig
Menschen“ gibt (vgl. Kap. Vom Handwerk zur Gabe der Hände, S. 176 f.), ein
Zusammenhang besteht. Der Schrein aber, der keinem Tempel mehr zu-
gehört, ist exiliert. Eben dieses ist auch das Gedicht, das auf diese Tatsache
424 Vgl. Zbikowski: diaphan (Anm. 330), 198; siehe auch die Zeichnungen in: SWB III,
855 u. 857 und in: Adolf Beck / Paul Raabe (Hg.): Hölderlin. Eine Chronik in Text und
Bild, Frankfurt a. M. 1970, 319 u. 415; sowie: Bernhard Zeller: Ein unbekanntes Hölderlin-
bildnis, in: HJb 8 (1954), 128–132.
425 EHD, 7 u. 194, Hervorh. von mir.
426 Arbeitsheft (Anm. 333), dort S. 6. Daß diese Quelle hier zitiert werden kann, ist der
freundlichen Genehmigung von Eric Celan und dem Suhrkamp Verlag in Frankfurt a. M.
zu danken.
Differenzierung und Entgegensetzung 207
nicht zuletzt dadurch aufmerksam macht, daß es selbst die zunächst nahelie-
gende Referenz auf Hölderlins Schreiner Zimmer durch den Plural potenziert.
Was aber versprechen sich diese Schreiner beziehungsweise die tempellosen
Schreine von den wiederholten Besuchen bei jenen Worten, die dorthin tau-
chen, wo sie selbst ertrunken sind? Diese tauchenden Worte sprechen in der
nachfolgenden zweiten Hälfte des Gedichts im Modus des Irrealis von einer
Möglichkeit, die selbst nicht in Worte gefaßt werden kann. Sie simulieren,
daß das erst noch Kommende schon möglich sei, nämlich zu sprechen. Sie
sprechen folglich vom Bedingungsgrund des Sprechens, der ihnen selbst
nicht zur Verfügung steht. Es sind also auch darum tauchende Worte, weil sie
keinen festen Grund haben. Ebenso wie jener durch den Lichtbart ausgewie-
sene Mensch, der heute von dieser Zeit nur sprechen könnte, wenn er lallen
würde, ebenso können diese Worte selbst allenfalls als Palilalie von diesem
kommenden Menschen sprechen, der nicht ankommt, weil selbst dann, wenn
er schon gekommen wäre, er nicht vernommen würde. Denn welchen Bedin-
gungen sein Ankommen unterliegt, das sagt die dritte Strophe, indem sie Zei-
le für Zeile mit jeder Ergänzung eine weitere Einschränkung anzeigt. Je mehr
diese Verse sich stotternd wiederholen, desto deutlicher wird die Unmöglich-
keit dessen, was sie sagen und was sie selbst sind. Schließlich wird nichts mehr
gesagt, sondern nur noch ‚gedoppelt‘. Diese Sprechbewegung zum Sprechen
eines möglicherweise Kommenden kulminiert in den eingeklammerten Silben
(„Pallaksch. Pallaksch.“). Selbst noch der von Hölderlin gemeinte Sinn dieser
Worte, nämlich ‚Ja‘ oder ‚Nein‘, müßte zugunsten einer bloßen Lautmalerei
aufgegeben werden, damit man in diesen Silben nicht allein die wirre Onoma-
tomanie Hölderlins wiederzuerkennen meint, sondern statt dessen ins Was-
ser eintauchende Sprünge hören könnte, die damit eine Gegenbewegung zum
Rein-entsprungenen wären. In dieser Weise versucht das selbst lallende Ge-
dicht doch noch die Palimnese des nicht zu Erinnernden. Wollte man Höl-
derlin also erneut aufsuchen, dann müßte man springen und vielleicht gerade
zu jenen Ertrunkenen tauchen, die Hölderlin zu Lebzeiten besuchten. Wie oft
aber wäre dieser Sprung zu springen, um auch in dieser Zeit zum im tempello-
sen Schrein verwahrten Gedichteten zu gelangen: immer-, immer- / zuzu.
427 Die möglichen Allusionen auf Büchner weist nach: Zbikowski: diaphan (Anm. 330),
Hervorzuheben ist vielmehr die sowohl hier als auch in Die Silbe Schmerz und
in anderen Gedichten Celans zu beobachtende Praxis der ‚Verdoppelung‘ der
Silben und die Pluralisierung der Referenzen, die im Falle von Tübingen, Jän-
ner gerade auch den Blick auf Hölderlin verstellen. Dieses Verfahren ist näher
zu hinterfragen, weil es nicht gut mit der Forderung zusammenzugehen
scheint, daß dem Gedicht jener singuläre Mensch mitgegeben sei, dessen
Hand es geschrieben hat und daß, wie Celan am 22. Oktober 1960 in Darm-
stadt sagt, „jedem Gedicht sein ‚20. Jänner‘ eingeschrieben bleibt“ (III, 196,
vgl. auch 194 u. 201). Es müßte also gezeigt werden, warum überhaupt nur in
solcher, die Sprache an den Rand treibenden Bewegung, bei der diese ihre se-
mantische und referentielle Funktion einzubüßen droht, es geschehen könn-
te, daß des eingeschriebenen Datums gedacht werden kann, und warum gera-
de im Lallen und im Knüpfen nicht aufzulösender Knoten das Gespräch und
die „Begegnung“ (III, 198) gesucht wird; – freilich mit dem Vorbehalt, daß
das Gedicht wohl ein ‚Gespräch‘ (mit Hölderlin u. a.) führt, aber ein solches
mit seinen Lesern allererst vorbereitet. Denn: „Das Gedicht ist einsam“.
Aber: „Es ist einsam und unterwegs“ (ebd.).
Wie also tritt Celan in die Auseinandersetzung mit Hölderlin? Und wohin
führt das Gedicht seine Leser? Ein Wink gibt die Titelzeile, die wie ein Da-
tum aus einer Orts- und Zeitangabe zusammengesetzt ist. Nun steht der Jän-
ner für das Datum, unter dem Celans Dichtung schlechthin steht. Janz hat
darauf aufmerksam gemacht, daß Celans Zitat aus Georg Büchners Lenz, „der
‚den 20. Jänner durchs Gebirg ging‘“ (III, 194), deshalb so bedeutsam ist, weil
am 20. Januar 1942 am Wannsee bei Berlin Vertreter der höchsten Reichs- und
Parteibehörden zusammenkamen, um den Mord an den Juden Europas zu or-
ganisieren.428 Mit dem Wort Jänner ist also die nur wenige Monate zuvor ge-
(Celans ‚Tübingen, Jänner‘ und Bobrowskis ‚Hölderlin in Tübingen‘), in: Seminar 8/2 (Juni
1972), 100–107; Jochen Börner: Zweierlei Blindheit – Hölderlin. Celan und die entstellte
Sprache. Zu Celans Gedicht „Tübingen, Jänner“, in: Die Drei 56, Nr. 3 (1986), 180–187;
Manfred Geier: „Zur Blindheit überredete Augen“. Paul Celan / Friedrich Hölderlin: Ein ly-
rischer Intertext, in: ders.: Die Schrift und die Tradition. Studien zur Intertextualität, Mün-
chen 1985, 17–33; Joel David Golb: Celan and Hölderlin. An essay in the problem of tradi-
tion, Diss., Princeton 1986, 104 ff.; Hans Mayer: Sprechen und Verstummen der Dichter, in:
ders.: Das Geschehen und das Schweigen, Frankfurt a. M. 1969, 11 ff.; Mayer: jüdischer Dich-
ter (Anm. 412), 161–167; Rolf Selbmann: „Zur Blindheit über-redete Augen“. Hölderlins
‚Hälfte des Lebens‘ mit Celans ‚Tübingen, Jänner‘ als poetologisches Gedicht gelesen, in: Jahr-
buch der deutschen Schillergesellschaft 36 (1992), 219–228.
428 Vgl. Janz: Engagement (Anm. 298), 105 f. Eberhard Jäckel erinnert daran, daß der
Mord am europäischen Judentum in Berlin nicht – wie es immer wieder heißt – beschlos-
sen wurde. Die Tötungen hatten bereits im Juni 1941 in der Sowjetunion begonnen. Ab
Oktober 1941 wurden Juden aus Deutschland deportiert. Nach Jäckel lud Reinhard Heyd-
rich insbesondere darum zur Konferenz nach Berlin ein, um seine Machtstellung zu sichern
Differenzierung und Entgegensetzung 209
haltene Meridian-Rede zitiert. Der damit aufgerufenen Bezug zur Shoah ist
darum auch bestimmend für diese Zeit (v. 17 f.). Doch ein Datum kann man
nicht zitieren, wenn man die Absicht hätte, das gerade singuläre Datum des
Gedichts angeben zu wollen. Inwiefern steht also das in Tübingen, Jänner an-
gezeigte Verhältnis zu Hölderlin unter einem singulären Datum? Oder muß
davon ausgegangen werden, daß Celan den Jänner hier als Chiffre für das Da-
tum seiner Dichtung überhaupt anführt, um zu unterstreichen, was seine
Hölderlin-Lektüre generell bestimmt? Es ist also noch einmal zu fragen: Was
ist ein Datum? und wie ist es dem Gedicht „eingeschrieben“ (vgl. III, 196)?
Fraglos ist, daß die Auseinandersetzung mit Hölderlin unter der Chiffre
Jänner steht, von der her diese Zeit (v. 17 f.) zu verstehen wäre. Doch am Wort
Jänner selbst läßt sich ‚ablesen‘, was Celan mit Hölderlin verbindet und war-
um der Zugang, den Celan zu Hölderlin wählt, nicht blind für das ist, was ge-
rade dessen Spracharbeit auszeichnete. Heidegger hat gerne daran erinnert,
daß Hölderlin der Dichter des deutschen Gesanges sei, der den vesten Buchstab
pflegt und deutet.429 Celan nun liegt insbesondere daran, daß das Achten und
Deuten des Buchstabens nicht zu einem bloßen Bekenntnis verkommt. Woll-
te er also an Hölderlin anknüpfen, dann hieße das, von der Sorgfalt gegen-
über dem Buchstaben auch heute nicht abzulassen. In welcher Form diese
Sorgfalt in die Verse des Gedichts Tübingen, Jänner eingegangen ist, das ver-
deutlicht die ungewöhnliche Häufung der für die deutsche Sprache ei-
gentümlichen drei Umlaute (ä, ö, ü),430 die sich jeweils als zweiter Buchstabe
auf die für das Gedicht zentralen Worte Tübingen, Jänner und Hölderlin ver-
teilen. Der Umlaut tritt zwar nicht notwendigerweise, aber doch besonders
häufig dann auf, wenn der zweite Konjunktiv und wenn von Substantiven der
Plural gebildet wird, wenn beispielsweise aus dem Turm Türme werden (vgl.
v. 7). Der Umlaut mit seinem diakritischen Zeichen, das wie zwei Augen über
den Buchstaben hinaussieht, hat also eine Affinität zu jenen beiden Modi, die
auch das Gedicht prägen und die zusammen auf erst noch zu erschließende
Möglichkeiten hinweisen. Denn nicht nur der Konjunktiv, sondern auch die
Pluralisierung zunächst eindeutig scheinender Referenzen, auf die das Ge-
dicht anspielt, ist als eine Ermöglichung zu verstehen. Dieses im Hölderlin-
Gedicht Tübingen, Jänner praktizierte Verfahren – das sich gleichsam expres-
sis verbis auf die Chiffre Jänner bezieht und damit auf die in der Meridian-
und um sich – wie es im Protokoll heißt – als „Beauftragter für die Vorbereitung der End-
lösung der europäischen Judenfrage“ zu etablieren. Vgl. Jäckel: Die Konferenz am Wannsee.
„Wo Heydrich seine Ermächtigung bekanntgab“ – Der Holocaust war längst im Gange, in: Die
Zeit, 17. Januar 1992, 33 f.
429 Vgl. BüH, 364, s. o. S. 135.
430 Fioretos hat hierauf ebenfalls aufmerksam gemacht, zieht aber andere Schlüsse aus
dem Sachverhalt, daß in den 24 Zeilen des Gedichts immerhin dreizehn Worte einen Um-
laut haben, vgl. ders.: Nothing (Anm. 129), 312.
210 Etappen der Lektüre
Rede dargelegte Poetologie des Datums – gibt zu erkennen, daß das Gedicht
samt der empirischen Daten, zu denen es sich verhält, dann ein Datum wird,
wenn sich die Lektüre auf die verschiedenen Ebenen der Buchstaben und
Wörter des Gedichts einläßt. Denn das Gedicht ist allein dann ein Datum und
im vollen Wortsinn eine Gabe, wenn es wahrhaftig als in den Text „einge-
schrieben“ wahrgenommen wird.
Für die Lektüre bedeutet das, nah am Text eine analysierende Einbildungs-
kraft zu entwickeln, um die im Gedicht aufgerufenen „Interferenz[en]“
wahrzunehmen, die durch „Begriffsüberschneidung[en]“ und „Überlap-
pung[en] der Bezüge“ entstehen.431 Im speziellen Fall ergab sich, wie oben
ausgeführt, eine solche Interferenz hinsichtlich der ertrunkenen Schreiner.
Andere Überlappungen, die etwa zu Büchner oder Mandel’štam hinführen,
sind für Tübingen, Jänner angedeutet worden.432 Das, was sich einer Lektüre
auf diese Weise ergibt, gehört wesentlich zum Datum des Gedichts, das dar-
um ‚singulär‘ ist, weil die Deutung des Gedichts einen in die Geschichte ein-
gebundenen Leser verlangt, der nur von seinem heute her den Text besuchen
kann. Es ist darum nochmals zu betonen, daß die eingeschriebenen Daten,
derer das Gedicht gedenkt (vgl. III, 196), nicht Daten in Sinne der empiri-
schen Wissenschaften sind, die Tatsachen notieren. Die Gedichte sind viel-
mehr „Schicksal mitführende Geschenke“ (III, 178), die sich paradoxerweise
nur dann zu erkennen geben, wenn sie nicht als eindeutig bestimmter Ge-
genstand ‚wiedererkannt‘, sondern wenn sie als Gedichte im Coniunctivus
potentialis erkannt werden, welche auf dem „Weg der Kunst“ (vgl. III, 193)
dadurch Geschichte schreiben, daß sie an die namenlosen Abgründe heran-
führen. Was dort gelesen werden muß, kann das Gedicht aber nicht sagen.
Hier obliegt es dann den Aufmerksamen, die Fakten der Geschichte zu über-
denken, um die sie allerdings wissen sollten.433
Das Ankommen im Sinne des Gelesen- und Gehörtwerdens des Gedichts
beim Lesenden ist darum ebenso bedeutsam wie das Ankommen jenes Men-
schen, der von dieser Zeit nur lallend sprechen könnte. Beide Momente
gehören zusammen. Die Sorge um die Möglichkeit des Ankommens des Wor-
tes, von der das Gedicht ‚spricht‘, ist eine, die Celan mit Hölderlins späten
Gesängen teilt. Nicht zuletzt durch Heideggers Deutungen, welche die Mög-
lichkeit des Ankommens der entflohenen Götter vorzubereiten versuchen,
dürfte Celan hierauf aufmerksam geworden sein. Doch es ist nicht Heideg-
gers Ansatz, der Celans Sorge bestimmt, wonach Hölderlins Dichtung als das
Andenken an das Gewesene zu verstehen sei, so daß dieses aus der Zukunft
431 Vgl. Celans Aussagen, die Huppert aufgezeichnet hat, ders.: Ein Gespräch (Anm.
14), 321.
432 Vgl. insb. Zbikowski: diaphan (Anm. 330).
433 Vgl. Briegleb: Celans Landkarte (Anm. 89), 127, zitiert oben Anm. 111.
Hoffen auf ein Gespräch 211
in der Gegenwart ankommen könne. Celans Frage ist demgegenüber, wie auf
dem Wege der Kunst überhaupt etwas mitgegeben werden könne. Die Meri-
dian-Rede und die oben angeführten Reflexionen zur Bedeutung der Lesen-
den zeugen hiervon.434
Gerade an diesem Punkt, der die in Tübingen, Jänner aufgeworfene und
von Heidegger ausgelassene Frage einschließt, was denn eine Dichtung, die
Kunst sein muß, überhaupt sagen könne, hat Celan auf Hölderlin zurück-
blicken können (s. o. S. 117 f. u. 131). Denn nur, wenn die Gaben der Dich-
terhände ankommen würden, ließe sich vielleicht einmal das erhoffte Ge-
spräch führen, dessentwegen der Weg der Kunst beschritten wird. An einem
Gedicht, das schon im Vorfeld von Celans Besuch bei Heidegger in Todtnau-
berg steht, wird dieser Zusammenhang zwischen den Gaben der Hände und
den Bedingungen des Gesprächs in Anlehnung an Hölderlin herausgehoben.
1. Schenkend-verschenkte Hände
Ein Zeichen
kämmt es zusammen
434 Vgl. Celan Brief an eine 10. Klasse des Alten Gymnasiums zu Bremen (s. o. S. 34 f.)
und seine Briefe von 1960 und 1961 an Bender, s. o. S. 177 und Anm. 369.
435 Vgl. Baumann: Erinnerungen (Anm. 5), 59.
212 Etappen der Lektüre
438 Martin Anderle: Die Landschaft in den Gedichten Hölderlins. Die Funktion des Kon-
Jamme und Otto Pöggeler (Hg.): Frankfurt aber ist der Nabel dieser Erde, Stuttgart 1983,
349–369, hier 360. – Zur weiteren Diskussion in der Hölderlin-Forschung um dieses Text-
stück sei auf den Beitrag von Annette Hornbacher verwiesen: Wie ein Hund. Zum „mythi-
schen Vortrag“ in Hölderlins Entwurf ‚Das nächste Beste‘, in: HJb 31 (1998–1999), 222–246.
214 Etappen der Lektüre
Hölderlins zu dem Zyklus Nachtgesänge gehörende Ode, die als erster Benja-
min kommentiert hat, kann an dieser Stelle ebenfalls nicht eingehend erörtert
werden.442 Auf diese vier Verse ist aber dennoch zu verweisen, weil Celan an
sie so anschließt, daß die Mehrdeutigkeit des Wortes schiklich, die Hölderlin
hier zur Geltung bringt, eine andere Wendung nimmt.
Hölderlins Dichterhände sind zweierlei. Sie sind geschickt in dem Sinne,
daß sie fingerfertig und behend sind, zum anderen sind sie aber geschickt,
weil sie einen Auftrag haben. Dieser ist, einen (v. 23) von den Himmlischen
einem (v. 21) zu bringen. Das heißt, daß sie einem Sterblichen eine himmli-
sche Gabe bringen sollen und wollen. Damit dieses gelinge, bringen die Hän-
de sich selbst. Dafür sind sie gut. Doch wie gelingt die Übergabe? Hölderlin
sagt: Wenn wir kommen, mit Kunst (v. 22); dann, so wäre zu ergänzen, könn-
te die Gabe gebracht werden. Was das in diesem Zusammenhang meint, läßt
sich an den Zeilen selbst ablesen. Ein für einen Moment ausgesetzter Chias-
mus organisiert diese vier Verse: geschickt / [...] / bringen / Bringen schickli-
che. In die sich durch die Unterbrechung öffnende Zwischenzeile (v. 22) tre-
ten die Dichter, die mit der Kunst kommen. Die so eintretende Unregelmäßig-
keit, welche den rhetorischen Kunstgriff beeinträchtigt, wird noch dadurch
verstärkt, daß sich von den die Strophe dominierenden i-Vokalen die zwei
442 Vgl. Benjamin: Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin. „Dichtermut“ – „Blödigkeit“,
GS II.1, 105–126. Spätestens durch Benjamin ist Celan auf Blödigkeit aufmerksam gewor-
den. Dessen Aufsatz studierte er im September 1959. – Zu Hölderlins Ode Blödigkeit vgl.
auch Vf.: Hölderlins Auf-Gabe und die Ode ‚Blödigkeit‘, in: Stephan Jaeger / Stefan Willer
(Hg.): Das Denken der Sprache und die Performanz des Literarischen, Würzburg 2000, 55–73.
Hoffen auf ein Gespräch 215
zum Allegoriker“ (GS I.2, 676, s. o. Anm. 71). Ein solches Bruchstück in der
Hand könnten auch die Mikrolithen sein, die als ein solcher Untrügbarer
Krystall das Licht, das dieser nicht erloschene Brand erzeugt, prüft. Sind die-
se Mikrolithen also auch jenes Zeichen, das in der Lage ist, das gesponnene
Gespräch, das gleichsam auf dem Kamm eines Gebirges geführt wird, so zu-
sammenzukämmen, daß aus den ungeordneten Fäden, die von Punkt zu
Punkt gezogen sind, eine Antwort wird?
Die Überlegungen zu diesem Gedicht können mutmaßlich selbst nicht
mehr als eine unsystematische Grübelei sein, die das Eigentümliche der Mi-
krolithen nicht zu erkennen vermögen. Deutlich herauszuheben ist aber: Die-
se Hände sind mit etwas gespickt, was sie vermutlich verletzt und wovon sie
sprechen müßten. Keiner aber ist in Sicht, der ihre Gabe annimmt. Zum an-
dern ist vom Gespräch gesagt, daß es erst dann Form erhält und über ein
bloßes ‚Spinnen‘ hinausgeht, wenn es in einem Zeichen manifest wird, das
dergestalt eine Antwort ist, die auf den anderen eingeht. Ein Zeichen dieser
Art müßte es geben, damit das Gespräch auch auf breiter Ebene geführt wer-
den könnte und nicht nur verborgen von Spitze zu Spitze. Vielleicht hat sich
Celan ein solches Gespräch, das ein Zeichen setzt, erhofft, als er Heidegger
dann wenig später in Todtnauberg besuchte und diesem ins Gästebuch
schrieb: „Ins Hüttenbuch, mit dem Blick auf den Brunnenstern, mit einer
Hoffnung auf ein kommendes Wort im Herzen. Am 25. Juli 1967 / Paul Ce-
lan.“444
2. Todtnauberg
Abschließend sei wie oben angekündigt auf das Gedicht zum Besuch Celans
bei Heidegger eingegangen. Dieses Treffen, aber mehr noch das Gedicht
selbst, das Celan in der nachfolgenden Woche in Frankfurt a.M. schrieb, hat
überhaupt auf die alles andere denn selbstverständliche Tatsache aufmerksam
gemacht, daß die beiden ein gegenseitiges Interesse verband, auch wenn das
mitnichten heißt, daß sie darunter je ‚das Selbe‘ verstanden.445 Doch was
kann über die möglichen Motivationen und Intentionen, die Celan und Hei-
degger beim Zusammenkommen gehabt haben mögen, noch geschrieben
werden, was nicht schon an anderer Stelle gesagt worden wäre? Wie könnte
444 Zit. n. Pöggeler: Spur des Worts (Anm. 5), 259; vgl. Stefan Krass: „Mit einer Hoff-
nung auf ein kommendes Wort“. Paul Celan hilft Martin Heidegger, in: Die Neue Gesellschaft
(1997), H. 10, 914.
445 Daß auch Heidegger Celan zu treffen wünschte, sagt er in seinem Brief vom 23. Ju-
ni 1967 an Baumann: „Schon lange wünsche ich, Paul Celan kennen zu lernen. Er steht am
weitesten vorne und hält sich am meisten zurück. Ich kenne alles von ihm, weiß auch von
der schweren Krise, aus der er sich selbst herausgeholt hat, soweit dies ein Mensch ver-
mag.“ Zit. n.: Baumann: Erinnerungen (Anm. 5), 59f.
Hoffen auf ein Gespräch 217
446 Vgl. das andere bekannt gewordene Hölderlin-Gedicht Ich trink Wein, III, 108. Die
sendung des Gedichts Todtnauberg, in: Stephan Krass: „Wir haben Vieles einander zu-
geschwiegen“. Ein unveröffentlichter Brief von Martin Heidegger an Paul Celan, in: Neue
Zürcher Zeitung, 3./4. Januar 1998, 61.
218 Etappen der Lektüre
welche Grund gibt, den Charakter der Nähe und der nicht einzuebnenden
Zwieheit zwischen Celan und Heidegger näher zu befragen (II, 255 f.):
TODTNAUBERG
in der
Hütte, 5
Waldwasen, uneingeebnet,
Orchis und Orchis, einzeln,
die halb-
beschrittenen Knüppel-
pfade im Hochmoor,
Feuchtes, 25
viel.
eines Tages im Gespräch aus dem Ungesprochenen gelöst wird.“ Heidegger antwortet mit
diesem Brief auf Celans Gedicht, das in der ihm übersandten Fassung noch deutlicher die
Hoffnung „auf eines Denkenden / kommendes (un- / gesäumt kommendes) / Wort / im
Herzen“, zum Ausdruck brachte, vgl. Celan: Lichtzwang, Historisch-kritische Ausgabe,
Bd. 9,2, hg. von Rolf Bücher et al., Frankfurt a.M. 1997, 108f.
220 Etappen der Lektüre
des Gedichtes hin. Zunächst wird der Name durch die Homophonie mit dem
nachfolgenden Wort nahms hervorgehoben. Dieses Wort wiederum fällt auf,
weil es durch eine Synkope Verb und Objekt des Fragesatzes zusammenfaßt.
Beides, die Betonung des Namens und die einen Vokal fallen lassende Synko-
pe – bereits im dritten Vers im Adverb drauf und dann im Vers 21 (der’s) wird
derart ein Vokal ausgespart –, kann zusammen als eine eigens hervorgehobe-
ne Spur in der Schrift gelesen werden, die einen weiteren Zusammenhang
zum Gedicht Tübingen, Jänner anzeigt. Denn auch im Gedicht Todtnauberg
ist der erste Vokal jenes Namens von Bedeutung, von dem (und zu dem) das
Gedicht spricht. Bezüglich Heidegger ist dies ein Doppelvokal beziehungs-
weise Diphthong. Das könnte der Grund dafür sein, daß das Gedicht tatsäch-
lich ungewöhnlich viele Diphthonge hat. So sind die ersten acht Zeilen
einschließlich des Titels durch den Diphthong au und die Vokale u / ü ge-
prägt. Die Silbe au ist in einem ganz basalen Sinne der Laut für den Schmerz.
Bollack sieht durch das au im Namen Todtn-au-berg sogar „das Vernich-
tungslager Auschwitz in die Gegenwart des Gedichts“ einbezogen.454 Hier
sollen die möglicherweise anzustellenden Spekulationen über den Sinn der
Häufung der Diphthonge auf die Überlegung beschränkt werden, daß – weil
der Diphthong auch Doppel- und Zwielaut heißt – gerade in ihm das Ver-
hältnis Celans zu Heidegger noch einmal bedacht werden könnte. Denn der
Diphthong wird als ein Laut ausgesprochen, bleibt aber unausgesprochen ein
ungleiches Buchstabenpaar. Ausgesprochen hat das Gedicht die Hoffnung,
unausgesprochen mitzulesen ist in ihm aber auch das Vergrabene, das unein-
geebnet (v. 16) bleibt. Könnte es also sein, daß Celan mit der Häufung der
Zwielaute einen Weg gefunden hat, seine Nähe und Differenz zu Heidegger
in eine Darstellung zu bringen, und zwar in eine, welche das Zwiespältige sei-
ner Auseinandersetzung mit Heidegger ausschreibt, ohne zugleich Heideg-
gers unhinterfragte Prämisse zu bestätigen, daß der Dichtung ein Sagen mög-
lich sei, das alle gleichermaßen angehe und zu einem Wir zusammenführe?
Wenn Celan am 30. Januar 1968 in einem Brief schreibt, daß es ihm schwer
fällt, „von diesem Gedicht [Todtnauberg] zu sprechen“,455 dann ist dies viel-
leicht auch darum der Fall, weil dieses Gedicht mehr zu lesen gibt, als ihm zu
sagen möglich ist. Denn auch sieben Jahre nach dem Gedicht Tübingen, Jän-
ner deutet sich keine Möglichkeit zu sprechen an. Genau an diesem Punkt
liegt der Dissens zu Heidegger mit den geschichtsphilosophischen Implika-
tionen und poetologischen Konsequenzen. Denn Celan befragt die Möglich-
454 Bollack: Vor dem Gericht der Toten (Anm. 3), 127.
455 Bianca Rosenthal zitiert diese Worte aus einem Brief Celans vom 30. Januar 1968,
ohne jedoch anzugeben, an wen dieser Brief adressiert ist und ob dieser Brief anderswo ver-
öffentlicht ist, vgl. dies.: Pathways to Paul Celan. A History of Critical Responses as a Chorus
of Discordant Voices, New York/Frankfurt a. M. 1995, 169.
222 Etappen der Lektüre
Daß sich Celan mit Hölderlins Dichtung und Heideggers Denken auseinan-
dergesetzt hat, ist lange schon bekannt. In dieser Studie wurden zusätzlich zu
den prominenten Texten bislang unberücksichtigte Gedichte Celans in die
Debatte einbezogen, so daß es möglich wurde, die zwiefältige Spannung, die
Celan zu Hölderlins und Heideggers Texten hat, nicht durch vorschnelle Ur-
teile aufzulösen. Es galt, den vielschichtigen Weg einer jahrelangen Bezugnah-
me mitzugehen, so daß Celans Textnähe zu Hölderlin und Heidegger an den
Gedichten selbst evident werden konnte, ohne daß darum die methodischen
Fragen ausgeklammert wurden, die ein solches hermeneutisches Vorhaben
mit Recht skeptisch begleiten. Gleichwohl dürfte deutlich geworden sein, daß
nur dann, wenn man sich auf die Bezüge einläßt, welche die Gedichte bei al-
len Vorbehalten doch von sich aus knüpfen, sich allererst der schon oft be-
hauptete Satz rechtfertigt, daß Celan und Heidegger ein Abgrund trennt.
Zu bedenken aber bleibt, daß in solch einem Urteil – zumal dann, wenn es
an Stelle einer eingehenden Lektüre gefällt wird – nolens volens gerade jene
Metapher blind angeführt wird, die eben auch Heidegger, nicht aber Celan,
verwendet. Der ‚Abgrund‘ zwischen Celan und Heidegger aber ist, daß beide
je etwas anderes mit dem zugleich geschichtsphilosophisch und poetologisch
überdeterminierten Wort Abgrund evozieren. Aus diesem Grunde versteht
sich nicht von selbst, was denn der Abgrund zwischen dem jüdischen Dich-
ter und dem deutschen Denker eigentlich ist. Es wurde darum unumgänglich,
auf die metahermeneutische Perspektive einzugehen, die Celans Gedichte
einfordern, indem sie die Grenze des Sagenkönnens auf je spezifische Weise
und je von neuem zu bedenken geben. Denn erst dann, wenn man in Erwä-
gung zieht, daß Celan die Nähe zu Heidegger suchte, weil ihm dessen Den-
ken die Gelegenheit bot, seine eigene Poetologie im Angesicht abgründiger
Geschichte zu entfalten, kann man beginnen, die Differenz denken zu lernen,
die zwischen der Metapher Abgrund in dem geschichtsphilosophischen Ar-
gumentationsgang Heideggers (vgl. WD, 271 [250]) und jenem besteht, was
selbst diese Metapher nicht mehr sagen kann. Weil diese Differenz jedoch die
Denkmöglichkeiten übersteigt, ist das Eingeständnis angebracht, daß eine
literaturwissenschaftliche Studie in dieser Hinsicht per se – ganz gleich wie
sie argumentiert – der Sprache und dem Denken Heideggers näher steht als
der Dichtung Celans. Denn das Abgründige dieser Dichtung ist weder in ei-
ner historischen noch in einer poetologischen Kategorie zu fassen. Celans
224 Rückblick – Zwei Briefentwürfe
Gedichte sind eben darum imperativ. Und sie binden eben darum ihre Leser an
sich, um sie eben darum zugleich aus der Immanenz des Textes in die Wirk-
lichkeitssuche (vgl. III, 186) herauszustoßen. Daß man dergestalt wiederum auf
andere Texte trifft, verwundert nicht. Denn Celans Dichtung hofft – nicht zu-
letzt, um die Wirklichkeitssuche zu ermöglichen – Gespräch zu werden.
Ein Rückblick auf die Entwicklung, die Celan während seiner Beschäfti-
gung mit Heideggers Denken nahm, soll hier abschließend noch einmal da-
durch versucht werden, daß zwei unveröffentlichte Briefentwürfe vorgestellt
werden, die Celan einmal im Herbst 1954 und das andere Mal wohl in seinen
letzten Lebensmonaten schrieb. Ob diese Entwürfe jemals realisiert wurden,
läßt sich nicht ermitteln. Deutlich wird aus diesen im Vorläufigen gebliebe-
nen Briefen, in welcher Weise Celan auf Heidegger zugegangen ist und wie er
nach vielen Jahren des Studiums eine Position gefunden hat, die klar zu be-
nennen weiß, auf welcher Ebene eine Kritik an Heidegger zu führen ist, die
nicht pauschal, aber gleichwohl grundlegend ist. Diese Quellen sollen hier
nicht darum angeführt werden, um die oben entwickelten Lektüren im Nach-
hinein zu verifizieren. Aber sie können noch einmal nachhaltig unterstrei-
chen, welchen Rang für Celan die Auseinandersetzung mit Heidegger hatte.
Der erste Entwurf wurde in den Tagen geschrieben, als Celan im Herbst
1954 unter anderem in La Ciotat Heideggers Schriften Was heißt Denken?, die
Einführung in die Metaphysik und vermutlich auch die Erläuterungen zu Höl-
derlins Dichtung las. In dem schon angeführten Arbeitsheft machte er sich
hierzu Notizen. In diesem Heft stehen nach den Eintragungen zu Was heißt
Denken? folgende Zeilen:457
An Martin Heidegger
dieser schüchterne Gruß aus einer wunschdurchklungenen,
wunschbeseelten Nachbarschaft
457 Vgl. Anm. 333. Hier sei nochmals besonders Eric Celan und auch dem Suhrkamp
Verlag in Frankfurt a. M. für die freundliche Genehmigung gedankt, diesen und den fol-
genden Briefentwurf abdrucken zu dürfen.
Rückblick – Zwei Briefentwürfe 225
Dreimal setzt Celan an, einen Gruß an Heidegger zu formulieren. Daß er ihn
grüßen will, ist als der Wunsch zu verstehen, eine Antwort auf das Gelesene
geben zu wollen. Hat sich Celan von Heideggers Überlegungen gerade zum
Verhältnis zwischen Dichten und Denken so angesprochen gefühlt, daß er er-
wägt, dieses dem Denker persönlich anzuzeigen? Wenn dem so ist, dann viel-
leicht auch mit der Absicht, diesem mitzuteilen, daß es einen gibt, der auch
heute mit der Dichtung geht und dabei ihre Bedingungen hinterfragt. Celan
versucht jedenfalls die empfundene „Nachbarschaft“ zu beschreiben, aus der
heraus er seinen „schüchterne[n] Gruß“ schicken möchte. Doch dieser Gruß
findet keine Form. Zunächst wird aus dem Gruß ein „Zeichen der Vereh-
rung“, schließlich wird nur noch der „Denk-Herr“ adressiert und der „Weg“
angedeutet, den dieses Zeichen nehmen müßte, wenn es abgeschickt würde.
Dabei bleibt es. Es fällt offensichtlich schwer, die „Nachbarschaft“ zu dem
Denker näher zu bestimmen und es ist darum auch folgerichtig, daß Celan in
dem oben zitierten ersten Brief an Hans Bender, der etwa zur gleichen Zeit
geschrieben wurde, davon spricht, daß das freiwerdende Wort der Dichtung
keine „Nachbarschaft“ duldet.458 Um so wertvoller wäre es, wenn es dennoch
eine Nachbarschaft zu dem Denker geben könnte, der sich der Dichtung an-
genommen hat. So ist denn auch im zweiten Schreibtansatz von einer „klei-
nen fernen / wunschdurchklungnen / Nachbarschaft“ die Rede. Klein ist
wohlgemerkt nicht der Grüßende, sondern die (ferne) Nähe. Das Wünschen
geht dahin, daß diese Nachbarschaft überhaupt eine solche werde, so daß sie
tatsächlich beseelt und durchklungen sei. Deshalb vielleicht muß der Gruß „auf
dem Weg über die Engelsbucht“ gehen, damit sich durch einen Engel der
Wunsch erfüllen könnte. Es sind diese Zeilen darum im wahrsten Sinne der
Entwurf einer möglichen Nachbarschaft. Dieser entworfene Gruß „vom
Meer her“ – das kann auch als eine Allusion auf Hölderlins Hymne Andenken
gelesen werden (s. o. Kap. Andenken und die Kluft zwischen Dichten und
Denken, insb. S. 161 f.) – ist wahrscheinlich nicht abgeschickt worden. Er läßt
aber erkennen, mit welchen Hoffnungen Celans Lektüre von Heideggers
Schriften begleitet ist. Die hier angezeigte Zuneigung zu einem Denken, das
458 Vgl. oben S. 171. Heidegger selbst hat ja die Nachbarschaft von Dichten und
Denken wiederholt betont, vgl. etwa WhD, 4 f. 1957, also drei Jahre nach Celans Briefent-
wurf, schreibt Heidegger: „Nachbar ist, was das Wort selber uns sagt, wer in der Nähe
wohnt zu einem und mit einem anderen. Dieser andere wird dadurch selbst zum Nachbarn
des einen. Die Nachbarschaft ist somit eine Beziehung, die sich daraus ergibt, daß einer in
die Nähe des anderen zieht. Die Nachbarschaft ist das Ereignis, d. h. die Folge und Wir-
kung dessen, daß einer gegenüber dem anderen sich ansiedelt. Die Rede von der Nachbar-
schaft des Dichtens und Denkens meint demnach, daß beide einander gegenüber wohnen,
eines gegenüber dem anderen sich angesiedelt hat, eines in die Nähe des anderen gezogen
ist“. Heidegger: Das Wesen der Sprache (1957/58), in: Unterwegs zur Sprache (Anm. 297),
157–216, hier 186 f.
226 Rückblick – Zwei Briefentwürfe
das „Mögen“ fordert, damit man das Denken „vermöge“ (s. o. S. 154), dürfte
Celan jedenfalls in die Lage versetzt haben, Heideggers Wirken einer Kritik
zu unterziehen, die wohl aus einer Ferne kommt, darum aber nicht von außen
dieses Denken aburteilt.
Gut fünfzehn Jahre später zog Celan am 6. November 1969 innerhalb Paris
um in die Avenue Émile Zola. Dort hat man nach seinem Tod auf einem ein-
zelnen undatierten Blatt abermals einen an Heidegger gerichteten Briefent-
wurf gefunden. Da Celan nur sehr wenige Dinge mit in seine neue und letz-
te Wohnung genommen hat,459 ist anzunehmen, daß er diese Zeilen Ende
1969 oder Anfang 1970 schrieb:460
Heidegger
durch Ihre Haltung
... daß Sie das Dichterische und, so
wage ich zu vermuten, das Denkerische, in
beider ernstem Verantwortungswillen,
entscheidend schwächen
Celan konstatiert die Einbuße jener Möglichkeit, die gerade dem Denken und
dem Dichten gegeben sind. Denn beiden steht es offen, einen ernsten Verant-
wortungswillen zu entwickeln. Je weiter ein Denken oder eine Dichtung sich
vorwagt, je mehr Willen sie zeigt, die ganze Wirklichkeit repräsentieren und
gestalten zu wollen, desto größer wird die Verantwortung, die ihr zukommt.
Für Celan dürfte die Verantwortung des Dichterischen insbesondere darin be-
stehen, den Imperativ zur Sprache zu bringen, von dem die hinbefohlenen und
geflohenen Hände zeugen. Diese Hände reichen das weiter, was sie empfan-
gen und was doch nicht zu sehen ist; auch dann, wenn keiner ihre Gabe an-
nimmt. Heidegger hat ebenfalls den Willen, den verborgenen Grund des
Ganzen zu denken. Aber indem er gerade jenes nicht in das Ganze einbezieht,
wofür Celans Dichtung die Verantwortung übernimmt, schwächt er die Mög-
lichkeiten des Denkerischen überhaupt. Nach 1945 noch die ‚ganze‘ Wirklich-
keit denken zu wollen, kann nicht heißen, die Shoah und den Nationalsozia-
459 Vgl. Franz Wurms Erinnerung: „Die Regale avenue Zola waren leer: drei, vier
Bücher, kaum mehr: ein Band Hölderlin, ein Band Rilke, ein französisches Hand- oder
Lehrbuch der Mineralogie, das zu lesen er [Celan] mir [Wurm] dringend empfahl, sein Ex-
emplar von ‚Schwarzmaut‘, das er mir zuletzt mit einer wort- und fast hilflosen Gebärde
zum Abschied in die Arme gedrückt hat.“, in: Celan / Wurm: Briefwechsel (Anm. 20), 248.
460 Vgl. Literaturarchiv Marbach a.N., Celan: Briefentwurf an Martin Heidegger, ohne
lismus unisono unter das „Wesen der Technik“ zu subsumieren.461 Daß Hei-
degger glaubte, dieses Geschehen derart nivellieren zu können, ist als sein ei-
gentlicher Fehl zu bezeichnen. Dem Seinsgedanken erwies er damit keinen
Dienst. Haltung hätte er gezeigt, wenn er sich tatsächlich durch ein erstmals
möglich gewesenes Zwiegespräch – mit Celan – hätte umkippen lassen (vgl.
WhD 72, s. o. S. 112): Nicht um sich schuldig zu bekennen, sondern um an-
zuerkennen, daß das, was ‚ist‘, anderes als das Sein ist.
ohne Sigle Paul Celan: Gesammelte Werke in fünf Bänden, hg. von Beda Allemann und
Stefan Reichert unter Mitwirkung von Rolf Bücher, Frankfurt a. M. 1986.
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(1967) Gesamtausgabe, Bd. 9, Frankfurt a. M. 31996, 313–364.
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(1934/35), Gesamtausgabe, Bd. 39, Frankfurt a. M. 21989.
GA 53 Martin Heidegger: Hölderlins Hymne „Der Ister“ (Sommer 1942), Ge-
samtausgabe, Bd. 53, Frankfurt a. M. 1984.
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HJb Hölderlin-Jahrbuch
Hyp Friedrich Hölderlin: Hyperion oder der Eremit in Griechenland, nach der
Zählung der Originalausgabe, Bd.I, Tübingen 1797 u. Bd.II, Tübingen 1799.
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Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung (1944), Gesamtausgabe, Bd. 4,
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hg. von Volker Neuhaus, unter redaktioneller Mitarbeit von Ute Heimbüchel,
München 1984, 34 f. und 48f.
Freud, Sigmund: Gesammelte Werke, chronologisch geordnet, hg. von Anna Freud et
al., London/Frankfurt a. M. 1940, 51967.
Goethe, Johann Wolfgang: Werke, Hamburger Ausgabe, kommentiert von Erich
Trunz, München 161996.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Ästhetik (1818–1828), hg. von Friedrich Bassenge,
2. Bde., Berlin/Weimar 1955.
–: Werke, auf der Grundlage der Werke von 1832–1845, hg. von Eva Moldenhauer und
Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1970.
Heine, Heinrich: Sämtliche Schriften, hg. von Klaus Briegleb, München/Wien 1981.
Heidegger, Martin: Sein und Zeit (1927) (SuZ), Tübingen 171993.
–: Die Selbstbehauptung der deutschen Universität (1933) / Das Rektorat 1933/34
(1945), Frankfurt a. M. 1983.
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–: Hölderlins Hymnen „Germanien“ und „Der Rhein“ (1934/35) (GA 39), Gesamt-
ausgabe, Bd. 39, Frankfurt a. M. 21989.
–: Beiträge zur Philosophie. Vom Ereignis (1938), Gesamtausgabe, Bd. 65, Frankfurt
a. M. 1989.
–: Hölderlins Hymne „Andenken“ (1941/42), Gesamtausgabe, Bd. 52, Frankfurt a. M.
1982.
–: Hölderlins Hymne „Der Ister“ (Sommer 1942), Gesamtausgabe, Bd. 53, Frankfurt
a. M. 1984.
–: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung (1944) (EHD), Gesamtausgabe, Bd. 4,
Frankfurt a. M. 61996.
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–: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954.
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gonnen durch Norbert v. Hellingrath, fortgeführt durch Friedrich Seebaß und Lud-
wig v. Pigenot, Berlin 31943.
–: Sämtliche Werke, Große Stuttgarter Ausgabe (StA), hg. Friedrich Beißner, Stutt-
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Stuttgart 1953.
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Leibniz, Gottfried Wilhelm: Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade. Monado-
logie, hg. von Herbert Herring, Hamburg 1956.
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arbeitet von Dietrich Kurz, übersetzt von Friedrich Schleiermacher, Darmstadt
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Sämtlichen Werke, Frankfurt a. M. 1957.
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Rymond, Paris 1961.
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Die Vorsokratiker. Die Fragmente und Quellenberichte, übersetzt und eingeleitet von
Wilhelm Capelle, Stuttgart 1968.
Weiss, Peter: Meine Ortschaft, in: Atlas. Zusammengestellt von deutschen Autoren.
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Andenken 22, 68f., 75, 81, 126f., Der Main 65–70, 86f., 96
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Stephan Grotz
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