Sie sind auf Seite 1von 199

Lebendige Gegenwart

PHAENOMENOLOGICA
COLLECTION PUBLIEE SOUS LE PATRONAGE DES CENTRES
D'ARCHIVES-HU SSERL

23

KLAUS HELD

Lebendige Gegenwart

Comite de redaction de la collection:


President: H. L. V an Breda (Louvain);
Membres: M. Farber (Buffalo), E. Fink (Fribourg en Brisgau),
J. Hyppolite (Paris), L. Landgrebe (Cologne), M. Merleau-Ponty (Paris)t,
P. Ricreur (Paris), K. H. Volkmann-Schluck (Cologne), J. Wahl (Paris);
Secretaire: J. Taminiaux (Louvain).
KLAUS HELD

Lebendige Gegenwart

DIE FRAGE NACH DER SEINSWEISE

DES TRANSZENDENTALEN ICH BEI EDMUND HUSSERL,

ENTWICKELT AM LEITFADEN DER ZEITPROBLEMATIK

SPRINGER-SCIENCE+BUSINESS MEDIA, B.V. 1966


Copyright Ig66 by Springer Science+Business Media Dordrecht
Originally published by Martinus Nijhoff, The Hague, Netherlands in Ig66
Sollcoverreprint ofthe hardcoverist edition Ig66

All rights reserved, including the right to translate or to


reproduce this book or parts thereof in any form
ISBN 978-90-481-8253-4 ISBN 978-94-017-2059-5 (eBook)
DOI 10.10071978-94-017-2059-5
Herrn Professor Dr. Ludwig Landgrebe
in dankbarer Verehrung zugeeignet
VORWORT

" Unser ganzes Vorgehen ist, eine Selbstbesinnung


vollziehen und auf das absolut wahrnehmungs-
mäßig Gegebene reduzieren. . . . Das ist Analyse
der strömend urtümlichen Gegenwart.''
(Husserl, Ms. C 7 I, S. 34)

Was ist eigentlich das transzendentale Ich, die absolute Sub-


jektivität? Oder dieselbe Frage in Begriffen aus Husserls Spät-
zeit: Was ist die Lebendigkeit des welterfahrenden Lebens?
Dieses Grundproblem ist eines der großen Fragezeichen der
transzendentalen Phänomenologie Edmund Husserls. Seine
Ungelöstheit oder zumindest unzureichende Beantwortung führte
unter anderem zur Umbildung der Phänomenologie bei Martin
Heidegger; ·Heideggers fundamentale Kritik durchzieht implizit
Sein und Zeit, und sie findet sich ausgesprochen in seinen An-
merkungen zu Husserls Enzyklopaedia-Britannica-Artikell. Zu
Beginn der dreißiger Jahre stellte sich Husserl die Aufgabe, die
Seinsweise des transzendentalen Ich mit den Mitteln seines Den-
kens endgültig aufzuklären2. Zentralbegriff seiner Analysen wurde
dabei der Begriff "lebendige Gegenwart"3. Diese Urgegenwart ist
die Seinsweise des transzendentalen Ich. Was dies heißt und wie
sich diese Aussage in den Gesamtzusammenhang des husserlschen
Denkens einfügt, will die folgende Abhandlung zeigen.
Es ist des öfteren darauf hingewiesen worden4, daß im Problem
der zeitlichen Selbstkonstitution der transzendentalen Subjekti-
vität eine, wenn nicht sogar die Grundfrage der husserlschen
Phänomenologie zu sehen ist. Der Sinn und die Tragweite dieser
Frage ist noch immer umstritten. Unter diesen Umständen
1 Vgl. Phänomenologische Psychologie, S. 237. ff. u. S. 6ox f., und W. Biemel,
"Husserls Enzyklopaedia-Britannica-Artikel und Heideggers Anmerkungen dazu",
in: Tijdschrift voor Philosophie Bd. xz, xgso; ferner vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit,
8. unv. Aufl., Tübingen I957, S. 47·
2 Vgl. dazu E. Finks Zeugnis in: Edmund Husserl z859-I959, Den Haag x959,
(Phaenomenologica 4), S. xu f.
3 Auch "urtümliche", "urphänomenale", "strömende" Gegenwart und anders
genannt. Zur Terminologie vgl. im Einzelnen den li. Teil dieser Abhandlung.
4 Zuletzt von H. G. Gadamer in seiner den mittlerweile recht verworrenen
Diskussionsstand wohltuend klärenden Rezension: "Die phänomenologische Be-
wegung", in: Philosophische Rundschau, u. Jahrg., Tübingen xg63, S. 3I ff.
VIII VORWORT

scheint es angebracht, Husserls Exposition des Problems in


seinen veröffentlichten Schriften und seine Analysen in den
späten Manuskripten noch einmal so gründlich und so kritisch wie
nur möglich zu prüfen. Der Sinn einer solchen Prüfung kann
weder geistloses Referieren oder Klassifizieren busserlscher Ge-
danken noch freischwebende Spekulation "aus Anlaß" solcher
Gedanken sein. Beides findet sich in der umfangreichen Husserl-
Literatur der letzten Jahrel. Der Gefahr, bloß Doxographie des
busserlseben Nachlasses zu bieten, hoffe ich dadurch entgangen
zu sein, daß ich Husserls Frage nach der Seinsweise des transzen-
dentalen Ich in der systematischen Nötwendigkeit ihres Ansatzes
und ihrer Entfaltung zu entwickeln versucht habe, und zwar
immer im Ausgang von den von Husserl selbst veröffentlichten
oder für die Veröffentlichung vorgesehenen Schriften; ein unv er-
mittelter Einsatz bei den Nachlaßmanuskripten kann nur zu den
gröbsten Mißverständnissen führen. Der anderen Gefahr der
Husserl-fremden Spekulation soll die ausführliche Wiedergabe
besonders wichtiger Originaltexte (vor allem im Kapitel: Die
Rätsel der lebendigen Gegenwart) vorbeugen; der Leser soll sich
so wenig als möglich in der von Gadamer zu Recht als "ungemüt-
lich" bezeichneten Situation befinden, "sich einer weitgehend
willkürlichen Auswahl von unbekannten Texten gegenüber-
zusehen"2.
In seiner Spätzeit versteht Husserl alle transzendentale Gegen-
standskonstitution als Zeitigung, d.h. als Ermöglichung der in-
tentionalen Bekundung von zeitlich Seiendem verschiedener
Stufe im "Bewußtsein". Der Urmodus dieser Zeitigung ist die
"Gegenwärtigung", das Begegnenlassen im Modus "Gegenwart".
Die Urstufe der Zeitigung ist die Selbstgegenwärtigung und -zei-
tigung des transzendentalen Ich. Der "Ort" dieses Prozesses ist
1 Ein Beispiel für das erste Extrem scheint mir A. Diemer, Edmund Husserl,
Meisenheim a.G. xg56. Dieser Versuch einer ersten Orientierung über Husserls
Gesamtwerk läßt das philosophisch Unbefriedigende, ja sogar manchmal Entstel-
lende eines solchen Überblicks oft deutlich erkennen; so findet sich gerade im Felde
des Problems von Ich und Zeit bei Diemer eine Reihe von Mißverständnissen, die
im Folgenden noch erörtert werden. -Ein Beispiel für das zweite Extrem dürfte das
Buch von Hubert Hohl, Lebenswelt und Geschichte, Freiburg/München xg6z, darsstel-
len- ein Werk, in dem Husserl vermutlich so gut wie nichts von seinen eigenen
Gedanken wiederfinden würde. Vgl. die fundierte Kritik, die an Hohls Buch in der
Kölner Dissertation von P. Janssen, Geschichte und Lebenswelt, xg64, S. xo f., ge-
übt wird.
2 Gadamer a.a.O., S. 33.
VORWORT IX

die "lebendige Gegenwart".- Wie alle Intentionalität als Gegen-


wärtigung und Zeitigung verstanden werden kann, versucht der
I. Teil der Abhandlung zu zeigen. Er beginnt mit Husserls "Mu-
sterbeispiel" der sinnlichen Wahrnehmung, speziell der Wahr-
nehmung eines Tones, und stützt sich in diesem Abschnitt auf die
Hauptergebnisse der Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren
Zeitbewußtseins von 1905, wobei aber die Terminologie der drei-
ßiger Jahre schon berücksichtigt wird. Das Schlußkapitel dieses
Teils versucht im Anschluß an Husserls Erfahrung und Urteil den
Nachweis, daß auch die Konstitution der sogenannten "idealen
Gegenstände" eine Zeitigung ist, weshalb sich ihre vermeintlich
"überzeitliche" Seinsweise als "Allzeitlichkeit" herausstellt.
Nachdem damit ein Überblick über das intentionale Leben im
Ganzen und die Leitfäden für eine weitere Rückfrage nach dem
transzendentalen Ich gewonnen sind, kann sich der II. Teil der
"lebendigen Gegenwart" selbst zuwenden, in der sich das Gegen-
wärtigen und in weiterer Folge das Zeitigen jeglicher Gegen-
ständlichkeit abspielt. Anders gesagt: Nachdem Konstitution und
Seinsweise des Nichtichlichen im Umriß geklärt sind, stellt sich
die Frage: Welches ist die Seinsweise des konstituierenden Ich
und seines intentionalen Lebens selbst? Die Antwort lautet: Das
Ich ist nichts anderes als die "lebendige Gegenwart" alles Gegen-
wärtigens. Husserl betrachtet diese ichliehe "Gegenwart" nicht
als etwas spekulativ Erschlossenes, sondernalsein Erfahrungsfeld,
das mit Hilfe einer besonders radikalen philosophischen Methode,
einer Vertiefung der transzendental-phänomenologischen Reduk-
tion, freigelegt werden kann. Er beansprucht für die so ermöglich-
te philosophische Erfahrung eine Strenge und Verbindlichkeit
("apodiktische Evidenz"), die eingangs des II. Teil kritisch ge-
prüft wird. Das nächste Kapitel skizziert die Art und Weise, wie
das transzendentale Ich der lebendigen Gegenwart sich selbst zur
ersten Zeitgegenständlichkeit gegenwärtigt und zeitigt.
Im Anschluß an diesen Überblick werden die bis dahin über-
gangenen Schwierigkeiten in der Problematik der lebendigen
Gegenwart erörtert, - unter Verwendung von N achlaßäußerun-
gen, aus denen hervorgeht, daß Husserl selbst diese Schwierig-
keiten gesehen hat. In aller Vorläufigkeit angedeutet, bestehen sie
darin, daß die lebendige Ichgegenwart nach Husserls programma-
tischer Forderung eine ,,wissenschaftlich'' erfaßbare Gegenständ-
X VORWORT

lichkeit mit "anschaulich" aufweisbaren und nachweisbaren


Strukturen sein soll, während alles an der "Sache selbst" darauf
hindeutet, daß die "lebendige Gegenwart" im Tiefsten nicht auf
solche Weise erfaßbar ist. Ansätze zu dieser Erkenntnis gibt es
aber bei Husserl selbst, der etwa die Ichgegenwart als "anonym"
bezeichnet, d.h. als etwas, das sich dem unmittelbaren reflexiven
Hinblick und "Zugriff" entzieht. Das Schwanken Husserls in
dieser Frage, den Widerspruch zwischen seinen programmati-
schen Forderungen und den Ergebnissen seiner Analysen versucht
die folgende Arbeit als selbst noch im Thema der Phänomenologie
angelegt zu begründen. Näherhin ist der Widerspruch angelegt
in einer Doppeldeutigkeit des Grundproblems der lebendigen Ge-
genwart selbst: Diese ist nach Husserl "strömend-stehend". Das
heißt: Das Ich als zentrierende Lebendigkeit des intentionalen
Lebens kann sein eigenes Gegenwartsein in doppelter Weise als
einen Zeitgegenstand erfahren: Es kann sich einmal als ein Etwas
erfassen, das von Zeitpunkt zu Zeitpunkt, vonJetzt zu Jetzt fort-
strömt und sich auf diese Weise an Zeitstellen oder Zeitstellen-
folgen (Dauern) lokalisiert bzw. objektiviert; es kann seine jeder-
zeit antreffbare All-Gegenwärtigkeit im intentionalen Leben aber
auch als ein quasi überzeitliches oder mit Husserl gesprochen all-
zeitliches Verharren nach Art der idealen Gegenstände, als ein
stehendes Jetzt ("nunc stans") erfahren. Beide Erfahrungsweisen
sind aus dem Wesen der Selbstgegenwärtigung des Ich-in-leben-
diger-Gegenwart erklärlich; sie lassen aber im Dunkel, in welcher
Weise das urgegenwärtige Ich selbst als ineins strömend und
stehend gedacht werden kann. Dieses Dunkelläßt sich deskriptiv-
anschaulich nicht aufhellen, weil das Ich unter dem Blick der
Selbstreflexion notwendig entweder als zeitlich-strömender oder
als allzeitlich-stehender Gegenstand, d.h. immer schon als etwas
in einer der beiden Weisen Konstituiertes, doch niemals als das
Letztkonstituierende erscheint. Die Einheit von Stehen und Strö-
men, und damit das eigentliche Wesen der "lebendigen Gegen-
wart" bleibt ungegenständlich, d.h. anonym.
Mit diesem unbefriedigenden "Ergebnis" stellt sich heraus, daß
das Denken Husserls über die "lebendige Gegenwart" nicht
nachvollzogen und interpretiert werden kann, ohne daß die Inter-
pretation in gewisser Weise ausdrücklich über seine eigenen Pro-
blemstellungen und Lösungen hinausgeht. Der III. Teil der Ab-
VORWORT XI

handlung versucht daher zu zeigen, wie über den Problemstand


des II. Teils, der im engen Anschluß an Husserl erreicht wurde,
hinausgefragt werden kann und muß. Er stützt sich dabei vor
allem auf bisher wenig beachtete wichtige N achlaßstellen. Der
eigentliche Schritt über Husserl hinaus ist das Eingeständnis, daß
das Wesen der "lebendigen Gegenwart" nicht in der von Husserl
programmatisch geforderten reflexiven "Anschaulichkeit" auf-
weisbar und erfaßbar ist. In und aufgrundihrer Anonymität muß
die lebendige Ichgegenwart vielmehr als "Selbstvergemeinschaf-
tung" gedacht werden. Auch hierfür finden sich aber Ansätze bei
Husserl selbst.
Die "Selbstvergemeinschaftung" ist zu denken als ein "Plurali-
tät", "Breite" oder "Hinfälligkeit" in der stehenden "Punktuali-
tät" des Ich,- eine "Auflösung" der ichliehen "Einzigkeit", die
zwar noch nicht die Erstreckung des zeitlich konstituierten Ich
über Zeitstellen ist, wohl aber diese ermöglicht, weil sie die
anonyme Vorform der zeitlichen Ausbreitung ist. Sie ist ein un-
aufhebbar ungegenständlicher und praereflexiver Konnex, "im
Innern" des Ich und seines Lebens, zwischen Ich und Ich, der es
im Ansatz überhaupt erst möglich macht, daß sich das Ich in
reflexiver Ausdrücklichkeit auf sich selbst zurückwenden und
sich anschaulich als ein von Jetzt zu Jetzt strömendes oder ver-
harrendes, bzw. als ein allzeitlich stehendes Etwas erfassen kann.
Von hierher bietet sich am Ende der Arbeit ein Ausblick auf
einige Grundfragen der Phänomenologie, auf die die Weiterfüh-
rung der Frage nach der Seinsweise des transzendentalen Ich
Licht werfen kann. So wird einiges ausgeführt zum Problem einer
möglichen husserlschen Metaphysik und philosophischen Theo-
logie und zu der These einer universalen Teleologie im intentio-
nalen Leben und in der Geschichte, die Husserl in seinem letzten
Werk, der Krisis der europäischen Wissenschaften aufgestellt
hat. -Im I. und II. Teil der Abhandlung bestand vor allem Ge-
legenheit, zu den phänomenologischen Grundproblemen der Re-
duktion und Reflexion einiges zu sagen. Die Arbeit verfolgt die
Nebenabsicht, diese Fragen dadurcheiner Klärung ein wenignäher
zu bringen, daß sie ihre Verwurzelung im Fragebereich der "le-
bendigen Gegenwart" aufweist.
XII VORWORT

Das Thema dieser Abhandlung findet sich teilweise - ebenfalls


unter Verwendung husserlscher Forschungsmanuskripte - be-
handelt in den Werken von A. DiemerEdmund Busserl. Versuch
einer systematischen Darstellung seiner Phänomenologie, G. Brand
Welt, I eh und Zeit und Th. Seebohm Die Bedingungen der Möglich-
keit der Transzendentalphilosophie. -Die Behandlung von Pro-
blemen wie Ich, Zeit, Reduktion, Teleologie bei Diemer ist, soweit
sie sich auf denNachlaß stützt, meistmehr verwirrendals klärend
zu nennen. Sie zeigt nur, wie problematisch es ist, schon heute
eine Gesamtdarstellung von Husserls Denken vorzulegen.
Eine aufschlußreiche Darstellung vor allem der Problematik
von Ich und Zeit enthält das Buch von Brand. Jedoch auch diese
Darstellung ist insofern überholungsbedürftig, als sie die von
Husserl selbst gleichsam gegen seinen eigenen Willen zugegebe-
nen Untiefen und Schwierigkeiten in der Problematik der "leben-
digen Gegenwart" verschweigtl. Diesem Mangel soll im II. Teil
der vorliegenden Abhandlung abgeholfen werden. Die besagten
Schwierigkeiten können aber nur sachgemäß erörtert werden,
wenn man sie in den Gesamtzusammenhang des husserlschen
Denkens stellt. Brands Darstellung hat daher auch die Grenze,
daß sie in ihrem einleitenden ersten Teil nicht auf die Ergebnisse
der Vorlesungen zum inneren Zeitbewußtsein Bezug nimmt, und
vor allem darin, daß sie nicht zeigt, welche Art phänomenologi-
scher Reduktion das transzendentale Erfahrungsfeld der "leben-
digen Gegenwart" freilegt. Damit hängt zusammen, daß der
Charakter der reflexiven Aussagen über die lebendige Gegenwart
nicht geprüft wird. Dies wiederum ist nur möglich, wenn Seins-
weise und Konstitution der Allzeitlichkeiten bestimmt werden.
Schließlich weist Brand selbst darauf hin, daß die Problematik
der lebendigen Gegenwart bei der Darstellung von Teleologie und
Intersubjektivität wiederholt werden muß. Er geht aber davon
aus, daß die lebendige Gegenwart zunächst- in einer vorläufigen
Abstraktion- gesondert behandelt werden kann und muß. Der
III. Teil der vorliegenden Arbeit versucht zu zeigen, daß sogar
diese vorläufige Abstraktion nicht aufrechterhalten werden kann.
Das Problem der lebendigen Gegenwart ist schon in seinem

1 Ein Mangel, auf den schon H.-G. Geyer in seiner Rezension des Buches von
Brand aufmerksam gemacht hat, vgl. Philosophische Rundschau, 4· Jahrg., Tübingen
1956, S. 82 ff.
VORWORT XIII

Grundansatz ein Problem der Intersubjektivität und Teleologie


und verweist in diesem Zusammenhang unmittelbar auf Grund-
fragen einer Metaphysik und philosophischen Theologie, wie sie
aus der Phänomenologie erwachsen können.
Das Werk von Th. Seebohm Die Bedingungen der Möglichkeit
der Transzendentalphilosophie erschien erst, als der Haupttext
dieser Abhandlung schon geschrieben war. Es konnten aber noch
einige kritische Bemerkungen zu Seebohms Grundthese von der
möglichen apodiktischen Selbstbegründung einer Husserl folgen-
den Transzendentalphilosophie eingefügt werden. Im übrigen soll
aus dem Gedankengang der ganzen vorliegenden Arbeit hervor-
gehen, daß das sich selbst ständig verzeitigende und darum immer
bereits gezeitigte und somit reflexiv objektivierbare Ich, das See-
bohm im Anschluß an gewisse - auch hier behandelte - husserl-
sche Äußerungen für die apodiktische Grundlage phänomenolo-
gischen Denkens hält, in Wahrheit vermutlich die frag-würdigste
Sache der husserlschen Transzendentalphilosophie ist.
Wesentliche Anregungen verdankt die vorliegende Arbeit dem
für die Beschäftigung mit Husserls Phänomenologie immer noch
grundlegenden Aufsatz von E. Fink "Das Problem der Phäno-
menologie Edmund Husserls", den wegweisenden Abhandlungen
L. Landgrebes in seinem Sammelband Der Weg der Phänomeno-
logie, darunter vor allem dem Aufsatz "Husserls Abschied vom
Cartesianismus", schließlich der Dissertation von G. Eigler
Metaphysische Voraussetzungen in Husserls Zeitanalysen.

Diese Abhandlung lag im Jahre 1962 der Philosophischen Fa-


kultät der Universität Köln als Dissertation vor. Seitdem er-
schien eine Reihe interessanter Aufsätze und Bücher zur Phäno-
menologie Edmund Husserls. Eine ausführliche Auseinander-
setzung mit allen diesen Arbeiten konnte nicht mehr in den Text
der Abhandlung aufgenommen werden; die Veröffentlichung der
Arbeit, der sich leider ohnehin schon einige Hindernisse in den
Weg stellten, würde sich sonst zu lang verzögert haben.

Ich freue mich, hier noch einmal Herrn Professor Dr. Ludwig
Landgrebe für die Anregung und die Unterstützung danken zu
können, die ich für die vorliegende Arbeit von ihm bekommen
XIV VORWORT

habe. Unter den mannigfachen Gelegenheiten, von ihm bei der


Abfassung meiner Dissertation zu lernen, möchte ich hier nur ein
Seminar über das Zeitproblem im Wintersemester 1959/60 und das
Kolloquium über unveröffentlichte husserlsche Manuskripte an
der Universität Köln hervorheben, in dem im Winter- und Som-
mersemester rg6of6r das Nachlaßmanuskript C 2 I interpretiert
wurde. An diesem Kolloquium nahmen auch die Herren Profes-
soren Dr. K. H. Volkmann-Schluck und Dr. W. Biemel teil, aus
deren Diskussionsbeiträgen ich ebenfalls manches für diese Ab-
handlung gelernt habe.

Dem Husserl-Archiv Köln danke ich für die Möglichkeit, eine


große Reihe von Nachlaßmanuskripten Edmund Husserls ent-
leihen bzw. einsehen zu dürfen, und dem Direktor des Busserl-
Archivs in Löwen, Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Pater H. L. van Breda
gilt mein besonderer Dank für die freundliche Erlaubnis, aus un-
veröffentlichten Manuskripten Husserls zu zitieren.

Köln, im März rg65


INHALTSVERZEICHNIS

I. TEIL: GEGENWÄRTIGUNG ALS STATISCHER UND


GENETISCHER URMODUS DER WELTERFAHRUNG
A. Einführung in den ersten Problembereich der Untersuchung
r. Einige Grundbegriffe 3
2. Wahrnehmung und Gegenwärtigung 5
3· Die eidetische Reduktion auf "sinnliche Wahrnehmung über-
haupt" II

B. Die zunächst aufweisbaren Strukturen der Wahrnehmungsgegen-


wart
r. Die transzendentalphänomenologische Reduktion auf strö-
mende Wahrnehmungsgegenwart 17
2. Der urimpressionale Wandel 22
3. Die Retention 24
4· Präsenzfeld und passive Übergangssynthesis 26

C. Gegenwärtigung als Urkonstitution der Wahrnehmungswelt


r. Ständige Jetztform und Zeitstellenjetzt 29
2. Die Urkonstitution von Identität und Individualität 31
3· Gegenwärtigung als genetischer ,.Ursprung" der Wahrneh-
mungswelt 32
a. Die Urstiftung des Vergangenheitshorizonts und die Mög-
lichkeit der Wiedererinnerung 33
b. Vergegenwärtigung als Objektivation 35
c. Die Urstiftung bleibender Gegenstandstypen 36
d. Zeitigung und Stiftung der Zeitform 37
D. Die Protention
r. Die Aufweisung der Protention am Maßstab der Retention 39
2. Protention und urtümliche Teleologie 43
E. Die Unterscheidung von noematischerund noetischer~Zeitigung
F. Die Konstitution der Allzeitlichkeiten
I. Fragestellung und Grundbegriffe 49
2. Spontaneität, Strömen, Ständigkeit 51
3· Verdeutlichung am Beispiel der eidetischen Variation 54
Anmerkungen 56
XVI INHALTSVERZEICHNIS

II. TEIL: LEBENDIGE GEGENWART ALS URMODUS ICH-


LICHER LEBENDIGKEIT
A. Einführung in den zweiten Problembezirk der Untersuchung
I. Die Frage nach dem Ich als lebendigem Gegenwärtigungs-
zentrum 6I
2. Grundbegriffe zur Lehre von der lebendigen Gegenwart 63
B. Die radikalisierte Reduktion
I. Die Reduktion als Selbstkorrektur der Phänomenologie 66
2. Die Radikalisierung der "absoluten Erfahrung" 68
3· Die radikalisierte Reduktion und die Herstellung von Apodik-
tizität und adäquater Evidenz 7I
C. Selbstgegenwärtigung und Selbstkonstitution
I. Reflexion und Selbstgegenwärtigung 79
2. Die Weisen der Selbstzeitigung 83
a. Zeitigung der Noesen und Mitzeitigung des Ich 84
b. Ichliches Verharren und Lebenseinheit 86
c. Das Ich der Habitualitäten 87
3· "Erste Transzendenz" und "Ontifikation" 89
4· Die Implikation alle.s noetisch-noematischen Lebens in der
lebendigen Gegenwart und die Fundierungsverhältnisse dieser
Implikation 90
D. Die Rätsel der lebendigen Gegenwart
I. Problemstellung 94
2. Die Urpassivität des Strömens 97
3· Die praereflexive Synthesis 104
4· Die Vor-Zeitlichkeit der lebendigen Gegenwart II2
5· Die Anonymität der lebendigen Gegenwart n8
E. Die ständige Funktionsgegenwart als allzeitliches nunc stans 123
I. Die Konstitution des allzeitliehen nunc stans 126
a. Das nunc stans als im Unendlichen liegende Idee der
Totalität und universalen Einheit ichliehen Lebens I26
b. Die Gewinnung des allzeitliehen nunc stans durch Lösung
von der Bindung ans Strömen 128
2. Das allzeitliche nunc stans eine apodiktische Gegebenheit? 130
3· Die Motivation für die Ideation des allzeitliehen nunc stans
und die Teleologie des Fungierens I31

F. Zurückführung der Rätsel der lebendigen Gegenwart auf das eine


Rätsel der Einheit von Stehen und Strömen

III. TEIL: ENTWURF EINES RÜCKGANGS AUF DAS ANO-


NYME NUNC STANS
A. Aufgabenstellung 141

B. Die Funktionsgegenwart als "absolutes Faktum" I46


C. Die Analogie vom Mitgegenwart und Selbstgegenwart
1. Die Analogie von Fremderfahrung und Wiedererinnerung I5I
I. TEIL

GEGENWÄRTIGUNG
ALS STATISCHER UND GENETISCHER
URMODUS DER WELTERFAHRUNG
A. EINFÜHRUNG IN DEN ERSTEN PROBLEMBEREICH
DER UNTERSUCHUNG

I. Einige Grundbegriffe
Welchen Sinn die Frage nach der Seinsweise des transzenden-
talen Ich im Rahmen der husserlschen Phänomenologie über-
haupt haben kann, soll zunächst eine ganz vorläufige und grobe
Erörterung einiger Grundbegriffe zeigen. Das Forschungsthema
der Phänomenologie ist die Aufweisung der universalen intentio-
nalen Korrelation von Sein und Bewußtsein. Im Sinne der Phäno-
menologie gibt es nur "Welt für mich" und "mich" nur "in
intentionaler Weltbezogenheit". Das sind keine vorweg dekretier-
ten dogmatischen Formeln, sondern in der Erhellung des "für-
mich" besteht gerade die phänomenologische Aufgabe. Feststeht
jedoch: Welchen Sinn jegliches erdenkliche Seiende haben mag, -
er muß sich aufklären lassen im Rückgang auf die Erlebnisse oder
Erfahrungen (diese Wörter im weitesten Sinne genommen), in
denen Seiendes dieser oder jener Art zur ursprünglichen Gegeben-
heit kommt. Nichts ist denkbar, das nicht ein wirklicher- oder
möglicherweise von mir Gedachtes, Gefühltes, Phantasiertes, Ge-
liebtes usw. wäre. Der zu erforschende universale Bezug vom
"Ich" zur "Welt" heißt Intentionalität.
Das Ich als Zentrum des intentionalen Welt-erfahrenden Le-
bens bin "ich selbst", derjenige, der die eigene intentionale Welt-
habe erforscht,- und doch ich selbst nicht als dieser Mensch in
seiner konkreten leib-seelischen Beschaffenheit, als dieses be-
stimmte Seiende in der Welt. Als solches Weltliche unter anderem
muß das Ich ja noch im Rückgang auf seine spezifischen Weisen
intentionalen Erfahrenseins verstanden werden. Das "Ich" als
Erfahrungszentrum ist kein Stück dieser Welt; zwischen ihm und
allem ihm weltlich Begegnenden liegt vielmehr ein wahrer Ab-
grund des Seins. Das heißt: alles Weltliche ist ihm transzen-
dent. Nicht aber, als ob das Ich ohne seine universale intentio-
4 GEGENWÄRTIGUNG

nale Welthabe sinnvoll gedacht werden könnte; es ist, was es ist,


nur als Zentrum, als Pol der intentionalen Funktionen seines
Welt-erfahrenden Lebens.
Die Welt entspringt nicht aus dem transzendentalen Ich; sie ist
nicht von ihm erschaffen, aber der transzendente Seinssinn, den sie
für mich hat (und es gibt keinen andern) kann ihr nur von mir aus
und für mich, aus meinem Fungieren, wie Husserl sagt, zu-
kommen. Seiendes jeglicher Art ist wirkliches oder mögliches
Korrelat bestimmter aufweisbarer intentionaler Gegebenheits-
weisen. Als solches heißt es Phänomen.- Auf die Frage nach
der Seinsweise des transzendentalen Ich kann demnach vorläufig
geantwortet werden: Das Ich ist Zentrum seines welterfahrenden
Lebens. Seine Lebendigkeit besteht im Ermöglichen der intentio-
nalen Bekundung von Transzendentem. Diese Ermöglichung
nennt Husserl Konstitution. Das Ich heißt transzendental
als Ermöglichungsgrund des Begegnens von Transzendentem, wie
der folgende Satz Husserls bezeugt: "Weil in dieser <der transzen-
dentalen Subjektivität, d.h. dem transzendentalen Ich> das Sein
alles dessen, was für ein Subjekt in verschiedener Weise erfahrbar
ist, das Transzendente im weitesten Sinne, sich konstituiert, heißt
sie transzendentale Subjektivität"!. Die bisher gegebene Skizze
von der Stellung des transzendentalen Ich im welterfahrenden Be-
wußtseinsleben bestätigt folgende Äußerung Husserls: "Das Ich
ist Subjekt des Bewußtseins; Subjekt ist dabei nur ein anderes
Wort für die Zentrierung2, die alles Leben als Ichleben und
somit lebend etwas zu erleben, etwas bewußt zu haben, hat"3.
Jede Art des Welterfahrens ist eine Ausformung der transzen-"
dentalichliehen Lebendigkeit. Demnach ist alle Entfaltung der
universalen Konstitutionsproblematik schon eine Antwort auf
die Frage nach der Seinsweise des transzendentalen Ich. Auch
wenn diese Frage, wie hier, eigens und radikaler gestellt werden
soll, kann offenbar vom Welterfahren des Ich nicht abgesehen
werden. Das bedeutet: Nach der Seinsweise des transzendentalen
Ich fragen, kann nur heißen: das welterfahrende Leben im Ganzen

Ms. M III 3, S. 2 zitiert nach Diemer, Edmund Busserl, S. 24


1
Hervorhebungen in den Zitaten, die von Husserl selbst stammen, sind ge-
2
sperrt gedruckt. Alle Hervorhebungen durch Kursivdruck sowie alle Einfügungen
im Zitattext, die in eckige Klammern ( ) gesetzt sind, stammen von mir.
3 Ms. C 3 III, S. I (1930)
EINFÜHRUNG 5

in den Blick nehmen und nach dem beherrschenden Grundzug


aller ichlieh intentionalen Lebendigkeit suchen.
In vorläufiger und vager Allgemeinheit läßt sich nun zunächst
folgendes über die Wesensstruktur alles Intentionalhabens sagen:
Intentionalität ist zweipolig: hier intendierendes Ich - dort in-
tendierte Gegebenheit. Diese Pole sind nicht gleichen Ranges. Da.s
intentional Begegnende ist Gegebenheit für den Ichpol; es ist
Phänomen. Der Ichpol öffnet sich auf jeweils zu erforschende
Weise dem Begegnenden und eröffnet ihm so überhaupt erst die
Möglichkeit, sich als Seiendes dieser oder jener Art zu bekunden.
Mit anderen Worten: Die Grundfunktion des Ichpols ist Vor-
stellig-Machen, Entgegenstehen-Lassen von Gegenständen. In-
tentionalität als solche Erfahrung eines Gegenüber kann daher als
"Wahrnehmung" im weitesten Sinne des Wortes bestimmt wer-
den. - Wenn sich der Grundzug alles Intentionalhabens als
"Wahrnehmung" verstehen läßt, muß die phänomenologische
Analyse der sinnlichen Wahrnehmung im engeren Sinne für das
Verständnis von Intentionalität überhaupt besonders aufschluß-
reich sein. Die Phänomenologie wird ihr eine - noch näher zu be-
stimmende- Vorzugsstellung im Ganzen des intentionalen Lebens
zusprechen; denn am Musterbeispiel der sinnlichen Wahr-
nehmung läßt sich nach Husserl am einfachsten und einleuchtend-
sten klarmachen, worin Wahrnehmung überhaupt, als Grundzug
alles Intenfionalhabens, besteht.
2. Wahrnehmung und Gegenwärtigung
Daß die sinnliche Wahrnehmung eine Vorrangstellung in der
Intentionalität einnimmt, läßt sich vielen Stellen in Husserls ver-
öffentlichten und unveröffentlichten Schriften entnehmen. I Eine
Abhandlung über Probleme der Phänomenologie darf aber nicht
einfach "nacherzählen", was Husserl da und dort gedacht hat,
sondern sie muß die innere Notwendigkeit in der Entfaltung einer
Problematik nachzuverstehen suchen. Es ist also in Kürze der
Gedankenzusammenhang darzustellen, aus dem heraus es zur
Vorzugsstellung der Wahrnehmung kommt.
Als innerer Anfang der Phänomenologie kann die Maxime "Zu
den Sachen selbst!", die Leitidee der Ausweisbarkeit, die For-
1 Vgl. etwa Ideen I, S. 88; Formale und transzendentale Logik, S. 278; Ms. BI 5
IX, S. 14 (1930); Ms. C 3 III, S. 21 (1931)
6 GEGENWÄRTIGUNG

derung nach Herstellung einer ursprünglichen Erfahrung geltenl.


Obwohl damit radikale philosophische Vorurteilslosigkeit gefor-
dert ist, liegen doch in der Idee der Ausweisbarkeit selbst schon
Voraussetzungen, die der Phänomenologie von vornherein ihr Ge-
präge geben. In dem Aufruf "Zu den Sachen selbst!" liegt erstens
schon die Grundüberzeugung, daß die Sachen nicht jederzeit zu-
tage liegen, sondern aus einer gewissen Verdecktheit, Verstellt-
heit, Dunkelheit und Ferne herausgeführt und in eine Art Un-
verdecktheit, neue Lebendigkeit, Unverstelltheit, Helligkeit und
Nähe gebracht werden müssen. Damit steht aber - zweitens -
auch schon fest, welches der Bezugspunkt für diese Ferne und
Nähe oder gleichsam die Lichtquelle für die sich abstufende Hel-
ligkeit der "Sachen" ist: das denkende und wissende Ich. Da
dieses allein die Instanz sein kann, vor der sich das Ausmaß und
die Weise unverstellter Nähe oder, wie Husserl sagt, "leibhafter
Gegebenheit" einer "S,ache" bestimmt, so ist damit von vorn-
herein entschieden, wo allein der phänomenologisch denkende
Philosoph die gesuchte Ausweisbarkeit, Ursprünglichkeit und
Selbstgegebenheit der Sachen finden kann: in der Reflexion auf
das eigene welterfahrende Leben; er darf - gerade um der ur-
sprünglichen Erfahrung der "Sachen selbst" willen-nicht in der
ungebrochenen Selbstverständlichkeit aller natürlichen (auch
wissenschaftlichen) Beziehung auf irgendwelche "Sachen" in der
Welt verharren und diese "naiv" "geradehin" thematisieren, son-
dern er muß in radikaler und universaler Weise den Blick auf die
allumspannende Korrelation von "Bewußtsein" und "Bewußtem"
zurückwenden. Was eine Sache "selbst" ist, kann nur auf dem
Wege der Aufklärung ihres jeweiligen Für-mich-Seins, d.h. durch
Intentional-Analyse bestimmt werden.
Diese Konsequenz läßt sich auch so formulieren: Das mir
Nächste und Hellste ist prinzipiell mein eigenes welterfahrendes
Leben. Doch nun ist hinzuzufügen, daß dieses im Gang der phäno-
menologischen Forschung keineswegs unmittelbar zugänglich ist.
Das liegt daran, daß ich, der Reflektierende, normalerweise der
Welt und nicht meinem eigenen transzendentalen Fungieren zu-
gewandt bin. Das welterfahrende Fungieren als das mannigfache
1 hierzu und zum ganzen Abschnitt vgl. die grundlegenden Ausführungen von
L. Landgrebe, Philosophie der Gegenwart, 1957, S. 31 ff. und E. Fink, Das Problem
der Phänomenologie Husserls, in: Revue internationale de Philosophie, Bd. I, 2,1939,
S. z66 ff.
EINFÜHRUNG 7

Wie dieser Zuwendung bleibt darum normalerweise unbekannt


und verstellt; und es bedarf erst der radikalen Bemühung der phä-
nomenologischen Reflexion, um das transzendentale Ichleben aus
seiner Verborgenheit oder, wie Husserl sagt, seiner Anonymität
zu befreien und in die Helligkeit des Bewußtseins zu stellen. Der
Gang der phänomenologischen Reflexion ist damit als der Weg
einer mühevollen Selbstbesinnung vorgezeichnet. Damit wird
hier schon erkennbar, daß die Frage nach der Seinsweise des transz-
endentalen Ich keine beliebige oder gar willkürliche Frage inner-
halb der Phänomenologie ist, sondern ihr Grundthema schlechthin.
Die in der Maxime "Zu den Sachen selbst!" implizierten Grund-
überzeugungen bringen nicht nur die phänomenologische For-
schung in Gang und beherrschen sie in ihrem Fortgang, sondern
mit ihnen ist in gewisser Weise auch schon darüber vorentschie-
den, als was der "Gegenstandsbereich" dieser Forschung in den
Blick kommt: Da die Reflexion selbst eine Ausformung des zu er-
forschenden welterfahrenden Lebens ist, ihr Fortschreiten aber
wesentlich den Unterschied von Erfahrungsnähe und -ferne vor-
aussetzt, liegt hier schon der Ansatz für den Gedanken einer
Stufenordnung der Intentionalitäten, - einer Ordnung nach dem
Grade ihrer "Sachnähe" oder "Sachferne", ihrer so verstandenen
"Ursprünglichkeit" oder "Abkünftigkeit". Von vornherein ver-
steht die Phänomenologie Phantasie beispielsweise als eine Vor-
stellung, die ihrem eigenen Sinne nach auf Wahrnehmung-, Be-
kanntheit als etwas, das auf ursprüngliches Kennenlernen ver-
weist! usw. So schlechthin selbstverständlich die Behauptung
klingen mag, daß solche Erlebnisweisen wie die zuerst genannten
ursprünglichere Gegebenheitsweisen -in einem später zu präzi-
sierenden Sinne - "voraussetzen", - in dieser Auffassung ist be-
reits ein Maßstab wirksam, den die Phänomenologie schon vor
aller mühevollen und schrittweisen Aufklärung einer Stufenord-
nung der Intentionalitäten von vornherein mitbringt. Dieser
Maßstab ist die Vorstellung eines Idealfalles von Intentionalität,
einer vorbildlichen Urform, in welcher das intentionale Leben
sein eigenes Wesen in ursprünglicher Weise verwirklicht. Diese
Idealform aber ist die unverstellt-hingenommene, helle Nähe des
intentional Gegebenen für das erfahrende Ich, das heißt aber:
Wahrnehmung in einem weitesten Sinne. Damit klärt sich:
1 Vgl. Cartesianische Meditationen, S. II3
8 GEGENWÄRTIGUNG

"Wahrnehmung" kann deswegen, wie schon bekannt, als Grund-


zug alles Intentionalhabens bestimmt werden, weil alles intentio-
nale Leben als Verwirklichung oder "höherstufige" Modifikation
der urbildliehen Intentionalität: "selbstgebende Wahrnehmung"
verstanden werden muß,- wie sich nunmehr gezeigt hat.
Was Intentionalität eigentlich, ursprünglich und von daher in
weiterer Folge überhaupt ist, steht demnach mit dem Einsetzen
des phänomenologischen Denkens schon fest: - Wahrnehmung
im Sinne anschaulicher Erfahrung von irgendwie "leibhaft
Selbstgegebenem" ist die maßgebende Urform alles intentionalen
Lebens. Welche Seinsart das welterfahrende Leben im Ganzen
und damit wiederum das transzendentale Ich hat, bestimmt sich
von der maßgebenden Urform der Wahrnehmung her. Worin aber
näherhin die Ursprünglichkeit der Urform besteht, kann gemäß
dem Absehen der Phänomenologie auf "Erfahrung" keine Spe-
kulation, sondern nur die konkrete Analyse des welterfahrenden
Lebens selbst ans Licht bringen. Das nächste und beste Beispiel
für Wahrnehmun~ als unverstellte, schlichte Hinnahme eines
Gegebenen bietet steh in der einfachensinnlichen Wahrnehmung.
In ihr findet Husserl das, was Intentionalität ursprünglich und
eigentlich ist, am ehesten verwirklicht. Bei ihr liegt daher der
beste Beginn phänomenologischer Aufweisungen.
Doch die Analyse der Wahrnehmung umfaßt ein uferloses Ge-
biet. Die vorliegende Untersuchung ist nur an den Aufschlüssen
interessiert, die sie für das Verständnis der maßgebenden Urform
(Selbstgebung) und in weiterer Folge der beherrschenden Grund-
form von Intentionalität überhaupt ("Wahrnehmung") bietet.
Die sinnliche Wahrnehmung dient hier also nur als ,,Normalfall''l,
als Musterbeispiel für selbstgebende Anschauung. Diese verdankt
ihre intentionale Ursprünglichkeit der unverstellten, hellen Nähe
des in ihr Gegebenen. Solche leibhafte Nähe heißt "Gegen-
wart". Wahrnehmen kann daher treffend als "Gegenwärti-
gen'' charakterisiert werden2. Das deutsche Wort Gegenwart hat
heute ebenso wie das Fremdwort "Präsenz" den Doppelsinn von
Anwesenheit in der räumlichen und zeitlichen Nähe dessen, dem
etwas gegenwärtig ist. Im skizzierten Grundansatz der Phäno-

1 Ms. C 3 III, S. 21: Wahrnehmung ist der "Normalfall aller Ichbetätigung". (1931)
2V gl. Phänomenologische Psychologie, S. 202; ferner M. Heidegger, Sein und Zeit,
/3. unv. Auf!. 1957, S. 363
EINFÜHRUNG 9

menologie liegt nun wiederum ein Vorentscheid darüber, in


welcher dieser beiden Bedeutungen sinnliche Wahrnehmung als
Musterbeispiel für intentionale Ursprünglichkeit hier interessieren
wird:
Wahrnehmung ist ja nicht nur Urform der in der Phänomeno-
logie thematisierten Intentionalität, sondern, wie sich schon er-
gab, auch Leitbild der phänomenologischen Forschung selbst.
Diese will zu den Sachen selbst und versteht sich darum auch als
reflexive "Wahrnehmung", Anschauung des welterfahrenden
Lebens. Husserl sagt: "Unser ganzes Vorgehen ist, eine Selbst-
besinnung vollziehen und auf das ,absolut wahrnehmungsmäßig
Gegebene' reduzieren ... "1 - Das Phänomenologie treibende Ich
entdeckt nun im Vollzug dieser seiner Reflexion sogleich einen
ausgezeichneten, bisher unerwähnten Wesenszug des intentiona-
len Lebens; es vollzieht nämlich nicht bloß seine momentane Zu-
rückwendung auf das eigene Leben, sondern es ist sich sogleich
auch seines eigenen Reflektierens bewußt. Mehr noch: das re-
flektierende Ich weiß sich als solches, das jederzeit und unter allen
Umständen auf sein eigenes Leben und seine Ichlichkeit reflek-
tieren könnte. Dieses Wissen begründet die Phänomenologie
als universale Reflexion2.- Doch zugleich mit dem Wissen
um sein "Immer wieder Reflektierenkönnen"3 ist dem Ich auch
die Einsicht in eine weitere hervorragende Eigenheit seiner selbst
verliehen: Es kann ja nur deshalb jederzeit auf sich selbst zurück-
blicken, weil es in seinem Leben immer schon einen Abstand von
sich selbst gewonnen hat; dies aber ist der Fall, weil sein Leben
die Form eines ständigen Prozesses hat, der als umfassende Ein-
heit ohne irgendeine Unterbrechung seiner Kontinuität bewußt
ist. Jede Ausformung des ichliehen Lebensprozesses ist wirklicher-
oder möglicherweise bewußt als Teilphase in dem einen Lebens-
ganzen. Der Kontinuität und Geeintheit des Lebenspro-
zesses verdankt das Ich die Möglichkeit seiner Selbstbezogenheit.
Und weil dieser Prozess ein Stromist, kannsich das Ich aus-
drücklich in Form vonRück blicken oder Vorblicken auf sein
Leben und sich selbst in diesem Leben beziehen; deswegen kann
es sich jederzeit auf neuabgelaufene Stromphasen zurückwenden.

1 Ms. C 7 I, S. 34 (I932)
2 Vgl. Ideen I, S. I77 ff.
3 Ms. A V 5, S. 2 (I933)
10 GEGENWÄRTIGUNG

Das bedeutet: die Phänomenologie entdeckt im ersten Vollzug


ihres Reflektierens das unbeschränkte Reflexionsvermögen des
Ich und ineins damit einen zweiten Grundzug des intentionalen
Lebens überhaupt: sein ständiges Strömen. Dieser Grundzug
muß nun ebenso wie der erste: der Wahrnehmungscharakter alles
Intentionalhabens, näher bestimmt werden. Damit klärt sich,
unter welcher Hinsicht hier die sinnliche Wahrnehmung, die
bisher als Musterbeispiel für das Wahrnehmungswesen von In-
tentionalität überhaupt eingeführt wurde und an deren Doppel-
sinn von räumlicher und zeitlicher Gegenwärtigung die augen-
blickliche Erörterung anknüpfte, von besonderem Interesse sein
wird: Da auch der zweite Grundzug intentionalen Lebens, sein
Charakter als zeitlicher Prozeß aufgehellt werden muß, hat im
Folgenden die sinnliche Wahrnehmung als Beispiel für Gegen-
wärtigung im zeitlichen Sinne Untersuchungsthema zu werden.
Im Sinne der phänomenologischen Drunterscheidung von ur-
sprünglichen und abkünftigen Erfahrungen ist zeitliches Gegen-
wärtigen als ein vorstellig-Machen-in-zeitlicher-Nähe von Ver'"
gegenwärtigungen aller Art zu unterscheiden.- Die Vorrang-
stellung ursprünglicher intentionaler Erfahrung, das heißt nun-
mehr: des Gegenwärtigens, wurde schon soweit gekennzeichnet,
daß alle abkünftige Erfahrung, - alle Vergegenwärtigung, wie
jetzt gesagt werden kann, ihrem eigenen Sinne nach auf Gegen-
wärtigung verweist. Gegenwärtigungen aber sind daran erkenn-
bar, daß sie keinen solchen Verweis mehr enthalten. Vergegen-
wärtigung und Vergegenwärtigtes sind also irgendwie intentional
abgeleitet, bedingt oder begründet,- Gegenwärtigung und Gegen-
wärtiges vorausgesetzt, bedingend oder zugrundeliegend. Dieses
erst vage bekannte Verhältnis läßt sich auf doppelte Weise ver-
stehen: Gegenwärtigung kann einmal - und so wurde es im
Bisherigen verstanden - deswegen der Vergegenwärtigung ;,zu-
grundeliegen", weil sie Erkenntnismaßstab dafür ist, welches
Intentionalhaben ursprünglich und welches in "höherstufigen"
Modis das Wesen von Intentionalität erfüllt. Als "Originalform
des Bewußtseins"! in diesem Sinne besitzt sie einen Vorzug in der
statischen Klassifikation und Aufbauordnung der Intentiona-
litäten. "Vorrang der Gegenwärtigung" kann aber auch heißen:
Jede Ausformung des welterfahrenden Lebens verweist ihrer
1 Formale und transzendentale Logik, S. 278
EINFÜHRUNG 11

Entstehung nach auf Gegenwärtigung; diese ist deshalb Urform,


weil sie allen anderen Formen als bereits vollzogene voraus- und
zugrundeliegt; alles Intentionalhaben tritt ursprünglich als
Gegenwärtigung auf und wird erst infolge einer genetischen
Abwandlung das, was es jetzt istl. Demnach sind zwei Unter-
suchungsrichtungen der Phänomenologie zu unterscheiden; der
einen geht es um die statische Schichtung der Intentionalitäten,
der anderen um die genetische Abfolgeordnung, das transzenden-
tale Werden des intentionalen Lebens. Diese Unterscheidung be-
sagt für den Gang der folgenden Untersuchung: Erst wenn sich
das zeitliche Gegenwärtigen nicht bloß als eine statische Form
(wenn auch Urform) neben vielen anderen Intentionalitäten,
sondern als genetische Ursprungsform in der transzendentalen
Lebensgeschichte überhaupt erwiesen hat, steht das intentionale
Leben in seiner Ganzheit im Blick und damit eigentlich erst
radikal die Seinsweise des transzendentalen Ich infrage. Anderer-
seits kann aber der genetische Vorrang der Gegenwärtigung nicht
verständlich werden, ehe nicht statisch analysiert ist, worin die
Ursprünglichkeit der Gegenwärtigung näherhin besteht. Daraus
folgt: Mit der Aufweisung der Zeitstruktur des Gegenwärtig-
habens, am Musterbeispiel und statischen Normalfall der sinn-
lichen Wahrnehmung, muß die vorliegende Untersuchung be-
gonnen werden.
Die ersten und grundlegenden phänomenologischen Analysen
zur Zeitstruktur des sinnlichen Gegenwärtighabens finden sich in
Husserls Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbe-
wußtseins. Was sie in den beidenersten Teilenenthalten (§§ r-34),
ist durch die kurzen Andeutungen in späteren Veröffentlichungen
und durch die Zeitanalysen der dreißiger Jahre der Sache nach
nicht überholt, sondern nur terminologisch bereichert und ver-
tieft worden. Dagegen enthalten die späteren Arbeiten wesent-
liche Denkfortschritte gegenüber dem dritten Teil der "Vor-
lesungen ... " (§ 34 ff.) Dazu mehr im II. und III. Teil dieser
Untersuchung!

3. Die eidetische Reduktion auf "sinnliche Wahrnehmung überhaupt"


Auch nachdem die erste Aufgabe der Untersuchung gestellt ist,
1 Zur ganzen Unterscheidung vgl. Formale und transzendentale Logik, S. 278;
Cartesianische Meditationen, S. no; Ms. C 2 I, S. 6 ff. (1931)
12 GEGENWÄRTIGUNG

kann die Zeitstruktur der sinnlichen Wahrnehmung nicht ohne


Vorerwägungen thematisiert werden. Die Abhandlung entnahm
die Direktiven für ihren Fortgang bisher den Grundüberzeugungen
der Phänomenologie, die sie als universale Reflexion auf das welt-
erfahrende Leben in Gang bringen. Als was dieses Leben und
seine Ausformungen in den Blick kommen, ist durch den Charak-
ter der phänomenologischen Reflexion vorgezeichnet. Nicht als
ob alle phänomenologischen Aussagen aus den besagten Grund-
voraussetzungen "deduziert" werdenkönnten; es geht nur darum,
nach Abschluß des husserlschen Lebenswerkes die innere Not-
wendigkeit nachzuverstehen, mit der die phänomenologische
Denkweise das durch sie zu Sehende so und nicht anders sicht-
bar werden läßt. Eine solche Reflexion auf die phänomenologische
Reflexion entspricht ihrerseits noch der Auffassung Husserls, der
in der Entfaltung der phänomenologischen Problematik eine
Teleologie am Werke sah. Diese Teleologie wird auch hier noch
zur Sprache kommen und den Beginn der Untersuchung von
ihrem vorgezeichneten, aber hier noch verborgenen Telos her
verständlich machen.
Im Sinne dieser "inneren Notwendigkeit" ist jetzt zu fragen,
auf welche Weise sich die Zeitstruktur der sinnlichen Wahr-
nehmung in phänomenologischer "Sicht" enthüllen muß. Wie
inzwischen bekannt, versteht sich diese phänomenologische Sicht
selbst als eine Art denkender Wahrnehmung. Das in ihr The-
matisierte ist erschaubares, erfaßbares Gegenüber eines Vor-
stelligmachens, ist Gegenstand von Erfahrung im weitesten Sinne.
Wenn diese Erfahrung nicht in der phänomenologisch unstatt-
haften Naivität ungebrochener Zuwendung zu transzendenten
weltlichen Vorkommnissen, zu denen ja auch mein menschliches
Reflektieren gehört, vollzogen werden soll, so muß schon vor-
bekannt sein, welcher Art sie und das in ihr Erfahrene ist.- Als
ihr Erfahrungsgegenstand wurde die Zeitstruktur von sinnlicher
Wahrnehmung-überhaupt genannt. Was besagt dieses , , über-
ha u pt" ? Es bedeutet, daß die Phänomenologie sich nicht mit
der reflexiven Erfahrung irgendeiner sinnlichen Wahrnehmung
begnügt, sondern auf deren "Wesen", d.h. eben auf das, was
sie "überhaupt" ist, zielt. Um dieser Absicht willen darf sich die
Phänomenologie nach Husserl eine "Wissenschaft" nennen.
Woher rührt dieses Absehen der Phänomenologie auf Wissen-
EINFÜHRUNG 13

schaftlichkeit, auf Wesenserkenntnis? Offenbar muß Wesens-


erkenntnis den Wahrnehmungscharakter von Intentionalität,
dem die phänomenologische Reflexion - selbst eine Intentional-
habe - aufs Vollkommenste entsprechen will, in besonders hohem
Maße erfüllen. Wahrnehmung wurde hier im weitesten Sinne eines
Vorstelligmacheus aufgefaßt; wie versteht Husserl das reflexive
Vorstelligmachen des welterfahrenden Lebens durch sich selbst?
Eine frühe und charakteristische Äußerung Husserls zu dieser
Frage ist hier aufschlußreich: "jedes Erlebnis überhaupt, wenn
es vollzogen wird, kann zum Gegenstand eines reinen Schauens
und Fassens gemacht werden ... "1 Charakteristisch scheint mir
der Ausdruck: "Schauen und Fassen". Darin liegt, daß das Vor-
stelligmachen merkwürdig ambivalent ist: es ist irreins schauen-
des, gewahrendes Hinnehmen und zugreifendes Erfassen. Beide
Momente der phänomenologischen Reflexion liegen schon in der
Maxime "Zu den Sachen selbst!" impliziert. Darin ist einerseits
eine Haltung gleichsam demütiger und hingebungsvoller Hin-
nahme des sich der Erfahrung Darbietenden spürbar. Insofern
aber das fungierende Ich die Instanz ist, vor der sich die Ur-
sprünglichkeit der Erfahrung von den "Sachen selbst" entschei-
det, bleibt die busserlsehe Phänomenologie der neuzeitlichen Er~
kenntnishaltung des "Angriffs", der vergegenständlichenden Er-
fassung verhaftet. Indem die Phänomenologie als Wissenschaft -
wenn auch eines neuen Sinnes -in Gang gebracht wird, setzt sich
darin die zufassend-erfassende Erkenntnishaltung durch. Das
Wesen der reflexiven Wahrnehmung bestimmt sich nunmehr als
ein "Haben", ein Gegenüberhalten und erkennendes Festhalten
von Gegenständen. Vollkommene Wahrnehmung, die Reflexion
auf das welterfahrende Leben, muß nämlich darauf aus sein, ihr
Wahrgenommenes in den bleibenden Besitz gesicherter Erkennt-
nis zu bringen. Sie kann sich daher nicht mit der reflexiven Er-
fahrung irgendwelcher faktisch vorkommender, darum aber "zu-
fälliger", "vergänglicher" und vereinzelter Ausformungen des
intentionalen Lebens begnügen. Sie muß vielmehr das notwendige,
bleibende und allgemeine Wesen, im vorliegenden Falle: das
Wesen von "sinnlicher Gegenwärtigung überhaupt" "in den Griff
bekommen". Wenn ihr das gelingt, besitzt sie gesichertes Wissen
und darf sich daher eine "Wissenschaft" nennen.
1 Die Idee der Phänomenologie, S. 31
14 GEGENWÄRTIGUNG

Nun ist offenkundig: Gegenstände wie "sinnliche Wahr-


nehmung überhaupt", eidetische Gegebenheiten also, wie
Husserl sagt, begegnen nicht so aufdringlich und jederzeit wie
singuläre Vorkommnisse in der Welt. Diese drängen sich gleich-
sam auf, jene sind erst und nur in einer gewissen Spontaneität
des Denkens erfahrbar, - was im übrigen nicht heißt: "erzeugt"
oder "erschaffen". Diese Spontaneität kann aber ihren Ausgang
nur beim zunächst Vorfindlichen nehmen. Die phänomenologische
Reflexion kann daher die Einsicht in das, was bestimmte Gegen-
stände "überhaupt" sind, nur gewinnen, indem sie von einem
in der Welt erfahrenen Einzelgegenstand ausgeht; sie erprobt
dann durch Ähnlichkeitsabwandlungen des Gegenstandes in der
Phantasie, wie weit er sich verändert denken läßt, ohne zu einem
anderen zu werden. Auf diese Weise läßt sie sein Wesen als
invariant Verharrendes in allen möglichen und beliebigen Ähn-
lichkeitsabwandlungen hervortreten1.
Die so erfahrbar gewordene invariante Gegebenheit heißt bei
Husserl auch Eidos. Dieses ist ein Allgemeines, das in hier nicht
näher zu beschreibender Weise alle Einzelnen seines Wesens
"umfaßt". Doch das Einzelne kann seinerseits schon ein All-
gemeines niedrigerer Stufe, Korrelat eines weniger umfassenden
Überhaupt-Urteils sein. Dies gilt auch für die hierinfrage stehen-
de "sinnliche Wahrnehmung". Sie ist offenbar kein reales,
singuläres Erlebnis, wie diesbeispielsweiseeine Tonwahrnehmung
ist, die ich an einem bestimmten Tage, zu einer feststellbaren
Uhrzeit irgendwo in der Welt erlebe. Es handelt sich vielmehr
von vornherein um das Wesen der Intentionalhabe "sinnliche
Wahrnehmung überhaupt". Diese Wesensvorstellung ist selbst
schon, ohne daß dies sofort oder notwendig mitbewußt wäre,
Ergebnis einer freien Variation der Vorstellung von einzelnen
Wahrnehmungsakten.
Hier wird eine weitere Unterscheidung notwendig: eine einzelne
sinnliche Wahrnehmung kann auf zweifache Weise reflexiv vor-
gestellt sein: einmal etwa in der Art der angeführten raumzeit-
lich realen Tonwahrnehmung, auf die ich irgendwann an einem
bestimmten Abend vielleicht im Konzertsaal reflektiere. Ich kann
1 Dazu und zum Folgenden vgl. Ideen I, S. rz ff. und Erfahrung und Urteil,
S. 385 ff .. Weiterführendes zum schwierigen Problem der eidetischen Variation
findet sich inzwischen bei U. Claesges, Edmund Busserls Theorie der Raumkonstitution,
(Phaenomenologica Band rg), S. r6 ff. u. S. 136 ff.
EINFÜHRUNG 15

mir aber auch ein derartiges Erlebnis in freier Phantasie ver-


gegenwärtigen. Eine solche fingierte Gegebenheit muß keines-
wegs schon eine Wahrnehmung-überhaupt sein; sie ist vielmehr
zunächst wie ein reales singuläres Erlebnis bewußt als an einer
bestimmten Raum-Zeit-Stelle sich abspielend, - nur mit dem
Unterschied, daß diese Raumzeitstelle nicht real gesetzt ist; das
Erlebnis ist so bewußt, als ob es diese Stelle gäbel.
Es zeigt sich nun, daß der Ausgangspunkt der phänomenologi-
schen Reflexion auf die sinnliche Wahrnehmung stets irgendein
solches fingiertes, im Modus des "als ob" gegebenes Erlebnis ist.
Die Reflexion läßt also den Realitätscharakter des Ausgangs-
beispiels sofort fallen :2 - der nächste Schritt ist dann die frei
variierende Umwandlung der reflexiven Erfahrung vom einzelnen
Phantasieerlebnis in eine Wesenserfahrung.
· Dabei zeigt sich, daß es auf dem Wege dieserUmwandlungnoch
Stufen der Allgemeinheit gibt. Die erwähnte, an einer Phantasie-
Raumzeitstelle als quasi real fingierte Tonwahrnehmung kann
zunächst in die Gegebenheit "Tonwahrnehmung überhaupt" um-
gewandelt werden. Es schien Husserl zu Recht geraten, auf dieser
Allgemeinheitsstufe mit der Analyse der Zeitstrukturen sinn-
licher Gegenwärtigung einzusetzen; denn, wie schon bemerkt,
ist Intentionalität nichts ohne ihr intentionales Korrelat, Wahr-
nehmung somit nichts ohne ihr Wahrgenommenes. Soll nun die
Zeitstruktur von Wahrnehmung geklärt werden, so erscheint es
angebracht, beim Ausgangsbeispiel an die Gegenwärtigung eines
"Zeitobjekts in speziellem Sinne"S zu denken: Damit ist eine
solche sinnliche Gegebenheit gemeint, die nicht bloß Einheit in
der Zeit ist (wie räumlich Vorhandenes), sondern sogar die Zeit-
extension in sich enthält4. Ein solches Zeitobjekt ist ein Ton.
Die vorliegende Untersuchung hat demnach passend bei "fin-
gierter Tonwahrnehmung überhaupt" einzusetzen5; dabei for-
muliert sie freilich ihre Urteile über die an diesem Beispiel ge-
fundenen Strukturen durch stillschweigende eidetische Variation

1 Vgl. Ideen I, S. 266 ff.; Erfahrung und Urteil, S. 200 ff.


s Vgl. Ideen I, S. 162; Erfahrung und Urteil, S. 422 ff.
a Zeitbewußtsein, S. 384
4 Vgl. ebendort
5 Im Anschluß an Husserls Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeit-
bewußtseins, die also keineswegs zufällig mit diesem Beispiel beginnen, das auch
später immer wieder von Husserl bevorzugt wird.
16 GEGENWÄRTIGUNG

sogleich in solcher Allgemeinheit, daß sie umfassendere Aussagen


über sinnliche Gegenwärtigung-überhaupt darstellen.
In dieser Weise wird sinnliche Gegenwärtigung als statische
Urform intentionalen Lebens zum Thema. Später gewinnt die
Abhandlung durch eidetischen Vergleich dieser Art von In-
tentionalität mit möglichen anderen abermals einen höheren
Grad von Allgemeinheit und deckt dann Gegenwärtigung-über-
haupt als genetische Ursprungsdimension alles welterfahrenden
Lebens auf.
Phänomenologische Aussagen bewegen sich, wie sich damit
zeigt, prinzipiell in einem Bereich von Allgemeinheit; sie sind
eidetische Aussagen, d.h. ein System von Urteilen über das
Wesen oder Eidos von Gegenständen. Diese Aussagen werden
gewonnen durch universale Phantasiesetzung und Variation,
mithin durch ein Absehen von allen realen singulären Fakten.
Husserl nennt dieses Vorgehen der Phänomenologie eidetische
Reduktion. Die hierher gehörigen Schritte der Reflexion wur-
den etwas ausführlicher erörtert, weil die eidetische Variation
am Ende dieses Teils noch einmal als Beispiel für die Konsti-
tution der Allzeitlichkeiten dienen und der Begriff "Faktum" im
III. Teil eine neue Bedeutung erhalten wird.
B. DIE ZUNÄCHST AUFWEISBAREN STRUKTUREN
DER WAHRNEHMUNGSGEGENWART

I. Die transzendentalphänomenologische Reduktion auf strömende


Wahrnehmungsgegenwart
Nachdem die phänomenologische Erfahrungsart skizziert und
der erste Erfahrungsgegenstand der Untersuchung, die zeitliche
Gegenwärtigungsstruktur von fingierter Ton-Wahrnehmung-
überhaupt, benannt ist, muß noch einmal an den Reflexions-
charakter der phänomenologischen Erfahrung erinnert werden:
Getreu ihrer radikalen Maxime "Zu den Sachen selbst!" will sie
nicht "naive"- und sei es wissenschaftliche (im üblichen Sinne)-
Urteile über weltliche Vorkommnisse fällen, sondern sich aus-
schließlich an das intentionale Für-mich-Sein aller solcher Vor-
kommnisse halten. Durch die Haltung universaler Reflexion
möchte sie gleichsam die "Innenansicht" von allem Seienden
herstellen. Soll dies gelingen, so muß sie davon absehen, irgend-
welche geradehin gefällten und noch so selbstverständlichen Ur-
teile über Seiendes in der Welt mitzuvollziehen; von allen in
diesem Sinne ungeklärten Vor-Urteilen darf sie keinen Gebrauch
machen. Alle "Meinungen" irgendwelcher Art über weltlich
Transzendentes müssen gleichsam in Schwebe gehalten oder, wie
Husserl gern sagt, in Klammern gesetzt werden. Diese radikale
Einklammerung, Neutralisierung aller Vor-Meinungen heißt
Epoche (Zurückhaltung, Aufschiebung, nämlich des Mitvoll-
zugs aller direkten Weltbezüge), der damit verbundene Rück-
gang auf das transzendental-ichliehe welterfahrende Leben:
transzendental-phänomenologische Reduktion (Zu-
rückführung, Hinlenkung der reflexiven Aufmerksamkeit auf das
transzendentale Fungieren des Ich).
Eine geläufige Vormeinung über Weltliches, die der Epoche
unterworfen werden muß, drohtsichsogleich in die Rede von der
Zeitstruktur der Tonwahrnehmung einzuschleichen. Einen Ton
18 GEGENWÄRTIGUNG

zeitlich gegenwärtig-haben, heißt: ihn "jetzt" hören. Dieses Jetzt


wird normalerweise als eine Zeitstelle im Fluß der objektiven Zeit,
als ein Grenzpunkt auf der Zeitlinie zwischen Vergangenheit und
Zukunft verstanden. Von einer Gegenwart als unendlich schmaler
Phase in der Jetztabfolge der objektiven Zeit, in der dann der
Ton und das Tonbewußtsein vorkommen, oder von einer Zeit-
stellenfolge, über die hinweg sie dauerten, weiß aber die Phäno-
menologieaufgrund der Epoche zunächst nichtsl. Um das Wahr-
nehmungsbewußtsein von zeitlichem Tonverlauf unvoreinge-
nommen und in reiner reflexiver "Innenansicht" dieser Inten-
tionalität beschreiben zu können, enthält sich der Phänomeno-
loge des geläufigen Glaubens an die Zeit als unendliche Jetztfolge
und als Form der Sinnenwelt. Ihm geht es wohlgemerkt nicht
darum, diesen Glauben zu leugnen, als falsch zu erweisen oder
dergl., - das hieße immer noch: ihn in der Negation oder Mei-
nungsmodifikation mitvollziehen -; er läßt ihn vielmehr dahin-
gestellt, um sinnliche Gegenwärtigung unverstellt als diejenige
Erfahrung in den Blick zu bekommen, in der in ursprünglicher
Weise ein erster Eindruck von zeitlicher Gegenwart und in wei-
terer Folge von zeitlichem Verlauf und zeitlicher Dauer entsteht. 2
-Die phänomenologische Aufmerksamkeit beschränkt sich zu-
nächst auf eine Beschreibung der Situation, in der das Ich sich
ursprünglich einen Ton begegnen läßt. Es interessiert nicht die
dingliche Einheit "der Ton", die irgendwann in einer wirklich
oder phantasiemäßig als quasi-wirklich erfahrenen Welt auftritt,
sondern allein die zeitliche Struktur des gegenwärtigenden oder,
wie Husserl auch sagt: originären Wahrnehmungsbewußtseins-
vom-Ton. Dieses wird vor der Einklammerung der natürlichen
"Vorurteile" zumeist als abstrakt punktförmige Jetztphase oder
-phasenfolge der Kopräsenz von Hören und gehörtem Ton vor-
gestellt. Diese Momentanwahrnehmung von infinitesimaler Kürze
-eine "Konstruktion", welche zur geläufigen Vorstellung von der
Zeit als einer Jetztfolge gehört -, gibt es phänomenologisch ge-
sehen nicht. Das originäre Gegenwärtighaben enthält vielmehr
von vornherein und unaufhebbar ein gerade-noch-Gegenwärtig-
haben des gleichsam verströmenden Tones und ein Schon-Ge-
wärtigen des gewissermaßen heranströmenden Tones.
1 Vgl. Zeitbewußtsein, S. 369
2 Vgl. L. Landgrebe, Der Weg der Phänomenologie, 1963, S. 23 f.
STRUKTUREN DER WAHRNEHMUNGSGEGENWART 19

Unter Wahrnehmen als Gegenwärtighaben kann demnach


erstens in einer künstlichen Abstraktion von der konkreten ori-
ginären Strukturganzheit der Gegenwärtigung die unendlich
schmale Phase der Momentanwahrnehmung verstanden werden.
Es kann aber auch gemeint sein: die Gegenwärtigung des Tones
in seinem Kommen und Gehen, die unaufhaltsam strömende
Wahrnehmung des Tones als eines strömend Auftretenden und
mit seinem Auftreten auch schon Vergehenden. - Obwohl es die
unendlich kurze Momentanwahrnehmung phänomenologisch ge-
sehen nicht gibt, kann nicht auf einen Grenzbegriff verzichtet
werden, der innerhalb des Gegenwärtigungsganzen im zweiten
Sinne die selbst fließende Grenze größter Bewußtseinsnähe des
Tones kennzeichnet; denn wenn von einem schon-wieder-Ent-
gleiten und einem gerade-Kommen des Tones gesprochen werden
kann, dann setzt dies voraus, daß ein fließendes - wenn auch
niemals abstrakt fixierbares - "Zwischen" gleichsam hellster und
völlig unverdeckter Präsenz des Tones gegenüber dem Ich mit
zur Gesamtstruktur der Wahrnehmung gehört. Dieses fließende
Zwischen nennt Husserl in den Zeitvorlesungen von I905 Ur-
impression, in den Zeitmanuskripten der dreißiger Jahre auch:
zentraler Erlebniskernl, Quellpunkt2, Quelljetzt3, Urpräsenz,
Kern eigentlicher Gegenwart4 und ähnlich. - Das Noch-Gegen-
wärtighaben heißt seit den Vorlesungen über das Zeitbewußtsein
Retention, das Gewärtigen des gerade-Kommenden Proten-
tion. Für die alle Strukturen umfassende konkrete Einheit, d.h.
also die strömende Gegenwärtigung des originär Wahrgenomme-
nen in seinem Strömen setzte sich in den späteren Manuskripten
der Titel "lebendige Gegenwart" durch, -ein Titel, der
allerdings, wie sich zeigen wird, noch mehr als das Strukturganze
sinnlicher Gegenwärtigung bezeichnet. Hier steht "lebendige
Gegenwart" zunächst als "strömende Wahrnehmungsgegen-
wart"5 infrage.
Manche Wendungen Husserls in den späten Forschungsmanu-
skripten erwecken den Anschein, als ob in einer radikaleren trans-

1 Vgl. Ms. C 5, S. 9 (1930)


a V gl. ebendort
3 Vgl. Ms. C 3 III, S. 25 (1931)
4 Vgl. Ms. C 3 I, S. 9 (1930)
5 Vgl. Ms. C 6, S. 4 (1930)
STRUKTUREN DER WAHRNEHMUNGSGEGENWART 21

2. Die abstraktive "Einklammerung" von Retention und Pro-


tention kann niemals eine Radikalisierung der Reduktion sein.
Die Reduktion ist keine Abstraktion im hier gemeinten Sinne
einer Weglassung oder Außerachtlassung. -Was in der phäno-
menologischen Epoche eingeklammert wird, ist darum für die
phänomenologische Reflexion keineswegs Nichts. Am Beispiel:
Von der Vorstellung einer in der objektiven Zeit dauernden Ding-
einheit "Ton" keinen Gebrauch machen, heißt nicht: diese Vor-
stellung für nichtig halten, sondern nur: nicht von dieser gerade-
hin vollzogenen Ansetzung eines weltlich Seienden ausgehen, die
schon glaubt verstanden zu haben, was dieses Seiende ist, viel-
mehr die Aufmerksamkeit zunächst auf die Bewußtseins-
situation lenken, in der ursprünglich der Eindruck von eben
einem solchen in der Welt dauernden Ton entsteht. Das Ein-
geklammerte, die dauernde Dingeinheit "Ton" wird also keines-
wegs außer Acht gelassen, sie wird nur aus ihrer intentionalen
Innenansicht gesehen. Die mit der Reduktion vollzogene Än-
derung der Bewußtseinstellung läßt nichts Weltliches ver-
schwinden, sondern sie läßt es gerade in einem neuen Licht "er-
scheinen"!. Eine Radikalisierung der Reduktion kann darum
niemals in einer abstraktiven Weglassung bestehen2.- Welchen
echten Sinn die Radikalisierung der Reduktion hat, wird der II.
Teil dieser Arbeit zeigen.
3· Schließlich ist zu sagen, daß die Entdeckung einer "eigent-
lichst gegenwärtigen Phase" 3 durchaus nicht, wie Diemer zu
meinen scheint, etwas Neues der husserlschen Spätzeit darstellt.
Schon in den Ideen I heißt es etwa: " ... genau betrachtet haben
sie (die Dingwahrnehmungen) in ihrer Konkretion nur eine,
aber auch immerfort eine kontinuierlich fließende absolut ori-
ginäre Phase, das Moment des lebendigen Jetzt' '4. Auch hier

1 Vgl. Heideggers Sätze in der 2. Bearbeitung des Enzyklopaedia-Britannica-


Artikels, Phänomenologische Psychologie S. 260 f.: Die "Rückführung (Reduktion)
der Erfassungstendenz aus der Wahrnehmung heraus und die Umstellung des Er-
fassens auf das Wahrnehmen ändert an der Wahrnehmung so wenig etwas, daß die
Reduktion gerade die Wahrnehmung als das, was sie ist, zugänglich macht, nämlich
als Wahrnehmung von dem Ding".
2 Eine berechtigte Abstraktion kann allerdings darin bestehen, die im Rahmen
einer Unterauchung allein interessierenden Strukturen hervorzuheben und die
übrigen suf sich beruhen zu lassen. Solche thematische Beschränkung, wie hier auf
zeitliche Gegenwärtigung, ist aber keine Radikalisierung der Reduktion.
3 Ms. C 3 VI, S. 4 (1931)
4 Ideen I, S. 183
22 GEGENWÄRTIGUNG

ist zu beachten, daß von dieser Phase als einem Moment in der
"Konkretion" gesprochen wird; das "absolut originäre", d.h.
urimpressionale Jetzt ist immer bewußt als fließendes "Zwischen",
als nicht fixierbarer Vermittlungspunkt zwischen Protention und
Retention. Ganz deutlich spricht dies eine Stelle kurz vor der
gerade zitierten aus: "jedes Erlebnis" hat einen "unwandelbaren
Wesenstypus; ein beständiger Fluß von Retentionen und Pro-
tentionen vermittelt durch eine selbst fließende Phase der Ori-
ginarität, in der das lebendige Jetzt des Erlebnisses gegenüber
seinem ,Vorhin' und ,Nachher' bewußt wird"l. Ebenso deutlich
heißt es in der "Ersten Philosophie": "Zur lebendig strö-
menden Gegenwart selbst gehört immerfort ein Ge-
biet unmittelbar bewußter Vergangenheit, bewußt im
unmittelbaren Nachklang der soeben versunkenen Wahrneh-
mung; ebenso ein Gebiet der unmittelbaren Zukunft, der
als soeben kommend bewußten, der das strömende Wahrnehmen
sozusagen zueilt"2.

2. Der urimpressionale Wandel


Nachdem die Gefahr einer Verselbständigung der nur abstrak-
tiv fixierbaren urimpressionalen Phase ausgeschaltet ist, darf
nicht übersehen werden, daß sie gleichwohl im konkreten Gegen-
wärtigungsganzen einen Vorrang hat.
"Urimpression" bezeichnet die Phase eigentlichen Gegen-
wärtighabens, d.h. die Situation, in der das Ich am unmittelbar-
sten auf das ihm "geradehin Zugängliche"3, das in einem aus-
gezeichneten und "ersten Sinne Gegen-wärtige"4 gerichtet ist:
die "Urpräsentation"5. Gewiß, diese Phase ist konkret nicht
denkbar, d.h. phänomenologisch erfahrbar ohne das kontinuier-
lich mitbewußte "Soeben-gewesen" und "Soeben-kommend", -
und doch muß gerade innerhalb der strömenden Gegenwärtigung
des Tones als eines heranströmend-verströmenden ein fließendes
Zwischen eigentlicher Präsenz, d.h. hellster, unverdeckter und
aktuellster Wahrnehmungsnähe des Erfahrenen hervorgehoben
werden.
1 Ideen I, S. 182
a Erste Philosophie, Zweiter Teil, S. 149 ff.
s Ms. C 3 V, S. 2 (1931)
4 ebendort
5 Ms. B 111 9, S. 9 (1931)
STRUKTUREN DER WAHRNEHMUNGSGEGENWART 23

Warum ist die Zeitstruktur der lebendigen Wahrnehmungs-


gegenwart im ersten Überblick so und nicht anders erfahrbar?
Der Grund liegt offenbar in der Fraevalenz der Wahrnehmung,
wie sie im ersten Ansatz der phänomenologischen Reflexion mit-
gesetzt ist. So wie von daher sinnliche Wahrnehmung als "Ori-
ginalform" von Intentionalität eine Vorrangstellung im ganzen
welterfahrenden Leben einnimmt, so stellt nun die urimpressio-
nale Phase der Urpräsentation ein ausgezeichnetes Moment
innerhalb der sinnlichen Wahrnehmung selber dar.
Ebenso wie jedoch mit dem ersten Einsetzen der Reflexion das
Strömen des welterfahrenden Lebens entdeckt wurde, so enthüllt
sich nun, ebenfalls auf Grund des Reflexionscharakters der Phä-
nomenologie, die urpräsentative Phase als ein bloß abstraktiv
fixierbares strömendes Zwischen. Das ist jetzt zu zeigen: Die
sinnliche Gegenwärtigung ist selbst eidetischer Gegenstand einer
reflexiven Gegenwärtigung. Diese versucht in der Absicht auf
absolute Selbstgebung des Gegenstandes ihn nicht bloß erfahrend,
schauend zu gewahren, sondern im Wissen zu fassen und fest-
zuhalten. Der Reflexionsgegenstand - hier die ·sinnliche Gegen-
wärtigung - soll in ungetrübter Helligkeit und nächster Nähe
vom reflektierenden Ich ins Auge "gefaßt", vor Augen "gestellt"
und fixiert werden. Doch bei diesem Versuch macht das Ich eine
entscheidende Erfahrung: der Einzelgegenstand, von dem alle
eidetische Variation zunächst ausgehen muß, hier: sinnliche
Gegenwärtigung als ein wirkliches, singuläres Vorkommnis im
eigenen welterfahrenden Leben, läßt sich nicht ganz "stellen".
Jede Ausformung des eigenen intentionalen Lebens, auf die das
Ich sich zurückwendet, entgleitet schon im Nu des reflektierenden
Zugriffs unaufhaltsam aus der relativen Bewußtseinsnähe, in der
es sich gerade noch befand, in eine nächstfernere Vergangenheit.
Das reflexiv in den Blick gebrachte Erlebnis "ist seinem Wesen
nach ein Fluß, dem wir, den reflektiven Blick darauf richtend, von
demJetztpunkte aus gleichsam nachschwimmen können, während
die zurückliegenden Strecken für die Wahrnehmung verloren
sind"l. Die denkende Wahrnehmung der phänomenologischen
Reflexion stößt damit gleich zu Beginn der Zeitanalyse auf ein
Erfahrungsmoment, das sich ihrem Fassen-Wollen entzieht und
(in später zu erörternder Weise) als eine "Urtatsache" hinge-
1 Ideen I, S. 103
24 GEGENWÄRTIGUNG

nommen werden muß. Weil die Phänomenologie gegenwärtigen-


des Fixierenwollen, zugleich aber Re-flexion, nachgewahrende
Rückwendung auf das eigene welterfahrende Fungieren ist,
darum muß sie an ihrem eigenen Vorgehen mit einer inneren
Notwendigkeit zunächst das Entgleiten der Momentangegeri-
wärtigung und des darin urpräsentativ Gegebenen entdecken. -
Auch hier ist also durch das Wesen der phänomenologischen Re-
flexion die Art und Weise und die Reihenfolge vorgezeichnet, in
der das phänomenologisch Gesehene vor den Blick gelangt:
Der Reflexion fällt am eigentlichst Präsenten zunächst sein
unaufhaltsames Verschwinden und Verströmen auf. Die ur-
impressionale Phase enthüllt sich sogleich als unfixierbar ver-
fließend. Darin aber liegt ein zweites: Weil das Urpräsente
niemals als bleibende Gegebenheit bewußt ist, darum wird sein
ursprüngliches Entgleiten, sein Auftritt als unmittelbarer Weg-
gang notwendig miterlebt. Dieses Mitbewußthaben des gerade-
noch-Urpräsenten in seinem Entströmen ist nichts anderes als
die schon erwähnte Retention. Sie gehört somit unablösbar
zur Struktureinheit einer Gegenwärtigung. Nachdem das un-
aufhaltsame Verschwinden der urimpressionalen Phase entdeckt
ist, setzt sich daher die Untersuchung mit der Analyse der
Retention fort.

3. Die Retention
Im gewählten Ausgangsbeispiel ist Retention das Noch-Be-
wußthaben des soeben gehörten Tones in seinem ursprünglichen
Verklingen. Gleichsam vom Ton her gesprochen: er sinkt zu-
rück in den "Hintergrund" des Bewußten, bleibt dabei aber
"durchscheinend" durch das kontinuierlich ihn "überlagernde"
urimpressional Neuauftretende. Was hier im Tonbewußtsein be-
halten bleibt, ist weder eine Art akustischer Nachhall des ver-
klungenen Tones, - dann wäre die Retention in Wirklichkeit eine
neue Urimpression- noch ein Symbol, ein Zeichen, das auf ihn
assoziativ verwiese: Die Retention ist weder ein gewissermaßen
geschwächtes, nachklingendes urimpressionales Gegenwärtigen,
noch eine bildliehe Ver-gegenwärtigung des Tones, die auf ihn
ausdrücklich zurückblickte und ihn so zum wiedererinnerten
Objekt machtel. Sie ist vielmehr ein direkter Bezug sui generis,
.~ Dazu und zum ganzen Abschnitt vgl. Zeitbewußtsein, § xo-§ 12, besonders S. 392
STRUKTUREN DER WAHRNEHMUNGSGEGENWART 25

durch den dasVergangenein seinem ersten Entgleiten und als


nicht mehr in urpräsentativer Nähe Gegebenes "bewußt" ist.
Es handelt sich um eine spezifische Art von Intentionalität,
die weder auf urimpressionales, noch auf vergegenwärtigendes
Bewußtsein zurückführbar ist. Vergegenwärtigung bedeutet, wie
sich noch zeigen wird, ausdrückliche erneute Zuwendung; sie
muß daher von der Retention, die ein unthematisches Mit-
Bewußthaben ist, scharf unterschieden werden.
Das bisher Ausgeführte bedarf einer wesentlichen Ergänzung.
Die Darstellung bewegte sich in einermethodisch gerechtfertigten,
doch nunmehr aufzuhebenden Abstraktion: Es ist nicht so, als
ob es jemals eine isolierte Urimpression mit einer einzigen Re-
tention im welterfahrenden Leben gäbe. Das Verfließen der ur-
impressionalen Phase bedeutet ja, daß jede solche Phase kon-
tinuierlich zugleich mit ihrem Retentionalwerden auch schon
durch eine neue Urpräsentation abgelöst wird. Doch die nach-
quellende Urimpression verwandelt sich ihrerseits in Retention,
und so fort. Damit aber unterliegt die erstgenannte Retention
ebenfalls einer neuen retentionalen Modifikation: sie ist jetzt
mittelbar, nämlich durch die nachquellende Retention der neuen
Urimpression hindurch bewußt. Eine Mittelbarkeit dritten
Grades erwächst aus der Modifikation der. nächstentquellenden
Urimpression in Retention, usw. Auf diese Weise ist jede aktuell
unmittelbarste Retention nicht nur Mit-Gegenwärtigung vom
soeben vergehend-Vergangenen, sondern auch Retention vom
darin implizierten soeben-soeben-Vergangenen usw. Jedes re-
tentional Behaltene wird durch die neueste urimpressional-
retentionale "Bewußtseinseinheit" kontinuierlich weiter in den
"Bewußtseinshintergrund" gedrängt und bleibt doch im Gegen-
wärtigungsganzen durchscheinend noch-gegenwärtig. Das Ton-
bewußtsein enthält, wie Husserl sagt, einen "Kometenschweif"
ineinander implizierter Retentionen.
Die einheitliche Bewegung der Gegenwärtigung kann nun-
mehr nach zwei Hinsichten charakterisiert werden:
r. Sie ist Bewegung des ständigen N euauftretens urimpres-
sionaler Aktualität; abstraktiv gesprochen: stetige Verlängerung
der Momentanjetzt-Folge.
2. Sie ist Bewegung ständiger Zurückschiebung und ineins
damit Erhaltung der ineinander verschachtelten Folge von
26 GEGENWÄRTIGUNG

Retentionen; Bewegung der kontinuierlichen Zunahme retentio-


naler Implikation!.

4· Präsenzfeld und passive Vbergangssynthesis


Mit dieser Darstellung der absoluten Kontinuität des gegen-
wärtigenden Strömens entsteht allerdings der Anschein, als müsse
in jedem gegenwärtigen Wahrnehmungsbewußtsein alles längst
Vergangene auf dem Wege unendlicher retentionaler Implikation
mitbewußt bleiben. Ein Blick jedoch auf das früher herangezo-
gene Beispiel vom Zuhörer im Konzertsaal zeigt sofort, daß nor-
malerweise vielleicht eine gerade verklungene Tonfolge, eine Me-
lodie retentional mitbewußt ist, keineswegs jedoch jeder Ton seit
Beginn des Konzerts. Offenbar hat jedes Noch-Gegenwärtig-
haben eine Grenze, jenseits deren Vergangenes liegt, das erst aus-
drücklich und evtl. mühsam in die Erinnerung zurückgerufen
werden muß. Ja, auch innerhalb des ,Nochgegenwärtighabens
zeigen sich Abstufungen: sehr mittelbar Retiniertes ist weniger
hell und deutlich mitbewußt als beispielsweise der gerade ver-
klingende Ton. Das fließende urimpressional-retentionale Gegen-
wärtigungsganze umfaßt also einen Bereich der Bewußtseinsnähe
und -helle, die mit zunehmender retentionaler Modifikation ab-
nimmt und schließlich eine fließende Grenze hat: Dieser Bereich
soll hier Präsenzfeld heißen. Das Präsenzfeld hat eine gewisse,
wenn auch fließende und variierende Breite. Welchen Bereich um-
faßt sie? Husserl sagt: "Aktuelle Gegenwart reicht aber nur
soweit, als wir wirklich wahrnehmungsmäßiges <= urimpressio-
nales> Verharren haben, das als solches auszuweisen ist"2. "Ein
Zeitobjekt ist wahrgenommen (bzw. impressional bewußt),
solange es noch in stetig auftretenden Urimpressionen sich er-
zeugt"3. Die Einheit einer strömenden Gegenwärtigung bestimmt
sich demnach durch ihren intentionalen Bezug auf eine einzige
Gegenständlichkeit, die durch das kontinuierliche Fließen der
urpräsentativen Phasen hindurch als einheitlich zusammen-
gehörige bewußt ist. Dieses Einheitsbewußtsein schließt eine
Wahrnehmung zur Einheit einer Gegenwärtigung zusammen.

1 Vgl. Zeitbewußtsein, das bekannte Zeitdiagramm S. 389 und alle dazu gehörigen
Erläuterungen
s Ms. C 14, S. 9 (1933)
a Zeitbewußtsein, S. 398
STRUKTUREN DER WAHRNEHMUNGSGEGENWART 27

Welche zeitliche Breite ein Präsenzfeld hatl, liegt jeweils an der


Geeintheit des Präsenten, beispielsweise zur Einheit eines Tones,
einer Melodie, einer Sonate, - je nach der Intensität, der Auf-
merksamkeit des Zuhörens. Hier zeigt sich: "Wieviel" Begegnen-
des zur Einheit einer Präsenz zusammengeschlossen ist, hängt
von der Art der ichliehen Zuwendung ab. Sie kann, wie schon
das gerade genannte Beispiel lehrt, sehr verschiedene Formen
vom passivsten Affiziertsein durch Sinnesfelder bis zur spontanen,
aktiven Aufmerksamkeit annehmen. Die Analyse dieser Mo-
dalitäten2 gehört nicht mehr zur Zeitproblematik. Hier sei nur
terminologisch festgehalten, daß die Art und Weise affektiven
Beteiligtseins oder aktiver Zuwendung, durch die sich die zeitliche
Breite eines Präsenzfeldes bestimmt, im Folgenden allgemein
"Interesse" genannt wird. Das hat seine Berechtigung, weil es
gemäß dem phänomenologischen Grundverständnis vom welt-
erfahrenden Leben kein Gegebensein irg!illdwelcher Gegenständ-
lichkeit ohne "Dabeisein" des Ich gibt. Selbstverständlich sind
aktive Sachzugewandtheit und erster affektiver Reiz durch Sin-
nesfelders scharf zu unterscheiden. Jedoch auch diese unterste
affektive Passivität ist kein mechanischer Vorgang, sondern
auf ihre Weise ichlieh "vollzogen"4. Die Ichlichkeit auch des
passivsten Interesses zeigt sich darin, daß das jeweils Begegnende
immer schon zu einer gegenwärtigen Einheit zusammengeschlos-
sen, aktiv oder assoziativ geeint, das heißt aber: zusammen-
gehörig durch Synthesis ist.
Von jeglicher Synthesis, auch der passivsten, muß jetzt ein
Urgeschehnis abgehoben werden, das demgegenüber von einer
prinzipiell andersartigen "Passivität" ist: das Strömen der ur-
impressionalen Phase und die damit untrennbar geeinte Zu-
nahme der retentionalen Implikation. Während nämlich die zeit-
liche Breite des Präsenzfeldes je nach der Art des ichliehen In-
teresses variieren kann, ist die Bewegung des Entströmens
jeglichem ichliehen Einfluß entzogen: sie ist um eine Dimension
"passiver" als das passivste Affiziertsein durch Sinnenreize, das

1 Die Frage nach der räumlichen Breite scheidet hier ganz aus.
2 Ein wichtiges Thema der C-Manuskripte, in denen aber im übrigen die Zeit-
problematik im Vordergrund steht.
a Vgl. Erfahrung und Urteil, S. 73 ff.
4 Vgl. Ideen II, S. 213
28 GEGENWÄRTIGUNG

- obwohl zumeist "unwillkürlich" ablaufend - doch durch ich-


liehe Tendenzen beeinflußt werden kann.
Selbstverständlich ist auch die damit aufgewiesene Urpassi-
vität des Strömens im Sinne der husserlschen Phänomeno-
logie noch ichlieh "vollzogen". Dies steht mit dem phänomeno-
logischen Grundansatz fest, obwohl hier noch nicht gesagt werden
kann, welcher Art dieser ichliehe "Vollzug" sein mag. Die ich-
liehe Beteiligung am Verströmen und an der davon nicht zu unter-
scheidenden Zunahme retentionaler Implikation sei vorläufig
durch die Bezeichnung "en tglei tenlassen" sprachlich fest-
gehalten. Dann kann gesagt werden: Jegliehe Art gegenwärtigen-
der Synthesis - auch die passivste Assoziation - beruht auf einem
ichliehen "Noch-im-Griff-Behalten" des im Präsenzfeld Ent-
gleitenden. Prinzipiell "früher" als dieses Festhalten ist aber das
Entströmenlassenl; denn Behalten gibt es nur von Entgleiten-
dem. Diese Unterscheidung darf nicht so verstanden werden, als
sei die Retention Resultat des Zusammenwirkens von zwei ver-
schiedenen Kräften; sie ist vielmehr die unauflösliche Einheit des
entgleitenlassenden-Behaltens, - was nicht ausschließt, daß
aufgrund der Variabilität des synthetisierenden Behaltens, des
Interesses also, die Breite des Präsenzfeldes wechselt.- In allem
Wechsel des Interesses bleibt ein unveränderliches U rgeschehnis:
das entgleitenlassende Behalten, eine urpassiv und völlig konti-
nuierlich vollzogene Synthese, von der Husserl daher schon in
den Ideen I sagen konnte, daß sie "nicht als eine aktive und
diskrete Synthese zu denken"2 sei.
Es läßt sich nun schon angeben, in welchem Sinne die "strö-
mende Wahrnehmungsgegenwart" "lebendige Gegenwart"
heißt.- Lebendigkeit und Ichlichkeit sind, wie in der Einleitung
dieses Teils gesagt wurde, dasselbe. Als das Ichliehe des Wahr-
nehmungsvollzuges erwies sich gerade das behaltende Entgleiten-
lassen. "Leben" muß hier demnach verbal und transitiv verstanden
werden und besagt soviel wie: verströmenlassendes Zusammen-
nehmen. -Wenn sich diese Grundstruktur im Weiteren als Urform
desFungierens erweist, dann läßt sich von daher auch besser ver-
stehen, warum Husserl in seiner Spätzeit den Gegenstand der phä-
nomenologischen Forschung "welterfahrendes Leben" nannte.
1 Vgl. E1'jahrung und Urteil, S. I20
2 Ideen I, S. 292
C. GEGENWÄRTIGUNG ALS URKONSTITUTION
DER WAHRNEHMUNGSWELT

I. StändigeJetztform und Zeitstellenjetzt


Die Untersuchung ist wiederum von einer vorläufigen Abstrak-
tion zu befreien: Wie es keine für sich bestehende Urimpressional-
phase ohne Präsenzfeldumgebung gibt, so auch im welterfahren-
den Leben kein isoliertes Präsenzfeld, keine für sich bestehende
Gegenwärtigung. Was die phänomenologische Reflexion wirklich
zeigt, ist vielmehr ein stetiger und unaufhaltsamer Prozeß von
kontinuierlich ineinander überleitenden und sich überschieben-
den lebendigen Wahrnehmungsgegenwarten. Dieser Wahrneh-
mungsprozeß ist nun im Ausgang von der einzelnen Wahr-
nehmungsgegenwart zu beschreiben:
Wie sich zeigte, hält die Einheit eines fließenden Urimpres-
sionalhabens das urimpressional-retentionale Gegenwärtigungs-
ganze zusammen; im wandernden unfixierbaren Momentanjetzt
der U rpräsentation ist die fließende Gegenwärtigung zentriert. Das
kann auch so gesagt werden: das selbst strömende Gegenwärtig-
haben in der Breite eines Präsenzfeldes verdankt seiner mit-
wandernden Kernphase größter Helligkeit, der stetig sich er-
neuernden Urimpression, die einigende Form des "Jetzt". Inner-
halb des Gegenwärtigungsganzen "gibt" es neben der gerade
aktuellen urimpressionalen Kernphase gerade aktuell gewesene
oder soeben kommende Phasen, die als solche retiniert oder
proteniert sind. Das bedeutet: in der lebendigen Wahrnehmungs-
gegenwart kann in einem doppelten Sinn von J etzthaftem ge-
sprochen werden. Jetzthaft ist zunächst die stehende Form der
stetig sich erneuernden Urimpressionalität, die bleibende Zen-
triertheit der Gegenwärtigung in einer ihrem Inhalt nach fließen-
den Urpräsentation. Obwohl dieser Inhalt nur heranströmend-
verströmend auftritt, bleibt die stehende Form eines Aktualitäts-
mittelpunktes mit seiner sich an den Rändern verdunkelnden
30 GEGENWÄRTIGUNG

Umgebung erhalten.- Von diesem Jetzt als der einen unwandel-


baren und stehenden Form urpräsent-retentional-protentionaler
Anwesenheit lassen sich nun die gleichsam strömend mitwan-
dernden Jetzt (im Plural) unterscheiden: Das in unterschiedlicher
Mittelbarkeit Retinierte ist bewußt als jeweils soeben urpräsent-
jetzig gewesen, als vordem Gegebenes einer bestimmten, ein-
maligen Urimpression: im Durchgang durch die (selbst bleibende)
Form der Urpräsenz wurde ihm gewissermaßen eine Jetztstelle
zugewiesen, die von da an mit in die Vergangenheit rückt. Auf
diese Jetztstelle folgt eine neue, die ebenfalls mit in die Ver-
gangenheit abwandert usw.
"Jetzt" als die eine bleibende Form der Anwesenheit und
"Jetzt" als eine wandernde Zeitstelle unter anderen,- diese Un-
terscheidung! ist nun auch auf den gesamten Wahrnehmungs-
prozeß des welterfahrenden Lebens anwendbar: Jetzthaft ist
hierin zunächst die eine und einzige Ursprungsform wahr-
nehmender Erfahrung: die Urpräsentation, und die unlösbar
dazu gehörigen protentionalen und retentionalen Mitgegen-
wärtigungen; davon zu unterscheiden die endlose Reihe ver-
flossener oder kommender Gegenwarten, diejenigen .,Jetzte",
die allem sinnlich Erfahrbaren oder Erfahrenen seine Stelle im
Zeitstrom zuweisen. - Die Vorform dieser Abfolge von Zeit-
stellenjetzten bildet die Phasenmannigfaltigkeit innerhalb einer
lebendigen Gegenwart, - eine Mannigfaltigkeit, deren Phasen
aber nur abstraktiv unterschieden werden können.
Im Hinblick auf den gesamten Wahrnehmungsprozeß des
welterfahrenden Lebens wird es gleichgültig, ob das Zeitstellen-
jetzt als eine bestimmte urpräsentative Kernphase innerhalb
einer Gegenwärtigung oder schon selbst als eine Gegenwart von
einer gewissen Breite gedacht wird; war doch die Unterscheidung
von "Gegenwart" im ersten oder zweiten Sinne nur in einer Ab-
straktion aufrechtzuerhalten: - keine Kernphase ohne Präsenz-
feldumgebung, kein solches Feld ohne einen selbst mitwandern-
den Gegenwärtigungsquellpunkt. Jede Präsentation, die als
"reine" Urimpression bestimmt werden sollte, würde sich bei
näherem Hinsehen schon als Gegenwärtigung von einer gewissen

1 Bei Husserl selbst deutlich ausgesprochen Erfahrung und Urteil, S. 467 f.; vgl
Ms. C 3 III, S. 29 ff., wo die Unterscheidung ebenfalls getroffen und "Zweideutigkeit'
der Gegenwart genannt wird; vgl. auch B III g, S. 36 f. (1931)
URKONSTITUTION DER WAHRNEHMUNGSWELT 31

Breite erweisen.- Demnach kann nun in allgemeinerer Fassung


der Unterscheidung gesagt werden: Das Jetzt hat im gesamten
sinnlich welterfahrenden Leben diesen Doppelsinn: es bezeichnet
einerseits die eine und einzige, stehende Form aktueller Anwesen-
heit (in wechselnder, hier nicht mehr wichtiger Präsenzfeldbreite),
andererseits eine Zeitstelle unter anderen.
Die Unterscheidung eines doppelten Jetzt trifft auch G. Eigler
in seinen lehrreichen Ausführungen über Metaphysische Voraus-
setzungen in Husserls Zeitanalysen. Er gewinnt diese Unter-
scheidung aus seiner Aristoteles-Interpretation, indem er zeigt,
daß auch Husserl in der Tradition der Unterscheidung eines
doppelten vüvl steht2. Es ist aber zu fragen, ob aufgrund dieser
richtigen denkgeschichtlichen Einordnung auch schon behauptet
werden darf, daß Husserl mit seiner Frage nach der lebendigen
Gegenwart die metaphysische Tradition nicht überschreitet; die
"lebendige Gegenwart" soll ja nach Husserls Absicht keine philo-
sophische "Konstruktion" sein, durch die der vorweg statuierte
und als Aporie fixierte Gegensatz der beiden vüv "vermittelt"
oder "aufgehoben" werden soll: "lebendige Gegenwart" ist viel-
mehr als Titel für einen neuzubefragenden Bereich philosophi-
scher Erfahrung gemeint, - einer Erfahrung, für die dann M.
Heidegger in Sein und Zeit unter gewandelten Vorausset-
zungen des Denkens die angemessenere Sprache fand.

2. Die Urkonstitution von Identität und Individualität


Wie gehören die eine beständige Jetztform und die unzählbar
vielen Jetztstellen des welterfahrenden Lebens zusammen? -Das
Stellenjetzt ist gewissermaßen der Index, der jedem Vorkommnis
im intentionalen Wahrnehmungsleben seinen Platz in Vergangen-
heit, Gegenwart oder Zukunft anweist. Vergaugenes ist gegen-
wärtig Gewesenes, ist verflossenes Jetzt; es verweist somit auf ein
aktuelles Jetzt, auf gegenwärtige Anwesenheit. Genauer: ein Ver-
gangenes verdankt seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten
gegenwärtig gewesenen Jetztstelle seinem ehemaligen Durchgang
durch eben dieses aktuelle Jetzt. Das heißt: Das Jetzt als stehen-
de und bleibende Form aktueller Anwesenheit prägt jegliches

1 Vgl. Aristoteles, Physik, Buch IV, 2I7 b 30 ff.


2 Vgl. G. Eigler, Metaphysische Voraussetzungen in Husserls Zeitanalysen, Ig6I,
s. 91 ff.
32 GEGENWÄRTIGUNG

durch es Hindurchfließende, drückt ihm gleichsam den Stempel


der einen Gegenwart auf und bewirkt auf diese Weise, daß das
aufgeprägteJetzt sich sogleich in ein Zeitstellenjetzt verwandelt.
-Weil jede Gegenwart als neu und einmal auftretende von jeder
anderen unterschieden ist, bekommt jegliches gegenwärtig Be-
gegnende im Durchgang durch die stehende Gegenwart eine un-
verwechselbare, individuelle Zeitstelle zugewiesen. Das bedeutet:
der unverwechselbaren Individualität des jeweiligen Jetzt ver-
dankt sich ursprünglich die Individualität eines Wahr-
nehmungsgegenstandes, sein "dieser und kein anderer". - An-
dererseits geht jedes Jetzt kontinuierlich in ein neues Jetzt über.
Der "Ort" dieses Übergangs ist die Gegenwart in ihrer stehenden
Form. Die Formbeständigkeit und die Kontinuität verbürgen
die übergangssynthetische Einheit der Präsenzfeldgegenwärti-
gung. Die Einheit dieses Feldes läßt das darin Neuauftretende
niemals als bloß momentan Gegenwärtiges erscheinen, sondern
stets als eines im Wandel des "wahrgenommen, soeben-wahr-
genommen, ... usw." Das bedeutet: Das Gegenwärtige begegnet
stets sogleich als selbiges-im-gegenwärtigen-Wandel; von
vornherein hält es sich durch als "eines und selbes", d.h. als iden-
tisches. In der formbeständigen und kontinuierlichen Ursynthese
der Gegenwärtigung konstituiert sich also ebenfalls ursprünglich die
Identität des Wahrnehmungsgegenstandes. Individualität und
Identität aber sind die Grundbestimmungen des Wahrnehmungs-
dinges als solchen. Mit der Prägung des Gegenwärtigen durch
"das individualisierende Moment der ursprünglichen Zeitstellen-
impression"l und durch die ursynthetische Deckung des Gegen-
wärtigen im Präsenzfeld beginnt demnach die Urkonstitution
eines Wahrnehmungsdinges; es wird der Grund dafür gelegt, daß
mir dieses Ding überhaupt als "eines und selbes" und als "dieses
und kein anderes" begegnen kann.

3. Gegenw'ärtigung als genetischer "Ursprung" der Wahrnehmungs-


welt
Zu Beginn dieses Kapitels war nach der Stellung der Wahr-
nehmungsgegenwart im Gesamtprozeß des intentionalen Wahr-
nehmungslebens gefragt worden. Es zeigte sich nun, daß sich
durch wahrnehmende Gegenwärtigung Sinnendinge als solcht-
1 Z eitbewußtsein, S. 57
URKONSTITUTION DER WAHRNEHMUNGSWELT 33

urkonstituieren, - wobei hier von allen weiteren Struktur-


analysen zur Urkonstitution abgesehen werden kannl. - Die
Ursituation der Erfahrung eines identischen, individuellen Sin-
nendings ist die Gegenwärtigung. Diese Aussage hat, wie nun-
rnehr deutlich wird, nicht nur den Sinn, daß Gegenwärtigung die
statisch vorbildliche Gegebenheitsweise von Wahrnehmbarern
ist. Präsenz erweist sich vielmehr durch die aufgewiesene Ur-
konstitution auch als genetisch ursprüngliche Gegebenheitsweise;
denn erst durch eine Gegenwärtigungwirdein Wahrnehmungs-
gegenstand als solcher intentional erfaßbar. Nur weil er nämlich
von nun an als ein "Eines und selbes" und als "Eines und kein
anderes" bekannt ist, kann das Ich in mannigfachen Vergegen-
wärtigungen auf ihn als unverwechselbar und bleibend einen zu-
rückkommen. Gegenwärtigung kann also in diesem Sinne als
"Bedingung der Möglichkeit" von Vergegenwärtigung bestimmt
werden. Dieses Errnöglichungsverhältnis ist aber in der Phäno-
menologie nicht bloß behauptet oder erschlossen, sondern durch
den "anschaulichen" Aufweis der Urkonstitution von Individu-
alität und Identität nachgewiesen.
Das bisher Gesagte macht aber noch nicht ganz verständlich,
wie es möglich ist, daß das Ich auf einen vergangenen - zwar
schon mit Identität und Individualität ausgestatteten -Wahr-
nehrnungsgegenstand überhaupt zurückkommen kann, daß es
ihn "ins Gedächtnis zurückrufen" kann. Wie kann ein Gegen-
stand an seinem "Platz" in der Vergangenheit wiedergefunden
werden?

a. Die Urstiftung des Vergangenheitshorizontes und dieMöglichkeit


der Wiedererinnerung
Hier ist daran zu erinnern, daß jede ehemalige Gegenwärtigung
entsprechend ihren retentionalen auch ihre protentionalen Irnpli-
kationen hatte, (von denen gleich noch eingehender zu sprechen
ist). Diese Protentionen leiten ebenso wie die Retentionen kon-
tinuierlich ineinander über: Meine aktuelle Gegenwart war ge-
rade noch in der soeben vergangenen Gegenwart proteniert, diese
wiederum in der nächstvergangeneil und so fort. Diese Impli-

1 Vor allem scheidet hier die Frage der Raumkonstitution aus. Zu diesem Problem
vgl. neuerdings U. Claesges, Edmund Busserls Theorie der Raumkonstitution (Phae-
nomenologica Ig)
34 GEGENWÄRTIGUNG

kationenkette führt kontinuierlich zurück bis an die Vergangen-


heitsstelle eines Wahrnehmungsgegenstandes, den ich mir jetzt
vergegenwärtige. Die kontinuierliche Erfüllung aller Protentio-
nen (das "Eintreffen" des gerade noch Protenierten)l von damals
bis heute, ermöglicht es, daß meine Erfahrung bis "damals"
zurückreicht, daß sie ihren Gegenstand in seinem Vergangensein
antrifft. Diese Ausdrucksweise darf nicht mißverstanden werden:
Der Akt der Vergegenwärtigung selbst ist zwar eine sich gegen-
wärtig abspielende Erfahrung; doch das darin "Erfahrene", das
Vergegenwärtigte, ist nicht mehr in der Helligkeit und Nähe ur-
impressional-retentionaler Aktualität gegeben; es wird vielmehr
aus dem Dunkel und aus der Verdecktheit des endgültig Ver-
gangenen wieder ins Licht gerückt, ohne daß es damit seinen
"Platz" im Bereich des ein für allemal Verströmten jemals auf-
gäbe. Es heißt darum "wieder-erinnert", - im Gegensatz .
zum retentional Behaltenen, das wegen seiner unmittelbaren,
wenn auch schon-schwindenden Mitbewußtheit im Präsenzfeld
"primär erinnert" heißen kann.
Die wiederholbare Möglichkeit der Wiedererinnerung zeigt, daß
das Vergangene jenseits der Präsenzfeldgrenze auf seine Weise
im welterfahrenden Leben erhalten oder behalten bleibt; es wird
nach seinem Austritt aus dem Präsenzfeld keineswegs Nichts für
das Ich. Seine Seinsweise ist am zutreffendsten mit den Metaphern
des "Schlafs" und des "Ruhens" zu bestimmen: Das gegenwärtig
Gewesene lagert sich gleichsam Schicht für Schicht, Zeitstelle für
Zeitstelle geordnet im "Dunkel" des welterfahrenden Lebens ab.
Die Stufenordnung in dieser Sedimentation kommt durch die
Urkonstitution der Individualität, die unverrückbare Fest-
gelegtheit durch die Urkonstitution der Identität zustande: als
unverwechselbar an seiner Zeitstelle fixiertes "schläft" das Ver-
gangene sozusagen und kann darum vom vergegenwärtigenden
Ich wieder "geweckt" werden.
Mit anderen Worten: Der Prozeß retentionalen entgleiten-
lassenden Behaltens setzt sich fort, auch wenn das Behaltene
nicht mehr aktuell noch-im-Griff ist. Alles einmal Gegenwärtige
sedimentiert sich auf die beschriebene Weise. Der Begriff der
Retention, der bisher als unmittelbare Intention auf soeben Ver-
gangenes bestimmt wurde, erhält damit einen zweiten, weiteren
1 Genaueres zu den Begriffen Protention und Erfüllung bringt das nächste Kapitel.
URKONSTITUTION DER WAHRNEHMUNGSWELT 35

Sinn: intentionaler Verweis auf jederzeit möglich weckbare ver-


gangene Gegenwarten. In diesem Sinn ist Retention eine Inten-
tion, die in den universalen Vergangenheits-Horizont meines
Wahrnehmungslebens überleitet und verweist; jedes Vergangene
ist aufgrund des aktuellen und des sedimentierenden retentio-
nalen Behaltens bewußt als ein solches, dem ein weiter Vergan-
genes unmittelbar vorherging und dem ein weniger Vergangenes
unmittelbar folgte; diese Vergangenheiten enthalten in sich
wiederum dieselben weckbaren Verweise usw .. Die offene End-
losigkeit dieses schlafenden, aber in kontinuierlichem Weiter-
fragen weckbaren "Und so weiter" ist der universale Vergangen-
heits-Horizont.
Der Vergangenheitshorizont weckbarer identischer und indi-
vidueller Gegenstände entsteht durch die Sedimentation. Diese
ist die "unbewußte" Fortsetzung der Retention. Dieretentionale
Implikation erwächst aus der urpassiven Übergangssynthesis des
entgleitenlassenden Behaltens. Damit hat sich diese Synthesis in
ihrer urkonstitutiven Funktion zugleich als Urstiftung des
universalen Vergangenheitshorizontes der Wahrnehmungswelt
erwiesen.

b. Vergegenwärtigung als Objektivation


Im Bisherigen liegt auch folgende Konsequenz: Nur das aus-
drücklich als vergangenes Objekt Wiedererinnerte ist als jeder-
zeit für das Ich verfügbarer Gegenstand der Zuwendung gegeben;
denn es hat ein für allemal seine Stelle gegenwärtigen Auftretens
gehabt und ist damit auf seine Zeitstelle (bzw. Zeitstellenfolge)
innerhalb der Abfolge gewesener Gegenwarten festgelegt. Das
unmittelbar retentional Behaltene hingegen ist nicht in dieser
Weise als Objekt fixierbar, da es nur als gerade entgleitend un-
thematisch mitbewußt ist,- im unaufhebbaren Halbdunkel "am
Rande" der gegenwärtigenden Zuwendung, deren hellster Blick-
strahl sich stets auf das Quelljetzt der Aktualität, das urimpres-
sional Auftretende richtet. Gerade dieses urpräsent Begegnende
aber, obwohl es im vollsten Licht des Interesses steht, ist eben-
falls nicht wie Vergegenwärtigtes fixierbar und verfügbar, da es
gemäß der phänomenologischen Reflexion kein punktförmiges,
momentan-ruhendes Gegenwärtiges gibt, das in diskontinuier-
licher Aneinanderreihung von einem zweiten Momentanpräsenten
36 GEGENWÄRTIGUNG

abgelöst würde, sondern nur Urimpressionales, das immer auch


gerade schon retiniert wird. Gegenwärtigung ist strömendes Be-
gegnenlassen von Gegenwärtigem-im-Übergang, im auftretenden-
Weggang.- Das im Prozeß der Urkonstitution erstmals Gegebene
ist hier noch nicht als identischer individueller Gegenstand be-
wußt, weil es zuströmend abströmt. Aber eben wegen dieses
Wegströmens ist es doch bewußt als Einheit möglicher oder,
wie Husserl treffend sagt, vermöglicher Vergegenwärtigung;
denn die Urkonstitution und Urstiftung stiftet ein "ich kann",
ein Vermögen des Ich (daher der Begriff "vermöglich"): "Ich
kann jederzeit und immer wieder auf dieses eine und selbe gegen-
wärtig Gewesene zurückkommen und in diesem Sinne erfahrend
darüber verfügen". Erst die Reproduktion ist die ausdrück-
liche Vergegenständlichung.

c. Die Urstiftung bleibender Gegenstandstypen


Im vorigen Abschnitt wurde stillschweigend davon ausgegan-
gen, daß das gerade Urkonstituierte in seiner Gegenwärtigung
erstmals auftritt. Nun ist es aber offensichtlich, daß derselbe
oder der gleiche Gegenstand noch einmal (oder immerwieder) in
aktueller Gegenwärtigung wahrgenommen werden kann, ohne
daß dies eine Wiedererinnerung wäre. Dieser Fall ist sogar der
normale und weitaus häufigste im welterfahrenden Leben. In
einer solchen Wahrnehmung, die keine Wiedererinnerung ist, ist
der Gegenstand gleichwohl durchaus als verfügbares Objekt be-
wußt. Die erstmalige Gegenwärtigung oder Urkonstitution des
Gegenstandes hatte also neben der Stiftung seiner vermöglichen
Reproduzierbarkeit eine weitere Nachwirkung. Indem dieser
Gegenstand ursprünglich erfahren wurde, wurde damit auch die
bleibende Erfahrbarkeit weiterer Gegenständlichkeiteil dieses
Typus gestiftet. Dies gilt sogar für den Typ "Ding" überhaupt:
"Daß wir Dinge vorstellen und sogar Dinge in einem Blick
sehen ... , das weist in der intentionalen genetischen Analyse
darauf zurück, daß in einer früheren urstiftenden Genesis der
Typus Dingerfahrung zustandegekommen und damit die Kate-
gorie Ding für uns in ihrem erstmaligen Sinn schon gestiftet ist"l.
Wie dies möglich ist, kann erst im ll. Teilerörtertwerden.2 Hier
1 Formale und transzendentale Logik, S. 278
2 s. 87 f.
URKONSTITUTION DER WAHRNEHMUNGSWELT 37

genügt zunächst, daß eine originale Gegebenheitsweise "eine


doppelte genetische N achwirkung"l hat: "Fürs Erste in Form
möglicher erinnernder Reproduktionen im Durchgang durch ur-
sprünglich-genetische und ganz unmittelbar sich anschließende
Retentionen, und fürs Zweite die "apperzeptive" Nachwirkung,
der gemäß in ähnlicher neuer Situation das wie immer schon
konstituiert Vorliegende in ähnlicher Weise apperzipiert wird"2.

d. Zeitigung und Stiftung der Zeitform


Mit dieser Ergänzung zeigen sich schon die großen Konse-
quenzen der voraufgegangenen Überlegungen: Die gesamte
Wahrnehmungswelt, die offene Vielheit einmal wahrgenommener
oder wahrnehmbarer Gegebenheiten hat ihren genetischen "Ur-
sprung" im urkonstitutiven Prozeß der lebendigen Gegenwärti-
gung. Indem alles in der Sinnenwelt Begegnende mit seinem ur-
sprünglichen Auftreten gleichsam zu zeitlichen Einheiten "ge-
rinnt" und bleibende Typen von Wahrnehmungseinheiten jeder
Art hinterläßt, die ebenfalls (auf hier noch unbekannte Art) be-
halten werden können, -indem außerdem ein universales "ich
kann" der Vergegenständlichung von Wahrnehmungseinheiten
gestiftet wird, ist damit die Möglichkeit gegeben, in denkender
Spontaneität den Begriff einer allumspannenden Zeitform auf-
zustellen. Wir konstruieren da "ideell eine unendliche Synthesis
in einer allumspannenden Unendlichkeit des Strömens von
Gegenwarten, als ob das Strömen vollendet wäre und wir, von der
faktischen Gegenwart und irgendeiner faktischen <Gegenwart)
befreit, nur ihre synthetische Einheit hätten"3. Diese Konstruk-
tion, die uns aus unserem physikalischen Weltbild so selbst-
verständlich geläufig ist, setzt aber die "umweltliche Endlich-
keit"4 der jeweiligen lebendigen Wahrnehmungsgegenwart vor-
aus, von der aus wir überhaupt nur schrittweise in den Vergan-
genheitshorizont (und wie sich zeigen wird, Zukunttshorizont)
hineinfragen können, ohne aber dabei an ein Ende zu kommen.
Immer ist die Lebensgegenwart Ausgangs- und Mittelpunkt der
zeitlichen Perspektive. Daher rührt im übrigen auch der Vorrang
des Jetzt, den es auch in der mathematisch-physikalischen, kon-
1 FMmale und transzendentale Logik, S. 279
s ebendort.
s Ms. C r7 111, S. 20 (1931)
4 Ms. C I7 II, S. 14 (1930/3I)
38 GEGENWÄRTIGUNQ

struierten unendlichen Zeit hat; daher hat auch hier zeitliches


Sein "notwendig den Sinn- wenn nicht Jetztsein, so doch Ver-
gangensein oder Zukünftigsein in Beziehung auf dieses lebendige
Jetzt"l. Es genügt hier die Einsicht in die Möglichkeit der damit
angedeuteten höherstufigen. Konstitutionszusammenhänge, ohne
daß die Einzelheiten ausgeführt werden müßten.
Den Prozeß der Konstitution zeitlicher Gegenstände und
Gegenstandstypen nennt Husserl Zei tigung. "Zeitigung, das
ist die Konstitution von Seiendem in Zeitmodalitäten"2. Es ist,
anders gesagt, Ermöglichung der Bekundung von zeitlichen
Gegenstandseinheiten. Mit Bezug auf die Einheitsstiftung kann
Husserl sie auch als eine Leistung bezeichnen: "lebendige Zei-
tigung ist ,Leistung', ist (nämlich> ein Erwerben von Ein-
heiten"3.
Ein Ergebnis des Bisherigen läßt sich auch so formulieren:
Wahrnehmung ist nie bloßes Momentanhaben, sondern Gegen-
wärtigung im Übergang und damit in Zeithorizonten. Dies
konnte nur entdeckt werden durch die phänomenologische
Epoche. Sie bestand darin, daß vom Glauben an die universale
Zeitform, d.h. gerade von den nunmehr aufgewiesenen Hori-
zonten, kein Gebrauch gemacht wurde und daß jede geradehin
vollzogene Meinung über das in diesen Horizonten Enthaltene
in Schwebe gelassen wurde. Eben dadurch aber kam zum Vor-
schein, daß Gegenwart niemals abstrakte Grenze, sondern das Ur-
feld ist, das kontinuierlich in seine Horizonte überleitet und zu
ihnen offen ist. Demgemäß konnte die Urkonstitution gedacht
werden, wonach Wahrnehmungsgegenstände keine zeitlosen Ein-
heiten sind, die "nachträglich" in die Zeit hineinversetzt würden,
sondern deren originäres Auftreten wesenhaft ein Gezeitigtwerden
ist.

1 Ms. C I7 111, S. 6 (I93I)


B Ms. C I3 111, S. I (Zusammenfassung Husserls) (1:934)
a Ms. C 3 111, S. 23 (I93I)
D. DIE PROTENTION

I. Die Aufweisung der Protention am Maßstab der Retention


Die Absicht dieses Kapitels geht dahin, lebendige Gegenwärti-
gung als genetischen Ursprung von jeglicher Gegenständlichkeit
überhaupt auszuweisen. Bevor aber gemäß dieser Absicht nicht-
sinnlich-wahrnehmbare Gegebenheiten in die Untersuchung ein-
bezogen werden, ist zuerst die Darstellung der Protention nach-
zuholen. Sie wurde schon kurz charakterisiert und mehrfach er-
wähnt als ebenfalls zur Einheit des Gegenwärtigungsganzen ge-
hörig, ohne daß die Einzelheiten zur Sprache kamen. Dies ist
keine Willkür der Darstellung, sondern liegt im Wesen der Sache,
wie sie vor den Blick der phänomenologischen Reflexion gelangt
und gelangen muß.
Erst nachdem nämlich die Grundstrukturen der Retention in
ihrem kontinuierlichen Zusammenhang mit der Urimpression
aufgewiesen sind, besteht für die phänomenologische Reflexion
die Möglichkeit, sich der Protention zuzuwenden; wie sich schon
zeigte, steht es keineswegs in ihrem Belieben, bei der Retention
anzufangen. Demgemäß ist der Maßstab für eine erste Übersicht
über das Strukturganze der Protention schon vorgegeben. Die
Entdeckung der Protention vollzieht sich folgerichtig zunächst
als Aufweis ihrer Strukturähnlich keit mit der Retention:
Sie ist wie diese ein unthematisches Mit-Bewußthaben der Rand-
phasen des Präsenten, die schon bzw. noch in einer wesenhaften
Verdecktheit, in einem unaufhebbaren Halbdunkel liegen. Das
protentionale Gewärtigen des gerade-Kommenden ist ent-
sprechend eine spezifische Art von Intentionalität, die als direkter
Bezug auf nicht-ganz-Gegenwärtiges, aber zum Präsenzfeld Ge-
höriges eine Zwischenform zwischen Urimpression und Vergegen-
wärtigung bildet, ja die letztere, im Falle der Protention also die
40 GEGENWÄRTIGUNG

Vor-Vergegenwärtigung, d.h. die Erwartung Antizipation oder


Präsumtion eines Zukünftigen erst ermöglicht.
Im Vollzug der phänomenologischen Epoche wird vom Glauben
an zukünftig Ausstehendes kein Gebrauch gemacht, damit so ge-
rade das protentionale Bewußtsein als deskriptiv aufweisbarer
Ermöglichungsgrund für vermögliche Präsumtionen künftiger
Gegenwarten sichtbar wird. Es erweist sich dann als der inten-
tionale Bezug auf solches nicht-ganz-Gegenwärtige, das in seinem
soeben eintretenden Übergang in urimpressionales Gegebensein
originär bewußt ist. Sowohl Retention wie Protention sind eine
gewissermaßen "entgegenwärtigende"l Intentionalhabe, ein Hal-
ten eines Gegenüber, aber ein Halten-auf-Abstand2: Retention ist
unthematisches Behalten im Weggleitenlassen, Protention ist un-
thematisches Vorgreifen auf noch Ferngehalteness. In der
Tat, sie ist nicht weniger Fernhaltung des gerade Präsentwerden-
den als Vorgriff auf qieses; denn trotz des ständigen Eintretens
des gerade noch prot~tional Erwarteten durch den unaufhör-
lichen urimpressionalen Wandel- wird doch die Protention, das
Sich-Vorneigen, selbst niemals urimpressionales Bewußtsein. Das
Gewärtigen bleibt als unaufhebbar eigenes Strukturmoment des
Gegenwärtigungsganzen, obwohl das Gewärtigte ständig in ak-
tuell Gegenwärtiges übergeht.
Auf dem Hintergrund dieser wesentlichen Parallelen hebt sich
nun das Unterscheidende von Retention und Protention ab.
Das Retentionalwerden ist ein Sich-Entfernen aus der impressio-
nalen Urnähe, das protentional-Gegebensein ist ein sich An-
nähern an diese. Die Bewegungen des protentionalen und des re-
tentionalen Prozesses verlaufen gegensätzlich. Protention ist
"umgestülpte"4 Retention. Unter den vielen denkbaren Möglich-
keiten, in den Unterschied von Erinnerung und Erwartung ein-
zudringen, muß sich gerade diese der phänomenologischen Re-
flexion im Sinne Husserls als die erste anbieten: Die Reflexion
wurde schon als Rückwendung, als N achgewahrung charakteri-
siert. Sie bekommt eine lebendige Wahrnehmungsgegenwart

1 Vgl. E. Fink, "Vergegenwärtigung und Bild", S. 256 f.; u. Krisis, S. 189


s Vgl. M. Merleau-Ponty, Phenomenologie de la perception, Paris 1945, S. 484
" ... l'ambigulte initiale: retenir, c'est tenir, mais a distance".
a Vgl. G. Brand, Welt, Ich und Zeit, S. 84
4 Vgl. Zeitbewußtsein, S. 413, wo dasselbe von Wiedererinnerung und Erwartung
gesagt wird
PROTENTION 41

darum notwendig nur als abgeschlossene zu Gesicht. Das be-


deutet jetzt: Sie blickt immer schon auf das Ganze des Struktur-
zusammenhangs von Urimpressionalphase und dazu gehöriger
Protention. Das protentional Gewärtigte einer Wahrnehmung ist
zur Zeit der Reflexion auf diese stets schon urpräsent geworden.
Der Reflexion fällt darum nicht zuerst die wesenhafte Unbe-
kanntheit auf, die dem primär Erwarteten wie allem künftig Aus-
stehenden eigen ist, sondern sie sieht das Protenierte zunächst
als solches, das zur Zeit der Reflexion irgendwie schon urpräsen-
tativ eingetreten (oder auch nicht, unvollkommen usw. einge-
treten) ist. Obwohl also das Gewärtigte Zukünftiges und damit
doch einmal unbekannt war, bietet es sich dem phänomenolo-
gischen Blick doch zunächst als solches dar, das in irgendeiner
Weise in anschauliche Nähe gekommen und damit bekannt ge-
worden ist. Der Urmodus der Intentionalität, in der sie auf die
ihr gemäßeste Weise verwirklicht wird, ist die Urnähe des Be-
wußten, die Erfüllung der Intention durch Selbstgebung,
Präsentation, d.h. die "Befriedigung" der gleichsam instink-
tiven Erfüllungstendenz jeder Wahrnehmung. In diesem und
nur in diesem Sinne (nicht in dem irgendeiner Art von "Trieb-
psychologie") kann Husserl sagen: "Urbefriedigung des in-
stinktiven Begehrens <nach Urpräsentation) ist als Urakt der
impressionalen Wahrnehmung anzusetzen"!. Diese Prävalenz
der intentionalen Erfüllung und damit wahrgenommenen Be-
kanntheit des Intendierten läßt ja auch das retentional Be-
haltene und das Vergaugene als ein ein für allemal Bekanntes
erscheinen, das deswegen wieder erweckt werden kann, weil es
,die Phase größter Ich-Nähe schon durchlaufen hat. Ebenso er-
scheint nun das protentional Gewärtigte primär nicht als solches,
das unbekannt ist, weil seine Urnähe noch aussteht, sondern als
solches, dessen Selbstgebung nächstbevorsteht; Unbekanntheit,
Ausbleiben der Selbstgebung u.ä. können in der phänomeno-
logischen Reflexion nur als defiziente Modi, als Privation u. dergl.,
doch nie als primäre Modi von Erfahrung verstanden werden.
Der Übergang von Protention in Urimpression ist somit grund-
sätzlich "Erfüllung". Auch wenn sich das Nächsterwartete nicht
mit dem bald urimpressional Eingetretenen deckt, muß dies
phänomenologisch als ein Modus von Erfüllung - wenn auch als
1 Ms. C 13 111, S. 13 (1934)
42 GEGENWÄRTIGUNG

eindefizienter-angesehen werden. Die mögliche Unbekanntheit


des primär Erwarteten erweist sich als eine Spielart der erfüll-
baren- und innerhalb dieses Rahmens allerdings auch korrigier-
baren - Bekanntheit, die alles Gewärtigte als gegenwärtig-
Werdendes wesenhaft besitzt. So ist das Nächsterwartete niemals
ein Unaussprechliches, gänzlich Inhaltsleeres und Nichtiges,
sondern ein irgendwie schon typisch Vorbekanntes. Das
wird dadurch bestätigt, daß jederzeit irgendeine ausdrückliche
Vor-Vergegenwärtigung des Nächstkommenden möglich ist. Ge-
wiß kann diese später enttäuscht oder korrigiert werden, doch
niemals so sehr, daß das ständige Gewärtigen einmal nicht mehr
die Form unthematischer Erwartungsanschauung eines Kom-
menden von irgendeiner vorbekannten Typik hätte oder gar
gänzlich aussetzte.
Zur Präsentation gehört in Wesenseinheit Protention. "Auf
Wahrgenommenes Gerichtetsein ist auf Impressionales-Künftiges
im Modus der Erfüllung ständig Gerichtetsein"l. "Im normalen
Gegenwartsleben" ist der "Aktstrahl des Ich stetig in die Zu-
kunft gerichtet, indem er in das Kernjetzt, das die Aktintention
erfüllende, stetig gerichtet ist, eben als worin das Erstrebte sich
verwirklicht"2. Und umgekehrt: ". . . in der Gegenwart liegt
das <Tendieren> auf die Zukunft hin"3. Das "Daß" dieses Ten-
dierens liegt nicht im Belieben des Ich; daher bemerkt Husserl
zum zuletzt zitierten Satz: "natürlich ist hier nicht gemeint ein
Tendieren als ein gefühls- oder willensartiges Streben"4. Die
Frage allerdings, wie weit sich die präsumtive, typische Vorbe-
kanntheit bewährt oder korrigiert werden muß, führt auf das
"Wie" der typischen Vorbekanntheit, auf die Art und Weise,
wie das Ich im einzelnen auf Grund seiner wachen und schlafen-
den Retentionalität und seiner Erfahrungstypik seinen Zukunfts-
horizont vorzeichnet. Diese Fragen können ähnlich wie früher
die Problematik des Interesses hier außer Betracht bleiben; denn
vor allen Modifikationen ichliehen Wahrnehmungslebens, die
damit analysiert werden müßten, bleiben folgende Gegenwärti-
gungsstrukturen unberührt:

1 Ms. C 13 III, S. 7 (1934)


2 Ms. C 13 II, S. 3 (1934)
a Ms. C 4, S. 7 (1930)
4 ebendort
PROTENTION 43

r. Die Protentionalität erhält sich stetig als Intentionalität


eigener Art im Gegenwärtigungsganzen.
2. Das protentional Erwartete ist bewußt als solches, das sich
in irgendeiner Weise "erfüllen" muß. Der Zukunftshorizont ist
daher auslegbar als Horizont von einer gewissen Vorbekanntheit.

2. Protention und urtümliche Teleologie


Gleichwohl bleibt dieser Horizont im Gegensatz zur Vergan-
genheit von einer wesenhaften Unbestimmtheit. -Auch das re-
tentional Behaltene und das Sedimentierte hatten ja ihre spe-
zifische Unbekanntheit: die Halbverdecktheit, das Halbdunkel
des unthematisch Mitgegenwärtigen, -die "Unbewußtheit", das
Schlafendsein des Vergangenen; doch im Modus der Geweckt-
heit, der Reproduktion konnte sich Vergaugenes immer wieder
als ein für allemal Bekanntes erweisen. Diese festgelegte Be-
kanntheit fehlt dem Erwarteten wesenhaft. Da sich anderer-
seits alles intentionale Wahrnehmungsleben in Urpräsentationen
erfüllt, tendiert das Ich "instinktiv" auf Verwandlung der Un-
bekanntheit des Zukünftigen in festgelegte Bekanntheit. Ein Ur-
trieb welterfahrenden Lebens - und wenn sich die dargestellte
Gegenwärtigungsstruktur als Urmodus allen Lebens herausstellt:
der Urtrieb -ist diese in der Protentionalität beschlossene , , Neu-
gier' '."Das unterste, allfundierende Interesse ist also das der ur-
sprünglichen und weiter fungierenden <= auch höherstufig wirk-
samen> Neugier ... "1 Diese Neugier ist für Husserl, wie sich
zeigen wird, die natürliche und immer schon betätigte Vorform
des Interesses aller wissenschaftlichen, zuhöchst der phänomeno-
logischen Forschung.
Da diese urtümliche Neugier niemals vollkommen befriedigt
wird, weil das welterfahrende Wahrnehmungsleben in Protention
und Erwartung ständig über sich hinaus ist, liegt in allem wahr-
nehmenden Gegenwärtigen wesenhaft eine primitive und meist
unbewußte Teleologie: Alles Gegenwärtigen drängt als pro-
tentionales auf ein Mehr und immer Mehr an präsenter oder re-
produzierbarer Gegenstandshabe. "Schon der Gang der assoziativ
<= urpassiv, übergangssynthetisch> zeitigenden Leistung hat
teleologische Bedeutung, schon sie ist ,angelegt-auf' ... "2 Dieser
1 Ms. C r6 IV, S. ro (1932)
2 Ms. E III 9, S. 7 (1933); vgl. Ms. C 7 I, S. 6 (1932)
44 GEGENWÄRTIGUNG

instinktiven Teleologie entspricht wiederum die wache Teleologie


des wissenschaftlichen, zuhöchst des phänomenologischen "Er-
kenntnisfortschritts".
Warum aber, kann nun andererseits gefragt werden, erlahmt
die ständige Protentionalität niemals, obwohl doch jede Urprä-
sentation auch Befriedigung der zur Protention gehörigen Er-
füllungstendenz ist? Das liegt offenbar an der Art dieser Er-
füllung: sie bringt zwar einen bleibenden Gegenstandserwerb;
doch diese gegenständliche "Habe" verliert gerade, indem und
weil sie fixierbare und reproduzierbare "Habe" wird, ihre pro-
tentional angestrebte urimpressionale, unverdeckte und helle
Ich-Nähe. Die Urimpression in ihrem stetigen Wandel ist immer
auch entschwindende Erfüllung, unaufhaltsames Abgelöst- und
Verdecktwerden durch neue Urpräsentationen. Dadurch mangelt
es der Erfüllungstendenz jederzeit an letzter Befriedigung: Das
Ich ist im Wahrnehmungsleben stets auch schon beim Nächst-
kommenden, da ihm gleichsam der Boden verharrender urim-
pressionaler Gegenwart durch das ständige Strömen entzogen
wird. (Das Strömen ist jedoch, wie noch einmal betont sei, keine
beklagenswerte Einbuße an einem ausdenkbaren Idealzustand
welterfahrenden Lebens; eröffnet es ihm doch als Konstituens
der urpassiven Übergangssynthesis alle seine horizonthaften
Möglichkeiten.)
So zeigt sich noch einmal deutlicher die Struktureinheit von
Urimpression und Retention mit der Protention. Was die leben-
dige Wahrnehmungsgegenwart zentriert, ist der formbeständig-
strömende urimpressionale Wandel. Protention und Retention
bilden hiermit zwar eine unauflösbare übergangssynthetische
Einheit, sie sind aber selbst nicht Quellpunkt der Lebendigkeit
der Wahrnehmungsgegenwart. Weder das urtümliche Weg-
gleitenlassen oder Festhaltenwollen der Retention noch der ur-
instinktive protentionale Vorgriff lösen die Bewegung der Zeiti-
gung aus; sondern, wenn schon der "Vorrang" eines Struktur-
momentes statuiert werden soll - in vager Anlehnung an den
Vorrang der Zukunft in Sein und Zeitl - so muß gegen Inter-
pretationen, die alle Einsichten Heideggers schon bei Husserl
finden wollen, gesagt werden, daß das Ich bei Husserl primär
1 Vgl. etwa M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 329, "Das primäre Phänomen der ur-
sprünglichen und eigentlichen Zeitlichkeit ist die Zukunft".
PROTENTION 45

urpräsentiert. Diese Urpräsentation aber, - und das ist ebenso


wichtig - ist kommend-gehend, sie ist Gegenwärtigung in Hori-
zonten.
So unmittelbar die Protention zur Gegenwärtigung gehört,
- muß man sich wohl doch davor hüten, in das welterfahrende
Leben eine Zukünftigkeit im Heideggerschen Sinne hineinzu-
interpretieren. Dieser Gefahr scheint mir Brand an einigen Stellen,
obschon nicht in seiner Gesamtauffassung, erlegen. Er sagt zum
Beispiel: "Das Gerichtetsein der Gegenwart, ihr Künftigsein ist
nicht eine Tendenz vom Jetzt her auf die ,Zukunft', sondern ist
überhaupt das Sein der Zukunft selbst eben als Künftig-sein
oder Zukünftigkeit des Ich"l. - Richtig ist hieran, daß das Ich
niemals im Momentanjetzt eingeschlossen und von der Zukunft
abgeschnitten ist. Es ist aber durchaus so, daß sich der Zukunfts-
horizont, wenn auch kontinuierlich und notwendig, nur vom
Jetzt her öffnet. Ausgangspunkt der zeitlichen Perspektive ist
stets die Gegenwart, wie Y. Picard2 richtig gezeigt hat. In diesem
Sinne "bin" ich nach Husserl nicht zukünftig, sondern ich "habe"
Zukunft, ich tendiere vom Jetzt her daraufhin.

1 Brand, a.a.O., S. 126


2 Yvonne Picard, "Le temps chez Husserl et Heidegger", in: Deucalion, Hft. r,
1945, S. no ff. Vgl. Ms. C 17 III, S. 6 (1931): "Vergangenheit ist aber und bleibt
vergangene Gegenwart, Zukunft kommende Gegenwart."
E. DIE UNTERSCHEIDUNG VON
NOEMATISCHER UND NOETISCHER ZEITIGUNG

Nach diesem Überblick über die Zeitstruktur der Wahr-


nehmungsgegenwart im Ganzen, mit deren Darstellung ihrer
statischen Vorbildlichkeit wegen begonnen wurde, kann nun
entschiedener der Grundcharakter des welterfahrenden Lebens
überhaupt ins Auge gefaßt werden. -Es wurde schon nachge-
wiesen, daß im Prozeß lebendiger Wahrnehmungsgegenwart der
genetische Ursprung der Wahrnehmungswelt liegt. Entsprechend
muß jetzt im Vergleich mit dem Ausgangs- und Modellfall der
Sinneswahrnehmung die Urkonstitution der anderen Gegen-
standshereiche geklärt werden. Es ist zu zeigen, daß jegliche
Konstitution eine Zeitigung ist. Dazu fragt es sich zunächst,
welche Gegebenheiten nach Auffassung der Phänomenologie nicht
wahrnehmungsmäßig (Wahrnehmung im engeren Sinne: Sinnes-
wahrnehmung) erfahren werden. Natürlich kann das welter-
fahrende Leben nicht planlos nach solchen Gegenstandsbereichen
abgesucht werden. Die gesuchte Einteilung ist implizite im bisher
Ausgeführten enthalten.
Es wurde darauf hingewiesen, daß die radikale Einklammerung
aller "naiven" Vormeinungen über das, was Weltliches ist,
dieses keineswegs verschwinden, sondern im neuen Licht der
intentionalen Innenansicht erscheinen läßt. In diesem Sinne
wurde stets das Strukturganze der Gegenwärtigung in den
Blick genommen: Die Präsentation von Präsentem, die Re-
tention von Retiniertem usw. Daß es trotzdem den Unter-
schied von Erfahren und Erfahrenem, von Ichvollzug und be-
gegnendem Gegenüber gibt, wurde noch nicht eigens hervor-
gehoben. Auf diese Weise sollte von vornherein der Eindruck ver-
mieden werden, als gäbe es eine vom konkreten Strukturganzen
der Erfahrung trennbare Bewegtheit eines weltlosen Bewußtseins
einerseits und sogenannte "bewußtseinsunabhängige", wahr-
NOEMATISCHE UND NOETISCHE ZEITIGUNG 47

nehmbare Gegebenheiten andererseits, zwischen denen obendrein


und rätselhafterweise eine Beziehung zustande käme. Gerade
durch die angewandte Betrachtungsweise konnte andererseits
aber die rechtverstandene "Bewußtseinsunabhängigkeit" der
Sinnendinge ans Licht treten; denn es wurde erklärlich, daß
und wieso diese Dinge Einheiten in der objektiven Zeit sind:
sie können als identische und individuelle immer wieder erfahren
werden. Wann und wie oft ich eine solche Erfahrung aktualisiere,
ändert nichts am objektiven Bestehen des Erfahrenen. Die
Wahrnehmungsgegenstände haben zwar ihre Weise originären
Erfahrenseins in der lebendigen Wahrnehmungsgegenwart; diese
ist so "Bedingung der Möglichkeit" ihrer Erfahrbarkeit als "an
sich" bestehender Einheiten; sie sind aber darum nicht etwa in
der lebendigen Gegenwart erzeugt oder erschaffen, sondern zu
ihrem Seinssinn gehört gerade aufgrund ihrer originären Gegen-
wärtigung, sich als "bewußtseinsunabhängig" im welterfahren-
den Leben zu bekunden. Sie heißen daher transzendent (im
engeren Sinne; der weitere Sinn wurde schon genannt: "inten-
diertes Gegenüber überhaupt") ; das heißt hier: nicht reell im
"Bewußtsein" vorhanden, sondern intentional als "draußen"
seiend vermeint.
Damit hebt sich nun aber ein zweiter umfassender Gegen-
standshereich von der Welt der transzendenten wahrnehmbaren
Dinge ab: der Bereich des reell im Bewußtsein Vorhandenen,
die immanenten Inhalte, wie der auch im Spätwerk Husserls
noch gebräuchliche, aber mißverständliche Ausdruck lautet.
Diese Immanenz darf nicht als die eben abgewehrte Immanenz
eines weltlosen Bewußtseins gedacht werden, sondern nur als der
Gegensatz zur gerade bezeichneten Transzendenz im engeren
Sinne. (Daß diese "Immanenz" selbst noch "intendiertes Gegen-
über", also transzendent im weiteren Sinne ist, wird der II. Teil
zeigen.) Gemeint sind also mit "immanenten Inhalten": im
Gegensatz zu dem, was sich als wahrgenommenes Gegenüber im
welterfahrenden Leben bekundet, - die Ausformungen dieses
lebendigen Fungierens selbst. Der unverfänglichste Titel für
diese Zweiheit von ichliehen Vollzugsweisen und darin sich in-
tentional Bekundendem scheint mir das busserlsehe Begriffs-
paar "Noesis-Noema" zu sein. Seine Verwendung soll von
nun an dazu dienen, das eben zurückgewiesene cartesianische
48 GEGENWÄRTIGUNG

Mißverständnis der intentionalen Korrelation von Ich und Welt


auszuschalten. Bisher wurde im Bereich der noematischen
Zeitigung die Urkonstitution eines sinnlich Wahrgenommenen
als solchen- als eines weltlich-transzendenten Gegenstandes in
der objektiven Zeit aufgewiesen. Diese Zeit heißt "objektiv",
weil sie Form identischer, individueller Gegenstände ist. Nun
läßt sich sogleich einsehen, daß es auch eine noetische Zeiti-
gung geben muß. Das ergibt sich ohne weiteres aus dem be-
kannten Charakter der phänomenologischen Reflexion: Sie
wurde als eine Art denkender Wahrnehmung eingeführt. Das
bedeutet: Das reflexiv Erfahrbare ist Korrelat einer iden-
tifizierenden Intentionalhabe, also Gegenstand im
weitesten Sinne. Ein solcher Gegenstand, z.B. der Akt einer be-
stimmten Tonwahrnehmung, ist eine Sinneinheit, an die ich mich
reflexiv ebenso erinnern kann, wie sonst- in der Einstellung der
Sinneswahrnehmung - an einen ehemals gehörten Ton. Ich kann
diesen Wahrnehmungsakt - und offenbar auch alle anderen
Ausformungen welterfahrenden Fungierens - an einer bestimm-
ten Zeitstelle des Lebensstromes einordnen. Die Vollzugsweisen
intentionalen Lebens, die Noesen, in denen sich jeweils diese
oder jene transzendenten Noemen bekunden, enthüllen sich
unter dem Blick der Reflexion selbst als Gegebenheiten in einer
"immanenten Zeit"; d.h., sie stehen in der zeitlichen Abfolge-
ordnung eines "Bewußtseinsstromes", wie Husserl den ge-
samten Funktionsprozeß auch nannte. (Der Begriff , ,Bewußtseins-
strom" soll hier ebenso wie der Begriff "Bewußtsein" nur mit
einer gewissen Reserve gebraucht werden, weil "Bewußtsein" im
geläufigen Sinne nur eine, phänomenologisch gesehen, konsti-
tutiv hochstufige Form noetischen Lebens bezeichnet, nicht aber
die Ganzheit aller, auch der "unbewußten" Funktionsweisenl).
Bei allen wichtigen und noch zu erörternden Unterschieden
zwischen der noetischen und noematischen Sphäre läßt sich nun
doch schon sagen: auch die Noesen sind Zeitobjekte in einer auf
ihre Weise ebenfalls objektiven, weil Identität und Individualität
bei der Reproduktion garantierenden Zeit. Es ist von daher an-
zunehmen, daß auch die N oesen ihr Gegenstandsein dem ver-
möglichen oder wirklichen Durchgang durch die urpassive Über-
gangssynthesis einer Gegenwärtigung verdanken. -Die Aufgabe,
dies zu zeigen, fällt in den folgenden Hauptteil.
1 Vgl. L. Landgrebe, Der Weg der Phänomenologie, S. 24.
F. DIE KONSTITUTION DER ALLZEITLICHKElTEN

I. Fragestellung und Grundbegriffe


Mit der noematischen Zeitigung der transzendenten Wahr-
nehmungsweit und der noetischen Zeitigung der "immanenten"
Sphäre sind noch nicht alle Grundarten von Konstitution ge-
nannt.
Als Beispiel aus einem dritten und letzten Gegenstandsbereich
sind bereits die eidetischen Gegebenheiten bekannt. Zwischen
ihnen und den Zeitobjekten der bisher genannten Art bestehen
fundamentale und auffallende Unterschiede. Noematische oder
noetische Zeitobjekte sind solche Korrelate einer identifizierenden
Intentionalhabe, die an einem einmaligen und fixierbaren Jetzt
ihr vermögliches oder wirkliches Auftreten und infolgedessen an
einer bestimmten Stelle (bzw. Stellenfolge) in einer objektiven
Zeit ihren "Platz" haben. Allen eidetischen Gegebenheiten fehlt
diese zeitliche Lokalisierbarkeit. Sie heißen darum irreal. Dies
ist zunächst der Gegenbegriff zu real; Realität kommt weltlich
Transzendentem zu, weil es in der beschriebenen Weise an seiner
Stelle immer wieder an treffbar und in diesem Sinne "bewußtseins-
unabhängig" ist. Aus dem entsprechenden Grunde heißen Noesen
reell gegeben. Obwohl also der Begriff "irreal" durch Negation
von "real" gebildet ist, ist er doch der Sache nach auch Negation
von "reell"; denn Irrealität im husserlschen Sinne ist Fehlen
zeitlicher Lokalisierbarkeit.
Ein zweiter Unterschied: Realitäten treten im welterfahrenden
Leben mit einer gewissen, schon beschriebenen Selbständigkeit
gegenüber ihrer Erfahrung auf. (Das Entsprechende gilt wieder-
um, wenn auch auf andere Weise, für Reelles.) Eidetische Ge-
gebenheiten dagegen sind in ganz anderem Maße von ihrer aktiven
Erfassung abhängig. Sie bekunden sich nur für eine gewisse,
ebenfalls bereits skizzierte, Spontaneität des Denkens. Diesen
50 GEGENWÄRTIGUNG

spontanen Prozeß ihrer Konstitution nennt Husserl Ideation.


Die Gegenstände selbst heißen entsprechend ideal.
Trotz ihrer eigenartigen Gegebenheitsweise sind sie aber Kor-
relate eines sinnvoll identifizierenden Intendierens, hier: Pole
einer geistigen "Anschauung", d.h. Gegenstände in jenem
weitesten husserlschen Sinne. Was Irrealität, Idealität und
Gegenständlichkeit hier bedeuten, darf nicht von irgendwelchen
geläufigen Bedeutungen dieser Begriffe her verstanden werden,
sondern ist allein dem Zusammenhang dieser sich an Husserl an-
schließenden Darstellung zu entnehmen. "Ideal" und "irreal" be-
sagen danach nicht, daß eidetische Gegebenheiten vom Bewußt-
sein "erzeugt", "erschaffen" und "außerhalb" seiner nichts
wären. Daß sie Gegenstände sind, besagt umgekehrt nicht eine
Seinsweise nach Art platonischer IdeenI. Die bei Husserl gemeinte
Bedeutung der Begriffe liegt aber auch nicht irgendwo in der
"Mitte" zwischen diesen psychologistischen und platonisierenden
Mißdeutungen. Was CJ.ie Begriffe "beschreibend" anzeigen sollen,
fällt vielmehr von vornherein aus dem Rahmen eines argumenta·
tiv geführten Streits zwischen platonisierenden Eidetikern und
Psychologisten heraus. Beide bewegen sich durchaus noch auf
dem Boden von geradehin vollzogenen Meinungen über das, was
dieses und jenes ist, hier: ob die eidetischen Gegebenheiten
"außerhalb" oder "innerhalb" meiner, "in" oder "über" der
Welt vermeintlich, wirklich oder garnicht vorkommen. Der Ver-
such einer radikalen Reflexion auf die universale Korrelation von
jeglichem Meinungsvollzug und darin "Vermeintem" will jedoch
den Bereich solcher Argumentationen gerade unterlaufen, indem
er vom "naiven" Vollzug jeder Argumentation, auch der geist-
vollsten, keinen Gebrauch macht. In diesem Sinne soll hier
"Gegenstand" nur besagen, daß in eidetischer Rede- was auch
immer von ihr zu halten sei - ein sinnvoll identisches Worüber
dieser Rede intentional vermeint ist. Und weiterhin sollen die
Begriffe Idealität und Irrealität die spezifische Gegebenheits-
weise dieses Worüber im offenkundigen Unterschied zum "Gegen-
über" einer sinnlichen (und reflexiven)Wahrnehmung anzeigen.

1 Zum Ganzen vgl. Ideen I, § 18-§ 26, S. 40 ff.; zur Kritik der busserlseben Lehre
von den Idealitäten vgl. insbes. K. H. Volkmann-Schluck, "Husserls Lehre von der
Idealität der Bedeutung als metaphysisches Problem", in: Hussel'l et la pensee
modeme, Den Haag 1959, S. 230 ff.
KONSTITUTION DER ALLZEITLICHKElTEN 51

Husserl erhebt nicht den Anspruch, schon die treffendsten Be-


griffe gefunden zu haben, wohl aber den, gegenüber dem Argu-
mentieren zu einer gemäßeren Fragestellung vorgedrungen zu sein.

2. Spontaneität, Strömen, Ständigkeit


Nun ist zu ergänzen: Irrealität und Idealität kommen nicht
nur den eidetischen Gegebenheiten zu, sondern allem, was nicht
in einer immanenten oder transzendenten, noetischen oder noe-
matischenobjektiven Zeit seinen Platz findet. Jede Art von Sach-
verhalten, Bedeutungen, Sätzen, Inbegriffen, Ideen u.ä. gehört in
diesen Bereich. Alle derartigen Gegebenheiten sind nämlich
ihrem eigenen Wesen gemäß nicht in der Weise noetischer oder
noematischer Zeitinhalte auf eine Stelle oder Stellenfolge im
Nacheinander festgelegt; alle begegnen sie nur in spontanen Er-
fassungen besonderer Art.
Wenn nun trotzdem ihre Seinsweise als eine Zeitlichkeit, die
Art ihrer Erfassung als Zeitigung und die Art ihrer originären Er-
fassung als Gegenwärtigung verständlich gemacht werden solll,
so hat die Analyse gemäß dem phänomenologischen Primat des
Originären bei der ursprünglichen Erfassung eines idealen, ir-
realen Gegenstandes anzusetzen. Husserl nennt diese Erfassungs-
art "Entdeckung". Wesenssachverhalte zum Beispiel werden
entdeckt2.
Der Entdeckung entspricht die originäre Präsentation einer
zeitlichen Gegebenheit. Diese ist durch Reflexion als Erfüllung
einer thematischen oder unthematischen Erwartungsintention
enthüllbar und sie stiftet das Vermögen: "ich kann von nun an
immer wieder auf das präsent Gewesene zuruckkommen". In
ähnlicher Weise ist der ideale Gegenstand, schon indem er ent-
deckt wird, bewußt als etwas, das es immer schon gab und immer
geben wird; nach der Entdeckung eines idealen Gegenstandes
wird es zu Recht heißen, die Möglichkeit, diesen Gegenstand zu
erfassen, habe zu jeder Zeit bestanden und werde auch alle Zeit
bestehens. Wodurch unterscheidet sich diese Gewißheit von dem
Horizontbewußtsein immerfort vermöglicher präsumtiver oder
reproduktiver Vergegenwärtigung eines Wahrgenommenen? Was

1 Vgl. zum ganzen folgenden Abschnitt: Erfahrung und Urteil, S. 309-313


s Vgl. Erfahrung und Urteil, S. 312
s Vgl. Erfahrung und Urteil, S. 312.
52 · GEGENWÄRTIGUNG

unterscheidet, kurz gesagt, den Gegebenheitscharakter "alle Zeit


erfahrbar" von dem Charakter "immer wieder reproduzierbar" ?
- Zunächst zum letzteren: Gegenwärtigung und Reproduktion,
aber auch die Reproduktionen eines Zeitobjekts untereinander
gleichen sich niemals: Jede Reproduktion ist reflexiv enthüllbar
als eine ·Erfahrung von höherer Mittelbarkeit als die vorauf-
gegangenen Vergegenwärtigungen;. denn die Ablagerung von Ver-
gangenem wächst unaufhaltsam; jedes Vergangene rückt mit
jeder aktuellen Gegenwärtigung in weitere intentionale "Ferne",
in dichteres "Dunkel". Das Entsprechende gilt für die Anti-
zipation von künftig Präsentem. - Demgegenüber sind die alle
Zeit möglichen Erfassungen oder "Anschauungen" eines idealen
Gegenstandes unter sich von wesenhaft gleicher Artl. Nicht ein-
mal die Entdeckung macht hiervon eine Ausnahme. Sie versteht
sich ja sogleich als eine beliebige von unendlich vielen gleichartigen
Möglichkeiten der Erfahrung des betreffenden Gegenstandes.
Dem entspricht ein weiterer Unterschied von Reproduktion
und alle Zeit möglicher Erfassung. Der reproduzierte Gegen-
stand ist bewußt als eine gewesene Gegenwart mit einer bestimm-
ten Zeitstelle innerhalb einer Abfolge von Präsenzen; nur des-
wegen ist er ja lokalisierbar (und somit reproduzierbar), weil das
ehemals Präsente bewußt war als Phase zwischen schon Ver-
gangenem einerseits, -das inzwischen in noch fernere Vergangen-
heit gerückt ist -, und noch Ausstehendem andererseits, - das
inzwischen nacheinander eingetreten ist und kontinuierlich in
meine aktuelle Gegenwart übergeleitet hat. Dieser Zusammen-
hang mit einer Umgebung von entfernter und näher Vergange-
nem, durch den das Vergegenwärtigte überhaupt nur als ein-
maliges an seiner Stelle wiederauffindbar ist, fehlt dem idealen
Gegenstand2; er ist gleichsam überall und daher auch nicht bloß
"immer wieder reproduzierbar", sondern "allezeit erfaßbar".
Dies meint der Begriff "ideal". Fragt manjedoch nach dem "Wo"
der idealen Gegebenheit, welches das Zeitobjekt gerade aufgrund
seiner Fixierung an das Zeitstellenjetzt und dessen Zusammen-
hangshorizonte besitzt, so kann dies nicht angegeben werden. Der
ideale Gegenstand ist also ebenso gut wie "überall" auch "nir-

1 Unterschiede der Klarheit der Erfassung usw. spielen hier keine Rolle; es geht
nur um die Zeitstruktur
B Vgl. Erfahrung und Urteil, S. 3II
KONSTITUTION DER ALLZEITLICHKElTEN 53

gends"l. Er erkauft gewissermaßen seine allzeitliche Erfaßbar-


keit oder, wie Husserl deswegen auch sagt, seine "Allzeitlich-
keit "2, mit seiner Unlokalisierbarkeit oder Ortlosigkeit, d.h.
aber: seiner Irrealität.
Weil dem allzeitliehen Gegenstand die Sedimentierung und
Fixierung im Vergangenheitshorizont fehlt, kann er nicht eigent-
lich vergegenwärtigt werden. Aber seine Gegebenheitsweise ist
auch keine Gegenwärtigung im bisher bekannten Sinne, weil
solche Gegenwärtigung wesenhaft übergängig ist und daher in den
Vergangenheitshorizont eingeht und überleitet. Trotzdem ist die
Entdeckung oder originäre Ideation offenbar eine Gegenwärti-
gung, allerdings eine solche besonderer Art: Sie läßt ihr. Gegen-
wärtiges ohne protentionalen und retentionalen Wandel, als
reine urimpressionale Gegenwart ohne Strömen begegnen. Auch
alle weiteren, der Entdeckung folgenden Erfassungen geben das
Ideale als solche wandellose Gegebenheit. - Ein Moment der-
artiger Gegenwärtigkeit fand sich auch an der lebendigen Wahr-
nehmungsgegenwart: das eine einzige Jetzt als wandellose Form
der Anwesenheit. Die Idealität erweist sich damit als die Weise,
wie die wandellose Jetztform der Zeitigung in die Gegebenheits-
weise der Allzeitlichkeiten eingeht.
Nun zeigte sich aber früher, daß sich Gegenwärtigen nur strö-
mend vollziehen kann. Das Strömen ist ein "Gesetz", dem sich
das Ich in seinem Fungieren schlechthin fügen muß. Die Er-
fassung der Allzeitlichkeiten scheint zunächst diese Bindung zu
durchbrechen. Sie ist als "reine" Gegenwärtigung der Versuch,
die Urpassivität desStrömensaus freier Aktivität zu übersteigen.
Darin besteht die Spontaneitätder Ideation. Jedoch diese Spon-
taneität bleibt von dem abhängig, wovon sie befreien soll; denn
nur durch das Strömen und die daraus erwachsende Implikation
des Behaltens werden Erfahrungsinhalte lokalisierbar, erlangen
sie Objektivität und Realität. Die "Allzeitigung", die sich gleich-
sam von der Bindung ans Strömen .lösen will, kann daher doch
nur zu Gegebenheiten gelangen, die es "nirgends" gibt. Demnach
ist die Irrealität die Weise, wie das Strömen der Zeitigung in die
Erfahrung der Allzeitlichkeiten eingeht.

1 Vgl. ebendort
2 Vgl. auch Cartesianische Meditationen, S. 155
54 GEGENWÄRTIGUNG

J. Verdeutlichung am Beispiel der eidetischen Variation


Das schon bekannte Beispiel der "Tonwahrnehmung über-
haupt" mag verdeutlichen, I. wie das Strömen in der allzeit-
liehen Erfahrung überstiegen wird und dann doch verwandelt in
ihr als Irrealität wiederkehrt und 2. auf welche Weise die wan-
dellose Jetztform die Idealität der Allzeitlichkeiten ausmacht.
Zur eidetischen Gegebenheit "Tonwahrnehmung überhaupt"
gelange ich durch eidetischen Vergleich beliebiger Ähnlichkeits-
abwandlungen einer Tonwahrnehmung, die ich in meinem noeti-
schen Lebensstrom fingiere und in einer Quasi-Zeit fixieren kann.
Die Spontaneität dieser Variation besteht zunächst darin, daß
ich keine dieser einzelnen Tonwahrnehmungen, die ich da über-
fliege, in ihrem jeweiligen zeitlichen Ablauf verfolge; ich setze
mich vielmehr in jeder Weise außerhalb dieses Ablaufs; d.h. ich
erwarte ihn weder, noch erinnere ich mich daran, noch verfolge
ich reflektierend den Einzelvorgang Phase für Phase. Ich nehme
ihn vielmehr als ein von vornherein fertiges stehendes Ganzes.
Ich erfasse also ausdrücklich nur das bleibend Gegenwärtige, auf
die strömende Dauer des Vorgangs lasse ich mich nicht ein.
So verhalte ich mich bei der Variation aber nicht nur gegen-
über den überflogenen Einzelheiten; auch das Gesamtergebnis
der vergleichenden Variation stelle ich auf die gleiche Weise vor
mich hin: Durch die Variation gelange ich zu einer Gegebenheit
von größtmöglicher Allgemeinheit und Geltungsnotwendigkeit.
D.h., das Wesen "Tonwahrnehmung überhaupt" gilt nicht nur
für die begrenzte Anzahl von Tonwahrnehmungen, die ich bis
heute kennengelernt habe, sondern es stimmt für alle denkbaren
Tonwahrnehmungen und muß auf jede einzelne zutreffen; es ist
also in diesem Sinne allgemein und notwendig!. Dies zeigt,
daß das Eidos nicht durch allmähliches Fortschreiten von
Wahrnehmungsakt zu Wahrnehmungsakt, durch schrittweise
Erweiterung des Vergleichsmaterials gewonnen sein kann2;
darum hieß es eben: das Ich "überfliegt" vergleichend die Ein-
zelheiten. - Indem ich das Ergebnis der Variation aufstelle,
nehme ich also den endlosen Prozeß der schrittweisen Erweiterung
des Vergleichsmaterials als ganzen vorweg; ich denke mir diesen
Prozeß mit einem Mal überschaubar. Wenn ich mich in .dieser
1 V gl. Ideen I, S. I 2; Erfahrung und Urteil, S. 409 ff.
2 Vgl. Erfahrung und Urteil, S. 412 ff.
KONSTITUTION DER ALLZEITLICHKElTEN 55

Weise auf eine stufenweise Bereicherung meines Kenntnisum-


fangs nicht einlasse, dann heißt das aber: ich löse mich von
meiner Gebundenheit an das endliche Präsenzfeld meines gegen-
wärtigen Wissens, dessen Kenntnishorizont ich nur durch un-
abschließbares Fortschreiten von Gegenwart zu Gegenwart er-
weitern kann; ich stelle mich also wiederum außerhalb der Pas-
sivität des Strömens.
Die eidetische Variation ist demnach spontan, indem sie sich
auf doppelte Weise von der Bindung ans Strömen freimachtl:
Sie sieht bei den Einzelheiten vom Strömen weg, und sie über-
fliegt es im Ganzen. Auf diese Weise gewinnt sie das Eidos als
wandellos all-gegenwärtige Ständigkeit. Aber durch ihr Weg-
sehen vom Strömen erfaßt sie die realen Einzelheiten nicht mehr
so, wie sie konkret sind; und durch ihr Vorlaufen bis ans Ende
eines unabschließbaren Prozesses thematisiert sie etwas in der
Realität Unerreichbares. Darum muß dem Eidos die konkrete
Lokalisierbarkeit im noetisch-noematischen Leben fehlen; es
kann nicht reproduziert werden und nicht in einem Zusammen-
hangshorizont von vorhergehenden und nachfolgenden Aus-
formungen meines intentionalen Lebens bewußt sein.
Damit hat sich gezeigt, daß die spontane Erfassung der All-
zeitlichkeiten eine besondere Art von Gegenwärtigung und Zei-
tigung ist; denn auch sie ist Synthesis strömender Mannigfaltig-
keit zu verharrender gegenständlicher Einheit, wobei sich der
Charakter von "Synthesis", "Strömen" und "Verharren" in
eigenartiger Weise modifiziert: Die Synthesis wird spontan, weil
auf Überwindung der Passivität des Strömens tendierend, doch
gerade im Vollzug dieser Tendenz bleibt auch sie ans Strömen
gebunden- in der Weise, daß dieses sich als Fehlen der Lokalisier-
barkeit und der Zusammenhangshorizonte auswirkt. (Irrealität)
Der prägenden stehenden Jetztform der Übergangssynthesis
aber verdanken die Allzeitlichkeiten ihre wandellose, bleibende
Ständigkeit, ihre Idealität.
Gemäß dem Ausgang der phänomenologischen Analytik bei
der Wahrnehmung als Urform intentionalen Lebens und gemäß
der Gewinnung des Wesens von Wahrnehmung am Modell der
Sinneswahrnehmung ist damit die Erfassung der Allzeitlichkeiten
als eine Abwandlung der strömend-stehenden sinnlichen Ge~
1 Vgl. Erfahrung und Urteil, S. 415
56 GEGENWÄRTIGUNG

genwärtigung verstanden. Diese spontane oder, wie Husserl auch


sagt: aktivel Abwandlung setzt daher immer intentionales Leben
in passiver Übergangssynthesis und seine Erfahrungsgehalte
voraus. Der neue Schritt spontaner Aktivität kann in größter
Verkürzung so charakterisiert werden, daß das Ich sich hier vom
Strömen zu befreien und wandellose Ständigkeit seiner Erfahrung
zu erlangen sucht. Dieser Schritt ist im Bereich passiven Wahr-
nehmungslebens insofern vorbereitet, als auch hier das Ich in
seinem verschiedenartigen Beteiligtsein an der Übergangs-
synthesis das Begegnende kraft der stehenden und bleibenden
einzigen Jetztform zusammennimmt, während das passive Ent-
gleiten jeglicher bisher bekannten Ichbeteiligung entzogen ist.
Die Spontaneität der Ideation ist also eine besondere Steigerung
des normalen ichliehen Beteiligtseins, das immer Interesse an
verharrender Gegenständlichkeit ist. Ichbeteiligung und ver-
harrende J etzthaftigkeit gehören demnach in allem Erfahren
zusammen. Warum und in welcher Weise, wird der folgende Teil
zeigen.

Anmerkungen
Zum Schluß diese& Teils der Abhandlung sei erstens angemerkt,
daß die Gegenwärtigung und Zeitigung der Phantasiegegeben-
heiten keine gesonderte Behandlung verlangte, da, wie bekannt,
~hantasiegegenstände gewöhnliche Zeitobjekte im Modus des
"als ob" sind.
Zweitens sei darauf aufmerksam gemacht, daß der Nachweis
für den Gegenwärtigungs- und Zeitigungscharakter des gesamten
welterfahrenden Lebens bisher nur in einer Abstraktion erbracht
ist. Es ist nämlich nicht gezeigt, wie mein eigenes Zeitigen sich
mit dem Fungieren der anderen Ich vereint und wie erst dadurch
die objektive Welt im vollen Wortsinne konstituiert ist. Diese
Abstraktion braucht aber für die nächsten Schritte dieser Über-
legungen nicht aufgehoben zu werden. - Anders steht es mit der
Frage, wie die mitkonstituierenden anderen Ich selbst zur inten-
tionalen Gegebenheit für mich gelangen. Zunächst möge hier der
Hinweis genügen, daß die Anderen mir primär und zwar unauf-
hebbar primär als sinnlich wahrnehmbare Gegebenheiten be-

~ V~I. Gartesiamsehe Meditationen, S. III ff,


KONSTITUTION DER ALLZEITLICHKElTEN 57

gegnenl; ihre Konstitution fällt also in dieser Hinsicht unter die


Zeitigung der Wahrnehmungswelt, die hier in Umrissen geklärt
wurde.- Die anderen Ich sind allerdings "mehr" als Wahrnehm-
barkeiten. Die Frage, wie dieses "mehr" zur Gegebenheit kommt,
wird im III. Teil erörtert, auf den daher verwiesen sei. Im
übrigen ist von vornherein einsichtig, daß die Anderen in dem,
worin sie mehr als Wahrnehmbarkeiten sind, meinem Ich ähnlich
sein müssen. Die Erörterung meines transzendental-ichliehen
Wesens steht aber noch aus. Mit dieser Erörterung muß also der
nächste Teil zunächst fortfahren.

1 V gl. Cartesianische Meditationen, § 49 ff.


II. TEIL

LEBENDIGE GEGENWART
ALS URMODUS ICHLICHER LEBENDIGKEIT
A. EINFÜHRUNG IN DEN ZWEITEN PROBLEMBEZIRK
DER UNTERSUCHUNG

I. Die Frage nach dem Ich als lebendigem Gegenwärtigungszentrum


Der I. Teil brachte einen Überblick über den genetischen Ur.:.
sprung "aller . . . Gegenständlichkeiten, -immanenter wie tran-
szendenter, idealer wie realer ... "1, wie eine vollständige Auf-
zählung der Konstitutionsweisen bei Husserl selbst lautet. Als
Grundgeschehen des welterfahrenden Lebens im Ganzen erwies
sich die Gegenwärtigung und damit Zeitigung verschiedener Stu-
fen. Auf die Ausgangsfrage der Untersuchung nach dem Ich als
Funktionszentrum seines Lebens lautet nun eine erste phäno-
menologisch erarbeitete Antwort: Die Urfunktion des transzen-
dentalen Ich ist Gegenwärtigung. In aktueller oder vermöglicher
Gegenwärtigung bestimmt sich die Seinsart von jeglicher Gegen-
ständlichkeit, die dem Ich begegnen kann.
Nunmehr kann die Frage formuliert werden: Welches ist die
Seinsart des gegenwärtigend begegnen lassenden Ich selbst? Es sei
noch einmal betont, daß ein transzendentales Ich ohne Welthabe
irgendwelcher Art phänomenologisch nicht erfahrbar ist. Nach
dem; was das Ich "vor" oder "außerhalb" seines Gegenwärtigens
wäre, kann also sinnvollerweise nicht gefragt werden. Die Frage
muß vielmehr lauten: Was ist das Ich als lebendiges Gegen-
wärtigungszentrum? Aufgrund welcher eigenen Wesensart kann
es ständig gegenwärtigen? Nach der Seinsweise des transzenden-
talen Ich fragen, heißt also: die Frage nach der Bedingung der
Möglichkeit des Gegenwärtigens stellen.
Wie bereits bekannt, darf ein Ermöglichungsgrund in der Phä-
nomenologie nicht deduktiv oder argumentativ erschlossen,
sondern nur anschaulich, d.h. in reflexiver "Wahrnehmung" auf-
gewiesen werden. Den Zugang zu einem solchen Aufweis legt die
Phänomenologie durch Einklammerung verdeckender, naiv voll-
1 Cartesianische Meditationen, S. 109
62 LEBENDIGE GEGENWART

zogener Vorurteile frei. Das bedeutet : Wenn die phänomeno-


logische Frage nach dem aufweisbaren Ermöglichungsgrund des
Gegenwärtigens angemessen gestellt werden soll, müssen gewisse
Vorurteile in der bisherigen Darstellung des gegenwärtigend-
zeitigend-welterfahrenden Lebens aufgedeckt und außer Ge-
brauch gesetzt werden. Ein solches Vorurteil, wie es hier gesucht
wird, ist keine persönliche Befangenheit des Philosophierenden,
sondern eine normalerweise ganz zu Recht und unbefragt geltende
Vormeinung über das, was etwas ist. - Hat die bisherige Dar-
stellung auf einem solchen scheinbar selbstverständlichen Wissen
davon, was das gegenwärtigend-welterfahrende Leben ist, auf-
gebaut? Es hieß: Das intentionale Leben erfährt sich selbst in
phänomenologischer Reflexion. Ineins mit dem Immerwieder
seines Reflektierenkönnens entdeckt das Ich den Prozeßcharakter
seines Lebens: Nur weil alle Noesen verströmen und ihre Stelle
in der "immanenten" Zeit erhalten, kann das Ich auf diese nach-
gewahrend zurückkommen. Indem die beginnende Phänomeno-
logie das noetisch-noematische Leben zum universalen Gegen-
stand ihrer Reflexion macht, setzt sie demnach notwendig den
zeitlichen Prozeßcharakter dieses Lebens voraus; sie macht von
vornherein von der Vorstellung Gebrauch, dieses Leben sei ein
"Bewußtseins-" oder "Erlebnisstrom", besser: ein Strom von
Noesen, die in einer "immanenten" Zeit lokalisierbar sind. Das
heißt: Die Reflexion auf das welterfahrende Fungieren war von
dem geläufigen Horizontbewußtsein geleitet, daß sich eine Zeit-
stellenabfolge in die Vergangenheit und Zukunft hinein erstreckt,
-einem Bewußtsein, das aber bei der Analyse der Tonwahrneh-
mung, also innerhalb der noematischen Problematik, schon aus-
drücklich außer Geltung gesetzt wurde.
Die nächste Aufgabe der Untersuchung besteht demnach in
einer vertieften Epoche: der Vergangenheits- und Zukunfts-
horizont des welterfahrenden Lebens muß phänomenologisch
eingeklammert werden. Die transzendentale Selbstbesinnung, als
die das phänomenologische Vorgehen im Ganzen schon charak-
terisiert worden war, muß gleichsam auf den Kern meines "ich
bin", will sagen: "ich fungiere" oder "ich gegenwärtige" kon-
zentriert werden.
EINFÜHRUNG 63

2. Grundbegriffe zur Lehre von der lebendigen Gegenwart


Was "bleibt" nach dieser radikalisierten Reduktion noch
als Gegenstand der Reflexion? Als was finde ich mich, wenn ich
von der Vorstellung eines ichliehen Lebensprozesses radikal kei-
nen Gebrauch mache? Offenbar gibt es für das gesuchte "reine
Da" meines Fungierens keinen anderen Namen als "Gegenwart".
Wenn ich mein Auftreten als Gegenwärtigungszentrum charak-
terisieren will, wie es für mich in der Reflexion unmittelbar
"selbst da" ist, muß ich es als "Gegenwart" bezeichnen, - aller-
dings, wie sogleich hinzuzufügen ist, als Gegenwart ganz neuartigen
Sinnes; denn diese Gegenwart des fungierenden Ich darf nicht als
eine Zeitstelle verstanden werden: die Vorstellung einer Abfolge
von Zeitstellen ist ja mit der radikalisierten Reduktion, durch die
Epoche des Lebensstromes endgültig in Klammern gesetzt. Im
Unterschied zu Zeitstellengegenwarten heißt die Gegenwart des
fungierenden Ich selbst in den späten Manuskripten Husserls
daher urtümliche, urmodale oder vor-zeitliche Gegen-
wart. Sie ist nicht eine unter anderen in einer Reihe sich ab-
lösender Phasen: sie kommt nicht und sie geht nicht, sondern sie
ist das bleibende, verharrende "Da" meines Gegenwärtigens
selbst. Sie ist die stehende Präsenz meines Präsentierens selbst.
Andererseits darf diese Ständig~eit nicht als die Starre einer
"überzeitlichen" Substanz angesehen werden, deren Zeitbezug
im Grunde unbegreiflich bliebe. Das gegenwärtigend gegen-
wärtige Ich ist vielmehr gerade in seiner Ständigkeit Zentrum
seines welterfahrenden Lebens. Seine stehende Gegenwart muß
in diesem Sinne als lebendige verstanden werden; das Ich hat
sich als Funktionszentrum seiner mannigfachen Akte und pas-
siven Affektionen immer schon so sehr auf begegnende Zeitlich-
keiten eingelassen, daß es selbst- in seiner vollen Konkretion
genommen- auch als mitströmendes in den jeweiligen Aus-
formungen seines Lebens auftritt: Wenn es auf sich selbst in
radikaler Weise reflektiert, erfährt es sich auch und ineins mit
dieser Ständigkeit als strömend. Von diesem Strömen des fun-
gierenden Ich selbst macht ja die Reflexion, - auch die auf die
Ständigkeit der Funktionsgegenwart -, immer schon Gebrauch;
denn Reflektieren heißt mich-zurückwenden, einen Abstand zu
mir selbst als gerade strömend entstehenden oder längst im
Strömen entstandenen nachgewahrend überbrücken.
64 LEBENDIGE GEGENWART

Weil das Ich in seiner urtümlichen Gegenwart stehend-strö-


mendes ist, darum ist es offenbar auch imstande, alle Gegen-
ständlichkeit als strömende begegnen zu lassen und sie zugleich
in der Ständigkeit der stehenden Jetztform zu synthetisieren.
Die Lebendigkeit des Gegenwärtigens hat also, wie noch näher
zu erörtern ist, ihren Grund in der Lebendigkeit der Funktions-
gegenwart. Die Frage, was die lebendige Gegenwart des ich-
liehen Funktionszentrums ist, rückt daher in den Mittelpunkt der
folgenden Überlegungen.
Darin liegt eine weitere Aufgabe. Ähnlich wie die früher be-
handelte Reduktion auf die lebendige Wahrnehmungsgegenwart
von den eingeklainmerten Zeithorizonten nicht einfach wegsah,
sondern sie gerade aus ihrer intentionalen Innenansicht heraus
verständlich machte, indem sie die Urkonstitution des weltlich-
Transzendenten aufklärte und die Urstiftung des Zeithorizontes
begründete, - ebenso wird die Reflexion auf die lebendige Gegen-
wart die Urkonstitution von Zeitstellengegenwart, Vergangen.,.
heit und Zukunft des welterfahrenden Lebens selbst ans Licht
bringen müssen. Die Aufgabe dieser Reflexion deckt sich
also mit dem Problem, das im I. Teil stehen geblieben war:
Wie vollzieht sich die Zeitigung der Noesen zu immanenten
Gegenständen? Auch sie müssen ihre zeitliche Lokalisierbarkeit
dem wirklichen oder vermöglichen Durchgang durch die ur-
passive Übergangssynthese einer Gegenwärtigung verdanken.
Nach der Weltgegenwärtigung und -zeitigung und der Konsti-
tution der Allzeitlichkeiten wird damit also die Selbstgegenwär-
tigung und Selbstzeitigung des fungierenden Ich zu einem "Be-
wußtseinsstrom" Thema, - wie Husserl sagt: "die urnoetische
Konstitution eines Lebensstromes ... "1, "welcher als Strom im
urphänomenalen2 Strömendsein der urmodalen stehenden Ge-
genwart sich konstituiert ... "3- Die Selbstgegenwärtigung findet
aber in der lebendigen Ichgegenwart statt, die durch radikali-
sierte Reduktion zum Gegenstand der phänomenologischen Re-
flexion wurde. Das Wesen dieser radikalisierten Reduktion wurde
ebenso wie das der lebendigen Gegenwart erst einführend skiz-
ziert. Daraus ergeben sich die nächsten Aufgaben und Themen

1 Ms. C :rs, S. 4 (ohne Datierung)


s dieser Begriff klärt sich sofort im Folgenden
s Ms. C :rs, S. 4 (ohne Datierung)
EINFÜHRUNG 65
der Abhandlung:
I. Die radikalisierte Reduktion
2. Die Selbstgegenwärtigung und damit Selbstzeitigung des Ich
in der lebendigen Gegenwart
3· Das Wesen der lebendigen Gegenwart selbst.
B. DIE RADIKALISIERTE REDUKTION

I. Die Reduktion als Selbstkorrektur der Phänomenologie


Den Schritt der radikalisierten Reduktion beschreibt Husserl
an einer charakteristischen Nachlaßstelle folgendermaßen:
". . . ich muß die phänomenologische Reduktion nicht ab-
schließen damit, daß ich die Welt einklammere und darin mein
raumzeitliches. reales Menschsein in der Welt ... , sondern, auf
mich als transzendentales Ich und transzendental~s Leisten, also
transzendentales Leben zurückgeworfen, muß ich an diesem
selbst transzendentale Reduktion üben, nämlich alle meine mir
naiv auferlegten Apperzeptionen einklammern, die selbst schon
fundierte Leistungen sind. (Das naiv gewonnene transzendentale
Ich muß selbst wieder einer transzendentalen Reduktion unter-
worfen werden.) Eine fundierte intentionale Leistung ist aber das
universale Bewußtseinsleben bzw. Bewußtseins-Ich, das durch
eine transzendental-immanente Zeit sich als ,Bewußtseinsstrom'
hindurchzieht"l.
An anderer Stelle heißt es ebenso eindeutig: "Die Reduktion
auf die lebendige Gegenwart ist die radikalisierte Reduktion auf
diejenige Subjektivität, in der alles mir-Gelten ursprünglich sich
vollzieht, in der aller Seinssinn für mich Sinn ist als mir erlebnis-
mäßig bewußter, geltender Sinn"2.- Die Vertiefung der Reduk-
tion durch Einklammerung der transzendental-ichliehen Ver-
gangenheit und Zukunft kann auch als eine Selbstkorrektur der
phänomenologischen Reflexion bezeichnet werden. An diese
Charakteristik knüpfen sich zwei Fragen:
r. Warum muß es die Phänomenologie überhaupt erst zu einer
korrekturbedürftigen Auffassung von der Seinsweise des Ich und
seines Lebens kommen lassen, - wenn sie diese hinterher doch
1 Ms. C 2 I, S. u (1931)
2 Ms. C 3 I, S. 3 (1930)
RADIKALISIERTE REDUKTION 67

überholt? - Auf diese Frage ist zu antworten, daß die Selbst-


korrektur keinen Tadel an einem vermeidbaren "Fehler" der
bisherigen Überlegungen darstellt. Die Vorstellung von einem
noetischen Lebensstrom war eine Notwendigkeit, weil die Re-
flexion gemäß ihrem ersten Ansatz das eigene intentionale Leben
nur als Prozeß entdecken konnte; denn sie mußte als nach-
gewahrendes Zurückkommen-auf . . . und entsprechend dem
phänomenologischen Leitbild von Ferne und Nähe den Unter-
schied von Gegenwärtigung und Vergegenwärtigung machen. Die
nunmehr aufgedeckte "Naivität" einer unbesehenen Bezugnahme
auf den Vergangenheits- und Zukunftshorizont des intentionalen
Lebens war also unvermeidlich.
2. Damit stellt sich die zweite Frage: Warum ist die Vor-
stellung von einem intentionalen Lebensprozeß überhaupt eine
,,Naivität"? Wieso muß sie neuerdings "gerechtfertigt" werden?
- Hier lautet die Antwort: Weil der noetische Strom noch etwas
Konstituiertes ist, hinter das zurückgefragt werden kann nach
dem Konstituierenden. - Anders gewendet: Alle "Erfahrung" in
jenem weitesten Sinne des Wortes (Intentionalhabe) spielt sich
im noetischen Leben ab; die Noesen sind die Funktionsweisen, in
denen das Ich Noemen begegnen läßt. Durch die Analyse der
noetisch-noematischen Strukturen soll die "Bedingung der
Möglichkeit" aller Erfahrung aufgedeckt werden. Aber das
noetisch-noematische Leben hat selbst noch eine ichliehe "Be-
dingung seiner Möglichkeit", von der her es verstanden werden
muß: die stehend-strömende Gegenwart des Ich, das in allen
noetisch-noematischen Vollzügen fungiert. Die Radikalisierung
der Reduktion ist also notwenQ.ig, damit der letzte Ermögli-
chungsgrund von Erfahrung überhaupt zum Vorschein kommt.
In diesem Sinne sagt Husserl: "Betrachten wir dieses transzen-
dentale Leben selbst, dieses transzendentale Ego, oder betrachte
ich mich, als wie ich allen meinen Vorurteilen, allem für-mich-
Seienden, voranzusetzen bin, eben als Urbedingung für
ihren Seinssinn, so finde ich mich als strömende Gegen-
wart"1.
Weil sich die Rückfrage nach dem letzten genetischen Er-
möglichungsgrund aller Erfahrung mit der Frage nach dem Ich
in der Urform seines Fungierens oder, wie Husserl sagt, dem
1 Ms. C 3 III, S. Io (I93I)
68 LEBENDIGE GEGENWART

letztfungierenden Ich deckt, darum kann die Radikalisierung


der Reflexion auch charakterisiert werden als "Reduktion auf
reine Selbstwahrnehmung; durch sie reduziert sich das Erkennt-
nisziel des reinen Selbst auf meine reine Selbstgegenwart, meine
urtümlich strömende lebendige Gegenwart"!.
Wenn diese Gegenwart der genetische Anfangsgrund alles
welterfahrenden Fungierensund zugleich der Urmodus ichliehen
Seins ist, dann ist damit auch gesagt, daß ihre Analyse ein End-
ziel phänomenologischen Vordringens in die normalerweise ano-
nymen Strukturen des welterfahrenden Lebens ist. Dann ist das,
was mit der "lebendigen Gegenwart" vor den Blick der phäno-
menologischen Reflexion gelangt, ein Letzterreichbares, über
das hinaus keine sinnvollen reflexiven Aussagen mehr gemacht
werden können. Husserl nennt daher die lebendige Gegenwart
ein Urphänomen und bestimmt dieses "als die konkrete Ur-
wirklichkeit der Phänomenologie, auf die alle transzendentale
Selbstverständigung in ihrer unendlich aufsteigenden Auslegungs-
arbeit zurückgehen muß"2.

2. Die Radikalisierung der "absoluten Erfahrung"


Die Thematisierung dieses Urphänomens entspricht außerdem
einer weiteren Grundabsicht der phänomenologischen Reflexion.
-Diese versteht sich als eine denkende "Wahrnehmung". Von
der Wahrnehmung weltlicher Transzendenzen unterscheidet sie
sich, sofern sie Erfahrung von Absolutem ist und von daher auch
"absolute Erfahrung" genannt werden kann. Was heißt
dies? -Weltlich Transzendentes gibt es nur für-mich: es ist in
diesem Sinne Bewußtseins-relativ. Das "Bewußtsein", besser:
das fungierende Leben ist seinerseits nicht in diesem Sinne
relativ, sondern der "absolute" Grund für alles begegnende
Transzendente, sofern ohne es keine intentionale Erfahrung ge-
macht werden kann. Dies ist die Hauptbedeutung des Begriffes
"absolut" bei Husserl. Auf die Nebenbedeutungen kann hier
nicht eingegangen werden3. Es sei nur bemerkt, daß "absolut"
als Prädikat des transzendentalen Ich und Lebens bei Husserl

Ms. C 7 II, S. 5 (1932)


1
2 Ms. B III 9, S. 9 (1931)
s Genaueres vgl. R. Boehm, "Zum Begriff des Absoluten bei Husserl", in: Zeit-
schrift f. pkilos. Forschung Bd. 13, 2, 1959
RADIKALISIERTE REDUKTION 69

nicht denn Sinn des "Göttlichen" hatl. Gott wird m "total


anderem Sinne"2 "absolut" genannt, wie Husserl in den
Ideen I ausdrücklich bemerkt hat3. In diesem Werk heißt es
an anderer Stelle: "Das transzendentale "Absolute", das wir
uns durch die Reduktionen <gemeint sind die eidetische und die
transzendentalphänomenologische> herauspräpariert haben, ist
in Wahrheit nicht das Letzte, es ist etwas, das sich selbst in einem
gewissen tiefliegenden und völlig eigenartigen Sinne konstituiert
und seine Urquelle in einem letzten und wahrhaft Absoluten
hat"4. R. Boehm versteht diese Stelle so, als sei mit diesem
"letzten und wahrhaft Absoluten" das "Absolute in total an-
derem Sinne", also Gott, gemeint5. Es scheint mir jedoch unzwei-
felhaft, daß dies nicht die Bedeutung der Stelle sein kann. Boehm
weist selbst darauf hin, daß die Sätze Husserls in unmittelbarem
Zusammenhang mit Ausführungen über das Zeitproblem stehen.
Der unmittelbar vorhergehende und nachfolgende Text lautet:
"Zeit ist übrigens, wie aus den später nachfolgenden Unter-
suchungen <die nie erschienen sind> hervorgehen wird, ein Titel
für eine völlig abgeschlossene Problemsphäre und eine
solche von ausnehmender Schwierigkeit. Es wird sich zeigen, daß
unsere bisherige Darstellung gewissermaßen eine ganze Dimension
verschwiegen hat und verschweigen mußte, um unverwirrt zu er-
halten, was zunächst allein in phänomenologischer Einstellung
sichtig ist, und was unangesehen der neuen Dimension ein ge-
schlossenes Untersuchungsgebiet ausmacht". Es folgt das Zitat.
Danach:
"Zum Glück können wir die Rätsel des Zeitbewußtseins in un-
seren vorbereitenden Analysen außer Spiel lassen, ohne ihre
Strenge zu gefährden ... "6
Husserl macht damit klar, daß sich die Erörterungen der
Ideen I (ebenso übrigens wie die seiner anderen veröffent-
lichten Werke) ausschließlich auf der Frage-Ebene des schon
"immanent" zeitlich erstreckten Bewußtseinsstromes halten.
1 Wie Diemer doch wohl etwas voreilig behauptet; vgl. in ders. Zeitschriften-
nummer sein Aufsatz: "Die Phänomenologie und die Idee der Philosophie als strenge
Wissenschaft", S. 253
2 Ideen I, S. 139
3 Vgl. ebendort
4 Ideen I, S. 198
5 Vgl. Boehm a.a.O., S. 239
6 Ideen I, S. 198 f.
70 LEBENDIGE GEGENWART

Daß dieser Lebensstrom als zeitlich extendierter seinerseits noch


einmal in lebendiger Gegenwart gezeitigt ist, wird aus Gründen
methodischer Einfachheit nicht in die ausführliche Analyse mit-
einbezogen. Diese neuerliche Zeitigung bedeutet aber: Ähnlich
wie das weltlich Transzendente relativ auf das absolute fun-
gierende Ich-Leben war, ist nun dieses Leben selbst noch einmal
relativ auf die letztfungierende lebendige Gegenwart; und darum
ist erst diese ,.das letzte und wahrhaft Absolute".
Der Wortlaut der Stelle bestätigt diese Interpretation: Weil
das absolute transzendentale Ich als Sein in lebendiger Gegen-
wart sich selbst zum ,.immanent" zeitlichen Lebensstrom zeitigt,
darum kann Husserl von ihm sagen: ,.es ist etwas, das sich
selbst ... konstituiert". Dielebendige Ichgegenwartist außerdem
in der Tat das ,.Letzte", - das Urphänomen nämlich, bei dem die
Reduktion endet. - Mit dem ,.letzten und wahrhaft Absoluten"
ist also nichts anderes als das schon bekannte phänomenologische
Absolute: das transzendentale Ich, gemeint, - nur diesmal in
der Urform seines Auftretens als lebendige Gegenwart, oder, wie
es hier heißt, als ,.Urquelle" aller Intentionalhabe. - Das Bild
von der ,.Quelle" findet sich im übrigen häufig bei Husserl im
Zusammenhang mit Aussagen über das absolute Ich der leben-
digen Gegenwart. -Als letztes sich der Reflexion Darbietendes
heißt es, wie bereits bekannt, ,.Urphänomen": eine charakteri-
stische Stelle spricht von diesem,. ,Urphänomen', in dem alles, was
sonst Phänomen heißen mag, in welchem Sinne immer, seine
Quelle hat. Es ist die stehende-strömende Selbstgegenwart bzw.
das sich selbst strömend gegenwärtige absolute I eh <! >in seinem
stehend-strömenden Leben ... "1 (Eine ganz andere Frage ist
im übrigen das Problem, ob und wie die lebendige Ichgegenwart
auf Gott, das ,.Absolute total anderen Sinnes", verweist. Vgl.
dazu das Schlußkapitel dieser Abhandlung!)
Damit hat sich nun ergeben, daß sich durch die radikalisierte
Reduktion die Grundabsicht der phänomenologischen Reflexion,
,.absolute Erfahrung" zu sein, erfüllt oder zumindest erfüllen soll.
Die lebendige Ichgegenwart "verbleibt ... , als eine aller Weltlich-
keit entnommeneabsolute Setzbarkeit übrig, als strömend seiende
Gegenwart, als der absolute Boden aller meiner Geltungen ... "2.
1 Ms. C 7 II, S. 12 (1932)
2 Ms. C 3 111, S. 9
RADIKALISIERTE REDUKTION 71

3. Die radikalisierte Reduktion und die Herstellung von A podiktizi-


tät und adäquater Evidenz
Die Bedeutung der radikalisierten Reduktion sei abschließend
in einer weiteren Hinsicht erläutert: die reflexive Wahrnehmung
steht unter der Maxime "zu den Sachen selbst", der sie auf
"wissenschaftliche" Weise entsprechen will. Sie tendiert daher
erstens auf intentionale Selbsterfassung, auf ein Bewußtsein vom
unmittelbar-anschaulichen Selbst-da des Gewußten. Wenn die
Reflexion zu dieser Erfüllung ihres Wahrnehmungswesens ge-
langt, heißt sie adäquatl. Adäquat Gegebenes ist im Modus der
Zweifellosigkeit präsent; seine Gegebenheitsweise ist darum die
Evidenz. Diese schließt nicht aus, daß das adäquat Gegebene
sich irgendwann einmal nicht mehr in so unverhüllter Nähe zeigt.
(Wie dies etwa beim Wechsel von Gegenwärtigung zu Vergegen-
wärtigung der Fall ist.) Die phänomenologische Reflexion ver-
sucht darum- zweitens- als "wissenschaftliches" Streben über
die Adäquation hinaus zu beständigen und wandellosen Ein-
sichten zu gelangen, d.h. zu Gewißheiten, zu deren Gegebenheits-
weise es gehört, niemals mehr zweifelhaft werden zu können.
Solche Einsichten nennt Husserl in den Cartesianischen Medi-
tationen apodiktisch. Diese Unterscheidung von "adäquat"
und "apodiktisch" ist eine Besonderheit der Cartesianischen
Meditationen. Sie ist sonst zumeist nicht anzutreffen 2 • Die
terminologischen Schwankungen Husserls sind aber unwich-
tig gegenüber der gemeinten Sache. Und darin trifft die Er-
klärung in den Cartesianischen Meditationen einen we-
sentlichen Unterschied. Es ist etwas ganz anderes, ob ein
Gewußtes sich zeitweilig in seinem "selbst da" zeigt oder ob es
bewußt ist im Modus: "dies kann nicht anders sein". Dieses
"kann nicht" darf phänomenologisch nicht als geheimnisvoller
Notwendigkeitskoeffizient verstanden werden, sondern nur als
unveränderliches Bleiben eines Eingesehenen. Evidenz ist phä-
nomenologisch immer Selbstgebung, aber entweder wandelbare
oder wandellos bleibende. Das Evidenzbewußtsein der adäquaten
1 Zum Ganzen vgl. Cartesianische Meditationen, S. 56 ff.
2 Im Vorlesungstext von Erste Philosophie, Zweiter TeilS. 35, wird Apodiktizität
als Bewußtsein von der adäquaten Evidenz aufgefaßt. Der Tenor der Erwägungen in
den Beilagen dagegen dürfte sich mit der Unterscheidung der Cartesianischen Medi-
tationen decken, wie sie hier verstanden wurde. Vgl. Erste Philosophie, Zweiter Teil,
s. 363 ff., s. 396 ff.
72 LEBENDIGE GEGENWART

Selbsterfassung unterscheidet sich mithin darum von der Apo-


diktizität, weil sein Gewußtes wieder zweifelhaft werden kann,
d.h. weil es dem zeitlichen Wandel unterworfen ist. Dies meinen
die Sätze Husserls: "Kein zeitliches Sein ist in Apodiktizität
erkennbar"!. Und: "Eine apodiktische Erkenntnis <ist>
vollkommen wiederholbar, in identischer Gültigkeit. Was einmal
apodiktisch evident ist, ergibt nicht nur mögliche Wiedererin-
nerung, diese Evidenz gehabt zu haben, sondern Notwendigkeit
der Geltung auch für jetzt und für immer: Endgültigkeit" 2 .
Notwendigkeit besagt Endgültigkeit.
Die phänomenologische Reflexion strebt als denkende Wahr-
nehmung nach selbstgebender Anschauung, nach Adäquation-
als "wissenschaftliche" Bemühung nach wandellos bleibendem,
endgültig gesichertem Wissen, nach Apodiktizität. "Erkenntnis,
und insbesondere wissenschaftliche Erkenntnis, wäre absolut be-
friedigt, wenn und soweit sie absolute Endgültigkeit in der Apo-
diktizität unter gleichzeitiger Adäquation an einen apodiktischen
Gehalt erzielte"3.
Wie weit lassen sich diese Ziele - einmal in der Reflexion auf
das Ich des transzendentalen Lebensstromes, zum anderen in der
radikalisierten Reduktion auf das Ich der lebendigen Gegenwart-
erreichen? Die erste Art von Selbsterfahrung richtet sich auf ein
"zeitliches Sein". Sie kann daher nicht zu apodiktischen Aussagen
gelangen. Aber auch die Möglichkeiten der Adäquation sind be-
grenzt. Zweifellos und adäquat gegeben ist mir nur mein augen-
blickliches "ich bin"4, d.h. meine Gegenwart im Sinne der ak-
tuellen Jetztphase, "während darüber hinaus nur ein unbestimmt
allgemeiner, präsumtiver Horizont reicht, ein Horizont von
eigentlich Nicht-Erfahrenem, aber notwendig Mitgemeintem"5.
Das transzendentale Ich kann sich über seine Vergangenheit und
Zukunft täuschen. Außerdem ist auch die jetzt adäquat gegebene
Gegenwart strömend vergehend und daher in den dunklen Ver-
gangenheitshorizont absinkend. - Von dieser nur zeitweilig adä-
quat gegebenen Gegenwart ist nun mein "ich bin", "ich fungiere"
im Sinne des Seins als lebendige Gegenwart zu unterscheiden;
1 Erste Philosophie, Zweiter Teil S. 398
2 a.a.O., S. 380
3 a.a.O., S. 398
4 Vgl. Cartesianische Meditationen, S. 6z
5 ebendort
RADIKALISIERTE REDUKTION 73

diese ist das ständige "Da", die Lebendigkeit meines Lebens


überhaupt. Als diese bleibende Präsenz meines Präsentierens
ist sie in aller höherstufigen Selbsterfahrung immer schon voraus-
gesetzt; es kann garnicht anders sein, als daß ich in allmeinem
Fungieren mich als stehendes und verharrendes Zentrum finde.
Diese "notwendige" Ständigkeit deutet darauf hin, daß, wenn
überhaupt etwas in der transzendentalen Selbsterfahrung, dann
das letztfungierende Ich der ständigen lebendigen Gegenwart in
apodiktischer Evidenz gegeben ist. Die radikalisierte Reduktion
entspricht also auch in dieser Hinsicht einer letzten Absicht der
phänomenologischen Reflexion.
Nun ist aber hinzuzufügen, daß die apodiktische Evidenz der
ständigen Funktionsgegenwart keineswegs so auf der Hand liegt,
wie es gerade schien. Wie nämlich ist diese Ständigkeit, näher be-
sehen, in der Reflexion gegeben? Sie ist bewußt als Horizont eines
unendlich wiederholbaren "ich kann": ich kann jederzeit und im-
mer wieder auf mich in meinem "Ich fungiere" reflektieren;
-doch wenn ich mich in dieser Art als Gegenstand meiner iterier-
baren Reflexionen ins Auge fasse, verstehe ich mich schon als
Zeitobjekt; denn das Immerwieder des Reflektierenkönnens
meint nichts anderes, als daß ich mich an jeder möglichen Zeit-
stelle meines Lebensstromes antreffen werde. Meine Ständigkeit
erweist sich damit als zeitliches V er harren über eine Dauer
von Zeitstellengegenwarten, mithin als eine zeitliche Gegeben-
heit,- und eine solche kann nicht apodiktisch erkennbar sein.
Andererseits aber ist zu bedenken, daß die Ständigkeit der
lebendigen Gegenwart, dem Sinn der radikalisierten Reduktion
gemäß, mehr sein sollte als mein Verharren von Zeitstellenjetzt
zu Zeitstellenjetzt. Die lebendige Gegenwart wurde ja durch Ein-
klammerung der in die ichliehe Vergangenheit und Zukunft hin-
einreichenden Zeitstellenabfolge gewonnen; sie enthüllte sich auf
diese Weise als das einfache und vor-zeitliche "da" meiner Leben-
digkeit überhaupt. Wenn ich auf dieses "ich bin da" reflektiere, -
so wurde allerdings ebenfalls bemerkt -, ist das "ich bin" auch
als mitströmend mit der gerade vollzogenen N oese erfahrbar. Das
heißt, es erscheint, so gesehen, auch als eine strömende Phase
meines Lebens zwischen Vergangenheit und Zukunft. Es ergibt
sich also der merkwürdige Sachverhalt, daß das reflexiv gesehene
"Ich fungiere" zugleich und ineins als stehendes und als strömen-
74 LEBENDIGE GEGENWART

des gegeben ist. Als strömendes aber ist es in sich übergängig in


reflexiv erfaßbare Zeitstellengegenwart. Die Funktionsgegenwart
erweist sich als ein Stehen, aber ein Stehen-im-Wandel; sie steht
gleichsam in sich auf dem Sprung, Zeitphase zu werden und
darum in weiterer Folge auch als solche reflexiv erfahrbar zu
werden.
Demnach liegt es in der strömenden Natur der vor-zeitlichen
Ständigkeit selbst, im Immerwieder der Reflexionen als zeitlich
verharrende an jeder Zeitstelle meines Lebens begegnen zu kön-
nen. Und demnach schließt diese Iterierbarkeit der Reflexionen
die Apodiktizität der Einsicht in die Ständigkeit nicht aus; denn
im Immerwieder des Reflektierenkönnens kommt nur ein Wesens-
zug dieser Ständigkeit selbst zum Vorschein: nämlich das Merk-
würdige, daß das letztfungierende Ich als stehendes strömend ist
und darum in weiterer Folge an einer Zeitstelle antreffbar wird.
Die unendliche Iterierbarkeit der Reflexionen entkräftet die Ein-
sicht in die Ständigkeit der lebendigen Gegenwart keineswegs,
sondern vermehrt sogar den Inhalt dieser apodiktischen Er-
fahrung um die Erkenntnis, daß das letztfungierende zeitigende
Ich immer auch gezeitigtes ist, weil es in seiner Ständigkeit
strömt. Husserl bezeichnet es daher an einer von ihm selbst offen-
bar für sehr wichtig gehaltenen Nachlaßstelle als "eine Grund-
erkenntnis und eine erste der Phänomenologie, daß im Ich-
bin der phänomenologischen Reduktion mein Sein
apodiktisch erfahren ist, aber so, daß ich die Kon-
kretion dieses Seins auslegend den Gang einer itera-
tiven Reflexion durchschreiten muß und mein Sein
vorfinde als Identisches einer iterativ und in der
Iteration sich doch alleinheitlich verknüpfenden
Selbstzeitigung, in der Zeitigendes (das stehende letzt-
fungierende Ich> selbst nur ist als gezeitigtes"l.
Mit dieser Klärung hat sich allerdings das, was zuerst mit
Apodiktizität gemeint war, verschoben. Während zunächst
Apodiktizität im Anschluß an die programmatische Erklärung der
Cartesianischen Meditationen als wandelloses Stehen und Bleiben
des Erfahrbaren und daher als endgültig gesicherter Erkenntnis-
besitz angesetzt wurde, ist mit dieser Klärung das durch die pro-
grammatische Erklärung ausgeschlossene Strömen und die Zeit-
1 Ms. C 3 II, S. 7 (1930)
RADIKALISIERTE REDUKTION 75
lichkeit mit in den Erfahrungsbereich der Apodiktizität hinein-
genommen.- Es wird sich noch in diesem Teil der Untersuchung
zeigen, daß Husserl die Konsequenz dieses Gedankens nicht
überall durchgehalten hat, sondern im Versuch, die Ständigkeit
als die Zeitlosigkeit eines nunc stans zu denken, die radikalste
Erfahrung vom transzendentalen Ich aus der Gebundenheit ans
Strömen befreien wollte. Die Grundtendenz seines Denkens geht
aber im Sinne des angeführten Zitats dahin, die Ständigkeit als
in sich strömende zu denken. Ob allerdings die Erkenntnis der
ursprünglichen Einheit von Stehen und Strömen in der leben-
digen Gegenwart überhaupt noch in irgendeinem Sinne apodik-
tisch genannt werden kann, - diese Frage wird im III. Teil der
Abhandlung zur Sprache kommen.
Es kann hier schon folgendes angemerkt werden. Wenn aus
dem Wesen der Ständigkeit der lebendigen Gegenwart heraus
verstanden werden kann, " . .. daß mein apodiktisches ,ich
bin' die Wesensform des Strömens hat"l, dann wird
damit auch in letzter Analyse einsichtig, warum das transzenden-
tale Ich der lebendigen Gegenwart sich zu einem Lebensstrom
zeitigen kann und muß. Diese Aufklärung wiederum würde ver-
ständlich machen, warum - und in welchen Grenzen - es von
diesem Lebensstrom überhaupt nur "zeitbedingte", d.h. adä-
quate, und niemals apodiktische reflexive Evidenz geben kann.
Die Einsicht in die Möglichkeit der Wesenseinheit von Stehen
und Strömen in der lebendigen Gegenwart wäre also geeignet,
Möglichkeiten und Grenzen der Reflexion auf den intentionalen
Lebensstrom kritisch zu bestimmen. Die schon erwähnte vor-
läufige Naivität dieser Reflexion wäre damit beseitigt durch eine
endgültige und radikale "Kritik der phänomenologischen Evi-
denz"2, eine apodiktische "Kritik der transzendental-phäno-
menologischen Erkenntnis"3, wie sie Husserl häufig gefordert hat.
Ob allerdings diese Kritik apodiktisch sein kann, wird sich bei
der Erörterung von Stehen und Strömen der lebendigen Gegen-
wart als fraglich erweisen, da die Einheit von Stehen und Strö-
men im letztfungierenden Ich sich als eine "Gegebenheit" ganz
eigener Art herausstellen wird.

1 Ms. E III 9, S. 14 (1933)


2 Ms. B I 5 XIV, S. 10 (1922 oder 1923)
s Cartesianische Meditationen, S. 178
76 LEBENDIGE GEGENWART

Th. Seebohm in seiner Abhandlung über Die Bedingungen der


Möglichkeit der Transzendental-Philosophie vertritt die Ansicht,
daß die geforderte apodiktische Kritik mit dem eben entwickelten
Gedankengang im Wesentlichen geleistet istl: Nach seiner Dar-
stellung beweist die unendliche Iterierbarkeit transzendentaler
Selbstreflexionen nicht die Bodenlosigkeit der Phänomenologie,
(weil sie, wie es zunächst scheint, zu einem unendlichen Regreß
in der Rückfrage nach dem letztfungierenden transzendentalen
Ich führte), sondern eben diese Iterierbarkeit ist gerade als der
Erweis für das urphänomenale Strömen des transzendentalen Ich
anzusehen. Mit dieser Einsicht in die Zeitlichkeit und irreins
damit Reflektierbarkeit und Objektivierbarkeit der transzenden-
talen Subjektivität ist die Phänomenologie nach Seebohm zu
ihrer kritisch-apodiktischen Letztbegründung gelangt2; denn
wenn somit das zeitigend-fungierende Ich immer nur als bereits
gezeitigt, objektiviert in der Reflexion erblickt werden kann,
dann zielt eine weitergehende Frage nach dem "zeitigenden Ich
selbst", nach dem Fungieren "vor" der Verzeitigung evidenter-
maßen ins Leere. "Durch die Transzendentalphilosophie kann
lediglich die formale Struktur des Verfließens, durch die das Ab-
solute <= die transzendentale Subjektivität> sich selbst einer
Objektivation zugänglich macht, einer Analyse unterworfen
werden"s. Warum aber das fungierende Absolute sich dieser
Objektivation zugänglich macht, das kann nach Seebohm sinn-
voll nicht gefragt werden; denn "die Subjektivität wird sich ...
zum Gegenstand nur, sofern sie sich selbst vorgegeben ist, und
als solche ist sie nicht mehr Subjektivität im Fungieren"4.
Jeglieher Versuch einer Auslegung der Seinsweise des letzt-
fungierenden Ich muß daher als "bloße Mystik"5 enden, weil
"das Absolute, das nunc stans der cogitationes, ... jeder Ob-
jektivation vorgeordnet"6 bleibt. Hierzu ist zunächst zu sagen:
Mag auch vorläufig jeder Weg zu Aussagen "über "das letzt-
fungierende Ich der lebendigen Gegenwart abgeschnitten sein, so
scheint doch zumindest auch aus Seebohms Erwägungen hervor-
1 Vgl. Thomas Seebohm, Die Bedingungen der Möglichkeit der Transzendental·
Philosophie, Bonn 1962, bes. Kap. VII: Die Kritik der Kritik, S. 105 ff.
s Vgl. a.a.O., S. 127-129, S. 138
3 a.a.O., S. I6I
4 ebendort; vgl. S. 67, S. 138
6 ebendort
o ebendort
RADIKALISIERTE REDUKTION 77

zugehen, daß die Frage nach diesem Ich wohlmotiviert ist. Diese
Frage ist ja nicht, wie Seebohm zu meinen scheint, bloß die leere
Bemühung, aus der unaufhebbaren Selbstobjektivation des
transzendentalen Ich herauszuspringen; sie insistiert nicht in un-
fruchtbarer Hartnäckigkeit auf einem "Sein" des zeitigenden
Fungierens, das unabhängig vom Gezeitigtsein dieses Fungierens
angetroffen werden könnte, sondern sie fragt nach dem Grund
für diesen in sich geschlossenen Prozeß der verzeitigten Zeitigung
im Ganzen. Und diese Frage ist allerdings wohlmotiviert; denn
wenn das nunc stans meines Zeitigens nichts anderes ist als
der urimpressionale "Limesnullpunkt des aktuellen Jetzt"l, der
jeweilige "Limes der Selbstobjektivation" dannfragt es sich doch,
mit welchem Recht dieses ichliehe Jetzt überhaupt noch als
"eines" und als "stehend und bleibend" (nunc stans !) be-
zeichnet werden kann2 und wieso Seebohm nicht ausschließlich
von unzähligen gezeitigten Zeitstellen-J etzten ichlieber Gegen-
wärtigkeit spricht. Und umgekehrt: Wenn das nunc stans das
eine einzige, und d.h. "bleibende", "Da" meines Fungierens ist,
wie ist es dann zu verstehen, daß es ineins mit dieser schlecht-
hinnigen "Ständigkeit" als jeweils gerade-auch-schon retentional
absinkender Limes meiner Selbstobjektivation begegnet? Bei
Seebohm findet sich beispielsweise die Wendung: "das aktuelle
Bewußtseins-Jetzt als nunc stans der cogitationes"3; in dieser
Zusammenstellung von Begriffen kündet sich gerade erst das
Problem der lebendigen Gegenwart an: Wie sollen das "aktuell"
und das "stans" als im Wesen der Funktionsgegenwart "ver-
eint" gedacht werden? Bevor also auch nur die geringste Aus-
sage über das aktuelle, stehende oder "Limesnullpunkt"- bleiben-
de "Jetzt" der transzendentalen Subjektivität im Fungieren4 ge-
macht werden kann, muß geklärt sein, was es mit diesem viel-
deutigen "Jetzt" auf sich hat. Das Verständnis der ursprüng-
lichen Einheit von Stehen und Strömen in der lebendigen Gegen-
wart und damit in weiterer Folge die Einsicht in die Bedingung
der Möglichkeit der unauflösbaren Einheit von Zeitigen und

1 a.a.O., S. 127; vgl. S. 138


8 "nunc stans" findet sich bei Seebohm u.a. S. 161, S. 169, S. 177
a a.a.O., S 177
4 Vgl. a.a.O., S. 138: "Dieses Jetzt ... (ist) der Ort der transzendentalen Sub-
jektivität im Fungieren".
78 LEBENDIGE GEGENWART

Gezeitigtsein - mag dieses Verständnis nun phänomenologisch,


"metaphysisch" oder gar "mystisch" heißenl -liegt noch vor der
apodiktischen Selbstkritik der Phänomenologie, von der Seebohm
behauptet, sie bringe die Phänomenologie auf den langgesuchten
"absoluten Boden". Im übrigen zeigt die Zweideutigkeit der Aus-
sagen Husserls selbst über das nunc stans, von der noch aus-
führlich die Rede sein wird, daß er selbst der apodiktischen
Letztbegründung der Phänomenologie nicht so sicher war, wie
es aus manchen seiner eigenen Äußerungen und aus Seebohms
Darstellung hervorzugehen scheint.

1 Vgl. a.a.O., S. 161


C. SELBSTGEGENWÄRTIGUNG
UND SELBSTKONSTITUTION

I. Reflexion und Selbstgegenwärtigung


Die Frage, wie es zu verstehen ist, daß die Ständigkeit der
lebendigen Ichgegenwart in sich zugleich strömend ist, soll zu-
nächst zurückgestellt und davon ausgegangen werden, daß das
Ich in stehend-strömender Gegenwart sich selbst gegenwärtigt
und damit zum Ich im noetischen Lebensstrom zeitigt. Husserl
sagt programmatisch: "Das urtümliche Strömen ist ständiges ur-
tümliches Konstituieren; darin ist konstituiert der ,Bewußtseins-
strom' in seiner urtümlichen (gemeint ist: immanenten) Zeit-
lichkeit"!. Wie vollzieht sich diese Konstitution; wie sieht die
Selbstgegenwärtigung aus? Diese Frage kann phänomenologisch
nur durch die Analyse einer reflexiv ausweisbaren Selbstgegen-
wärtigung beantwortet werden. Was sollte aber eine solche re-
flexiv erfaßbare Selbstgegenwärtigung anderes sein als wiederum
eine reflexive Selbstgegenwärtigung,- nur eine solche, die ihrer-
seits noch einmal von einer höherstufigen Reflexion vor den Blick
gebracht wird. Hier tritt wiederum ein merkwürdiger, doch phä-
nomenologisch schlüssiger Umstand zutage: Was Selbstgegen-
wärtigung heißt, kann nur durch eine Reflexion auf eine Reflexion
herauskommen. Über das Wesen einer solchen phänomeno-
logischen Selbstreflexion wurde schon einiges gesagt. Es ist be-
reits bekannt, daß das Reflektieren selbst eine Weise ichliehen
Fungierensund daß mithin das originärgewahrende Reflektieren
ein Gegenwärtigen ist. Gegenstand des Gegenwärtigens ist im-
mer eine Gegenwart. Damit stellt sich heraus, daß die radikali-
sierte phänomenologische Reflexion, die auf unmittelbarste
Selbsterfassung aus ist, das eigene Ich nur als Gegenwart an-
treffen kann. Dieses Ergebnis der radikalsten Selbstreflexion
ist schon in der phänomenologischen Grundentscheidung für
1 Ms. C 13 II, S. 8 (1934-)
80 LEBENDIGE GEGENWART

"Selbstgebung" impliziert. Diese "Vorentscheidung" ist jedoch,


phänomenologisch gesehen, keine willkürliche oder vermeidbare
Einengung der Sichtweise; denn was sich in der radikalisierten
Reduktion zeigt, rechtfertigt ja zugleich deren Vorgehen: wenn
sich nämlich eine "gegenwärtigende Gegenwart" unter dem
Blick der Reflexion als Urmodus ichlieh-intentionaler Lebendig-
keit erweist, dann besteht offenbar eine ausgezeichnete Möglich-
keit des reflektierend-lebendigen Ich darin, seiner selbst als
gegenwärtigender Gegenwart noch einmal in reflexiver Gegen-
wärtigung ansichtig zu werden.
Daß das letztfungierende Ich gegenwärtigende Gegenwart ist,
hat Husserl mehrfach mit diesen Worten ausgesprochen. Eine
Nachlaßstelle sagt vom "ich-bin-im-lebendigen-Strömen", d.h.
der lebendigen Ichgegenwart: "dieses ist strömendes Gegen-
wärtighaben und strömende Gegenwart selbst"l. Im selben
Sinne spricht ein anderer Passus vom "Ur-Ego", "welches sein
Ur-Leben als urströmende Gegenwärtigung und Gegenwart hat
und lebt"2. Ganz deutlich heißt es an einer Stelle: "Ich in der
ursträmenden Gegenwärtigung gegenwärtig"S. Obwohl die ori-
ginärgebende Selbstreflexion nichts anderes als ein Modus gegen-
wärtiger Gegenwärtigung ist, kann nun doch gefragt werden: Was
verschafft dem Ich die Möglichkeit, sich von der normalerweise be-
tätigten Weltgegenwärtigung (und -Zeitigung) ab- und der Selbst-
gegenwärtigung zuzuwenden? Anders gefragt: Welche Bedingun-
gen müssen erfüllt sein, damit das Ich sich reflektierend auf
sich selbst zurückwenden kann?
Die Antwort läßt sich "konstruieren": Es muß erstens schon
ein Abstand, eine "Spaltung" zwischen dem gewahrenden und
dem gewahrten Ich vorliegen, damit überhaupt ein Reflexions-
Blickstrahl vom Ich-her. . . auf das Ich. . . gerichtet werden
kann. - Trotz dieser "Selbst-Entzweiung" darf aber das Be-
wußtsein der Einheit "beider" Ich nicht verlorengegangen sein;
denn das reflektierende Ich "identifiziert" sich ja mit dem
reflexiv gewahrten Ich. Einerseits gilt: "In der Reflexion erreiche
ich mich (nur) in dem Zeitfeld, in dem mein Soeben fungiert hat;
(ich erreiche nur) meine konkrete Funktion retentional", -

1 Ms. C 3 II, S. 10 (1930)


s Ms. C 2 I, S. 5 (1931)
3 Ms. E 111 9, S. 3 (1933) (Der Satz ist im Original unvollständig)
SELBSTGEGENWÄRTIGUNG UND -KONSTITUTION 81

andererseits: "Aber im Jetztpunkt (der Reflexion) berühre ich


mich als fungierendes"!. Das reflektierende Ich macht also von
einem Abstand zu sich selbst Gebrauch, aber einem Abstand, der
auch "überbrückt" ist2; in einer Husserl fremden Sprache: Das
Reflektieren setzt ein "Eins-sein-'im-Getrenntsein" voraus.
Das 'Reflektieren ist außerdem ein "Nachgewahren"s, ein Zu-
rückkommen auf mein entgleitendes, entströmendes Ich. Daß
heißt aber: die Urdistanz zu sich selbst, die in der Selbst-
gewahrung vorausgesetzt ist, entsteht durch das Strömen. - Die
Überbrückung der Distanz, die reflexive Einigung mit mir selbst
i~ Berührungspunkt des Jetzt, aber ist nur möglich, weil das Ich
im Strömen immer schon mit sich zusammengenommen, geeint
ist; m.a.W.: weil es trotz des Wandels und im Wandel sicll.
ständig als das eine und selbe Ich behält und zusammenhält.
Die Möglichkeit der Selbstreflexion besteht also ebenso aufgrund
des ständigen Strömens wie aufgrundder strömenden Stän-
digkeit des letztfungierenden Ich. Schon "vor" aller Reflexion
hat es - sich entströmenlassend - sich auch schon mit sich selbst
zusammengenommen. "Ich bin als strömende Gegenwart, aber
mein Für-mich-Sein ist selbst in dieser strömenden Gegenwart
konstituiert"4. - Bereits in den Vorlesungen zum inneren Zeit-
bewußtsein heißt es (in einer frühen Terminologie): "Der Fluß
des immanenten zeitkonstituierenden Bewußtseins ist nicht nur,
sondern so merkwürdig und doch verständlich geartet ist er, daß
in ihm notwendig eine Selbsterscheinung des Flusses bestehen
und daher der Fluß selbst notwendig im Fließen erlaßbar sein
muß"5. Das letztfungierende Ich fungiert in der lebendigen Gegen-
wart an sich selbst als entgleitenlassendes Zusammen-
nehmen. Dieser Vorgang aber ist schon unter dem Titel "ur-
passive, übergangssynthetische Gegenwärtigung" bekannt. Dem-
nach macht die ausdrückliche Reflexion von einer unausdrück-
lichen, immer schon "vor" der Reflexion vollzogenen Selbst-
gegenwärtigung des letztfungierenden Ich Gebrauch.
Nun wurde schon festgestellt, daß im "ich fungiere" ein uni-
versales "ich kann" impliziert ist: Ich kann jederzeit und immer-
1 Ms. A V 5, S. 3 (r933)
a Vgl. G. Brand, Welt, Ich und Zeit, I955, S. 66 f. u. S. 68
a Erste Philosophie, Zweiter Teil, S. 89
4 Ms. C 3 III, S. 33 (rg3r)
5 Zeitbewußtsein, S. 436
82 LEBENDIGE GEGENWART

wieder auf mich reflektieren. Wenn dieser Satz gültig ist und
wenn andererseits das Reflektierenkönnen nur die ausdrückliche
Artikulation einer prae-reflexiven strömenden Selbstgegenwär-
tigung des letztfungierenden Ich darstellt, dann ist damit er-
wiesen, daß das Ich in lebendiger gegenwärtigender Gegenwart
immer auch eine Selbstgegenwärtigung vollzieht. Das letzt-
fungierende Ich ist demnach jederzeit und vor aller Reflexion
strömend mit sich selbst "entzweit" und zugleich in der Ur-
synthese eines Präsenzfeldes geeint. Die Breite dieses Feldes ver-
schafft ihm gewissermaßen den Spielraum der ausdrücklichen
reflexiven Rückwendung auf sich selbst. Durch die übergangs-
synthetische Einigung des Feldes aber steht es mit sich selbst in
"Konnex"l, bevor es diese Verbindung mit sich selbst in aktiver
reflexiver Synthese erblickt und mitvollzieht.
Was die ,nun entdeckte jederzeit vor-vollzogene Selbstgegen-
wärtigung des Ich ist, kann gemäß der Art und Weise ihrer Ent-
deckung nur von der Reflexion her bestimmt werden. Die Selbst-
gegenwärtigung ist nichts anderes als die immer wieder aktuali-
sierbare Reflektierbarkeit des Ich; es ist das Fungieren an
sich selbst als "~eflexion im Ansatz", wie Brand treffend sagt2.
Doch mit dieseJll Hinweis, daß die praereflexive Selbstgegen-
wärtigung die Vorform der reflexiven ist, ist noch wenig gesagt.
Wenn sie als Vorform von der ausdrücklichen Selbstreflexion
unterschieden werden kann, dann stellt sich damit die Frage,
was das Unterscheidende ist. Dieses Problem sei ebenso wie das
eben erwähnte der Einheit von Stehen und Strömen auf den
nächsten Abschnitt verschoben.
Zunächst sind die Konsequenzen der Selbstgegenwärtigung zu
erörtern, und dabei kann sie nicht anders denn als unausdrück-
liche Vorform der reflexiven Selbstgewahrung verstanden wer-
den. Diese aber nimmt das noch-gegenwärtige eigene Ich, wie sich
gerade zeigte, als ein strömend-entgleitendes Gegenüber in den
Blick; die originär nachgewahrte ichliehe Funktionsgegenwart
wird von meinem reflektierenden Ich nur als gerade schon
schwindende Nähe, als beginnende Ferne erfahren; weiterhin ge-
hört zu dieser Erfahrung das protentionale Bewußtsein, daß die
Umwandlung meines gerade noch aktuell reflektierenden Be-
1 Vgl. Ms. A V 5, S. 8 (1933) (später ausführlicher zitiert)
2 Vgl. Brand a.a.O., S. 74
SELBSTGEGENWÄRTIGUNG UND ·KONSTITUTION 83

wußtseins in ein wahrgenommenes Gegenüber unmittelbar be-


vorsteht. Es wird schon deutlich: Die reflexive Selbstgegenwär-
tigung hat die Gegenwärtigungsstrukturen, die aus der Analyse
der Tonwahrnehmung bekannt sind. Und das bedeutet, wenn an-
ders in der reflexiven Selbstgegenwärtigung nur eine praereflexive
Vorform der Selbstgegenwärtigeng nachvollzogen und in diesem
Nachvollzog erblickt wird: nicht nur alles begegnende weltlich
Transzendente, "auch ... das ichlieh Entquellende unterliegt der
inaktiv-assoziativen Wandlung <= der urpassiven Über-
gangssynthese) in der retentionalen, also der inaktiven Zeiti-
gung"l.
Der Ursprung der Selbstzeitigung ist damit nachgewiesen. Wie
sie sich im einzelnen vollzieht, sei hier nur in Umrissen dargestellt,
soweit es für das Weitere wichtig ist. Die ersten Schritte der
Selbstzeitigung, von der Selbstgegenwärtigung aus, entwickelt
der zweite Teil der Arbeit von G. Brand2.

z. Die Weisen der Selbstzeitigung


"Selbstzeitigung" bedeutet zunächst, allgemein gesprochen,
daß das fungierende Ich und die Ausformungen seines Lebens
immanente Zeitgegenstände werden. Gegenwärtigung als Zei-
tigung von Gegenständen wurde im I. Teil so bestimmt: Der Ver-
schiedenheit der Stellenjetzte verdankt sich die zeitliche Indivi-
dualität, der bleibenden Jetztform und der darin waltenden
Übergangskontinuität die Identität des gezeitigten Gegen-
standes. Näherhin hieß das: I. Die bleibende Form der strömend
sich erneuernden Jetzte prägt jedes Gegenwärtige; sie fixiert es
unverwechselbar in der Abfolge der Gegenwarten.- 2. Die ent-
gegenwärtigende Zusammennahme der Phasenmannigfaltigkeit
des Gegenwärtigen im formbeständigen Präsenzfeld konstituiert
es als identisches vermöglicher Reproduktionen.
Durch das bisher über die lebendige Gegenwart Ausgeführte
hat sich inzwischen geklärt, woher die bleibende Jetztform einer-
seits und das synthetisierende Mitgehen des Ich mit der Phasen-
mannigfaltigkeit andererseits rührt. Die stehende Jetztform ist
nichts anderes als die bleibende Funktionsgegenwart des trans-
zendentalen Ich, "dessen Sein Jeweiligkeit in Form der ständi-
1 Ms. B III 9, S. u (1931)
s Vgl. Brand a.a.O., S. 54 ff.
84 LEBENDIGE GEGENWÄRT

gen Jeweiligkeit ist"l. Die Form, in der das bleibend identische


und individuelle Ich auftritt und alles Begegnende mitauftreten
läßt, ist das einzige stehende Jetzt2. - Als strömende Phasen:.
mannigfaltigkeit aber läßt das Ich .das Begegnende aufgrund
seines eigenes Strömens auftreten. Die stehendströmende Selbst...
gegenwart fundiert also die stehendströmende Weltgegenwart.

a. Zeitigung der Noesen und Mitzeitigung des Ich


Bisher ergab sich: Die ichliehe Lebendigkeit als begegnendes
Gegenüber der eigenen Gegenwärtigung zeitigt sich zu identischer,
individueller Gegenständlichkeit. Dies geschieht auf mehrfache
Weise: Es wurde nicht ausdrücklich unterschieden, daß das auf
sich selbst reflektierende Ich nicht nur sich selbst als gerade ent-
gleitendes Funktionszentrum zumGegenüber hat, sondern· auch
die mannigfachen' Funktionsweisen, die vielgestaltigen Affektio-
nen oder Aktionen, deren Vollzieheres jeweils gerade war. In der
Reflexion begegnet also einerseits das Ich, - aber nur als Zentrum
von Vollzügen, - andererseits die verschiedenen noetischen Voll-
züge, - dieser wiederum unabtrennbar vori dem ihnen zugehöri-
gen Vollzugspol. Die ichliehen Funktionsgegenwarten und die
noetischen Funktionsweisen bilden immer eine Einheit, aber als
Gegenüber in der Selbstgegenwärtigung und damit Selbstzeiti.;.
gung begegnen sie doch auf unterschiedliche Weise: Während die
Noesen sich immerfort wandeln' und ablösen, beharrt das Ich als
Identisches in diesem Wandel, obwohl es allerdings in jeder
Funktion "dabei" ist. Die Art und Weise, wie sich das Ich als
Zentrum oder Pol seiner mannigfachen Vollzüge in der Reflexion
zeigt, hat demnach eine sich aufdrängende Ähnlichkeit mit der
Art und Weise, wie eine sinnliche Wahrnehmungseinheit verharrt
im Wandel ihrer Erscheinungsweisen. (Bekanntes Beispiel: der
Tisch, um den ich herumgehe, und der in den verschiedenen An-
sichten derselbe bleibt.) "Das Ich ist, so angesehen, verharrendes
in der Zeit und als das identische Einheit im Wandel aller zeit-
modalen Phasen, so wie ein Ton verharrt, indem er ständig tönt,
getönt habend fortgetönt hat und noch jetzt tönt und in die pro-
tentionale Zukunft hineintönt"3. Das Ich ist also "das einiger-

1 Ms. C 16 VI, S. I8 (1932); vgl. Ms. C 3 III, S. 29 (1931)


B Vgl. Ms. C 3 li, S. 2 {:1930)
a Ms. A V 5, S. IO (1933)
SELBSTGEGENWÄ-R,T'IGUNG UND -KONSTITUTION 85

maßen analoge wie der Gegenstandspol (Affeldionspol, themati-


scher Pol etc.) ist,. was er ist, als Träger, Substrat von wechseln-
den Akzidentien, Attributen"l. Nun muß aber sogleich auf die
Grenzen dieser Analogie hingewiesen werden: "Und doch ist es
ganz anders: der Ichpol ist, was er ist, nicht <als)Träger, nicht
<als> Substrat für Aktion, Affektion etc., sondern eben Ich, ein
Strahlungspol, Funktionszentrum für Affektionen; Ausstrahlungs-
pol, Tätigkeitszentrum von Tätigkeiten, von Akten"2 Also: "die
Identität des Ich ist nicht die bloße Identität eines Dauernden,
sondern die Identität des Vollziehers- das ist der Ichpol-; und
wenn <er) schon auch <als) eine Dauereinheit konstituiert <wird),
so bleibt es doch ein einzigartiges Eigenes, was da Identität des
Vollziehers heißt"S. Die Frage, was dieses "einzigartig Eigene"
sein mag, sei ebenso wie die bisherigen Schwierigkeiten auf den
nächsten Abschnitt verschoben. Zunächst ist festzuhalten, daß
das Ich reflexiver Nachgewahrung als Verharrendes im Wechsel
seiner Vollzüge begegnet und offenbar auch nicht anders be-
gegnen kann, weil es als gegenständliches Gegenüber einer Selbst-
gegenwärtigung gegeben ist. Als Vorform dieser reflexiven Selbst-
gegenwärtigung ist aber die praereflexive Selbstentzweiung und
-einigung zu denken .. Daraus folgt: Das Ich zeitigt sich zu einem
verharrenden "Gegenstan,dspol" in der "immanenten" Zeit; die
vor-zeitliche Ständigkeit der ·lebendigen Ichgegenwart tritt da-
mit als gezeitigtes Verharren über eine Abfolge von Zeitstellen
auf.
Die wechselnden Noesen aber bekommen zufolge ihres ein-
maligen (bzw. wiederholten) Durchgangs durch das Präsenzfeld
der Selbstgegenwärtigung eine bestimmte, unverwechselbare
Jetztstelle (bzw. Stellenfolge) im noetischen Lebensstrom zuge-
wiesen. Sie werden damit identifizierbar und reproduzierbar. -
Mit dem Aufweis der Zeitigung der N oesen ist im übrigen eine
Aufgabe erfüllt, die zu Beginn dieses Teils gestellt worden war:
Die radikalisierte Reduktion und Einklammerung der "immanen-
ten" Zeitobjekte sollte gerade zu einem neuen Verständnis des
noetischen Lebensstromes von der lebendigen Gegenwart her

1 Ms. E 111 2, S. 28 (1920)


2 ebendort
a Ms. C IO, S. 28 (1931)
86 LEBENDIGE GEGENWART

führenl. -Mit der "Platzanweisung" an die Noesen wird nun zu-


gleich das Ich als jeweiliger Vollzugspol jedes einzelnen
noetischen Vollzuges an der betreffenden Zeitstelle (bzw. Stellen-
folge) antreffbar. Es unterliegt in diesem Sinne, weil es schon im
WandeldereinzelnenNoese mitströmte, einer Mitzeitigung.
" ... in der Ständigkeit des Urphänomens, in welchem ich das
tätige <=fungierende) Jetzt bin, entspringt der Aktus als ge-
zeitigter Prozeß, in dessen Zeitlichkeit ich selbst als in gewisser
Weise mitgezeitigtes Ich meine Zeitstelle und mit dem erstreckten
Ichakte meine Erstreckung, meine Zeitdauer habe"2.

b. I chliches Verharren und Lebenseinheit


Neben der Verzeitigung der ichliehen Funktions-
ständigkeit zum Verharren des Ichpols ergibt sich also
die Mi tzei tigung des jeweiligen Vollzugsich. Nun ist
der in allem intentionalen Leben verharrende Ichpol selbstver-
ständlich nichts anderes als das Vollzugsich jeder reproduzier-
baren N oese des Lebensstromes. Es handelt sich um dasselbe
selbstgezeitigte Ich, einmal unter der Hinsicht seiner Jeweilig-
keit (der genetischen Folge des urgegenwärtigen "Strömens"),
einmal unter dem Hinblick seiner zeitlichen Ständigkeit (der ge-
netischen Folge des urgegenwärtigen "Stehens") betrachtet.
Dieses Ich als bleibend identisches im Gesamtverlauf des Le-
bensstromes und zugleich an jeder seiner Zeitstellen antreffbares
verleiht dem Strom seine umfassende und "in sich streng abge-
schlossene"3 Einheit. "Ein reines <=transzendentales) Ich -
ein nach allen drei Dimensionen erfüllter, in dieser Erfüllung
wesentlich zusammenhängender, sich in seiner inhaltlichen Kon-
tinuität fordernder Erlebnisstrom; sind notwendige Korrelate"4.
So hieß es schon in den Ideen I. Und ebenso noch I933:
" ... ich finde mich als stehendes und bleibendes Ich in der kon-
tinuierlichen Einheit eines durch die vergangene Zeit sich hin~
durch erstreckenden, in ihrer Einheitsform verlaufenden Bewußt-
seinslebens ... , durch (dessen) zeitliches Außereinander hindurch
das absolut identische Ich ,lebt'. Und doch hat jede Phase ihr
1 Vgl. S. 64.
2 Ms. B III 9, S. 26 (1931); vgl. Ms. C 10, S. 26 (1931): "Es verzeitlicht sich selbst
das Vollzugsich". Vgl. ferner Ms. A V 5, S. 3; Ms. C 16 V, S. 8; Ms. C 16 VII, S. I
a Ideen I.,S. 201
4 ebendort
SELBSTGEGENWÄRTIGUNG UND -KONSTITUTION 87

Ich und ihr strömendes Gegenwartsleben; - in allen diesen ver-


zweigten <= jeweiligen) Ich ist das identisch verharrende Ich
"1_
Diese Einheit von jeweiligem und verharrendem Ich
weist wieder auf die hier noch ungeklärte und, wie sich zeigen
wird, höchst rätselhafte Einheit der Vorformen von Jeweiligkeit
und Verharren: der Einheit von Stehen und Strömen in der
lebendigen Gegenwart zurück2.

c. Das Ich der Habitualitäten


Neben den bisher genannten Formen findet sich eine dritte Art
von Selbstzeitigung, die wiederum nur in einer Abstraktion von
den bisherigen unterscheidbar ist und mit ihnen in der Konkre-
tion des intentionalen Lebensstromes eine Einheit bildet. Die Art
dieser Zeitigung kann von einer bereits bekannten Eigenheit der
Weltzeitigung her verständlich gemacht werden: Die ursprüng-
liche Gegenwärtigung eines weltlich Transzendenten hatte eine
doppelte genetische Nachwirkung: I. Einordnung des Erfahrenen
in die objektive Zeit. 2. Stiftung eines bleibenden Typs der Welt-
erfahrungs. Wie diese zweite Nachwirkung möglich ist, kann nun
erläutert werden: Das Ich behält nach der Wahrnehmung eines
für es neuartigen Gegenstandes nicht nur diesen einzelnen Gegen-
stand als bleibend reproduzierbaren, weil er in der "unbewußten"
Sphäre wachsender retentionaler Sedimentation für einen even-
tuellen Rückgriff des Ich bereitliegt. Sondern das Ich behält auch
ein neues ichliebes Vermögen: die Erfahrung von derartigen
Gegenständen zu wiederholen. Dieses ichliehe Vermögen ist nichts
anderes als ein Behalten von Teilmomenten der betreffenden
Noese (Sinneswahrnehmung) über eine längere Zeitdauer hinweg.
Die "Auswahl" dieser Teilmomente ist ein Problem des "Interes-
ses" und daher hier nicht von Belang. Die Möglichkeit des
längeren Behaltens aber erwächst aus dem zeitlichen Verharren
des Ich, das ineins mit diesem Verharren jeweiliger Vollzieher der
einzelnen N oesen ist.
1 Ms. B I 14 XIII, S. 27 (1933)
2 Mit Bezug auf die sich hier ankündigende Rätselhaftigkeit schreibt Husserl im
Anschluß an den zitierten Abschnitt: "Schaudert uns nicht vor diesen Tiefen? Wer
hat sie je ernstlich zum systematischen Thema gemacht in den Jahrtausenden der
Vergangenheit, wer hat an die ersten Reflexionen eine$ Augustin anknüpfellQ <!ll det~
Weg zu den ,Müttern' sein Leben gewagt?"
3 Vgl. S. 36 f.
88 LEBENDIGE GEGENWART

Damit wird ersichtlich, daß die Stiftung von bleibenden Typeri


der Dingerfahrung nicht die einzige Nachwirkung dieser Art zu
sein braucht. Auch in der Selbstgegenwärtigung werden sich über
längere Zeitdauern beharrende Grundformen intentionalen Er-
lebens herausbilden: Interessen (im geläufigen Sinne,) Gewohn-
heiten, Kenntnisse usw. Sie sind das noetische Analogen zu den
bleibenden Typen der Dingerfahrung. Husserl nennt sie Habit u-
ali t.ä ten. Es sind erworbene "Eigenschaften" des transzenden-
talen Ich, und das Ich ist entsprechend als ihr "Träger", ihr
Substrat aufzufassen. Träger von Habitualitäten kann es aber
nur sein, weil es durch seine mannigfachen N oesen hindurch als
identisches verharrt, genauer: weil es als jeweilige Funktions-
gegenwart der N oesen zugleich auch stehende und beharrende
Funktionsgegenwart ist, weil es, anders gesagt, sich nicht in den
einzelnen Noesen verliert; sondern "Verharren in Selbsterhal-
tung"! oder "Selbstaufbewahrung"2 unter "Fortpflanzung des
Selbsterwerbes im $elbst"3 ist, oder weil es, noch einmal anders
gesagt, als stehend-strömendes "in sich und mit sich in innerer
Kontinuität"4 ist. Husserl sagt dazu in einem Forschungsmanu-
skript, das er selbst als "wichtige fortgeschrittene Darstellung"
bezeichnet: "das stehende Ich als Ich stehend und bleibend ist
zeitlich betrachtet <jeweiliges) jetzt, und (zugleich) dauernd
verharrend, immerfort jetzt.
Aber als Ich ist es zugleich aktuell in Tätigkeiten <= Funk-
tionen) stehend, jetzt zeitlich verlaufend und zugleich im selben
Jetzt behaltendes, jetzt Habitualitäten aus dem vergangenen
Tun in sich habendes. Das I eh beerbt sich selbst, und sein Erbe
liegt in ihm selbst als sein bleibender ,Charakter', als das, was
jeweils das Ich ist. Das Ich beerbt sich- es leistet jetzt, und seine
Leistung als seine Geltung geht in sein neues Jetzt ein, das neue
Habitualität in ihm niederschlägt. So ist es nicht bloß Pol von
Akten, die aktuell im Gange sind, sondern auch im Jetzt Pol der
Aktabwandlungen, die als Noch-Geltungen ihm ,einwohnen'."5

1 Ms. A V 5, S. II (1933)
2 ebendort
a ebendort
4 Ms. C 16 VII, S. 6 (1933)
5 Ms. A V 5, S. 9 (1933)
SELBSTGEGENWÄRTIGUNG UND -KONSTITUTION 89

J. "Erste Transzendenz" und "Ontifikation"


Nach dem Überblick über die Formen der Selbstzeitigung kann
diese nun noch einmal in ihrem Gesamtcharakter betrachtet wer-
den. - Das ichliehe Fungieren in lebendiger Gegenwart ist immer
schon aufweisbarer Vor-Vollzug passiver übergangssynthetischer
Selbstgegenwärtigung. In jeder originär gewahrenden Reflexion
begegnet darum das Ich der vor-zeitlichen lebendigen Gegenwart
schon als strömend sich zeitigender Gegenstand. In jeder weiteren
Reflexion wird das Ich unvermeidlich als gezeitigter Gegenstand
angetroffen. Damit stellt sich heraus: die Reflexion erblickt nie-
mals die stehend-strömende Ichgegenwart in reiner Vor-Zeitlich-
keit, in dem, was sie gleichsam "vor" dem strömenden Übergang
in Zeitstellengegenwart oder Zeitstellen-durchlaufendes Ver-
harren ist. Darin liegt jedoch kein Mangel der Reflexion, sondern
es kommt in diesem Umstand gerade zum Vorschein, daß es keine
Ichgegenwart gibt, die nicht auch Gegenwärtigung und darunter
Selbstgegenwärtigung wäre. Das Ich ist in diesem Sinne niemals
"reines Ich", niemals Pol ohne zeitlich begegnendes Gegenüber;
sogar und zuallererst hat das Ich sein eigenes Selbst immer
schon zum Gegenüber; es ist sich selbst mit andern Worten jeder-
zeit transzendent (im weiteren Sinne des Begriffs). Eine "reine"
Ich-Immanenz ist phänomenologisch nicht aufweisbar. Damit
relativiert sich die Rede vom "immanenten" Lebensstrom: Vor
der Transzendenz des weltlich Begegnenden ist der Lebensstrom
schon als eine "erste" und nur in diesem Sinne "immanente"
Transzendenz gezeitigt. "Im urphänomenalen Strömen der
Urpräsenz transzendiert sich dieses <das transzendentale letzt-
fungierende Ich-> Leben selbst, es konstituiert als ,erste Trans-
zendenz' die immanente Zeit, den Erlebnisstrom mit seiner Ver-
gangenheit und Zukunft"!. Die Konstitution der raumzeitlichen
Wahrnehmungswelt ist demgegenüber als Zeitigung der "zweiten
Transzendenz" zu bezeichnen2. Jegliches Transzendente aber,
auch das "immanente", ist zeitliche Gegenständlichkeit, ist als
objektives seiner Zeitstelle oder Stellenfolge antreffbar, fixier-
bar, reproduzierbar. "Die <immanente) Vergangenheit, das Reich
des Verströmten und doch Seienden als objektive Vergangen-
heit ist die erste objektive Zeit, objektiv in einem ersten und
1 Ms. C 5, S. 12 (1930)
2 Vgl. etwa a. a. 0. S. 14
90 LEBENDIGE GEGENWART

noch nicht weltlichen (dem gewöhnlichen objektiven) Sinne ... "1


-Gleichgültig also, ob das Ich als sich gerade schon zeitigendes
einer nachgewahrten Gegenwart, als mitgezeitigtes oder verhar-
rendes oder als Substrat der HabitnaHtäten in der "Immanenz",
- oder gar als psychophysisches Menschenich in den Blick ge-
nommen wird, immer tritt es "in den verschiedenen Stufen ob-
jektiviert, versachlicht, verweltlicht hier in einem ganz weiten
Sinne: "Welt" = "Transzendentes überhaupt"), verzeitlicht"2
auf.
Weil das Ich nur als sich ursprünglich selbstzeitigendes oder
zumeist schon als selbstgezeitigtes irgendwelcher Stufe aufweis-
bar ist, darum kann auch gesagt werden: es ontifiziert sich
immerfort. Das heißt: es begegnet ausschließlich als zeitlich
Seiendes irgendwelcher Stufe. Der mißverständliche Begriff
"Ontifikation" bedeutet keine Selbsterschaffung des Ich, sondern
es ist damit bloß der Umstand bezeichnet, daß das Ichaufgrund
der praereflexiven strömenden Selbstgegenwärtigung nur im
gegenwärtigen Mitvollzug seiner Selbstzeitigung oder (meist) im
nachträglichen Anblick seines Gezeitigtseins enthüllbar und
erfaßbar ist. (Selbstverständlich fällt auch der Vorblick auf mich
als künftiges hierunter.) In diesem Sinne kann auch gesagt
werden: Das Ich ist garnichts anderes als Zeitigung, und eben
darum ist es auch sich selbst ausschließlich in der Form der
Ontifikation zugänglich. So ist Husserls Satz gemeint: "Das
Absolute ist nichts anderes als absolute Z eitigung, und schon
ihre Auslegung als Absolutes, das ich direkt als meine strömende
Urtümlichkeit vorfinde, ist Zeitigung, dieses zum Urseienden" s.

4· Die Implikation alles noetisch-noematischen Lebens in der leben-


digen Gegenwart und die Fundierungsverhältnisse dieser Impli-
kation
Es stellt sich die Frage: Wenn auch der noetische Lebensstrom
schon zeitliche Objektivität und in diesem Sinne Transzendenz
ist, wieso wird er dann überhaupt als erste Transzendenz von der
sekundären der Wahrnehmungswelt unterschieden (r) und ihr
vorangestellt (2)?

1 Ms. C 3 I, S. 5 (1930)
2 Ms. C 10, S. 24 (1931)
s Ms. C I, S. 6 (1934)
SELBSTGEGENWÄRTIGUNG UND -KONSTITUTION 91

Ad r. Unterschieden wurden die immanenten Ausformungen


intentionalen Lebens darum vom darin begegnenden weltlich
Transzendenten, weil sie als Funktionsweisen, als Vollzüge des
Ich eine unvergleichlich andere Ichnähe haben als die Gegen-
ständlichkeiten, die auf ichliehe Vollzüge angewiesen sind, um
überhaupt zur Gegebenheit für das Ich und damit zu erfahr-
barem Sein gelangen zu können. Der noetische Lebensstrom ist ja
nichts anderes als das erste zeitlich objektivierte Sein des abso-
luten Ich selbst, ohne welches keine Erfahrung irgendwelchen
Sinnes statthaben kann. Als solche Bedingung der Möglichkeit
ist der Lebensstrom der weltlichen Transzendenz aber auch vor-
geordnet (ad 2); dies sei kurz am Beispiel der Reproduktion einer
vergangeneu Wahrnehmung verdeutlicht:
Diese Reproduktion wurde bisher so dargestellt, daß das ehe-
mals Wahrgenommene im beiragbaren und schrittweise weck-
baren Horizont gewesener Wahrnehmungseinheiten wiederauf-
findbar ist; die horizonthaft mitbewußte Reihe der Wahr-
nehmungseinheiteil bis heute verbürgt zugleich die Identität und
Individualität des Reproduzierten. Jedoch damit ist noch nicht
alles stillschweigend Mitbewußte genannt und noch nicht alles
angeführt, was die fertige Reproduktion ermöglicht: - der re-
produzierte Wahrnehmungsgegenstand verweist seinem eigenen
Sinne nach - als ehemals Wahrgenommenes - auf die ehe-
malige Wahrnehmung, in der er wahrgenommen wurde. Die
stillschweigende Miterinnerung an diesen einst aktuellen Wahr-
nehmungsvollzug impliziert ihrerseits das Horizontbewußtsein
von meinen noetischen Wahrnehmungsvollzügen bis heute. Diese
Vollzüge aber können nur deswegen als meine Funktionen hori-
zonthaft zusammen bewußt sein, weil ich, das bis heute verhar-
rende Ich, als dieses bleibend Identischejeweils in ihnen gegen-
wärtig fungierte. Das Ich als verharrendes-in-der-J eweiligkeit ist
seinerseits noch einmal durch die Ureinheit von Stehen und
Strömen der lebendigen Funktionsgegenwart geeint.
In umgekehrter Beschreibungsrichtung: Die Einheit von ich-
lichem Verharren und J eweiligkeit - in letzter Instanz begründet
in meiner lebendigen Gegenwart - verbürgt die Möglichkeit der
Vergegenwärtigung von N oesen; denn keine solche Erinnerung
wäre möglich, läge nicht implizit in jedem Zurückkommen auf
vergangene ichliehe Funktionen ein mögliches Zurückkommen
92 L.EBENDIGE GEGENWART

auf mein damaliges Funktions-ich, das aber kein anderes als das
meiner aktuellen Gegenwart ist. Diese Ich-Zentrierung der Noesen
begründet den Zqsammenhalt des noetischen und dadurch mit-
telbar des noematischen Horizonts. Die zum Verharren-in-der-
} eweiligkeit gezeitigte Ständigkeit des letztfungierenden Ich ga-
rantiert also die Einheit alles Intentionalhabens und aller In-
tentionalhabe. Daß mithin die Frage der Erfahrungsbegründung
sich zuletzt auf das Problem der Einheit von Strömen und
Ständigkeit im letztfungierenden Ich zuspitzt, kommt in fol-
gender späten Äußerung Husserls zum Ausdruck:
" . . . mein Sein ist im Strömen identisches Sein in verschiede-
nem Sinn: ich bin stehendesJetzt im Strömen, - aber in der Stän-
digkeit des Jetzt, und des Jetzt im Strömen, bin ich derselbe im
Wandel des Ich-jetzt in Ich-soeben und im Wandel des Ich-jetzt
in Ich-sein-werden.- Als Ich im Strömen bin ich Welt-erfahrendes,
Welt-,vorstellendes' in einer strömenden Weltgewißheit, in
strömend für mich seiender Welt. .. "1).
Weil die Pluralität alles Erfahrenen durch die Ständigkeit-in-
der-Jeweiligkeit, als welche die lebendige Gegenwart gezeitigt ist,
zur implikativen Einheit eines Erfahrungszusammenhangs zu-
sammengenommen und immerfort in dieser Einheit behalten ist,
darum kann Husserl sagen: "So ist in der aktuellen Gegenwart
und der Freiheit <dem "ich-kann"> der gegenwärtig verlaufenden
Erzengungen von Wiedererinnerungen meine Vergangenheit
selbst als die Zeitreihe, die Zeitreihe meiner Erlebnisse selbst,
geborgen ... "2 - "In meinem strömenden Jetzt-sein, jetzt be-
wußtseinsmäßig Leben ,liegt' mein vergangenes Sein, mein ver-
gangenes Bewußtseinsleben; - dieses Darinliegen ist ganz ernst
zu nehmen ... Näher besehen impliziert meine Gegenwart meine
totale Vergangenheit (und Zukunft> so, daß sie kontinuierlich
ihre unmittelbare Vergangenheitsphase, diese ihre unmittelbare
Vergangenheitsphase impliziert und so kontinuierlich immer-
fort"3. Damit ist noch einmal des Mißverständnis abgewehrt, als
sei die Ständigkeit, durch die alles noetisch-noematische Leben
in der lebendigen Gegenwart impliziert ist, die Überzeitlichkeit
einer wandellosen Substanz: Die Ständigkeit ist vielmehr strö-

1 Ms. K III 6, S. 104 (1934-1936)


2 Erste Philosophie, Zweiter Teil, S. 470
s Ms. B I 14 XIII, S. 26 (1933)
SELBSTGEGENWÄRTIGUNG UND -KONSTITUTION 93

mend und kann darum von Funktionsgegenwart zu Funktions-


gegenwart des Lebensstromes kontinuierlich überleiten und zu-
gleich durch diese Übergangskontinuität den extendierten Lebens-
strom implizieren.
Das transzendentale Ich in der vollen Konkretion seines noe-
tisch-noematischen Lebens, also unter Einbeziehung aller aus
Welt- und Selbstzeitigung zugänglichen aktuellen oder vermög-
lichen (implizierten) Erfahrbarkeiten nennt Husserl Monade.
Es kann nunmehr gesagt werden, daß das monadische Leben sich
in seiner Totalität in der stehend-strömenden Gegenwart des
letztfungierenden Ich "abspielt';, sofern alles darin impliziert ist.
Betrachte ich diese Gegenwart nicht in ihrer Vor-Zeitlichkeit,
sondern, wie es aufgrund der Selbstzeitigung auch möglich ist,
als eine Zeitstellengegenwart im Lebensstrom, so kann ich auch
mit Husserl aus dem bisher Gesagten schließen: "Also Zeitigung
der ganzen Monade und des ganzen Monadenalls an jeder Stelle
des Lebens, in jedem Erlebnis"!. - Dies ist eine Anmerkung
Husserls zu folgendem Passus in der Ersten Philosophie, in
dem dasselbe wie in den eben angeführten Zitaten ausgesprochen
ist:
"Jede Lebensgegenwart hat in ihrer konkreten Intentionalität
das ganze Leben ,in sich', und in eins mit der in dieser Gegenwart
wahrnehmungsmäßig bewußten Gegenständlichkeit trägt sie
horizontmäßig in sich das Universum aller Gegenständlichkeiten,
die je für mich galten und in gewisser Weise sogar die, die noch zu-
künftig für mich gelten werden"2.

1 Erste Philosophie, Zweiter Teil, S. I6I


2 ebendort
D. DIE RÄTSEL DER LEBENDIGEN GEGENWART

I. Problemstellung
In der vorangehenden Darstellung deuteten sich einige Schwie-
rigkeiten an. Es hieß einmal: Das Ich "berührt" sich urimpres-
sionalin der Selbstgegenwärtigung, - und doch kann es sich nicht
wie sonstige Gegenstände erfassen; sein Reflektieren bleibt
"Nachgewahren". Weiterhin: Das Ich ist als Vollzugspol alles
noetisch-nöematischen Lebens mehr als der Gegenstandspol einer
Ding-Wahrnehmung, und doch ist dies seine notwendige und aus-
schließliche Gegebenheitsweise unter dem Blick der Reflexion.
Außerdem: Das Ich ist stehende, bleibende Funktionsgegenwart
und doch zugleich Strömen, urtümlicher Wandel. Und schließ-
lich: Es konstituiert ursprünglich Zeitstellen, es ist selbst vor-
zeitlich; und doch ist seine eigene urzeitigende Gegenwart in
jederzeit vermöglicher Reflexion als ein gezeitigtes Zeitstellen-
jetzt enthüllbar. Die sich damit ankündigenden Paradoxien sollen
im Folgenden eingehender erörtert werden; sie sollen dabei
.. Räts e I" der lebendigen Gegenwart heißen. Darin soll zum
Ausdruck kommen, daß Husserl selbst sie- wie alle in der Phäno-
menologie auftauchenden Schwierigkeiten, grundsätzlich als lös-
bar angesehen hat. Er sagt: "Unlösbare Rätsel sind Widersinn"!.
Schon in den Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren
Zeitbewußtseins hatte Husserl an entscheidender Stelle ein-
gestanden: "Für all das (nämlich die "Zeitlichkeit" der abso-
luten Subjektivität) fehlen uns die Namen"2. Doch diese Be-
merkung ist im Sinne Husserls so zu ergänzen, daß diese Namen
sich prinzipiell durch aufweisende phänomenologische Rückfragen
finden lassen müssen.

1 Erste Philosophie, Zweiter Teil, S. 442


B Zeitbewußtsein, S. 429
RÄTSEL 95

Die Bedenken, die die erwähnten Rätsel auslösen mußten, wur-


den zunächst zurückgestellt. Ein solches Vorgehen fordert Hus-
serl häufig für die phänomenologische Reflexion und gerade auch
für die Behandlung der infrage · stehenden Paradoxien. Dies ist
keineswegs bloß ein methodischer Kunstgriff Husserls, sondern
eine Notwendigkeit, die sich aus dem phänomenologischen An-
satz ergibt: Die phänomenologische Reflexion ist selbst eine Weise
intentionalen Lebens. Dieses steht, wie sich inzwischen gezeigt
hat, unter dem Zwang zur Ontifikation; es stellt sich immer, und
sogar in der radikalen Rückwendung auf sich selbst, transzen-
dente Gegenstände gegenüber und läßt so sich selbst in seinem
"eigentlichen Lebenskern" in der Anonymität.
Die phänomenologische Reduktion kann daher nur unter großer
"Anstrengung des Begriffs" in die Anonymität des Fungierens
eindringen. Sie muß Schritt für Schritt die immer wiederkehren-
den "naiven" Ontifikationen in Klammern setzen, - und dabei
ist sie außerdem darangehalten, die tiefere Reduktionsstufe nicht
deduktiv zu erschließen, sondern als aufweisbaren Ermögli-
chungsgrund der jeweils eingeklammerten Ontifikationen oder
Seinshorizonte ans Licht zu bringen. So war es auch auf der jet-
zigen Stufe der Darstellung notwendig, lebendige Gegenwart zu-
nächst als genetische Ursprungsdimension des noetisch-noema-
tischen Lebens mit einer gewissen Naivität in den Blick zu
nehmen. "Der Rechtfertigung, der Selbstverständigung der Me-
thode muß die naiv geübte Methode vorangehen, und selbst daß
es so sein muß, muß nachträglich einsichtig gemacht werden"l.
Die gerade vollzogene Besinnung auf das Verhältnis von Reduk-
tion und Ontifikation: - Reduktion heißt stufenweise Auf-
hebung der Naivität - stellt eine solche nachträgliche Recht-
fertigung dar; jedoch sogar diese Rechtfertigung kann nur vor-
läufig sein, weil die nun anstehende Durchleuchtung der Rätsel
der lebendigen Gegenwart auch das bisher erworbene Verständnis
für den Ontifikations- oder Transzendenzcharakter des welt-
erfahrenden Lebens vertiefen wird.
Was Rätsel der lebendigen Gegenwart genannt wurde, wird
sich im Folgenden als eine einzige Schwierigkeit,- nur unter ver-
schiedenen Hinsichten- enthüllen. Bevor jedoch die einheitliche
Sicht auf das Ganze der Schwierigkeit hergestellt werden kann,
1 Ms. C 2 I, S. rs (1931)
96 LEBENDIGE GEGENWART

müssen erstdie verschiedenen Hinsichten durchgegangen werden.


Wie die immer vermögliche und daher unendlich iterierbare
Reflexion erwies, zeitigt sich das Ich zum ersten Zeitgegenstand
in der Genese konstituierter Gegenständlichkeit überhaupt. Der
Ursprung dieser Zeitigung liegt in der praereflexiven selbst-
gegenwärtigenden Gegenwart des letztfungierenden Ich. Von
dieser gilt: Das Ich kann I. nur deswegen jederzeit auf sich selbst
zurückkommen, weil es beständig fortströmt und entströmt und
damit entgegenwärtigend urtümlichen Abstand seiner von sich
selbst schafft. Es kann sich 2. in der Selbstgegenwart nur des-
wegen über die Urdistanz hinweg mit sich selbst identifizieren,
weil die strömende "Phasenmannigfaltigkeit" der ichliehen Funk-
tionsgegenwart vorweg schon übergangssynthetisch in der Stän-
digkeit und beharrenden Identität des Ich geeint ist. Es kann
3· in der Rückwendung nur darum seiner selbst ansichtig werden,
weil seine Urfunktion Gegenwärtigung, Vorstelligmachen-in-Ich-
nähe ist.
Andererseits gilt aber auch: Nur in und mittels der phänome-
nologischen Reflexion wird die urphänomenale strömende-stehen-
de Selbstgegenwart des Ich erfahren und als Bedingung der
Möglichkeit für Reflexion aufgewiesen. Nun hat es für die Phäno-
menologie nur Sinn, über Gegenstände im Wie ihres Gegeben-
seins zu sprechen. So entsteht folgende Lage: die radikalisierte
Reflexion auf die Seinsweise des fungierenden Ich verweist gemäß
dem Sinn ihrer eigenen Fragestellung auf Gegebenheiten, durch
die sie selbst genetisch bedingt ist, die also "vor" ihrer eigenen
Aktivität liegen. Was jedoch diese Gegebenheiten sind, kann
sich nur aus dem Wie ihrer Reflektiertheit ergeben. Mit anderen
Worten, die Selbstgegenwärtigung enthüllt ein "Strömen", eine
"Selbstidentifikation" und ein "Gegenwartsein" des Ich, die
offenbar nicht durch die Selbstgegenwärtigung ins Werk gesetzt,
sondern nur nachträglich aufgedeckt sind. Zugleich aber bleibt
der Sinn dieses "nachträglich" dunkel, da die aufgedeckte Seins-
weise des Ich ausschließlich in und mittels aktiver Selbstgegen-
wärtigung erfaßbar ist.
Die rätselhafte, genetisch vor der Reflexion liegende und durch
sie nur aufgedeckte, nach-vollzogene Funktionsgegenwart und
Selbstgegenwärtigung soll nun zunächst nach den genannten drei
Hinsichten in Anlehnung an busserlsehe Bezeichnungen um-
RÄTSEL 97

schrieben werden, ohne daß mit diesen Begriffen schon eine neue
Einsicht gewonnen wäre. r. Der durch die Reflexion nur ent-
hüllte, aber nicht in Bewegung gesetzte Urwandel, das Strömen
der Funktionsgegenwart soll in Aufnahme des schon bekannten
Begriffs , , ur passiv' ' heißen, weil es j eglieher nachgewahrenden
Aktivität zugrunde liegt. 2. Die den urpassiv entstandenen Ab-
stand überbrückende und reflexiv nur nachvollzogene Selbst-
identifikation des letztfungierenden Ich soll "praereflexi v"
genannt werden. 3· Die praereflexive Selbstgegenwärtigung des
Ich bringt die Reflexion als Vergegenständlichung und damit
Zeitigung des Ichpols ans Licht. Im Unterschied zu der Zeitstellen-
gegenwart, als die das Ich dabei gegeben ist, soll seine Seinsweise
in der praereflexiven Selbstgegenwart als "vor- z e it 1i c h" be-
zeichnet werden. Denn in dieser Gegenwart spielt sich das Zeiti-
gen ab, das allem Gezeitigtsein vorausliegt.
Die Termini sind, wie leicht erkennbar, auf gleiche Art und
Weise gebildet: die Vorsilben "ur", "prae" und "vor", von
Husserl selbst häufig eingesetzt, sollen den Wörtern "passiv",
"reflexiv" und "zeitlich", die aus der bisherigen Untersuchung
einen ausweisbaren Sinn mitbringen, ihre innerreflexive und in-
nertemporale Bedeutungsfunktion nehmen. In welchen Erfah-
rungsbezirk sie jedoch nach dieser Operation positiv verweisen,
bleibt vorerst unbekannt. Die drei Hinsichten auf das eine Rätsel
der lebendigen Gegenwart sind nun der Reihe nach durchzugehen.
Dabei werden sich einige Überschneidungen nicht vermeiden las-
sen, zumal die Probleme ja auch in den Forschungsmanuskripten
des Nachlasses nicht systematisch geordnet sind.

2. Die Urpassivität des Strömens


Der urpassive Wandelliegt jeder Aktivität zugrunde. Er ist
eine Bewegung, die durch die Reflexion nicht ausgelöst, sondern
nur mit- oder nachvollzogen werden kann. Die Bewegung des
Strömens fand sich schon bei der Analyse der Tonwahrnehmung.
Dort stellte sich die Frage nach der Ichlichkeit des protentional-
urimpressional-retentionalen Wandels. Daß auch das passivste
Strömen keine nicht-ichliehe Bewegurtg sein kann, der das Ich
einfach unterworfen wäre, wurde durch die Begriffe "entgleiten-
lassen" und "entgegenwärtigen" angedeutet. In der Tat, da mit
Strenge daran festzuhalten ist, daß das transzendentale Ich ab-
98 LEBENDIGE GEGENWART

solutes Funktionszentrum ist, so kann auch der passivste Wandel


nur ein ichliebes Entströmen-Lassen sein. In diesem Sinne ent-
springt der Zeitstrom immer einer ichliehen "Leistung", und
Husserls recht unterschiedliche Versuche,innerhalb dieses grund-
~ätzlichen Rahmens die spezifische Art der IchlicJ:lkeit des
Strömens zu fassen, dürfen nicht dazu verleiten, einen Wandel
seiner Grundabsichten zu statuieren. Man sollte hier nicht so sehr
die aus dieser Bemühung erwachsenden Umbildungen und Wider-
sprüchlichkeiten seines Denkens fixieren, als vielmehr Ausgangs-
punkt und Ziel der phänomenologischen Reflexion· ständig be-
achten und die husserlschen Analysen in diese Denkbewegung
einordnen.
Hier scheint mir auch der faktische Mangel der Darstellung zu
liegen, die die Problematik von Passivität und Aktivität des
Strömens bei A. Diemer findet!. Husserl hatte, wie Diemer richtig
ausführt, die Passivität des Strömensund des urimpressionalen
Wandels der Wahrnehmungsgegenwart als eine ;,Vor-Konstitu-
tion" dargestellt. Nach dieser Lehre begegnen dem Ich bei der
sinnlichen Wahrnehmungsgegenwart zunächst urimpressionale
"Daten"2 und analog bei der reflexiven Selbsterfassung strömen-
de vor-gezeitigte Erlebniseinheiten; beide Gegebenheiten sind
noch nicht eigentlich intentional bewußt; sie sind in diesem Sinne
passiv vor'-konstituiert, vor-gezeitigt oder einfach: "vor-seiend".
Sie werden erst durch aktive intentionale Auffassung, "Apper-
zeption" zu "eigentlich" seienden gezeitigten Einheiten. Dieses
Erklärungsschema hat sich offenbar vom sensualistischen Begriff
der "impression" noch nicht ganz freigemacht, und die phäno-
menologische Einklammerung der Weltgeltung ist also noch nicht
in voller Eindeutigkeit vollzogen. Daß Husserl diese eigene Vor-
eingenommenheit später durchschaute und noch radikaler daran
ging, jegliches Mir-begegnende, nicht nur das im geläufigen Sinne
"Bewußte" und "Apperzipierte", als intentionale Gegebenheit
verständlich zu machen, bedeutet aber nicht, daß "es Konstitu-
tion nur gibt durch die aktive Leistung des Ich"3. Die Unter-
schiede von passiver und aktiver Intentionalhabe bleiben viel-
mehr bestehen; es wird nur das Mißverständnis ausgeräumt, als

1 Diemer a.a.O., S. I45-I48


I Vgl. Zeitbewußtsein, S. 37I
a Diemer a.a.O., S. x46
RÄTSEL 99

sei die passivste Konstitution, der urimpressionale Wandel, nicht


ichlieh "vollzogen". In grundsätzlichem Sinne kann keine Rede
davon sein, daß es im Laufe der husserlschen Entwicklung erst
allmählich zur "ständigen Zentrierung durch den Ichpol"l ge-
kommen sei. Daß alles Welt-für-mich ist und in diesem Sinne
"ichlichen Charakter"2 hat, steht mit dem Einsetzen der phäno-
menologischen Reflexion außer Frage, fraglich ist nur die Art
dieser Ichlichkeit.
Wie hieraus ersichtlich, ist es durchaus sinnvoll, auch im Sinne
des späten Husserl von Vor-Sein und Vor-Zeitigung zu sprechen,
wenn man diese Begriffe als Fingerzeige, als Behelfsbegriffe im
Bereich der Urpassivität nimmt. Diemer zitiert ausführlich ein
wichtiges Manuskript, das teils von 1930, teils von 1932 stammt,
aus dem nach seiner Auffassung hervorgehen soll, daß es nach
Husserls "späterem Standpunkt" nur noch aktive Konstitution
gibt. In Wirklichkeit bezieht sich der Text gerade auf das Rätsel
des urpassiven Strömens, indem er von der auch in dieser Dar-
stellung getroffenen Feststellung ausgeht, daß wir vorerst nur von
einer vermöglichen oder reflexiven Selbstzeitigung des Ich und
nichts Positives von einem urpassiven Prozeß wissen. In diesem
Sinne wird im Text von 1930 zunächst gefragt: "Wie steht es mit
dem Strom und seiner ,passiven Intentionalität', der passiven
Zeitigung einer ,Vor'-Zeit und und eines Vor-Seins, eines in
dieser Vor-Zeit mit dem Vorzeichen ,vor' zu verstehenden Zu-
sammenseins (,Koexistenz') und Nacheinanderseins ... ?"3
Wie steht es, m.a.W., mit der strömenden "Phasenmannigfal-
tigkeit" der lebendigen Gegenwart, die noch nicht Abfolge von
Zeitstellen sein kann? Und wie steht es, was damit zusammen-
hängt, mit der ichliehen Beteiligung an diesem vor-zeitlichen
Strömen; ichliehe Beteiligung ist bisher nur als "Leistung", als
Erwerb von Zeitstelleri-Einheiten bekannt. Das Strömen und die
damit auftretende innere Pluralität der lebendigen Gegenwart
liegen "vor" diesem "Leisten":
"Passiv besagt also, <daß> hier ohne Tun des Ich, mag auch
das Ich wach sein und das ist tuendes Ich sein, der Strom ge-
schieht, -der Strom <hier= Strömen> ist nicht aus einem Tun

1 Ebendort
2 Vgl. ebendort
3 c I7 IV, s. I (1930)
100 LEBENDIGE GEGENWART

des Ich, als ob es darauf gericht'et wäre, es (das Tun) zu verwirk-


lichen, als ob es sich verwirklichte aus einem Tun"l.
Husserl fragt sich nun, woher er das Recht nimmt, so wie er es
noch rg3o getan hatte, eine aktive, reflexive Intentionalität und
außerdem eine passive Vor-Konstitution anzusetzen. Der Ver-
such, den Charakter der passiven Vor-Konstitution positiv zu be-
stimmen, gerät in unübersteigbare Schwierigkeiten:
, 1 !932: Die Lösung dieser Schwierigkeit besteht wohl darin daß

ich, das phänomenologisierende transzendentale Ich, das strö-


mende ständige Leben thematisierend eben damit aktiv eine
eigentümliche Verzeitigung vollziehe, identifizierend, indem ich die
retentionale Wandlung nicht nur erlebe, sondern in ihr Erfassen,
Behalten im ichliehen Sinne übe und von da aus die Apperzeption
als Seiendes, wiederholbar Identifizierbares vollziehe. In nach-
kommender reflektiver Aktivität wieder vergegenständlichend
sehe ich und sage ich: zum Wesen des Erlebnisstromes, der in sich
keine eigentliche Zeitigung vollzieht und keine entsprechende Be-
wußtseinsleistung ist, gehört meine ständige Vermöglichkeit, ihm
Intentionalität sozusagen einzuflößen. Aber die wirkliche Zeiti-
gungist nun nicht die des Stromes, sondern meine, des transzenden-
tal phänomenologisierenden Ich"2.
Husserl sagt also: Nur die reflexive aktive ("wirkliche") Selbst-
Thematisierung und damit Selbstzeitigung ist aufweisbar und
nachweisbar. Darüberhinaus ist keine Bewußtseinsleistung be-
kannt. Der Umstand, daß ich die "retentionale Wandlung", d.h.
das Strömen, "erlebe", bevor ich "in ihr Erfassen, Behalten im
ichliehen Sinne übe" und dadurch die aufweisbare Selbstzeitigung
vollziehe, -dieser Umstand läßt nur die Aussage zu, daß eben
der Lebensstrom ständig reflektierbar war, daß ich m.a.W.
das Vermögen hatte, "ihm Intentionalität", d.h. hier: aktives
Erlaßtwerden als Zeitgegenständlichkeit, "sozusagen einzu-
flößen." -Dasselbe, wieder in Abgrenzung gegendiefrühere Lehre
von der Vor-Konstitution, sagt ein späterer Abschnitt des Textes:
"Nach den späteren Klärungen (r932) bin ich zur Überzeugung
gekommen, daß es nicht zweierlei Intentionalität im eigentlichen
Sinne gibt und somit im eigentlichen Sinne keine Vor-Zeitigung.
Die wirkliche Zeitigung, die in der evidenten zeitlichen Gegeben-
1 a.a.O., S. I ff.
a Ms. C 17 IV, S. 4 (1932)
RÄTSEL 101

heitsweise des Stromes der Erlebnisse vorausgesetzt und getätigt


ist, ist die des transzendental-phänomenologisierenden Ich. In-
dem es sie ursprünglich tätigt, hat es die Evidenz der Erlebnis-
zeitlichkeit und so ist das apodiktische Wahrheit. Zeitlichkeit ist
eben in jeder Weise Ichleistung, ursprüngliche oder erworbene"!.
Wichtiger für den augenblicklichen Zusammenhang als diese
Sätze, die nur das oben gegen die Vor-Konstitution Gesagte be-
kräftigen, ist die Fortsetzung: Wenn nur aktive, reflexive Selbst-
zeitigung als "eigentliche" und "wirkliche" Zeitigung aufweisbar
und damit nachweisbar ist und wenn andererseits der urimpres-
sional-retentionale Wandel und die Zeitlichkeit der Noesen ("Er-
lebniszeitlichkeit") jederzeit angetroffen wird, dann liegt der
Schluß nahe, daß der transzendentale Lebensstrom immer schon
aus reflexiver Aktivität gezeitigt wird. Aber diese Aktivität
wüßte sich selbst schon als zeitlich ablaufend und würde also
ihrerseits eine konstituierende reflexive Aktivität verlangen, in
der sie gezeitigt wäre, usw .... Der Schluß kann also wegen der
Sinnlosigkeit des sich ergebenden unendlichen Regresses nicht
gezogen werden. Deshalb fährt Husserl fort:
"Zeitlichkeit ist eben in jeder Weise Ichleistung, ursprüngliche
oder erworbene <d.h. gerade aktiv vollzogene oder vermögliche).
~Es ist aber natürlich nicht so2, daß diese Erlebnisverzeitlichung
immerzu betätigt ist und gar als eine transzendentale, reine, die
erst des transzendental-phänomenologischen Ich bedarf, des Ich,
das in der Epoche tätig ist. Man sieht ja, daß, wenn das ständige
Strömen in sich als Strom <= in seiner Selbstzeitigung zum Le-
bensstrom) immer schon wirkliche <= aktive, reflexive) Inten-
tionalität hätte, wir auf einen unendlichen Regreß kämen".
Nun folgt gewissermaßen in Parenthese: "Immer schon aus
Aktivität gezeitigt ist <allerdings) das menschliche Leben in
seiner menschlichen seelischen Zeitlichkeit, die eingeordnet ist in
die allgemeine Weltzeitlichkeit"3.
Doch dieser Umstand hilft hier nicht weiter; das "Woher" des
Erlebnisstromes kann nur im Rückgang auf das letztfungierende
transzendentale Ich und seinUrströmen ermittelt werden. Daher
gilt: "Die Rückfrage muß hier alles klären. Der Strom ist apriori
1 Ms. C 17 IV, S. 5 (1932)
2 Das Stück von "ursprüngliche ... " bis " ... so" fehlt bei Diemer, S. 147, ohne
Markierung der Auslassung. Ein Druckfehler?
3 Ms. C 17 IV, S. 5 ff. (1932)
102 LEBENDIGE GEGENWART

von dem <letztfungierenden> Ego <her> zu verzeitlichen; dieses


Verzeitlichen ist selbst strömendes; das Strömen ist immerzu im
Voraus; aber auch das Ich ist im Voraus ... "1
Der Gedankengang schweift nun von diesem Thema ab und
greift dann noch einmal die schon 1930 gestellte Frage des Ur-
Strömens auf:
"Hinsichtlich der Deskription des Strömens haben wir das
Problem der Vor-Intentionalität und Vor-Zeitigung als der Selbst-
zeitigung des stehenden Strömens zum eigentlichen Erlebnis-
strom ... "2
Husserl benutzt alsotrotzder "späteren Klärungen" von 1932
erneut die Ausdrücke Vor-Intentionalität und Vor-Zeitigung.
Seine Ausführungen, die ihrer ersten Absicht nach darauf ab:-
zielen, den Begriff der Vor~Konstitution zu überwinden, lassen
zugleich deutlich werden, daß es ein urpassives Strömen gibt. Sie
verwehren aber die Möglichkeit, die Bewegung dieses Strömens
von einer ichliehen Aktivität her und seine Phasenmannigfaltig-
keit als eine gezeitigte Stellenabfolge zu denken. Es bleibt also
die offene Frage, wie über das urpassive Strömen überhaupt
etwas ausgesagt werden soll; wäTe es selbst eine Zeitigung, die
irgendwie nach Art der aktiven reflexiven Selbstgegenwärtigung
und damit -zeitigung gedacht werden könnte, so würde dies auf
den unendlichen Regreß in der Zeitigung führen.
Die rätselhafte Vorgegebenheit des urpassiven Strömens darf
im übrigen nicht mit der Vorfindlichkeit der vorphänomenologisch
naiv erfahrenen menschlichen Selbstgegebenheit verwechselt wer-
den. Diese kann ja nur durch Rückfrage nach den normalerweise
verborgenen konstitutiven "Leistungen" aufgeklärt werden. Da-
her hieß es im Text: "immer schon aus Aktivität gezeitigt ist
<allerdings> das menschliche Leben in seiner menschlichen see-
lischen Zeitlichkeit, die eingeordnet ist in die allgemeine Welt-
zeitlichkeit. <Aber> die Rückfrage muß hier alles klären ... "3.
Ebenso wie die angeführten Reflexionen wehren auch andere
Texte das Mißverständnis ab, als sei das urpassive Entströmen-
lassen nach dem Modell der Gegenstandshabe, d.h. irgendeiner
Weise affektiver oder aktiver Zeitigung zu fassen. Darum kann

1 a.a.O., S. 6 (1932)
2 a.a.O., S. 7 (1932)
a a.a.O., S. 6 (1932)
RÄTSEL 103

Husserl sagen: "Selbstzeitigung als Leistung des urtümlichen


Strömens ist ein gefährliches Wort. Das Strömen als solches zeitigt
nicht. .. "1 Andererseits gilt aber auch: "Dieses ganze urströmende
Geschehen ist nicht totes <= unlebendiges = nicht-ichliches) Ge-
schehen, sondern ichliehe ,Leistung' ist derinnerste Motor"2. Und
doch führt die radikalisierte Rückfrage nach dem letztfungieren-
den Ich der strömenden Gegenwart zu der Einsicht, daß "Aktivi-
tät überhaupt als solche ihre ,Voraussetzungen' hat, ,Bedin-
gungen ihrer Möglichkeit', die nicht selbst durch Aktivität ent-
springen"3. - In der "Vor-Zeitigung", im urpassiven Strömen-
Lassen "zeitigt sich ein absolut anonymer <wesenhaft unbekannt
bleibender)4Seinssinn, der nicht schon, ,geprägter'<= ge-
zeitigter> ist, vielmehr erst durch meine Prägung als phänomeno-
logisch Forschender die Gestalt eines eigentlichen Seinssinnes hat,
während er doch, in apodiktischer Rückfrage ,hinterher' aufge-
wiesen, die apodiktische Seinsgeltung hat von einem, was schon
war und konstituierend fungierte und doch nicht ,vorgegeben'
<als Gegenständlichkeit), nicht geprägt, nicht explikabel war. -
Das sind allerdings keine leicht zu klärenden Sachlagen"5.
Und wie klärt Husserl die Sachlage? 1934 schreibt er: Das
urtümliche Strömen" ... ist als ,Vor'-Sein unerfahrbar und un-
sagbar, - soweit aber das Unsagbare bzw. Unerfahrbare <re-
flexiv> aufgewiesen, also doch erfahren und zum Thema einer
Aussage wird, ist es eben ontifiziert"6. Und was istdas urpassive
Strömen vor seiner Ontifikation? Diese Frage kann und darf
nicht gestellt werden, weil sie schon wieder impliziert, daß das
Strömen als ein Seiendes angesprochen wird; damit aber ist es
bereits als Zeitlichkeit verstanden. Die Frage nach dem Strömen
in seiner Urpassivität, die zugleich die Frage nach dem Ich in
seinem vor-zeitigenden strömenden Entspringenlassen des Le-
bensstromes ist, bleibt rätselhaft und dies so sehr, daß auf dem
Boden der phänomenologischen Reflexion nicht einmal ange-
geben werden kann, wie die Frage angemessen gestellt werden
soll; denn obwohl es aufgrund der Rückfrage nach dem Ietzt-

1 Ms. C r7 I, S. r8 (1931)
2 Ms. C ro, S. 23 (1931)
a Ms. C 2 I, S. 7 (1931)
4 Zum Begriff "anonym" vgl. den Schlußabschnitt dieses Kapitels
s Ms. B III 4, S. 59 (1933)
6 Ms. C 13 II, S. 9 (1934)
104 LEBENDIGE GEGENWART

fungierenden Ich, nach den Bedingungen der Möglichkeit aller


Aktivität, unvermeidlich zu Aussagen über Urpassivität, strö-
mendes Vor-Sein und Vor-Zeitigung kommt, bleiben diese Aus-
sagen ebenso notwendig inhaltsleer: Inhaltsvolle, positive Aus-
sagen haben Seiendes, d.h. konstituierte zeitliche Gegenständ-
lichkeit zum Thema. So kann auch nur über das urgegenwärtige
Strömen als ontifiziertes gesprochen werden, - und obwohl
Ontifikation ihrem eigenen Sinne nach auf ein Letzt-ontifizieren-
des, das urpassive Strömen, verweist, kann nicht einmal positiv
gesagt werden, worin das gleichsam "Entstellende" der Onti-
fikation liegen mag. Das Strömen der lebendigen Gegenwart ist
und bleibt nur in reflexiver Selbstgegenwärtigung, d.h. Zeitigung,
d.h. Ontifikation gegeben.
Es fällt auf, daß Husserl angesichts der von ihm selbst ge-
sehenen Schwierigkeiten niemals die Frage stellt, ob es nicht
vielleicht Aussagen gänzlich neuer Art über das letztfungierende
Entströmenlassen als vor-zeitigendes, aber noch nicht gezeitigtes,
d.h. über die Urpas§ivität in ihrer Unerfahrbarkeit geben könnte.
Husserl macht die Rätselhaftigkeit selbst nicht eigens zum The-
ma, und er kann dies nicht, weil phänomenologisch sinnvolle Aus-
sagen prinzipiell nur über reflexiv Selbstgegebenes, Aufweisbares,
Anschaubares und in diesem Sinne Nachweisbares möglich sind.
Wie steht es aber mit der Denkbarkeit des reflexiv anschaulich
Unerfahrbaren? Diese Frage sei auf den III. Teil dieser Arbeit
verschoben. Es folgt zunächst die Erörterung des zweiten Aspekts
der Rätselhaftigkeit der lebendigen Gegenwart.

3. Die praereflexive Synthesis


Bisher war von der vor-seienden Abstandnahme des Ich von
sich selbst durch das urpassive Entströmen-Lassen die Rede. G.
Brand spricht von einer ersten "Spaltung" oder "Selbstent-
fremdung" des Ichl. Nun ist zu erörtern, wie die ichliehe Funk-
tionsgegenwart über die urpassiv entstandene Distanz hinweg
und vor aller aktiven Selbstidentifikation schon in einer urtüm-
lichen Übergangssynthese in sich geeint ist. Thema ist also die
praereflexive Zusammennahme des Ich mit sich selbst. Brand
nennt diesen Wesenszug des Ichseins "Reflexion im Ansatz",
weil er die ausdrückliche reflexive Selbstidentifikation ermöglicht,
1 Brand a.a.O., S. 6x ff.
RÄTSEL 105

zu der das Ich jederzeit gleichsam auf dem Sprung steht. Die
praereflexive Selbstidentifikation charakterisiert er auch als
"ein ungegenständliches Gegenwärtigsein seiner selbst"l. Das-
selbe besagt der Satz "Ich bin mir also selbst gegenwärtig in der
eigentümlichen Form des ,Jetzt', ohne gegenständlich zu sein,
nicht mich erkennend und erkenntnismäßig, sondern ganz un-
mittelbar"2. Daß diese Aussagen jedoch, weil von der Reflexion
her gemacht, entweder ganz leer an positivem Inhalt bleiben oder
aber doch nicht wörtlich zu nehmen sind, das zeigen folgende
Sätze Brands, die sich auf denselben Sachverhalt, die "Reflexion
im Ansatz" beziehen: " ... immer schon hat das Ur-Ich reflek-
tiert, sodaß Ur-Ich sich selbst immer schon besitzt als reflek-
tiertes"3. Oder: "Wenn wir also auch sagen müssen, daß das Ich
nicht aus Reflexion ist, <d.h. sich nicht durch Reflexion aktiv
erzeugt), so müssen wir doch erkennen, daß zum Ich immer the-
matische Selbstwahrnehmung gehört, die eben nur als vollzogene
Reflexion wirklich wird"4. Wie sollen diese Sätze zusammen-
stimmen? Die praereflexive Selbstgegenwärtigung soll einerseits
von der Art "thematischer Selbstwahrnehmung" sein, das Ich
soll sich darin "besitzen" "als reflektiertes": - verrät nicht die
Wortwahl, daß uneingestandenermaßen doch an ein reflexives
Vorstelligmachen gedacht ist? Was kann aber dann andererseits
mit dem "ganz unmittelbaren" und "ungegenständlichen" Ge-
genwärtigsein meiner für mich selbst noch positiv gemeint sein?
-Der Konfrontation von Zitaten ging es nicht um Widersprüche,
die bloß der brandscheu Darstellung zuzuschreiben wären, son-
dern nur um das darin erscheinende Rätsel der "Sache selbst", -
ein Rätsel, das Brand allerdings in seiner Abhandlung nicht zur
Sprache gebracht hat.
Wieweit die Beschreibung des unbekannten und nur in und
mittels aktiver Selbstgegenwärtigung und -zeitigung bekannt
werdenden Wesens der Praereflexivität sich überhaupt auf
diesem Problemstand von der Sprache der Reflexion lösen kann,
zeigen die folgenden Überlegungen Husserls, die ihrer Wichtig-
keit wegen ausführlicher zitiert seien:

1 a.a.O., S. 69
2 a.a.O., S. 65
3 a.a.O., S. 74
4 Ebendort
106 LEBENDIGE GEGENWART

"Ich bin ständig fungierend und durch all mein Fungieren und
Fungieren in Bezug auf das Fungieren <= Reflektieren> dasselbe
Ich, das Ich, das jede Leistung behält, -nur ständig in Selbst-
zeitigung und ontischer <= Welt-> Zeitigung lebend, - <und das>
ständig urformendes <= urkonstituierendes> Ich ist im Strömen
der Funktionen, die als entströmende abgewandelte Funktionen
sind und ,noch' lebendige Funktionen <sind). Das ständige Ich
<ist> ständig Urquelle, identisch nicht durch ein ,Identifizieren',
sondern als ureinig sein, seiend im urtümlichsten Vor;.sein ... "1.
"Sofern es <das urfungierende Ich> selbst der Zeitigung unter-
liegt in jeder Aktion und Affektion, also selbst im Bewußtseins-
feld Auftreten hat, wird es auch von sich selbst affiziert und kann
in bezug auf sich selbst und <sein>2 vergangenes Ichsein, Ichtun
aktiv werden. Freilich ergibt die Einzigartigkeit des Ich als Ich -
das Wort Einzigartigkeit3 ist eigentlich widersinnig, weil es aus
dem Ich eine bloße Art von Zeitlichem macht, während es das
gerade nicht ist- eine grundverschiedene Weise, wie das Ich von
sich selbst affiziert in bezug auf sich aktiv werden kann. In ge-
wisser Weise kann alles Zeitliche thematisch werden in der Weise
der Betrachtung, als Gegenwärtiges, als Vergangenes, in einer
Zeitstrecke, in seinen Zeitmodis; aber ich bin nicht nur ,etwas'
für mich, sondern ich bin ich, - als Ich ,bin' ich affiziert,
mich zuwendend, beschäftigt in der oder jener Aktivität
bin ich in einer Weise ständig mit mir in Konnex, mit mir,
derich so und so aktiv war. Die ,alte' Aktivität istnicht nur jetzt
bewußt als vergangene, der Vergangenheitsphase des als verhar-
rendbewußten Ich zugehörig, sondern mir, dem jetzigen Ich gehört
sie noch zu in ihrem Modus der Noch-Geltung ... Diese Noch-
Geltung ist nicht ein Aktverhalten zu dem gezeitigten früheren
Akt, also etwa gleichstehend mit einem Akt des Daraufbinseheus
wie etwa auf einen vergangeneu Ton; sondern ich, der ich ste-
hendes Ich bin und jetzt den oder jenen neuen Akt vollziehe,
bin es, der nicht nur damals diese oder jene Wertung, diese oder
jene urteilende oder praktische Stellungnahme genommen hat,
vielmehr ich bin fetzt noch in Stellung . .. ''4.

t Ms. A V 5, S. 5 (1933)
2 Im Orig.: "von seinem"
a Zum Begriff "einzig" bzw. "einzigartig" vgl. den III. Teil, S. 16off.
4 Ms. A V 5, S. 8 f. (1933)
RÄTSEL 107

Hauptthema der weiteren Überlegungen wird in der Fortset-


zung des Textes immer deutlicher das sich selbst beerbende Ich
der Habitualitäten. Im zitierten Abschnitt ist ebenfalls nicht
ausdrücklich die praereflexive Selbstgewahrung Thema, sondern
der "Konnex" des Ich mit sich selbst, sofern er ichliches Be-
halten von Vollzügen ermöglicht. Diese Ermöglichungsverhält-
nisse wurden schon im vorigen Kapitel erörtert.- Für die Frage
der Praereflexivität sind die gleichsam nebenbei abfallenden Be-
merkungen Husserls von Belang: über den Konnex des Ich mit
sich selbst, über sein "ureinig Sein", das nicht durch ausdrück-
liches "Identifizieren" zustande kommt. Dieses Ureinigsein ist,
wie aus dem Text ersichtlich wird, nichts anderes als die vor-
seiende, d.h. vor-zeitliche Ständigkeit des Ich. Diese Ständigkeit
läßt sich als das Resultat der immer schon vollzogenen Zusam-
mennahme des Ich mit sich selbst zu einem stehend Identischen
bezeichnen.
Hier wird deutlich, daß sich die weitere Erörterung der rätsel-
haften Seinsart des Ich an seine "Ständigkeit" zu halten hat.
Jedoch auch auf diesem Wege bleibt die Sprache der Unter-
suchung zunächst im Bereich des Gezeitigten und Reflektierbaren.
Das stehende Ich, das seine "alte Aktivität" nicht als vergangene
bewußt hat, wie es im Text hieß, sondern als sich selbst zugehö-
rige in "Noch-Geltung" behält, erweist sich in der Fortsetzung
des Textes als das im Zeitstrom verharrende Ich der Habituali-
täten, das eben auch schon gezeitigtes Ich ist.
Wie steht es in anderen Texten mit der Ständigkeit im Strö-
men, die nichts anderes als das bleibende praereflexive "Ur-
einigsein" des Ich ist? Diese Ständigkeit kommt, wie bereits be-
kannt, durch die Iteration und unendliche Iterierbarkeit der
Reflexionen phänomenologisch zum Vorschein: Zu jeder re-
flexiven Selbstgegenwärtigung gehört das Horizontbewußtsein,
daß ich in beliebigen Wiederholungen dieses Aktes immer nur
"mich", den identischen und individuellen Pol meines Fungierens
antreffen werde. Ein Passus über dieses Thema in den Ideen . .. I I
ist so wichtig, daß er hier vollständig zitiert sei:
"Zum Wesen der Selbsterinnerung gehört offenbar, daß das
selbst-wiedererinnerte reine Ich als vergangenes bewußt ist, daß
andererseits eine Blickwendung möglich ist, vermöge deren das
reine Ich sich als reines Ich des Wiedererinnerns erfaßt, somit als
108 LEBENDIGE GEGENWART

selbstwahrgenommene aktuelle Gegenwart, desgleichen, daß es


sich vom vergangeneu Jetzt bis zum aktuellen fließenden
Gegenwarts-Jetzt hin als zeitlich dauerndes erfaßt usw ....
Zu bemerken ist dabei, daß überall zwar das Vergegenständ-
lichte, z.B. das wahrgenommene und wahrnehmende reine Ich zu
unterscheiden ist. Aber wie sehr sich damit eine phänomenolo-
gische Wandlung ausdrückt hinsichtlich des cogito, das einmal
unreflektiertes, ursprüngliches cogito ist, das cogito des ur-
sprünglich vollziehenden reinen Ich, und das andere Mal reflek-
tiertes, als wesentlich gewandeltes, intentionales Objekt oder
Medium eines neuen Aktes, durch das hindurch das vollziehende
Ich das Vollziehen des alten Aktes erfaßt: so ist doch evident,
dank weiterer Reflexionen höherer Stufe, daß das eine und
andere reine Ich in Wahrheit ein und dasselbe ist,
nur eben einmal gegeben, das andere Mal nicht gegeben, oder in
höherer Reflexion einmal schlicht gegeben, das andere Mal in
einer weiteren Mittelbarkeitsstufe gegeben. Ebenso wie ja auch
das ursprüngliche cogito selbst und das reflektiert erfaßte cogito
dasselbe ist und mittelbar in einer Reflexion höherer Stufe als
absolut das selbe zweifellos erfaßt werden kann. Gewiß ändert
sich beim Übergang vom Ursprungsakte zur Reflexion auf ihn
das ganze Erlebnis, gewiß ist das frühere cogito in der Reflexion
nicht mehr reell vorhanden <sondern in r. Transzendenz), näm-
lich so vorhanden, wie es unreflektiert lebendiges war; aber die
Reflexion erfaßt und setzt ja nicht als seiend, was im jetzigen
Erlebnis als Modifikation des cogito reelles Bestandstück ist.
Was sie setzt, das ist (wie eben eine Reflexion höherer Stufe mit
Evidenz erfaßt) das Identische, das einmal gegenständlich ge-
geben ist, einmal nicht. Erst recht nun ist das reine Ich zwar
etwas im betreffenden cogito zur Erfassung Kommendes, aber
nicht etwa ein reelles Moment desselben. Was sich phänomeno-
logisch ändert, wenn das Ich gegenständlich oder nicht gegen-
ständlich ist, ist nicht das Ich selbst, das wir in Reflexion als
absolut identisches erfassen und gegeben haben, sondern das
Erlebnis"l.
Dieser Abschnitt wird auch bei Brand zitiert, nämlich als Beleg
dafür, daß das Ich eben außerhalb der Reflexion "ungegenständ-

1 Ideen II, S. 101 ff.


RÄTSEL 109

lieh sich gegenwärtig"! sei. Genauer besehen ist jedoch garnicht


die praereflexive "Synthesis" der lebendigen Gegenwart hier
gemeint, sondern ein Horizontbewußtsein, das sich durchaus noch
in der Sphäre der "immanenten" Zeit, des schon in erster Trans-
zendenz konstituierten noetischen Bewußtseinsstromes hält. Dies
zeigt die von Brand nicht zitierte unmittelbare Fortsetzung des
Absatzes:
"Es ist übrigens zu beachten, daß die Einheiten, die wir hier
überall betrachten, so z.B. das identische cogito, als Einheiten
einer Dauer, in ihr sich so und so wandelnd, eben selbst schon
bewußtseinsmäßig konstituierte Einheiten sind, nämlich sich
konstituierend in einem tieferen, entsprechend mannigfaltigen
,Bewußtsein' eines anderen Sinnes, in dem all das, was wir bisher
,Bewußtsein' oder Erlebnis nannten, nicht reell vorkommt, son-
dern als Einheit der ,immanenten Zeit', mit der es sich selbst
konstituiert. Dieses Tiefste, die immanente Zeit und alle ihr ein-
geordneten Erlebniseinheiten, darunter alles cogito konstitu-
ierende Bewußtsein, haben wir absichtlich in dieser Abhandlung
außer Betracht gelassen und unsere Untersuchung durchaus in-
nerhalb der immanenten Zeitlichkeit gehalten. Und zu dieser
Sphäre gehört auch das identische reine Ich. Es ist als identisches
dieser immanenten Zeit. <! )" 2
Deutlicher kann garnicht gesagt werden, daß sich die oben
zitierten Reflexionen durchaus im Bereich des bereits in der
lebendigen Gegenwart gezeitigten noetischen Lebensstromes
halten. Dies scheint mir bei Brand übersehen, - wie er überhaupt
die Problematik der radikalisierten Reduktion auf die lebendige
Gegenwart unerwähnt läßt. Mit dem "ungegebenen" Ich, von
dem im oben zitierten Abschnitt die Rede war, ist keineswegs das
"unsagbare" und "ungegenständliche" Gegenüber der prae-
flexiven Synthesis gemeint, sondern nur das Verharren des
schon gezeitigten ständigen Ichpols in der "immanenten" Zeit,-
ein Verharren, das in jeder Reflexionhorizonthaft mitbewußt ist;
denn in jeder Reflexion liegt das: "Ich kann" auf N oesen jeder
Vergangenheitsstufe und den darin mitgegebenen identisch ver-
harrenden Ichpol zurückkommen. Ganz deutlich heißt es schon
in den Ideen I:
1 Vgl. Brand, a.a.O., S. 67
s Ideen 11, S. 102 ff.
110 LEBENDIGE GEGENWART

"Zur Seinsart des Erlebnisses gehört es, daß sich auf jedes
wirkliche, als originäre Gegenwart lebendige Erlebnis ganz un-
mittelbar ein Blick erschauender Wahrnehmung richten kann.
Das geschieht in Form der , Reflexion' (deutlicher Erlebnis-
reflexion), die das merkwürdig Eigene hat, daß das in ihr wahr-
nehmungsmäßigErfaßte sich prinzipiell charakterisiert als etwas,
das nicht nur ist und innerhalb des wahrnehmenden Blickes
dauert, sondern schon war, ehe dieser Blick sich ihm zu-
wendete. ,Alle Erlebnisse sind bewußt', das sagt also speziell hin-
sichtlich der intentionalen Erlebnisse, sie sind nicht nur Bewußt-
sein von etwas und als das nicht nur vorhanden, wenn sie selbst
Objekte eines reflektierenden Bewußtseins sind, sondern sie sind
schon unreflektiert als ,Hintergrund' da und somit prinzipiell
wahrnehmungsbereit in einem zunächst analogen Sinne, wie unbe-
achtete Dinge in unserem äußeren Blickfelde"l.
Genau dasselbe meint eine Stelle in den Beilagen der Ideen . .. II:
"Das Ich ist sich selbst gegenüber, es ist für sich selbst,
in sich selbst konstituiert. Jedes Ich kann auch einem oder meh-
reren anderen Ich gegenüber sein, konstituiertes Objekt für sie,
von ihnen aufgefaßt, erfahren etc. Aber es ist eben auch für sich
selbst konstituiert und hat seine konstituierte Umwelt an Nicht-
Ich, an bloßen ,Objekten', die nur als konstituierte für ein Ich,
nicht aber als sich in sich selbst konstituierende, als Ich sind.
Man darf nicht verwechseln das allgemeine Objekt-sein
(dessen Spezialfall das besondere Objektsein des Nichtich, aber
auch das Ich-sein ist als im weiteren Sinne für sich selbst Objekt-
sein) mit dem Aufgemerkt-sein, Objekt von Thesen, Stellung-
nahmen sc. eines Ich-seins. Letzteres setzt das erstere voraus.
Ich ,werde' mir zum Gegenstande- zum Gegenstande eines Auf-
merkens usw. Ich bin mir aber auch nur insofern Gegenstand, als
ich ,Selbstbewußtsein' habe, auch wenn ich nicht reflektiere.
Hätte ich es nicht, dann könnte ich auch nicht reflektieren.
Ebenso geht jedem Aufmerken wesentlich ein konstitutives Bewußt-
sein der betreffenden Gegenständlichkeit vorher"2.
Das heißt: ich habe, wenn ich das Ich als Zeitobjekt wie andere
Objekte thematisiere, bereits ein "konstitutives Bewußtsein" von

1 Ideen I, S. 104 ff.


s Ideen 11, S. 318
RÄTSEL 111

der "betreffenden Gegenständlichkeit", nämlich in diesem Falle:


dem gezeitigt verharrenden Ich pol, gehabt: das Ich ist schon als
Zeitobjekt konstituiert und daher dann auch in dem "Selbst-
bewußtsein", das ich von mir als gezeitigtem "immanentem"
Zeitgegenstand habe, horizonthaft mitbewußt. - Brand zitiert
nur den Satz, der vom "Selbstbewußtsein" handelt, und den dar-
auf folgenden, und erweckt so den Eindruck, als sei vom prae-
reflexiven "Selbstbewußtsein" des Ich in lebendiger Funktions-
gegenwart die Rede. In Wirklichkeit ist, wie der Kontext zeigt,
abermals nur die horizonthaft gegebene Wahrnehmungsbe-
reitschaft, wie es in der vorher zitierten Stelle der Ideen I
hieß, will sagen: die vermögliche Reflektierbarkeit der N oesen
und des mitgezeitigt verharrenden Ich im "immanenten" Strom
gemeint.
Im gleichen Sinne sind gelegentliche Äußerungen Husserls über
die Selbstaffektion des Ich aufzufassen. Zum Beispiel: "Ein
Akt ist notwendig immer affizierend, und das Ich, das in den Ak-
ten als ihr Deckungspol auftritt, ist eben damit ebenfalls immer
affizierend; es kann nichtfungieren, ohne sich selbst, sich als fun-
gierendes zu affizieren"!. Das heißt: Eine vergangene Noese liegt,
weil von mir vollzogen, im Feld meiner vermöglichen Rück-
wendung auf sie; dasselbe gilt aber auch für das Ich, das, wie
bekannt, analog dem ruhend verharrenden Gegenstandspol als
"Deckungspol" im Wechsel seiner N oesen gegenständlich er-
fahren werden kann. In diesem Sinne heißt es in einer Beilage
von Erste Philosophie:
" ... in jeder Reflexion finde ich mich, und <zwar als>
dasselbe Ich, in notwendiger Selbstdeckung. Ich sehe,
daß das sozusagen in der Naivität der Ichlosigkeit dahinströmen-
de Leben nur des Ich nicht bewußt war, aber daß das Ich da war.
Insbesondere sehe ich, daß das Leben sich nicht erschöpft im
wachen Leben in der Form des eigentlichen ,Ich denke' (des auf-
merksam zugewandten, erfassenden, stellungnehmenden oder
quasistellungnehmenden Ich}, sondern daß es so etwas wie Hin-
tergrundphänomene gibt, die doch nicht ichlos im wahren
Sinne sind. Ich werde auf die Affektion aufmerksam ... " usw.
Einige Zeilen weiter: ". . . das Ich ... ist für sich selbst inten-
tionaler Gegenstand, der, wie bei allen intentionalen Gegen-
1 Ms. C 10, S. 15 (1931)
112 LEBENDIGE GEGENWART

ständlichkeiten, nur denkbar ist als Gegenständlichkeit in dem


oder jenem Modus: während doch die Gegenständlichkeit durch
alle diese Modi erkennbar dieselbe ist. <= Gegenstandspol>
Andererseits, in allen Reflexionen ist das Ich gegenständlich -
und zugleich ist immer das Ich da, das nicht gegenständlich ist.
Dieses Nichtgegenständlich-sein sagt nur Nicht-aufgemerkt-, Nicht-
erfaßt-sein"1.
Es sagt m.a.W. dasselbe wie "Hintergrundphänomen"-Sein,
d.h. horizonthaft mitbewußt Sein. Wenn nicht schon aus dem
Text hervorginge, daß hier von der eigentlichen und rätselhaften
Praereflexivität in der lebendigen Gegenwart noch nicht die Rede
ist, so würde es eine unmißverständliche Anmerkung Husserls zu
dieser ganzen Überlegung zeigen; sie lautet: "Nicht zu übersehen
<ist), daß wir hier nicht apodiktische Evidenz innehalten, son-
dern auf apodiktische Reduktion verzichten und nur phänome-
nologische Reduktion, als Reduktion auf den ,Erlebnisstrom'
vollziehen" 2 •
Das heißt: Die radikalisierte Reduktion, die wie bekannt zu-
gleich auf Apodiktizität abzielt, wurde hier noch nicht vollzogen,
weil sich die Reflexion außerhalb der Sphäre der lebendigen
Gegenwart und nur im Bereich des Erlebnisstromes aufhielt.
Das Rätsel des praereflexiven Ureirrigseins bleibt. Es wurde
aber inzwischen deutlich, daß die unsagbare und bisher nur rück-
erschlossene praereflexive "Synthesis" des Ich nichts anderes
als seine Ständigkeit im Strömen ist. Wird diese Ständigkeit
jedoch ausgelegt, so kann sie reflexiv nur als das Verharren des
mitgezeitigten Ichpols oder des Ich der Habitualitäten erfahren
werden, das ich in einem "immanenten" Zeithorizont mitbewußt
habe.

4· Die Vor-Zeitlichkeit der lebendigen Gegenwart


Die Ständigkeit ist ein anderer Titel für das Stehen der Gegen-
wart des letztfungierenden Ich. Sie käme dann zum angestrebten
radikalsten Verständnis, wenn die Funktionsgegenwart, als
welche das Ich praereflexiv seiner selbst inne ist, in der Reflexion
wirklich als genetisch "vor" aller gezeitigten Gegenwart liegend
sichbar werden könnte. D.h., wenn erfahren werden könnte, was
1 Erste Philosophie, Zweiter Teil, S. 4II ff
2 Ebendort
RÄTSEL 113

die Ichgegenwart als erstmals zeitigende "außerhalb" der in ihr


erst entspringenden Zeitlichkeit ist. Das scheint jedoch unmög-
lich: Zunächst einmal scheint jeder Versuch, diese "letzte" (Ur-
phänomen!) bzw. "erste" (Urgenesis!) Gegenwart nicht als ein
gezeitigtes Zeitstück zu begreifen, unweigerlich zu einem unend-
lichen Regreß zu führen, weil jede reflexiv in den Blick genom-
mene Gegenwart damit eo ipso als Zeitstück verstanden ist und
also nach der Zeitigung zurückgefragt werden muß, die ihr ge-
netisch vorausliegt. Diese voraufliegende Zeitigung vollzieht sich
aber wiederum in einer Funktionsgegenwart, für die abermals das
gleiche gilt usw. Husserl hat diese Schwierigkeit häufig beschäf-
tigt; in den Cartesianischen Meditationen heißt es:
"Da (die) Erscheinungsweisen des inneren Zeitbewußtseins
selbst intentionale Erlebnisse sind und in der Reflexion wieder
notwendig als Zeitlichkeiten gegeben sein müssen, so stoßen wir
auf eine paradoxe Grundeigenheit des Bewußtseinslebens, das
auch mit einem unendlichen Regreß behaftet zu sein scheint"l.
Oder: ,,Nun ist aber das strömende Leben. . . nur wieder ,seiend'
als Einheit von Bewußtseinsmannigfaltigkeiten; oder anders aus-
gedrückt,es zeitigt dieersteimmanente Sphäre, -es ist aberselbst
in einer Zeitigung, und so immer wieder. Wir stehen in einer
Iteration, und man wird Sorge haben, in einen vermeintlich
widersinnigen unendlichen Regreß hineinzugeraten"2.
Die phänomenologische Reflexion scheint auf diese Weise, eben
weil sie Reflexion, d.h. Begegnenlassen von Gezeitigtem, Onti-
fiziertem ist, ihr letztes Ziel nicht erreichen zu können; sie scheint
niemals zur lebendigen Funktionsgegenwart als dem Urphäno-
men gelangen zu können. Ja, der Begriff "Urphänomen" scheint
in sich widersprüchlich zu sein; denn ,,gegenständlich geworden,
wahrgenommen, wie überhaupt zum Zielpunkt (Gegenpol) eines
vom Ich her, vom Ichpol her darauf gerichteten Aktes gewordene
Gegenwart ist gegenständlich in einem Bewußtsein, einem Akt,
der selbst nicht gegenständlich bewußt ist. Was wir also als
letztlich Seiendes, als Urseiendes in Anspruch nehmen unter dem
Titel ,urphänomenale Gegenwart', das ist gerade dadurch, daß es
für uns ,Phänomen' ist, nicht das Letzte"s. Grund dafür ist aber
1 Gartesiamsehe Meditationen, S. 81; vgl. die kritische Bemerkung R. lngardens
s. 213 ff.
2 Ms. C 3 II, S. 7 (1930); vgl. Ms. C 3 111, S. 23 (1931)
s Ms. C 2 I, S. 14 (1931)
114 LEBENDIGE GEGENWART

"das Paradox, daß auchdie Zeitigung sich zugleich selbst


verzei tigt, daß lebendige Gegenwart selbst wieder als gegenwär-
tige lebendige Gegenwart in soeben gewesene lebendige Gegen-
wart kontinuierlich überleitet usw. "1
Diese Äußerungen Husserls dürfen nun aber nicht zitiert werden
ohne den ergänzenden Hinweis, daß sich im Anschluß an alle
solche Bemerkungen eine gleichsam beschwichtigende Fort-
setzung findet2; so etwa in Erste Philosophie:
"Das ,gegenüber' dem Weltlich-Realen als ,bloß subjektiv' -
obschon schon transzendental-subjektiv - zu Bezeichnende ist
selbst wieder Konstituiertes, obschon nun nicht mehr als real, das
Konstituierende seinerseits wieder, und wenn hier ein unendlicher
Regreß droht, so ändert das nichts daran, daß man auf der je-
weiligen Stufe eben die Konstitution nachweisen und die Art, wie
die Einheit jeweiliger Stufe Einheitspol und Substrat ist und
fungierende Mannigfaltigkeiten aufweisbar hinter sich hat, voll-
kommen durchleuchten und verstehen kann. -Man muß den Mut
haben, selbst wo Regresse ,drohen', zu sagen, was man sieht, und
es in seiner Evidenz gelten zu lassen. Die Medusen sind nur dem
gefährlich, der an sie im voraus glaubt und sie fürchtet. Es mögen
hier Rätsel übrig bleiben, aber es sind eben Rätsel, unlösbare
Rätsel sind Widersinn"3.
Auch an der angeführten Stelle der Cartesianischen Medi-
tationen wird zuerst zugegeben, daß die strömende Verzeitigung
der stehenden Gegenwart und damit ihre unendlich wiederhol-
bare Reflektierbarkeit ein Rätsel ist:
"Die verstehende Aufklärung dieser Tatsache bereitet außer-
ordentliche Schwierigkeiten. Aber wie immer,- sie ist, und sogar
apodiktisch evident und bezeichnet eine Seite des wunder-
samen Für-sich-selbst-seins des ego, nämlich hier zunächst
des Seins des Bewußtseinslebens in Form des Auf-sich-selbst-
intentional-zurückbezogen-seins"4. Entsprechend gilt für das
Rätsel des Urphänomens: "Freilich, der Urwandel als solcher ist
ein Urphänomen, aber ich kann doch erfassen, festhalten, iden-
tifizieren, unterscheiden, auf das Festgehaltene wiederholt zu-
1 Ms. C 3 III, S. 23 (1931)
2 Die Fortsetzung von Ms. C 3 II, S. 6 wurde im Abschnitt über die Apodiktizität
zitiert, S. 74·
a Erste Philosophie, Zweiter Teil, Beil. S. 442
4 Cartesianische Meditationen, S. 8 r
RÄTSEL 115

rückkommen, es wieder vergegenwärtigen und das wiederholt,-


und daß ich das tue und tun kann, das kann ich wieder ebenso
behandeln <in höherstufiger Reflexion erfassen)''!.
Das alles besagt: Mein "wundersames" Für-mich-selbst-sein in
lebendiger Gegenwart habe ich als "Tatsache" hinzunehmen. Die
mit dieser Selbstbezogenheit gegebene Möglichkeit einer unend-
lichen Reflexionskette hebt die Tatsache nicht auf; im Gegen-
teil: höherstufige Reflexionen bestätigen nur meine Selbstge-
gebenheit in lebendiger Funktionsgegenwart. Ihre Erfahrung
lautet immer gleich: "Ich bin als strömende Gegenwart, aber
mein Für-Mich-Sein ist selbst in dieser strömenden Gegenwart
konstituiert"2.
Der vermeintliche unendliche Regreß läßt nur noch einmal
deutlich werden, daß es ein Urphänomen der lebendigen Gegen-
wart gibt; er zeigt aber zugleich, daß sich deren vor-zeitlicher
Gehalt der unendlich iterierbaren Reflexion entzieht; die vor-
zeitliche Gegenwart kann keine Zeitstellengegenwart sein und
wird doch nur nach ihrer Verwandlung in eine solche angetroffen.
Und die Reflexion weiß sogar, warum dies so sein muß: weil die
lebendige stehende Gegenwart zugleich strömende und darum
sich zeitigende ist. Aber indem so über Stehen und Strömen ge-
sprochen wird, ist die stehend-strömende Funktionsgegenwart
schon als mitgezeitigte und verzeitigte im Strom erfahren und
nicht als sie selbst in ihrer Vor-Zeitlichkeit. Dies aber deshalb,
weil ich, der Reflektierend-Fungierende im Augenblick meiner
Aussagen über die Gegenwart in strömend-stehender Funktions-
gegenwart bin.
So liegt im Anschein des unendlichen Regresses der Hinweis
auf diese letzte Funktionsgegenwart, die ich selbst bin. Aber in-
dem ich mein eigenes "ich bin", "ich fungiere" reflexiv vor mich
hinstelle und erfasse, erreiche ich es nicht in seiner Vor-Zeitlich-
keit; die Vor-Zeitlichkeit muß, weil Reflektierbarkeit gleich
Zeitlichkeit ist, "vor" der reflexiven Aufweisbarkeit bleiben.
Der Gedanke der Ständigkeit bringt also keine neue an-
schauliche Erfahrung. Wie steht es mit dem vor-zeitlichen
Strömen der lebendigen Gegenwart, das eine Phasenmannig-
faltigkeit enthält, die noch keine Zeitstellenabfolge sein kann?
1 Ms. C II II, S. 2 (1934)
a Ms. C 3 111, S. 33 (1931)
116 LEBENDIGE GEGENWART

Husserl sagt ausdrücklich: in diesem "urlebendigen Strömen ist


keine Folge der Deckung ,ausgebreitet', im Strömen ist eine Ein-
heit der Koexistenz, aber im Modus strömenden Wandels bei
strömender Deckung"!. Also doch Deckung?! Aber keine "aus-
gebreitete", d.h. zeitlich extendierte! - Lebendige Gegenwart ist
"Strömendsein", aber "in keinem Auseinander, das Nacheinander
heißt, Nacheinander in dem Sinne eines Stellen-Auseinander in
einer eigentlich so zu nennenden Zeit. Und doch müssen wir von
Strömen ... sprechen"2. Also "wir unterscheiden: das ur-
phänomenale stehende, bleibende ,Strömen' und den darin ge-
zeitigten ,Strom' - im eigentlichen Sinne als kontinuierlich zeit-
liche Folge, als selbstströmend sich breitende Extension von Zeit-
modalitäten der Soeben-Gewesenheiten"3. Auch diese Sätze
enthalten nur die negative Charakteristik, daß das ichliehe "Ur-
einigsein" in der strömend auftretenden vor-zeitlichen "Phasen-
mannigfaltigkeit" oder, wie auch gesagt werden könnte: "inneren
Pluralität" der vor-zeitlichen Gegenwart nicht nach dem Modell
der Selbstdeckung des Gegenstandspols gedacht werden darf, -
obwohl es sich, wie bekannt, in der Reflexion so darstellt -; denn
" ... im Grunde ist die Urzeit<= die strömende Gegenwart) noch
nicht ernstlich Zeit, sondern nur Vorstufe der Zeit als Koexistenz-
form. Im ständigen Strömen vollzieht sich (überhaupt erst) die
Selbstkonstitution des Ego als (zeitlich-> strömend verharrender
Einheit"4. Die strömende Pluralität im vor-zeitlichen "Innern"
der lebendigen Gegenwart ist also nur Vorform, Vorstufe der
Zeitstellenpluralitä t. Will man den Ton darauf legen, daß die
lebendige Funktionsgegenwa rt die genetische Vorform gezeitigten
Gegenwärtigseins ist, so kann man die Sphäre der Urpassivität
und Praereflexivität Vor-Zeit oder Vor-sein nennen. (s.o.!)
Soll dagegen davon ausgegangen werden, daß "das Wort Gegen-
wart als schon auf eine Zeitmodalität verweisend eigentlich nicht
paßt"5, soll also in diesem Sinn der "grundwesentliche Unter-
schied"6 zwischen der Stätte der Urzeitigung und allem Gezeitig-
ten betont werden, so wird man mit Husserl auch sagen können:

1 a.a.O., S. 24
2 Ms. C 3 I, S. 4 (1930)
3 Ms. B III 9, S. 12 (1931)
4 Ms. C 7 I, S. 17 (1932)
s Ms. C 7 I, S. 30 (1932)
6 Ms. C 2 I, S. 5 (1931)
RÄTSEL 117

"Das Ich ist unzeitlich. Natürlich hat es keinen Sinn, das


Ich als zeitlich zu betrachten. Das Ich ist über-zeitlich, es ist der
Pol von Ich-Verhaltungsweisen zu Zeitlichem, er ist das Sub-
jekt, das sich zu Zeitlichem verhält. .. "1 Oder genauer: "Das
Ich in seiner ursprünglichsten Ursprünglichkeit ist nicht in der
Zeit- hier der beständig als lebendige urmodale Gegenwart sich
zeitigenden gezeitigten Gegenwart"2. Mißverständlich- gemeint
ist: das vor-zeitliche letztfungierende Ich ist auch noch "vor" der
jeweiligen Zeitstellengegenwart, als welche es in der Reflexion ur-
sprünglich sichtbar wird; die zeitigende letztfungierende Gegen-
wart wird in der originärgewahrenden Reflexion nur als sich
selbst schon gerade zeitigende und damit sogleich gezeitigte er-
blickbar; in ihrer "ursprünglichsten Ursprünglichkeit", die aber,
wie inzwischen deutlich wurde, nicht sichtbar wird, ist sie nicht
einmal sich gerade-zeitigende, sondern schlechthin außerhalb der
Zeitlichkeit, d.h. "nicht in der Zeit". Daß die ursprünglichste
Ursprünglichkeit unsichtbar bleibt, kann Husserl allerdings prin-
zipiell- der Forderung der Aufweisbarkeit wegen- nicht zugeben;
dies erklärt andererseits den hochgeschraubten Ausdruck "ur-
sprünglichste Ursprünglichkeit". -' Im selben wichtigen Manu-
skript, dem das letzte Zitat entnommen ist, wird später gesagt,
"daß die Sedimentierung aller lebendigen Zeitigung natürlich
auch befaßt die Zeitigung des Ich und seiner Akte, daß darin aber
das Ich, das immer jetzt ist und jetzt bleibt (als stehendes und
bleibendes Jetzt gar kein Jetzt im sachlichen <= gezeitigten,
objektivierten> Sinne) als dieses lebendige, dieses ,überzeitliche' das
Ich aller Vollzüge ist, die eben es noch im Vollzug hat. .. "3 -
"Das Ich hat eigentlich in diesem Sinne schlechthin keine Dauer"4.
"Ja alles verzeitlicht sich in einer Art Versachlichung, auch das
vollziehende Ich und die Folge seiner Vollzüge ... Aber sieht man
nicht auch, daß in dieser Verzeitlichung das stehende und blei-
bende Ich während des Aktes nicht ein durch den Akt als erfüllte
Zeitdauer hindurch im gleichen Sinne Dauerndes ist, wie ein Zeit-
liches dauert, sondern, daß es selbst ausdehnungslos während der
sachlichen Dauer identisches Ich ist, stehendes und bleibendes
Jetzt im Wandel seiner Vollzüge? !
1 Ms. E. Ill 2, S. 50 (1920 oder 1921)
2 Ms. C 10, S. 21 (1931)
3 a.a.O., S. 29
4 Ms. C 16 VII, S. 5 (1933)
118 LEBENDIGE GEGENWART

Dadurch daß sich strömend das Sachliche <Objektive, Nicht-


ichliche, Transzendente> als Dauereinheit konstituiert, konsti-
tuiert sich mit das kontinuierliche Gerichtetsein und zugleich an
jeder Stelle das im Gesamtvollzug-Halten der verzeitlichten Voll-
züge des identischen Ich, So haben wir über die Dauer verbreitet
Ich als Vollzugseinheit. . . und immer neues Ich als Vollzugsein-
heit und <dies> scheinbarebenso wiewirineinerTondauer den-
selben Ton haben, sich in der Dauer phasenhaft ausbreitend".
Dieser Abschnitt rekapitulierte noch einmal den Gedanken der
Selbstzeitigung des Ich zu Verharren-in-der-Jeweiligkeit durch
Mitströmen und Mitzeitigung. Es folgen aber die bedeutsamen
Sätze: "-Aber die Identität des Ich ist nicht die bloße Identität
eines Dauernden, sondern die Identität des Vollziehers - das
ist der Ichpol-und wenn <der in der Jeweiligkeit verharrende
Ichpol> schon auch <als> eine Dauereinheit konstituiert <wird>,
so bleibt es (doch> ein einzigartig Eigenes, was da Identität des
Vollziehcrs heißt"l.

5. Die Anonymität der lebendigen Gegenwart


Was jedoch dieses "einzigartig Eigene" ist, eben das bleibt der
reflexiven Erfahrung wesenhaft unbekannt. Die Paradoxie, daß
die vor-zeitliche Gegenwart nur in und mittels der Reflexion auf-
gedeckt werden kann, aber gerade dadurch auch immer schon in
ihrem eigentlichen Wesen oder "Kern" verdeckt wird, ist offen-
bar durch die Reflexion nicht auflösbar. Die Reflexion ermittelt
eine strömende Urbewegung, ein vorsynthetisches "Ureinigsein"
und eine vor- oder außerzeitliche Gegenwart, die es geben muß
und die doch nur als ontifizierte reflexiv mitvollzogen bzw. an-
schaulich gegeben sind. So angesehen bleibt die Rede von der
rätselhaften Vor-Gegenwart unphänomenologische "Konstruk-
tion", regressiv deduktive Erschließung. Wie kann es, ist nun zu
fragen, innerhalb der phänomenologischen Reflexion überhaupt
zu einer derartig unphänomenologischen Vermutung oder Be-
hauptung kommen. Wie kommt es, genauer gesagt, daß - I.
- die reflektierende nachgewahrende Aktivität in sich auf ein
uneinholbar vor-vollzogenes urpassives Strömen verweist? -
Woran liegt es - 2. -,daß die Reflexion, der phänomenologisch
einzig gangbare Weg ausweisbarer Selbsterfahrung und -er-
1 Ms. C IO, S. 28 (1931)
RÄTSEL 119

fassung, notwendigerweise den Gedanken einer praereflexiven,


immer schon betätigten Selbstgewahrung, eines ungegenständ-
lichen Selbst-Inneseins aufkommen läßt? - Wie kommt es - 3·
-, daß die Reflexion, die bestenfalls die sich gerade zeitigende,
aber damit auch schon gezeitigte immanente Zeitstellengegen-
wart im Nachvollzug der Selbstgegenwärtigung sichtbar machen
kann, die ichliehe Funktionsgegenwart als vor-zeitig ansprechen
muß?
Die drei Fragen formulieren nur verschiedene Hinsichten auf
dasselbe Rätsel. Sie charakterisieren die ichliehe Funktions-
gegenwart übereinstimmend als etwas, das merkwürdigerweise
ursprünglicher als die letztmögliche Reflexion ist. Die reflexive
Selbstgegenwärtigung weiß sich selbst als etwas Nachträgliches.
Obwohl der vor-zeitliche Sinn dieses. "nachträglich" selbst im
Dunkel bleibt, weil ja das Unterscheidende zwischen Reflexivität
und Praereflexivität positiv nicht angegeben werden kann, -
so kann doch gesagt werden, daß es offenbar nur deswegen zu der
unausweisbaren Behauptung einer urpassiven, praereflexiven und
vorzeitlichen Funktionsgegenwart kommt, weil die Selbst-
reflexion sich selbst als eine Nachgewahrung dieses Urgescheh-
nisses weiß. Dann aber ist zu fragen: Wie zeigt es sich an der
reflexiven Selbstgegenwärtigung selbst, daß sie gegenüber der
"eigentlichen" lebendigen Gegenwart etwas irgendwie "Nach-
trägliches" ist?
Die Reflexion ist der Versuch des Ich, sich selbst zu "schauen
und zu fassen". Dabei geht der intentionale "Blickstrahl" vom
fungierenden Ich aus und trifft das Ich, - allerdings auch im
günstigsten Falle nur das Ich in seinem gerade vollzogenen Fun-
gieren. Diese Richtung der Intention ist unumkehrbar; sie geht
vom Ich aus auf sich selbst; aber das angetroffene, "erfaßte"
Selbst ist schon nicht mehr das Selbst, von dem die Intention
ausging. (Obwohl eine nachträgliche, höherstufige Reflexion beide
identifizieren wird; davon wird hier jetzt abgesehen.) Die Ab-
sicht des reflektierenden Ich zielt gemäß dem Uransatz der phä-
nomenologischen Reflexion auf Überwindung jedes verdecken-
den, verdunkelnden Abstandes zwischen Gewahrendem und Ge-
wahrtem. Doch schon in dieser Absicht des Sehenswollens ist der
Abstand von Sehendem und Gesehenem vorausgesetzt; denn
abstandloses Sehen ist Widersinn. Sehen ist gleichsam auf die
120 LEBENDIGE GEGENWART

Helle der Distanz angewiesen; aber die Distanz ist auch schon
die erste Entfernung des Sichtbaren. Wie sich bereits bei der
Analyse der Tonwahrnehmung zeigte, sind absolute Sichthelle
ohne beginnendes Dunkel, - Urnähe, die nicht auch schon erste
Ferne wäre, Abstraktionen, Grenzbegriffe. Die phänomenolo-
gische Reflexion kann demnach als der Versuch gleichsam un-
endlicher Annäherung an diese Grenzlagen verstanden werden,
-ein Versuch, der von der "fixen Idee" ihrer Erreichbarkeit in
Gang gebracht und gehalten wird und der in der Erfahrung jeder
Urnähe und Urhelle als beginnender Ferne und Verdeckung die
unabschließbare Folge seiner Ergebnisse erzielt. Wie es zu diesem
Versuch kommt, soll noch nicht erörtert werden. Zunächst kann
nunmehr die Unruhe beim Namen genannt werden, die das re-
flektierende Ich treibt, sich bis zur unausweisbaren Behauptung
oder Vermutung einer Vor-Gegenwart zu "versteigen": Das Ich
weiß, daß es reflektierend zweifellos sich selbst gewahrt und doch
nur eine vergehend-vergangene "Phase" seines Fungierens zu
fassen bekommt. Es weiß, daß es sich selbst damit soeben-noch
retentional "berührt" und doch "eigentlich" sein eigenes ich-
lich-urimpressionales Auftreten nicht einholt. Mit anderen W or-
ten: das nunmehr Letzte der Reflexion ist die Einsicht: Ich kann
mich selbst nicht erblicken und erfassen, weil ich selbst das Ent-
quellen meines Fungierens, - weil ich der erfassende Blick selbst
bin. Husserl sagt in diesem Sinne: das Ich bleibt sich anonym.
Brand hat zu Recht darauf hingewiesen, daß diese letzte Anony-
mität von der Anonymität zu unterscheiden ist, die das ganze
intentionale Leben durchzieht und von der hier in der Ein-
leitung des I. Teils schon die Rede warl. Alle konstituierten
Gegenständlichkeiten verweisen ihrem Sinne nach auf ichliehe
konstitutive "Leistungen", auf ichliehe Funktionsweisen, ohne
daß diese ichliehen Ermöglichungsgründe jeglicher Erfahrung
jederzeit ausdrücklich bewußt wären; - im Gegenteil: zumeist
bleiben diese Ursprünge unbekannt, unaufgedeckt, d.h. anonym.
Von dieser allgemeinen, aber in phänomenologischer Reflexion
aufhebbaren Anonymität ist die nun entdeckte der lebendigen
Gegenwart des letztfungierenden Ich zu unterscheiden. Sie bleibt
trotz der originären und einzig möglichen anschaulichen Selbst-
erfassung des Ich durch Reflexion- unaufhebbar, weil sich
1 Vgl. Brand a.a.O., S. 24, S. 62 Fußn., S. 64 Fußn. vgl. diese Abhandlung S. 7
RÄTSEL 121

jede Reflexion in dieser Urgegenwart abspielt, weil das letzt-


fungierende Ich die Funktionsgegenwart jeglicher Reflexion ist.
" ... ich bin fungierend nur als reflektierendes Ich in den reflek-
tierenden Akten, - während die früheren <Akte> mit dem
früheren Ich bewußt-Werdendes, Gegenständliches sind, - das,
woraufhin ich fungiere"!. Darum gilt: "Der fungierende Pol ist
in seinem ursprünglichen Fungieren nie im Zeitfeld"2.
Nun aber ist zu fragen: Wie zeigt es sich, daß dies so ist,
daß das fungierende Ich anonym sein muß? Wie ist diese Aus-
sage selbst gewonnen? Offenbar wiederum durch Reflexion auf
Reflexion: " ... der in der Reflexion reflektierte Pol ist nicht der
lebendige<= letztfungierende> Pol. .. , <dieser> aber <ist> in der
entsprechenden Reflexion als anonymer, als fungierender auf-
weisbar"3. "Jedes Gerichtetseinist selbst ungewahrte Gegenwart,
ist unthematische, nicht-gewahrende Selbstgegebenheit". Nun
aber heißt es im selben Manuskript weiter: "Das transzendentale
Ich ist aber schon im beständigen Vermögen, des Ungewahrten
gewahr werden zu können, und auch im Vermögen, sich jeweils
eines Ich-kann gewahrend bewußt werden zu können und so
iteriert"4. - "Immer ist zu scheiden der urlebendige Pol im ur-
lebendigen Akte (der seiend, und das heißt fungierend, eine
Gegenwart für sich stiftet, aber nicht selbst eine Gegen-wart, ein
Jetzt, das gegenübersteht, bedeutet) und der zum Gegenüber ge-
wordene und als das nicht mehr5 lebendige Pol, der für einen
neuen, urlebendigen Pol da ist: aber das Neue ist doch derselbe,
absolut identische Pol in neuem urlebendigem Funktionieren.
<= Fungieren)"6.
Aus diesen Stellen, die um eine Anzahl ähnlicher vermehrt
werden könnten, geht hervor, daß Husserl die jeweils unaufheb-
bare Anonymität des Vollzugsich sehr wohl gesehen hat. Aber
die Fragestellung verschiebt sich bei ihm sofort dahin, ob das
nachkommende reflektierende Vollzugsich auch dieseAnonymität
noch "schauen und fassen" und sie damit als die des verharrenden
identischen Funktionszentrums enthüllen kann. Es ergibt sich

1 Ms. A V 5, S. 4 (1933)
2 Ms. A V 5, S. 3; vgl. Ms. C 2 I, S. 3 (1931)
3 Ms. A V 5, S. 2
4 Ms. C 5, S. 4 (1930)
5 Reihenfolge der Wörter im Original: "nicht mehr als das"
6 Ms. E Ill 2, S. 27 (1920/21)
122 LEBENDIGE GEGENWART

für Husserl, daß die Ungegenständlichkeit der gerade aktuellen


Funktionsgegenwart selbst noch einmal durch nachkommende
Reflexion erkannt ist. Und in der Tat: Die Rede von der Anony-
mität des fungierenden Ich für sich selbst bliebe ja leer, wenn
nicht immer auch durch eine nachträgliche Reflexion aufweisbar
wäre, daß die gerade vollzogene Reflexion ein Akt des darin
reflektierten transzendentalen Ich war. Die Anonymität des
Urphänomens ist somit selbst noch etwas Gewußtes.
Was liegt in dieser Erkenntnis? Zunächst nicht, daß die Er-
fahrung der Unerfahrbarkeit die letztere nun doch aufhöbe; die
Einsicht in die wesenhafte N achträglichkeit der Reflexion besagt
vielmehr, daß sie ihres eigenen Schauens und Fassens niemals
anders als nachgewahrend innewerden kann und wird. -Trotzdem
darf die Anonymität des Ich auch nicht so verstanden werden,
als ob es sich ganz und gar unbekannt bliebe, als ob also die
Reflexion nur ein "entstelltes" Bild der anonymen Funktions-
gegenwart liefere. Das würde bedeuten, daß ein "unentstellter"
Anblick des urfungierenden Ich doch irgendwie möglich oder
ausdenkbar wäre. Aber das Gegenteil stimmt: Nur weil die re-
flexive Ontifikation die einzige phänomenologisch denkbare Er-
fahrung vom urfungierenden Ich ist, darum bleibt so rätselhaft,
wie überhaupt darüberhinaus nach einer vor-zeitlichen Funktions-
gegenwart gefragt werden soll.
E. DIE STÄNDIGE FUNKTIONSGEGENWAR T
ALS ALLZEITLICHES NUNC STANS

Das Rätsel der lebendigen Gegenwart verdichtete sich zuletzt


in zwei Aussagen: Einmal: "Was da Identität des Vollziehers
heißt", ist ein "einzigartig Eigenes"; d.h. das letztfungierende Ich
ist vor- oder außerzeitlich ständig. - Zum anderen: Das letzt-
fungierende Ich ist sich beim Fungieren unaufhebbar anonym.
Beide Aussagen negieren etwas, die erste, daß im Verharren des
Ich, welches durch die Iteration und unendliche Iterierbarkeit der
Reflexionen bewußt wird, schon die eigentliche Ständigkeit ge-
sichtet sei, - die zweite: daß das aktuell fungierende Ich über-
haupt erfahren werden könne. Die erste Aussage sagt: Die Stän-
digkeit, das schlechthinnige "Da", die allgegenwärtige Präsenz
meines Präsentierens überhaupt, - das ist mehr als das Ver-
harren des Ichpols, den ich überall im immanenten Zeithorizont
antreffen kann. Die zweite Aussage sagt: Dort, wo das letzt-
fungierende Ich gerade lebendig fungiert, an seiner jeweils ak-
tuellen Zeitstelle, dort ist es sich selbst in einem solchen Maße
unzugänglich, -weil es das Fungieren selbst ist-, daß genauso
gut gesagt werden kann: in der Aktualität seines Fungierens ist
das Ich eigentlich ein Nichts; denn "prinzipielle erfahrungsmäßi-
ge Zugänglichkeit" und "Sein= Gegenstandsein = Gezeitigt-
sein" sind phänomenologisch auswechselbare Titel.
Damit legt sich die Erwägung nahe, ob nicht aus der Vereini-
gung beider Aussagen endlich eine neue positive Einsicht in das
Wesen des letztfungierenden Ich herausspringt: Beide Aussagen
beziehen sich nämlich gleichermaßen auf das Ich in seiner vor-
oder außerzeitlichen Ständigkeit und ergänzen sich dabei in der
Weise, daß sie gegenseitig ihr Mißverstandenwerden ausschließen:
Der Gedanke der Anonymität beinhaltet, daß das Ich in den ak-
tuellen Jetzten seines Fungierens kein Auftreten an einer Zeit-
stelle als Gegenstand hat; er schließt also aus, daß das Verständ-
124 LEBENDIGE GEGENWART

nis der vorzeitlichen Ständigkeit doch wieder in die Auffassung


vom Ich als einem über Zeitstellen hinweg verharrenden ab-
gleitet. - Der Gesichtspunkt der Ständigkeit wiederum verwehrt
die Schlußfolgerung aus dem gerade über die Anonymität Ge-
sagten, daß sich hinter der Anonymität vielleicht statt eines
Seienden ein Nichts verbirgt.
Aus der Zusammennahmeder beiden Hinsichten entspringt da-
mit eine neue Aussage über die Seinsweise des "Ich fungiere": Es
ist jederzeit reflexiverfaßbar (Ständigkeit), ohne dadurch auf eine
Zeitstelle bzw. Stellenfolge festgelegt zu werden (Anonymität).
Das heißt m.a.W.: Die Funktionsgegenwart ist ein stehendes,
bleibendes Jetzt, das in beliebig vielen und beliebig lokalisier-
baren Akten vorgestellt werden kann und doch von der normaler-
weise damit verbundenen Festlegung auf Zeitstellen unbetroffen
bleibt. Ja, es ist als wesenhaft an kein Zeitstellenjetzt gebunden
bewußt: Es ist ihm außerwesentlich, an einer bestimmten ge-
zeitigten Gegenwart gegeben zu sein, weil es über-zeitlich, un-
zeitlich jetzthaft bleibt. Das "Ich fungiere" in dieser Weise als
nunc stans gedacht, hat m.a.W. die Seinsart des "überall und
nirgends", die Gegebenheitsweise der allzeitliehen idealen, ir-
realen Gegenstände, wie sie bereits erörtert wurde.
Das "überall" des nunc stans ist nichts anderes als die zeitlose
Ständigkeit, das "nirgends" ist das Nichts an realer oder reeller
Zeitstellenfixierung, welches als Anonymität bewußt wird. Das
"überall" und das "nirgends" ergänzen sich zur Einheit einer
neuen Gegenständlichkeit. Es ergibt sich das Merkwürdige: Das
Ich ist nicht nur als gezeitigt Verharrendes oder Jeweiliges oder
Träger der Habitualitäten erfahrbar; es kann auch als ideales,
irreales nunc stans bewußt werden.
Husserl bezeichnet in seinen späten Manuskripten die lebendige
Gegenwart häufig als nunc stans. Das damit Gemeinte ist aber
nicht eindeutig. Bald führt das verharrende Ich und das Ich der
Habitualitäten diesen Titel, bald das "überall und nirgends"
auftretende urfungierende Ich im gerade dargestellten Sinne. Die
eigentliche Absicht Husserls geht jedoch unzweifelhaft dahin, den
Titel nunc stans der unsagbaren strömend-stehenden Vor-Gegen-
wart des letztfungierenden Ich vorzubehalten. Bei der Erörterung
der Rätsel dieser Gegenwart wurde schon deutlich, daß sie durch
eine einzigartige Einheit von Stehen und Strömen ausgezeichnet
DAS ALLZEITLICHE NUNC STANS 125

ist und dadurch jederzeit gleichsam auf dem Sprung steht, Zeit-
stellengegenwart zu werden. Diese in sich strömende Ständigkeit
hat Husserl mit der Bezeichnung nunc stans im Auge. Er notiert
einmal: "Der Doppelsinn von Gegenwart- konstituierte Gegen-
wart und konstituierende Subjektivität als urquellende Lebendig-
keit -wird eine passende Terminologie fordern:"l Mir scheint;
daß Husserl den Begriff nunc stans als den passenden Terminus
für die Gegenwart im zweiten Sinne, die lebendige Gegenwart,
ansah.- Seine Verwendung wird trotzdem mehrdeutig, weil die
vor-zeitliche Ständigkeit, sobald über sie Aussagen gemacht
werden, notwendig sofort entweder als zeitliches oder als allzeit-
liches Verharren aufgefaßt wird. Es zeigt sich nun, daß die schon
angeführten Äußerungen Husserls, in denen er die lebendige
Gegenwart als "unzeitlich", "überzeitlich", "nicht in der Zeit"
usw. charakterisiert, ihr allzeitliches Verständnis implizieren. Das
wird nicht immer ausgesprochen. In einer Beilage der Ersten Phi-
losophie heißt es aber eindeutig von demjenigen Ich, das der Mit-
zeitigung im immanenten Strom nicht unterworfen ist: es "hat
keine Stelle in der subjektiven <=immanenten> Zeit, sondern
ist <in> der Form der ihm zugehörigen Zeit allzeitlich. Sein Leben
füllt diese Zeit aus, und es "selbst", nämlich als der Ichpol, von
dem aus alle Aktionen ausgehen und auf den alle Affektionen
einstürmen, ist in eigener Weise über seiner Zeitundseinem Leben,
in dessen Zeitkontinuität überall identisch, und nicht, wie seine
Erlebnisse, in der Zeit individuiert"2.
Wie damit deutlich wurde, erwächst die mögliche Aussage: das
letztfungierende Ich "ist nicht", aus dem allzeitliehen Verständ.:.
nis des nunc stans. Th. Seebohm schreibt von der Ursubjektivität:
"Es kann auch nicht einmal von ihr gesagt werden, daß sie ,ist', "3
und schließt daraus später, daß der Versuch einer Auslegung des
"Seins" der Subjektivität im Fungieren sinnlos ist4. Es zeigte sich
aber gerade, daß das "ist nicht" nur eine, nämlich die allzeitliche
Weise ist, wie das Ich sich selbst erfahren kann. Diese Erfahrungs-
möglichkeit geht auf die Ständigkeit des nunc stans zurück. Wenn

1Ms. C 3 III, S. 35 (1931)


2Erste Philosophie Zweiter Teil, Beil., S. 471 f. (1925)
3 Seebohm a.a.O., S. 66; vgl. S. 177; Biemel a.a.O., S. 279 stellt die Frage, ob
Husserl auch das "ist" des transzendentalen Ego noch einklammern will.
4 Vgl. Seebohm a.a.O., S. r6r
126 LEBENDIGE GEGENWART

aber "im lnnern" des nunc stans zugleich ein Strömen waltet,
aufgrund dessen sich das Ich auch als "seiend" im Sinne reeller
und realer Zeitstellenfixierung erfahren kann, dann wird die
Frage unabweisbar, wie die Einheit von Strömen und Stehen "im"
nunc stans zu denken ist, die eine so zwiespältige Selbsterfahrung
des Ich ursprünglich ermöglicht.

I. Die Konstitution des allzeitliehen nunc stans

a. Das nunc stans als im Unendlichen liegende Idee der Totalität


und universalen Einheit ichliehen Lebens
Zunächst ist aber zu fragen, wie das reflektierende Ich zu der
Auffassung vom letztfungierenden Ich als einem allzeitliehen
nunc stans kommt. Wie sieht der konstitutive Prozeß aus, durch
den das Ich sich die eigene ichliehe Ständigkeit als Allzeitlichkeit
begegnen läßt?
Es handelt sich um eine Reflexion. Wie sie verläuft, wurde be-
reits in großen Zügen vorgeführt: Das Ich weiß aus der Iteration
und unendlichen Iterierbarkeit seiner Selbstreflexionen, daß es
trotzder (ebenfalls reflexiv bewußten) Anonymität immer wieder
nur sich selbst antreffen wird. Was unterscheidet dieses Wissen
von dem bekannten Horizontbewußtsein, durch welches das
augenblicklich ungegebene, mitgezeitigt verharrende Ich des Be-
wußtseinsstromes gleichwohl als Hintergrund potentieller Re-
flektierbarkeit mitbewußt ist? In diesem Horizontbewußtsein
liegt: Ich kann schrittweise in meine offene ichliehe Vergangen-
heit und Zukunft hineinfragen; jede angetroffene vergegenwär-
tigte Gegenwart leitet über zu Vergegenwärtigungen noch höhe-
rer Stufe. Der Horizont des Bewußtseins von mir als dem allzeit-
liehen nunc stans ist auf den ersten Blick ähnlich strukturiert,
weshalb ja Husserls Aussagen die besagte Mehrdeutigkeit an-
haftet,- und doch liegt im nunc-stans-Bewußtsein ein neuartiges
"ich kann": nicht das Gefühl des "immer weiter", der konti-
nuierlichen Übersteigbarkeit jeder Vergegenwärtigung, sondern
das Bewußtsein des "überall" - ganz unabhängig von der Im-
plikationenkette vergangeuer und kommender Gegenwarten.
Während jede Reflexion auf eine vergegenwärtigte Ichgegen-
wart die Folge der Zeitstellen zwischen dem "dereinst" und
DAS ALLZEITLICHE NUNC STANS 127

"heute" und darum das eigene "heute" als Ausgangspunkt der


Perspektive mitbewußt hat, ist der Ausblick auf das nunc stans
nicht an diese Perspektivität gebunden; die Reflexion setzt sich
gleichsam über die Bindung des nur von Gegenwart zu Gegenwart
Weiterschreitenkönnens hinweg; sie überfliegt die Totalität aller
denkbaren Ich-Gegenwarten und setzt spontan deren Identität.
"Vermittels der Vergegenwärtigungen <Vergegenwärtigungen
hier in sehr weitem Sinne: Erfassungen des nunc stans> vollzieht
sich eine universale Zeitigung, und zwar in ausschließlichem Sich-
halten an die Vergegenwärtigungen, in welchen die subjektive Re-
flexion auf Identität des reflektierenden Ich (des Ich in der Ver-
gegenwärtigung) <also besser: des reflektierten Ich) mit dem ur-
originalen Gegenwartsich führt, -<und es) erschließt bzw. kon-
stituiert sichals seiend die Totalität meiner, des identischen Ich,
zeitlichen Existenz, es erschließt sich meine Allzeitlichkeit als die
meines identischen Seins in der Universalität meines gegenwär-
tigen, vergangeneu und künftigen Lebens"l.
Das früher beschriebene Horizontbewußtsein vom Hinter-
grund-Ich bedeutete: an der Jetztfolge entlang endlos weiter re-
flektierend fortschreiten und immer wieder Funktionsgegenwar-
ten finden können; das nunc-stans-Bewußtsein überfliegt und
umgreift diesen prinzipiell unabschließbaren Prozeß als Ganzen.
Es setzt die Einheit der adäquat nicht erschaubaren Totalität des
ichliehen Lebens. Obwohl diese Totalität nicht erfahrbar ist, weist
doch das Bewußtsein der unendlichen Iterierbarkeit der
Selbstreflexionen in die Richtung einer allzeitliehen identischen
Funktionsgegenwart, die das universale Ichleben zu einer
schlechthin umfassenden Einheit zusammenschließt. - Wir er-
fassen die Einheit des Erlebnisstromes also, wie Husserl schon in
den Ideen I sagte, "in der Weise einer Idee im Kautischen
Sinne"2. "Es ist. .. das Eigentümliche der eine Kantische "Idee"
erschauenden Ideation, die darum nicht etwa an Einsichtigkeit
einbüßt, daß die adäquate Bestimmung ihres Inhalts, hier des
Erlebnisstromes unerreichbar ist"3. Dem entspricht eine spätere
Äußerung (1925), wo es vom Ichpol heißt: "Dieser hat in der
Gegenwart sein zeitliches Auftreten- allerdings als Idee, der ich

1 Ms. C 16 VI, S. 30 (1932)


2 Ideen I, S. 202
3 ebendort
128 LEBENDIGE GEGENWART

mich, ich der Gegenwärtige, in gegenwärtigen Aktionen annähere.


Ich bleibe dabei in mir, der ich bin, und ich bin nur als in strö-
mender Gegenwart lebend"l. Das heißt, die Setzung eines all-
zeitlichen nunc stans und die damit mitvollzogene Setzung der
universalen Einheit des intentionalen Lebensaufgrund der Iden-
tität der ständigen Funktionsgegenwart - "übersteigen" zwar
"die Grenze aller Erfahrung"2, aber sie "sind nicht willkürlich
erdichtet, sondern durch die Natur der Vernunft selbst auf-
gegeben"3.
Weil sich das Bewußtsein aber mit der spontanen Setzung des
nunc stans über die Zeitgebundenheit des Reflexionsvermögens
hinwegsetzt, das nur in allmählicher Horizonterweiterung das
bleibende Verharren der Ichlichkeit entdecken kann, darum trifft
diese Ideation nichts Wirkliches im Sinne realer und reeller Zeit-
stellengegenwart an. Sie setzt ein "überall", das zugleich ein
"nirgends" ist. Damit sind die Irrealität und die Idealität des
nunc stans aus der Art seiner reflexiven Erfassung verständlich
geworden. Es muß nun noch aufgewiesen werden, worin die zur
Allzeitigung gehörige Spontaneität dieser "Erfahrung" besteht.

b. Die Gewinnung des allzeitliehen nunc stans durch Lösung von der
Bindung ans Strömen
Die Spontaneität lag zunächst darin, daß die "Setzung" des all-
zeitlichen nunc stans sich über die Horizontgebundenheit des Be-
wußtseinsfortschritts hinwegsetzte. Diese Gebundenheit hat ihren
Grund darin, daß das Erfahrene sich immer in einen hellen Kern-
bereich und unthematisch mitgegebene im Schatten liegende
Randbezirke aufgliedert, daß also alles Erfahren ein Gegenwär-
tigen-im-Übergang ist. Diese Grundstruktur des Gegenwärtigens
hat ihren genetischen Ursprung im urpassiven Strömen; dieses
bewirkt, daß alles begegnenlassende Erfassen in sich zugleich ein
Entgleitenlassen ist. Das letztfungierende Ich des entgleiten-
lassenden Zufassens und Zusammennehmens bleibt anonym. Ge-
nauer: Der Umstand, daß das Ich sich selbst nicht in seinem ak-
tuellen Fungieren fassen kann- seine Anonymität -und der, daß
es sich selbst entströmt, sind ein und derselbe. Könnte das Ich der

1 Phänomenologische Psychologie, Beil. S. 476


2 Kritik der reinen Vernunft, B 384
a ebendort
DAS ALLZEITLICHE NUNC STANS 129

Intentionalhabe, die es selbst gerade vollzieht, deren Entquellen


es ist, habhaft werden- phänomenologisch ein Ungedanke- so
bedeutete dies, daß es in seiner Funktionsgegenwart nicht passiv
strömend einen urtümlichen Abstand aufkommen ließe. Daraus
ergibt sich: Die Anonymität des urfungierenden Ich ist der letzte
genetische Ermöglichungsgrund dafür, daß die Reflexion auf das
Ich an schrittweise Horizonterweiterung gebunden ist. Indem
sich das Ich bei der Ideation des nunc stans über diese Gebunden-
heit hinwegsetzt, überspringt es im Grunde die Unaufhebbarkeit
der Anonymität: und in der Tat, die "Setzung" des nunc stans ist
ja nichts anderes als die Thematisierung der identischen Ständig-
keit als solcher. Diese vor-zeitliche Ständigkeit der Funktions-
gegenwart ist aber nur die Kehrseite der uneinholbar bleibenden
Anonymität eben derselben stehenden Gegenwart.
Die Aufstellung des nunc stans erwies sich also erstens darin als
spontan, daß sie- der Gebundenheit durch die Urpassivität sich
entziehend- die Totalität aller Funktionsgegenwärtigkeit, die auf
dem Wege der Horizonterweiterung unerreichbar ist, zum Gegen-
stand machte. Die Setzung des allzeitliehen nunc stans ist nun
zweitens darin spontan, daß sie die entgleitend-unfaßliche, will
sagen: strömende bzw. anonyme Gegenwart doch in den Griff
ihres Erfassens nimmt und sich somit aus der Urpassivität des
Strömens zu lösen sucht.
Diese Möglichkeit der Reflexion führt Husserl auch in der Form
vor, daß er innerhalb des Ganzen lebendiger Welt- oder Selbst-
gegenwärtigung von den Horizonten primären Zuströmens bzw.
Abströmens, von Retention und Protention also, abstrahiert und
auf diese Weise zu einem "Kern eigentlichster Gegenwart" ge-
langt. Es ist unverkennbar, daß dieses Denkexperiment sachlich
in den jetzt erörterten Zusammenhang gehört: es ist eine Form,
das Strömen zugunsten der ausschließlichen Thematisierung der
Ständigkeit zu überspringen. An einigen Stellen hat es den An-
scheinl, als habe Husserl auf diese Weise die radikalisierte Reduk-
tion zum Ziele führen wollen; dagegen spricht aber schon, wie
früher gezeigt wurde2, daß Husserl selbst diesen Versuch als "Ab-
straktion" vom strömenden konkreten Ganzen der lebendigen
Gegenwart gekennzeichnet hat; - "passende" Abstraktionen
1 z.B. deutlich in Ms. C s, S. I ff. (1930)
2 s. 20 ff.
130 LEBENDIGE GEGENWART

dürfen aber nicht mit Reduktionsstu fen verwechselt werden.


Es sei die Bemerkung erlaubt, daß man sich wohl überhaupt
hüten sollte, jedes Denkexperime nt in den schließlich nicht für
die Veröffentlichu ng vorgesehenen und viele Wiederholung en
enthaltenden Forschungsma nuskripten für einen neuenGedanke n
oder gar eine neue Reduktion zu halten, - wie es mir Diemer im
vorliegenden Fall zu tun scheintl. Hinweise auf allererste "Ur-
tümlichkeiten" finden sich in den Manuskripten Husserls in so
reichem Maße, daß es absurd wäre, jedesmal eine neue Reduktions-
stufe anzusetzen.

2. Das allzeitliche nunc stans eine apodiktische Gegebenheit?


Husserl hat, wo er als Ziel der radikalisierten Reduktion ein
nunc stans beschreibt, das derSachenach dieZüge eines allzeitlich
Konstituierten trägt, diese allzeitliche Gegebenheitsweise wohl
auch als die apodiktische angesehen. Die Ständigkeit eines all-
zeitlichen nunc stans ist ja ein bleibender und absolut wandel-
loser Erkenntnisbes itz. Außerdem kann diese identische Ständig-
keit als im Unendlichen liegende und unerreichbare Idee niemals
adäquat wie ein zeitweilig Präsentes gegeben sein. Sie entspricht
darin der Vermutung in den Cartesianischen Meditationen, daß
die Gegebenheitsweise das "ich bin" vielleicht apodiktisch, aber
nicht adäquat sei2.
Aber sie entspricht dieser Vermutung nicht vollständig: Zum
Gehalt der apodiktischen Erkenntnis selbst gehört danach die
weitere Einsicht, daß das Ich als jeweils aktuelle Gegenwart auch
adäquat gegeben sein müsse und daß seine gezeitigte Vergangen-
heit und Zukunft niemals adäquat bewußt sein könnten3. Damit
ist gesagt, daß eine Erkenntnis, die vom Strömen und seiner kon-
stitutiven Folge, der zeitlichen Jeweiligkeit, ganz und gar absieht,
nicht die volle apodiktische Einsicht in das, was das transzenden-
tale Ich ist, enthalten kann.
Die Spontaneität der nunc stans-Erfassun g besteht aber gerade
in einem "Überfliegen" des Strömens bzw. im Versuch, sich durch
Abstraktion davon zu lösen. Das Ich thematisiert hier etwas, das
in einer Gegenwärtigun g im Sinne urpassiver Übergangssyn thesis
Vgl. a.a.O., S. 44
1
V gl. Cartesianische Meditationen, S. 62
2
s Vgl. ebendort und das hier früher über Apodiktizität und Adäquation Gesagte.
(S. 7I ff.)
DAS ALLZEITLICHE NUNC STANS 131

nicht auftreten kann; es läßt etwas begegnen, was es im Sinne ob-


jektiven Seins, als Festgelegtheit auf Zeitstellengegenwart, nicht
"gibt". Das war ja mit der Feststellung gemeint: Das allzeitliche
nunc stans bzw. die dadurch mitaufgestellte allzeitlich ideale Ein-
heit ichliehen Lebens ist irreal.
Darin liegt wiederum nicht, diese allzeitliehen Gegebenheiten
seien bloß etwas willkürlich Ausgedachtes. Ihre Aufstellung ist
vielmehr ein notwendiger und sinnvoller Schritt im Gang der Re-
flexion. Dies soll nun noch deutlicher werden. Es ist zu fragen:
Wie ist überhaupt der Versuch des reflektierenden Ich motiviert,
sich von der Bindung an die Passivität des Strömens zu lösen bzw.
die Anonymität zu überwinden?

J. Die Motivation für die ld(}ation des allzeitliehen nunc stans und
die Teleologie des Fungierens
Die stehende Funktionsgegenwart heißt darum anonym, weil
sie vom reflektierenden Ich nicht in abstandloser Nähe erfaßt
werden kann. Jede Reflexion bleibt nachträglich, weil das reflek-
tierte Ich entgleitet, das reflektierende und damit fungierende Ich
aber steht und bleibt. Mit anderen Worten: Das letztfungierende
Ich kann sich selbst als ständiges nicht reflexiv einholen; das
letztfungierende Ich ist seinem eigenen reflexiven Gegenwärtigen
stetig vorweg.
Unter diesem Gesichtspunkt läßt sich die Rätselhaftigkeit der
lebendigen Gegenwart noch einmal neu formulieren: - Am N or-
mal- und Modellfall der Wahrnehmung eines Sinnendings hatte
sich früher gezeigt, daß zu jeder Gegenwärtigung die Protention,
das unthematische Mit-Gewärtigen des gerade Kommenden als
eines typisch Vorbekannten gehört!. Auch die Selbstgegenwärti-
gung hat diese primäre Erwartungsintention, die in den Zukunfts-
horizont überleitet. Alle Intentionalhabe, hieß es weiter, drängt
in sich teleologisch auf Urpräsentation, auf Einholung des Zu-
künftigen, Fernen und wesenhaft Unbekannten in die Urnähe des
Gegenüber. Im neuerlichen strömenden Entschwinden der Ur-
nähe wird das Präsente zur Gegenstandseinheit zusammengenom-
men und dadurch als identisches bleibend erfaßbar. Diese Be-
schreibung trifft auch für das Ich zu, sofern es mitgezeitigt wird.
Die anonyme Funktionsgegenwart aber zeigt die Besonderheit,
1 s. 39 ff.
132 LEBENDIGE GEGENWART

daß sie - in originärer Selbstgegenwärtigung in den Blick gefaßt -


immer "nur" als gezeitigt verharrende oder als allzeitlich "ver-
harrende" und nie als "sie selbst" vor den Blick gelangt. Wobei
hinzuzufügen ist, daß keineswegs phänomenologisch angegeben
werden kann, worin sich dieses "sie selbst" positiv von den be-
sagten durchaus originären Gegebenheitsweisen abheben soll.
Mit diesem Vorbehalt läßt sich sagen: die Funktionsgegenwart
bleibt stetig anonym, weil sie immer dem Blick vorausliegt; sie ist
in aller reflexiven Selbstgegenwart proteniert, ohne daß diese
Protention jemals in urimpressionale Gegebenheit überginge. Die
wesenhafte Unbekanntheit des Zukünftigen, die noch in jedem
anderen Konstitutionszusammenhang potentiell als typische Vor-
bekanntheiterfahren werden konnte, diese Unbekanntheit ist am
reflexiv protenierten "Ich fungiere" unaufhebbar. Selbstverständ-
lich ist das Ich als mitgezeitigtes typisch vorbekannt, wie die Ge-
wißheit der unendlichen Iterierbarkeit der Reflexionen auf den
Ichpol bezeugt. Als vor-zeitliches jedoch liegt es stets der
Urpräsentation voraus,- eben weil es selbst das Entquellen der
Präsentation ist.
Das präsentierende Ich drängt aber darauf, Unbekanntes seines
Zukunftshorizontes in gegenständliche Impressionalhabe zu ver-
wandeln. So befindet es sich in dauernder Selbstkonstitution.
Diese ist der teleologische Prozeß der Vereinheitlichung des in-
tentionalen Lebens selbst; denn Konstitution heißt Zeitigung
durch Gegenwärtigung von Einheiten. Nicht nur die Welt-
erfahrung, sondern auch die Selbsterfahrung hat also als "Streben"
nach Vereinheitlichung eine elementare teleologische Struktur.
Dieses Streben darf ebensowenig wie bei der Welterfahrung auf
Fühlen, Handeln, Werten, Denken usw. aufgeteilt werden; auch
steht es nicht im Belieben des Ich, sondern es ist die Weise, wie
das Ich den strömend-ständigen Übergang von Protention in Ur-
präsentation vollzieht, - einen Übergang, der ein bleibendes
Strukturmoment der ichliehen Urfunktion, der Gegenwärtigung
darstellt. In diesem Sinne fragt sich Husserl (und bejaht diese
Frage) "Dürfen oder müssen wir nicht eine universale Trieb-
intentionalität voraussetzen, die jede urtümliche Gegenwart als
stehende Zeitigung einheitlich ausmacht und konkret von Gegen-
wart zu Gegenwart forttreibt, derart daß aller (gegenständliche>
Inhalt Inhalt von Trieberfüllung ist und vor dem Ziel<= der Ur-
DAS ALLZEITLICHE NUNC STANS 133

präsentation> intendiert ist ... "1 Der innere Motor der Phäno-
menologie ist nach der einleitenden Charakteristik die Absicht auf
reflexive Gegenwärtigung des ichliehen Fungierens selbst. Wenn
Gegenwärtigen teleologisch verläuft und wenn es in der Bewegung
der phänomenologischen Reflexion und Selbstbesinnung gewis-
sermaßen "zu sich selbst kommt"2, dann muß sich diese reflexive
Selbstbesinnung der Teleologie nicht nur unterwerfen, sondern
sie muß sie folgerichtig zur ausdrücklichen Regel phänomenolo-
gischen Vorgehens erheben. Es folgt weiterhin: Die radikalisierte
Reflexion auf die Urgegenwart des letztfungierenden Ich drängt
teleologisch darauf, auch diese ichliehe Gegenwart als gegen-
ständliche Einheit vor ihr "Schauen und Fassen" zu bringen und
dadurch die letztmögliche Vereinheitlichung des intentionalen
Lebens erfahrbar zu machen. Das Gelingen dieses Vorhabens
würde aber die Teleologie selbst, den Motor der Protentionalität,
zum Stillstand bringen. Die phänomenologische Reflexion be-
findet sich also scheinbar in der paradoxen Situation, daß sie die Be-
wegung aufheben will, die ihr eigenes Vorgehen sinnvoll macht, in
Gang bringt und in Gang hält. (Eine Parallele zu dem erwähnten
Unterfangen, die Distanz zwischen Sehen und Gesehenem un-
endlich zu verringern und doch gerade bei diesem V ersuch von
der beginnenden Ferne, die jede Urnähe darstellt, Gebrauch zu
machen.)
Weil nun das spontan reflektierende, zur Phänomenologie "er-
wachte" Ich bei seinem radikalsten Erfahrungsvorstoß auf ein
protentional Gewärtigtes stößt, das unbekannt bleibt und in
seiner Anonymität nicht einzuholen ist, darum macht das Ich in
der Freiheit seines Denkens den letzten Versuch, gleichsam über
den Schatten seines ständigen Entströmens und damit anonym-
Bleibens zu springen und in spontanem Vorgriff seine Hand doch
noch auf die anonyme und ständige Funktionsgegenwart zu legen.
Jedoch auch auf diese Weise wird das rätselhafte "Ich fungiere"
selbst nicht positiv erfahrbar. Im Gegenteil: die Irrealität des
allzeitliehen nunc stans, als welches es nunmehr begegnet, ver-
tieft nur den Eindruck, daß die lebendige Gegenwart in ihrer Ur-
passivität, Praereflexivität und Vorzeitlichkeit für die phäno-
menologische Erfahrung ein "Nichts" ist.
1 Ms. E III 5, S. 3 f. (1933)
2 Vgl. Ms. K III 6, S. 250 (1934-1936)
F. ZURÜCKFÜH RUNG DER RÄTSEL DER
LEBENDIGE N GEGENWAR T AUF DAS EINE RÄTSEL
DER EINHEIT VON STEHEN UND STRÖMEN

Und doch kommt sowohl in der Ideation des allzeitliehen nunc


stans wie in der Verzeitigung und Mitzeitigung des verharrenden
Ich-in-der-Jew eiligkeit etwas vom rätselhaften Wesen der Vor-
Gegenwart zum Varschein; denn beide Weisen der Selbsterfahrun g
machen von Voraussetzung en Gebrauch, ohne die sie nicht voll-
zogen werden könnten. Die Aufstellung des allzeitliehen nunc
stans wäre nicht möglich ohne eine uneinholbare Protentionalit ät,
eine vor-zeitliche Identität und Ständigkeit und eine unaufheb-
bare Ungegenständ lichkeit (Anonymität) des "Ich fungiere",
welche die Ideation einzuholen und zu erfassen sucht. Der re-
flektierende Mitvollzug und Anblick der "immanenten" Zeiti-
gung wiederum ist nur möglich durch eine urpassive und prae-
reflexive entgleitenlassende Zusammennah me "im Innern" des
letztfungierend en Ich selbst. In formelhafter Zuspitzung: Das
nunc stans-Bewußtsein thematisiert einseitig die ichliehe Ständig-
keit, überspringt eben dadurch das Strömen und verstellt so den
Zugang zur "eigentlichen" lebendigen Gegenwart. Das Bewußt-
sein vom gezeitigten verharrenden Ichpol der Vollzüge und Habi-
tualitäten erblickt im aufdeckenden Mitvollzug das Strömen, ver-
steht auf diese Weise die Möglichkeit von Welt- und Selbstgegen-
wärtigung und -Zeitigung, kann so aber die vor-zeitlich ständige
Gegenwart nur noch als Zeitstellengeg enwärtigkeit erfahren und
verdeckt auf diese Weise ebenfalls das volle Wesen des urphäno-
menalen "Ich fungiere".
Mit der Einsicht in dieses komplementär e Verhältnis ist die
Einheit einer Sicht auf das Ganze des Urphänomens noch nicht
gewonnen. Gewiß läßt sich wiederholen, es sei strömend-steh end.
Doch was das eigentlich heißt, das kann offenbar nicht verstan-
den werden, solange die originäre Erfahrung des einen Wesens-
zuges die des andern notwendig verschüttet, solange m.a.W. die
EINHEIT VON STEHEN UND STRÖMEN 135

Phänomenologie Erfahrung nur als Begegnenlassen von zeit-


lichen oder allzeitliehen Gegenständlichkeit en kennt. Die Rätsel
der lebendigen Gegenwart bleiben ungelöst, solange die Einheit
von nunc stans und nunc fluens, von Stehen und Strömen, von
Bewegung und ruhender Ständigkeit im "Innern" der lebendigen
Funktionsgegenwa rt nicht gedacht werden kann.
Dabei ist nicht zu vergessen, daß die Einheit von Strömen und
Stehen im Bereich der zeitlichen oder allzeitliehen Konstitution
durchaus phänomenologisch erfahrbar ist, wie die Analyse der
noetischen und noematischen Gegenwärtigungsst rukturen zeigen
sollte.
Eigler faßt die Auffassung Husserls von der Zeitigung richtig
zusammen, wenn er schreibt: "Die ständige Konstitution eines
neuen "jetzt" (es wäre hinzufügen: durch das Strömen> hält die
Zeit im Fließen, die Ständigkeit der Konstitution bewahrt die
Starrheit der Zeit"l. Ebenso treffend die Bemerkung: "Die Sub-
jektivität ist ein nunc stans, sie hält sich ständig den Horizont
ihres Seins vor, indem sie sich als jetzt seiende konstituiert und
so ihr ständiges jetzt-Sein konstituiert"2. Hierauf muß dann zu
Recht gefragt werden: "Wo liegt. .. die Nötigung, daß die Sub-
jektivität die immanente Zeit als eine fließende konstituiert"3?
Eiglers Antwort auf diese Frage scheint allerdings allzu ein-
fach: "Wo liegt. .. die Nötigung für dieses Fließen der imma-
nenten Zeit? In der transzendentalen Subjektivität? Kaum, denn
sie konstituiert sich als eine ständig "jetzt" seiende und ist so
jenseits des Flusses der immanenten Zeit, weil sie ihn konstitu-
iert"4. Mit diesem Argument ist nur das allzeitliche nunc stans,
das Ich in seiner irrealen Gegebenheit getroffen, die selbst noch
vom letztfungierenden Ich spontan konstituiert ist,- nicht aber
die letztfungierende lebendige Gegenwart selbst, die in sich selbst
stehend-strömend und damit in vermögliche Zeitstellengegen-
wärtigkeit übergängig ist. Die "Nötigung für das Fließen" muß
also sehr wohl im Innern der Subjektivität gesucht werden. Es
muß verstanden werden, in welcher Weise die ichliehe Ständig-
keit in ihrem Kern entgleitenlassende Zusammennahme ist. Dies
kann im Sinne der husserlschen Phänomenologie nicht geschehen,
1 Eigler a.a.O., S. 94
2 a.a.O., S. 99
3 a.a.O., S. 104.
4 ebendort
136 LEBENDIGE GEGENWART

indem das Denken den Weg der radikalen Selbstbesinnung und


Selbsteinkehr verläßt und den "Anstoß" für die Bewegung des
Strömens in nichtichliehen Bereichen sucht:
So stellt wohl weder die spekulative Rückfrage nach der kos-
mischen Urbewegung des Weltganzenl- dies auch der Horizont
der Eiglerschen Fragestellung - noch die Ineinssetzung von Zeit-
lichkeit und jemeiniger Leiblichkeit2 in diesem Zusammenhang
eine Fortsetzung der Phänomenologie im Sinne Husse r 1s dar.
Nach M. Merleau-Ponty birgt dasständige "Ich fungiere" darum
in sich ein urpassives, übergangssynthetisches Strömen und damit
Zeitlichkeit und Reflexionsvermögen, weil es durch seinen Leib
immer schon in der vorwissenschaftlich wahrgenommenen Welt
engagiert ist3. Es fragt sich aber, ob auf diese Weise nicht die
letzte und radikalste Absicht der phänomenologischen Reduk-
tion, die ja als transzendentale Selbstbesinnung gemeint
ist, rückgängig gemacht wird. Gewiß, es scheint so,- und Merleau-
Ponty macht darauf zu Recht aufmerksam, - als könne die radi-
kalisierte Reduktion, geleitet vom Ideal der Gegenstandshabe,
zuletzt nur zu einem "überzeitlichen", d.h. allzeitliehen Ich ge-
langen4, das seiner selbst in absoluter Durchsichtigkeit habhaft
und dessen Zeitbezug auf diese Weise im Grunde völlig unbe-
greiflich wäre. Kann aber die ,;Undurchsichtigkeit" des Ich, -
wie Merleau-Pontys Gesamttitel für Strömen, Leiblichkeit, Zeit-
lichkeit und Reflektierbarkeit lautet,- kann der Grund für diese
Undurchsichtigkeit in der Leiblichkeit gesucht werden? Stellt
diese Begründung nicht einen Rückfall in den von Husserl
im Sinne seiner Problemstellung zu Recht gerügten trans-
zendentalen Anthropologismus dar, - auch dann, wenn nicht
die Leiblichkeit gemeint ist, die ich "habe", sondern die ich
"bin"? Muß nicht umgekehrt die notwendige Konkretion des
Ich in seiner Leiblichkeit erst noch transzendental begründet,
d.h. jetzt: vom vor-zeitlichen "inneren" Strömen der ichliehen
Ständigkeit her verstanden werden?
Über Husserls bisher dargestellte Auffassung von der Ständig-
keit des nunc stans kann demnach wohl nur so hinausgefragt
werden, daß die busserlsehe Fragestellung, die eindeutig auf trans-
1 Vgl. E. Fink, Zur ontologischen Frühgeschichte von Raum- Zeit- Bewegung, 1957
2 Vgl. M. Merleau-Ponty, a.a.O.
a Vgl. a.a.O., S. I-XVI u.S. 470 ff.
4 a.a.O. S. V-IX u.S. 451 ff.
EINHEIT VON STEHEN UND STRÖMEN 137

zendentale Selbstbesinnung abzielt, beibehalten und vertieft


wird. Einen solchen Versuch stellt der folgende Teil dar. Er kann,
wie sich zeigen wird, über den bisher erreichten Problemstand nur
noch so hinausgelangen, daß die programmatische Festlegung der
Phänomenologie auf reflexive Aufweisbarkeit und Nachweis-
barkeit nicht mehr im Sinnne Husserls eingehalten wird. Ande-
rerseits kann der Versuch sich auf die gedanklichen Konsequen-
zen des bisher im engen Anschluß an Husserl Erarbeiteten und
zudem auf weitere wichtige Nachlaßstellen berufen.
III. TEIL

ENTWURF EINES RÜCKGANG S


AUF DAS ANONYME NUNC STANS
A. AUFGABENSTELLUNG

Es gelang bisher, das Rätselhafte der lebendigen Gegenwart


auf eine Grundschwierigkeit zurückzuführen: die Unerfahrbar-
keit der vollen Einheit von Stehen und Strömen: Die "eigentliche"
Gegenwart ist ein nunc stans, aber ein nunc stans-im-Wandel,
ständige vor-zeitliche Gegenwart, die doch in sich "auf dem
Sprung steht", als eine der strömend sich ablösenden Zeit-
stellengegenwarten erfahren zu werden. Husserl hat häufig in
letzter Konzentration des Denkens versucht, die gegenwärtige
Einheit dieses stehend-strömenden "Ich fungiere" beschreibend
einzufangen. Aber auch die geschmeidigste sprachliche Ver-
schmelzung der beiden Momente führt nicht zur reflexiven Er-
fahrbarkeit ihrer vollen Einheit in der lebendigen Gegenwart.
Dies mögen noch einige Nachlaßstellen verdeutlichen, in denen
Husserl selbst elementarste Beschreibungen des Urphänomens,
des apodiktischen "ich bin", des Ich als nunc stans usw. ge-
sehen hat, wie aus dem Kontext hervorgeht.
"Die Rückfrage von der Epoche aus führt auf das urtümliche
stehende Strömen - in einem gewissen Sinne das nunc stans,
stehende ,Gegenwart', wobei das Wort Gegenwart als schon auf
eine Zeitmodalität verweisend eigentlich nicht paßt ... Die erste
Aussage ist: stehendes Strömen, stehendes Verströmen, stehendes
Heranströmen. Im Strömen als stehendem konstituiert sich der
<Lebens-)Strom; das Stehen besagt Ständigsein als ,Prozeß' . . . "1
Im folgenden Abschnitt heißt es statt "ich fungiere" - "ich
tue"; der Wortlaut der Stelle zeigt jedoch, daß es sich abermals
um eine elementare Beschreibung des Urphänomens handelt:
"Ein Akt, eine Ichtätigkeit ist wesensmäßig ein urquellendes
,Ich tue'. Als Urquellendes ist es stehendes und bleibendes Ur-
quellen, aber auch irreins Verströmen in stetige Modifikation des
1 Ms. C 7 I, S. 30 f. (1932)
142 RÜCKGANG AUF DAS ANONYME NUNC STANS

soeben Gewesenen, andererseits urquellend zugleich Vorgerichtet-


sein auf das soeben Kommende; dieses ganze Urquellende unter
Verströmen und Heranströmen von Kommendem ist Einheit
eines stehenden und bleibenden Urphänomens, ein stehender und
bleibender Wandel, Urphänomen meines ,Ich tue', worin ich, das
stehende und bleibende Ich bin, und zwar bin ich der Tuende des
,nunc stans'. jetzt tue ich und nur ietzt, und ,ständig' tue ich. Aber
das ,Ieh tue' verquillt auch ständig, und ständig habe ich Zukommen-
des, das aus mir betätigt wird"l.
"Ich habe die Evidenz: Ich bin und bin, indem ich immer neu
ein Jetzt habe, und immerfort im lebendigen Jetzt habe ich ori-
ginär gegeben ein Gesamtphänomen des absolut Originären und
das Phänomen des fließenden Wandels dieses Gesamtphänomens ,
in dem das Gewandelte als Gewandeltes originär gegeben ist und
das soeben Gewesene als soeben gewesen ... Aber nicht nur das,
ich finde dasJetzt und das ,ich bin' im] etzt eben als ein identisches
und doch fließendes, sichwandelndes I eh und fortwandelndes, als einen
beständigen Obergang erfassendes und selbst kontinuierlich über-
gehendes"2.
Aus allem wird deutlich: das "Ich fungiere" leitet in sich kon-
tinuierlich in seine Vergangenheits-un d Zukunftshorizonte über,
weil es selbst im Stehen übergängig ist. Es gibt kein weltloses,
vom Transzendenten abgeschnittenes "ich bin", weil dieses ste-
hende "ich bin" als strömendes und damit urzeitigendes bestän-
dig in erste Transzendenz übergeht und immer schon übergegan-
gen ist. - Es bleibt aber die Grundfrage: Wie ist es zu verstehen,
daß das urständige letztfungierende Ich sich immer schon ur-
passiv entgleiten läßt und sich ineins damit in "wundersamer"
Synthesis zusammenhält? Dieses Rätsel ist in den Deskriptionen
Husserls gesehen und doch von ihm nicht als phänomenologisch
unüberwindbare Schwierigkeit zugegeben. Es ist jedoch der
Grund für die Unruhe und Unbefriedigung, die Husserl in den
Jahren 1930 bis 1934 zu immer neuen, immer subtileren und
schließlich notwendigerweise sich wiederholenden Deskriptionen
der lebendigen Gegenwart trieb.- Diese Bemerkung ist nicht in
erster Linie als eine biographische Notiz zu Husserls Denkerleben

1 Ms. B III g, S. 26 (1931)


2 Phänomenologische Psychologie, S. 476 f.
AUFGABENSTELLU NG 143

gemeint; sie gehört vielmehr zum Thema selbst. Denn es ist be-
zeichnend, daß Husserl gegen Ende seines Lebens das Problem
der lebendigen Gegenwart und damit zugleich das der radikalisier-
ten Reduktionimmerw ieder aufgriff, obwohl er doch über gewisse
Grundmöglichkeite n der Beschreibung, die im vorigen Teil dar-
gestellt wurden, nicht hinausgelangen konnte. Auch seine häufi-
gen Hinweise auf die ausnehmende Schwierigkeit dieses Problem-
bereichs zeigen, daß er das Rätselhafte der urphänomenalen Ein-
heit von Stehen und Strömen sah, obwohl er es nicht eigens als
Rätsel thematisieren, ja das Rätselhafte in seiner Unlösbarkeit
nicht einmal als sinnvolles phänomenologisches Thema zuge-
stehen konnte. Trotz dieser selbstgesteckten (und wie sich er-
weisen wird keineswegs willkürlich gesteckten) Grenzen ent-
halten die bisher dargestellten Gedankengänge Konsequenzen
und einige Nachlaßmanuskrip te Hinweise, die den Rahmen des
bisher aufgestellten Beschreibungsschemas sprengen oder zu-
mindest in eine Richtung weisen, wie darüber hinausgefragt
werden kann. Auf einige solcher Stellen, an denen Husserl etwas
anderes "tut", als er selbst programmatisch proklamiert, stützen
sich die folgenden Überlegungen!. Ihre Absicht ist dabei nicht,
willkürlich irgendwelchen offenbar peripheren Bemerkungen
Husserls Tiefsinn zu unterschieben; es werden daher nur solche
Gedankengänge berücksichtigt, die mehrfach wiederkehren und
die auf der Linie der husserlschen Fragestellung liegen, obwohl
sie deren selbstgesetzte Grenzen überschreiten.
Die Linie oder Richtung der husserlschen Fragestellung läßt
sich mit einem Wort kennzeichnen: Selbstbesinnung; genauer:
Reduktion auf das letztfungierende Ich. "Unser ganzes Vorgehen
ist, eine Selbstbesinnung vollziehen und auf das ,absolut wahr-
nehmungsmäßig Gegebene' reduzieren. . . Das ist Analyse der
strömend-urtümlichen Gegenwart''2.
Nachdem der Bereich dieser anfänglichsten, urphänomenalen
Denkgegebenheit, den die radikalisierte Reduktion eröffnet, in
der vorangehenden Darstellung durchschritten und umgrenzt
wurde, ist nun zu erörtern, wie überhaupt weiter gefragt werden
kann: Kann im Bereich der urphänomenalen Gegenwart die
1 Vgl. W. Biemel in Krisis S. XXI: "Es gilt. .. gerade die verborgene Viel-
fältigkeit seinesDenkens-oft auch gegen Busserls eigene Formulierungen zu sehen
und zu verstehen".
2 Ms. C 7 I, S. 34 (1932)
144 RÜCKGANG AUF DAS ANONYME NUNC STANS

Selbstbesinnung durch eine weitere Reduktion und damit eine


weitere Epoche vertieft werden? -Beim Vollzug der radikalisier-
ten Reduktion wurde das Horizontbewußtsein vom noetischen
Lebensstrom eingeklammert, damit er auf diese Weise aus in-
tentionaler Innenansicht, von der lebendigen Gegenwart her,
verstanden werden konnte. Das rätselhafte urpassiv geeinte
Strömen erwies sich als die vor-zeitliche Vorform des gezeitigten
Lebensstromes. Wie dieser aber im letztfungierenden Ich seinen
Ursprung haben und in der strömenden Ständigkeit der Funk-
tionsgegenwartgeeint sein kann, bleibt im Grunde noch ungeklärt,
solange das Strömen der Ständigkeit nicht gedacht werden kann.
Der Weg einer weiteren Rückfrage ist damit vorgezeichnet:
Das Feld der phänomenologischen Erfahrung muß noch einmal
auf eine radikalere Innenschau konzentriert und auf das Thema
der ichliehen Ständigkeit reduziert werden. Das kann jedoch ge-
mäß der bekannten Struktur der Reduktion nicht den Sinn haben,
zugunsten der Ständigkeit vom Strömen der Funktionsgegen-
wart wegzusehen. Das Strömen muß vielmehr "in Klammern ge-
setzt" werden, d.h. die neuerliche Reduktion hat dem Stehen des
letztfungierenden Ich derart ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden,
daß dadurch gerade die Ständigkeit als Ermöglichungsgrund des
Strömens, als "Stätte" eines vorzeitlich ständigen Wandels be-
griffen werden kann. Durch bloße Abstraktion vom Strömen
kann ja, wie sich zeigte, nur die Erfahrung von einem allzeit-
liehen nunc stans gewonnen werden. Nur eine solche Themati-
sierung der Ständigkeit des nunc stans ist also geeignet, die Re-
duktion zu vertiefen, die das Strömen als im stehenden "Ich fun-
giere'' impliziert begreift.
Das bedeutet zugleich, weil Strömen, Uneinholbarkeit und
Anonymität der Funktionsgegenwart dasselbe sind, - daß die
irrfrage stehende Reduktion nicht zum Ziel haben kann, die Ano-
nymität zu guter Letzt doch noch aufzuheben; sie hat vielmehr
gerade die "Innenansicht" der Rätselhaftigkeit als solcher zu
liefern. Sie hat verständlich zu machen, daß das "eigentliche",
d.h. das nicht allzeitliche nunc stans anonym bleiben muß,- daß
es andererseits allerdings nur als zeitliche oder allzeitliche Ge-
gebenheit aufweisbar, anschaulich zugänglich sein kann.
Eine solche Aufgabenstellung für die weitere Rückfrage geht
zweifellos über Husserls programmatische Absichten hinaus;
AUFGABENSTELLU NG 145

denn sie verläßt den Bereich reflexiver Erfaßbarkeit, Anschau-


lichkeit, N achweisbarkeit; sie hält es für möglich, daß es nicht nur
Rätsel gibt, zu denen eben Lösbarkeit gehörtl, sondern auch
Fragen; die nicht mit dem Hinweis auf ein originärgegebenes,
gegenständliches "Selbst da" beantwortet werden können. Dies
wiederum ist jedoch keine erbauliche, leere und allgemeine Ver-
mutung, sondern das Bewußtsein von einem Fragehorizont, der
sich in strenger Konsequenz und aufgrund der radikalisierten
Reduktion bisherigen Stils auf das "Urphänomen" eröffnete. Ja,
die "neue" Rückfrage setzt kontinuierlich die Rückfrage nach
dem letztfungierenden transzendentalen Ich fort, indem sie das
letzte reflexiv gewonnene Wissen, die Einsicht in die Un-An-
schaulichkeit, die Anonymität des stehenden "Ich fungiere", das
ich selbst bin, -mit in die Fragestellung hineinnimmt.
Im Hinblick auf die einleitende Charakteristik der phänomeno-
logischen Reflexion als eines "Schauens und Fassens"2 kann
dieser Schritt auch als ein ausdrücklicher, aber selbst noch phäno-
menologisch motivierter, Verzicht auf das Fassen-Wollen bezeich-
net werden.

1 Vgl. S. 94
2 Vgl.S. 13
B. DIE FUNKTIONS GEGENWAR T ALS
.,ABSOLUTE S FAKTUM"

Das transzendental e Ich kann die eigene Funktionsgenw art


darum nicht erblicken und erfassen, weil es selbst diese Gegen-
wart niemals zum Gegenüber hat, sondern stehend und bleibend
selbst die Gegenwart des "Ich fungiere" ist. Das Ich nimmt nur
dann- im weitesten Sinne- etwas wahr, wenn es einen "Blick-
strahl" aus sich, aus der Funktionsgege nwart herausschickt; es
muß ontifizieren bzw. objektivieren; es ist auf Begegnenlassen von
Transzendente m irgendwelcher Art angewiesen, wenn es über-
haupt fungieren will. Dies gilt sogar und überdies ursprünglich
für die Selbstgewahrung, die immer schon "überbrückter Ab-
stand"l ist. Die Funktionsgege nwart kann darum nicht wahrge-
nommen werden. Dennoch ist das Ich der eigenen Gegenwart auf
eine im strengen Sinne unaussprechliche Weise inne. Es "weiß
um" das "Da" seines ichliehen Fungierens. Dieses "Da" ist keine
Gegebenheit im Sinne eines zeitlich oder allzeitlich konstituierten
Gegenüber, und doch ist es eine "Gegebenheit" , ein "Gemeintes"
in allerweitestem Sinne, - wenn auch von unaufhebbarer er-
fahrungsmäßiger Unbekannthei t. Das nunc stans als solcher-
maßen anonymes, als eine "Gegebenheit" , von der nicht einmal
die Gegebenheitsweise bekannt ist 1 soll im folgenden, ,Faktum''
heißen. Wie bisher dargelegt wurde, versteht die Phänomenologie
alles, worüber überhaupt nur sinnvoll geredet werden kann, als
"Gegenstand" im weitesten Sinne, d.h. als transzendentes Korre-
lat einer identifizierenden Intentionalhab e irgendwelcher Art;
weiterhin ergab sich die umfassende Unterteilung dieser Gegen-
stände in zeitlich oder allzeitlich konstituierte. Das Faktum der
vorzeitlichen zeitigenden Funktionsgege nwart nun geht jeder
"Erfahrung" eines irgendwie gezeitigten Gegenstandes voraus.
Diesen Charakter des Faktums der Funktionsgege nwart hat
1 Brand a.a.O., S. 67
"ABSOLUTES FAKTUM" 147

Husserl mit Bezug auf die bereits bekannte eidetische Variation,


durch die alle Aussagen der Phänomenologie zustande kommen,
deutlich ausgesprochen. Er hat es in diesem Problembereich ge-
tan, weil hier der Begriff "Faktum" bereits als Gegenbegriff zu
"Eidos" geläufig ist. Von dem, was Faktum in diesem Zusam-
menhang bedeutet, läßt sich der neuartige Faktumcharakter der
Funktionsgegenwart am besten abheben.
Das Eidos oder Wesen von noematischenoder noetischen fak-
tischen Vorkommnissen "umschließt" als Allzeitlichkeit den
idealen Umfang aller möglichen Vorkommnisse dieses Typs. Ein
Wesen gilt für jegliches mögliche Faktum dieses Wesens in All-
gemeinheit und trifft auf jeden herausgegriffenen Einzelfall mit
Notwendigkeit zul. In diesem Sinne ist ein singuläres Faktum
seinem Wesen gegenüber zufällig. Wenn ein Wesen in der früher
skizzierten freien Variation gewonnen ist, ist es von der faktischen
Verwirklichung oder Nichtverwirklichung eines Faktums seines
Wesens in seinem allzeitliehen Sein unabhängig. Eine einzigartige
Ausnahme von diesem Gesetz stellt nun das Verhältnis dar, das
zwischen meinem faktischen transzendentalen Ich und seinem in
freier Möglichkeitsabwandlung gewonnenen Eidos "ich-über-
haupt" waltet. Es zeigt sich nämlich:
"Das Sein eines Eidos, das Sein eidetischer Möglichkeiten und
des Universums dieser Möglichkeitenist frei vomSein oder Nicht-
sein irgendeiner Verwirklichung solcher Möglichkeiten, es ist
seinsunabhängig von aller Wirklichkeit, nämlich entsprechender
<= darunter fallender>. Aber das Eidos transzendentales Ich ist
undenkbar ohne transzendentales Ich als faktisches"2. Denn "ich,
der Umdenkende, der mich <durch Variation> der faktischen
Wirklichkeit Enthebende, bin apodiktisch das Ich der faktischen
Wirklichkeit und bin das Ich der Vermögen, die ich insbesondere
als eidetisch denkendes und sehendes Ich mir faktisch erworben
habe. Die Phantasiemöglichkeiten als Varianten des Eidos
schweben nicht frei in der Luft, sondern sind konstitutiv bezogen
auf Mich in meinem Faktum, mit meiner lebendigen Gegenwart<!>,
die ich faktisch lebe, apodiktisch vorfinde und mit allem, was
1 V gl. Ca1'tesianische Meditationen, S. 104; E1'fah1'ung und Uf'teil, S. 409 ff.; Ideen I,
S. IO ff.
2 Ms. E III g, S. 73 (1931) Husserl bemerkt dazu: "Hier haben wir einen merk-
würdigen und einzigartigen Fall, nämlich für das Verhältnis von Faktum und Eidos."
148 RÜCKGANG AUF DAS ANONYME NUNC STANS

darin enthüllbar liegt.- Die apodiktische Struktur der transzen-


dentalen Wirklichkeit ist also nicht vermöge jenes Umdenken-
könnens eine solche, die kontingent wäre,- ein zufälliges Faktum,
das einen Wesensrahmen von anderen Möglichkeiten hätte, die
,ebensogut hätten sein können'. "1 "Meine Phantasiewelt mit dem
Phantasie-Ich ist auch in meiner Phantasieverlorenheit mein kon-
stitutives Gebilde und zwar Geltungsgebilde, meiner Phantasie-
welt mit meinem, des wirklichen Ich, fiktiven Ich"2.- Das letzt-
fungierende Ich der lebendigen Gegenwart ist die Urstätte aller
Konstitution, also auch die der Ideation seines eigenen allzeit-
liehen Wesens. Es ist darum nicht bloß die zufällige Verwirk-
lichung einer der unendlich vielen Möglichkeiten, die dieses Eidos
Ego umfaßt, sondern es liegt als Quellpunkt alles Konstituierens
auch jeglicher Setzung eines Unterschiedes zwischen Faktum und
Eidos vorausa. " ... nicht ist es so, als ob meine Tatsächlichkeit
nun ein Zufälliges wäre, als ob mein apodiktisches einsehbares all-
gemeines Wesen voranginge in dem Sinn, wie wir es sonst im Ver-
hältnis von apodiktischen Wesensallgemeinheiten und darunter
fallenden Fakten kennen"4. - Das letztfungierende Ich ist Ur-
faktums schlechthin; es hat nicht den Charakter des Zufälligen
und Singulären gegenüber der absoluten Wesensnotwendigkeit
und Allgemeinheit des Eidos, sondern als absoluter Ausgangs-
punkt alles Fungierens, als apodiktisches Ziel der phänomeno-
logischen Rückfrage muss es selbst "absolutes Faktum"6
genannt werden.

1 Ms. K III I2, S. 34 f. (1935)


2 Ms. C 13 III, S. 5 (1934)
a Vgl. hierfür auch das Zeugnis von E. Fink in Edmund Husserl I859-I959
(Phaenomenologica 4), S. II3: "In den Forschungsmanuskripten der letzten Lebens-
jahre Husserls findet sich nun der merkwürdige Gedanke, die ursprünglichste
Lebenstiefe des Bewußtseins sei durch den Unterschied von essentia und existentia
nicht mehr betroffen, sei vielmehr der Ur-Grund, aus welchem erst die Gabelung
von Faktum und Wesen, Wirklichkeit und Möglichkeit, Exemplar und Spezies, von
Eins und Vielem entspringe".
4 Ms. E III g, S. 14 (1933)
5 Vgl. Formale und transzendentale Logik, S. 209, wo das "ich bin" "Urtatsache"
genannt wird
6 Ms. CI, S. 4 (I934); vgi. S. I (Zusammenfassung Husserls); Th. Seebohm schreibt
unter Berufung auf dieses Manuskript, die transzendentale Subjektivität sei nicht
"absolutes Faktum" (a.a.O., S. 139). Sachlich ist daran richtig, wie auch hier hervor-
gehoben, daß das Ich als letztkonstituierendes nicht konstituiertes Faktum sein kann.
Unrichtig scheint mir die Berufung auf C I. Dort geht es Husserl gerade, wie auch
an den anderen oben angeführten Stellen, um das "Da" des Letztfungierens, das er
deswegen mit Bedacht "absolutes" Faktum nennt.
"ABSOLUTES FAKTUM 149

Husserl sagt deshalb: "Ich bin das Urfaktum in diesem Gang


<gemeint ist der Gang der reduktiven Rückfrage); ich erkenne,
daß zu meinem faktischen Vermögen der Wesensvariation etc.
in meinem faktischen Rückfragen sich die und die mir eigenen
Urbestände ergeben, als Urstrukturen meiner Faktizität .... Das
Absolute <= das transzendentale letztfungierende Ich> hat in
sich selbst seinen Grund <gemeint ist: und nicht in seinem
Wesen) und in seinem grundlosen Sein seine absolute Notwendig-
keit als die eine "absolute Existenz". Seine Notwendigkeit ist
<weil faktische> nicht Wesensnotwendigkeit, die ein Zufälliges
offen läßt. Alle Wesensnotwendigkeiten sind <vielmehr> Mo-
mente seines Faktums, sind Weisen seines in Bezug auf sich selbst
Funktionierens <= Fungierens) -seine Weisen, sich selbst ver-
stehen oder verstehen zu können"!.- "Das Absolute, das wir ent-
hüllen, ist absolute ,Tatsache'."2 Der einfache Grund aber für
diese scheinbar paradoxe Aussage liegt darin, daß hinter das letzt-
fungierende Ich nicht mehr auf ein konstitutiv ursprünglicheres
Ich zurückgegangen werden kann,- wie Husserl einmal prägnant
sagt: das (letztfungierende) Ich "ist, was es ist, nicht für das
Ich, sondern selbst das Ich"3. Eben darum aber ist es auch stän-
dig und anonym. -Die Begriffe "Faktum" und "Anonymität"
nennen also das selbe Rätsel des "Ich fungiere", nur unter ver-
schiedenen Hinsichten: Die Anonymität wird entdeckt im Hin-
blick auf die mögliche Vergegenständlichung, die "Habe" eines
Gegenüber; - der Faktumcharakter zeigt sich unter dem Hin-
blick der Erkenntnisaktivität oder -Passivität; dies ist so ge-
meint: Einerseits ist das letztfungierende Ich vor aller Betätigung
freier Variation und Ideation von "Ichlichkeit überhaupt" und
vor der Setzung eines allzeitliehen nunc stans schon "da"; das
Ich stößt gleichsam auf dieses "Da", das es selbst ist. Anderer-
seits muß gesagt werden, daß dieses "Da" nicht in der Weise
"vorgegeben" ist, wie Sinnenreize höherstufigen Erfahrungen in
der Konstitution vorausliegen. Die urpassive Vorgegebenheit des
"ich bin da", "ich fungiere" darf mit dem passiven Auftauchen
der Sinneseindrücke nicht verwechselt werden. Auch die passivste
Affektion ist schon ein Modus von "Interesse", von explizier-

1 Ms. E III 9, S. 74 f. (1931)


2 Ms. E III 9, S. 55 (1931)
a Ideen 11, S. 252
150 RÜCKGANG AUF DAS ANONYME NUNC STANS

barem ichlichem Beteiligtsein. - In welchem Sinne von Ichbe-


teiligung ich hingegen auf meine eigene faktische und anonyme
Funktionsstän digkeit stoße, kann phänomenologisch nicht mehr
explizit, d.h. reflexiv anschaulich aufgewiesen werden.
C. DIE ANALOGIE VON
MITGEGENWART UND SELBSTGEGENWART

I. Die Analogie von Fremderfahrung und Wiedererinnerung


Damit ist noch einmal der Punkt bestimmt, über den offen-
sichtlich im Sinne anschaulicher phänomenologischer Aufweisung
nicht mehr hinausgefragt werden kann. Es ergibt sich die Frage,
wo überhaupt noch eine weitere Auskunft über das faktische,
anonyme und stehende "Ich fungiere" geholt werden kann, nach-
dem die Möglichkeiten zeitlicher und allzeitlicher Erfahrung er-
schöpft sind.
Hier ist zu erwägen, ob die Erfahrung vom anderen Ich, auf
die bereitsamEnde des ersten Teils verwiesen wurde, in irgend
einem Sinne weiterführen kann; denn das andere Ich ist ja er-
fahren als Zentrum von Selbst- und Weltkonstitution wie ich
selbst; es ist also ebenfalls gegenwärtigende Gegenwart und ein
stehendes "Ich fungiere". Diese Tatsache gehört mit zum Er-
fahrungsgehalt der Einfühlung oder Appräsentation. Ja, es ist
das Auszeichnende der Fremderfahrung, daß das darin Gegebene
ein Seiendes wie ich selbst ist. Ich bin also nicht nur meiner eige-
nen Funktionsgegenwart inne, sondern auch die Funktionsgegen-
wart des Anderen ist mir irgendwie zugänglich. - Liegt darin die
Möglichkeit, Aussagen über das Wesen des stehenden "Ich fun-
giere" zu gewinnen, die über die bisherigen hinausgehen?
Das scheint zunächst ausgeschlossen, weil auch der Andere
ebenso wie Zeitliches oder Allzeitliches, nur von mir aus, in meiner
lebendigen Gegenwart erfahren und damit konstituiert ist. Etwas,
was ich aber durch mein eigenes "Ich fungiere" als mir gegenüber
begegnen lasse, ist von vornherein ungeeignet, meine anonym
bleibende Funktionsgegenwart selbst verständlicher zu machen.
Es fragt sich jedoch, ob das andere "Ich fungiere" überhaupt ein
solches gegenständliches Gegenüber ist. Muss es nicht ebenfalls
als anonyme Funktionsgegenwart gegenständlich unbekannt blei-
152 RÜCKGANG AUF DAS ANONYME NUNC STANS

ben, und ist es nicht vielleicht gerade durch diese Anonymität, die
es mit meiner eigenen Unbekannthei t für mich selbst teilt, geeig-
net, tieferen Aufschluß über das stehende "Ich fungiere" als ano-
nymes zu geben? - Mit dieser Fragestellung ist der Anschluss an
das Ausgangsproblem dieses Teils gewonnen: Wie läßt sich die
Ständigkeit der lebendigen Gegenwart in ihrer Anonymität
weiter befragen? - Es bietet sich nun die Möglichkeit einer sol-
chen Frage: Wie bin ich der anonymen Funktionsgege nwart des
anderen Ich inne?
Es wird sich zeigen, daß es in einigen Überlegungen Husserls
im Grunde um diese Frage geht, obwohl Husserl sie nicht in dieser
Weise programmatisc h hätte stellen können. - Im übrigen sei
nach darauf hingewiesen, daß die folgenden Überlegungen nicht
die sehr verwickelte Problematik der Fremderfahrun g weiter-
führen wollen, sondern daß sie das Problem des Andern aus-
schließlich in Hinsicht auf die Fragen der lebendigen Ichgegen-
wart zum Thema machen. Die Fremderfahrun g interessiert hier
also nur insoweit, als ein möglicher Vergleich von Fremderfahrun g
und Selbsterfahrung zur Erhellung der letzteren beitragen kann.
Transzendenta le Selbsterfahrun g erwies sich als Anblick bzw.
Mitvollzug der Selbstzeitigung. Selbstzeitigung ist das Begegnen-
lassen meiner für mich selbst in immanenter bzw. erster Transzen-
denz. Auf Grund dieser Transzendenz, Objektivation oder On-
tifikation kann das Ich sich selbst gegenwärtigen oder vergegen-
wärtigen. Zeigt die Fremderfahrun g eine vergleichbare konstitu-
tive Struktur? Nach Husserls Lehre von der Intersubjektiv ität
begegnen die Andern zunächst und notwendig als wahrnehmbare
Gegebenheiten in der Welt: ihr "Inneres", ihr immanenter Le-
bensstrom ist nicht in der Unmittelbarke it der Reflexion auf
mein eigenes Leben zugänglich, sondern immer nur mittelbar -
über seine konstitutiven "Produkte" oder durch den "Ausdruck",
der sich nur am sinnlich Wahrnehmbar en zeigen kann. Der An-
dere ist in diesem Sinne nicht unmittelbar mir gegenwärtig, son-
dern "vergegenwärt igt". Doch das muß richtig verstanden wer-
den: Diese Vergegenwärtigung ist kein Rückschluß vom Äusseren
auf das Innere, sondern eine originäre Zugangsart, in der der
Andere mir so begegnen kann, wie er wirklich ist- und d.h.: als
anderer, - in einer unaufhebbaren Vermittlung durch die ge-
meinsame konstituierte Welt und den äußeren Ausdruck. Diese
MITGEGENWA RT UND SELBSTGEGEN WART 153

Vermittlung ist kein "Umweg", dessen Entbehrlichke it sinnvoll


denkbar wäre, sondern auf ihre Weise der direkte- obschon darin
eine unaufhebbare Ferne einschließend e- Zugangsweg zum An-
deren als anderen.
Auch die Fremderfahrun g wird demnach von Husserl auf
eigenartige und hier nicht weiter darstellbare Weise nach dem
Grundschema von Ferne und Nähe, von Gegenwärtigung und
Vergegenwärtigung gedacht. Es ist daher keineswegs Zufall,
sondern dem Wesen der phänomenologischen Reflexion gemäß,
wenn Husserl auf Grund dieser Vergegenwärt igungsstruktur der
Fremderfahrun g eine Analogie zwischen der Erfahrung vom
Anderen und der Erinnerung an meine eigene Vergangenheit ent-
deckt. Diese Analogie ist unverkennbar : Beide Erfahrungen ent-
halten originäre Selbstbekundu ngen von etwas intentional Fer-
nem als unaufhebbar fernem: Ich weiß mich mit dem Anderen
"einig", weil er Funktionszent rum ist wie ich; ich weiß mich mit
meinem erinnerten Ich einig, weil es gewesene Gegenwart meiner
selbst ist. Und doch bleibt in beiden Fällen das Intendierte in be-
sonderer Weise "außerhalb" meiner: meine Vergangenheit ist
prinzipiell als entströmte uneinholbar ; der Andere ist durch
den unüberbrück baren Abstand der gemeinsamen Welt-
konstitution von mir geschieden. Also, ähnliches originäres Ver-
ständnis für den Anderen als "Analogon" meiner selbst und für
mein erinnertes Ich als vergangenes meiner selbst - bei ähnlicher
Unüberbrückb arkeit bzw. Unwiderruflichkeit ihrer Entfernung.
Diese Analogie von Einfühlung und Wiedererinner ung erwähnt
Husserl in den veröffentlichen Schriften einigemale, "um einen
lehrreichen Vergleich zu ziehen", wie es in den Cartesianischen
Meditationen heißt, - das besagt dort: um auf diese Weise die
Struktur der Einfühlung zu verdeutlichen!. Im Nachlaß findet
sich aber eine Reihe von Überlegungen, die primär dem Problem
der Zeit- und Selbstkonstitu tion gelten und umgekehrt die Ver-
gegenwärtigun gsstruktur der Fremderfahrun g hinzuziehen, um

1 Vgl. Gartesiamsehe Meditationen, S. 144 ff.; außerdem Erste Philosophie, S. 175 ff.,
Krisis, S. 189
Auf die mögliche Tragweite der Analogie von Wiedererinnerung und Fremder-
fahrung haben zuerst D. Sinn, Die transzendentale Intersubjektivität mit ihren Seins-
horizonten bei E. Husserl, Heidelberger Diss. 1958, S. 71 f., und Th. Seebohm a.a.O.,
S. 148 hingewiesen, ohne, wie es hier versucht wird, zu der tieferliegenden Analogie
von Selbstgegenwart und Mitgegenwart vorzustoßen.
154 RÜCKGANG AUF DAS ANONYME NUNC STANS

das Wesen der Wiedererinnerung verständlicher zu machen.


Allerdings lässt sich oft garnicht feststellen, welches die Haupt-
und welches dieN ebenerwägungeneines Forschungsmanuskriptes
sind. Zumindest aber kann gesagt werden, daß nach Husserls
Meinung in den Forschungsmanuskripten Fremderfahrung und
Erinnerung sich gegenseitig erhellen.l In welcher Weise, - das
soll nun gezeigt werden, soweit es für das angestrebte vertiefte
Verständnis des anonymen nunc stans dienlich ist.
Bezüglich der Analogie stellen sich zwei Fragen:
r. Worin gleichen sich die Unwiderruflichkeit und die Un-
überbrückbarkeit, mit der das erinnerte Ich und das appräsen-
tierte Ich von mir entfernt sind? Was ist das Gemeinsame, das
auf unterschiedliche Weise eine grössere intentionale Nähe des
vergangeneu bzw. des anderen Ich prinzipiell ausschließt?
2. Woher ergibt sich das Recht, trotz der Vermitteltheit des
Zugangs in gleicher Weise von originären Selbstbekundungen zu
sprechen? Was ist das Übereinstimmende der "Abwandlungen"
meiner selbst, die mich einmal ein Analogon meiner selbst, das
Ich im Modus "Anderer", - und einmal mein eigenes Ich im
Modus "vergangen" finden lassen?
Zur ersten Frage: Worin gleichen sich Ent-gegenwärtigung und
Ent-fremdung2? Der Seinssinn von ichlieher Vergangenheit ver-
weist auf gewesene lebendige Gegenwart, -eine Gegenwart, die
sich aufgrund des unaufhaltsamen urimpressional-retentionalen
Wandels als etwas Unwiederbringliches und Einmaliges sedimen-
tierte. - Der Seinssinn des Anderen verweist auf das Medium
seiner mit mir gemeinsam konstituierten Welt, "hinter" der er
als fremdes Konstitutionszentrum steht. Der Urmodus ge-
meinsamer Konstitution ist das Miteinander wahrnehmender
Gegenwärtigung; Ich und Anderer unterliegen dem Zwang,
nur gemeinsam Intendiertem hingegeben sein zu können; sie
müssen eine Welt gezeitigter "Sachlichkeit" zwischen sich
aufbauen. Selbst wenn das Ich versuchen sollte, den Anderen
"unmittelbar" zu gewahren, wird es immer nur über das Medium
des Ausdrucks auf gezeitigte Ausformungen des fremdichliehen
Lebensstromes stoßen. - Damit zeigt sich schon: ähnlich wie die
1 Vgl. etwa: Ms. C 3 III, S. 32 ff. (1931); Ms. C 17 I, S. 8 ff. (1931); Ms. C 16 VII,
S. 5 ff. (1933); Ms. E III 9, S. 83-85 (1931), S. 90-91 (1933) vgl. ferner Ms. C 2 II, S. 3
(1932); Ms. C 16 VI, S. 32 (1932)
2 Vgl. Krisis, S. 189.
MITGEGENWART UND SELBSTGEGENWA RT 155

Unwiederbringlichkeit meiner Vergangenheit ist auch die un-


überbrückbare Geschiedenheit des Anderen von mir durch den
unaufhaltsamen Prozeß der Gegenwärtigung und Zeitigung,
durch den Ontifikationszwang im welterfahrenden Leben bedingt.
Zu Frage 2: Worin ist nun das gemeinsame Moment originärer
Selbstbekundung der ichliehen Vergangenheit bzw. der Anderen
- trotzder unaufhebbaren Vermitteltheit des Zugangs- zu sehen?
Warum sind mir Selbstvergangenheit und fremdes Ich in beson-
derer Weise bekannt? Was läßt mich meine Vergangenheit
gleichwohl als die meinige und den Fremden oder Anderen
doch als anderes Ich erkennen? Die Gründe liegen abermals in
der lebendigen Gegenwart. Gewesene noetische oder noematische
Begebenheiten sind darum als Vergangenheiten meines intentio-
nalen Lebens identifizierbar, weil sie ihre Identität und Individu-
alität dem Durchgang durch das Präsenzfeld meines stehend-
strömenden Gegenwärtigens verdanken und weil sich im Zu-
sammenhang damit auch ihre weitere Zeitigung als Sedimenta-
tion nur und immer nur in meiner urständigen Gegenwart ab-
spielt. - Ähnlich erklärt sich die Möglichkeit des Zugangs zum
anderen Ich. Durch die unaufhebbar vermittelnde Sphäre ge-
zeitigter Sachlichkeit hindurch begegnet mir der Andere als ein
Ich wie ich selbst, weil er ja nicht nur mit mir zusammen gegen-
wärtigt, sondern selbst ichliches Zentrum, ständige Gegenwart
dieses Gegenwärtigens ist. Im Miteinander des Gegenwärtigens
erfahre ich also implizit auch die Mitgegenwart des anderen
Ich, so wie jede Vergegenwärtigung das Bewußtsein vom ver-
harrenden Ich-in-der-J eweiligkeit und dieses wiederum das Be-
wußtsein vom strömenden Stehen der Funktionsgegenwa rt im-
pliziert. In beiden Fällen handelt es sich um eine eigenartige
Einigung getrennter Gegenwarten; das Getrenntsein hat einmal
die Form des gleichzeitigen Nebeneinander, einmal die des Nach-
einander; es wird also im Bereich des Konstituierten: des Hier
und Dort, des Damals und Heute, angetroffen. Was jedoch die
konstituierenden Gegenwarten auf wenn auch unterschiedliche
Weise eint, ist das vor-zeitliche stehende Jetzt ihrer" Ich fungiere".
Damit zeigt sich: Die Fremderfahrung beruhttrotzihrer unauf-
hebbaren Vermitteltheit auf einer originären Mitgegenwart des
anderen Ich in seinem vor-zeitlich ständigen Fungieren. Wodurch
sollte die Gemeinsamkeit der Weltkonstitution und die Versteh-
156 RÜCKGANG AUF DAS ANONYME NUNC STANS

barkeit des Andern als anderen Ich im Ausdruck sonst über-


haupt möglich sein? Alle die komplizierten Prozesse der Ein-
fühlung, der Appräsentation - oder wie immer Husserl die inten-
tionale Struktur der Fremderfahrung zu fassen suchte, setzen
eine unvermittelte "apriorische Evidenz des Du"l, eine originäre
Mitgegenwart des Andern voraus. Nun ist schon häufiger be-
anstandet worden, Husserl sei dieser fundamentale Umstand
trotz all seiner gedankenreichen Untersuchungen zur Intersub-
jektivität entgangen. Es handelt sich aber wiederum nicht um
ein zufälliges Versäumnis. Die Unabgeschlossenheit oder besser
Unabschließbarkeit der husserlschen Analysen gehört auch hier
gewissermaßen zur Sache selbst. Daß der Vergegenwärtigungs-
charakter der Fremderfahrung als Bedingung seiner Möglichkeit
eine vor-zeitliche Koexistenz der gegenwärtigen "Ich fungiere"
voraussetzt, ist Husserl nicht einfach entgangen, wie schon die
Konsequenzen der gerade im engen Anschluß an Husserl darge-
stellten Analogie zeigen; - die Schwierigkeit liegt vielmehr für ihn
auch hier darin, die Mitgegenwart zum Thema der phänomeno-
logischen Reflexion zu machen, das heißt: sie nicht bloß zu er-
schließen, sondern "anschaulich" aufzuweisen.

2. Mitgegenwart und Anonymität


An einer aufschlußreichen Nachlaßstelle, die die Analogie von
Einfühlung und Erinnerung behandelt, heißt es zunächst, daß ich
mich mit meinem vergangeneu Ich kontinuierlich einige, da die
Mitzeitigung als Übergangssynthese verläuft, während selbst-
verständlich von mir zum Andern keine solche Kontinuität führt.
Dieser Hinweis auf ein unterscheidendes Moment in der Analogie
ist für den augenblicklichen Zusammenhang nicht so wichtig wie
die Fortsetzung: "Aber es <die Einigung von Ich und Anderem>
ist doch Gemeinschaft (das Wort "Deckung" weist leider auf
Deckung in <zeitlicher> Extension, auf Assoziation hin), so wie
bei meinem, die strömend - konstituierende Zeitlichkeit tragen-
den, nicht-extensiv-zeitlichen einen und selben I eh. Gemeinschaft
mit sich selbst und Anderen bezieht sich auf Ichpol-Einigung. Mein
Ich als Jetziges und mein vergangenes Ich - der Pol - haben
keinen Abstand, zwischen ihnen ist keine Zeitstrecke in dem

1 Vgl. L. Landgrebe, Der Weg der Phänomenologie, S. 94 ff.


MITGEGENWART UND SELBSTGEGENWA RT 157

Sinne, wie zwischen einem! gegenwärtigen Ding und einem! ver-


gangenen, auch real demselben, ein Zeitabstand, eine Zeitstrecke
ist. Dasselbe Ding als zeitlich verharrendes hat in seinem identi-
schen Sein seine Dauer, in sich eine extensive Zeitlichkeit. Das
Ich hat eigentlich in diesem Sinne schlechthin keine Dauer"2.
Zunächst eine der bekannten negativ bleibenden Aussagen über
die Unzeitlichkeit, zeitliche Unausgedehntheit oder "Punktuali-
tät" des Ich. Hier aber kommt die Einsicht hinzu, daß sich die
praereflexive Einigung im letztfungierenden Ich selbst und die
von eigenem und fremdem "Ich fungiere" gleichermaßen in
einem Bereich abspielen, der vor aller Synthesis, Paarung,
Deckung, Assoziation, d.h. ganz allgemein: Zusammennahme
von zeitlich Extendiertem liegt. Die Überlegung führt folgerich-
tig auf eine gemeinsame "stehende monadische Gegenwart"3 als
die genetische Ursprungszone des "allmonadischen Ineinander-
Miteinander"4, der vollen transzendentalen Intersubjektivität
also.
Ähnlich wird an anderer Stelle zunächst die Ähnlichkeit von
Vergegenwärtigung und Fremderfahrung als Parallele von Wie-
dererinnerung und "Miterinnerung" charakterisiert; beide sind
gleichermaßen mittelbar und daher ein "Erinnern"; dieses Er-
innern setzt aber im einen Falle das lebendige Sich-selbst-Gegen-
wärtigen, im anderen eine "ursprüngliche" Mitgegenwart des
Andern voraus. So heißt es: "Das absolute Subjekt trägt Andere
in sich, aber als selbst appräsentierte, -so wie ich vergangenes
Sein selbst, aber als vergangenes in mir trage. Und so <wie> auch
Vergangenheit nichts ist ohne lebendige Gegenwart, so wie die
Welt nichts ist mitallihrer objektiven Zeitlichkeit als extensiver
Unendlichkeit, <wie sie> nur ist aus lebendiger Gegenwart, -
... so ist auch Mitgegenwartsein von Anderen in der Ursprüng-
lichkeit der Einfühlung,- einer Miterinnerung statt einer Wieder-
erinnerung, - ein Selbsterinnern der Andern, wobei Sein von
Andern verstanden ist <als Sein> einer anderen lebendigen Gegen-
wart, bezogen auf meine Gegenwart. Mitsein von Anderen ist
untrennbar von mir in meinem lebendigen Sich-selbst-Gegen-
wärtigen, und diese Mitgegenwart von Anderen ist fundierend
1 Im Manuskript "meinem"
Z Ms. C 16 VII, S. 5 (1933)
s a.a.O., S. 8
4 Ebendort
158 RÜCKGANG AUF DAS ANONYME NUNC STANS

für weltliche Gegenwart, die ihrerseits Voraussetzung ist für den


Sinn aller Weltzeitlichkeit mit Weltkoexistenz (Raum) und zeit-
licher Folge"l. Das heißt: Gemeinsame Weltzeitigung setzt ge-
meinsame Konstitution weltlicher Gegenwart voraus; vor dieser
aber liegt eine transzendentale vor-zeitliche Mitgegenwart der
anderen Funktionsgegenwarten. Nur aufgrund dieser Verhält-
nisse kann "Mitgegenwart, Appräsenz . . . selbst Mitquellpunkt
von Vergangenheiten"2 sein. "Meine Erfahrung als Welter-
fahrung (also jede meiner Wahrnehmungen schon) schließt nicht
nur Andere als Weltobjekte ein, sondern beständig in seins-
mäßiger Mitgeltung als Mitsubjekte, als Mitkonstituierende, und
beides ist untrennbar verflochten"s. Das aber bedeutet, "daß
die Koexistenz aller Mitmenschen in meiner Gegenwart Index
ist für die transzendentale Koexistenz der entsprechenden Mo-
naden in einer transzendentalen Gegenwart ... "4
Sofern jede Fremderfahrung den Horizont hat, daß jedem be-
gegnenden Andern wiederum mir unbekannte Andere mitgegen-
wärtig sind und daß dies für diese ebenso gilt usw., hat jede Mit-
gegenwart einen endlos offenen Horizont, der auf die Allheit aller
transzendentalen Ich mit ihrer Selbst- und Weltzeitigung führt.
In der Mitgegenwart ist also das "Monadenall", wie Husserl sagt,
horizonthaft mitbewußt. Die Vergemeinschaftung jeglicher Mo-
nadenmehrheit spielt sich in der vor-zeitlichen ständigen Mit-
gegenwart ihrer "Ich fungiere" ab. Husserl kann in diesem Sinne
von der "urtümlich stehenden ,Gegenwart' des innerlich einigen
Monadenalls"5 sprechen.
Nun aber muß auf die Mehrdeutigkeit der angeführten Nach-
laßstellen aufmerksam gemacht werden. Obwohl sich die zitier-
ten Äußerungen offenbar auf eine vorzeitliche Koexistenz der
transzendentalen Funktionsgegenwarten beziehen, wird diese
Mitgegenwart im Kontext immer wieder auch als ein Modus zeit-
licher Koexistenz beschrieben6. In der Mitgegenwart konstituiert
sich nicht nur ursprünglich die intermonadische "gemeinsame
Zeitform"7, sondern auch die Mitgegenwart selbst wird als
1 Ms. C 3 III, S. 33 ff. (I93I)
2 Ms. C 3 li I, S. 33; vgl. auch S. 32 f.
s Ms. C I7 II, S. g (I930-3I)
4 a.a.O., S. 6
5 Ms. C I Zusammenfassung S. I
6 Vgl. etwa Ms. C I7 I, S. 5 (I93I)
7 Cartesianische Meditationen, S. I56
MITGEGENWART UND SELBSTGEGENWA RT 159

"zeitlich-Zugleichsein"l aufgefaßt. Zum Beispiel: "Dieses Zu-


gleich, das eine Deckung<!> zwischen meiner urmodalen Gegen-
wart und der fremden, <zwischen der Gegenwart> meines ur-
quellenden Jetzt, meines urquellenden retentionalen Soeben etc.
Phase für Phase oder <= bzw.> ineins in der Kontinuität her-
stellt, ist - und zwar als potentielles Zugleich - das objektive
Jetzt der objektiven und zwar rein seelischen Allzeit ....
<gemeint ist: der intersubjektiv geeinten immanenten Lebens-
ströme>"2. Dabei wurde doch oben der Gedanke der Deckungs-
synthese im gleichen Zusammenhang ausdrücklich abgewiesen.
Die Paradoxie, die in diesem Widerspruch zum Ausdruck kommt,
entsteht nicht aus einer Inkonsequenz Husserls, sondern
aus dem Ontifikationszwang, dem seine eigene Reflexion unter-
liegt, - daß nämlich das vor-zeitliche "Zugleich" nur als ge-
zeitigtes Zugleich "gefaßt" werden kann. Dieser Zwang wurde
von Husserl selbst noch als Notwendigkeit gesehen: die phäno-
menologische Leistung des reflektierenden Aufdeckens steht
selbst als ichliehe Funktionsweise unter dem Zwang der Onti-
fikation und ist daher auch bei Aussagen über die Mitgegenwart
Mitvollzug und Anblick von Zeitigung. Husserl sagt darum von
dem "zeitigenden Ineinander"S der Monaden, d.h. ihrer "inneren
Vergemeinschaftung"4 in vor-zeitlicher Mitgegenwart - im Un-
terschied zum "zeitlichen Außereinander"5 -,von dieser trans-
zendentalen Koexistenz der Funktionsgegenwa rten sagt er aus-
drücklich: "so ist auch zu sprechen von der einen stehenden ur-
tümlichen Gegenwart: ... <sie ist> auf dem Wege der Rückfrage . . .
zu gewinnen, also nur explizit seiend in dieser phänomenologischen
Leistung, die selbst eine Zeitigung ist"6. Der Ontifikations- bzw.
Transzendenzchara kter alles Fungierens, aufgrund dessen auch
jegliches Reflektierte zeitlich oder allzeitlich ist, wird auch hier
nicht durchbrachen. Das läßt sich sogleich nachweisen: Was
soll "gemeinsame Funktionsgegenwa rt von Ich und Anderem"
überhaupt besagen? Sie kann "anschaulich" nur als Gleich-
zeitigkeit der beiden Gegenwarten erfahren werden. Gleich-

1 a.a.O., S. 166
2 Ms. C 17 I, S. 5 (1931)
3 Ms. C x, S. 3 (1934)
4 Ebendort
5 Ebendort
6 Ebendort
160 RÜCKGANG AUF DAS ANONYME NUNC STANS

zeitigkeit aber ist entweder Selbigkeit des urimpressionalen Auf-


tretens und damit vermögliche Zeitstellenselbigkeit oder - in
einem weiteren Sinne - die Gleichartigkeit der Seinsweise
mehrerer allzeitlicher Gegebenheiten, die an jedem beliebigen
Jetzt zugleich gegenwärtigt werden können. Sobald also die
fremdichliehe Mitgegenwart zum Gegenstand phänomenologi-
scher Aufweisung wird, ist sie damit auch schon als Allzeitlichkeit
oder als ein zweiter Lebensstrom neben dem meinen aufgefaßt.
Das bedeutet: Ebenso wie das eigene letztfungierende Ich bleibt
auch das fremde "Ich fungiere", das in der faktisch angetroffenen
gemeinsamen Weltkonstitution und im ebenso vorgefundenen
intersubjektiven Umgang mitgegenwärtig sein muß, ungegen-
ständlich; es hält sich in unaufhebbarer Anonymität.
Die Analogie von Fremderfahrung und Selbsterfahrung reicht
also bis in die anfänglichsten Aussagen über die lebendige Gegen-
wart: das letztfungierende andere und das eigene urständige Ich,
- beide bekunden sich ursprünglich als anonym. Wenn Husserl
nicht von der "apriorischen Evidenz des Du" gesprochen hat und
nicht sprechen konnte, so hinderte ihn das gleiche Leitbild der
reflexiven Aufweisbarkeit, das ihn auch über Andeutungen zum
Thema: urpassive, praereflexive und vor-zeitliche Gegenwart,
nicht hinausgelangen ließ. Die phänomenologische Reflexion ist
also auch in dieser Frage nicht einfach durch vermeintlich
positivere Aussagen ergänzbar oder ergänzungsbedürftig, son-
dern muß ihre Fortsetzung zunächst in der ausdrücklichen An-
erkennung der prinzipiellen Ungegenständlichkeit der Mitgegen-
wart finden.

J. Die Einzigkeit des transzendentalen Ich


Die Analogie von Wiedererinnerung und Fremderfahrung hat
bisher auf die wesenhafte Ähnlichkeit der diese ermöglichenden
Selbstgegenwart und Mitgegenwart geführt: In beiden Gegen-
warten begegnet ein Ich gleichermaßen als unaufhebbar anonyme
"Gegebenheit". Bevor dieser Vergleich vertieft werden kann, ist
die Verschiedenartigkeit der beiden Erfahrungen festzuhalten,
die trotz der aufgewiesenen Gleichartigkeit in der Anonymität
nicht übersehen werden darf:
Ich stoße auf das "Ich fungiere" des Andern immer nur von
meinem eigenen Funktionszentrum herkommend: das fremde
MITGEGENWART UND SELBSTGEGENWART 161

Ich kann niemals "erste Person" werden; es begegnet mit dem


Seinssinn "du fungierst", "er fungiert" usw. Meine stehende
Gegenwart hat den unverlierbaren Vorrang, Quellpunkt aller
meiner Erfahrung, auch der Mitgegenwart, zu sein. Sie ist daher
auch kein beliebiges Funktionszentrum innerhalb der Monaden-
allheit, sondern unersetzlich und unverwechselbar: einzigartiger
und einzigmöglicher "Urboden" meines erfahrenden Lebens
überhaupt. Diese Einzigartigkeit hat einen über die geläufige
Wortbedeutung hinausgehenden Sinn. Normalerweise wird etwas
Einzigartiges als Überragendes aus einer Mehrzahl von Ver-
gleichsobjekten hervorgehoben. Dem vor-gegenwärtigen "Ich
fungiere" steht in diesem Sinne nichts Vergleichbares zur Seite:
seine Besonderheit ist im strengen Sinne "einmalig"!; das einzig-
artige "ich fungiere" kann daher treffender als " einzig " be-
zeichnet werden. Husserl sagt: "Ich bin das Einzige ... "2 "Ich
bin einzig, nicht bloß einmal ,vorkommend', einmal vor-
handen, sondern Voraussetzung aller Vorhandenheiten"3. Das
"einzig" bedeutet nicht: "numerisch eines"; es darf mit anderen
Worten nicht solipsistisch verstanden werden; es schließt in
seiner Einzigkeit keineswegs ein zweites und drittes Ich aus.
Aber diese transzendentalen Ich sind in der Ursprünglichkeit
ihres "Ich fungiere" nicht abzählbar; daß sie doch abgezählt
werden können, liegt schon an ihrer intersubjektiv erfahrbaren
Selbstzeitigung.- Als unzählbares, einziges letztfungierendes Ich
ermögliche ich von mir aus überhaupt erst Gezeitigt-sein und
Zählbarkeit, ebenso wie jedes andere in gleicher Weise einzige
Ich Ermöglichungsgrund dieser Art ist. Husserl sagt ausdrück-
lich: "Das einzige Ich- das transzendentale. In seiner Einzigkeit
setzt es ,andere' einzige transzendentale Ich - als ,andere', die
selbst wieder in Einzigkeit Andere setzen"4. Die Einzigkeit des
Ich ist von so merkwürdiger Art, daß sie in sich gerade auf die
Möglichkeit anderer ebenso einziger letztfungierender Ich ver-
weist.
Die Einsicht in diesen Zusammenhang ist geeignet, den
Vergleich von Selbstgegenwart und Mitgegenwart zu vertiefen.
1 Vgl. Ms. C 17 I, S. 6 (1931)
2 Ms. C 2 I, S. 2 (1931)
3 Ms. B I 14 XI, S. 24 in einem Abschnitt von 1933, der die Überschrift "Ein-
zigkei t" trägt
4 Ebendort
162 RÜCKGANG AUF DAS ANONYME NUNC STA.NS

Warum schließt mein einziges "Ich fungiere" andere ebensolche


Einzigkeiten nicht aus?
Diese meine Funktionsgegenwart bleibt mir anonym. Weil ich
sie selbst bin, kann ich mir ihr nur nachträglich nähern und sie
auch dann nur als zeitliche oder allzeitliche Gegebenheit"schauen
und fassen". Ein idealer oder realer (bzw. reeller) Gegenstand,
der als einzig angesprochen wird, kann als solcher keinen zweiten
seiner Art neben sich haben: "einzig" bedeutet hier: nur einmal
vorkommend in der Allheit idealer oder realer (bzw. reeller) Ge-
genstände. Da die vorzeitliche Funktionsgegenwart nicht unter
diese Allheit fällt, ist alsoschon ersichtlich, daß sie andere ebenso
einzige Ichgegenwarten nicht ausschließt.
Wie ist aber die Behauptung von eben einzusehen, daß sie sogar
in sich positiv auf deren Möglichkeit verweist? -Wie bekannt, ist
kein zeitlich oder allzeitlich Gegebenes ohne irgend ein ichliebes
Beteiligtsein erfahrbar,- ein Beteiligtsein, das sich von größter
Passivität bis zur freien Spontaneität steigern kann. Auch die
Passivität ist im Sinne des Beteiligtseins schon eine Form ich-
liehen "Tuns", also eine Vorform von Aktivität. Auch sie ist
schon entgegenwärtigendes Einholen von gegenständlichen Ein-
heiten in die Urnähe des Gegenüber. Nun zeigte sich schon, daß
sich die Art und Weise, wie das Ich auf das anonyme Faktum
seines gegenwärtigen Fungierens stößt, auf keinen Fall gemäß
dieser Grundvorstellung verstehen läßt. Das anonyme Faktum
des "Ich fungiere" ist eine so "selbstverständliche" und darum
gerade unverständliche "Vorgegebenheit", daß gesagt werden
muß: das Ich ist an dem vor-zeitlichen ständigen "Da" seiner
selbst in einer noch vor aller Passivität liegenden Weise unbe-
teiligt, obwohl es allerdings bei jeglicher Beteiligung gerade von
diesem Faktum Gebrauch macht. Wie es auch fungieren mag, es
muß sich immer schon seiner eigenen urständigen Ichlichkeit be-
dienen. Das "Ich fungiere" muß es vor allem Tun, in allem Tun
"hinnehmen" -wobei sogar das Wort "hinnehmen" in diesem
Satz eine neuartige und phänomenologisch unbekannte Bedeu-
tung annimmt. Das besagt aber: wenn das Ich nicht die leiseste
Verfügungsgewalt über sich selbst als anonym bleibendes Faktum
hat, dann ist auch die Einzigkeit dieses Faktums seiner "Be-
teiligung", d.h. jeglichem fungierenden "Tun" irgendwelcher Art
entzogen. Und das bedeutet: Das Ich kann keinen Ausschließlich-
MITGEGENWART UND SELBSTGEGENWART 163

keitsanspruch auf seine Einzigkeit erheben, - wie es dies tun


müßte, wenn sich das "Ich fungiere" als Einmaligkeit einer In-
tentionalhabe von Idealem oder Realem (bzw. Reellem) "fest-
halten" und "behaupten" ließe. Gemäß dieser Grunderfahrung
von sich selbst muß das letztfungierende transzendentale Ich die
Möglichkeit anderer einziger "Ich fungiere" offenlassen. Die be-
sonders geartete Einzigkeit meiner Ich-gegenwart schließt dem-
nach jeden Solipsismus aus; sie verweist in sich als faktische und
anonyme auf die Möglichkeit von ebensolchen faktischen und
anonymen Mitgegenwarten.
D. DIE SELBSTVERGEMEINSCHAFTUNG
IM .,ICH FUNGIERE"

I. Selbstvergemeinschaftung und Mitgegenwart


Was bedeutet die letzte Erkenntnis für die Seinsweise meines
letztfungierenden transzendentalen Ich, - abgesehen von der
damit vielleicht gegebenen Begründung der Möglichkeit von
Fremderfahrung? Zunächst zeigt sich, daß das transzendentale
Ich, obwohl - oder besser: gerade weil es in besonderer Weise
einzig ist, seiner selbst als eines anonymen Faktumsnichtwesen-
haft gewisser ist als der Anderen. Mein Für-mich-sein ist mir zwar
insofern wesentlich näher als das Für-mich-sein Anderer, als ich
"erste Person" meines Lebens bin und bleibe; aber gerade in
diesem erste-Person-Sein bin ich meiner ebensowenig intentional
"habhaft" wie der Anderen. Mein "Ich fungiere" ist für mich
ebenso anonyme und faktische "Vorgegebenheit" wie ein fremdes
"Ich fungiere". Wenn aber diese Vorgegebenheitsart des anderen
Ich Mitgegenwart heißt und die aller Vergegenständlichung ent-
zogene Ursprungsform von Vergemeinschaftung ist, dann kann
nun gesagt werden: Die Hinnahme des eigenen "Ich fungiere" als
eines anonymen und faktischen ist ebenso "Vergemeinschaftung"
-Natürlich gilt das nicht in dieser Weise für die reflexive "Hin-
nahme" meines retentional bewußten oder vergangeneu Ich als
eines gegenständlichen Gegenüber. Es zeigte sich aber schon, daß
die ausdrückliche Zusammennahme meines mitgezeitigten Ich
mit meinem aktuellen "Ich fungiere" eine prae-reflexive Einigung
voraussetzt. Diese praereflexive Zusammennahme meiner mit mir
selbst kann nun als anonyme und faktische Selbstverge-
meinschaftung des einzigen Ich bestimmt werden.
Nachdem die vor-zeitliche Ständigkeit schon als anonyme und
faktische Vorgegebenheit charakterisiert wurde, bleibt zu fragen,
wie sich das urpassive Entgleitenlassen oder Strömen im Lichte
der Analogie von Selbsterfahrung und Fremderfahrung darstellt.
SELBSTVERGEMEINSCHAFTUNG 165

Der Gedanke der anonymen und faktischen Selbstvergemein-


schaftung enthält schon die Antwort: Das "Ich fungiere" ist vor-
zeitliche ständige Hinnahme der eigenen Vorgegebenheit. Es ist
seiner vorgegebenen Einzigkeit niemals als einer gesicherten In-
tentionalhabe inne; es muß hinnehmen, was es nicht festhalten
kann. Die Hinnahme verwandelt sich also nie in gesicherte Habe,
sondern muß selbst wiederum als anonyme Vorgegebenheit hin-
genommen werden und so fort. In dieser Erneuerungsbedürftig-
keit liegt ein Nicht-gehalten-werden-können, und das heißt: ein
urtümliches Entgleiten. Die Selbsthinnahme im "Ich fungiere"
ist in sich hinfällig, erneuerungsbedürftig und muß sich daher
stetig überholen. Die Selbstvergemeinschaftung befindet sich also
in verharrendem Wandel, in der vorzeitlichen Bewegung stehen-
der und bleibender Erneuerung der Selbsthinnahme.
Der Vergleich von Selbsterfahrung und Fremderfahrung hat
damit zu einer Antwort auf die Ausgangsfrage dieses Teils der
Untersuchungen geführt: Das Thema konnte derart auf die
anonyme und, wie sich weiterhin zeigte, faktische Ständigkeit
des nunc stans reduziert werden, daß sich aufgrundder dadurch
hervortretenden Einzigkeit die Ständigkeit als in sich strömende
denken ließ. Nicht als ob auf diese Weise die Anonymität der
Ständigkeit aufgehoben worden wäre. Im Gegenteil: gerade aus
dem konsequenten Bedenken des nunc stans als eines anonymen
und damit faktischen und einzigen entsprang der Gedanke der
vor-zeitlichen Selbstvergemeinschaftung. Diese wiederum erwies
sich als die bekannte urpassive und praereflexive entgleitenlas-
sende Zusammennahme: denn sie ist beständig erneuerungs-
bedürftige, hinfällige und darum sich stetig erneuernde Hin-
nahme der eigenen Vorgegebenheit.

2.Selbstvergemeinschaftung und Synthesis


Es ließe sich einwenden: Ist die nun entdeckte Selbstvergemein-
schaft im "Ich fungiere" nicht bloß ein anderes Wort für "Eini-
gung" oder "Synthesis"? Soll nicht ein neues Wort Zuwachs an
Erkenntnis vortäuschen? Darauf ist ein Doppeltes zu antworten:
r. Solange sich das Denken im Bereich reflexiver Aufweisbar-
keit und Vergegenständlichung hält, kann es allerdings über das
mit "Einigung" oder "Synthesis" Gemeinte nicht hinausgelangen,
und kein neuer Begriff bringt etwas wesentlich N eues. So läßt sich
166 RÜCKGANG AUF DAS ANONYME NUNC STANS

in der Tat feststellen, daß auch die aufschlußreichen Nachlaß-


stellen, an denen Husserl im Problemzusammenhang der leben-
digen Gegenwart von "Gemeinschaft des Ich mit sich selbst" und
dergl. spricht, auf den ersten Blick nur das Wort Synthesis durch
"Gemeinschaft" ersetzen,- ein Sprachgebrauch, der bei Husserl
auch sonst bisweilen anzutreffen ist. Und doch verweisen gerade
diese Stellen in die Dimension "unanschaulicher Rückfrage", weil
sie von der Selbstvergemeinschaftung entweder im Zusammen-
hang der intersubjektiven Problematik sprechen oder aber aus-
drücklich die rätselhafte Konzentration zeitlicher Pluralität im
Strömen des einzigen und stehenden nunc stans im Auge haben.
Die wichtigste Stelle der ersten Art wurde schon angeführt:
;,Gemeinschaft mit sich und Anderen bezieht sich auf Ichpol-Eini-
gung. Mein Ich als Jetziges und mein vergangenes Ich - der Pol-
haben keinen Abstand ... Das Ich hat eigentlich in diesem Sinne
keine Dauer ... "1. Das heißt doch: das Ich als polhaftes, als
punktuelles, d.h. in der Sprache der letzten Überlegungen: als
einziges und anonymes nunc stans, - eben dieses zeitlich nicht
extendierte Ich "enthält" in sich "Ichpol-Einigung", "Gemein-
schaft mit sich", -und das wird in einem Zusammenhang gesagt,
der zugleich von der Intersubjektivität handelt.
Ähnlich klingt die folgende Stelle: ,,Versuchen wir nun die Pa-
rallele der Gemeinschaft mit Anderen. In der Einfühlung, im sie ur-
sprünglich Verstehen und sie als Personen in Mitgegenwart Haben
bin ich mit ihnen in Fühlung als Ich mit dem Du, mit dem an-
deren Ich, ähnlich wie ich in der Erinnerungsdifferenz in Fühlung
bin, in Bewußtseinsgemeinschaft bin mit dem vergangeneu Ich"2.
"Gemeinschaft" ist hier jedenfalls nicht einfach Synonym für
"Synthesis".
Andere Stellen beziehen sich auf die rätselhafte Konzentration
der zeitlichen Pluralität, der Vervielfältigung des Ich in der Je-
weiligkeit, die im Verharren und dieses wiederum im stehenden
Strömen geeint ist,- dem Strömen, welches ja die Vorform der
Zeitstellenabfolge darstellt: "So ist die Kontinuität der (gegen-
wärtigen) intentionalen Abwandlungen eine stetige Kontinuität,
in welcher Transzendenz ursprünglich bewußt wird. . . . In der
ganzen Kontinuität bin ich momentane und relativ konkrete
1 Ms. C r6 VII, S. 6 (1933)
2 Ms. E III 9, S. 84 (1931)
SELBSTVERGEMEINSCHAFTUNG 167

Gegenwart, gegenwärtiges urwirkliches Primordium <hier =


,letztfungierendes Ich'>, das in sich ursprüngliches Vergangenes
und Künftiges ursprünglich konstituiert; und so bin ich <als> ur-
modale Gegenwartmit mir als konkret seiend in meiner Zeitlich-
keit in kontinuierlicher Gewesenheit und Zukünftigkeit in Ge-
meinschaft, trage mein zeitliches Sein in meiner Gegenwart.
Diese Gegenwart in stetigem Strömendsein, strömend immerzu
Gegenwartsein,daszeitlichesSeinals gegenwärtige Vergangen-
heit und Zukunft in sich konstituiert hat und immerzu strömend
konstituiert, derart, daß Gegenwart zu neuer Gegenwart wird, daß
Gegenwart überströmt ins Soeben, dieses ins Soeben vom Soeben
usw.; ich bin im strömenden Schaffen von Transzendenz, von
Selbsttranszendenz ... "1
Oder:
." . .. das Ich ist in seinem Aktleben. . . ob es will oder nicht,
mit sich, wie es war, wie es getan oder unterlassen hatte, in Ge-
meinschaft, in Konnex; das kann es, weil das Vergangene nicht
bloß Vergangenheit ist, und nicht nur Erinnerungsphänomen in
der Gegenwart, sondern als vergangenes Ich zugleich Gegenwart,
Gegenwart im Modus der behaltenden Stellungnahmen. In dieser
ichliehen Zeitigung ist das Ich zwar extendiert in Zeitstrecken,
aber doch in einziger Weise identisch verharrend im strömenden
Jetzt, strömend identisch, Identitätspol der eintretenden und
vergehenden Stellungnahmen, in allem Vergehen, doch gegen-
wärtig bleibend, dem identischen Ich impliziert. Indem das Ich
seine Vergangenheit auslegt, tätig in die Erinnerung eingeht und
sich im Nacheinander findet, legt es eigentlich seine volle Gegen-
wart aus, nämlich was es jetzt wirklich ist, was in ihm als Ich
wirklich liegt ... Das Ich ist immerfort Pol, es hat keine Breite,
keine Extension, es hat nichts von einem Außereinander, es ist
nicht ein Ganzes, das miteinander verbundene Stücke hat, und so
ist es auch in seinem ichliehen Was zwar auslegbar, aber nicht ein
Aufbau aus Teilen, ... Seine Auslegung führt <allerdings> not-
wendig in die Bewußtseinszeit und in seine Selbstzeitigung als eine
Quasi-Ausbreitung des Ich üb~r die Zeit, aufallsein ichliches Le-
ben, auf seine Stellungnahmen, seine Geltungsvollzüge"2.
Es ist zwar unverkennbar, daß diese Erörterung im Sinne
1 Ms. C 7 I, S. 5 ff. (1932)
2 Ms. A V 5, S. II ff. (1933)
168 RÜCKGANG AUF DAS ANONYME NUNC STANS

Husserls auf eine Darstellung des verharrenden Ich-in-der-


Jeweiligkeit und des Substrats der Habitualitäten hinausläuft;
zugleich aber wird deutlich, daß in diesen wichtigen Äußerungen
unbeabsichtigt etwas über diejenige Selbstvergemeinschaftung im
stehenden, einzigen "Ich fungiere" mitausgesagt wird, welche die
Selbstbeerbung des substrathaftverharrenden Ich überhaupt erst
ermöglicht.!
2. Der kritische Einwand gegen den Begriff Vergemeinschaf-
tung sei wieder aufgegriffen: Im Bereich der Selbstzeitigung, -
mag es sich um die Synthesis des Erlebnisstromes, der Habituali-
täten oder der Koexistenz mehrerer Monaden handeln,- ist Ge-
meinschaft in der Tat nur ein anderes Wort für synthetische Eini-
gung. -In der Sphäre vor-zeitlicher faktischer Anonymität hin-
gegen bringt das Wort neue Aufschlüsse:
Der Gedanke der Selbstvergemeinschaftung wurde durch den
Vergleich mit der Fremderfahrung und der Mitgegenwart ge-
wonnen. Damit ist der Anschein erweckt, als habe die Hinzu-
ziehung der Mitgegenwart nur dazu gedient, dem Gedankengang
eine beiläufige und vielleicht entbehrliche Hilfestellung zu leisten.
So verhält es sich jedoch nicht: Der Gedanke der Selbstgegen-
wart als Selbstvergemeinschaftung im einzigen "Ich fungiere"
kann wesenhaft nur ineins und zusammen mit dem Gedanken der
Mitgegenwart gedacht werden; denn die Aussage ist wörtlich zu
nehmen, daß das letztfungierende Ich seine eigene anonyme und
einzige Vorgegebenheit in gleicher Weise hinnimmt wir die Ge-
gebenheit des Andern,- obwohl- und darin liegt dann das Unter-
scheidende von Selbst- und Mitgegenwart - es dabei sein Erste-
Person-Sein niemals aufgibt. Das Unterscheidende braucht hier
im Problemzusammenhang der lebendigen Gegenwart nicht
weiter entwickelt zu werden. Wesentlich ist an dieser Stelle die
Gleichheit der Hinnahmeweisen und der Umstand, daß eine
solche Hinnahme in sich hinfällig, erneuerungsbedürftig und
darum vor-zeitlich ständig sich erneuernde ist.- Wenn also in der
strömenden Selbstzeitigung des Ich eine Selbstvergemeinschaf-
tung reflexiv erkennbar wird, die sich "unsichtbar" und ohne
mein Zutun im Innern des "Ich fungiere" abspielt, dann bedeutet

1 Auch Brand spricht, a.a.O., S. ro6, im Anschluß an das zitierte Manuskript bei-
läufig von "Gemeinschaft" des Ich mit sich selbst, aber nur im Sinne des Ich der
Habitualitäten
SELBSTVERGEMEINSCHAFTUNG 169

dies ein radikal vertieftes Verständnis vom Wesen des trans-


zendentalen Ich: Es darf dann sowenig als gegenständliche Ein-
heit und so wenig überhaupt primär als Einheit gedacht werden,
daß der Gedanke innerer ichlicher Pluralität für das ursprüng-
lichste Verständnis des einzigen nunc stans dem Gedanken der
Einheit zumindest gleichwesentlich ist. Dabei muß aber immer
das grobe Mißverständnis ferngehalten werden, als sei diese
Pluralität eine irgendwie gezeitigte, konstituierte Mannigfaltig-
keit. Gemeint ist vielmehr derjenige vorzeitliche, unaufhebbar
anonyme "Konnex" zwischen Ich und Ich (wenn auch nicht
zwischen Ich und Du), der gerade in der Einzigkeit des "Ich
fungiere" aufgrundseiner inneren Hinfälligkeit beschlossen liegt.
Es sei hier nur angemerkt, daß erstmals D. Sinn versucht hat, im
Anschluß an Husserl die Fremderfahrung von einem Ansatz aus
transzendental zu begründen, der dem hier dargestellten ähnlich
istl. Wenn das Ich auch in der Fremdkonstitution "erste Person"
bleibt, d.h. "undeklinierbar" und in diesem Sinne "einzig" ist,
so ist es nach Sinn darum doch nicht "singulare tantum"; viel-
mehr gilt: "Das transzendentale Ego ist je schon Plurale tantum
als Aufriß"2. Im Innern des Ego waltet schon eine "formale Hier-
Dort-Korrelation", durch die es "immer schon Du (Dort) als Er-
möglichung der Deklination"s ist; d.h. es befindet sich in der
ersten Ursprünglichkeit seines Auftretens bereits in einer Selbst-
abwandlung (deren Urform, wie Sinn treffend hervorhebt, die
Retention ist), welche die "Selbstkonstitution ... von vornherein
Wir-Konstitution"4 sein läßt.
Sinn scheint mitalldem im Grunde auf dasselbe wie die hier
erwogene "Selbstvergemeinschaftung" und "Hinfälligkeit" des
Ich in seiner Einzigkeit abzuzielen. In seiner Darstellung fehlt
allerdings die Reflexion auf den Charakter derartiger Aussagen.
So ist bei ihm weder der Sache noch gar dem Wortlaut nach von
der Anonymität die Rede, aufgrund deren überhaupt nur eine
Selbstvergemeinschaftung-in-Einzigkeit als der Bereich gedacht
werden kann, in dem es - mit Begriffen Sinns gesprochen - noch
keinen Gegensatz von Deklinierbarkeit und Undeklinierbarkeit
des Ich gibt. Dem entspricht, daß Sinn die Frage nach dem "Ur-
1 Vgl. D. Sinn a.a.O.
2 a.a.O., S. 86
3 a.a.O., S. 87
4 a.a.O., S. gr
170 RÜCKGANG AUF DAS ANONYME NUNC STANS

Ego" {gemeint ist das letztfungierende Ich) ausdrücklich aus


seiner Untersuchung ausklammert.! Ein Nebenergebnis der vor-
liegenden Abhandlung sollte aber der Nachweis sein, daß gerade
nur vom letztkonstituierenden anonymen "Ur-Ego" behauptet
werden kann, es sei "Pluraletantum als Aufriß"; denn die Ein-
zigkeit eines phänomenologisch aufweisbar erfahrbaren Ich muß,
weil sie notwendig "Einmaligkeit des Vorkommens" bedeutet,
gleichgeartete andere Ich ausschließen.
Es soll hier nicht unerwähnt bleiben, daß der Gedanke der
Selbstvergemeinschaftung des transzendentalen Ich denVergleich
mit ähnlichen Gedanken nahelegt, die in der Tradition oder in
der zeitgenössischen Philosophie geäußert wurden. Daß der ver-
meintlich toten und starren Identität des Ich ein lebendiges Sich-
von-sich-selbst-Unterscheiden zugrundeliegt, ist längst vor Hus-
serl, ohne daß dieser wohl überhaupt davon wußte, im deutschen
Idealismus mit unübertroffener Denkkraft erkannt und formu-
liert worden, z.B. in Fichtes Lehre von der "Tathandlung" oder
in Hegels Darstellung des Selbstbewußtseins und seines Lebens
im Abschnitt "Die Wahrheit der Gewißheit seiner selbst" in der
"Phänomenologie des Geistes". Es wäre vielleicht eine lohnende
Aufgabe, Husserls tastende Versuche auf diesem Felde einmal mit
der idealistischen Spekulation zu vergleichen; (es ist ja schon
häufiger auf Husserls Affinität zu Fichte hingewiesen worden.)
Andererseits ist Husserls Denken, das treffend einmal als "trans-
zendentaler Positivismus" gekennzeichnet wurde2, so weit vom
dialektischen Denkstil idealistischer Spekulation entfernt, daß
hier jeder vorschnelle Vergleich unterbleiben soll. Eine zeit-
genössische Parallele liegt näher: Wohin Husserl gelangt wäre,
hätteer-entgegen dem Programm der strengen Wissenschaft,
aber in Verfolg der aufgewiesenen Ansätze in seinen späten
Analysen - den Weg der "unanschaulichen Rückfrage" nach
dem einzigen, faktischen und anonymen Ich beschritten, scheint
mir am ehesten ausgesprochen in Gabriel Mareeis Grundgedan-
ke, "daß das Subjektive seiner Eigenstruktur nach schon und
wesentlich intersubjektiv ist"3.

1 Vgl. a.a.O., S. 4I
2 Vgl. W. Szilasi, Einf~hrung in die Phänomenologie Edmund Busserls, Tübingen
1959, § 47, S. II6 f.
9 G. Maxcel, Geheimnis des Seins, 1952, S. 245
SELBSTVERGEMEINSCHAFT UNG 171

J. Die Selbstvergemeinschaftung als Grund für die notwendig kon-


krete Seinsweise des transzendentalen! eh
Zum Begriff "lebendige Gegenwart" kann nun bemerkt wer-
den, daß sich deren Lebendigkeit, der Charakter entgleitenlassen-
der oder entgegenwärtigender Zusammennahme, nunmehr in
einem ursprünglicheren Verständnisbezirk als "Vergemeinschaf-
tung" im bezeichneten Sinne erwiesen hat.
Damit wird der Begriff "Selbstvergemeinschaftung" zum Titel
für die Einsicht, daß die phänomenologische Reflexion nicht bloß
bisher zu keinem nunc stans gelangt ist, das ohne Strömen
wäre, sondern daß das anonyme, faktische und einzige nunc
stans nur als strömendes gedacht werden kann; denn als solches
ist es nur in stetiger Erneuerung von Selbstvergemeinschaftung
denkbar, d.h. in der Sprache der Reflexion: als stehend-strömen-
de Einigung ursprünglicher innerer Pluralität. Weil meine "Vor-
gegebenheit" nichts ist, was vom "Ich fungiere" im Sinne irgend-
eines intentionalen Tuns festgehalten werden könnte, darum ist
diese im strengen Sinne unfassliche Einzigkeit immerfort "ent-
gleitend"; die vor-zeitlich einzige Gegenwart wird ent-gegenwär-
tigt (analog zur Ent-fremdung bei der Mitgegenwart); aber das
sich selbst entgegenwärtigt entgleitende und sich damit "verviel-
fältigende" "Ich fungiere" hatsichkraft seiner Einzigkei t auch
immer schon zur strömenden Abfolge von Einheiten zusam-
mengenommen. Die einzige vor-zeitlich ständige Gegenwart
geht als faktische in strömende Aneinanderreihung von Zeitstel-
lengegenwarten als urpassiv und praereflexiv gebildeten Ein-
heiten über. Die hinfällige Einzigkeit kann sich nicht
halten; sie verliert sich beständig ins Strömen und er-
neuert sich ineins damit als Einigung von Einheiten.
In diesem Sinne kann zu Recht von einer Hinfälligkeit oder
mit Merleau-Ponty von einer "faiblesse interieure"l des letzt-
fungierenden Ich gesprochen werden. Sie ist der Grund dafür, daß
das reflektierend fungierende Ich sich selbst nicht absolut durch-
sichtig werden kann, und in weiterer Folge: daß es überhaupt nur
in übergängiger Helle und Nähe wahrgenommen werden und
selbst wahrnehmen kann, bzw., daß sein Intentionalhaben· und
-Halten immer auch Entgleitenlassen ist. Weil "urpassive Selbst-

1 Vgl. M. Merleau-Ponty, a.a.O., S. 489


172 RÜCKGANG AUF DAS ANONYME NUNC STANS

hinnahme und urständige Erneuerung der Selbsthinnahme in


Einzigkeit" "Strömen" bedeutet, darum gibt es kein Gegen-
wärtigen, das nicht in sich Rotgegenwärtigen wäre. Darum gibt
es kein "reines" nunc stans in absoluter Immanenz und ohne
intentionale lmplikationen, sondern immer nur Funktionsgegen-
wart, die über sich hinaus auf Transzendentes irgendwelcher Art
gerichtet ist. Weil ein "reines" nunc stans eine Abstraktion vom
Strömen, vom Prozess der Entgegenwärtigung wäre, die künstlich
bleiben muß, darum muß von der "notwendigen konkreten Seins-
weise der transzendentalen Subjektivität"! gesprochen werden. In
dieser Hinfälligkeit gründet es weiterhin, daß keine Intentional-
habe abgeschlossen ist, sondern stets über sich hinaus in Hori-
zonte möglicher Weitererfahrung verweist. Und, um die früher
erwähnte Frage von Eigler zu beantworten, hier liegt auch
"die Nötigung dafür, daß die Subjektivität die Zeit als fließende
konstituiert" .2
Und es gilt: Weil das transzendentale Ichaufgrund der Selbst-
vergemeinschaftung niemals abstandlos mit sich geeint, weil es
Einzigkeit nur aus praereflexiver Ich-Pluralität ist, darum ist
keine Funktionsgegenwart denkbar, die nicht nachträglich ori-
ginär "schaubar und faßbar" wäre; darum ist das "Ich fungiere"
ganz ursprünglich reflektierbar und von vorneherein in vermög-
licher und wirklicher Selbstzeitigung.
In der anonymen und faktischen Selbstvergemeinschaftung
sind also ineins die Sichtbarkeit und Faßbarkeit wie die Undurch-
sichtigkeit und Ungreifbarkeit des Ich für sich selbst und in
weiterer Folge: die originäre Erfahr- und Erfaßbarkeit von
Gegenständen wie die notwendige Unabgeschlossenheit jeder Er-
fahrung verwurzelt. Die Funktionsweise des transzendentalen Ich
ist kein Kompositum aus diesen gegensätzlichen Vermögen; son-
dern die aufgewiesene Doppelgesichtigkeit oder "ambiguite"s,
mit Merleau-Ponty zu sprechen, eignet dem "Ich fungiere" in
erster Ursprünglichkeit, weil die lebendige Funktionsgegenwart
stehend-hinfällige Selbstvergemeinschaftung ist.

1 Kfisis, S. 275
2 Vgl. s. I35·
a Vgl. M. Merleau-Ponty, a.a.O., S. 484
E. SELBSTVERGEMEINSCHAFTUNG UND
TELEOLOGIE

I. Die Hinfälligkeit der Einzigkeil als Grund für die Vereinheit-


lichungstendenz alles welterfahrenden Lebens
Es klärt sich nun auch im Ansatz die früher aufgeworfene
Frage der adäquaten Evidenz. Adäquate Evidenzen sind tatsäch-
lich immerwieder in der Reflexion auf das welterfahrende Leben
erreichbar; aber jede solche Erfahrung bleibt zugleich unabge-
schlossen; sie kann überholt werden; sie verweist in noch offene
Horizonte. Vollständige Befriedigung des Urinstinkts der Neugier
istaufkeiner Stufe erreichbar. Jede treibt über sich teleologisch
hinaus.- Warum aber alles Gegenwärtigen und von daher alles Er-
fahren teleologisch verläuft, macht die Selbstvergemeinschaftung
nun ebenfalls verständlich: Jede entgleitenlassende Zusammen-
nahmeist Jetztprägung: das nunc stans läßt das strömende Gegen-
über gleichsam zu Zeitstelleneinheiten gerinnen, weil es aufgrund
seiner Einzigkeit nur zu Einheiten intentionalen Zugang hat;
Welt- und Selbsterfahrung können sich nur nach der vorgängigen
Ichpol-Einigungrichten und ordnen. Die Urfunktion des trans-
zendentalen Ich ist aber stetige Erneuerung der eigenen Einzig-
keit in Selbstvergemeinschaftung. Darum zielt alles Gegenwärti-
gen und infolgedessen welterfahrendes Leben überhaupt teleo-
logisch auf Vereinheitlichung. Ein Streben, das zufolge der "in-
neren Hinfälligkeit" des "Ich fungiere" niemals aufhören kann
und das selbstverständlich allem bewußten und willensmäßigen
Tendieren jeder Art vorauf liegt. -Erst die phänomenologische
Reflexion wird der Teleologie ansichtig und sanktioniert sie aus-
drücklich, weil sie das Gegenwärtigen des zumeist anonymen!
Fungierens selbst zur Maxime ihres Vorgehens erhebt. Damit
zeigt sich nun auch, daß die "paradoxe Situation" der Phäno-

1 "anonym" hier im allgemeineren Sinne


174 RÜCKGANG AUF DAS ANONYME NUNC STANS

menologie, von der früher die Rede warl, keinen Selbstwider-


spruch darstellt: - Die phänomenologische Reflexion muß im
Streben nach ursprünglicher Gegenstandsnähe die Distanz zu
ihrem Forschungsobjekt unendlich zu verringern suchen, d.h. sie
muß unablässig darauf aus sein, das transzendentale Fungieren
absolut durchsichtig zu machen, - dies aber im gleichzeitigen
Wissen, daß jede Urnähe beginnende Ferne, jede Durchsichtig-
keit von Undurchsichtigkeit durchwaltet und umschlossen ist2.
Mit anderen Worten: Die phänomenologische Reflexion lebt
aus dem Impuls, das lebendige Strömen in beständiger und darum
wissenschaftlicher Gegenstandshabe zum Stehen zu bringen,
einem Impuls, der im Stehen des reflektierend fungierenden ein-
zigen nunc stans selber seinen Ursprung hat. Eben wegen dieses
Ursprungs aber impliziert die Tendenz auf Herstellung von
Ständigkeit zugleich das Bewußtsein, daß die Quelle und der
Maßstab der angestrebten Ständigkeit, das anonyme nunc stans
selbst, in sich strömende Vergemeinschaftung ist und somit von
vorneherein keine Abschließbarkeit der Forschung zuläßt.
Husserl hat in seinem Spätwerk, der Krisis-Abhandlung, die
Einsicht vollzogen, daß die phänomenologische Forschung p:r:in-
zipiell immer für neue Horizonte offenbleibt, - ohne dies aus-
drücklich, wie hier versucht, im Wesen der lebendigen Gegenwart
zu begründen. Er konnte nicht zugeben, daß ihr stehend-
strömendes Wesen als anonymes Faktumnicht zum Gegenstand
einer völlig gesicherten, also apodiktischen Gewißheit werden
kann, sondern glaubte wohl (wie gleich zu zeigen sein wird), daß
ihre stehend-strömende Struktur als teleologisches Geschehen
apodiktisch erkennbar sei, weil das Telos universaler Ständigkeit
und Einheitlichkeit alles Erfahrens apodiktisch vorgezeichnet
ist; darum konnte er auch in der Krisis-Abhandlung noch die
Möglichkeit einer apodiktischen Erkenntnis bejahen, der Er-
kenntnis der allgemein teleologischen Struktur des welterfahren-
den und phänomenologisch reflektierenden Lebenss. Die in dieser
1 s. 133
2 Vgl. die erste Abhandlung in Erste Philosophie, Zweiter Teil, S. 193 ff.
s Der teleologische Geschichtsbegriff Husserls in der Krisis-Abhandlung ist
inzwischen in der Kölner Dissertation von P. J anssen, Geschichte und Lebenswelt, 1964,
einer gründlichen Analyse unterworfen worden, die gezeigt hat, daß der busserlsehe
Begriff der Teleologie im Felde der Geschichtsproblematik eine ganz ähnliche Zwei-
deutigkeit aufweist wie im Felde der hier behandelten Problematik der lebendigen
Gegenwart. (Vgl. in der Dissertation bes. S. 70 ff.) Ein sachlicher Zusammenhang
TELEOLOGIE 175

Teleologie mitgedachte prinzipielle Unabschließbarkeit alles Er-


fahrens und Erkennens verweist aber schon in die Richtung eines
Denkens, das eine reflexiv unanschauliche Vorform, einen un-
ausweisbaren, anonymen Grund des Strömens anzuerkennen und
zu bedenken bereit ist. Im ersten Programm der Phänomenologie
als apodiktischer und "strenger Wissenschaft" ist das Strömen
implicite noch als ein Umstand verstanden, der die wahre Wis-
senschaftlichkeit beeinträchtigt und daher von der Phänomeno-
logie ausgeschaltet werden muß. In der Durchführung der Phäno-
menologie hingegen und in der Reflexion auf das eigene wissen-
schaftliche Vorgehen selbst kommt das Strömen mehr und mehr
zu seinem Recht, weil es das intentionale Leben und gerade auch
das Reflektieren von grundauf und sogar in erster genetischer
Ursprünglichkeit bestimmt. Diese Diskrepanz von erstem Pro-
gramm und späterer Durchführung der Phänomenologie ist, wie
zuletzt deutlich werden sollte, weder Zufall noch Inkonsequenz
im husserlschen Denken: sie ist vielmehr angelegt in der Doppel-
gesichtigkeit der lebendigen Gegenwart, wie sie die Phänomeno-
logie selbst ans Licht bringt. Die Phänomenologie erhebt gemäß
der teleologischen Vereinheitlichungstendenz der Funktions-
gegenwart selbst die Herstellung von Einheitlichkeit und Stän-
digkeit des reflexiven Gegenüber zum ForschungszieL Dabei er-
gibt sich die spontan vollzogene Erfassung von Allzeitlichkeiten
als eine ausgezeichnete Möglichkeit, die in dieser Tendenz ange-
legt ist: Das reflektierende Ich kann in freier und höchster Stei-
gerung seines Interesses an stehend-einheitlicher Gegenständlich-
keit vom Strömen abstrahierend absehen oder es überfliegen.
Aus Gründen; die schon angedeutet wurden, war Husserl von
dieser Möglichkeit der Reflexion so gefangen, daß er den weiteren
notwendigen Schritt: das Strömen ausdrücklich als anonyme
Selbstvergemeinschaftung in sein Recht einzusetzen, nicht tat.
Trotzdem ist dieser Schritt weitgehend durch ihn selbst vor-

zwischen beiden Behandlungen des Teleologieproblems besteht gewiß; er ist aber,


wie heute angesichtsdes vollständig gesichteten Nachlasses mit Sicherheit zu sagen
ist, von Husserl selbst nicht mehr reflektiert worden. Husserl beschäftigte sich bis
I934 intensiv mit den Problemen der lebendigen Gegenwart, brach aber dann diese
Analysen ziemlich abrupt ab und wandte sich schon I934 dem ganz neuen Problem-
bereich der Krisis zu. Die K1'isis-Manuskripte wiederum enthalten nur sehr spär-
liche Bezugnahmen auf die Fragestellungen und Ergebnisse der Analysen vom
Anfang der dreißiger Jahre. Was ich in den K-Manuskripten an Bezugnahmen
entdecken konnte, habe ich hier im III. Teil verarbeitet.
176 RÜCKGANG AUF DAS ANONYME NUNC STANS

bereitet und teilweise unthematisch vollzogen, - durch seine


Äußerungen zu Einzigkeit und Faktumcharakter des absoluten
Ich, durch seine Erkenntnisse und Andeutungen zur Anonymität
der lebendigen Gegenwart und zur Mitgegenwart, durch seine
Einsicht in die Unabschließbarkeit von Teleologie und Horizont-
erweiterung, und schließlich - was hier noch einmal hervorge-
hoben sei - durch seine Ausführungen über die Allzeitlichkeiten:
In ihrer Bestimmung als "überall und nirgends" ist ihr bloß
relativer Erkenntniswert für die phänomenologische Reflexion
schon gesehen, - wenn auch nicht zugestanden. Das "Nirgends"
der Allzeitlichkeiten ist ja die Kehrseite ihres Vorzugs, mit der
dargestellten "Unabhängigkeit" vom Strömen und daher "über-
all" begegnen zu können. -Diese Feststellung ist allerdings nicht
mißzuverstehen: das "Nirgends" entwertet die Allzeitlichkeiten
nicht; es weist ihnen nur die vorletzte Stelle in der Ordnung
phänomenologischer Aussagen zu. Am Beispiel des allzeitliehen
nunc stans konnte dies gezeigt werden; daß das nunc stans in
radikalerer Selbstbesinnung als anonyme Selbstvergemeinschaf-
tung gedacht werden muß, nimmt der spontanen Erfahrung der
Funktionsgegenwart als eines allzeitliehen nunc stans nicht ihren
Sinn. Deswegen nicht, weil es sich dabei nicht um eine willkür-
liche Setzung handelt, sondern um eine Idee, die das reflektierend
fungierende und seinem eigenen Wesen gemäß auf Einheit und
Ständigkeit gerichtete Ich auf dem Wege phänomenologischer
Selbstbesinnung aufstellen muß. Im Sinne dieser Notwendigkeit
kann die Vorzeichnung eines solchen idealen Telos apodiktisch
genannt werden.

2. Die Polidee der absoluten Alleinheit


Es kann nun hinzugefügt werden, daß die Ideation meines all-
zeitlichen nunc stans noch nicht die höchste Möglichkeit phäno-
menologischer Vernunftspontaneität ist. Das reflektierende Ich
ist nicht nur fähig, die Allheit seines eigenen Lebensprozesses zu
überfliegen und in ihrer Einheit zu umgreifen; es kann auch im
Bewußtsein, daß jede Mitgegenwart immer weitere Mitgegen-
warten impliziert, auf die im Unendlichen liegende absolute Mo-
nadenallheit vorgreifen. Damit gewinnt es die umfassendste
mögliche Idee, die Idee eines einzigen intermonadischen Univer-
sums und korrelativ die Idee der einen einzigen von dieser Mo-
TELEOLOGIE 177

nadenallheit erfahrenen Welt, d.h. die apodiktische Vorzeichnung


einer absoluten Polidee aller Teleologie. " ... das trans-
zendentale All ist eine ,Idee', nicht wie jedes Seiende ... realisier-
bar durch ,adäquate Anschauung', sondern eine unendliche Idee,
aber eine apodiktische ... "1.
In der Einzigkeit dieses Alls wiederholt sich nun die Einzigkeit
des reflektierend fungierenden Ich, in der der Ursprung dieser
Ideation liegt. - Husserl hat in seinen späten Manuskripten für
die Idee dieser "absoluten Monadenallheit"2, der "Allpersonali-
tät"3 teilweise emphatische Worte gefunden; darin ist kein
Rückfall in jenen spekulativen Überschwang zu sehen, dem
Husserl doch unter allen Umständen entgehen wollte; sondern
auch diese Äußerungen müssen richtig in den Gang der phäno-
menologischen Reflexion eingeordnet werden. In der Aufstellung
einer "absoluten idealen Polidee"4 wird ja nur das
letzte und im Unendlichen liegende Telos derjenigen Teleologie
ans Licht gebracht, die alles intentionale Leben durchzieht,
weil es als gegenwärtigende und zeitigende lebendige Gegenwart
auf Ständigkeit und Einheitlichkeit aus ist.
In diesem und nur in diesem Sinne tendiert das intentionale
Leben apodiktisch auf Vernünftigkeit, auf Rationalität; es ver-
läuft, so gesehen, von vorneherein "sinnvoll" gemäß einem
"Logos". Die Polidee einer absoluten Alleinheit ist dieser Logos,
das "sinngebende Prinzip"5. In der phänomenologischen Auf-
stellung dieser Idee gewinnt die allerdings erstaunliche Ratio-
nalität alles welterfahrenden Lebens nur ihre höchste Ausprä-
gung.- "Erstaunlich" oder, wie Husserl gerne sagt, "wt~ndersam"
ist die teleologische Rationalität darum zu nennen, weil sie ohne
ichliches Zutun schon am Urfaktum meiner Funktionsgegenwart
und von daher dann in weiterer genetischer Folge am ganzen
intentionalen Leben auftritt, - schärfer formuliert: weil das
schlechthin vorgefundene, urpassiv begegnende Faktum des "Ich
fungiere" schon im bezeichneten Sinne rational ist. Nicht das
Faktum in seinem puren "Daß": "ich und die von mir

1 Ms. K III 12, S. 41 f. (1935); vgl. für den ganzen Abschnitt auch Ms. C I, S. 2 ff.
(1934); Ms. E III 4, S. 3 ff. (1930) und die Gruppe der E-Manuskripte überhaupt
2 Ms. CI, S. 2
a Vgl. Ms. E Ill 4 (1930)
4 a.a.O., vgl. S. 6r (1934)
s Ebendort
178 RÜCKGANG AUF DAS ANONYME NUNC STANS

konstituierte Welt sind da", - erregt also das philosophische


Staunen Husserls, sondern, worauf Boehm zu Recht hingewiesen
hatl, das Faktum in seiner teleologischen Struktur.

3· BusserlsAnsatz einerMetaphysikund philosophischen Theologie


In diesem Sinne sind die gelegentlichen Hinweise Husserls auf
das Faktum als Thema einer möglichen Metaphysik aufzu-
fassen2. Husserl hat verschiedene denkbare Fragestellungen
innerhalb dieser Metaphysik formuliert, die entgegen dem ersten
Anschein sich dem hier dargestellten Ansatz durchaus einfügen:
So stellt sich einmal das Problem, welchen Sinn "zufällige", aber
bedeutungsschwere Fakten wie Tod, Schicksalsschläge, geschicht-
liche Ereignisse usw. habens,- das heißt aber phänomenologisch:
wie diese Fakten in die faktische Teleologie des universalen
welterfahrenden Lebens einzuordnen sind. Weiterhin gehört in
diese Metaphysik die Frage, wie innerhalb des unendlichen Spiel-
raums transiendentaler Möglichkeiten die von mir weltlich vorge-
fundenen Faldizitäten meines menschlichen Lebens zu verstehen
sind. Auch diese Fragestellung weist, ebenso wie die erste, auf die
eine Grundfrage zurück4: wie kommt es, daß schon das trans-
zendentale Urfaktum meines "Ich fungiere", aufgrund dessen
ich überhaupt erst die anderen Probleme stellen kann, teleo-
logische Struktur hat?
Bei allen Schwankungen und aller Vorsicht Husserls gegen-
über dieser Frage kann doch so viel gesagt werden: er nennt den
Grund für die teleologische Rationalität des Urfaktums (und
infolgedessen aller weiteren Fakten) Gotts. Dieser Schritt ist
keine Willkür, sondern entspricht der inneren Logik der phäno.;.
menologischen Reflexion. Diese kann als der Versuch charak-
terisiert werden, für die transzendentale Begründung alles über-
haupt Erfahrbaren aufzukommen. Der Ort dieser transzenden-
talen Begründung ist die welterfahrende ichliehe Funktions-
gegenwart. Für deren Begründung aber kann das Ich in keiner
Weise aufkommen; das Funktionsgegenwartsein ist etwas, was

1 Vgl. R. Boehm a.a.O., S. 241 f.; vgl.Ideen I, S. 139


2 Vgl. Ideen I S. 7, Cartesianische Meditationen, S. 182 ff.
3 Vgl. Cartesianische Meditationen, S. 182, Ms. C 17 VS. 21 ff. (1931), Ms. C 4 (1930),
Ms. C 8 I (1929)
4 Vgl. Ideen I, S. 139
5 Vgl. Ms. E III 9, S. 73 ff. (1931)
TELEOLOGIE 179

dem Ich selbst widerfährt, - was es als ein von vorneherein


rationales Urfaktum hinzunehmen hat. In welcher Weise kann
Gott als Grund hierfür gedacht werden? Von vorneherein steht
fest, weder das Faktum des "Ich fungiere" selbst noch irgend
etwas erfahrbares weltlich Transzendentes kann mit Gott iden-
tifiziert werden. Gott als Absolutes ist "ein ,Absolutes' in einem
total anderen Sinne als das Absolute des Bewußtseins, wie es
andererseits ein Transzendentes in total anderem Sinne ...
gegenüber dem Transzendenten im Sinne der Welt"l ist2. -
Husserl hat nun anscheinend zu dem Glauben geneigt, die
Polidee der absoluten Alleinheit erfülle diese Bedingungen. Sie
liegt jenseits aller weltlichen Erfahrbarkeit, und sie ist das Telos,
auf das sich alle Teleologie des Fungierens und Konstituierens
zubewegts. Die Idee letzter Einheit und Ständigkeit versetzt
alles welterfahrende Leben in eine teleologisch geordnete, aber
unabschließbare Bewegung4.

4· Schluß: Ausblick auf eine mögliche Vertiefung der husserlschen


Ansätze

a. Gott als "sachlicher" oder "personaler" Grund?


E;,; ist aber zu fragen, ob diese Form des Gottesgedankens den
letzten Intentionen der husserlschen Phänomenologie entspricht.
Die Polidee der absoluten Alleinheit ist, obwohl in unerreich-
barer Ferne liegend, doch ein allzeitlich Konstituiertes und als
das ein reflexiv Erschaubares. Husserl sagt selbst: "Diese Ideen-
einheit, die höchste und letzte, aus einer <apodiktischen> Evidenz
zu erschauen ... "5 und beschreibt dann wiederum ihre unerreich-
bare Ferne als "eine Überrealität, eine Überwahrheit, eine Über-
wirklichkeit, ein Über-an-sich ... "6 - Gott kann aber schlechter-
dings kein Konstituiertes und damit in apodiktischer Evidenz
1 Ideen I, S. 140
2 Vgl. a.a.O., S. 121 Anm.
a Vgl. auch S. Strasser, "Das Gottesproblem in der Spätphilosophie Edmund
Husserls", in: Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft, 67. Jahrg., München
1959. s. 136 f. u. s. 141 f.
4 Husserl hat selbst die gewisse Ähnlichkeit dieses Gedankens mit der aristoteli-
schen Gotteslehre gesehen, wie Ms. F I 14, S. 43 zeigt; vgl. dazu Diemer a.a.O.,
s. 377
5 Ms. E III 4, S. 62 (1930)
6 ebendort
180 RÜCKGANG AUF DAS ANONYME NUNC STANS

Erschaubares sein, wenn anders er der Grund für das urfaktische


Entspringen meines Konstituierens und Schauens selbst ist.
Solange sich allerdings die Phänomenologie im Bereich des
gegenständlich Erfaßbaren hält und mein letztkonstituierendes
nunc stans als Allzeitlichkeit begreift, liegt es in der Konsequenz
des Gedankens, unter "Gott" die umfassendste allzeitliche Polidee
der Alleinheit zu verstehen. Wenn jedoch darüberhinaus das
nunc stans als anonymes und damit als stehende Selbstverge-
meinschaftung zu denken ist, dann wird die Polidee der absoluten
Alleinheit eine zwar noch sinnvolle, aber vorletzte Bestimmung
Gottes, und Gott muß als innerer Grund der Selbstvergemein-
schaftung, die ja die Vorform der reflexiv aufweisbaren Teleo-
logie des Urfaktums ist, gedacht werden. Erst wenn das Problem
einer aus der Phänomenologie erwachsenden philosophischen The-
ologie so gestellt wird, ist der folgenden husserlschen Forderung ra-
dikal entsprochen: "Im Absoluten selbst und in rein absoluter Be-
trachtung muß das ordnende Prinzip des Absoluten gefunden
werden"!. Dieser Satz ist offenbar so zu interpretieren: "Im In-
nern des transzendentalen Ich selbst und in radikaler Selbstein-
kehr muß Gott als Grund der Teleologie gefunden werden"2. Da
als Urform der Teleologie nicht die aufweisbare Vereinheitli-
chungstendenz, sondern deren anonyme Vorform: die Verge-
meinschaftung in Einzigkeit, anzusehen ist, so führt die Rück-
frage nach dem letzten Grund schließlich nicht auf ein reflexiv
erfassbares und nichtichliches Endziel der Vereinheitlichungs-
tendenz, ein sachliches Urprinzip teleologischen Strebens; son-
dern der Grund für die anonyme Selbstvergemeinschaftung des
Ich ist wiederum in einem "Ich" zu suchen. Diese Fragerichtung
ist nicht nur - gegen ihre programmatischen Absichten - im Ab-
sehen der Phänomenologie auf Selbstbesinnung impliziert, son-
dern sie findet auch eine Bestätigung in einzelnen Andeutungen
über die "Personalität" Gottes bei Husserl selbst3, der sich ja aus
den angeführten Gründen nicht auf die Bestimmung Gottes als
absoluter Polidee und eines im Unendlichen liegenden Telos fest-
legen konnte.
1 Ideen I, S. rzr
2 Vgl. die gleiche Interpretation bei Boehm a.a.O. S. 241 Anm.: Das erstgenannte
Absolute ist die transzendentale Subjektivität, - "das ordnende Princip des Ab·
soluten" dagegen Gott.
3 Vgl. Darstellung u. Belege bei Diemer a.a.O., S. 376 ff.
TELEOLOGIE 181

Zu einer möglichen aus der Phänomenologie erwachsenden


philosophischen Theologie! kann somit von der vorliegenden Ab-
handlung her folgendes gesagt werden: Die wesenhafte Verbor-
genheit Gottes für das Denken liegt in der Richtung der unauf-
hebbaren Unbekanntheit, die schon mein eigenes anonymes und
faktisches nunc stans für mich hat. - Gott kann vielleicht als ich-
hafter Grund der Selbstvergemeinschaftung gedacht werden.
Vermutungen darüber, in welcher Weise Gott an der anonymen
"inneren Intersubjektivität" des faktischen und einzigen "Ich
fungiere" "beteiligt" sein mag, würden den Rahmen dieser Ar-
beit sprengen. Es sei nur kurz zum Schluß auf zwei Problem-
zusammenhänge hingewiesen:

b. Göttliche Mitgegenwart und ichliehe Freiheit


Es kann auch in einer anderen Weise als der in dieser Abhand-
lung versuchten über die von Husserl selbst programmatisch ge-
setzten Ziele unter Beibehaltung seiner Fragerichtung (Selbst-
besinnung) hinausgefragt werden: L. Landgrebe hat im Anschluß
an die Erste Philosophie gezeigt,2 daß bei Husserl die radikale und
programmatische Frage unterblieben ist, aufgrund welcher Moti-
vation das normalerweise in ungebrochener Welthabe fungierende
Ich überhaupt mit dieser Lebensweise bricht und zur phäno-
menologischen Reflexion übergeht. Wenn die Reflexion eine
Weise des eigenen Fungierens ist, dann muß gefragt werden: Wie
kommt es überhaupt zu der Ausgangsmaxime "zu den Sachen
selbst!" und in weiterer Folge zur universalen Intentionalanalyse?
Das Motiv ist offenbar die Absicht einer letzten Rechtfertigung
aller Erkenntnis; hinter der Reduktion und der damit verbunde-
nen Einklammerung des Mitvollzugs jedweder Welthabe steht
die Einsicht, daß die Welt für mich nicht nur hinzunehmen, son-
dern zu verantworten ist. "Aber eine solche Einsicht ist nichts
anderes als das Bewußtsein meiner selbst als eines freien, keinem
mundanen Bedingungs-und Interessenzusammenhang schlechthin
eingeordneten Ich, und dieses und nichts anderes ist das ,trans-

1 Der Aufsatz von Th. Süss: "Phänomenologische Theologie" in: Neue Zeitschrift
für systematische Theologie und Religionsphilosophie 5. Bd. x Hft. Berlin I963, ist
leider als völlig wertlos zu bezeichnen.
2 Vgl. L. Landgrebe, "Husserls Abschied vom Cartesianismus", in: Der Weg der
Phänomenologie, S. x63 ff.
182 RÜCKGANG AUF DAS ANONYME NUNC STANS

zendentale Ich'. Es ist das sittliche Ich, das Gericht über seine
sämtlichen weltlichen Interessen hält"l.
Dieses sittliche und freie Ich ist es, welches sich in seiner stän-
digen Offenheit für Selbsterneuerung und neue Übernahme von
Verantwortung immer vorweg2 und daher unaufhebbar anonym
bleibt. Dieses selbe Ich ist es darum auch, welches als anonymes
Jetzt von sich selbst als mitgezeitigtem Ich freien, richterlichen
Abstand nehmen und sich darum als selbiges in der J eweiligkeit
erblicken und beurteilen kann.
Diesen inneren Zusammenhang von sittlicher Freiheit und zeit-
licher Abstandnahme hat Husserl, obwohl er ihn nicht als eigent-
lichen Anfang der Phänomenologie thematisierte, schon gesehen,
wenn er etwa schreibt - bezeichnenderweise unter der Über-
schrift: "Personale (ichliche) Gemeinschaft mit mir
selbst als Parallele zur Gemeinschaft mit Anderen":
"Ich <bin>, im Zwiegespräch mit mir, in einem dialektischen
Gespräche mit mir. Ich, mich in eine vergangene Stellungnahme,,
in eine früher von mir entworfene Theorie und ihre Motivationen
versenkend, (die> in ihr verborgen (sind, finde) meine damaligen
Vorurteile - und jetzt <bin ich) als gegenwärtiges Ich Kritik
übend, beistimmend, ablehnend. Ebenso in sonstigen Akten der
Selbstbesinnung, des Rückgangs auf mein früheres Leben, meine
früheren Stellungnahmen jeder Art, - sie bekräftigend, durch-
streichend etc., als Selbstkritik jeder Art"3.
Damit werden folgende Zusammenhänge sichtbar: Das ichliehe
Vermögen freier sittlicher Abstandnahme und das Vermögen
des reflektierenden Anblicks und Mitvollzugs der Selbstzeitigung
sind im Grunde ein und dasselbe. Vorform und genetischer Ur-
sprung der Selbstzeitigung aber ist die urpassive und praere-
flexive Selbstvergemeinschaftung im anonymen nunc stans.
Diese Selbstvergemeinschaftung widerfährt mir ohne mein Zutun
und hat vielleicht ihren Grund in einem göttlichen "ich fungiere".
Zugleich aber ist die Selbstvergemeinschaftung Vorform, ano-
nymer erster Akt meiner Freiheit. Gott wirkt also im Innersten
1 ebendort, S. rg6
s Der Zusammenhang von Protentionalität und sittlicher Freiheit wurde in dieser
Arbeit deswegen nicht behandelt, weil sich im Nachlaß keine diesbezüglichen Hin·
weise finden, die Arbeit sich aber möglichst eng an eigene busserlsehe Andeutungen
halten wollte. Zur Struktur der Protention vgl. in diesem Zusammenhang L. Land-
grebe, a.a.O., S. zoo
s Ms. E III g, S. 83 f. (rggr)
TELEOLOGIE 183

meiner Freiheit. Hier zeigt sich: eine aus der Phänomenologie er-
wachsende philosophische Theologie würde auf ihre Weise die
große europäische Denktradition fortsetzen, die das "Verhältnis"
von menschlicher Freiheit und göttlicher Gnade nicht als Kon-
kurrenz, sondern als Einheit-in-der-Geschiedenheit gedacht hat.

c. Mitgegenwart Gottes und Intersubjektivität


Ein zweiter ebenso wichtiger Zusammenhang, auf den sich
ebenfalls bei Husserl selbst noch Hinweise finden, liegt in Fol-
gendem: Die "innere Intersubjektivität", die "Selbstvergemein-
schaftung im nunc stans" steht, wie sich früher ergab, in unauf-
löslichem innerem Zusammenhang mit der Vergemeinschaftung
mehrerer transzendentaler Ich; sie ist Vorform aller Synthesis,
aber noch mehr als das; das einzige letztfungierende Ich steht
sich im Grunde selbst von Ich zu Ich (wenn auch nicht von Ich
zu Du) gegenüber; nur darum kann es in reflexiver Ausdrück-
lichkeit "Selbstgespräche" führen und über sich selbst in sitt-
licher Freiheit Gericht halten. Es ist sich selbst auf ähnliche Weise
gegenwärtig, wie ihm Andere mitgegenwärtig sind. Wenn Gott
aber der Grund der anonym bleibenden "Selbstentzweiung und
-zusammennahme" des transzendentalen Ich ist, dann steht zu
vermuten, daß er darin in der Weise einer verborgenen Mitgegen-
wart wirksam ist. Daraus ergibt sich: Ebenso wie meine eigene
transzendentale Funktionsgegenwart nur auf dem "Umweg"
über die Mitgegenwart Anderer recht verstanden, das heißt: in
dem, was sie mehr ist als erfaßbare Gegenständlichkeit, gedacht
werden kann, - entsprechend kann vermutlich auch die Mit-
gegenwart Gottes nur unter Einbeziehung der Mitgegenwart
Anderer, gleichsam nur auf diesem "Umweg", erfahrbar sein.
Die Reflexion auf das letztfungierende Ich führt nicht auf mich
als solus ipse, sondern auf die Einheit von Selbstgegenwart und
Mitgegenwart; erst über die letztere wird vermutlich die Mit-
gegenwart Gottes erfahrbar; die Selbstvergemeinschaftung wie-
derum im transzendentalen Einzelich ist die Vorform des Strö-
mens, das seinerseits Weltkonstitution ermöglicht. Daß Husserl
diese umfassenden Zusammenhänge auf seine Weise gesehen
hat, zeigt die folgende bemerkenswerte N achlaßstelle, mit der
die Abhandlung beschlossen sei:
"Die Innenrichtung der Religion, bzw. des Betenden als des
184 RÜCKGANG AUF DAS ANONYME NUNC STANS

Gott suchend-findenden und der betenden Gemeinschaft als in


eins so tuend, also in Gemeinschaft mit Gott in Gemeinschaft,
besagt, wie schon diese Worte zeigen, nicht Richtung in das Innen
als mein Privates. Diese Innenrichtung ist parallel mit der phä-
nomenologischen Innenrichtung, bei welcher durch mein Inneres
hindurch der Weg geht in alle Anderen (als Innen-Andere, nicht
als äußerliche Menschen, als raumzeitlich Reale) und dadurch erst
auf die Welt und auf eigenes und fremdes Menschendasein"l.

1 Ms. E III 9, S. 31 (1931)


LITERATURVERZEICHNIS

PRIMÄRLITERATUR

HussERL, EDMUND, Logische Untersuchungen, Band I, II I I900/I90I,


Band II 2 4· Aufl. Halle 1928
- Philosophie als strenge Wissenschaft, in: Logos Bd. I. I9IO/II; jetzt
auch als Sonderdruck in: Quellen der Philosophie ed. R. Berlinger, Nr. I,
Frankfurt a. M., 1965
- Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, hrsg. v.
M. Heidegger, Sonderdruck aus: ] ahrbuch für Philosophie und Phäno-
menologische Forschung Bd. IX, Halle a.d. S. 1928 (zitiert: Zeit-
bewußtsein)
- Formale und transzendentale Logik, in: Jahrbuch für Philosophie und
Phänomenologische Forschung Bd. X, Halle a.d. S. 1929 (zitiert: Formale
und transzendentale Logik)
- Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik, red.
u. hrsg. v. L. Landgrebe, 2. unv. Aufl. Harnburg 1954 (zitiert: Erfahrung
und Urteil)
"Husserliana". EDMUND HussERL, Gesammelte Werke, auf Grund des
Nachlasses veröffentlicht vom Husserl-Archiv (Louvain) unter Leitung
von H. L. van Breda, Haag 1950 ff.:
Bd. I Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, hrsg. v. S. Strasser,
Haag 1950 (zitiert: Cartesianische Meditationen)
Bd. II Die Idee der Phänomenologie. Fünf Vorlesungen, hrsg. v. W.
Biemel, Haag 1950
Bd. III Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen
Philosophie, I. Buch, hrsg. v. W. Biemel, Haag I950 (zitiert: Ideen I)
Bd. IV Ideen ... 2. Buch, hrsg. v. M. Biemel, Haag 1952 (zitiert: Ideen II)
Bd. V Ideen ... 3· Buch, hrsg. v. M. Biemel, Haag 1952
Bd. VI Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale
Phänomenologie, hrsg. v. W. Biemel, Haag 1954 (zitiert: Krisis)
Bd. VII Erste Philosophie (1923/24), I. Teil, hrsg. v. R. Boehm, Haag 1956
Bd. VIII Erste Philosophie 2. Teil, hrsg. v. R. Boehm, Haag 1959
(zitiert: Erste Philosophie)
Bd. IX Phänomenologische Psychologie, hrsg. v. W. Biemel, Haag 1962
(zitiert: Phänomenologische Psychologie)

UNVERÖFFENTLICHTE MANUSKRIPTE HUSSERLS


Der Nachlaß Edmund Husserls befindet sich im Original im Husserl-
Archiv zu Löwen in Belgien. Der Verfasser hatte die Möglichkeit, Trans-
186 LITERATURVERZEICHNIS

skriptionen von Nachlaßmanuskripten im Husserl-Archiv zu Köln zu


studieren. Die Manuskripte sind in den Husserl-Archiven nach folgender
Ordnung klassifiziert:
A: Mundaue Phänomenologie
B: Die Reduktion
C: Zeitkonstitution als formale Konstitution
D: Primordiale Konstitution ("Urkonstitution")
E: Intersubjektive Konstitution
F: Vorlesungen und Vorträge
K: Autographe, die 1935 nicht in die Gruppen A-F aufgenommen bzw.
später geschrieben wurden
M: Transskriptionen von Manuskripten Husserls, die vor 1938 von seinen
Assistenten angefertigt wurden
Q: Husserls Vorlesungsnachschriften aus seiner Studienzeit
R: Briefe
X: Archivaria

In dieser Arbeit angeführte unveröffentlichte Manuskripte werden hier


mit diesen Signaturen und nach der Paginierung der Transskription zitiert.
Es wurden alle C-Manuskripte sowie eine Reihe von Manuskripten der
Gruppen A, B, E und K, vornehmlich aus den Jahren 1930 bis 1935 be-
rücksichtigt. Zitiert wurden:
A V 5 "Anthropologie, Psychologie Init Beilagen zu den Amsterdamer
Vorlesungen" (1927-33) Transskr. 237 S. Daraus insbes. der wichtige
Abschnitt: "Ichreflexion und Ichfunktion, Ich-Zeitigung",S. I - I I (1933)
BI 5 IX "Transzendentale Reduktion" (1930), Transskr. 35 S.
BI 5 XIV "SchwierigkeiteneinertiefstenBegründung derPhilosophieauf
den Wege der phänomenologischen Reduktion. Notwendigkeit des
Durchgangs durch Naivitäten für die Phänomenologie selbst". (1922
oder 1923) Transskr. 41 S.
B I 14 XI "Rätsel. Paradoxa" (1934) Transskr. 25 S. Daraus insbes. der
Abschnitt: "Ich in der Einzigkeit", S. 24/25 (1933)
B I 14 XIII "Rätsel. Paradoxa" (1933) Transskr. 41 S.
B III 4 "Genesis. Transzendentale Konstitution erster Stufe - transzen-
dentale Konstitution höherer Stufe" (1933) Transskr. 83 S.
B III 9 "Das Aktproblem" (1931) Transskr. 198 S.
C I Hauptthemen dieses wichtigen Ms. von 1934 sind die urtümliche Ge-
genwart des Monadenalls und das Absolute als "Faktum", Transskr. 6 S.
C 2 I "Rückgang zur urtümlichen Gegenwart ... " (1931), Transskr. 22 S ..
Das Ms. ist wichtig für den Zusammenhang von lebendiger Gegenwart,
genetischer Phänomenologie und radikalisierter Reduktion
C 2 II Thema wie C 2 I (1932) Transskr. 7 S.
C 2 III Thema wie C 2 I (1932) Transskr. u S.
C 3 I "Strömend-lebendige Gegenwart. - Das immanente Zeitfeld. - Kon-
stitution immanenter Daten; Konstitution der strömenden Dauer".
(1930) Transskr. 29 S.
C 3 II Thema wie C 3 I (1930) Transskr. 9 S. Enthält die wichtigste Stelle
zum Problem der Iteration der Reflexionen, S. 7
C 3 III "Reduktion auf die lebendige Gegenwart als den letzten absoluten
Boden aller meiner Geltungen ... " (1931) Transskr. 41 S. Das wohl
wichtigste Manuskript Husserls für den ganzen Problemkreis der
lebendigen Gegenwart.
LITERATURVERZEICHNIS 187

C 3 V "Zum Aufbau der lebendigen Gegenwart nach impressionalen, re-


produktiven Feldern;- Interesse". (1931) Transskr. 10 S.
C 3 VI "Rückfrage zur Hyle. Hyletische Urströmung und Zeitigung".
(1931) Transskr. 19 S.
C 4 Ohne GesamttiteL Thema: Analyse der "lebendigen Gegenwart", des
Schlafes, des Aufhörens des Erlebnisstromes. (1930) Transskr. 26 S.
C 5 "Zur Strukturlehre der lebendigen Gegenwart, von der Welt-Epoche
rückfragend .... " (1930) Transskr. 14 S.
C 6 "Erster Anfang eines methodischen Abbaues der urphänomenalen
Gegenwart, ... Urstrukturen der lebendigen Gegenwart: ... " (1930)
Transskr. IO S.
C 7 I "Von der Epoche aus eine Reduktion auf das primordiale Sein des
Ego als urtümliches Strömen.- ... "Wichtiges Ms. von 1932, Transskr.
38 s.
C 7 II "Über Reduktion auf lebendige Gegenwart durch ,reine Selbst-
wahrnehmung'. - ... " (1932) Transskr. 23 S.
C 10 "Das gehört zum Komplex der urtümlichen Gegenwart!" Sehr
wichtiges Manuskript von 1931, Transskr. 30 S.
C I I II "Zeitigung. Welt des Menschen, Seiendes und Zeit. .. ". (1934)
Transskr. 22 S.
C 13 II "Wiedererinnerung, Retention und Ichaktivität; Identität. -Zur
Zeitkonstitution". (1934) Transskr. 16 S.
C 13 III "Konstitution von Seienden in Zeitmodalitäten als Modalitäten
eben des Seins; Konstitution von Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft;
von Seiendem und Vorseiendem; Wiedererkennen als Urfunktion der
Zeitigung". (1934) Wichtig für den Zusammenhang von Konstitution
und Zeitigung. Transskr. 18 S.
C 14 "Elementares und Zeitkonstitution. - ... " (1933) Transskr. IO S.
C 15 "Urassoziation und Urzeitigung, zunächst in der hyletischen Kern-
sphäre behandelt". (ohne Datierung) Transskr. 10 S.
C 16 IV "Gefühl und Urkonstitution .... Instinkt und Kinästhese; ,Neu-
gier'." (1932) Transskr. 33 S.
C 16 V "Zum Studium der ichliehen Strukturen der lebendigen Gegen-
wart". (1931) Transskr. 25 S.
C 16 VI "Phänomenologische Archäologie. - ... Ich als Person für
Andere; Mitfunktion der Einfühlungen. Objektive Zeitigung gegen-
über meiner Selbstzeitigung. - Personales Sein im Miteinandersein ... "
(1932) Transskr. 39 S.
C 16 VII " ... Primordialität und Fremdapperzeption, was ist das für eine
Deckung?" (1933) Transskr. 18 X.
C 17 I "Zeitigung, Zeitigung durch Einfühlung; die Vermenschlichung,
Weltzeitigung, psychophysische Zeitigung." (1931) Transskr. 44 S.
C 17 II "Weltzeitigung und Weltzeitmodalitäten ... " Auch einiges zum
Problem der Mitgegenwart Anderer. (1930-31) Transskr. 21 S.
C 17 III " ... Konkrete Weltgegenwart; das eigentlich Seiende (Gegen-
wart), in Wahrheit Seiende befaßt gegenwärtige Vergangenheit etc."
(1931) Transskr. 22 S.
C 17 IV "Zur lebendigen Gegenwart. Passive Zeitigung des Erlebnisstro-
mes gegenüber der Verzeitlichung·der Akte; Vorzeitigung und eigentliche
Zeitigung; ... " Ein Teil des Manuskriptes stammt von 1930 und
enthält die Unterscheidung von passiver Vor-Zeitigung und aktiver
Zeitigung aus phänomenologischer Reflexion. Der andere Teil des
188 LITERATURVERZEICHNIS

Manuskriptes, von 1932, bringt eine wichtige Kritik an dieser Unter-


scheidung. Transskr. 8 S.
E III 2 "Liebe, Teleologie. Ich. Das personale Ich und die individuelle
Eigenart". (1920 oder 21) Transskr. 71 S.
E III 4 "Teleologie" (1930) Transskr. 63 S.
E III 5 "Universale Teleologie" (1933) Transskr. 7 S.
E III 9 "Instinkt, Welt, Gut, Teleologie, Normstruktur der Persönlich-
keit" (1931-1933) Transskr. 99 S. Aus folgenden Unterabschnitten
wurde zitiert: S. 1-15 "Psychologische und transzendentale Instinkte
(Anlagen). Zur Lehre von den Instinkten" (1933); S. 55-75 "Teleologie"
(1931); S. 83-89 "Personale (ichliche) Gemeinschaft mit mir selbst als
Parallele zur Gemeinschaft mit Anderen". (1931)
K III 6 Manuskripte zur Ausarbeitung des Krisis-Artikels. (1934-1936)
Transskr. 400 S.
K III 12 "Variation und Ontologie. Probleme der Ontologie des Geistes"
(1935) Transskr. 53 S .. Daraus insbes. S. 30-42 "Zum Problem der
Variation. Freie Variation eines Exempels".
Zu den Husserl-Zitaten ist folgendes zu bemerken: Einfügungen im
Zitattext, die in eckige Klammern < > gesetzt sind, sowie alle Hervor-
hebungen durchKursivdruck stammen von mir. DiejenigenHervorhebungen,
die von Husserl selbst stammen, sind gesperrt gedruckt.
SEKUNDÄRLITERATUR

(Es werden nur die für die vorliegende Abhandlung unmittelbar wich-
tigen Bücher und Aufsätze angeführt.)
AsEM1SSEN, HERMANN ULR1CH, Strukturanalytische Probleme der Wahr-
nehmung in der Phänomenologie H usserls, in: Kantstudien, Ergänzungs-
hefte Nr. 73, Köln 1957
BERGER, GASTON, Le cogito dans la Philosophie de Husserl, Paris 1941
- Approche pMnomlmologique du problerne du temps, in: Bulletin de la
Societe frant;aise de Philosophie, Paris, 44e annee 1950
B1EMEL, WALTER, Husserls Enzyklopaedia-Britannica-Artikel und Hei-
deggers Anmerkungen dazu, in: Tijdschrift voor Philosophie, Jahrg. 12,
1950
- Die entscheidenden Phasen der Entfaltung von Husserls Philosophie,
in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Band XIII 1959, Hft. 2
BOEHM, RUDOLF, Zum Begriff des "Absoluten" bei Husserl, in: Zeitschrift
für philosophische Forschung, Band XIII 1959, Hft. 2
BRAND, GERD, Welt, Ich und Zeit. Nach unveröffentlichten Manuskripten
Edmund Husserls, Den Haag 1955
- Husserl-Literatur und Husserl, in: Philosophische Rundschau, 8.
J ahrg. 1961, Hft. 4
BRöCKER, WALTER, Husserls Lehre von der Zeit, in: Philosophia naturalis
1957. 4
DIEMER, ALW1N, La· phenomenologie de Husserl comme metaphysique,
in: Etudes philosophiques, N.S. 9, 1954
- Edmund Husserl. Versuch einer systematischen Darstellung seiner
Phänomenologie, Meisenheim a.G. 1956 1

1 Während der Drucklegung der vorliegenden Arbeit erschien eine 2. Auflage


dieses Buches. Die veränderte Paginierung konnte nicht mehr berücksichtigt
LITERATURVERZEICHNIS 189
Die Phänomenologie und die Idee der Philosophie als strenge Wissen-
schaft, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Band XIII 1959
Hft. 2
EIGLER, GUNTER, Metaphysische Voraussetzungen in H usserls Zeitanalysen,
Meisenheim a.G. 1961, Monographien z. philos. Forschung, Band
XXIV, (Freiburger Dissertation von 1953)
FINK, EuGEN, Vergegenwärtigung und Bild. Beiträge zur Phänomenologie
der Unwirklichkeit. Teil I, in: Jahrbuch für Philosophie und phäno-
menologische Forschung, Band XI 1930
- Die phänomenologische Philosophie Edmund Husserls in der gegen-
wärtigen Kritik, in: Kantstudien, Band 38 1933
- Das Problem der Phänomenologie Edmund Husserls, in: Revue inter-
nationale de Philosophie, Band I 1939, Hft. 2
- Operative Begriffe in Husserls Phänomenologie, in: Zeitschrift für
philosophische Forschung, Band XI 1957, Hft. 9
- Zur ontologischen Frühgeschichte von Raum - Zeit - Bewegung, Den
Haag 1957
GADAMER, HANS GEORG, Die phänomenologische Bewegung, in: Philo-
sophische Rundschau, 11. Jahrg., Tübingen 1963
GEYER, H. G., Besprechung von Brand: Welt, Ich und Zeit, in: Philoso-
phische Rundschau, 4· Jahrg., Tübingen 1956
HEIDEGGER, MARTIN, Sein und Zeit, 8. unv. Aufl., Tübingen 1957
HoHL, HuBERT, Lebenswelt und Geschichte, Freiburg/München 1962
JANSSEN, PAuL, Geschichte und Lebenswelt, Dissertation Köln 1964
LANDGREBE, LuDWIG, Der Weg der Phänomenologie, Gütersloh 1963
- La phenomenologie de Husserl est-elle une philosophie transeenden-
tale? In: Etudes philosophiques, N.S. 9, 1954
- Philosophie der Gegenwart, Ullstein-Taschenbuch Nr. 166, 1957
LAUER, QUENTIN, Phenomenologie de Husserl. Essai sur la genese de
l'intentionalite, Paris 1955
L:EviNAs, EMMANUEL, En decouvrant l'existence avec Husserl et Heidegger,
Paris 1949
MARCEL, GABRIEL, Geheimnis des Seins, Wien, 1952
MERLAN, PHILIP, Time consciousness in Husserl and Heidegger, in:
Philosophy and Phenomenological Research, Band 8, Buffalo 1947
MERLEAu-PoNTY, MAURICE, Phffnomenologie de la perception, Paris 1945
MüLLER, MAx, Existenzphilosophie im geistigen Leben der Gegenwart, 2.
erw. Aufl. 1958, darin: Phänomenologie, Ontologie, Scholastik
MüLLER, WoLFGANG-HERRMANN, Die Philosophie Edmund Husserls nach
den Grundzügen ihrer Entstehung und ihrem systematischen Gehalt, Bonn
1956
"Phenomenologie-Existence", Sonderheft der Revue de metaphysique et
de morale, Paris 1953, mit Beiträgen von H. Birault, H. L. v. Breda,
A. Gurwitsch, L. Landgrebe, P. Ricoeur, J. Wahl
PICARD, YvoNNE, Le temps chez Husserl et Heidegger, in: Deucalion, Hft.
I 1945
SARTRE, }EAN-PAUL, L'§tre et le neant, Paris 1955
SCHUTZ, ALFRED, Das Problem der transzendentalen Intersubjektivität
bei Husserl, in: Philosophische Rundschau, J ahrg. V 1957

werden. Der auf S. 101, Fußn. 2, dieser Arbeit erwähnte Zitationsfehler Diemers
ist in der 2. Auflage beseitigt.
190 LITERATURVERZEICHNIS

SEEBOHM, THOMAS, Die Bedingungen der Möglichkeit der Transzendental-


philosophie, Bonn I962
SINN, DIETER, Die transzendentale Intersubjektivität bei Edmund Husserl
mit ihren Seinshorizonten, Heidelberger Diss. I958
STRASSER, STEPHAN, Das Gottesproblem inderSpätphilosophie Edmund
Husserls, in: Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft, 67. Jahrg.,
München I959
SziLASI, W., Einführung in die Phänomenologie Edmund Busserls, Tü-
bingen 1959
VAN BREDA, H. L., Hrsg.: Problemes actuels de la phenom{mologie,
Bruxelles I952
- Hrsg.: Edmund Husserl z859-I959, Den Haag 1959 (Phaenomenologica
~ .
-Hrsg.: Husserl et la Pensee Moderne, Den Haag I959 (Phaenomeno-
logica 4)
VAN PEURSEN, C. A., De tijd bij Augustinus en Husserl, Groningen I953
WAGNER, HANS, Kritische Betrachtungen .zu Husserls Nachlaß, in:
Philosophische Rundschau, I. Jahrg. I953/54• Hft. I
ZELTNER, HERMANN, Das Ich und die Andem, Husserls Beitrag zur
Grundlegung der Sozialphilosophie, in: Zeitschrift für philosophische
Forschung, Band XIII 1959, Hft. 2

Das könnte Ihnen auch gefallen