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NOBEL-

PREISE
2011

DEZEMBER 2011

Z WEITES AUGE GRÜNER L A SER ALTES ÄGYP TEN


Spezielle Sinneszellen regulieren Deutsche Forscher Präzisere Chronologie
unseren Tagesrhythmus erzielen den Durchbruch dank C-14-Methode
12/11

NEUE SERIE

Die Zukunft der Energie


TEIL 1:

Strom aus der Sonne


Fotovoltaik und Solarthermie
versprechen die Energiewende

7,90 € (D/A) · 8,50 € (L) · 14,– sFr.


D6179E

www.spektrum.de
Editorial

Hartwig Hanser
Redaktionsleiter
hanser@spektrum.com

Autoren in diesem Heft

Blicke in die Zukunft

N achdem wir im August den Artikel »Fukushima auch in Deutschland?« veröffentlicht


hatten, ertranken wir geradezu in einer Flut von Briefen und E-Mails. Nun ist die Kern-
kraft hier zu Lande schon seit Jahrzehnten ein höchst umstrittenes Thema, was die vielen, oft
Das Auge ist nicht nur zum
Sehen da: Der Biologe Ignacio
Provencio von der amerika-
auch sehr emotionalen Zuschriften erklärt (siehe das Oktoberheft, S. 6). Darüber hinaus nischen University of Virginia in
schwingt hier aber noch eine andere, viel grundlegendere Frage mit – jene nach der Zukunft Charlottesville war an der
der Menschheit. Und damit meine ich nicht die potenziell katastrophalen Folgen von Nu­ Entdeckung eines weiteren Sinns
klearunfällen. Nein, es geht schlicht um die ausreichende Versorgung mit Energie. Sollte es in der Netzhaut beteiligt, der
hier einmal zu ausgeprägten Engpässen kommen, drohen Verteilungskonflikte bis hin zum unseren Tag-Nacht-Rhythmus
Zusammenbruch der Weltwirtschaft, mit unabsehbaren Konsequenzen für den Fortbestand steuert (ab S. 26).
der Zivilisation.
Der deutsche Ausstieg aus der Kernenergie spielt in diesem Zusammenhang nur eine un-
bedeutende Statistenrolle. Langfristig gilt es die weltweite Energiewirtschaft grundsätzlich
umzustellen: weg vom Verbrauch endlicher Ausgangsstoffe wie Kohle, Gas, Öl und Uran; weg
von Techniken, die Energie nur unter Freisetzung schädlicher Substanzen produzieren kön-
nen, seien es Schwefeloxide, Kohlendioxid oder radioaktive Abfälle. Nicht nur die Begrenzt-
heit solcher natürlichen Ressourcen erzwingt diesen Wechsel, sondern auch die Sorge um Eva Maria Wild und Walter Kut-
den Erhalt unserer Umwelt und eines lebensfreundlichen Klimas. schera von der Universität
Wien setzen die C-14-Datierung
Wohin des Wegs also? Nicht zuletzt durch den Reaktorunfall von Fukushima befinden sich ein, um die Chronologie des
alternative oder regenerative Energien aus Quellen, die sich nicht erschöpfen oder zumin- alten Ägyptens präziser zu
dest rasch selbst erneuern, stark im Aufwind. Genau der richtige Zeitpunkt somit für unsere bestimmen (ab S. 48).
Serie »Zukunft der Energie« ab S. 68. In sechs Teilen liefert sie das, was Sie als Leser von Spek-
trum der Wissenschaft erwarten und gewohnt sind: Die Artikel vermitteln einen fundierten
Überblick über diese Pioniertechnologien und beleuchten ihre Stärken und Schwächen.

Den Stand der Technik darstellen – dieses Motto trifft auch auf den Artikel ab S. 78 zu. Hier
beschreiben drei Forscher, wie sie in jahrelanger mühevoller Detailarbeit bei der Regensbur-
ger Firma Osram Opto Semiconductors den grünen Laser zur Serienreife entwickelten. Damit
ist nun der Weg frei für handliche Minilaserprojektoren, die sich beispielsweise in Handys
einbauen lassen und auf Knopfdruck riesige hoch aufgelöste Bilder an die Wand werfen kön-
nen. Vielleicht schauen wir ja in ein paar Jahren mit dieser Technik daheim Fernsehsendun- Auf dem Weg zu leistungs­
gen und Filme, spielen Videogames und betrachten unsere Urlaubsfotos – und das alles so fähigen Minilaserprojektoren
groß wie die ganze Wohnzimmerwand! fehlte bislang ein zentraler
Baustein: ein echter grüner Laser.
Jetzt haben Désirée Queren,
Adrian Avramescu (oben) und
Herzlich Ihr Stephan Lutgen bei Osram Opto
Semiconductors den Durchbruch
geschafft. Die Forscher berichten
ab S. 78, wie sie die technischen
Hürden überwanden.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Dezember 2011 3


inhalt

32 Ein neuer Rover ist unterwegs zum Mars

26 Das übersehene zweite Auge 48 Neues aus dem alten Ägypten 78 Grüner Laser

biologie & medizin Physik & astronomie mensch & Kultur

26 Das zweite Auge


r 32 Mars auf die Pelle gerückt 48 14C und die
r

Ignacio Provencio Peter H. Smith Chronologie Ägyptens


In unseren Augen steckt ein In diesen Wochen will das Mars Eva Maria Wild
zweites Sinnesorgan zur Licht- Science Laboratory an die Erfolge und Walter Kutschera
wahrnehmung, das die Physiolo- der Marssonde Phoenix anknüp- Bei der Entwicklung der Radio-
gen lange nicht erkannt haben. fen. Der Phoenix-Chefwissen- kohlenstoffdatierung dienten
Ohne seine besonderen Zellen, schaftler über die Herausforde- Funde aus der Pharaonenzeit als
die einem uralten Prinzip folgen, rung interplanetarer Missionen Referenz. Heute hilft die Metho-
würde unser Tag-Nacht-Rhyth- de, offene Fragen der ägyptischen
mus nicht funktionieren Schlichting! Chronologie zu beantworten
40 Was das Feuer am Leben hält
H. Joachim Schlichting 56 Ein Puzzle besonderer Art
In einer Kerze wirken viele Prozesse Thomas Schneider
auf komplexe Weise zusammen Ägyptologen setzen die Chrono­
logie des Nilstaats aus einer
PhysikalISCHE Unterhaltungen Vielzahl von historischen Infor-
Titelmotiv: 44 Die Unruh, das Pendel und mationen zusammen: von
fotolia / Sandra Cunningham (Sonne); der Schmetterlingseffekt Tempelinschriften bis hin zu
dreamstime / Eric Strand (Solarpanel);
Norbert Treitz Zeitangaben auf Weinkrügen
Spektrum der Wissenschaft (Composing)
Vom präzisen Gang der Wand-
Die auf der Titelseite
angekündigten Themen uhr bis zum Chaos ist es nur ein
sind mit r gekennzeichnet kurzer Weg

4 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Dezember 2011


spektrogramm
8 Reionisation des Weltalls verlief
schneller als gedacht • Das Erbgut
des Schwarzen Tods ist entziffert •
Fledermäuse rufen mit superschnel-
len Muskeln • Arktisches Rekord-
Ozonloch dank Klimawandel •
Farbspiele vor 100 000 Jahren •
Hefezellen als Golfbälle

bild des monats


11 Verwandter des Tyrannosaurus

r forschung aktuell
12 Nobelpreis für Physik
Das Universum startet durch
68 15 Nobelpreis für Medizin
TITELthema Wachposten des Immunsystems

Die Zukunft 18 Nobelpreis für Chemie


Kristalle mit unmöglicher
der Energie Symmetrie

21 Nobelpreis für
Wirtschaftswissenschaften
Ursache und Wirkung in der
Makroökonomie
erde & umwelt technik & computer
24 Springers Einwürfe
Ist der Embryo Natur oder Kultur?
78 Grüne Welle für den Laser
r

r Neue SERIE Désirée Queren, Adrian Avramescu weitere rubriken


68 Energie der Zukunft und Stephan Lutgen 3 Editorial
Teil 1: Sonnige Zeiten Mit der Entwicklung des grünen
Bernd Müller Lasers durch eine deutsche For- 6 Leserbriefe/Impressum
Die Fotovoltaik boomt, und schergruppe werden demnächst 85 Rezensionen
solarthermische Kraftwerke Miniatur-Laserprojektionen Philipp Blom: Böse Philosophen
stehen in den Startlöchern. möglich – etwa in Smartphones Dmitry Fuchs, Serge Tabachnikov:
Zu Beginn der neuen, sechs­ Ein Schaubild der Mathematik
teiligen Serie geht es um Mark Alpert: Crash
Stand und Per­spektiven der Fondation Cartier: Mathématiques,
Solarenergie un dépaysement soudain
Sonderteil nach Seite 84 u. a.
Interview
72 Apostel der Solarwende

Wohin mit der 92 Wissenschaft im Rückblick
Der Fotovoltaikexperte Eicke
Datenflut?
2/11

Das simulierte Biomoleküle auf der Wissen für die Künstliche


Universum virtuellen Streckbank Intelligenz

Weber erläutert die künftige Datengetriebene Vom Aerophor zur Schneekanone


6/11

Wissenschaft
Exponentiell
Bedeutung der Solarenergie
anwachsende Daten- 93 Exponat des Monats
mengen fordern die Der klingende Christbaumständer
www.spektrum.de/hits
www.spektrum.de/hits

Informatik heraus »Gloriosa«

94 Vorschau
Wissenschaft
Datengetriebene
1 1 /6

www.spektrum.de
Universum
Das simulierte
virtuellen Streckbank
Biomoleküle auf der
Intelligenz
Wissen für die Künstliche

5
11/2
leserbriefe

Jen Christiansen
Antwort der Redaktion:
Der Radius des sichtbaren Univer-
sums (der Beobachtungshori-
zont) ist gegeben durch die
größte Entfernung, aus der uns
Licht gerade noch erreichen
kann. Wäre mit dem Urknall vor
Bei mehreren Gruppen der Panzerfische 13,7 Milliarden Jahren das Univer-
entwickelten sich die Jungen in der Mutter. sum genau so, wie es heute ist, also
Hier eine Rekonstruktion von Materpiscis Embryo ohne kosmische Expansion, auf einen
Schlag entstanden, dann wäre unser Be-
obachtungshorizont tatsächlich gerade
Innere Befruchtung von Vorteil 13,7 Milliarden Lichtjahre groß. Doch in
Die vor 375 Millionen Jahren lebenden Panzerfische praktizierten als Erste Wirklichkeit folgte auf den Urknall zu-
die Kopulation, fand der australische Paläontologe John A. Long anhand von erst eine immens starke Expansion,
Fossilien heraus. (»Die Pioniere des Sex«, Oktober 2011, S. 30) kosmische Inflation genannt, und seit-
her eine weiter andauernde gemächli-
Siglinde Uhlmann, Nidda: Der Vorteil innerer Befruchtung für die größere chere, aber beschleunigte Ausdehnung
Radiation (siehe S. 35 des Beitrags) könnte auch darin gelegen haben, dass bei des Weltalls.
äußerer Befruchtung eine Isolation der neu entstehenden Genpools schwer Von dieser Expansion wurde das von
zu erreichen ist, wenn eine größere Population im Wasser gleichzeitig ab- den frühesten und fernsten Quellen
laicht. Das kann die Entstehung neuer Arten erschweren. ausgehende Licht quasi mitbefördert
(etwa wie ein Fußgänger, der auf einem
rasch gedehnten Gummilaufband da-
Wie weit können Wolfgang Grimm, Darmstadt: Im Arti- hinschreitet) und legte die viel größere
Astronomen sehen? kel heißt es, dass Astronomen rund 42 Entfernung von rund 42 Milliarden
Milliarden Lichtjahre weit sehen kön- Lichtjahren zurück. Dieser Wert ergibt
Der Kosmologe George Ellis bezweifelte, nen. Bisher dachte ich immer, der sicht- sich aus dem kosmischen Standardmo-
dass Forscher die Existenz anderer bare Bereich habe einen Radius von dell, wenn man bei der Berechnung des
Universen jemals nachweisen können. etwa 13 Milliarden Lichtjahre, was durch Beobachtungshorizonts die anfängli-
(»Multiversum in Beweisnot«, Novem­ das Alter des Universums von etwas che kosmische Inflation und die seithe-
ber 2011, S. 36) über 13 Milliarden Jahre gegeben ist. rige Expansion berücksichtigt.

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6 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Dezember 2011


Heikle Endlagerfrage Antwort des Autors:
Solange das Endlagerproblem für ra- folgen sie uns
Wegen des ungelösten Endlagerpro­ dioaktive Abfälle weltweit nicht befrie- im internet
blems befürwortete Michael Springer digend gelöst ist, landen sie in Zwi-
den Ausstieg aus der Kernenergie. schenlagern. Das ist der gegenwärtige
(»Lehren aus Fukushima«, Oktober Stand der Dinge. In einzelnen Ländern
2011, S. 20) wie Schweden gibt es oberflächennahe
www.spektrum.de/facebook
Endlager, tiefere sind geplant. Doch in
Peter Franke, Celle: Herzlichen Dank den meisten Staaten ist das Problem
für Ihren Beitrag, der mir in oft wieder- der Endlagerung offen. Bei weiterlau- www.spektrum.de/youtube
kehrenden Diskussionen »Atomkraft: fendem Betrieb von Kernkraftwerken

Ja oder Nein« einen nachhaltige Hilfe stößt die Zwischenlagerung naturge-
zu meiner 1985 getroffenen Ablehnung mäß an Grenzen. Dieses Problem wird www.spektrum.de/studivz
dieser Technologie an die Hand gege- durch den Hinweis auf bereits vorhan-
ben beziehungsweise in den Mund ge- dene radioaktive Abfälle nicht kleiner.
legt hat. Denn genau die Argumenta- Auch der Hinweis auf die Giftigkeit
www.spektrum.de/twitter
tion im letzten Absatz Ihres Beitrags, mancher chemischer Abfälle mindert
war für mich Anlass, jegliche Tätigkeit das spezielle Problem mit der Strah-
als Sachverständiger beim Bau von lung und Wärmeentwicklung radio­
Kernkraftwerken weltweit oder aber für aktiver Substanzen nicht. Gewiss löst beitsstellen Hannover und Münster erst
zerstörungsfreie Werkstoffprüfungen ein Ausstieg aus der Kernenergie für seit 1985 an diesem Unternehmen mit,
während der ersten Revisionsprüfun- sich genommen das Endlagerproblem aber immerhin sind von den 30 seit 1985
gen in Neckarwestheim zu beenden. nicht; aber er verschärft es wenigstens erschienenen Bänden 25 von der Göttin-
nicht immer weiter. Vergleichsweise ger Akademie erarbeitet worden. Ange-
Axel Sigwart, per E-mail: Wenn Herr würde man wohl kaum das hohe Aus- sichts dieses Umstands irritiert es mich
Springer meint, dass der Ausstieg aus maß einer bereits vorhandenen Ver- einigermaßen, dass der Leser des Bei-
der Atomenergie richtig sei wegen der schuldung als Argument für weiteres trags den Eindruck gewinnen muss, die
ungelösten Endlagerfrage, so sollte er Schuldenmachen heranziehen. Leibniz-Edition sei eine Angelegenheit
daran denken, dass die Behandlungs- ausschließlich der Berlin-Brandenbur­
frage des Abfalls unabhängig von der Göttinger Akademie gischen Akademie der Wissenschaften.
Nutzung betrachtet und beantwortet Das ist mitnichten der Fall.
werden muss. Insofern können wir gar
maßgeblich beteiligt
nicht aussteigen, da auch die Bundesre- Der Wissenschaftshistoriker Eberhard Erratum
publik Deutschland radioaktive Abfälle Knobloch beschrieb die Herkulesauf­ »›Schwarmintelligenz‹ macht Windrä­
hat und damit umgehen muss. gabe, der Öffentlichkeit das umfassen­ der effizienter«, Oktober 2011, S. 9
Außerdem ist die Behauptung, es de Werk von Leibniz zugänglich zu Die angegebene Referenz ist falsch; rich-
gäbe noch nirgends eine akzeptable Lö- machen. (»Die Kunst, Leibniz heraus­ tig ist J. Renewable Sustainable Ener­gy 3,
sung für das Endlagerproblem, so nicht zugeben«, September 2011, S. 48) 043104, 2011
richtig. In Finnland, in der Schweiz und
in Schweden werden gerade Lösungen Prof. Werner Lehfeldt, Akademie der
umgesetzt. Der Schlusssatz mit seiner Wissenschaften, Göttingen: Es freut
rhetorischen Frage ist doppelt naiv. Die mich, dass »Spektrum der Wissenschaft« B r i e f e a n d i e r e da k t i o n
chemische Industrie erzeugt abertau- seine Leser mit der Gesamtausgabe der … sind willkommen! Schreiben Sie uns auf
sende Tonnen giftigen Abfalls, der tat- Schriften und der Briefe Gottfried Wil- www.spektrum.de/leserbriefe
sächlich über geologische Zeiträume helm Leibniz’ bekannt gemacht und da- oder schreiben Sie mit Ihrer kompletten
Adresse an:
hinweg gefährlich bleiben wird, wenn für einen so hervorragenden Fachmann
man ihn nicht behandelt. Radioaktiver wie Professor Eberhard Knobloch ge- Spektrum der Wissenschaft
Abfall zerfällt von allein und müsste le- wonnen hat. Ich kann Ihnen aber nicht Leserbriefe
Sigrid Spies
diglich auf das Niveau einer Uranerz- verhehlen, dass mich ein Umstand bei
Postfach 10 48 40
mine gesenkt werden, was durchaus der Lektüre dieses Beitrags sehr betrübt 69038 Heidelberg
mit bestimmten Techniken möglich hat. Es wird nämlich in dem Artikel mit E-Mail: leserbriefe@spektrum.com
ist! So würde ein Abfall entstehen, der keinem Wort erwähnt, dass die Akade-
Die vollständigen Leserbriefe und Antwor-
in wenigen hundert Jahren – also in mie der Wissenschaften zu Göttingen
ten der Autoren finden Sie ebenfalls unter
überschaubarer Zeit – irdischen Ver- sehr maßgeblich an der Leibniz-Edition www.spektrum.de/leserbriefe
hältnissen gleichkommt. beteiligt ist. Zwar wirkt sie mit ihren Ar-

www.spektrum.de 7
spektrogramm

KOSMOLOGIE

Reionisation des Weltalls verlief schneller als gedacht

D ie ersten Sterne und Galaxien im


Universum waren von einem
Nebel aus elektrisch neutralem Wasser-
Galaxien unter die Lupe genommen.
Ergebnis: Der Prozess vollzog sich
deutlich schneller als bisher vermutet.
die Lyman-alpha-Linie, ein Leuchten
im UV-Bereich, das von Wasserstoff
erzeugt wird. Je weiter die Linie zum
stoff umgeben. Er schluckte das ultra­ Die Forscher nutzten das Very Large roten Ende des Spektrums hin ver­
violette Licht der Himmelskörper, Telescope der Europäischen Südstern- schoben ist, desto entfernter sind die
wurde dabei aber in Ionen zerlegt und warte (ESO) in Chile, um fünf sehr weit Galaxien und damit zeitlich umso
infolgedessen allmählich durchsichtig entfernte Galaxien zu beobachten. Von näher am Urknall. Und je schwächer
für UV-Licht. Astronomen um Laura der Erde aus betrachtet erscheinen das Leuchten, umso mehr wurde es auf
Pentericci vom italienischen INAF diese Sterninseln heute so, wie sie 780 dem Weg zur Erde von Wolken aus
Osservatorio Astronomico di Roma bis 1000 Millionen Jahre nach dem neutralem Wasserstoff verschluckt.
haben nun den Zeitablauf dieser so Urknall ausgesehen haben. In dem Aus diesen Zusammenhängen ergab
genannten Reionisation rekonstruiert Strahlungsspektrum der Galaxien sich, dass das Universum in einem
und dazu einige sehr früh entstandene untersuchten die Forscher vor allem Alter von 780 Millionen Jahren noch
viel neutralen Wasserstoff enthielt: Er
Illustration: ESO

erfüllte damals zwischen 10 und 50


Künstlerische Darstellung Prozent des intergalaktischen Raums.
von Galaxien während der Schon 200 Millionen Jahre später war
Zeit der Reionisation. seine Menge etwa auf das heutige
Damals, weniger als eine Niveau abgesunken. Laut den neuen
Milliarde Jahre nach dem Messungen stammte das UV-Licht, das
Urknall, enthielt das die Reionisation verursachte, wenigs-
Universum noch viel tens zum Teil von massereichen Ster-
neutralen Wasserstoff, der nen der ersten Generation, deren Exis­-
das UV-Licht der Sterne tenz bislang nur theoretisch belegt ist.
schluckte. The Astrophysical Journal, im Druck

GENETIK

Trevor Hurst, Museum of London


Das Erbgut des Schwarzen Tods ist entziffert

M illionen Menschen starben im


14. Jahrhundert am »Schwarzen
Tod«. Jetzt haben Forscher um Johan-
Der Analyse zufolge unterscheiden
sich die Gene, von denen die Virulenz
des Bakteriums abhängt, kaum bei den
nes Krause von der Universität Tübin- heutigen und den mittelalterlichen
gen und Hendrik Poinar von der Mc­- Pesterregern. Dass der Schwarze Tod so
Master University in Hamilton (Kana- verheerend zuschlug, sei deshalb nicht
da) das Erbgut des mittelalterlichen allein auf besondere genetische Eigen-
Pestbakteriums Yersinia pestis ent- schaften des Erregers zurückzuführen,
schlüsselt. Das genetische Material folgern die Forscher. Vielmehr hätten
stammte aus fünf Zähnen von Londo- auch Klimaverhältnisse, Übertragungs-
ner Pestopfern aus den Jahren 1348 bis wege, die Krankheitsanfälligkeit der
1350 (Video: www.spektrum.de/schwar­ damaligen Bevölkerung, soziale Bedin-
zertod). Beim Vergleich mit heutigen gungen und die Wechselwirkung mit
Typen des Bakteriums, die den Men- anderen Krankheiten eine bedeutende Londoner Pestopfer auf dem Friedhof East
schen infizieren, zeigte sich, dass sie Rolle gespielt. Smithfield
wohl alle von einem Erreger abstam- Erst wenige Monate zuvor hatten
men, der während des Schwarzen Tods die Wissenschaftler in Zähnen und
verbreitet wurde – jenes Massenster- Knochen der Londoner Pestopfer ein tatsächlich von diesem Erreger hervor-
bens, das zwischen 1347 und 1351 Plasmid nachgewiesen, das für Yersinia gerufen wurde und nicht, wie von man­-
wütete und 30 bis 50 Prozent der pestis charakteristisch ist. Damit chen vermutet, von einem anderen.
europäischen Bevölkerung dahinraffte. belegten sie, dass der Schwarze Tod Nature 478, S. 506 – 510, 2011

8 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Dezember 2011


Autoren: Antje Findeklee, Laura Hennemann, Jan Osterkamp, Maike Pollmann, Daniela Zeibig

ECHOORTUNG

Fledermäuse rufen mit superschnellen Muskeln

Lasse Jakobsen und Coen Elemans, Syddansk Universitet


S pezielle Muskeln im Kehlkopf ermöglichen es Fleder-
mäusen, ihre Beute akustisch zu orten. Sie erlauben
eine extrem rasche Folge von Peillauten – allerdings nur
bis zu etwa 200 pro Sekunde.
Wenn eine Fledermaus ein fliegendes Insekt jagt, stößt
sie fortwährend Ultraschallrufe aus, um es zu lokalisie-
ren. Je näher sie ihrer Beute kommt, desto häufiger ruft
sie, um die Ortsinformation immer rascher zu aktuali­
sieren. Wasserfledermäuse (Myotis daubentonii) feuern
in der abschließenden »Buzz«-Phase, kurz bevor sie das
Insekt erreichen und fangen, bis zu 190 Peillaute pro
Sekunde in Richtung Beute ab.
Coen Elemans von der Universität von Süddänemark Wasserfledermaus im Anflug auf ein Beutetier, mehrfach
in Odense und seine Kollegen haben nun herausgefun- belichtet. Kurz bevor sie das Opfer ergreift, ortet sie dieses mit
den, was die Rufhäufigkeit nach oben begrenzt: spezielle einer extrem raschen Folge von Peillauten.
Muskeln im Kehlkopf der Tiere, die höchstens 200-mal
pro Sekunde kontrahieren können. Solche »superschnel-
len« Muskeln kennt man bisher nur von einigen Reptili- Deshalb stoßen Fledermäuse den nächsten Laut im­mer
en-, Vogel- und Fischarten; mit den Fledermäusen wur- erst aus, wenn das Echo des vorigen eingetroffen ist. Doch
den sie nun erstmals bei einem Säugetier entdeckt. unter diesem Aspekt wären sogar 400 Rufe pro Sekunde
Die Schallgeschwindigkeit ist dagegen nicht der limitie­ möglich, fanden die Forscher heraus. Auch die neuronale
rende Faktor. Denkbar wäre es zwar – träfe das Echo eines Verarbeitung der Echoinformation im Gehirn der Fleder-
Rufs erst während der folgenden Rufe oder nach ihnen mäuse erlaubt eine höhere Lautfolge während der Buzz-
ein, könnte das Tier die verschiedenen Echos nicht mehr Phase, als die superschnellen Muskeln erzeugen können.
eindeutig zuordnen und die Peilung würde ungenau. Science 333, S. 1885 – 1888, 2011

ATMOSPHÄRENCHEMIE

Arktisches Rekord-Ozonloch dank Klimawandel

I m Frühjahr 2011 erreichte das Ozon-


loch am Nordpol erstmals Ausmaße,
wie sie Mitte der 1980er Jahre in der
stark abkühlte. Dadurch konnten sich
mehr polare stratosphärische Wolken
bilden, in denen mit dem Aufgehen
NIVR / FMI, Ozone Monitoring Instrument (OMI)

Antarktis gemessen wurden. Forscher der Sonne nach dem Polarwinter die
um Markus Rex vom Alfred-Wegener- Ozonzerstörung einsetzt.
Institut für Polar- und Meeresfor- Der Klimawandel hat zu diesen
schung in Bremerhaven haben jetzt die Phänomenen beigetragen. Denn die
Gründe dafür analysiert. überdurchschnittliche Erwärmung der
Verantwortlich für den noch nie da untersten Atmosphärenschicht (der
gewesenen Ozonabbau war demnach Troposphäre) beruht darauf, dass hier
ein ungewöhnlich lang anhaltender Treibhausgase mehr Wärmestrahlung Das Ozonloch über der Arktis (violetter
und stabiler Polarwirbel über der zurückhalten – wodurch weniger Bereich, Mitte), gemessen im April 2011
Arktis, der den Austausch mit wärme- Wärme in die höheren Schichten
ren Luftmassen bis in den April hinein gelangt. Zugleich strömt mehr Kohlen-
verhindert hatte. Hinzu kam, dass die dioxid in die Stratosphäre, wo es – an- den höheren Atmosphärenschichten,
Stratosphäre (die zweitunterste Atmo- ders als in der Troposphäre – nicht was wiederum die Entstehung eines
sphärenschicht) über der Arktis im erwärmend, sondern abkühlend wirkt. Ozonlochs fördert.
Winter 2010/2011 außerordentlich Beides mindert die Temperaturen in Nature 478, S. 469 – 475, 2011

www.spektrum.de 9
spektrogramm
Aktuelle Meldungen und
Archäologie Hintergründe finden Sie auf

Farbspiele vor 100 000 Jahren

S teinzeitmenschen waren offenbar


schon vor 100 000 Jahren geübt ­
darin, Ocker zu farbigen Pasten zu ver­-
hannesburg, Südafrika) nachgewiesen
haben. Das Team legte eine prähistori-
sche Malwerkstatt in der südafrikani-
gerungen bedeckt, deren Alter die For­-
scher mit optisch stimulierter Lumi-
neszenz (OSL) und anderen Methoden
arbeiten. Hierfür benutzten sie Werk- schen Blombos-Höhle frei, die mehrere auf rund 100 000 Jahre bestimmten.
zeuge aus Stein und Knochen sowie zehntausend Jahre älter ist als zuvor Vermutlich haben die Steinzeitmen-
Muschelschalen, wie Wissenschaftler bekannte, vergleichbare Fundstätten. schen das färbende Gestein auf Quar-
um Christopher Henshilwood von der Bei den Grabungen kamen zwei zitplatten zerrieben und mit Steinen
University of the Witwatersrand (Jo- steinzeitliche Werkzeugsätze zu Tage, zertrümmert, um feines rotes Pulver
die dazu dienten, Ocker zu verarbeiten zu gewinnen. Anschließend vermisch-
Christopher Henshilwood / Science
und aufzubewahren. Sie enthielten ten sie die Substanz mit gemahlenen
Schalen von Seeohrschnecken (Haliotis Säugetierknochen, Kohle und Flüssig-
midae), Ocker, Knochenstäbchen, Kohle, keit und füllten sie zur Lagerung in die
Schleif- und Hammersteine. Beide Muschelschalen. Ein Knochenstäbchen
Werkzeugsätze waren mit Sandabla­ diente wohl dazu, die Mixtur umzu-
rühren und aus der Muschel herauszu-
bekommen. Wofür die Menschen
Einer der beiden steinzeitlichen Werkzeug- damals die farbige Paste verwendeten,
sätze aus der Blombos-Höhle. Ein runder ist unbekannt. Möglicherweise, speku-
Quarzitstein, wahrscheinlich zum Zertrüm- lieren die Forscher, bemalten sie damit
mern und Zermahlen von Ocker, ruht in Gegenstände oder sich selbst – sei es
einer Muschelschale, in der Ockerpaste zu Schmuckzwecken, um ein Kunst-
aufbewahrt wurde. Wie kräftig die Farbe werk zu gestalten oder eine Schutz-
dieser Mixtur war, lassen die Ockerreste schicht aufzutragen.
links unten im Bild erahnen. Science 334, S. 219 – 222, 2011

ZELLBIOLOGIE

Hefezellen als Golfbälle

J apanische Wissenschaftler haben


eine Art winzigen Golfschläger
konstruiert, um damit Hefezellen von
die Haftung nur um wenige Mikronew-
ton und damit deutlich weniger als
zwischen toten und lebenden Zellen.
Zustand einer einzelnen Zelle rasch,
quantitativ und ohne die sonst üb­
lichen aufwändigen Färbemethoden
einer Oberfläche »abzuschlagen«. Die Für ihre Experimente hatten die gemessen werden könne.
Technik erlaubt es festzustellen, ob Wissenschaftler aus der Blattfeder Measurement Science
einzelne Zellen tot oder lebendig sind. (Cantilever) eines Rasterkraftmikros- and Technology 22, 115802, 2011
Wie stark eine Zelle mittels Adhä­ kops einen 240 Mikrometer langen
sion auf dem Untergrund haftet, hängt biegsamen Hebel – den »Golfschlä-
Yajin Shen et al., Nagoya University, Japan

von der Zahl chemischer Bindungsstel- ger« – hergestellt, an dessen Ende eine
Mikro-
len auf ihrer Oberfläche ab – zumin- winzige Pyramide mit gekappter Golfschläger
dest laut Theorie. Tote Zellen besitzen Spitze saß. Mit dieser als Schlägerkopf
demnach weniger Bindungsstellen und drückten sie seitlich gegen Zellen, die
haften schlechter. Die Forscher um am Untergrund hafteten. Sie ermittel-
Yajing Shen von der Nagoya University ten, wie stark sich der Hebel verbog,
in Japan haben dies nun für Hefezellen und berechneten daraus die Kraft, die
Hefezelle
bestätigt. Bei lebenden Zellen ermittel- zum Ablösen jeder Zelle nötig war.
ten sie eine Adhäsionskraft von rund Mit Hilfe des Farbstoffs Methylenblau 5 Mikrometer
19 Mikronewton, während es bei toten unterschieden sie dabei zwischen
etwa 6 Mikronewton waren. Auf ver- lebenden und toten Hefezellen. Ein winziger »Golfschläger« drückt seit­lich
schiedenen Oberflächen – Wolfram, Der Vorteil ihrer Methode, schreiben gegen eine Hefezelle, um sie vom Unter-
Gold und Indiumzinnoxid – variierte die Forscher, liege darin, dass der grund abzulösen.

10  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Dezember 2011


Bild des monats

Kleiner Verwandter des Tyrannosaurus

mit frdl. Gen. von Helmut Tischlinger

Ein solcher Glücksfund gelingt selten: Dieser 151 Millionen Jahre alte Raub­
saurier (Theropode) aus den Kalkschichten des Oberen Juras bei Kelheim ist
beinahe vollstän­dig erhalten und damit auch weltweit gesehen eine Rarität.
Das 72 Zentimeter lange Skelett eines Jungtiers lässt sogar noch minera-
lisierte Reste von Haut und haarähnlichen Protofedern erkennen – Merkmale,
die vor allem von Dinosaurierfossilien aus China bekannt sind. Aus ande-
ren Fundstätten gibt es dafür bislang nur wenige Nachweise.

forschung aktuell

Nobelpreis für Physik

Das Universum startet durch


1998 entdeckten Kosmologen völlig unerwartet, dass sich die Ausdehnung des Kosmos nicht verlangsamt,
sondern beschleunigt. Dafür erhielten sie nun den Nobelpreis für Physik.

von Thomas Bührke

rühmtesten Nobelpreisträgers: Albert


Roy Kaltschmidt, Lawrence Berkeley National Lab

Einstein. Dieser hatte 1915 im Rahmen


Tim Wetherell, Australian National University

seiner ­allgemeinen Relativitätstheorie


herausgefunden, dass der uns umge­

Will Kirk, Johns Hopkins University


bende Raum nicht starr und unverän­
derlich ist, sondern sich durch die An­
wesenheit von Materie verbiegen lässt.
Als die beiden Mathematiker Georges
Lemaître in Belgien und Alexander
Friedmann in Russland dann unabhän­
1988 begann Saul Perlmutter (links) vom kalifornischen Lawrence Berkeley National gig voneinander Einsteins Formeln auf
Laboratory, im Rahmen des Supernova Cosmology Project die Expansion des Univer­ das Universum anwandten, stießen sie
sums zu vermessen. Dasselbe Ziel verfolgte Brian P. Schmidt (Mitte) von der Austra­ auf ein erstaunliches Ergebnis. Abhän­
lian National University bei Canberra ab 1994. Seinem High-Redshift Supernova gig von der Materiedichte im Kosmos
Search Team gehörte auch Adam G. Riess vom Space Telescope Science Institute in dehnt sich das Universum entweder
Baltimore an. Übereinstimmend kamen beide Gruppen 1998 zu dem überraschenden immer weiter aus oder zieht sich eines
Ergebnis, dass das Universum beschleunigt expandiert. Tages wieder zusammen.
Für Einstein war die Vorstellung ei­
nes sich verändernden Universums al­

S chon lange wissen Astronomen,


dass das Universum expandiert.
Doch sie glaubten, die Schwerkraft der
Schmidts Team spielte dabei Adam G.
Riess eine entscheidende Rolle (siehe
»Das Tempo der Expansion« von Adam
lerdings inakzeptabel, weshalb er in die
Formeln seiner Theorie kurzerhand eine
so genannte kosmologische Konstante
Materie würde den Vorgang allmählich G. Riess und ­Michael S. Turner, Spek­ einführte, die wie eine Antischwerkraft
verlangsamen. Genau das wollten die trum der Wissenschaft 7/2004, S. 42; wirkt und für ein statisches Universum
internationalen Forscherteams um Saul www.spektrum.de/artikel/839966). sorgt. Als in den 1930er Jahren immer
Perlmutter einerseits sowie um Brian P. Dann kam alles anders. Unabhängig klarer wurde, dass das Weltall eben doch
Schmidt andererseits in den 1990er voneinander reichten die beiden Ar­ expandiert, verwarf er sie zwar wieder.
Jahren durch Messungen belegen. In beitsgruppen 1998 ihre Erkenntnisse Doch seit einigen Jahren ist die kosmo­
bei zwei Fachzeitschriften ein. In einem logische Konstante erneut in der Dis­
Telefoninterview mit dem Nobelkomi­ kussion – und mit ihr die alten Fragen
gebremste Expansion
tausend Kilometern pro Sekunde

tee erinnert sich Schmidt: »Wir waren nach ihrer Ursache.


200
Fluchtgeschwindigkeit in

anfangs sehr erschrocken über dieses 1988 hatte Saul Perlmutter vom Law­
ferner, lichtschwächer
Ergebnis und fanden es zu verrückt, um rence Berkeley National Laboratory und
150 näher, lichtstärker wahr zu sein.« Denn die Expansion des der University of California das Super­
beschleunigte
Expansion Universums schien sich den Daten zu­ nova Cosmology Project initiiert. Seine
100 folge nicht zu verlangsamen, sondern Idee: Er wollte die Expansion des Kos­
Bryan Christie Design

vielmehr zu beschleunigen! Für dieses mos anhand bestimmter explodieren­


50
Ergebnis, das weit reichende Folgen für der Sterne studieren. Solche Supernovae
die Kosmologie hat, ging die eine Hälfte vom Typ Ia leuchten unvermittelt auf,
2,5 5,0 7,5 10,0 12,5 des Nobelpreises für Physik nun an den ihre Helligkeit steigt innerhalb von Ta­
Entfernung in Milliarden Lichtjahren US-Amerikaner Perlmutter. Die andere gen an und fällt dann wieder ab.
In einem beschleunigt expandierenden Hälfte teilen sich der US-Australier Die Astronomen gehen davon aus,
Universum erscheinen weit entfernte Schmidt und der US-Amerikaner Riess. dass diese Supernovae immer etwa die­
Supernovae vom Typ Ia lichtschwächer als Mit ihrer Entdeckung treten die drei selbe Leuchtkraft besitzen, so wie Glüh­
in einem abgebremsten Universum. Forscher in die Fußstapfen des wohl be­ birnen mit derselben Leistung. Je licht­

12  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Dezember 2011


www.rororo.de

Radio: NRAO / AUI / NSF / GBT / VLA, Alan Dyer et al.; optisch: Middlebury College, Frank Winkler  und NOAO / AURA / NSF / CTIO & DSS
Röntgen: NASA / CXC / Rutgers, G. Cassam-Chenai, J. Hughes et al.;

Stephen Hawking
entschlüsselt
das Universum

Im Jahr 1006 n. Chr. leuchtete ein neuer »Stern« am Erdhimmel auf: die Überreste der
Supernova SN 1006 vom Typ Ia im Sternbild Wolf – die womöglich hellste Supernova, von
der Menschen je Notiz nahmen. Die drei Laureaten nutzten in den 1990er Jahren beson-
ders weit entfernte Supernovae, um die Expansion des Universums zu vermessen.

schwächer eine Supernova erscheint, und der Helligkeit, mit der uns die Su­
desto weiter ist sie also entfernt. Super­ pernova am Himmel erscheint, lässt
novae vom Typ Ia zählen daher zu den sich dann ihre absolute (intrinsische)
»Standardkerzen«, mit denen sich das Helligkeit ermitteln. Um im Bild zu
Universum vermessen lässt. Andere bleiben: Kenne ich die Entfernung ei­
Standardkerzen – wie etwa die Delta- ner Glühbirne und messe ihre schein­

© Stewart Cohen Pictures


Cephei-Sterne, die Edwin Hubble nutz­ bare Helligkeit, dann kann ich errech­
te, um die Fluchtgeschwindigkeit von nen, ob es sich um eine 60- oder
Galaxien zu vermessen – sind nicht hell 100-Watt-Birne handelt. Solche Unter­
genug, als dass man sie noch in einer suchungen haben zwar gezeigt, dass Su­
Entfernung von Milliarden von Licht­ pernovae vom Typ Ia eben doch nicht
jahren beobachten könnte. Supernovae intrinsisch gleich hell sind. Die Astro­ Aus dem Englischen von Hainer Kober
€ 14,99 (D) / € 15,50 (A) / sFr. 21,90 (UVP)
hingegen schon. Mit ihnen können die nomen haben aber Kriterien gefunden,
Forscher tief in den Raum und damit mit denen sich diese Unterschiede
auch weit in die Zeit zurückblicken. ­korrigieren lassen, und so ihr Verfahren
In der Praxis funktioniert das Ver­ ­geeicht. Zudem berücksichtigen sie
fahren so: Zunächst suchen die For­ ­wei­tere Effekte, etwa die Lichtabsorp­ Wann und wie ist das Universum ent-
standen? Warum gibt es uns? Warum
scher möglichst nahe gelegene Super­ tion durch Staubwolken zwischen der
gibt es überhaupt etwas und nicht
novae vom Typ Ia in Galaxien, deren Erde und einer Supernova. einfach nichts? Stephen Hawking und
Entfernung dank anderer Methoden Um zu ermitteln, wie sich die Expan­ Leonard Mlodinow präsentieren in ihrer
gut bekannt ist. Aus dieser Entfernung sionsgeschwindigkeit des Universums klaren und bilderreichen Sprache die
jüngsten Antworten der Wissenschaft
auf die ersten und letzten Fragen
www.spektrum.de unserer Existenz. 13
forschung aktuell

NASA
in Vielfachen der heutigen Größe 4 Einsteins Relativitätstheorie zufolge sind Europäischen Südsternwarte den der­
relative Größe des Universums

vier Weltmodelle möglich. Wie sich das zeitigen Stand zusammen. Darüber hi­
3 Universum tatsächlich entwickelt, hängt naus führten weitere Beobachtungen
von seiner Materiedichte sowie der Men- zu demselben Resultat. Dazu zählen die
ge an Dunkler Energie ab. Beispielsweise Untersuchung der kosmischen Hinter­
2
könnte sich die Expansion eines Tages grundstrahlung mit dem Weltraum­
umkehren und das Universum auf einen teleskop WMAP und die Entwicklung
1
Punkt zusammenschrumpfen (orange- von Galaxienhaufen. »Diese Ergebnisse
farbene Kurve). Heute favorisieren haben unsere Schlussfolgerungen aus
0 Kosmologen die Hypothese, dass sich den Supernova-Beobachtungen ent­
–10 heute 10 20 30
Milliarden Jahre das Universum bis in alle Ewigkeit scheidend unterstützt«, so Leibundgut.
beschleunigt ausdehnt (rote Kurve). Manche Physiker führen die Dunkle
Energie auf eine Eigenschaft des Vaku­
ums zurück. Denn der Quantentheorie
seit dem Urknall entwickelt hat, müs­ nis bereits abzeichnete, blieb Perlmutter zufolge entstehen auch im leeren Raum
sen die Forscher möglichst viele Super­ mit seinen Schlussfolgerungen damals unablässig so genannte virtuelle Teil­
novae vom Typ Ia in unterschiedlichen noch vorsichtig. chen und verschwinden nach Bruchtei­
Entfernungen finden und deren Hellig­ Sein Verfahren funktionierte aber so len einer Sekunde wieder. Mit diesem
keiten bestimmen. Dann kommt ein gut, dass Brian P. Schmidt von der Aus­ Phänomen ist wiederum eine so ge­
zweites Phänomen ins Spiel. Wegen der tralian National University in Weston nannte Vakuumenergie verbunden.
Expansion des Raums dehnt sich die Creek und Adam G. Riess, der an der ­Deren Abschätzung führt allerdings zu
Wellenlänge des Lichts einer Supernova Johns Hopkins University und dem einem Wert, der um mehr als 100 Zeh­
auf seiner Reise zur Erde. Diese so ge­ Space Telescope Science Institute in nerpotenzen über der tatsächlichen
nannte Rotverschiebung nimmt mit Baltimore forscht, 1994 ein ähnliches Größe der Dunklen Energie liegt – die
der Distanz zu, denn je weiter eine Su­ Projekt mit dem Namen High-Redshift wohl größte bekannte Unstimmigkeit
pernova entfernt ist, desto stärker hat Supernova Search starteten. Im Früh­ in der gesamten Physik.
sich das Universum zwischen dem Aus­ jahr 1998 reichte die Gruppe um Riess Manche Theoretiker machen auch
senden des Lichts und dessen Ankunft und Schmidt eine Veröffentlichung auf Energiefelder verantwortlich, die Bruch­
bei uns vergrößert. der Basis von 16 Supernovae ein, Perl­ teile von Sekunden nach dem Urknall
Hätte sich das Universum seit dem mutters Team folgte im September und entstanden sein könnten. Schon da­
Urknall mit konstanter Geschwindig­ präsentierte die Auswertung von 42 Su­ mals war es zu einer kurzen Phase ex­
keit ausgedehnt, so würde die schein­ pernovae. Beide Gruppen waren zum trem stark beschleunigter Expansion
bare Helligkeit der Supernovae Hand in selben Ergebnis gekommen: Die Hellig­ gekommen.
Hand mit dem Wert der Rotverschie­ keiten der Objekte lagen um bis zu 25 »Überzeugend sind diese Vorschläge
bung gehen. Tatsächlich aber erschie­ Prozent unter dem erwarteten Wert. aber alle nicht«, sagt Norbert Strau­
nen die Sternexplosionen schwächer, mann, emeritierter Professor für theo­
als es die Rotverschiebung erwarten Wie Wasserdampf retische Physik der Universität Zürich.
ließ, waren also weiter entfernt. Daraus im Kessel »Die Dunkle Energie«, meint der pro­
wiederum folgerten die Kosmologen: Nach heutigem Wissen bremste die funde Kenner der Relativitätstheorie,
Die Ausdehnung des Universums muss ­Materie die Ausdehnung des Raums »ist eines der grundlegenden Probleme
sich im Lauf der Zeit beschleunigen. ­zu­nächst­tatsächlich. Nach einigen Mil­ der modernen Physik.« Auch dieser
Perlmutters Projekt war sehr auf­ li­arden Jahren, etwa der Hälfte des heu­ Umstand trug wohl zur Entscheidung
wändig, denn Supernovae sind selten. ­tigen Weltalters, setzte jedoch eine Be­ des Nobelkomitees bei.
Pro Jahrtausend treten in einer durch­ schleunigung ein, und seitdem expan­ Wenige Stunden nach der Preisver­
schnittlichen Galaxie nur wenige davon diert das Universum mit wachsender kündung empfahl das Wissenschaftsko­
auf. Außerdem musste das Team die Ex­ Geschwindigkeit. mitee der Europäischen Weltraumorga­
plosion ab einem möglichst frühen Zeit­ Statt von einer kosmologischen Kon­ nisation ESA übrigens den Bau eines
punkt vermessen. Es lichtete darum mit stanten sprechen Forscher heute allge­ neuen Weltraumteleskops: Euclid. 2019
einem Teleskop jede Nacht ein großes meiner von Dunkler Energie. Wie Was­ soll es ins All starten und dann aus­
Himmelsfeld ab, in dem sich mehrere serdampf in einem Kessel treibe sie das schließlich der Erforschung der Dunk­
tausend Galaxien befanden, und hoffte Universum auseinander. »Bis heute ha­ len Energie dienen.
auf Zufallsfunde. Auf diese Weise ent­ ben wir mehr als 1000 Supernovae ver­
deckten die Forscher bis 1994 sieben Su­ messen, und alle bestätigen das ur­ Thomas Bührke ist promovierter Astrophysiker.
pernovae. Obwohl sich in diesen weni­ sprüngliche Ergebnis«, fasst der Astro­ Seit 1990 arbeitet er als freier Wissenschafts-
gen Messdaten das unglaubliche Ergeb­ physiker Bruno Leibundgut von der journalist und Buchautor.

14  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Dezember 2011


Nobelpreis für Physiologie oder Medizin

Wachposten des Immunsystems


Der diesjährige Medizin-Nobelpreis geht an Bruce Beutler, Jules Hoffmann und Ralph Steinman. 
Die drei Immunologen haben mit ihrer Arbeit entscheidend zum Verständnis der körper-
eigenen Abwehr­ beigetragen und damit den Weg für bessere Impfstoffe und Therapien geebnet.

Von Stefanie Reinberger

macht hat, gehört zu seinen ganz gro­


ßen Leistungen«, sagt Gerold Schuler
vom Universitätsklinikum Erlangen,
der als junger Forscher im Labor des No­

University of California, Irvine


belpreisträgers arbeitete.
Scripps Research Institute

Université de Strasbourg

Steinman sollte Recht behalten. Sei­


ne Zellen erwiesen sich in Experimen­
ten als äußerst wirksame Stimulatoren
der T-Lymphozyten, der Schlüsselzel­
len der erworbenen Immunität. Darin
Bruce Beutler (links, Jahrgang 1957) und Jules Hoffmann (geboren 1941) entschlüssel­ übertrafen sie sogar die Makrophagen,
ten die zentrale Rolle der Toll-Rezeptoren und Toll-ähnlichen Rezeptoren bei der Ab­ denen diese Aufgabe bis dahin zuge­
wehr von Infektionen im Rahmen der angeborenen Immunantwort. Der 1943 gebore­ sprochen wurde. Nach und nach sam­
ne Ralph Steinman (rechts) entdeckte mit den so genannten dendritischen Zellen melte Steinman Beweise dafür, dass
wichtige Regulatoren des Immunsystems. Er starb am 30. September dieses Jahres. dendritische Zellen ganze Mikroben,
fremde Moleküle oder Bruchstücke von
defektem Gewebe aufnehmen und in

E in Nobelpreis für einen Toten – das


dürfte es nach den Statuten eigent­
lich gar nicht geben, denn diese höchste
dendritische Zellen, von dendron, dem
griechischen Wort für Baum. Diese
­Zellen sind heute Hoffnungsträger für
ihrem Inneren in kleine Schnipsel zer­
legen. Diese bieten sie dann an ihrer
Oberfläche auf speziellen molekularen
wissenschaftliche Auszeichnung wird die Behandlung bestimmter Tumor- Präsentiertellern den T-Zellen zur Be­
grundsätzlich nur Lebenden verliehen. erkrankungen (siehe Spektrum der gutachtung an. Nur so erkennen diese
Doch als das Komitee am 3. Oktober in ­Wissenschaft 4/2003, S. 38). Steinman den Feind überhaupt und können bei
Stockholm seine Entscheidung verkün­ selbst, so hieß es in einer Pressemittei­ Bedarf zum Angriff blasen.
dete, wussten die Juroren noch nicht, lung der Rockefeller University, habe
dass der Kanadier Ralph Steinman nur im Selbstversuch seinen Bauchspei­ Der Global Player der
wenige Tage zuvor, am 30. September, cheldrüsenkrebs unter anderem mit Immunantwort
den Kampf gegen seine Krebserkran­ Hilfe dieser dendritischen Zellen be­ Längst ist klar, dass dendritische Zellen
kung verloren hatte. In Stockholm steht handelt. Und tatsächlich lebte er deut­ nicht nur T-Zellen mobilisieren, son­
man zur einmal vergebenen Auszeich­ lich länger, als es nach seiner Diagnose dern auch B-Zellen, die Antikörper als
nung: Die Regelung sei vor allem getrof­ zu erwarten war. Ob der Forscher dies Waffen einsetzen, sowie natürliche Kil­
fen worden, um zu verhindern, dass der der speziellen Therapie verdankte, lässt lerzellen, die Bedrohungen direkt at­
Preis bewusst an bereits Verstorbene sich freilich kaum beweisen, war er tackieren. Außerdem schütten sie Bo­
verliehen wird. doch der einzige Proband bei diesem tenstoffe aus, die die Abwehrreaktion
Man könnte schon fast von einer Iro­ Experiment. steuern und ein immunologisches Ge­
nie des Schicksals sprechen, denn Stein­ Als Steinman seine Entdeckung der dächtnis entstehen lassen. Und sie sind
mans wissenschaftliche Arbeit legte dendritischen Zellen veröffentlichte, unverzichtbar dafür, dass das Immun­
den Grundstein für die Entwicklung war er davon überzeugt, dass es sich um system zwischen fremd und eigen zu
von Immuntherapien gegen Krebs und eine neue Untergruppe der weißen Blut­ unterscheiden lernt – auch das hatte
andere Krankheiten. Der Forscher von körperchen handelte. Sie seien ein Teil Steinman bereits früh beobachtet. Nur
der Rockefeller University in New York des Immunsystems, behauptete er – regen vollständig ausgereifte dendriti­
entdeckte 1973 neue bedeutende Mit­ und wurde von den meisten Kollegen sche Zellen die Abwehr an; in früheren
spieler der Immunabwehr. Auf Grund verlacht. »Dass er jahrzehntelang gegen Entwicklungsstadien begünstigen sie
ihrer verästelten Fortsätze nannte er sie diesen massiven Widerstand weiterge­ immunologische Toleranz.

www.spektrum.de 15
forschung aktuell

»Steinman hat mit den dendriti­ Mittels Fluoreszenzfärbetechnik sicht-

Jacques Banchereau, Baylor University


schen Zellen den Global Player der Im­ bar gemachte dendritische Zellen (grün) in
munantwort entdeckt«, so Schuler. Da­ Brustkrebsgewebe
mit gab er auch Ärzten ein mächtiges
Werkzeug an die Hand, etwa für die Im­
muntherapie gegen bestimmte Krebs­ zu sorgen, dass der Tumor überhaupt
arten. Prinzipiell soll das so funktionie­ empfänglich ist für die Behandlung
ren: Vorläuferzellen aus dem Patienten und sich nicht hinter einer Art Schutz­
reifen in Kulturschalen zu dendriti­ schild vor dem Immunsystem ver­
schen Zellen, die daraufhin mit Tumor- schanzt. Und natürlich müssen Wissen­
antigenen beladen werden – Molekü­ schaftler die Antigene mit Bedacht wäh­
len, die typisch sind für bestimmte len, damit sich die Abwehr nicht gegen
Krebszellen. Danach spritzt man die gesundes eigenes Gewebe richtet.
solchermaßen »scharfgemachten« Zel­ Allen Stolpersteinen zum Trotz prü­
len wieder in den Patienten, damit sie fen Wissenschaftler derzeit eine ganze
die Abwehrtruppen gegen den Krebs Reihe viel versprechender Therapie­ erkrankungen und Allergien. Andere,
mobilisieren. ansätze, etwa gegen Brustkrebs, Darm­ darunter Schuler, suchen nach neuen
Ein guter Plan – doch die Sache ist krebs, schwarzen Hautkrebs und Hirn­ Wegen, die dendritischen Zellen geziel­
nicht ganz ohne: Nur vollständig aus­ tumoren. Die amerikanische Food and ter scharfzumachen.
gereifte und richtig aktivierte dendriti­ Drug Administration gab im vergange­ Ganz auf sich allein gestellt können
sche Zellen führen zum Ziel. Andern­ nen Jahr bereits grünes Licht für einen aber auch die dendritischen Zellen
falls besteht die Gefahr, dass sie immu­ solchen Impfstoff gegen Prostatakrebs. nicht arbeiten. So empfangen sie bei­
nologische Toleranz vermitteln und Außerdem versuchen Forscher, die Di­ spielsweise Signale von den Zellen der
den Krebs damit sogar noch fördern. rigenten des Immunsystems für den angeborenen Immunantwort, der ers­
Außerdem gilt es – etwa durch Kombi­ Kampf gegen HIV zu gewinnen, aber ten Verteidigungsfront des Körpers.
nation mit anderen Therapien – dafür auch zur Behandlung von Autoimmun­ Das aktiviert sie im Fall einer Infektion.

Bakterienalarm in der Zelle


Viele Zellen der angeborenen Abwehr
tragen­ Toll-ähnliche Rezeptoren (TLRs),
benannt nach dem Protein Toll. Diese
gramnegatives Interleukin 1 (IL-1)
Bakterium und Tumor- Mo­leküle diri­gieren die angeborene Im­
Nekrose-Faktor- munantwort und spielen eine entschei­
alpha ver-
stärken Ent- dende Rolle bei den Reaktionen auf
zündungs- ­Infektionen. Beispielsweise löst TLR4
Lipopolysaccharid reaktionen.
­Abwehrmechanismen gegen so genann­
TLR4 TLR4
te gramnegative Bakterien aus. Der
IL-8 lockt
Neutrophile ­Rezeptor erkennt sie an Lipopolysaccha­
an.
riden, einem charakteristischen Zell­
Mal wandbestandteil. Daraufhin signalisiert
IL-12 fördert
Tram Aktivitäten er – im Doppel mit einem gleichartigen
MyD88 von T-Zellen. Partner – vier anderen Molekülen, dass
Trif
er Lipopolysaccharid gebunden hat. Die­
IL-6 fördert se Proteine – MyD88, Mal, Tram und Trif –
Aktivitäten
von B-Zellen. lösen eine molekulare Kaskade aus, die
aktivierter NF-κB
einen Hauptregulator der Entzündungs­
dendritische reaktion aktiviert: den »nukleären Faktor
Zelle Kappa B« (NF-κB). Er schaltet Gene für
Zytokine und andere Immunaktivatoren
an (rechts), die Entzündungen hervorru­
Tami Tolpa

fen und zur Aktivierung von B- und T-Zel­


len beitragen.

16  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Dezember 2011


Die angeborene Immunanwort – lange Die Tübinger Nobelpreisträgerin charakteristische Bestandteile der Zell­
Zeit als primitiv und veraltet unter­ und Entwicklungsbiologin Christiane wand bestimmter – so genannter gram­
schätzt – ist demnach nicht nur sofort Nüsslein-Volhard hatte das Toll-Gen ei­ negativer – Bakterien.
zur Stelle, wenn der Körper attackiert nige Jahre zuvor identifiziert und ihm Schon länger war bekannt, dass Lipo­
wird. Vielmehr ist sie es, die eine um­ eine Rolle in der Embryonalentwick­ polysaccharide eine Sepsis auslösen
fassende Abwehrreaktion der erwor­ lung zugeschrieben. Hoffman erkannte können. Nur wie? Beutlers Entdeckung
benen Immunantwort erst ankurbelt. nun, dass es auch für die Immunab­ zufolge aktivieren sie den Toll-ähnli­
Und auch sie verfügt über ihre eigenen wehr unabdingbar ist. Toll, so stellte der chen Rezeptor, und der löst wiederum
Späher, wie Bruce Beutler vom Scripps Wissenschaftler fest, zeichnet für die eine Entzündungsreaktion zur Abwehr
Research Institute im kalifornischen La Synthese von Rezeptoren verantwort­ der Infektion aus (siehe Grafik links un­
Jolla und Jules Hoffmann vom Centre lich, die typische feindliche Strukturen ten). Befinden sich jedoch besonders
national de la recherche scientifique in binden und so die Abwehr aktivieren. viele Lipopolysaccharide im Blut – etwa
Straßburg feststellten – die beiden an­ nach verstärkter Zellteilung oder bei
deren Preisträger. Von der Blutvergiftung zum massiver Freisetzung auf Grund einer
Die erste entscheidende Entdeckung septischen Schock Antibiotikagabe –, kommt es zur Über­
kam von Hoffmann. Der gebürtige Lu­ Beutler war es schließlich, der heraus­ reaktion und damit zum septischen
xemburger experimentierte mit der fand, dass bei Säugetieren ganz ähnli­ Schock, der ohne Behandlung tödlich
Frucht- oder Taufliege Drosophila me- che Rezeptoren im Spiel sind (siehe verläuft. Beutler stellte fest: Genetisch
lanogaster und fand heraus: Fliegen Spektrum der Wissenschaft 8/2005, S. veränderte Mäuse ohne TLR4 sind da­
mit Mutationen im so genannten Toll- 68). Auf der Suche nach dem Schlüssel vor geschützt. Dafür kann sich ihr Kör­
Gen waren völlig hilflos gegenüber In­ zum septischen Schock, der im Rahmen per allerdings nicht gegen die Bakterien
fektionen. Frisch geschlüpfte Mutan­ einer Blutvergiftung (Sepsis) auftreten zur Wehr setzen.
ten wurden oft schon nach kurzer Zeit kann, identifizierte er bei Mäusen den Mittlerweile haben Wissenschaftler
regelrecht von Pilzen überwuchert, Toll-ähnlichen Rezeptor 4 (englisch: auch beim Menschen eine ganze Reihe
und auch Bakterien hatten sie nichts Toll-like receptor 4, TLR4). Das Molekül solcher TLR-Moleküle identifiziert, die
entgegenzusetzen. erkennt Lipopolysaccharide, das sind feindliche Strukturen erkennen. Hoff­

Damit aus Neugier Wissen wird.

getestet und
*von Lehrer n be 38/2011
e: W&V, Ausga
benotet. Qu ell

Spektrum neo 1/2011


»UNSER UNIVERSUM«
Für alle Wissbegierigen zwischen 10 und 14 Jahren, die nicht nur das
»Was«, sondern auch das »Wie« und »Warum« interessiert, gibt es
jetzt Spektrum neo: in jeder Ausgabe ein großes Thema – beginnend
mit Heft Nr. 1 »Unser Universum«.
In Zusammenarbeit mit dem Leibniz-Institut für die Pädagogik der
Naturwissenschaften und Mathematik in Kiel
www.spektrum-neo.de

Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH · Slevogtstraße 3–5 · 69126 Heidelberg


leserservice@spektrum.com · Tel.: 06221 9126-743 · Fax: 06221 9126-751 · www.spektrum-neo.de
WISSENSCHAF T AUS ERSTER HAND
forschung aktuell

mann und Beutler haben damit nicht Wirkverstärker von Impfstoffen. Umge­ dritischen Zellen sitzen, die mit ihrer
nur maßgeblich zu einem besseren kehrt ist es denkbar, durch geeignete Hilfe feindliche Strukturen erkennen.
­Verständnis der angeborenen Immun­ Hemmstoffe die Immunreaktion zu »Das zeigt einmal mehr die zentrale
antwort beigetragen. Ihre Entdeckung dämpfen, etwa um einen septischen Rolle dieser Zellen, die quasi an der
ebnet auch neue Wege zur Behandlung Schock zu verhindern – oder wenn sich Schnittstelle zwischen angeborener
des septischen Schocks und anderer das Verteidigungssystem im Fall einer und erworbener Immunantwort sit­
Krankheiten. So lässt sich mit Substan­ Autoimmunerkrankung gegen körper­ zen«, betont Schuler.
zen, die TLR-Moleküle aktivieren, die eigene Zellen richtet.
körpereigene Abwehr ankurbeln. Nach Da überrascht es kaum, dass Toll- Stefanie Reinberger ist promovierte Biologin
diesem Prinzip funktionieren etwa ähnliche Rezeptoren auch auf den den­ und freie Wissenschaftsjournalistin in Köln.

Nobelpreis für Chemie

Kristalle mit unmöglicher Symmetrie


Seit der bahnbrechenden Entdeckung des diesjährigen Chemie-Nobelpreisträgers sind Kristalle nicht mehr das,
was sie einmal waren. Dan Shechtman vom Institut für Materialwissenschaften der Universität Haifa 
erkannte als Erster, dass es Festkörper gibt, deren Atome regelmäßig, aber nicht periodisch angeordnet sind.

Von Gerhard Trageser

trugen. Dem israelischen Physiker war halb sagt man, das Hexagon weise eine
1982 der Nachweis gelungen, dass es sechszählige Drehsymmetrie auf. Die
Kristalle gibt, in denen die Atome nicht gleiche Symmetrie findet sich auch in
periodisch, aber trotzdem regelmäßig einem daraus aufgebauten Fliesenmus­
angeordnet sind und die deshalb »ver­ ter. Hingegen kann, da kein flächen­
botene« Symmetrien aufweisen. Was deckendes Mosaik aus regelmäßigen
das heißt, kann ein Exkurs ins heimi­ Fünfecken möglich ist, dessen fünfzäh­
Technion, Haifa

sche Badezimmer veranschaulichen. lige Drehsymmetrie auch nicht in ei­


Wer dessen Wand mit Fliesen in nem Kachelmuster vorkommen, das
Form eines regelmäßigen Fünfecks ka­ nur aus einer einzigen Fliesenart be­
Dan Shechtman entdeckte den ersten cheln möchte, wird schnell feststellen, steht.
Quasikristall – einen Strukturtyp von dass das nicht geht. Wie schon die alten Analoge Überlegungen gelten für
Festkörpern, den es aus damaliger Griechen und Römer wussten, die Meis­ das lückenlose Auffüllen des Raums
Sicht gar nicht geben durfte. ter in der Herstellung von Mosaiken mit Polyedern. Von den fünf platoni­
waren, eignen sich unter den regelmä­ schen Körpern gelingt dies allein mit
ßigen Polygonen nur Dreieck, Quadrat dem Würfel und dem Oktaeder. Des­

W as ist ein Kristall? Lange Zeit lau­


tete die Antwort: eine Substanz,
deren Bausteine in einem regelmäßi­
und Sechseck zum lückenlosen Über­
decken einer Fläche. Demnach können
Kachelmuster, die aus einer einzigen
halb können nur deren Symmetrien –
die denen von Quadrat und Sechseck
entsprechen – in einer raumfüllenden
gen, periodischen Gitter angeordnet Fliesenart bestehen, auch keine ande­ Anordnung mit einem einzigen Grund­
sind. Doch vor 20 Jahren sah sich die ren Symmetrien aufweisen als solche, baustein auftreten.
International Union of Crystallography über welche die drei genannten Poly­ Damit aber sind wir bei Kristallen
gezwungen, diese so offensichtlich eder selbst bereits verfügen. nach herkömmlichen Verständnis an­
scheinende Definition umzustoßen Betrachten wir beispielsweise das re­ gelangt: Auch in ihnen ergibt ein
und durch eine völlig neue zu ersetzen. gelmäßige Sechseck. Dreht man es um Grundbaustein – hier Elementarzelle
Grund waren Untersuchungen, die Dan ein Sechstel des Kreiswinkels um sei­ genannt –, vielfach aneinandergefügt,
Shechtman zehn Jahre zuvor am Natio­ nen Mittelpunkt, sieht es danach wie­ ein raumfüllendes Gebilde. Demnach
nal Institute of Standards and Techno­ der genauso aus wie vorher – als sei es sollten Kristalle ebenfalls nur ganz be­
logy der USA in Gaithersburg (Mary­ gar nicht bewegt worden. Das lässt sich stimmte Symmetrien aufweisen kön­
land) durchgeführt hatte und die ihm sechsmal wiederholen, bevor eine volle nen. Insbesondere ist eine fünf- oder
heuer den Nobelpreis für Chemie ein­ Drehung um 360 Grad erreicht ist. Des­ zehnzählige Drehsymmetrie ausge­

18  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Dezember 2011


Gruppe Clemens Bechinger, 2. Physikalisches Institut, Universität Stuttgart
schlossen. Das lernten Kristallografen
einst gleich zu Anfang ihres Studiums
als unumstößliches Dogma.
Deshalb reagierte Shechtman zu­
nächst mit ungläubigem Staunen, als
er im April 1982 das Elektronenbeu­
gungsbild eines Kristalls in Händen
hielt, den er durch sehr schnelles Ab­
kühlen einer geschmolzenen Legierung
aus Aluminium und Mangan erhalten
hatte. Es zeigte gestochen scharfe Punk­
te, die in Form von regelmäßigen Zehn­
ecken angeordnet waren – ein klarer
Hinweis auf eine verbotene Symmetrie
in der untersuchten Probe (Bild unten
links). »So etwas gibt es doch nicht«,
dachte er in diesem Moment nach eige­
ner Aussage. Und in sein Laborjournal
schrieb er »10-zählig???«. Diese eingefärbte Aufnahme eines Schnitts durch einen Quasikristall aus einer Alumi­
nium-Palladium-Mangan-Legierung zeigt die fünfzählige Symmetrie und die fehlende
Große anfängliche Skepsis Periodizität solcher Festkörper.
Tatsächlich zweifelte der Forscher an­
fangs an seinem Ergebnis und suchte
nach einer anderen möglichen Erklä­ lich eine verbotene Symmetrie besaß – eineinhalb Jahre später. Doch vorerst
rung. Doch er konnte partout nichts auch wenn er nicht wusste, wie das hagelte es weiterhin Kritik.
finden. Insbesondere ließ sich aus­ möglich war. Allerdings war unter den Wissen­
schließen, dass seine Probe ein »Zwil­ Bei seinen Kollegen stieß er jedoch schaftlern, die Shechtmans Manuskript
ling« war, bei dem zwei Kristalle des­ auf völliges Unverständnis, einige be­ vor der Veröffentlichung begutachten
selben Materials in unterschiedlicher lächelten ihn sogar. Sein Vorgesetzter sollten, der junge theoretische Physiker
­Orientierung miteinander verwachsen legte ihm nahe, seine Arbeitsgruppe zu Paul Steinhardt von der University of
sind. In einem solchen Fall können auf verlassen. Eine Fachzeitschrift lehnte Pennsylvania in Philadelphia. Der wie­
dem Beugungsbild unorthodoxe Punkt­ die Publikation seiner Ergebnisse ab. derum kannte den Kristallografen Alan
muster auftreten. Seine erfolglose Su­ Erst als Shechtman zwei andere Wissen­ Lindsay Mackay vom Birkbeck College
che nach alternativen Erklärungen schaftler, denen er seine Daten zur Prü­ in London, der sich mit so genannten
brachte Shechtman schließlich zu der fung vorgelegt hatte, als Koautoren ge­ Penrose-Mustern beschäftigt hatte.
Überzeugung, dass sein Kristall tatsäch­ wann, erschien seine Veröffentlichung Wie so oft, waren auch in diesem Fall
die Mathematiker ihren Kollegen aus
anderen Fachgebieten voraus. Sie hat­
links: Dan Shechtman; rechts: B. J. Steinhardt und D. Levine

ten sich schon in den 1960er Jahren


gefragt, ob es möglich sei, mit einer
­begrenzten Zahl von Fliesentypen eine
regelmäßige, nicht periodische Parket­
tierung der Ebene – wie ein flächen­
deckendes Kachelmuster in ihrem Fach­
jargon heißt – zu erzeugen. Die ultima­
tive Antwort lieferte Mitte der 1970er
Jahre Roger Penrose von der University
of Oxford. Mit nur zwei Fliesentypen in
Form unterschiedlich breiter Rauten
Mit seinen Punkten, die in Form eines regelmäßigen Zehnecks angeordnet sind, zeigte schuf der berühmte Mathe­matiker das
das von Dan Shechtman aufgenommene Elektronenbeugungsbild einer abgeschreckten nach ihm benannte nicht pe­riodische,
Legierung aus Aluminium und Mangan eine verbotene Symmetrie (links). Es ähnelte aber regelmäßige Kachelmuster. Auffäl­
jedoch dem errechneten Beugungsdiagramm für das dreidimensionale Gegenstück eines lig daran ist, dass es die normalerweise
nicht periodischen Kachelmusters aus nur zwei Fliesentypen, das der Mathematiker verbotene fünfzählige Drehsymmetrie
Roger Penrose erdacht hatte (rechts). aufweist.

www.spektrum.de 19
forschung aktuell

links: Ames Laboratory; rechts: L. A. Bendersky und R. J. Schaefer


Die von Dan Shechtman erzeugte Alumi­
nium-Mangan-Legierung bildet fünfeckige
»Schneekristalle« (rechts). Bei herkömm-
lichen kristallinen Festkörpern ist eine
solche Form ebenso ausgeschlossen wie
ein reguläres Dodekaeder, in dem eine
Legierung aus Holmium, Magnesium und
Zink kristallisiert (oben).

Mackay fragte sich, ob es vielleicht hartnäckigsten Kritiker war der be­ Anordnungen von Atomen enthält, die
auch entsprechende aperiodische An­ rühmte Altvater der Quanten- und jeweils eine fünfzählige Drehsymmet­
ordnungen von Atomen im Raum gibt. Strukturchemie sowie zweifache No­ rie aufweisen.
Er nahm ein Penrose-Mosaik, stanzte belpreisträger Linus Pauling (1901 – Quasikristalle sind aber nicht nur
an den Ecken der Rauten kleine Löcher 1994) –, nahm doch eine Reihe von Kris­ theoretisch faszinierende Exoten, wel­
hinein und benutzte es als Beugungs­ tallografen die unerhörte Neuigkeit che die Grundfesten der Kristallografie
gitter. Beim Bestrahlen mit Laserlicht ernst. Einige erinnerten sich, selbst erschütterten. Sie zeichnen sich auch
erzeugte dieses Gitter ein Muster aus schon Beugungsbilder mit verbotenen durch besondere Materialeigenschaf­
Lichtpunkten, die in Form regelmäßi­ Symmetrien erhalten und als ver­ ten aus, die sie für technische Anwen­
ger Zehnecke angeordnet waren. meintlichen Hinweis auf Kristallzwil­ dungen interessant machen. So sind sie
Als Steinhardt das Manuskript von linge verworfen zu haben. ungewöhnlich hart, spröde und korro­
Shechtman las, erkannte er den Zusam­ Andere Forscher machten sich ge­ sionsbeständig. Der robuste, hochfeste
menhang zwischen dessen Beugungs­ zielt auf die Suche nach weiteren Qua­ Stahl eines schwedischen Unterneh­
bild und dem von Mackay. Gemeinsam sikristallen – und waren erfolgreich mens besteht, wie sich zeigte, aus har­
mit dem Festkörperphysiker Dov Le­ (Spektrum der Wissenschaft 10/1986, S. ten Quasikristallen, die in einen wei­
vine, der damals an der University of 74). Inzwischen sind mehrere hundert cheren Eisentyp eingebettet sind. Er
Pennsylvania promovierte, entwickelte bekannt. Auch über die Grundprinzipi­ wird unter anderem für Rasierklingen
er ein dreidimensionales Gegenstück en ihres inneren Aufbaus gab es bald verwendet. Quasikristalle leiten zudem
des Penrose-Mosaiks und berechnete ziemlich genaue Vorstellungen (Spek­ Wärme und elektrischen Strom nur
dessen Beugungsmuster. Es hatte gro­ trum der Wissenschaft 6/1991, S. 48). schlecht und haben nichthaftende
ße Ähnlichkeit mit dem von Shecht­ Oberflächen. Auch das verleiht ihnen
man gefundenen – insbesondere zeigte Besondere Materialeigenschaften Potenzial für viele Anwendungen.
es ebenfalls eine zehnzählige Drehsym­ Waren es anfangs ausschließlich künst­ Nach neuesten Erkenntnissen kön­
metrie. In ihrer Publikation prägten liche Materialien, welche die verbote­ nen Quasikristalle ihre ungewöhnliche
Steinhardt und Levine für die neue nen Symmetrien zeigten, so berichte­ Struktur sogar anderen Materialien wie
Stoffklasse die bis heute gängige Be­ ten Forscher 2009 erstmals über einen etwa Blei aufprägen, wenn diese auf
zeichnung Quasikristall. natürlich vorkommenden Quasikris­ ihrer Oberfläche abgeschieden werden.
Diese Veröffentlichung erschien nur tall. Er stammte aus einem Flussbett in Davon erhoffen sich Wissenschaftler
wenige Wochen nach der von Shecht­ den Koryakbergen auf der Halbinsel wie der Physiker Clemens Bechinger
man, und beide zusammen schlugen Kamtschatka in Ostsibirien und be­ von der Universität Stuttgart ganz neu­
gewaltige Wellen (Spektrum der Wis­ stand aus Aluminium, Kupfer und Ei­ artige Varianten altbekannter Werkstof­
senschaft 4/1985, S. 24). Obwohl die sen. Das neue Mineral erhielt den Na­ fe mit wertvollen Eigenschaften. Wie
Skepsis weiterhin überwog – einer der men Ikosaedrit, weil es ikosaedrische stark die atomare Struktur die Eigen­

20  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Dezember 2011


schaften eines Festkörpers beeinflusst, Die von Shechtman erzwungene den Gläsern, in denen die Atome nur auf
zeigt das Beispiel des Kohlenstoffs. Je neue Definition eines Kristalls seit 1992 kurze Distanzen regelmäßig gruppiert
nach der Art, wie seine Atome geomet­ lautet übrigens: ein Festkörper mit ei­ sind, weshalb sie Beugungsmuster mit
risch miteinander verknüpft sind, bil­ nem Beugungsdiagramm aus diskreten verschwommenen Flecken ergeben.
det er den extrem harten, durchsichti­ Punkten. Das trifft auf alle festen Stoffe
gen Diamant oder den weichen, schwar­ zu, deren Struktur eine weiträumige Gerhard Trageser ist Redakteur bei »Spektrum
zen Graphit. Ordnung aufweist – im Unterschied zu der Wissenschaft«.

Nobelpreis für WIrtschaftswissenschaften

Ursache und Wirkung in der Makroökonomie


Der Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften geht an Thomas J. Sargent und Christopher A. Sims für ihre
methodischen Beiträge zur empirischen Makroökonomie. Die beiden Forscher haben neue Verfahren 
entwickelt, mit denen Ursache-Wirkungs-Beziehungen im Wirtschaftsgeschehen überprüft werden können.

Von Torsten Schmidt

Thomas J. Sargent (links) und Christopher A. Sims haben einen großen


Teil ihrer Karriere gemeinsam an der University of Minnesota in Minnea­

Denise Applewhite, Princeton University


polis zugebracht: Sargent, geboren am 19. Juli 1943 in Pasadena (Kalifor­
mien), von 1971 bis 1987 und Sims, geboren am 21. Oktober 1942 in
Washington, von 1974 bis 1990. Beide waren während dieser Zeit Berater
der amerikanischen Notenbank, die dort eine Niederlassung hat. Sargent
New York University
kam auf dem Weg über Chicago und Stanford 2002 an die New York Uni­
versity, Sims über Yale 1999 an die Princeton University. Beide Preisträger
sind heute noch als Professoren aktiv.

D er diesjährige Wirtschaftsnobel­
preis ehrt nicht nur zwei heraus­
ragende Ökonomen; er ist auch Balsam
intensiv mit der Frage auseinanderge­
setzt, wie die Auswirkungen eines
schockartigen Ereignisses – Beispiel:
1970er Jahren vorherrschten und da­
mals unter Beschuss von vielen Seiten
gerieten, weil sie, so der Kern der zahl­
für die ganze Profession. Denn just das das Platzen einer Immobilienpreisbla­ reichen Einwände, von falschen Voraus­
Fachgebiet der Preisträger, die empiri­ se – auf die Wirtschaftsaktivität unter­ setzungen ausgingen. Erstens unter­
sche Makroökonomie, hatte wegen der sucht werden können. Sargent und stellten sie Kausalbeziehungen, die
jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise Sims haben auf diesem Gebiet wegwei­ nicht empirisch überprüft, sondern im
heftige Kritik einstecken müssen. Ihre sende Arbeiten geleistet. Wesentlichen aus der ökonomischen
Vertreter beschränken sich nicht da­ Beide Preisträger setzten den Aus­ Theorie übernommen worden waren;
rauf, die gesamtwirtschaftliche Ent­ gangspunkt ihrer Untersuchung in der damit beschäftigte sich Christopher A.
wicklung zu beschreiben und Ursache- Auseinandersetzung mit den makro­ Sims. Zweitens vernachlässigten die
Wirkungs-Beziehungen zu quantifizie­ ökonomischen Modellen, die in den Standardmodelle, wie die Wirtschafts­
ren; sie erstellen auch Prognosen und
leiten daraus Empfehlungen für die
Geld- und Fiskalpolitik ab. Da hätten sie Ein mathematisches Modell versucht, beobachtete Größen, die »Variablen«, zum
doch die Immobilienpreisblase recht­ Beispiel Lohnniveau oder Arbeitslosigkeit, durch mathematische Funktionen wie­
zeitig erkennen und die Folgen ihres derzugeben. Diese Funktionen enthalten gewisse noch unbestimmte Zahlen, die
Platzens richtig einschätzen sollen, lau­ »Parameter«. Diese sind so zu wählen, dass die vom Modell errechneten Werte der
teten die Hauptvorwürfe. Variablen den tatsächlich beobachteten nahekommen. Gelingt dies, so sagt man,
In der Tat haben sich die Makro­ das Modell »erkläre« den realen Prozess.
ökonomen in den letzten Jahrzehnten

www.spektrum.de 21
ben. Diese Annahme war auch weniger
durch die Realität motiviert als da­
Ein VAR-Modell im Einsatz durch, dass man mit ihr besser rechnen
Wie wird sich eine überraschende Zinserhöhung durch die Notenbank in den USA kann. Wer sie fallen lässt, muss nicht
auf die Gesamtwirtschaft auswirken? nur die tatsächliche, sondern auch die
James H. Stock von der Harvard University und Mark W. Watson von der Princeton erwartete Wachstumsrate als Parame­
University haben ein VAR-Modell mit den Variablen Inflationsrate, Arbeitslosen­ ter ins Modell einführen – eine noch zu
quote und Notenbankzins erstellt und dessen Parameter anhand echter Wirt­ bestimmende Unbekannte mehr, mit
schaftsdaten geschätzt (»Vector Autoregressions«, Journal of Economic Perspecti­ allen dazugehörigen Unsicherheiten.
ves 15, S. 101 – 115, 2001). Dann setzten sie als Anfangswerte (für t = 0) reale Daten für Mit oder ohne rationale Erwartun­
Inflationsrate und Arbeitslosigkeit und einen um einen Prozentpunkt erhöhten gen: Die neue Klasse von Makromodel­
Wert für den Notenbankzins. Deren Werte für die folgenden Zeiten t = 1, 2, 3, … be­ len überforderte die herkömmlichen
rechneten sie durch Anwendung der Modellgleichungen. statistischen Verfahren. Es war nicht
möglich, deren Parameter durch Ab­
0,3 Prozent 0,25 Prozent gleich mit der Realität zu bestimmen
0,2 0,20 und die Brauchbarkeit dieser Parame­
0,1 0,15 terschätzung zu quantifizieren. Neue
Quartale 0,10
5 10 15 20
Methoden, die das leisten, musste Sar­
– 0,1 0,05 gent erst entwickeln.
– 0,2 5 10 15 20 Im Nachhinein konnte er damit
–0,05 Quartale
–0,3 auch die – von etlichen Fachkollegen
heftig kritisierte – Annahme rationaler
Ergebnis: Die Inflationsrate (links) steigt nach einer Zinsanhebung kurzfristig an, Erwartungen hinterfragen, mit dem
ist aber nach acht Quartalen deutlich niedriger als ohne Zinserhöhung. Die Ar­ Ergebnis, dass die Beobachtungen die­
beitslosenquote (rechts) reagiert auf die Zinserhöhung um drei Quartale verzö­ se zumindest nicht eindeutig bestäti­
gert mit einem Anstieg, der erst nach vier Jahren abklingt. Dargestellt ist jeweils gen. So ist zwar die Überlegung sehr
der Unterschied zwischen den Werten mit und ohne Zinserhöhung (rote Kurve) plausibel, Haushalte würden in Erwar­
sowie ein Konfidenzintervall von einer Standardabweichung nach oben wie nach tung einer zukünftigen Steuererhö­
unten (graues Feld). Unter realen Umständen wäre die Wahrscheinlichkeit, dass hung bereits heute ihre Konsum- und
die tatsächlichen Werte in dieses Intervall fallen, 66 Prozent. Sparpläne anpassen. Wenn man aber
der Theorie entsprechend unterstellt,
Spektrum der Wissenschaft, nach: James H. Stock und Mark W. Watson
dass sie dies ohne Zeitverzögerung
akteure ihre Erwartungen bilden – ein die Wirtschaftsakteure Informationen und im richtigen Umfang tun, so erge­
zentraler Aspekt wirtschaftlichen Han­ über die Zukunft sammeln, sie bei der ben sich für wichtige gesamtwirt­
delns; auf dieser Kritik bauen die Ar­ Erwartungsbildung verarbeiten – und schaftliche Größen wie den privaten
beiten von Thomas J. Sargent auf. dabei keine systematischen Fehler Konsum Werte, die mit den Beobach­
Dass Erwartungen bei ökonomi­ ­machen. Das heißt zum Beispiel: tungen nicht übereinstimmen. Sar­
schen Entscheidungen eine wichtige Möglicher­weise überschätzen einzelne gent und Sims haben deshalb die The­
Rolle spielen, ist unumstritten. Unter­ Haushalte die wirtschaftliche Wachs­ orie rationaler Erwartungen modifi­
nehmen investieren in zusätzliche Pro­ tumsrate und ­damit die (Real-)Zins­ ziert, indem sie unterstellten, dass die
duktionsanlagen, weil sie damit rech­ sätze der Zukunft, sparen deswegen in Wirtschaftsakteure die verfügbare In­
nen, in Zukunft mehr Produkte ab­ der Gegenwart mehr und konsumieren formation nur unvollständig und mit
setzen zu können. Haushalte sparen, weniger, als ­ihren Interessen ent­ zeitlicher Verzögerung zur Kenntnis
weil sie glauben, dass ihnen das, was sie spricht; aber Fehler dieser Art sollen nehmen und verarbeiten.
später vom Ersparten anschaffen kön­ sich über die große Zahl der Haushalte Christopher Sims hat eine andere
nen, mehr bringen wird als ein Konsum herausmitteln. Schwäche aufgegriffen, unter der die
heute. Aber wie bilden Haushalte und Modelle der 1970er Jahre litten: die Viel­
Unternehmen ihre Erwartungen? Grei­ Wie weise ist der Durchschnitt? zahl von Kausalbeziehungen, die aus
fen sie nur auf Erfahrungen aus der Damit ist der Ökonom zwar nicht zu theoretischen Überlegungen übernom­
­Vergangenheit zurück, oder versuchen der völlig unrealistischen Annahme ge­ men, empirisch aber nicht überprüft
sie anhand aktueller Informationen nötigt, dass jeder einzelne Akteur über wurden. Seine Lösung ist einfach und
eine bessere Prognose zu finden? sehr gute Prognosefähigkeiten verfügt, so vielseitig anwendbar, dass sie die
Die Theorie der rationalen Erwar­ aber er muss eine solche Fähigkeit – meisten Klassen makroökonomischer
tungen, zu deren Vertretern Sargent kaum weniger problematisch – dem Modelle umfasst, jene mit rationalen
und Sims gehören, unterstellt, dass durchschnittlichen Akteur zuschrei­ Erwartungen eingeschlossen.

22  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Dezember 2011


Der Erfolg des Verfahrens rührt von und Yt–1 ab. In Ermangelung einer bes­ des Modells und unberücksichtigte Ef­
einer bemerkenswerten Selbstbeschrän­ seren Theorie nimmt man für diese fekte aller Art.
kung her: Man versucht gar nicht erst, Abhängigkeit die einfachste überhaupt Da die aktuellen Werte der Variablen
Abhängigkeiten zwischen makroöko­ mögliche, nämlich die lineare (wofür nur mit Hilfe von Werten aus früheren
nomischen Größen durch sinnvolle die Differenzialrechnung, zumindest Perioden erklärt werden, lässt sich das
Gleichungen zu erfassen. Vielmehr geht für hinreichend kurze Zeitabstände, Modell gut für Prognosen einsetzen. Es
man davon aus, dass jede Größe irgend­ eine gewisse Rechtfertigung liefert). eignet sich auch, um ökonomische
wie von jeder anderen abhängig sein Damit besteht das Modell aus den bei­ ­Zusammenhänge zu untersuchen und
kann, und zwar nicht nur von deren den Gleichungen um wirtschaftspolitische Maßnahmen
heutigen Werten, sondern auch von den durchzuspielen (Kasten links).
gestrigen. Man interessiert sich also für Xt = a1 + a2 Xt–1 + a3 Yt–1 + eX,t Auf diese und ähnliche Weise sind in
die ökonomischen Variablen nur zu ge­ Yt = b1 + b2 Xt–1 + b3 Yt–1 + eY,t . den vergangenen Jahren eine Vielzahl
wissen Zeitpunkten in regelmäßigen von ökonomischen Zusammenhängen
Abständen, die einen Tag oder auch ei­ Dies nennt man ein vektorautoregres­ untersucht worden, vor allem zur Wir­
nen Monat oder ein Quartal (eine »Peri­ sives Modell (VAR). Es lässt sich auf kung der Geld- und der Finanzpolitik.
ode«) auseinanderliegen. mehr Variable und die Einbeziehung Zusammen mit den Methoden von
von weiter zurückliegenden Perioden ­Sargent haben die VAR-Modelle das Ver­
VAR: Modell ohne Begründung erweitern. Die Zahlen a1 , a2 , a3 , b1 , b2 , b3 ständnis der Funktionsweise moderner
Nehmen wir an, man möchte das ma­ sind die Parameter des Modells. Sie sind Volkswirtschaften und der Wirkung
kroökonomische Geschehen durch nur durch Vergleich mit den beobachteten von wirtschaftspolitischen Maßnah­
zwei Variable X (zum Beispiel Inflati­ Daten so zu bestimmen, dass die »Rest­ men deutlich verbessert.
onsrate) und Y (Zinssatz) beschreiben. größen« eX,t und eY,t möglichst klein Hätten die Entscheider über diese
Dann hängen die gegenwärtigen Werte werden. In diesen wird alles zusam­ Kenntnisse nicht verfügt, so wäre die
Xt und Yt beider Variablen nur von de­ mengefasst, was das Modell nicht er­ Rezession der Jahre 2008 und 2009 im
ren jüngst vergangenen Werten Xt–1 klärt: zufällige Schwankungen, Fehler Gefolge der Finanzkrise zweifellos noch

Wie viel Wissenschaft


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Wissenschaft aus erster Hand


forschung
springers aktuell
einwürfe

Ist der Embryo Natur oder Kultur? schlimmer ausgefallen. Es traf sich
günstig, dass der amerikanische Noten­
Zum Gerichtsurteil gegen Patente auf menschliche Stammzellen bankchef Ben Bernanke sich in seinem
wissenschaftlichen Leben intensiv mit

D ie Umweltschutzorganisation Greenpeace klagte 2004 gegen ein Patent, das


dem Bonner Stammzellforscher Oliver Brüstle 1999 für ein Verfahren zur Um­
wandlung von menschlichen Stammzellen in Nervenzellen erteilt worden war. Kürz­
VAR-Modellen auseinandergesetzt hat­
te (ein Rechenverfahren für diese Mo­
delle­ heißt Sims-Bernanke-Zerlegung).
lich hat der Europäische Gerichtshof als letzte Instanz entschieden: Generell dürfen Sonst hätte er sich kaum dazu durchge­
Verfahren, die von menschlichen embryonalen Stammzellen ausgehen, in Europa rungen, auf dem Höhepunkt der Krise
nicht patentiert werden. in großem Umfang Staatsanleihen auf­
Mit ihrem Spruch wollen die Richter »einer industriellen und kommerziellen Ver­ zukaufen – ein Mittel aus dem Gift­
wertung« menschlicher Embryonen einen Riegel vorschieben. Damit appellieren sie schrank der Geldpolitik, das dem Geld­
an das hohe Gut der Menschenwürde, wonach im Sinn des Philosophen Immanuel drucken gleichkommt – und damit
Kant der Mensch als Zweck an sich nie nur Mittel zum Zweck sein darf. Schlimmeres zu verhindern. Die Ma­
Der unterlegene Brüstle hat sich darüber empört, dass das Urteil einen ganzen kro­­ökonomen haben die Krise also
Forschungszweig als unmoralisch stigmatisiert. Verletzt jemand, der ergründet, wie nicht verschuldet, sondern höchst­
aus einer Embryonalzelle differenzierte Körperzellen entstehen, die Menschenwür­ wahrscheinlich sogar abgemildert.
de? Ist es ein Sakrileg, den bei künstlicher Befruchtung erzeugten überzähligen Em­ Allem Anschein nach wiederholt
bryonen Stammzellen für die Wissenschaft zu entnehmen? Die halbherzige Ant­ sich diese Geschichte – mit anderen De­
wort des deutschen Gesetzgebers verbietet das im Inland, erlaubt aber den Import tails – in der gegenwärtigen Eurokrise.
von Stammzelllinien, die anderswo vor einem Stichtag gewonnen wurden. Aber wohlgemerkt: Die VAR-Modelle
Das europäische Patenturteil zielt aber gar nicht direkt auf Untersuchungen an sind genau deswegen so erfolgreich,
Stammzellen, sondern auf deren »industrielle und kommerzielle Verwertung«. Brüstle weil sie jede voreilige Antwort auf die
beklagt, dadurch würde die angewandte Forschung aus Europa vertrieben. Hans Frage nach Ursache und Wirkung kon­
Schö­ler vom Max-Planck-Institut für molekulare Biomedizin in Münster meint gar, sequent vermeiden und am Ende eben
nun könnten Firmen in Amerika und Asien die patentrechtlich ungeschützten Resul­ nicht immer eine finden. Das Verständ­
tate der vom deutschen Steuerzahler finanzierten Forschung nach Belieben nutzen. nis makroökonomischer Phänomene
bleibt also unvollständig.
Jenseits des Ärmelkanals sieht man die Lage offenbar entspannter. Der Medizin­ Dies gilt umso mehr, als sich der
wissenschaftler Chris Mason vom University College London hält das Urteil sogar Unter­suchungsgegenstand selbst ver­
für eine Chance: Ohne Patente sei es viel leichter, Forschung zu treiben! Vor Nach­ ändert. Die Entwicklung neuer Finanz­
ahmern schütze die ungeheuer komplexen Stammzelltherapien allein schon ihre marktprodukte, welche die Ausweitung
Schwierigkeit. Solange eine Firma ihre Tricks geheim halte, könne man ihr spezielles der Immobilienmarktkrise in den USA
Verfahren kaum kopieren (Nature 478, S. 441, 2011). zu einer weltweiten Finanzkrise be­
Außerdem lassen sich in Europa gewiss auch künftig spezifische Hilfsmittel wie günstigt haben, ist ein Beispiel. Es bleibt
Wachstumsmedien, Apparate und Chemikalien patentieren, die man für die Stamm­ also der Vorwurf, dass die Ökonomen
zellforschung braucht. Schließlich geht es ja letztlich nicht um die Zelllinien selbst, die kritische Rolle dieser neuen Produk­
sondern um die Methoden ihrer Bearbeitung und Verwendung. So entwickelt Peter te entweder nicht erkannt oder auf die
Coffey am Institute of Ophthalmology in London zusammen mit dem Pharmakon­ Risiken nicht deutlich genug hingewie­
zern Pfizer eine Therapie für die Makuladegeneration: eine Augenkrankheit, die zur sen haben.
Erblindung führt. Das Patent bezieht sich auf das Einpflanzen von Netzhautzellen Anwendungsorientierte Makroöko­
ins Auge, nicht auf deren Herstellung aus embryonalen Stammzellen. nomen sind stets mit einer großen He­
Am Ende wird sich das Urteil des Europäischen Gerichtshofs als Episode im Katz- rausforderung konfrontiert: Sie müs­
und-Maus-Spiel zwischen Stammzellforschung und ethischen Bedenken erweisen. sen zur richtigen Zeit die richtigen Fra­
Noch ist der Gedanke ungewohnt, dass der Mensch vom Zeitpunkt der Zeugung an gen mit den geeigneten Methoden
ein kompliziertes Produkt von Natur und Kultur ist. Von untersuchen. Dank Thomas J. Sargent
der In-vitro-Befruchtung über die medizinisch überwachte und Christopher A. Sims hat die empiri­
Schwangerschaft, die gezielte Einleitung der Wehen oder sche Makroökonomie zwei leistungs­
den Kaiserschnitt bis zur Pflege von Frühgeburten im Brut­ fähige Methoden mehr.
kasten ist die Menschwerdung heute oft ein sehr künst­
licher Vorgang. Je mehr die wunderbare Ausdifferenzierung Torsten Schmidt ist promovierter Wirtschafts-
der befruchteten Eizelle zum menschlichen Organismus ihr wissenschaftler und stellvertretender Leiter des
Geheimnis verliert, desto selbstverständlicher wird der Kompetenzbereichs Wachstum und Konjunk-
Michael Springer
Mensch diesen Prozess auch medizinisch nutzen. tur beim Rheinisch-Westfälischen Institut für
Wirtschaftsforschung (RWI) in Essen.

24  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Dezember 2011


Sinnesphysiologie

Das zweite Auge


Besondere Nervenzellen in der Netzhaut vermitteln dem Hirn Lichteindrücke ­
jenseits des Sehens. Die Entdeckung dieses weiteren Sinnesorgans könnte
für manche K ­ rankheiten wichtig­sein, die auf Rhythmusstörungen oder Licht-
mangel zurückgehen.
Von Ignacio Provencio

A
ls Doktorand an der Harvard University in Cam- Diese Entdeckung könnte Menschen mit Störungen der in-
bridge (Massachusetts) züchtete der angehende neren Uhr helfen. Solche Beeinträchtigungen wirken sich oft
Genetiker Clyde E. Keeler (1900 – 1994) in seiner auf die Psyche, die Konzentrationsfähigkeit und die Gesund-
Studentenbude Mitte der 1920er Jahre Mäuse. heit aus, wie sich an Leuten zeigt, die nachts arbeiten müs­-
Merkwürdigerweise war sämtlicher Nachwuchs völlig blind. sen. Mediziner nehmen an, dass Nachtarbeit auf Dauer Herz-
Doch noch mehr wunderte Keeler, dass sich die Pupillen dieser Kreislauf-Erkrankungen und Magen-Darm-Probleme hervor-
Tiere trotzdem zusammenzogen, wenn er das Licht anmach­te. rufen kann sowie das Risiko für Krebs beziehungsweise das
Der Pupillenreflex war nur langsamer als bei den Eltern. metabolische Syndrom erhöht, das die Gefahr für Altersdia-
Erst Jahrzehnte später kamen andere Forscher der Sa­- betes, Herzinfarkt oder Schlaganfall steigert.
che auf die Spur. Sie beobachteten, dass Mäuse ihre innere
Uhr, den zirkadianen Rhythmus, auch dann an vorgegebene Nächtliche Katastrophen
Licht-Dunkel-Verhältnisse anglichen, wenn ihre Netzhaut Wie stark wir vom Tagesrhythmus und vor allem vom Licht
(Retina) auf Grund genetischer Eingriffe keine Stäbchen und abhängen, zeigen die vielen Bewohner des hohen Nordens,
Zapfen aufwies. Obwohl ihnen also die Sinneszellen – Licht- die im Winter teils schwerste Depressionen bekommen. Auch
rezeptoren – zum Sehen von Bildern fehlten, folgten Aktivi- geschahen einige besonders spektakuläre Unfälle der Indus­
täts- und Schlafmuster, Körpertemperatur und Hormonaus- triegeschichte nachts, so 1989 die Havarie des Öltankers
schüttung dem normalen Tag-Nacht-Rhythmus. Dies ging erst ­Exxon Valdez, durch die weite Küstenabschnitte Alaskas ver-
verloren, wenn man den Tieren die Augen herausoperierte. seucht wurden, oder 1984 die Chemiekatastrophe von Bho-
Ähnlich scheint es sich bei vielen Säugern und offensicht- pal in Indien, die tausende Menschenleben und bis zu einer
lich auch bei manchen blinden Menschen zu verhalten. Nach halben Million auf Dauer schwer Geschädigter forderte.
neueren Untersuchungen können einige Blinde ihre innere Lichtempfindliche Organe, die keine Bilder vermitteln,
Uhr an den Tag-Nacht-Wechsel anpassen, und ihre Pupillen sondern nur Hell und Dunkel, kennen Biologen schon länger
reagieren auf Licht. von verschiedenen Organismen. Manch ein Tier spürt damit,
Wie das zu erklären sei, war Sinnesphysiologen allerdings dass ihm plötzlich die Deckung fehlt. Schnellstens sucht es
lange unklar. Konnten im Auge denn außer Stäbchen und sich wieder in Sicherheit zu bringen, sei es vor einem Raub-
Zapfen überhaupt noch andere Sinneszellen existieren, die feind oder vor schädlicher UV-Strahlung. Diverse Arten kön-
alle Forscher bisher übersehen hatten? Kaum ein anderes Ge- nen sich mit Hilfe solcher Wahrnehmung auch tarnen, in-
webe des Körpers ist schließlich so eingehend und detailliert dem sie ihr Aussehen der Umgebung angleichen. Sehen im
untersucht wie die Netzhaut. landläufigen Sinn müssen die Tiere dafür nicht können.
Doch laut Studien der letzten Jahre gibt es im Säugerauge – Schon der österreichische Zoologe und spätere Nobelpreis-
auch bei Menschen – zusätzlich spezialisierte Lichtrezepto- träger Karl von Frisch (1886 – 1982) bemerkte 1911, dass au-
ren, die am Sehen von Bildern nicht beteiligt sind. Diese Sin- genlose Elritzen auf helles Licht mit Dunkelwerden reagier-
neszellen verwenden zur Lichtperzeption sogar andere Mo- ten. Beschädigte man ihr Stammhirn, konnten sie das nicht
Gallery Stock / Christian Weber

leküle als die Stäbchen und Zapfen. Zudem stehen sie mit mehr. Von Frisch vermutete deshalb, sie besäßen dort spezi-
anderen Hirngebieten in Verbindung als die klassischen Foto- elle – nichtvisuelle – Lichtrezeptoren.
rezeptoren. In gewisser Weise vereint das Auge zwei Sinnes- Solche Zellen nur zur reinen Lichtwahrnehmung haben
organe in einem, so wie auch das Innenohr einerseits das offenbar viele Tiere. Wie etwa Michael Menaker, damals an
Hörorgan, andererseits das Gleichgewichtsorgan enthält. der University of Texas in Austin, Anfang der 1970er Jahre

26  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Dezember 2011


Biologie & Medizin

www.spektrum.de 27
nachwies, stellen Sperlinge ihre innere Uhr auch dann noch sie. Kannten Anatomen und Physiologen die Sehzellen der
korrekt nach dem Hell-Dunkel-Wechsel ein, wenn sie keine Netzhaut nicht seit Mitte der 1850er Jahre? Es erschien da­
Augen mehr haben. Dies ermöglichen, wie sich später ergab, rum undenkbar, dass sämtliche Experten ­irgendwelche an-
lichtempfindliche Zellen im Gehirn. Dorthin gelangt durch deren lichtempfindlichen Zellen 150 Jahren lang übersehen
Federn, Haut und Schädel erstaunlich viel Licht. haben sollten.
Keelers Beobachtungen an seinen Mäusen ließen die Biolo- Doch am Ende behielt Foster recht. Zu der Einsicht trugen
gen rätseln, ob es wohl auch bei Säugern irgendwelche beson- Forschungen bei, die Mark D. Rollag und ich seit Mitte der
deren Lichtsensoren gibt. Nur konnten sie sich nicht vorstel- 1990er Jahre an der Uniformed Services University of the
len, dass solche Zellen im Auge sitzen. Dazu war die Netzhaut Health Sciences in Bethesda, Maryland, durchführten. Rollag
anatomisch bereits viel zu gründlich erforscht. Erst in den interessierte sich damals für einen speziellen Tarnmechanis-
frühen 1980er Jahren brachten Arbeiten von Randy J. Nelson mus von Amphibien. Pigmentzellen im Schwanz von Kaul-
und Irving Zucker von der University of California in Berkeley quappen, Melanozyten oder Melanophoren genannt, wer-
diese Überzeugung ins Wanken. Die Forscher wiesen nach, den bei Licht schnell dunkler – eine Schutzreaktion der Tiere,
dass augenlose Mäuse ihre innere Uhr nicht mehr an die äu- die nicht über die Sehzellen im Auge läuft, sondern über die
ßeren Tag-Nacht-Verhältnisse angleichen können. Enthielten Melanophoren in der Haut selbst. Das geschieht sogar dann
die Augen der Nager etwa doch besondere Lichtsensoren? noch, wenn man diese Zellen in eine Kulturschale bringt. In
Menaker, inzwischen an der University of Oregon in Eu­ den kultivierten Pigmentzellen entdeckten wir ein bisher un-
gene, ging dieser Frage zusammen mit Joseph Takahashi und bekanntes Protein. Weil es verblüffend den Opsinen gleicht,
David Hudson nach. Sie testeten Mäuse, die auf Grund einer jenen Proteinen, die Stäbchen und Zapfen als Fotopigmente
Mutation keine funktionsfähigen Stäbchen und Zapfen aus- verwenden, nannten wir es Melanopsin.
bildeten oder allenfalls nur ganz wenige, kaum aktive Zap-
fen. Die Forscher wollten prüfen, ob ein Auge, das keine Bil- Überraschung in den retinalen Ganglienzellen
der erfassen kann, dennoch Lichteindrücke vermittelt. Zu ih- Wegen seiner Ähnlichkeit mit den bekannten Opsinen ver-
rer Überraschung war das tatsächlich der Fall: Diese blinden muteten wir, das neue Protein könnte die Hautdunkelung
Mäuse waren wie ihre sehenden Artgenossen nachtaktiv und mit einer molekularen Reaktion auf Licht einleiten. Neugie-
schliefen tagsüber meist, nahmen also offenbar Licht wahr. rig geworden forschten wir weiter, ob Melanopsin vielleicht
Immerhin erschien es zunächst möglich, dass die paar auch in anderen lichtsensitiven Zellen vorkommt. Zunächst
mickrigen restlichen Zapfen diese Synchronisation noch leis- prüften wir verschiedene Gewebe von Fröschen, die bekann-
teten. Solchen Spekulationen machte jedoch Russell Foster termaßen direkt auf Licht reagieren, darunter bestimmte
1999 ein Ende, der damals am Imperial College London arbei- Hirngebiete, sowie Iris und Netzhaut. Weder Stäbchen noch
tete. Selbst an Mäusen, denen Zapfen und Stäbchen gänzlich Zapfen enthielten unseren Tests zufolge Melanopsin. Den-
fehlten, wies der Neurowissenschaftler immer noch die An- noch wiesen wir das Protein in der Retina nach – und zwar, zu
gleichung an die äußeren Hell-Dunkel-Phasen nach. Es ging unserem eigenen Erstaunen, in so genannten retinalen Gang-
also wirklich ohne die bekannten Sehzellen. lienzellen. Niemand hatte je vermutet, dass diese Nervenzel-
Das bedeutete, im Auge mussten noch andere Fotorezep- len, die die Signale der Sehzellen nach einigen Verarbeitungs-
toren vorhanden sein – eines bisher unbekannten Typs. Doch schritten durch andere Neurone dem Sehnerv zuführen,
für viele Forscher grenzte diese Folgerung geradezu an Häre- selbst lichtempfindlich sein könnten.
Die Netzhaut von Wirbeltieren besteht grob gesehen aus
auf einen blick drei Schichten von Sinnes- und Nervenzellen. Die äußerste,
im Auge hinterste Schicht enthält die Stäbchen und Zapfen,
Unser uraltes Lichtsystem die zwischen die noch weiter außen liegenden Pigmentzel-
len ragen. Die beiden Typen von Fotorezeptoren fangen das
1 Obwohl Menschen Licht ausschließlich über die Augen wahr-
nehmen, können manche Blinde ihre innere Uhr dem äußeren
Tag-Nacht-Rhythmus angleichen.
Licht auf, das zuvor die anderen Schichten passiert hat, und
liefern daraufhin den Zellen der mittleren Schicht Signale.
Deren verschiedene Zelltypen verarbeiten die Information
2 Die Netzhaut enthält neben den bekannten Sehzellen – den
Stäbchen und Zapfen – in einer anderen Schicht weitere, nicht-
visuelle Lichtsinneszellen. Diese spezialisierten Neurone über­
weiter und übermitteln das Ergebnis den retinalen Ganglien-
zellen, aus denen die dritte, innerste Zellschicht hauptsäch-
mitteln autonom Lichtreize für die innere Uhr ans Gehirn, sind aber
auch Durchgangsstation für nichtvisuelle Signale aus den Seh­ lich besteht. Deren Axone – lange weiterleitende Fortsätze –
zellen. bilden den Sehnerv, der ins Gehirn führt.
Anscheinend ist nur ein ganz kleiner Anteil der retinalen
3 Die neu entdeckten Sinneszellen reagieren auf blaues Licht. Sie
scheinen zu einem alten Wahrnehmungssystem zu gehören,
das noch von wirbellosen Tieren stammt. Mit dem neuen Wissen
Ganglienzellen direkt lichtempfindlich. Die ersten Hinweise
darauf fanden meine Kollegen und ich im Jahr 2000. Bei Mäu-
wollen Forscher neue Therapien etwa gegen die Winterdepression,
manche Schlafstörungen und andere psychische oder physische sen sind es, wie wir später feststellten, etwa zwei Prozent die-
Leiden entwickeln. ser Zellen – und beim Menschen anscheinend ähnlich weni-
ge. 2002 bestätigten David M. Berson und seine Kollegen von

28  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Dezember 2011


Aufbau der Netzhaut

Ein eigenes Empfangsorgan für Tag und Nacht Pigment-


zellen
Normalerweise passen sich die Biorhythmen des Körpers an den Tag- Zapfen
Nacht-Wechsel an – sogar bei manchen Blinden. Jetzt entdeckten For-
scher, dass dies spezielle lichtsensitive Neurone (orange) in der Netz- Stäbchen
haut vermitteln. Im Grunde sitzen im Auge zwei Lichtsinnesorgane: verschiedene
eines zum Sehen und eines für nichtvisuelle Reaktionen auf Licht. Schaltneurone

retinale
Ganglienzellen
Sehrinde lichtsensitive
(visueller Kortex) Ganglienzellen
Sehbahn zum Sehnerv

Das neu entdeckte Lichtorgan in der Netzhaut


Zum Sehen fangen die Stäbchen und Zapfen der Netzhaut (grün)
mit Fotopigmenten Lichtreize auf und geben Signale an andere
Zellen (lila) weiter. Diese liefern die Information nach einigen Ver-
arbeitungsschritten an die retinalen Ganglienzellen, deren lange
Fortsätze den Sehnerv bilden. Über die Sehbahn (im Bild links:
blau) gelangen die visuellen Signale zur Sehrinde des Gehirns.
Ein paar wenige Ganglienzellen (orange) bilden ihrerseits ein
besonderes Fotopigment – Melanopsin – und sprechen selbst
auf Licht an. Sie schicken ihre Signale zum Hirnkern für die innere
Uhr (im Bild links: orange) sowie zu anderen, hier nicht gezeigten
Gebieten.
Nucleus Bahn für nichtvisuelle
suprachiasmaticus Lichtinformation
(Region für Nucleus
die innere Uhr) Sehrinde suprachiasmaticus

Netzhaut Einstellung
Sehnerv (Retina) Sehen der inneren
Uhr auf Licht/
Signal zum Dunkel
Gehirn
Stäbchen fotosensitive
und Zapfen Ganglienzellen
andere Melanopsin
Sehpigmente

Licht Licht

Speisung aus zwei Quellen


Bryan Christie Design

Um die Uhr der inneren Rhythmik zu füttern, sind die lichtsensitiven


Ganglienzellen nicht auf sich allein angewiesen. Auch Lichtinforma-
tion von den Sehzellen läuft über sie zu nichtvisuellen Hirngebieten.

der Brown University in Providence (Rhode Island) unseren welche die Pupillenweite steuern. In beiden Fällen waren die
Befund experimentell. Diese Forscher hatten die Zapfen und zugehörigen retinalen Ganglienzellen genau jene, die Mela­
Stäbchen im Auge von Mäusen ausgeschaltet und die me­ nopsin enthalten. Sämtliche Befunde besagten unseres Er-
lanopsinhaltigen Ganglienzellen mit einem Farbstoff mar- achtens letztlich dasselbe: In der Netzhaut existieren tatsäch­
kiert. Dann präparierten sie die Netzhaut heraus und setzten lich fotosensitive Ganglienzellen, und diese ermöglichen es
sie Licht aus. Tatsächlich »feuerten« die markierten Gang­ Mäusen ohne funktionsfähige Stäbchen und Zapfen, ihre Pu-
lienzellen daraufhin Signale. Da die Stäbchen und Zapfen auf pillen bei Licht zu verengen und ihre innere Uhr dem äuße-
die Lichtreize nicht reagieren konnten, mussten die Gang­ ren Tag-Nacht-Rhythmus anzupassen. Nur wenn Mäuse gar
lienzellen selbst auf das Licht angesprochen haben. keine Augen haben, beziehungsweise gar keine Netzhaut und
Ergebnisse anderer Forscher stützten unsere These. So damit auch keine retinalen Ganglienzellen, können sie bei-
wiesen Samer Hattar von der Johns Hopkins University in des nicht mehr – das war die Hypothese.
Baltimore (Maryland) und seine Kollegen bei Mäusen nach, Es bedurfte nur noch eines letzten Experiments, um den
dass einige der Axone des Sehnervs in den Nucleus supra­ postulierten Zusammenhang zu besiegeln – so dachten wir:
chiasmaticus gelangen – jenes Hirngebiet, das die innere Uhr Man müsste Mäuse züchten, die zwar kein Melanopsin bil-
kontrolliert. Andere Axone gehen wiederum in Hirngebiete, den, weil das Gen dafür fehlt oder ausgeschaltet ist, sonst aber

www.spektrum.de 29
ganz normale Augen haben, das heißt gesunde, funktionale dass das Mäusegenom – dessen Sequenzierung gerade da-
Stäbchen und Zapfen. Solche Tiere sollten unseres Erachtens mals fertig wurde – nirgendwo weitere Gene für Fotopigmen-
unfähig sein, ihre innere Uhr auf einen Licht-Dunkel-Wechsel te aufzuweisen scheint als die bereits bekannten.
einzustellen. Aber »Wissenschaft ist eine grausame Geliebte«, So rangen wir uns schließlich zu der Hypothese durch,
wie auch wir in unserem Labor manchmal sagen. Denn die dass die drei Sinneszellsorten zusammenarbeiten: dass Stäb-
Mäuse dachten gar nicht daran, uns den erwarteten Gefallen chen, Zapfen und melanopsinbewehrte Ganglienzellen ge-
zu tun. Trotz fehlenden Melanopsins kamen sie mit dem vor- meinsam die Lichtreaktionen zu Wege bringen. Nun züchte-
gegebenen Tag-Nacht-Rhythmus einigermaßen zurecht. ten wir Mäuse ohne Stäbchen und Zapfen, die auch kein Me-
Was war der Grund? Zuerst überlegten wir, ob sich viel- lanopsin bildeten. Diese Tiere bemerkten offenbar keinerlei
leicht sogar noch ein anderer bisher unentdeckter Lichtre- Lichtreize mehr, und auch ihre innere Uhr stellte sich nicht
zeptor irgendwo in der Netzhaut versteckte. Diese These ver- auf Hell-Dunkel-Rhythmen ein. Sie waren anscheinend kom-
warfen wir aber bald. Als stärkstes Gegenargument zählte, plett blind, als ob sie gar keine Augen besäßen.

Die Entdeckung des zweiten Augensinns


Mit Hilfe eines lange rätselhaften Sinns, der im Auge lokalisiert pigment Melanopsin entdeckten. Denn Tiere mit diesen Zellen,
ist, synchronisieren Säugetiere ihre innere Uhr mit dem Tag- aber ohne Stäbchen und Zapfen, können ihre innere Uhr anpas-
Nacht-Zyklus. Auf die Schliche kamen Neurophysiologen ihm sen (➋). Doch die Verhältnisse sind komplizierter: Tiere, denen
schließlich mit immer wieder neuen Experimenten an Mäusen, das Melanopsin fehlt, die aber gesunde Stäbchen und Zapfen
bei denen sie gezielt einzelne Komponenten der Netzhaut aus- ausbilden, synchronisieren ihre innere Uhr auch (➍). Dies ge-
schalteten (➊: normale Situation). lingt jedoch nicht mehr, wenn zusätzlich die Stäbchen und Zap-
Die Synchronisation der inneren Uhr gelingt weiterhin, wenn fen ausfallen (➎). Sind dagegen die beiden klassischen Sinnes-
Stäbchen und Zapfen (grün) nicht funktionieren (➋). Sie er- zelltypen gesund, aber die besonderen Ganglienzellen fehlen
lischt, wenn Augen oder zumindest die Netzhaut fehlen (➌). vollständig, fällt auch die Synchronisation aus (➏). Somit steckt
Des Rätsels Lösung gefunden zu haben, glaubten Forscher, als in dem System eine gewisse Redundanz – aber ganz ohne die
sie in einem Teil der retinalen Ganglienzellen (orange) das Licht- betreffenden Ganglienzellen funktioniert es nicht.

➊ ➋ ➌ ➍ ➎ ➏

Bryan Christie Design


Stäbchen
und Zapfen

retinale Gang-.
lienzelle

lichtsensitive
retinale Gang-
lienzelle mit
Melanopsin
Die
Ganglienzellen keine Stäbchen betreffenden
Stäbchen und keine Augen / bilden kein und Zapfen, kein Ganglienzellen
Experiment Netzhaut normal Zapfen fallen aus keine Netzhaut Melanopsin Melanopsin fehlen komplett.

Sehfähigkeit?

Synchronisation
mit teils
Lichtrhythmus?

Folgerung

Funktionen Stäbchen und Augen für Licht- Melanopsin ist Eines von beidem Die betreffenden
normal Zapfen für Licht- synchronisation beteiligt, aber ist erforderlich. Ganglienzellen sind
synchronisation erforderlich nicht unbedingt immer nötig,
nicht erforderlich erforderlich. Melanopsin aber
nicht.

30  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Dezember 2011


Licht spüren, ohne zu sehen

Die meisten Organismen richten ihre Biorhythmen nach Tag


und Nacht aus. Manche Tiere nutzen dazu eigene nichtvisuelle, Kaulquappen neh- Augenlose Sperlinge Zuerst erkannten For-
lichtsensitive Organe. Mitunter dienen diese auch noch ande- men Licht über passen sich dem scher an blinden
Pigmentzellen der Tag-Nacht-Rhythmus Mäusen, die sich auf
ren Zwecken, etwa dem Rückzug aus dem Licht oder der Tar- Haut wahr. Viele an. Zellen in ihrem Tag und Nacht ein-
nung mit einer anderen Färbung. Diese Organe müssen nicht – Amphibien gleichen Gehirn spüren Licht stellten, dass Säuge-
ihre Färbung damit durch Federn, Haut und tiere dafür nicht sehen
wie bei den Säugetieren – im Auge sitzen. der Umgebung an. Knochen hindurch. können müssen.

Kaulquappe: Getty images / Kim Taylor und Jane Burton;  Sperling: Getty images / Cyril Laubscher;  maus: Getty Images / Dorling Kindersley

In den nächsten Jahren wurde allmählich klarer, wie das das nicht dem Bildsehen dient, sondern rein der Helligkeits-
alles zusammenhängt. Anscheinend stellen die lichtsensiti- wahrnehmung. Die Netzhaut beherbergt folglich den einfa-
ven Ganglienzellen auch die Durchgangsstation für nichtvi- cheren alten Sinnesapparat neben der modernen Version für
suelle Lichtinformationen dar, die von den regulären Sehzel- strukturiertes Sehen der Umgebung.
len kommen (siehe Schema rechts unten im Kasten S. 29). Die Entdeckung dieses bisher unbekannten Sinnessys-
tems könnte auch von medizinischem Nutzen sein, weist es
Wann die innere Uhr verloren geht – und wann nicht doch auf bisher unbekannte Zusammenhänge gesunder Au-
Drei Forscherteams, darunter meinem, gelang es 2008, bei gen mit der psychischen Verfassung hin. Da es von blauem
Mäusen ganz gezielt allein die lichtempfindlichen Ganglien- Licht angeregt wird, lassen sich damit möglicherweise Men-
zellen abzutöten, also nicht nur die Produktion von Mela­ schen behandeln, die unter Jetlag, Winterdepression oder
nopsin zu verhindern. Sehen konnten diese Nager gut, aber Schlafstörungen leiden. Vermutlich helfen die heute in sol-
ihre Pupillen reagierten schlecht auf Lichteinfall, und sie chen Fällen bereits gern angewendeten Lichttherapien eben
brachten oft Tag und Nacht durcheinander (letzte Spalte im deswegen, weil die lichtsensitiven retinalen Ganglienzellen
Kasten links). Das bedeutet: Für die nichtvisuellen Licht­ dabei aktiv werden. Blinde Kinder, bei denen diese Neurone
reaktionen sind diese Ganglienzellen unbedingt erforder- etwa wegen eines Glaukoms defekt sind, scheinen eher unter
lich, auch wenn sie selbst wegen eines Gendefekts nicht als Schlafstörungen zu leiden als Kinder, die aus anderen Grün-
Detektoren funktionieren. Somit ist das System redundant den nicht sehen können. Mit den neu entdeckten lichtsensi-
aufgebaut: Die melanopsinhaltigen Zellen können einerseits tiven Zellen der Netzhaut im Blick ließen sich für eine Rei-
selbst das Licht erfassen oder andererseits solche Informa­ he von Gesundheitsbeschwerden, aber auch Augendefekten
tionen der Zapfen und Stäbchen weitergeben – oder beides ganz neue Therapien entwickeln.  Ÿ
zusammen.
Nach dem gleichen Prinzip könnte das System auch beim der autor
Menschen funktionieren, worauf einige Befunde hindeuten.
Ignacio Provencio hat an der University of
2007 veröffentlichten Foster und seine Kollegen eine Studie
Virginia in Charlottesville eine Biologieprofessur.
über zwei Blinde, die keine funktionsfähigen Stäbchen und Für die Neurowissenschaften begann er sich
Zapfen besaßen. Deren innere Uhr stellte sich auf einen mit als Student von Jon Copeland am Swarthmore
blauem Licht vorgegebenen Rhythmus ein. Das funktionier- College (Philadelphia) zu interessieren, wo er an
Glühwürmchen, Kakerlaken und Krebsen
te am besten, wenn dieses Licht genau den Wellenlängenbe- forschte.
reich aufwies, auf den Melanopsin anspricht, was wir zusam-
men mit Bersons Arbeitsgruppe herausgefunden hatten. quellen
Für noch interessanter halten wir folgende Entdeckung
unseres Teams: Wenn man das Melanopsin in einer Zelle mit Berson, D. M. et al.: Phototransduction by Retinal Ganglion
Cells That Set the Circadian Clock. In: Science 295, S. 1070 – 1073,
Licht stimuliert, stößt dies in der Zelle eine bestimmte Sig- 2002
nalkaskade an. Und diese biochemische Reaktionsfolge äh- Do, M. T. H., Yau, K.-W.: Intrinsically Photosensitive Retinal Ganglion
nelt mehr den Vorgängen in Fotorezeptorzellen von Fliegen Cells. In: Physiological Reviews 90, S. 1547 – 1581, 2010
Provencio, I. et al.: Melanopsin: An Opsin in Melanophores, Brain
und Tintenfischen als den Signalkaskaden in Zapfen oder and Eye. In: Proceedings of the National Academy of Sciences USA
Stäbchen eines Säugerauges. 95, S. 340 – 345, 1998
Allzu sehr überraschte uns das nicht. Denn wir wussten
seit Jahren, dass die genetische Sequenz für Melanopsin stär- Weblink
ker an die von Fotopigmenten wirbelloser Tiere erinnert als Diesen Artikel sowie weiterführende Informationen finden Sie im
an die Sequenzen bei Wirbeltieren. Es sieht so aus, als ob hier Internet: www.spektrum.de/artikel/1125585
ein altes, urtümliches lichtempfindliches System vorliegt,

www.spektrum.de 31
Planetenforschung

Dem Mars 
auf die Pelle gerückt
In diesen Wochen will das Mars Science Laboratory an die Erfolge der Marssonde Phoenix
anknüpfen. 2008 hatte sie Hinweise darauf gefunden, dass der Rote Planet vielleicht
doch nicht so lebensfeindlich ist wie lange gedacht. Der Phoenix-Chefwissenschaftler
berichtet über Herausforderungen und Überraschungen bei interplanetaten Missionen.
Von Peter H. Smith

A
m 25. November öffnet sich drei Wochen lang ein ser noch organische Moleküle und schon gar keine Mikroben
Startfenster für das Mars Science Laboratory. Die entdecken ließen. Starke Oxidationsmittel wie Wasserstoff-
Sonde führt den leistungsfähigsten Rover aller peroxid und die intensive ultraviolette Strahlung aus dem
Zeiten mit sich: »Curiosity« (englisch für Neugier). Weltraum hatten die Oberfläche sterilisiert.
Mit dem ferngesteuerten Erkundungsfahrzeug (siehe Kasten Doch der Phoenix hat unsere Hoffnungen wiederaufle-
auf S. 35) will die US-Weltraumbehörde NASA den Marskrater ben lassen. Möglicherweise, so lassen sich seine Daten aus
Gale untersuchen. Dieser ist eine der reichsten Lagerstätten dem Jahr 2008 interpretieren, fand Viking nur deshalb keine
des Roten Planeten für Tonerde und Sulfatverbindungen – organischen Moleküle, weil die Sonde selbst die Proben un-
Überbleibsel einer Epoche, in der auf dem Mars noch Wasser brauchbar machte. Phoenix bestätigte außerdem, dass dicht
floss und im Lauf der Zeit tiefe Täler in den Boden grub. unter der Marsoberfläche Wassereis existiert. Unser Nach-
Ein Marsjahr lang, das sind 687 Tage, wird der autogroße barplanet ist also keineswegs staubtrocken. Vielleicht ist er
Rover seine Umgebung erkunden. Seine Fahrt beginnt auf sogar noch immer lebensfreundlich.
dem Grund des Kraters und führt dort über uraltes Gestein. Das Mars Science Laboratory führt konsequent die Missi-
Falls die NASA die Mission über das erste Jahr hinaus verlän- onen der vergangenen 15 Jahre fort, bei denen Sonden auf der
gert, wird Curiosity beginnen, den fünf Kilometer hohen Marsoberfläche landeten. Gemeinsam mit einer Reihe von
Zentralberg zu erklimmen und dabei allmählich auf immer Satelliten, die in einen Orbit um den Planeten geschickt wur-
jüngere Ablagerungen stoßen. Mit einem Roboterarm nimmt den, haben sie eine Welt bemerkenswerter Komplexität ent-
der Rover Proben davon auf und befördert sie in sein Bord­ hüllt. Auf dem Mars breiteten sich einst Seen aus, und es hin-
labor, das sie analysiert und vor allem auch organische Be- gen Regenwolken über seinen Landschaften (siehe »Wasser
standteile aufspüren kann. auf dem frühen Mars«, SdW 2/2007, S. 22). Über der Region
Dass wir überhaupt wieder nach Leben auf dem Mars su- Nili Fossae haben die Forscher sogar Hinweise auf Methan-
chen, haben wir vor allem der Mission Phoenix zu verdan- gas gefunden, und Planetologen sind dessen geologischem
ken. Für viele Wissenschaftler hatte die Suche schon lange oder vielleicht sogar biologischem Ursprung auf der Spur
zuvor, nämlich mit den beiden Viking-Missionen, geendet. (»Das Rätsel des Methans auf Mars und Titan«, SdW 7/2007,
1976 wiesen die Daten der beiden Landefähren auf eine äu- S. 32). 2011 sandte der Mars Reconnaissance Orbiter weitere
ßerst lebensfeindliche Umgebung hin, in der sich weder Was- faszinierende Aufnahmen aus der Umlaufbahn. Auf der

32  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Dezember 2011


PHYSIK & ASTRONOMIE

In diesen Wochen startet das


Mars Science Laboratory zum
Roten Planeten (Fotomontage).
Nach der Vorgängermission
Phoenix, bei der eine stationäre
Sonde abgesetzt wurde, wird
nun bald wieder ein Rover –
»Curiosity« – auf dem Mars
landen.

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Oberfläche des Planeten hatte er feine Strukturen entdeckt, Nun aber plante das AMES-Forschungszentrum eine Gene-
die sich am einfachsten durch salzhaltiges Wasser erklären ralüberholung der Sonde, und ich sollte die Rolle des leiten-
lassen, das dort jeweils in der warmen Jahreszeit fließt. den Wissenschaftlers übernehmen. Doch ich zögerte. Mehr
Jetzt ist also die nächste Raumsonde bereit für den Start als ein Dutzend Jahre lang war ich schon an Planetenmissio-
und verspricht neue Erkenntnisse. Wie es ihr ergehen wird, er- nen beteiligt. Die vielen Reisen, endlosen Meetings und pau-
ahnen wir vielleicht am besten, wenn wir einen Rückblick auf senlosen Telefonate reizten mich nicht mehr. Sie hielten mich
die technische und emotionale Achterbahnfahrt werfen, die überdies von der wissenschaftlichen Arbeit ab, für die ich
eine interplanetare Mission für alle Beteiligten bedeutet – und einst ausgebildet wurde. Davon abgesehen existierte für das
darauf, wie der Phoenix das Fliegen beinahe doch nicht lernte. neue Projekt keinerlei Finanzierung, niemand kümmerte sich
Raumsonden sind millionenteure Spezialinstrumente. Es um die nötigen Forschungsanträge, keine große wissenschaft-
ist daher keineswegs alltäglich, dass man ans Telefon geht liche Einrichtung hatte ihre Unterstützung zugesagt, und die
und gefragt wird, ob man eine haben möchte. Genau das ge- Antragsfrist würde schon bald enden. Aber natürlich faszi-
schah mir im Jahr 2002. Am anderen Ende der Leitung waren nierte mich die Vorstellung, eine Marsmisssion zu leiten. Ich
Wissenschaftler des Ames Research Center der NASA und er- selbst hatte den Ergebnissen der Viking-Sonden niemals
innerten mich an eine drei Meter große Kiste, die in einem Glauben schenken wollen. Wie war es möglich, dass sie kein
Reinraum des Technologiekonzerns Lockheed Martin in Den- organisches Material gefunden hatten? Müsste nicht eine
ver lagerte. Eingemottet war darin: der Mars Surveyor 2001 besser konzipierte Mission mehr Erfolg haben?
Lander. Er hätte eigentlich 2001 starten sollen, aber ange- Zwei Wochen lang quälte ich mich. Die Surveyor-Raum-
sichts zweier kurz zuvor gescheiterter Missionen kam es nie sonde war ursprünglich dafür ausgerichtet, nahe dem Äqua-
dazu. Im Dezember 1999 war seine Schwestersonde, der Mars tor zu landen, Bodenproben mit einem Roboterarm zu ent-
Polar Lander, beim Landeanflug zerschellt, und schon einige nehmen und einen kleinen Rover abzusetzen, der Gestein in
Wochen zuvor war auch der Mars Climate Orbiter beim Ein- der Umgebung untersucht. Einige der Instrumente sollten
tritt in die Atmosphäre verloren gegangen. Das Marspro- zudem helfen, eine mögliche bemannte Mission vorzuberei-
gramm der NASA hatte einen schweren Schlag erhalten. Auch ten. An einen Rover war angesichts unseres Budgets aber
ich hatte ihn gespürt: Die Kamera des Mars Polar Lander war nicht zu denken, und Pläne für bemannte Missionen waren
von meinem eigenen Team entwickelt und gebaut worden. damals nicht aktuell. Einiges Gepäck konnte daher entfallen.

www.spektrum.de 33
Ziel: Der Surveyor sollte sich gewissermaßen wieder aus sei-
NASA / Univ. of Colorado, Steve Lee / Cornell  University, Jim Bell /
Space Science Institute, Mike Wolff

Phoenix: 2008 ner eigenen Asche erheben und als »Phoenix« auf die große
Viking 2: Reise gehen. Die Feuerprobe bestand der Vogel 18 Monate
1976 – 1980
später. Nachdem er sich gegen 20 konkurrierende Missions-
Viking 1: Sojourner: 1997
1976 – 1982 konzepte durchgesetzt hatte, erteilte uns die NASA im Au-
Curiosity gust 2003 den Zuschlag. Wir konnten die Sonde auspacken.
Opportunity: ab 2012
seit 2004 Spirit:
2004 – 2010 Kämpfen mit einem hartnäckigen Problem
Mars 3: 1971
Bis zum Start, der im August 2007 erfolgen sollte, hatten wir
noch vier Jahre Zeit. Wir verbrachten sie vor allem damit, die
Konzeptionsfehler zu finden, die wohl seinem Schwester-
schiff zum Verhängnis geworden waren. Die Ingenieure ent-
Kraterberg deckten schließlich rund 25 größerer Mängel, und es schien
zwar aufwändig, aber dennoch einfacher und billiger, sie zu
Kraterrand beheben, als einen Neubau in Angriff zu nehmen. Die meis-
ten Eingriffe waren unkompliziert. Sie betrafen die Heiz­
elemente, die zu reduzierende Größe des Fallschirms, die
NASA, JPL / Caltech / ASU / UA

geplante Verstärkung von Strukturen und Veränderungen der Soft-


Landeregion
ware. Einer der Fehler widersetzte sich allerdings hartnäckig
all unseren Bemühungen.
Das Landeradar stammte aus einem F-16-Kampfflugzeug
Insgesamt sieben Fähren landeten bislang auf dem Mars (oben). der späten 1990er Jahre, und wir testeten es in der kaliforni-
Phoenix war jenseits des Nordpolarkreises aktiv; mit Curiosity schen Mojave-Wüste. Dazu hängten wir das Instrument an
wird wieder ein Rover die tropischen Regionen erkunden. Sein ein Seil unter einen Helikopter und simulierten seinen freien
geplanter Landeplatz (Bild unten, gelber Kreis) liegt im 154 Kilo- Fall in Richtung der Marsoberfläche, indem wir es schnell ab-
meter großen Gale-Krater, in dessen Mitte sich ein mächtiger senkten. Signalausfälle und fehlerhafte Höhenmessungen
Zentralberg von fünf Kilometer Höhe erhebt. machten uns aber so sehr zu schaffen, dass wir Kontakt zum
Honeywell-Konzern aufnahmen, der das Radar entwickelt
hatte. Dort wollte man uns zwar gerne helfen, aber das Mo-
Doch welche Instrumente sollten wir stattdessen mitneh- dell war veraltet, die federführenden Ingenieure waren aus
men? Unsere konkreten Missionsziele lagen zu diesem Zeit- dem Unternehmen ausgeschieden, und die Unterlagen er-
punkt noch vollkommen im Dunklen. wiesen sich als lückenhaft.
Das änderte sich durch einen wunderbaren Zufall, als ein Also stellten wir notgedrungen eine eigene Einsatzgruppe
Kollege aus Arizona, William Boynton, verkündete, in der zusammen. Mühsam beseitigte das Team aus Ingenieuren
Nähe des Mars-Südpols Wassereis dicht unter der Oberfläche von Lockheed Martin, dem Jet Propulsion Laboratory, Ho-
entdeckt zu haben (»Gefrorener Ozean unter dem Marsbo- neywell und dem Langley Space Center der NASA mit Hilfe
den«, SdW 9/2002, S. 12). Auch in den nördlichen Ebenen des von Computersimulationen und Tests die Fehler, und im
Mars hatte sein Team Hinweise auf Wasser entdeckt, darun- ­Oktober 2006 schien endlich alles zu funktionieren. Dann
ter ein Band aus Wassereis am Rand der Decke aus gefrore- folgte die nächste Enttäuschung. Das Instrument, so fanden
nem Kohlendioxid, welche die Pole im Winter überzieht. Ich
war begeistert, markierte den Ort auf meiner Karte und fing
sofort an, die passenden Instrumente auszusuchen, um die- auf einen blick
ser Entdeckung noch weiter auf den Grund zu gehen.
Im irdischen Permafrost, dem arktischen Tiefkühlschrank Von Phoenix zu Curiosity
unseres Planeten, erhalten sich Spuren von Lebensformen,
die dort gelebt haben oder mit dem Wind dorthin getragen
wurden. Eske Willerslev von der Universität Kopenhagen hat-
1 2008 endete die Phoenix-Mission, bei der eine stationäre Sonde
auf dem Roten Planeten abgesetzt wurde.

te gerade auf einer Mars-Konferenz berichtet, dass er in DNA-


Material aus grönländischen Gletschern und sibirischem Per-
2 In diesen Wochen hebt ihr Nachfolger vom Erdboden ab: das
Mars Science Laboratory. Ab August 2012 soll dessen Rover
Curiosity den Gale-Krater und seinen kilometerhohen Zentralberg
mafrost auf die Überreste zahlreicher Pflanzen und Tiere ge- erkunden.

stoßen war. Wäre Ähnliches auch auf dem Mars möglich, in


Eis, das möglicherweise Millionen Jahre alt ist? 3 Die Ergebnisse der Phoenix-Mission haben die Hoffnungen
wiederaufleben lassen, dass auf dem Mars Leben existieren oder
zumindest existiert haben könnte. Das Mars Science Laboratory
Schließlich gelang es mir, eine Partnerschaft zwischen der mit seinen neuartigen Analysetechniken wird hierzu neue Erkennt-
University of Arizona, dem NASA Jet Propulsion Laboratory nisse liefern.
(JPL) und Lockheed Martin zu knüpfen. Unser gemeinsames

34  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Dezember 2011


Illustration: NASA, JPL / Caltech
Wie ein großes Auge blickt ein Laser
vom Mast des Rovers Curiosity. Wenn
seine Lichtpulse Gestein verdamp-
fen, analysiert ein Spektrometer das
Leuchten der entstehenden Gase.

»Curiosity«: Neugieriger Rover auf sechs Rädern


Am 25. November, spätestens aber Mitte Dezember schickt die ven Zerfall Wärme entsteht. Aus ihr gewinnt Curiosity etwa 120
NASA mit der 2,5 Milliarden Dollar teuren Mission Mars Science Watt elektrische Leistung und ist darum anders als Phoenix
Laboratory (MSL) den größten Rover aller Zeiten zum Mars: nicht auf Solarmodule angewiesen. Selbst in zehn Jahren könn-
­Cu­riosity. Er soll die alte Frage beantworten helfen, ob der Rote te die Batterie noch etwa 100 Watt liefern. Für energieintensive
Planet jemals günstige Bedingungen für Leben bot. Dafür ist er Manöver und Analysen stehen zudem aufladbare Lithium­
weitaus besser ausgestattet als alle seine Vorgänger. Während ionen-Akkus bereit.
die Marsmission Phoenix von 2008 eine stationäre Landesonde Wie schon Phoenix besitzt der Rover einen Roboterarm mit
war, kann der sechsrädrige Curiosity eine Vielzahl von Zielen an- einer Schaufel zur Probenentnahme und einer Kamera für hoch-
steuern. Und während seine Vorgänger – die 2004 auf dem Pla- auflösende Nahaufnahmen. Zusätzlich kann ein Bohrkopf in
neten gelandeten Rover Spirit und Opportunity – nur leichtes Gestein eindringen und es zu feinkörnigen Proben zermahlen.
wissenschaftliches Gerät mitführten, hat Curiosity bei einem Besonders futuristisch mutet der hoch entwickelte Laser der
Gesamtgewicht von 900 Kilogramm 80 Kilogramm wissen- ChemCam auf dem Mast des Fahrzeugs an (siehe Illustration
schaftliche Nutzlast mit an Bord. oben). Er schießt intensive Lichtpulse über eine Entfernung von
Nach neun Monaten Reisezeit, im August 2012, wird die bis zu sieben Metern auf Gestein, so dass das Gesteinsmaterial
Raumkapsel des MSL in die Marsatmosphäre eindringen. Kurz auf einem Punkt von der Größe eines halben Millimeters schlag-
vor der Oberfläche lässt dann die abgebremste Abstiegsstufe artig verdampft. Durch Analyse der charakteristischen Licht­
den Rover, der so groß ist wie ein Mini Cooper, an acht Meter emissionen des Plasmas kann ein Spektrometer nun auf dessen
langen Seilen auf den Boden herab – das vermeidet Erschütte- Zusammensetzung schließen.
rungen und erspart entsprechende technische Vorkehrungen. Das wichtigste Einzelinstrument ist das fast 40 Kilogramm
Als Landeplatz hat die NASA den äquatornahen Krater Gale aus- schwere, mobile Labor SAM (Sample Analysis at Mars). Es ana­
erkoren. Hier, mehr als vier Kilometer unter dem durchschnitt­ lysiert Bodenproben sowie Gas aus der Atmosphäre. Phoenix
lichen Oberflächenniveau, wird der Rover auf uralte Sedimente hatte noch alle Proben erhitzen müssen, was möglicherweise
stoßen. In der Kratermitte erhebt sich zudem ein fünf ­Kilometer or­ganische Moleküle zerstörte. SAM kann sie ebenfalls erhitzen,
hoher Berg. Einst war der Krater mit Wasser geflutet, vermuten alternativ aber auch in ein Lösungsmittel geben, in dem chemi-
Forscher. Der Berg, eher ein geschichteter Schutt­haufen, wäre sche Prozesse die Moleküle schon bei niedrigen Temperaturen
der dann Überrest einstiger Sedimentationsprozesse. verdampfen lassen. Analysiert werden die Gase dann durch ein
Curiosity kann täglich mehrere hundert Meter zurücklegen Massenspektrometer, einen Gaschromatografen und ein Laser-
und bewältigt Steigungen von bis zu 45 Grad. Während der min- spektrometer.
destens ein Marsjahr (etwa zwei Erdjahre) dauernden Primär-
mission soll er zwischen 5 und 20 Kilometer schaffen. Falls die Aktuelle Informationen zur Mission: www.spektrumdirekt.de/mars
Mission anschließend fortgesetzt wird, kann er beim Erklim-
men des Bergs immer jüngere Schichten untersuchen. Mit an Der Autor Mike Beckers ist Diplomphysiker und freier Wissenschafts-
Bord ist eine plutoniumhaltige Batterie, in der durch radioakti- journalist in Heidelberg.

www.spektrum.de 35
wir heraus, könnte Reflexionen vom abgeworfenen Hitze- Brustkorb zusammen. Sechs Feststoffraketen fielen in den
schild falsch interpretieren und so einen Abbruch der Lan- Atlantik, während drei weitere zündeten. Der Phoenix war
dung auslösen. Auch Schaltungen und Antennen erwiesen unterwegs.
sich als fehleranfällig. Zehn Monate später hatte er 600 Millionen Kilometer
Die Probleme schienen nicht aufzuhören. Im Februar zurückgelegt und begann, die Anziehungskraft des Mars zu
2007, nur fünf Monate bevor wir die Raumsonde auf die Trä- spüren. Das Landemanöver war sekundengenau geplant
gerrakete montieren sollten, hatten wir noch mit 65 Unregel- und perfekt vorbereitet. Die Umlaufbahnen der beiden
mäßigkeiten zu kämpfen. Ohne zuverlässiges Radar stand Marssatelliten Odyssey und Mars Reconnaissance Orbiter
aber der Start selbst in Frage. Besorgt verfolgte die NASA, wie waren bereits so angepasst, dass sie die Signale des Phoenix
wir stets neue Fehler entdeckten. Deren Schwere nahm aller- im Augenblick von seinem Eintritt in die Atmosphäre an die
dings ab, und im Juni konnten wir die Behörde davon über- Erde weiterleiten konnten, wo wir sie 15 Minuten später im
zeugen, dass die verbliebenen Probleme vernachlässigbar Kontrollzentrum empfangen würden.
wären. Dennoch blieb es ein Glücksspiel. Würden wir bis kurz
vor Schluss immer wieder fündig, wie können wir dann si- »Die Sonde ist zu schnell!«
cher sein, dass nicht weitere Fehler im System lauerten? Ich war trotzdem fast krank vor Sorge. Eine Landung auf dem
Im August 2007 schlossen wir im Kennedy Space Center, Mars ist wesentlich komplizierter als eine auf der Erde oder
dem US-Weltraumbahnhof in Florida, die letzten Tests ab, dem Mond. Die Raumsonde beginnt als interplanetare Reise-
und es ging an die Montage der Sonde auf der Trägerrakete. fähre, muss aber dann ihre Gestalt fünfmal verändern. Erst
Doch während ein Kran das Instrument zur Spitze der 40 stößt sie ihr so genanntes Marschflugmodul ab und verwan-
Meter hohen Delta-II-Rakete beförderte, brach ein Gewitter delt sich in eine stromlinienförmige Abstiegsstufe, die mit
aus und zwang die Techniker, den Montageturm zu evakuie- fast 20 000 Kilometer pro Stunde durch die Atmosphäre
ren. Unsere Raumsonde, die empfindlichen elektronischen fällt und der Reibungshitze widerstehen muss. Ist die Kapsel
Bauteile nur notdürftig abgedeckt, hing in einer Höhe von auf 1500 Kilometer pro Stunde abgebremst, entfaltet sich ihr
20 Metern inmitten eines fürchterlichen Sommergewitters. Fallschirm. Doch in der dünnen Atmosphäre kann dieser die
Nervös brachten wir sie danach zurück in die Montagehalle, Geschwindigkeit nur auf 150 Kilometer pro Stunde reduzie-
doch zum Glück schien sie intakt geblieben. ren. Einen Kilometer über der Oberfläche trennt sich die Lan-
Früh am Morgen des 4. August begann der Countdown. defähre von Kapsel und Fallschirm und geht in den freien
Ich verließ die heiligen Hallen des Kontrollraums, um den Fall über. Der nach unten gerichtete Schub von zwölf Düsen
Start direkt zu beobachten. Es war 5 Uhr 15, noch standen reduziert die Geschwindigkeit der Sonde weiter, bis sie nur
Sterne am Himmel, und im Osten zeigte sich der Mars. Plötz- noch einige Kilometer pro Stunde schnell ist und endlich
lich waren die Gebäude in der Umgebung der Abschuss­ waagerecht aufsetzt. Auch die speziell konstruierten Beine
rampe erleuchtet, als würde die Sonne aufgehen. Still erhob der Sonde dämpfen den Aufprall. In einem letzten Schritt
sich die Rakete in den Himmel. Eine halbe Minute später er- müssen sich die Solarmodule der Sonde entfalten. All das
reichte mich der Schall, die Druckwellen pressten meinen passiert in sieben Minuten – wenn es denn klappt.
1000 Meter über der Oberfläche, 800 Meter, 600 Meter.
Einer unserer Ingenieure verlas die Telemetriedaten, die uns
NASA, JPL / Caltech

das Radar schickte. Die Sonde ist zu schnell, überlegte ich un-
ruhig, bei diesem Tempo können wir nicht sicher landen. Als
Phoenix die Marke von 100 Metern erreichte, wurde es auf
Sedimente einen Schlag besser. 90 Meter, 80 Meter, 75 Meter. Der Vogel
verfestigte
Sedimente hatte Aufsetzgeschwindigkeit erreicht! Bald erreichte uns
das erste Signal von der Oberfläche, und der ganze Raum
brach in Jubel aus.
junge Kurz darauf ging es erneut um alles: Würde der Phoenix
Krater seine Solarmodule entfalten? Die nächsten zwei Stunden er-
Tone schienen uns endlos. Die Odyssey musste einmal den ganzen
te
lf a Mars umkreisen, bevor sie wieder Kontakt aufnehmen konn-
Su
jüngere te. Dann wussten wir endgültig: Die Module hatten wie ge-
Gesteinsschichten
plant funktioniert, und die Sonde schoss bereits Bilder. Ein
magischer Blick auf die Arktis des Mars wurde uns zuteil.
Entlang der rot markierten Täler trug einst fließendes Wasser Nach sechs Jahren Vorbereitung konnten wir nun den
Sedimente aus dem nördlichen Kraterrand (oben) in das geplante wissenschaftlichen Teil der Mission in Angriff nehmen. 35
Landegebiet. Sie lagerten sich fächerförmig ab und verfestigten Wissenschaftler, 50 Ingenieure und 20 Studenten begannen,
sich teilweise. Von hier aus wird der Rover südwärts in höhere Tag und Nacht zu arbeiten. Aus Gründen der Effizienz pass-
Regionen fahren und auf ton- und sulfathaltige Böden stoßen. ten wir uns dem Marstag an, der 24 Stunden und 40 Minu-

36  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Dezember 2011


Winzige Astronauten beim Härtetest

Photo Researchers / Eye of Science


Brachten einst Meteoriten das Leben auf die Erde? Das ist zu-
mindest möglich, denn jedes Jahr erreicht unter anderem etwa
eine Tonne Marsgestein unseren Planeten. Mit ihm könnten auch
extraterrestrische Mikroorganismen eingetroffen sein. Zwar set-
zen Einschläge von Himmelskörpern auf dem Mars, bei denen
Felsbrocken in Richtung Erde geschleudert werden, extrem viel
Energie frei. Experimente zeigen aber, dass die Ver­treter einiger
Spezies dies überleben würden. Auch den Eintritt des Meteoriten
in die Erdatmosphäre könnten die reisenden Kleinst­lebewesen
überstehen. Dabei erhitzen sich oft nur die äußeren Millimeter
des Körpers; das Gesteinsinnere böte also ausreichend Schutz.
Doch eine Frage bleibt: Würden die Organismen auch den Flug
durch das All überstehen? Schließlich sind Marsmeteo­riten meist
Tausende bis Millionen Jahre unterwegs, bis sie die Erde errei-
chen. Es gibt allerdings Ausnahmen: Für etwa einen von zehn Die millimetergroßen, wirbellosen Bärtierchen (Tardigrada)
Millionen dauert die Reise nur rund ein Jahr. sind resistent gegenüber Strahlung, Temperaturextremen und
Wenn die russische Raumfahrtbehörde im November ihre dem Vakuum im Weltraum.
Sonde Fobos-Grunt auf den Marsmond Phobos schickt, wird
darum ein kleiner Container voller irdischer Lebewesen an Bord
sein. Im Rahmen des Living Interplanetary Flight Experiment Denn die Spuren von Methangas in der Marsatmosphäre, so
(LIFE) haben wir eine Bodenprobe aus der israelischen Wüste vermuten manche Forscher, könnten von ähnlichen Organis-
Negev hineingepackt, die verschiedene Organismen beher- men stammen. Eine weitere Archaee ist Haloarcula marismor-
bergt. Außerdem gehen 30 Behälter mit Vertretern von zehn tui. Sie kommt problemlos mit hohen Salzkonzentrationen klar.
Spezies aus den drei biologischen Domänen Bakterien, Ar- Diese Eigenschaft wäre auch für Marsorganismen von Vorteil,
chaeen und Eukaryoten auf die Reise. Ausgewählt haben wir denn Wasser auf dem Mars muss stark salzhaltig gewesen
besonders widerstandsfähige Organismen sowie solche, die sein, damit es nicht gefror. Auf dem Marsmeteoriten Nakhla
potenziellen Marsorganismen ähneln. Fünf dieser Spezies ha- hat man sogar bereits Salzkrusten entdeckt. Die Mikrobe Pyro-
ben die Generalprobe schon überstanden – sie waren beim coccus furiosus schließlich lebt in vulkanisch-heißem Ozean-
letzten Flug des Spaceshuttles Endeavour im Mai mit dabei. sediment. So eignet sie sich hervorragend als Kontrollspezies
für unser Experiment: Wenn nur sie den Wiedereintritt in die
Bakterien: Das Bakterium Deinococcus radiodurans überlebt ex­ Erdatmosphäre überleben sollte, können wir daraus schließen,
trem hohe Strahlendosen, ohne dass sich seine Zellstruktur ver- dass die weiteren Arten wohl durch die Hitze und nicht durch
ändert. Meine Untersuchungen an den D.-radiodurans-Proben die Bedingungen im Weltraum abgetötet wurden.
von der Endeavour lassen mich vermuten, dass die Bakterien
auch die Reise mit der Fobos-Grunt überstehen. So könnten wir Eukaryoten: Lebewesen mit Zellkern stehen nicht in Verdacht,
Aufschluss über die Ursachen ihrer Widerstandsfähigkeit ge- einst vom Mars zur Erde gelangt zu sein. Dennoch nehmen wir
winnen. Bacillus subtilis (von dem wir zwei Varianten mitschi- drei Vertreter mit: neben der Hefe Saccharomyces cerevisiae
cken) und Bacillus safensis überdauern hingegen in Form von auch Bärtierchen (Foto) sowie Pflanzensamen von Arabidopsis
Endosporen, verhärteten Strukturen, die Strahlung und Hitze thaliana, wie sie schon in Apollokapseln durch das All reisten.
abblocken. Meine LIFE-Kollegin Gerda Horneck vom Deutschen
Zentrum für Luft- und Raumfahrt, die B. subtilis erstmals in den 2014 soll Fobos-Grunt zur Erde zurückkehren. Die Proben wer-
1960er Jahren ins All schickte, konnte zeigen, dass die Organis- den dann an Forschungsgruppen aus Russland, Deutschland
men dort bis zu sechs Jahre überleben. B. safensis schließlich und den USA verteilt. Spätestens nach deren Untersuchung
war vor zehn Jahren in einem NASA-Reinraum zur Montage von wissen wir, ob Lebewesen eine jahrelange Reise von Planet zu
Raumsonden (Spacecraft Assembly Facility, SAF) gefunden wor- Planet zumindest im Prinzip überleben können.
den – es hatte überraschend das sorgfältige Sterilisierungsver-
fahren überstanden. Der Mediziner David Warmflash arbeitet als Astro­biologe an der
Portland State University in Oregon. Er ist wissenschaftlicher Leiter des
Archaeen: Auch die Methan produzierende Spezies Methano- Living Interplanetary Flight Experiment (LIFE)-Experiments der Plane­
thermobacter wolfeii geht im Rahmen von LIFE mit an Bord. tary Society und twittert auf http://twitter.com/#!/CosmicEvolution.

www.spektrum.de 37
ten dauert, und leisteten jeweils zwei Schichten. So litten wir ten die einstigen Experimente mit Proben aus der chileni-
permanent unter einer Art Jetlag. schen Atacama-Wüste. Setzten sie der Probe Perchlorat zu,
Was der Phoenix dann im Lauf der Zeit entdeckte, darüber gab dieses Sauerstoff ab und oxidierte die organischen Ver-
wurde vielfach berichtet (siehe auch »Phoenix auf dem bindungen in der Probe. Dabei entstand auch Chlormethan.
Mars«, SdW 4/2010, S. 24). Gleich zu Anfang legte der Robo- Selbst eine beträchtliche Konzentration von organischen
terarm eine helle Bodenschicht frei, die wir im Verlauf von ­Bestandteilen, mehr als ein Teilchen pro Million, hätte der
drei bis vier Marstagen verschwinden sahen. Der Thermal ­Viking-Sonde auf diese Weise entgehen können. TEGA er­
Evolved Gas Analyzer (TEGA) – das Instrument kombiniert härtete diese Interpretation, denn bei Ofentemperaturen
acht Schmelzöfen mit einem Massenspektrometer, das die von über 300 Grad Celsius entdeckte das Instrument Kohlen­
austretenden Gase einer erhitzten Probe analysiert – belegte dioxid – also genau, was man erwarten würde, wenn orga­
schließlich, dass es sich tatsächlich um Wassereis handelte. nische Komponenten im Boden von Perchlorat oxidiert
Die Landschaft war nicht die trockene, wüste Ebene, als die werden.
sie erschien, sondern ein Eisfeld unbekannter Tiefe. Doch alles zusammengenommen lieferte Phoenix nur In-
dizien für mögliches Leben auf dem Mars. Nun hat es den
Als endlich alles klappte, war das Wasser verdampft Stab an das Mars Science Laboratory übergeben. Das MSL
Im Prinzip spielten wir wie ein Kind im Sandkasten. Der Ro- braucht Bodenproben nicht mehr zu erhitzen. Vielmehr wird
boterarm mit seiner Schaufel entnahm Proben und ließ sie der Marsboden einer besonderen chemische Suppe zugege-
in einen Schacht fallen, über den sie zu den Instrumenten ben, aus der organische Bestandteile verdampfen und von
­gelangten. Allerdings mussten unsere Steuerkommandos ­einem Massenspektrometer entdeckt werden können.
300 Millionen Kilometer überbrücken. In einem Testlabor in Die spektakuläre Phoenixmission währte fünf Monate,
Tucson, Arizona, hatten wir darum eine genaue Kopie von dann schlug der polare Marswinter mit Dunkelheit und Kälte
Roboterarm, Kameras und Materialschleusen aufgebaut, um zu. Im November 2008 verloren wir das Signal. Bis zum Früh-
unsere Kommandos erst zu testen, bevor wir sie zum Mars jahrsanbruch auf dem Mars hofften ich und meine Kolle-
schickten. gen – Optimismus gehört zum Berufsbild des Wissenschaft-
Aber anders als die lockere Erde aus Arizona, mit der wir lers –, dass der Phoenix sich erneut aus dem Eis der Polar-
geübt hatten, erwies sich der Marsboden als klumpig. Ein nacht erheben würde. Ein letztes Satellitenbild zeigt ihn aber
Drahtsieb vor der Probenschleuse, das eigentlich nur Stein- am Rand einer flussähnlichen Struktur, mit gebrochenen So-
chen herausfiltern sollte, hielt darum auch die Erde zurück. larmodulen, begraben unter der Last von Kohlendioxideis.
Von der ersten Schaufel gelangte kein einziges Körnchen in Aus einem Vorposten der Wissenschaft ist ein Teil der Land-
den TEGA-Ofen an. Ein spezieller Mechanismus erlaubte uns schaft geworden.  Ÿ
zwar, das Gitter vibrieren zu lassen; trotzdem dauerte es vier
Marstage, bis genug Material im Ofen landete; in der Zwi- der autor
schenzeit sublimierte natürlich jegliches locker gebundene Peter H. Smith von der University of Arizona war
gefrorene Wasser. Viele Proben verfehlten schlicht auch die an einigen der bekanntesten Missionen der
Schleusen. Die Erde, die doch senkrecht herunter in die Inst- Raumfahrt beteiligt, etwa Pioneer 11 und den
Marsrovern Sojourner, Spirit und Opportunity.
rumente rieseln sollte, wurde von starken Winden zur Seite Außerdem war er Chefwissenschaftler der
geblasen. Phoenix-Mission.
Zu den größten Überraschungen zählte die Entdeckung
zweier unerwarteter Verbindungen im Boden: Kalziumkar­
bonat und Perchlorat. Mikroorganismen in irdischen Wüsten Literaturtipp
können Perchlorate und Nitrate als Energiequellen nutzen;
Kessler, A.: Martian Summer: Robot Arms, Cowboy Spacemen, and
in konzentrierter Form kann Perchlorat außerdem den Ge- My 90 Days with the Phoenix Mars Mission. Pegasus, New York 2011
frierpunkt von Wasser auf minus 70 Grad Celsius ­senken, so Als Beobachter im Kontrollraum erlebte der Autor die Mission mit.
dass Mikroben in Kälteperioden eine Nische finden könnten.
Kalziumkarbonat wiederum entsteht, wenn sich atmosphä- Webli n ks
risches Kohlendioxid in flüssigem Wasser löst – ein weiterer www.spektrumdirekt.de/mars
Beleg dafür, dass die Region um den Phoenix einst feucht Aktuelle Nachrichten vom Mars Science Laboratory
war. Die Substanz erklärt auch die verklumpten Erdproben, http://mars.jpl.nasa.gov/msl/mission/whereistherovernow/
denn sie wirkt wie Zement. msl20110915/
100-minütiger öffentlicher Vortrag des Curiosity-Projektmanagers
Und wie steht es mit dem Rätsel um das Chlormethan, das Richard Cook
bei den Viking-Missionen aus den erhitzten Bodenproben
www.youtube.com/watch?v=P4boyXQuUIw
entwich? Die Wissenschaftler vermuteten damals eine Kon- Elfminütige Animation zur Mission Mars Science Laboratory
tamination mit einem irdischen Reinigungsmittel. Die Per- Diesen Artikel sowie weiterführende Informationen finden Sie im
chloratfunde lassen eine alternative Deutung zu. Forscher Internet: www.spektrum.de/artikel/1127413
der Universidad Nacional Autónoma de México reproduzier-

38  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Dezember 2011


schlichting!

Was das Feuer am Leben hält


Damit eine Kerzenflamme ruhig brennen kann, müssen zahlreiche
komplexe Vorgänge perfekt aufeinander abgestimmt sein.

Von H. joachim sch l ichtin g In der Flamme sind alle Naturkräfte tätig.
Novalis (1772 – 1801)

beide Fotos: H.-J. Schlichting


ie gute alte Kerze hat alle Neuerun- rie durchströmten Systems fernab vom
gen der Beleuchtungstechnik über- thermodynamischen Gleichgewicht.
standen. Gerade auch in der Advents- Aufrechterhalten wird die Flamme
und Weihnachtszeit, wenn die Tage durch die Dissipation von Energie: Sie
kürzer werden, setzt sie Zeichen der nimmt hochwertige chemische Energie
Hoffnung, der Freude und des Lebens. und Materie in Form von Kerzenwachs Der direkte Blick auf eine Kerze (links)
Was aber denkt sich der Physiker bei ih- und Sauerstoff auf und gibt im Gegen- und auf ihren Schatten (rechts) verrät
rem Anblick? Ihn beeindruckt über all zug Wärme und Gase an die Umgebung einiges darüber, wie sie funktioniert:
das hinaus der Kontrast zwischen der ab. Energie- und Materieströme bleiben Glühende Rußteilchen sorgen für Hellig-
Einfachheit der ruhig vor sich hin bren- dabei im zeitlichen Mittel konstant. Wa- keit (weißer Flammenbereich links) …
nenden Flamme und dem, was unsicht- rum klappt das so gut? Oder etwas tech-
bar bleibt: dem komplexen Zusammen- nischer gefragt: Wie kommt es zu dieser
spiel physikalischer, chemischer und eindrucksvollen Selbstorganisation gut transportiert. Erst dort, am oberen Ende
technologischer Vorgänge, die das Phä- aufeinander abgestimmter Vorgänge? des Dochts, verdampft und verbrennt
nomen erst möglich machen. In der Regel wird eine Kerze mit Hil- das Wachs schließlich. Denn das flüs­
Die Kerzenflamme, so beständig sie fe einer anderen Flamme entzündet. sige Wachs im Docht liefert die zur
erscheint, ist Ergebnis eines äußerst Das im Docht enthaltene erstarrte ­Verdampfung nötige Wärme, wodurch
­bewegten Mikrogeschehens: In jedem Wachs beginnt dabei zu schmelzen und seine ei­gene Temperatur unterhalb des
­Moment verlassen Teilchen verglühend zu verdampfen. Schließlich erreicht es Siedepunkts gehalten wird.
den klar umgrenzten Bereich der Flam- eine so hohe Temperatur, dass es mit
me und werden durch neu erglühende dem Sauerstoff der Luft reagiert und Der Docht neigt sich
Teilchen ersetzt. Rein energetisch be- verbrennt, wobei Wasserdampf und zur größten Hitze
trachtet ist die Flamme der sichtbare Koh­lenstoffdioxid entstehen. Außer- Probleme gäbe es erst, wenn der Docht
Teil einer »dissipativen Struktur« (Ilya dem wird Energie frei, die als Bewe- zu lang würde. Dann wäre das Gleichge-
Prigogine), eines von Energie und Mate- gung, Wärme und Licht der Flamme in wicht zwischen Brennstoff- und Sauer-
Erscheinung tritt. stoffzufuhr gestört, und die Kerze be-
Danach geht alles wie von selbst. gänne zu rußen. Doch auch in dieser
Spektrum der Wissenschaft / Buske-Grafik, nach: H.J. Schlichting

SAUERSTOFF
Abgase: Wasserdampf LICHT
Kohlenstoffdioxid Dank der von der Flamme ausgehenden Hinsicht organisiert sich die Flamme
Verbrennung Wärmestrahlung sorgt »das System« ei- selbst. Weil die brennende Kerze kürzer
ENERGIEFREISETZUNG genständig für Nachschub an Brenn- wird und der heiße Saum der Flamme
Glühen des Verdampfen
Wärme- des flüssigen
abgabe
Kohlenstoffs
Wachses stoff. Von der Hitze flüssig gehalten sich mit ihr nach unten bewegt, schiebt
nach außen
steigt das Wachs durch die Kapillaren sich der Docht kontinuierlich in die Hit-
Aufstieg im Docht des Dochts nach oben. Gleichzeitig zeregion hinein. Dort verkohlt und ver-
schmilzt die Flamme einen schüsselför­ dampft seine Spitze, was seine Länge
Verflüssigen des
festen Wachses migen Brennstofftank in das obere Ende konstant hält. Zudem kippt der biegsa-
Wachs (fest)
der festen Kerzensubstanz und füllt ihn me Docht, je länger er wird, zur Seite
mit Vorrat. Auch der Tank erneuert sich weg und damit genau in den bestens
Bei einer Kerze setzt verbrennender ständig, wenngleich man ihm das nicht mit Sauerstoff versorgten Bereich der
Wachsdampf Licht, Wärme und Abgase ansieht: Das feste Wachs, aus dem seine Flammenoberfläche. Hier ist die Flam-
frei. Ihre Helligkeit verdankt sie vor Wand besteht, schmilzt in genau dem me rund 1400 Grad Celsius heiß, und
allem glühenden Kohlenstoffteilchen, Maß, in dem der Docht flüssiges Wachs hier beginnt der Docht auch zu glühen
die nicht vollständig verbrannt sind. ins Reaktionszentrum der Flamme (siehe Foto oben).

40  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Dezember 2011


Da die Konvektion in der Schwere­­ Weit wichtiger für die Kerze als Licht-
losigkeit nicht funktioniert, kämen quelle ist aber ein anderer Effekt. Im In-
Raum­fahrer nie in den Genuss einer neren der Flamme klappt es mit dem
normalen Kerzenflamme. Was aber sä- Sauerstoffnachschub nicht mehr so gut.
hen sie stattdessen? Fixieren Sie ein- Wie die Farben zeigen (Foto linke Seite),
fach eine brennende Kerze in einem nimmt die Temperatur darum allmäh-
durchsichtigen Gefäß und werfen Sie lich ab, bis sie in unmittelbarer Docht-
dieses einem (guten) Fänger zu. Wäh- nähe noch lediglich 600 bis 800 Grad
rend des Flugs sehen Sie, wie die Flam- Celsius beträgt. Das verdampfende
me zu einer winzigen, blau leuchten- Wachs verbrennt dort nur unvollstän-
den Lichtkugel zusammenschrumpft. dig. Der nicht verbrannte Kohlenstoff
Weil unter diesen Bedingungen die lagert sich zu Rußteilchen zusammen,
Konvektion wegfällt, wird die Flamme die mit den Abgasen nach oben steigen
nämlich nur über die vergleichsweise und in dem weiß erscheinenden Be-
langsam ablaufende Diffusion mit Sau- reich der Flamme bei etwa 1200 Grad
erstoff versorgt. Celsius zu glühen beginnen. Vor allem
Die Hartnäckigkeit, mit der eine diesem Glühen ist es zu verdanken, dass
­Kerzenflamme allen Störungen zum die Kerze so hell leuchtet! Eine chemi-
… und einen Flammenschatten (rechts). Trotz stets wieder dieselbe Größe ein- sche Unvollkommenheit – schlechte
Der Docht kürzt sich glühend selbst, da er nimmt, beruht auf nichtlinearen Rück- Verbrennung – trägt also wesentlich zu
zur heißen Flammenoberfläche hin »fällt« kopplungsvorgängen. Wächst die Flam- ihrer technologischen Vollkommenheit
(links). Die heißen Verbrennungsgase me, muss ein entsprechend größeres bei. Es sind übrigens auch genau diese
steigen in einem Schlauch auf (rechts). Vo­lumen mit Sauerstoff und Wachs Rußteilchen, die Licht absorbieren und
­versorgt werden. Da das Volumen mit daher der Flamme selbst zu einem
der dritten Potenz der Flammengröße Schatten verhelfen (rechtes Foto).
Selbst die elegante, stromlinienför- ­zunimmt, gilt dies auch für das Vo­ Ist Ihnen aufgefallen, dass die Stoff-
mig nach oben gezogene Gestalt der lumen der zu- und abgeführten Gase. wechselvorgänge der Kerze denen von
Flamme ist keine bloße Laune der Na- ­Der Nachschub an Gasen erfolgt aber Pflanzen und Tieren überraschend äh-
tur. In ihr wird ein Konvektionsvorgang zwangsläufig durch die äußere Grenz- neln? In beiden Fällen sind es die Auf-
sichtbar, der für die Funktion des Sys- schicht der Flam­me, die ihrerseits nur nahme von Sauerstoff und Nährstoffen
tems wesentlich ist. Die Temperatur der mit dem Quadrat der Flammengröße sowie die Abgabe von Wasser, Kohlen-
heißen Flamme sorgt für eine im Ver- variiert. Berücksich­tigen wir nun noch, stoffdioxid und anderen Substanzen,
gleich zur Umgebungsluft geringe dass die Geschwindigkeit, mit der die welche für den Fortbestand der Syste-
Dichte der Verbrennungsgase. Der ent- Gase nachströmen, nicht beliebig groß me sorgen. Das haben schon die Dich-
stehende Auftrieb lässt diese zügig auf- werden kann, ist dem Flammenwachs- ter erkannt: »Der Baum ist nichts ande-
steigen, was Platz schafft für die von tum zwangsläufig eine Grenze gesetzt. res als eine blühende Flamme«, formu-
unten nachströmende sauerstoffreiche Dies gilt auch umgekehrt. Verklei- lierte etwa Novalis. Manchem diente
Frischluft. Dieser Vorgang ist für den nert eine vorübergehen­de Störung die die Metapher sogar als Bild für das Le-
Fortgang der Verbrennung ebenso Flamme, sind auf einmal mehr Ver- ben schlechthin: »Das, was sich in der
wichtig wie der Wachsdampf selbst. brennungsgase vorhanden, als benötigt Schöpfung Leben nennt«, schrieb Jo-
Die heißen Gase steigen in einem werden. So kann das Gebilde wieder hann Gottfried Herder, »ist in allen For-
schmalen Schlauch auf. Das spürt man wachsen, bis erneut ein stationäres men und allen Wesen ein und derselbe
schon mit bloßen Fingern, es geht aber Gleichgewicht erreicht ist. Geist, eine einzige Flamme.«  Ÿ
auch gefahrloser. Stellt man die bren- Doch warum leuchtet die Flamme
nende Kerze ins helle Sonnenlicht, bil- überhaupt? Bei der Reaktion von Wachs- der autor
det dieses den Schlauch an der dahinter­ dampf und Sauerstoff wird auf kleins-
liegenden Wand ab (oben). Denn beim tem Raum so viel Energie frei, dass die H. Joachim Schlichting
war bis 2011 Direktor
Übergang zwischen kalter Umgebungs- meisten Gasatome in Elektronen und
des Instituts für Didak-
luft und heißen Verbrennungsgasen Atomrümpfe – kurz: in ein Plasma – tik der Physik an der
ändert sich schlagartig der Brechungs- zerlegt werden. Die Natur strebt aber Universität Münster.
2008 erhielt er für sei-
index. Ein Teil des Lichts, welches durch nach Zuständen minimaler Energie. Die
ne didaktischen Kon-
das Innere des Schlauchs fällt, wird Teilchen versuchen also, wieder Gasato- zepte den Pohl-Preis
nach außen abgelenkt und überlagert me zu bilden, und entledigen sich ihrer der Deutschen ­Physi-
sich mit dem nicht abgelenkten Licht überschüssigen Energie durch Aussen- kalischen Gesellschaft.

zu einem schmalen, hellen Band. den von Lichtteilchen.

www.spektrum.de 41
Physikalische unterhaltungen

Klassische Mechanik

Die Unruh, das Pendel


und der Schmetterlingseffekt
Das biedere Pendel gibt nicht nur der Wanduhr – und in der Spiralfedervariante der mechanischen Armbanduhr – 
ihren genauen Gang. Wenn es einen Überschlag machen darf, kann es sogar Chaos produzieren.

Von Norbert Treitz

W ir haben uns im letzten Monat


mit einem Pendel besonderer
Art befasst: der fallenden Latte. Ihr
Theoretiker folgt, dass nämlich die Mas-
se des (gewöhnlichen) Pendels in einem
Punkt konzentriert sei, will sich seine
ihn horizontal hin- und herschwingen.
Die rücktreibende Kraft der Feder soll
der Auslenkung proportional sein. Das
höchst spezielles Verhalten – ihr Ende Bewegung nicht durch einfache For- ist der harmonische Oszillator, ein Lieb-
»fällt schneller, als das Gravitationsge- meln darstellen lassen. lingskind der theoretischen Physiker,
setz erlaubt« – ist darauf zurückzufüh- Da hängt der Theoretiker, damit er denn es gibt für seine Bewegung eine
ren, dass ihre Masse sich über die ge- die Schwerkraft nicht berücksichtigen geschlossene Darstellung: die Sinus-
samte Länge verteilt. Aber selbst wenn muss, den Massenpunkt lieber zwi- funktion. Wenn man die einfachste
man der Standardunterstellung der schen zwei Schraubenfedern und lässt Form der Reibung mitberücksichtigt –

Der harmonische Oszillator


Die Bewegung eines Massenpunkts in ➤ als Phasendiagramm (links oben): Die recht eine Energieskala, auf der die bei-
einem harmonischen Potenzialfeld ist Geschwindigkeit v ist gegen die Position x den Anteile (potenziell und kinetisch)
hier – wie auch im Kurzfilm – auf vier- aufgetragen. Ohne Reibung ergibt sich von unten nach oben aneinanderge-
fache Weise dargestellt: eine Ellipse, die bei passender Wahl des hängt sind. Der Boden des Topfs ist die
➤ als gewöhnliches Raum-Zeit-Dia- Verhältnisses der beiden Skalenfaktoren zu Parabel, welche die Abhängigkeit der
gramm mit Geschwindigkeit und Be- einem Kreis wird. Dann läuft der Pha­ Federenergie von der Auslenkung an-
schleunigung (rechts oben); senraumpunkt mit konstanter Winkelge- zeigt, die Summe liegt ohne Reibung
schwindigkeit um den Nullpunkt des Dia- auf einer Waagerechten, mit einer sol-
gramms; mit Reibung spiralt er einwärts; chen fällt sie im Zickzack ab;
➤ als Potenzialtopfbild (links unten): waa- ➤ als Diagramm Energie gegen Zeit
gerecht der Ort wie im Phasenraum, senk- (rechts unten). Die »gesamte« Energie
Geschwindigkeit v ist ohne Reibung konstant, mit einer
solchen fällt sie nur sehr ungefähr ex-
x ponentiell ab, denn Energie wird ja nur
in den Bewegungszeiten, aber kaum
v Zeit t
Auslenkung x nahe den Umkehrpunkten von der Rei-
alle Abbildungen des Artikels:  Spektrum der Wissenschaft, nach  Norbert Treitz

bung »abgeführt«.
Aus dem gleichen Grund schneidet
Beschleunigung a die einwärts laufende spiralähnliche
Kurve im Phasenraum bei vorhandener
Reibung nur die waagerechten Arme
Gesamtenergie E E des Achsenkreuzes rechtwinklig. Für den
harmonischen Oszillator bei der ge-
nannten passenden Skalenwahl (die rei-
kinetische

bungsfreie Bahn ist kreisförmig) kann


Energie

man sogar die Energiebilanz als Bild


potenzielle

zum Satz des Pythagoras ablesen: Die


Energie

potenzielle Energie ist proportional zu


x t
x 2, die kinetische zu v 2.

44  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · dezember 2011


Ein Schwerependel mit Reibung macht
Winkelgeschwindigkeit ω
zunächst mehrere volle Überschläge
und geht dann in die gedämpfte Pendel­
bewegung über.
ω Zeit t
φ
Winkel φ
Reibungskraft proportional zur Ge-
schwindigkeit –, kommt noch ein expo-
nentiell abfallender Faktor hinzu.
Der Experimentalphysiker kann sich Winkelbeschleunigung
für diese Form des harmonischen Oszil-
lators nur mäßig begeistern, denn es E E
kostet beträchtliche Mühe, den Massen-
punkt hinreichend reibungsarm über
eine horizontale Oberfläche gleiten zu
lassen. Da ersetzt er lieber die Punkt-
masse durch einen starren Körper, der
um eine ortsfeste Achse drehbar ist,
und die Schraubenfeder durch eine Spi- φ t
ralfeder um diese Achse herum oder
auch eine Wendelfeder; diese ist wie die
Schraubenfeder zylindrisch gewickelt,
wird aber auf Verbiegung des Feder-
Pendelbewegung, programmiert
drahts beansprucht. Wenn die Achse Harmonischer Oszillator
auch noch senkrecht orientiert ist, spielt Die folgende Programmschleife ist immer wieder (mehrere tausend Mal) zu durch-
die Schwerkraft selbst dann nicht mit, laufen:
wenn der Schwerpunkt nicht genau in 1 KinEn:=m*v*v/2;
der Achse sitzt. 2 PotEn:=D*x*x/2;
3 GesEn:=KinEn+PotEn;
Größere Präzision 4 F:=-x*D-v*r;
durch den »Wirbelwind« 5 v:=v+F/m*dt;
Das schätzen auch die Uhrmacher, 6 x:=x+v*dt;
denn Spiralfedern lassen sich so ferti- Darin sind x die Ortskoordinate, gemessen vom kräftefreien Punkt aus (ihn Ruhe-
gen, dass ihr rücktreibendes Drehmo- punkt zu nennen, wäre irreführend), v die Geschwindigkeit, F die Kraft und dt der
ment sehr genau proportional der Win- Zeitschritt zwischen den Rechenzeitpunkten. m, D und r sind Konstanten des Ge-
kelauslenkung ist, selbst wenn diese räts: Masse, Federkonstante und Reibungskonstante. Vor der Schleife müssen diese
mehrere Umdrehungen beträgt. Damit sowie Startwerte von x und v gegeben werden.
sind die Voraussetzungen für einen
harmonischen Oszillator – mit Winkel- Schwerependel
statt Längengrößen – wieder erfüllt. PotEn(w):=(1-cos(w))*Konst;
Nur kann man es bei einer mechani- 1 KinEn:=TraeghMom*WinkelGeschw*WinkelGeschw/2;
schen Taschen- oder Armbanduhr nicht 2 GesEn:=PotEn(w)+KinEn;
so einrichten, dass die Achse ständig 3 DrehMom:=-(PotEn(w+1e-6)-PotEn(w-1e-6))/2e-6;
senkrecht orientiert ist. Man muss da- 4 WinkelBeschl:=DrehMom/TraeghMom-WinkelGeschw*ReibKoeff;
her die rotierende Masse (die »Unruh«) 5 WinkelGeschw:=WinkelGeschw+WinkelBeschl*dt;
sorgfältig auswuchten oder die Unruh 6 w:=w+WinkelGeschw*dt;
in einen speziellen Käfig packen, der 7 if w>pi then w:=w-2*pi;
sich im Lauf von Stunden gegenüber 8 if w<-pi then w:=w+2*pi;
dem Uhrengehäuse dreht, um Störun- Die Bestimmung des Drehmoments erfolgt analog zu einer grafischen Ableitung: die
gen durch eine Unwucht wegzumitteln: potenzielle Energie an zwei Stellen vor und hinter dem gesuchten Winkel (1e-6 be-
das Tourbillon (»Wirbelwind«). deutet 10–6) wird abgefragt, die Differenz geteilt durch die Winkeldifferenz ist dann
Sowie die Masse statt an einer Feder das Drehmoment. Falls der Winkel w mehr als eine halbe Drehung überschreitet,
an einer Schnur im Schwerefeld hängt, wird er durch Addition beziehungsweise Subtraktion eines Vollwinkels auf seinen
ist es vorbei mit der schönen geschlos- Hauptwert umgerechnet, damit er nicht aus dem Potenzialtopfbild herausläuft.
senen Formel. Aber eine iterative Lö-

www.spektrum.de 45
Physikalische unterhaltungen

v Hat das Potenzial zwei Minima, so kann Federpendel nicht richtig auswuchtet,
die zugehörige Bewegung den Schmetter­ wenn also sein Schwerpunkt nicht ge-
lingseffekt demonstrieren. Ein beliebig nau in der Achse liegt. Man kann aber
kleiner Unterschied in der Anfangsenergie auch eine Fahrschiene zu einer Kurve
lässt die Kugel in dem einen statt dem mit mehreren Minima formen und ei-
x anderen Minimum zur Ruhe kommen. nen Waggon darauf laufen lassen (Bild
links). Im Programm geben wir einfach
eine weit gehend beliebige Kurve als
kraft, sondern das Ziehen am Auf­ Abhängigkeit des Potenzials von der
hängepunkt samt Achse entscheidend: Auslenkung vor. Wenn Reibung im Spiel
Wenn man eine Schwerependeluhr frei ist, hängt von deren Stärke und den
fallen lässt, pendelt sie durchaus nicht, Startwerten von Winkel und Winkelge-
E anders als eine Drehfederpendeluhr schwindigkeit ab, bei welchem Mini-
(mechanische Taschen- oder Armband- mum das Pendel zur Ruhe kommt.
uhr). Wenn wir ein mechanisches Met- Das widerlegt die alte Behauptung
ronom an einem langen Gummiband »Kleine Abweichungen in den Startwer-
auf- und abschwingen lassen, schlägt es ten führen auch zu kleinen Abweichun-
umso schneller, je größer die Quadrat- gen im Endzustand« (das »starke Gesetz
wurzel aus der augenblicklichen Span- der Kausalität«). Die wissenschaftliche
t
nung des Gummifadens ist. Folklore kennt diese empfindliche Ab-
Für die iterative Lösung dieses Pro­ hängigkeit von den Anfangsdaten als
sung mit kleinen diskreten Zeitschrit- blems müssen wir nur die Definition Schmetterlingseffekt – eines der Ein-
ten gibt es immer noch. Kurzfilme, die der potenziellen Energie ändern. Sie ist gangstore zur Chaostheorie.
mit einem entsprechenden TurboPas- jetzt nicht mehr dem Quadrat des Aus- Damit die Bewegung vollständig de-
cal-Programm gerechnet wurden, sind lenkungswinkels f proportional, son- terminiert ist, müssten die Anfangsda-
auf der Website www.spektrum.de/arti- dern der Funktion 1 – cos f. ten auf unendlich viele Stellen hinter
kel/1125586 dieses Artikels zu finden. In dem Komma bekannt sein, was nie wirk-
dem ganzen Programm (Kasten S. 45 Auf dem Weg zum Chaos lich erreichbar ist. Ohnehin kann die Ex-
unten) kommen nirgends Winkelfunk- Ein Lauf, der vieles Interessante zeigt, perimentalphysik mit dem Unterschied
tionen oder eine Berechnung einer Pe- hat eine nicht zu starke Reibung und zwischen rationalen und irrationalen
riode vor (außer einmal zur Festlegung beginnt mit mehreren vollen Über- Zahlen, der in der Chaostheorie ent-
der Skalenfaktoren). schlägen (Bild S. 45 oben). Das ist zu- scheidend ist, nichts anfangen. Dass es
Für das harmonische Federdrehpen- nächst noch gar keine Schwingung, überhaupt feste Strukturen wie definier-
del brauchen wir am rechnerischen Teil sondern eine Rotation, die im unteren te chemische Elemente gibt, denen das
des Programms nichts zu ändern, nur Scheitel etwas schneller ist als im obe- allgegenwärtige Chaos nichts ausmacht,
an der zeichnerischen Wiedergabe. Die ren, bis der obere nicht mehr über- verdanken wir der Quantenmechanik
mathematischen Zusammenhänge sind schritten wird. Es kann theoretisch pas- mit ihren diskreten Werten, die von
dieselben. Wir können die Größen, die sieren, dass das Pendel im oberen ganzen Zahlen abhängen. Ÿ
beim geradlinig laufenden Federpen­- ­Scheitel stehen bleibt und dann die Fre-
del auftreten, durch die entsprechen- quenz null und die Periode unendlich der autor
den des Drehpendels ersetzen: Winkel- erreicht. Bei sehr schwacher Reibung
Norbert Treitz ist pen­
statt Ortsauslenkung, Winkelgeschwin- und knappem Überschlag gibt es im
sionierter Professor für
digkeit statt Geschwindigkeit, eben­so Phasenraum im Grenzfall eine halbe Didaktik der Physik an
für die Winkelbeschleunigung, Dreh- ­Sinuskurve und ihr Spiegelbild, etwas der Universität Duisburg-
Essen.
moment statt Kraft, Trägheitsmoment später eine geschlossene Kurve, die zu
statt Masse. Die zur Federkonstante einer immer kleineren Ellipse (bei
analoge Drehfederkonstante wird auch ­geschickter Skalierung einem Kreis) quelle
als Direktionsmoment bezeichnet. Zeit spiralt. Der cosinusförmige Potenzial- Treitz, N.: Physik in bewegten Bildern
und Energie bleiben sie selbst, die Ener- topf wird nahe seinem unteren Schei- (CD). In: Brücke zur Physik. Harri Deutsch,
Frankfurt am Main 2003
gieanteile müssen aber nun aus den tel durch eine Parabel angenähert; das
­Rotationsgrößen berechnet werden. ist der harmonische Grenzfall. WEblink
Beim Schwerependel ist, wie ich in Ein kombiniertes Feder-und-Schwe­
Diesen Artikel sowie weiterführende
dem Artikel über »Dammi« (Spektrum rependel kann man bauen, wenn man Informationen finden Sie im Internet:
der Wissenschaft 7/2005, S. 106) darge- ein Schwerependel mit einer Drehfeder www.spektrum.de/artikel/1125586
legt habe, eigentlich nicht die Schwer- ausstattet oder – eher unfreiwillig – ein

46  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · dezember 2011


Ägyptologie I

C und 
14

die Chronologie Ägyptens


Bei der Entwicklung der Radiokohlenstoffmethode vor mehr als 60 Jahren dienten
Funde aus dem Reich der Pharaonen als Referenz. Heute versuchen u ­ mgekehrt
Naturwissenschaftler ihren Teil dazu beizutragen, offene Fragen der ägyptischen
Chronologie zu beantworten.
Von Eva Maria Wild und Walter Kutschera

»S
eid Euch bewusst, dass von diesen Pyramiden 40 Jahr­ Nach gut 200 Jahren Forschung gilt heute die Chronologie
hunderte auf euch herabblicken«, ermahnte Napo­ des antiken Nilstaats, festgemacht an der Abfolge seiner
leon Bonaparte seine Soldaten im Juli 1798 in Giseh. Herrscher und Herrscherinnen, eigentlich als gut bekannt.
Nach heutigem Wissen irrte sich der Feldherr bezüg­ Im Detail aber verbleiben Unsicherheiten, die immer wieder
lich der Cheopspyramide um etwa 400 Jahre; sie entstand Anlass zur Diskussion geben (siehe den Beitrag S. 56). Als Fol­
im 26. Jahrhundert v. Chr. Seine Fehleinschätzung verwun­ ge davon verwenden Ägyptologen nicht eine einzige, son­
dert nicht, denn die wissenschaftliche Erforschung Altägyp­ dern mehrere so genannte hohe und niedrige Chronologien,
tens begann mit ebendiesem Feldzug: Im Tross der Inva­ die ein höheres beziehungsweise niedrigeres Alter für Thron­
sionsarmee reisten Naturforscher und Inge­nieure, die alles, besteigungen angeben. Sie differieren für das Neue Reich
was sie im Land der Pharaonen sahen, vermaßen und doku­ nur um etwa zehn Jahre, bei der Datierung des Alten Reichs
mentierten (SdW 12/1994, S. 72 ). hingegen beträgt der Unterschied gut 100 Jahre.
Das Problem der korrekten Datierung teilt die Ägyptolo­
auf einen blick gie freilich mit anderen Altertumswissenschaften. Insbeson­
dere die zeitliche Entwicklung prähistorischer Kulturen ließ
Eine Uhr aus Kohlenstoff sich mangels schriftlicher Quellen lange nur anhand ihrer
Artefakte rekonstruieren. Vor allem Gebrauchskeramiken
1 In der Lufthülle entsteht unablässig radioaktives 14 C, das auch von
Lebewesen aufgenommen wird. In der Atmosphäre wie in der
Biomasse stellt sich annähernd dieselbe Konzentration davon ein. So-
dienten dabei als »Leitfossilien«, da sie sich auf Grund tech­
nischer oder kultureller Entwicklungen in den verschiede­
bald ein Lebewesen stirbt, zerfällt das aufgenommene 14 C. Anhand
nen Kulturphasen immer wieder in charakteristischer Weise
der verbleibenden Konzentration sollte sich feststellen lassen, wie
alt organisches Material aus einer archäologischen Fundstätte ist. verändert haben.
Eine absolute, nicht auf solchen Vergleichen oder Schrif­
2 Tatsächlich können diverse Effekte die 14 C-Datierung verfäl-
schen. Inzwischen kennen die Experten aber Methoden, sie zu
korrigieren, Messungen und Berechnungen präziser zu machen.
ten beruhende Datierung ermöglichte erstmals die Radio­
karbonmethode des US-amerikanischen Chemikers und Phy­
Ziel ist dabei auch, Kulturen, die keine oder wenige Schriftquellen sikers Willard Frank Libby (1908 – 1980); 1960 wurde er dafür
hinterlassen haben, in ihrer zeitlichen Entwicklung zu erfassen.
mit dem Nobelpreis für Chemie geehrt. Die aus dem Welt­

3 Den bisherigen Höhepunkt stellt eine umfangreiche Neudatie-


rung altägyptischer Proben dar. Sie stützt vor allem die von
dem Ägyptologen Ian Shaw erstellte Chronologie, zeigt aber auch
raum einfallende kosmische Strahlung, so Libbys Überle­
gung, zertrümmert in den höheren Schichten der Atmosphä­
zu anderen Chronologien Ägyptens nur geringe Abweichungen. re Atomkerne und setzt dabei Neutronen frei. Diese ver­
schmelzen mit den Atomkernen von 14 N, dem häufigsten

48  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Dezember 2011


Mensch & Kultur

iStockphoto / Luke Daniek


Stickstoffisotop; aus diesen entstehen – unter Freisetzung Traubenkerne aus dem Tempel der Königin Hatschepsut (Bild)
von Protonen – Atome des radioaktiven Kohlenstoffisotops gehörten zu den Proben, die jetzt mit 14C-Technik datiert wurden.
14
C. Da sie sich chemisch nicht anders verhalten als die der
häufigeren stabilen Isotope 12 C und 13C, reagieren sie mit dem
Sauerstoff der Luft zu 14 CO2. Dieses Kohlendioxid nehmen das bereits mit historischen Verfahren datiert worden war.
Pflanzen ebenso wie das normale CO2 auf und bauen es in Zum einen wollten die Forscher damit die Konstanz der kos­
ihre Biomasse ein. Über die Nahrungskette gelangt es dann mischen Strahlungsintensität nachweisen. Zum anderen
in Tier und Mensch; über die Atmung und die Zersetzung ging es ihnen auch um den Beleg, dass es überhaupt organi­
von organischem Material wird es wieder an die Atmosphäre sches Material gibt, dessen 14 C-Konzentration ausschließlich
abgegeben. Des Weiteren findet ein Austausch von Radiokoh­ durch den radioaktiven Zerfall verändert wurde, nicht aber
lenstoff zwischen der Luft und dem Oberflächenwasser der durch die Lagerungsbedingungen.
Ozeane statt. Libby war davon überzeugt, dass Transportpro­ Für diese Untersuchung verwendeten sie zum Beispiel
zesse sowie das Gleichgewicht zwischen dem radioaktiven eine Holzprobe vom Totenschiff des Pharaos Sesostris III.
Zerfall des Isotops und seiner Neuproduktion dafür sorgen, Diese Grabausstattung hatten Ägyptologen damals auf 1843
dass dieselbe konstante Konzentration von 14 C in der Luft wie plus/minus 50 v. Chr. datiert, zum Zeitpunkt der Untersu­
in der Biomasse vorliegt. chung im Jahr 1949 wäre sie also 3792 plus/minus 50 Jahre alt
gewesen. Die Radio­kohlenstoffdatierung ergab ein Alter von
Die 14 C-Uhr beginnt zu ticken 3700 plus/minus 400 Jahren. 1949 galt dies noch als Punkt­
Entscheidend ist nun dies: Mit dem Tod endet aller Aus­ landung. Heute wissen wir, dass die große Fehlerbreite Stör­
tausch, und die radioaktive Uhr startet. 14 C zerfällt zu 14 N, effekte verschleiert hatte.
doch weil kein Nachschub kommt, nimmt sein Anteil am Insbesondere stimmt Libbys Annahme über den 14 C-An­
­Gesamtkohlenstoff des Körpers exponentiell ab. Libby ging teil im Kohlenstoff der Atmosphäre in der Vergangenheit
­davon aus, dass der 14 C-Gehalt der Atmosphäre stets dem nur bedingt. Später von verschiedenen Forschern durchge­
heutigen entsprochen habe. Das Alter einer Probe organi­ führte Altersbestimmungen an Proben aus dem Alten Reich
schen Materials ließe sich daher durch einen Vergleich der wichen deshalb um einige hundert Jahre von den Datierun­
ent­haltenen 14 C-Konzentration mit der anfänglichen berech­ gen der Historiker ab. Denn eine lang anhaltende Schwä­
nen. Schon bei der Entwicklung der Radiokohlenstoffme­ chung des Erdmagnetfelds hatte in jener Epoche mehr kos­
thode spielte die Ägyptologie eine wichtige Rolle: Libby und mische Strahlung in die Lufthülle der Erde eintreten lassen,
sein Team nutzten Fundmaterial aus altägyptischen Stätten, was die Anfangskonzentration des Radiokohlenstoffs erhöh­

www.spektrum.de 49
Arnold,  J. R.,  Libby,  W. F.: Age determinations by radiocarbon content: checks with samples of known age.
In: Science 110, S. 678–680, 1949, fig. 1

Anhand einiger ägyptischer Proben bereits bekannten Alters


bewiesen Willard Frank Libby und sein Assistent James Arnold
1949 die Machbarkeit der 14 C-Datierung. Die dabei ange­
nommene Halbwertszeit verkürzten sie später auf 5568 Jahre.

5568 Jahren als Basis. Anschließend wird der ermittelte Wert


über eine Kalibrierkurve in ein Kalenderalter umgerechnet.
In dieser Kurve nun stecken die Informationen aus der Den­
drochronologie: Das 14 C-Alter von Baumringen ist hier gegen
das dendrochronologisch bestimmte aufgetragen. Dieser
Schritt korrigiert Schwankungen des 14 C-Anfangsgehalts. Ein
Vorteil: Auf diese Weise spielt der exakte Wert der Halbwerts­
zeit keine Rolle mehr – nach heutigem Kenntnisstand be­
trägt er 5700 plus/minus 30 Jahre.

Benachteiligung bei der Fotosynthese


Prinzipiell kann die 14 C-Messung etwa 50 000 Jahre zurück­
schauen, die Dendrochronologie jedoch nur etwa 12 500 Jah­
re. Die seit 2009 gültige Kalibrierkurve (IntCal09) geht den­
noch darüber hinaus. Sie beruht auf marinen 14 C-Archiven
te und im Labor dann ein geringeres Alter vortäuschte. Lib­ wie etwa Korallen und Karbonaten in Sedimentablagerun­
bys Verfahren geriet beinahe in Misskredit, während er selbst gen, die sich mit anderen Methoden absolut datieren lassen.
die Ergebnisse der Historiker bezweifelte. Anfang der 1960er Nicht nur die Stärke des Erdmagnetfelds beeinflusst den
Jahre aber wurde offenbar, dass die fraglichen Abweichun­ Gehalt an Radiokohlenstoff in der Atmosphäre und folglich
gen auch bei Hölzern auftraten, deren Alter mittels Dendro­ auch im organischen Gewebe. Einige physikalische und che­
chronologie ermittelt worden waren (siehe Kasten S. 52). mische Prozesse behandeln die verschieden schweren Koh­
Dieses Verfahren dient deshalb seit den 1980er Jahren lenstoffisotope unterschiedlich. So wird bei der Fotosynthe­
dazu, Radiokohlenstoffdatierungen zu korrigieren. Im Prin­ se – abhängig vom Stoffwechsel der Pflanze – mehr oder we­
zip bestimmt man dazu den 14 C-Anteil im Kohlenstoff des je­ niger bevorzugt das leichtere 12 C in die Biomasse eingebaut.
weiligen Materials und sucht eine Holzprobe mit demselben Daher ist das Verhältnis von 14 C zu 12 C in der Biosphäre varia­
Gehalt, deren Alter bereits anhand ihrer Baumringe eindeu­ bel, woraus sich 14 C-Altersunterschiede von einigen hundert
tig bestimmt wurde. In der Praxis vergleicht man nicht die Jahren bei zeitgleichen Proben ergeben würden. Zum Glück
Konzentrationen selbst, sondern bestimmt aus jener der un­ gibt es eine verlässliche Lösung: die Messung der stabilen
bekannten Probe ein so genanntes unkalibriertes 14 C-Alter; Isotope 13 C und 12 C. Ersteres wird bei der Fotosynthese ähn­
per Konvention dient dabei die »Libby-Halbwertszeit« von lich »benachteiligt« wie 14 C, daher bietet die Bestimmung des

Foto: Michael Friedrich, Hohenheim;


Daten nach: Reimer, P. et al. (2009); OxCal v3.10 Bronk Ramsey, C. (2005); cub r:5 sd:12 prob usp[chron]
Abweichung von der Theorie 6000 BP

5000 BP
Bei stets konstanter 14 C-Konzentration in der At-
mosphäre sollte das mit der Radiokohlenstoffme-
Radiokohlenstoffalter

thode ermittelte Alter dem wahren entsprechen 4000 BP

(rote Linie). Schwächelte das Erdmagnetfeld, ent-


stand aber mehr 14 C. Anhand dendrochronolo- 3000 BP
gisch datierter Holzproben (hier eine Eichenholz-
probe aus römischer Zeit) erstellten Forscher die 2000 BP
IntCal09-Kalibrierkurve (blau) zur Korrektur. Die
Angabe BP (Before Present) bezieht sich auf das
1000 BP
Jahr 1950, die Einheit calBP bedeutet kalibrierte
Jahre vor 1950. Feinere Variationen der Kurve, so
0 BP
genannte wiggles, haben ihren Grund in kurzzei- 5000calBP 4000calBP 3000calBP 2000calBP 1000calBP 0calBP
tigen Schwankungen der Sonnenaktivität. Kalenderjahre

50  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Dezember 2011


13
C-/12 C-Verhältnisses, das im Lauf der Jahrhunderte unver­ verteilung von Werten. Eine Altersangabe X plus/minus 30
ändert blieb und keinem radioaktiven Zerfall unterlag, eine Jahre bedeutet dann: Der Maximalwert der Verteilung liegt
Korrekturmöglichkeit. bei X; verfolgt man die Kurvenflanken bis zu ihren Wende­
Damit sind allerdings noch nicht alle störenden Effekte punkten, haben diese zum Maximum einen Abstand von 30
berücksichtigt. So weist der Kohlenstoff im Oberflächenwas­ Jahren. Dieser als Standardabweichung bezeichnete Bereich
ser der Ozeane eine geringere 14 C-Konzentration auf als der umfasst 68,2 Prozent aller Messwerte, bei Verdopplung der
Kohlenstoff der Luft. Der Grund für diesen Reservoireffekt Unsicherheit (plus/minus 60 Jahre) werden 95,4 Prozent
ist die relativ langsame Durchmischung der Ozeane: Auf­ ­erfasst. Die Prozentzahlen geben also die Wahrscheinlichkeit
steigende Meeresströmungen bringen »altes Wasser« aus an, mit der ein Wert im jeweiligen Intervall liegt. Wäre der Zu­
den Tiefen an die Oberfläche, das dort den Radiokohlenstoff sammenhang zwischen der unkalibrierten Radiokohlenstoff­
verdünnt. Lebewesen, die sich aus dem Meer ernähren, er­ datierung und dem wahren kalendarischen Alter linear, so
scheinen daher generell um etwa 400 Jahre zu alt, was auch würde sich nach der Kalibrierung wieder eine solche Gauß­
bei der Verwendung mariner Proben zur Erweiterung der Ka­ kurve ergeben. Die wiggles aber sorgen für einen komplexe­
librierkurve berücksichtigt wird. ren Verlauf.
Dieser Effekt kann sich sogar auf Landlebewesen auswir­ Dazu ein Beispiel aus unserem eigenen Labor: Wir unter­
ken. Proben, die von der südlichen Halbkugel unserer Erde suchten Traubenkerne aus einem der Gründungsdepots des
stammen, erscheinen auch nach der Kalibrierung etwa 40 Hatschepsut-Tempels (siehe Bild S. 49), der laut den histo­
Jahre zu alt. Der mittlere Gehalt an Radiokohlenstoff in der rischen Chronologien um 1470 v. Chr. errichtet wurde. Die
Atmosphäre ist dort nämlich etwas geringer, weil jener Teil ­Altersbestimmung ergab zunächst ein nichtkalibriertes 14 C-
der Erde zum größeren Teil von Meer bedeckt ist, so dass Alter von 3249 plus/minus 32 Jahren BP (einer Konvention
mehr 14 C-armes CO2 in die Luft gelangt. entsprechend wird das unkalibrierte 14 C-Alter in Jahren vor
heute, englisch Before Present, BP, angegeben, wobei als Be­
Unterstützung durch die Bayes-Statistik zugspunkt das Jahr 1950 dient). Nach der Kalibrierung erhiel­
Betrachtet man die Kalibrierkurve, fallen neben Langzeit­ ten wir aber eine Kurve mit mehreren Maxima. Der Zeitbe­
trends auch kurzfristige Schwankungen auf, so genannte reich, in den das wahre Alter der Probe mit einer Wahrschein­
wiggles. Die Ursachen dafür sind vielfältig und werden groß­ lichkeit von 95,4 Prozent fiel, umfasste deshalb 165 Jahre,
teils auf Änderungen der Sonnenaktivität zurückgeführt, nämlich von 1611 bis 1446 v. Chr. (siehe Grafik unten). Eine
sind aber im Detail noch nicht verstanden. Mit den heutigen einzige 14 C-Datierung ermöglicht daher oft keine Entschei­
Messmethoden lässt sich zwar das unkalibrierte 14 C-Alter in dung zu Gunsten einer der historischen Chronologien.
der Regel auf wenige Jahrzehnte genau ermitteln, aber durch Größere Präzision erreicht man durch mehrere Proben,
die wiggles kann der Kalenderzeitbereich, in den das wahre sofern deren zeitliche Abfolge bekannt ist. Der englische Ma­
Alter der Probe fällt, oft nur auf einige hundert Jahre genau thematiker Thomas Bayes (etwa 1701 – 1761) formulierte die
bestimmt werden. Grundlagen dieser nach ihm benannten statistischen Metho­
Physikalische Messungen liefern auf Grund von statisti­ de. Bei einer ungestörten Abfolge a, b, c von Siedlungsschich­
schen Unsicherheiten nie 100-prozentig genaue Resultate. ten etwa muss eine Probe aus der untersten Schicht a älter
Meist erhält man eine glockenförmige Wahrscheinlichkeits­ sein als eine aus der darüberliegenden Schicht b, diese wie­

Daten nach: Reimer, P. et al. (2009); OxCal v3.10 Bronk Ramsey, C. (2005); cub r:5 sd:12 prob usp[chron]
Folgen für die Praxis
Probe aus dem Gründungsdepot
3400 des Hatschepsut-Tempels
Radiokohlenstoffalter: 3249 ± 32 BP

Wiggles machen die Datierung komplexer. The-


oretisch sollte sich durch die Kalibrierung eine
Wahrscheinlichkeitsverteilung der mög­lichen
Kalenderjahre ergeben, die ebenso wie die der 3200
Radiokohlenstoffjahre einer Gaußkurve folgt.
Die Projektion der 14 C-Alter (rot) auf die Int-
Cal09-Kurve (blau; durch Unsicherheiten ver-
breitert) ergeben aber letztlich einen Verlauf 3000
mit mehreren Maxima (grau). Der 95,4-Pro-
zent-Bereich der hier dargestellten, am VERA-
Labor in Wien gemessenen Probe aus den Grün- 95,4 Prozent Wahrscheinlichkeit: von 1611 calBC bis 1446 calBC
dungsdepots des Hatschepsut-Tempels um- 1800 1700 1600 1500 1400 1300
fasst deshalb 165 Jahre (Klammer). Kalenderjahre (calBC)

www.spektrum.de 51
derum älter als eine aus c. Die Kombination des gemessenen leme, denn sie hatten nur die radiometrische Methode zur
14
C-Gehalts von Proben mit solchen Vorinformationen liefert Verfügung: Der Zerfall des 14 C-Isotops setzt Elektronen frei,
wesent­lich präzisere Datierungen. Dieses Verfahren lässt sich die ein Detektor registriert. Zwar befinden sich derzeit in le­
auch bei Proben anwenden, die zwar nicht aus einer einzigen bender Materie gut 60 Milliarden 14 C-Atome je Gramm Koh­
Ausgrabungsstätte stammen, bei denen jedoch die zeitliche lenstoff, doch bei einer Halbwertszeit von 5730 Jahren zer­
Abfolge durch andere Informationen genau bekannt ist. fällt davon jede Minute weniger als ein Milliardstel. Genauer
Entsprechende Fundobjekte sind in Museen vorhanden, gesagt werden dabei im Mittel nur 13,6 Elektronen ausge­
doch darf davon allenfalls eine geringe Menge entnommen sandt. Eine Präzision von 0,3 Prozent beziehungsweise 25
werden. Zur Zeit Libbys stellte deshalb das Nachweisver­ Jahren erfordert aber 100 000 Zerfallsereignisse. Das lässt
fahren des Radiokohlenstoffs die Forscher vor große Prob­ sich in einer vernünftigen Messzeit nur erreichen, wenn

Stichwort Dendrochronologie
Bäume der gemäßigten Breiten bauen neues Holz nur während Dendrochronologen verlängern solche Jahresringkurven im-
der Vegetationsperiode vom Frühjahr bis zum Herbst auf, im mer weiter in die Vergangenheit. Wird eine geeignete ältere
Spätherbst stellen sie das Wachstum ein. Das Resultat sind die Probe vermessen, suchen sie dazu nach Überlappungen der
Jahresringmuster, an denen sich das Lebensalter eines Baums Ringdickenmuster. Die mitteleuropäischen Jahresringchronolo-
abzählen lässt (der innerste Ring ist der älteste). Die Dicke der gien von Eichen und Kiefern reichen derzeit bis zum Ende der
Baumringe hängt von den am Standort herrschenden Wachs- Eiszeit vor etwa 12 500 Jahren zurück. Unbekannte Holzproben
tumsbedingungen ab. In warmen, feuchten Jahren baut die aus diesem Zeitbereich können durch Vergleich der Ringdicken-
Pflanze mehr Masse auf, in kälteren und/oder trockenen Zeiten muster in günstigen Fällen bis auf ein Jahr genau datiert wer-
fallen die Baumringe schmaler aus. Dadurch entsteht eine cha- den; damit ist die Dendrochronologie eine der genauesten Da-
rakteristische Abfolge, die als Grundlage einer Jahresringchro- tierungsmethoden überhaupt.
nologie herangezogen werden kann. Bäume einer Region zei-
gen typische Dickenabfolgen, die durch das regionale Klima ver-
ursacht werden. Lokal bedingte Schwankungen lassen sich Aus den Jahresringen von Holzproben, alten Bauhölzern und
dabei durch Mittelung von Dickenabfolgen mehrerer Bäume gefällten Stämmen werden Kurven der Ringbreiten gewonnen
derselben Region herausrechnen. und zu einer Chronologie überlagert.

Holzprobe

präparierte Holzprobe

Spektrum der Wissenschaft / Atelier Kühn


Jahresringbreite

Überlagerung

640 660 680 700 1920 1940 1960 1980


Jahre nach Christi Geburt

52  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Dezember 2011


mehrere Gramm Kohlenstoff zur Verfügung stehen – was nien, Österreich, Israel und Frankreich unter der Leitung von
selten der Fall ist. Christopher Bronk Ramsey von der University of Oxford
Den entscheidenden Fortschritt brachte eine Technik, mit ­daran gearbeitet, die ägyptische Chronologie mit den be­
der man die in der Probe vorhandenen 14 C-Atome direkt schriebenen Verfahren auf eine neue naturwissenschaftliche
nachweisen kann: Die Beschleunigermassenspektrometrie Grundlage zu stellen. Dabei konnte auch unser Labor seine
(Accelerator Mass Spectrometry, AMS; siehe Kasten unten) re­ Erfahrungen einbringen.
duziert die Probenmenge um etwa drei Größenordnungen in Europäische und nordamerikanische Museen wurden
den Bereich »Milligramm«, was sogar für kostbare Fund­ nach geeigneten Materialien durchforstet. Diese sollten nur
stücke akzeptabel ist; sie verkürzt obendrein die Messzeiten. von Landpflanzen stammen, um den marinen Reservoir­
Drei Jahre lang hat ein Wissenschaftlerteam aus Großbritan­ effekt zu vermeiden. Ausgeschlossen wurde hingegen orga­

Auf der Jagd nach 14C


Ob Dopingkontrolle oder chemische Analyse – Massenspektro- Leider bilden sich dabei auch die Kohlenwasserstoffe 12 CH 2–
meter sind oft die erste Wahl, wenn es darum geht, bestimmte und 13 CH –. Beide weisen fast dieselbe Masse wie 14 C auf, wieder
Stoffe in einem Gemisch zu identifizieren. Dazu wird die zu un- gibt es davon um viele Größenordnungen mehr. An dieser Stelle
tersuchende Probe meist in die Gasphase überführt und ioni- kommt nun der namensgebende Beschleuniger ins Spiel:
siert, dann ein beschleunigendes elektrisches Feld angelegt und Von einer positiven Drei-Megavolt-Hochspannung angezogen,
ein gerichteter Strahl von Ionen erzeugt. Mit magnetischen Fel- durchqueren die Molekül- und Atomionen eine kurze Gasstre-
dern lassen sich diese nun sortieren: Je geringer die Masse und cke (Stripper) und verlieren dort Elektronen, wodurch die Mole-
je höher die Ladung, desto stärker werden die Teilchen abge- küle aufbrechen und mehrfach positiv geladene 12 C-, 13 C- und
lenkt. Sie gelangen so zu Detektoren, die sie zählen. 14
C-Ionen resultieren. Nunmehr von der gleichen Hochspan-
Die winzigen Mengen an 14 C in einer archäologischen Probe nung abgestoßen und weiter beschleunigt, kann ein zweites
anhand ihrer Masse nachzuweisen, erfordert allerdings einigen Massenspektrometer sie unterscheiden. Den Detektor errei-
Einfallsreichtum. Konventionelle Massenspektrometer sind da- chen nur noch 14 C-Ionen.
für ungeeignet. Denn die Atommasse des Radiokohlenstoffs Sowohl die 12 C- als auch die 13 C-Ionen werden nicht als Ein-
unterscheidet sich kaum von der des Stickstoffisotops 14 N, das zelereignisse, sondern als Ionenströme gemessen. Daraus las-
den größten Teil der Luft ausmacht und das Messsignal völlig sen sich die benötigten Konzentrationsangaben ermitteln. Das
verdecken würde. Zum Glück bildet Stickstoff keine negativen Verhältnis 14C / 12C (10 –12 bis 10 –15) dient der Datierung, der Wert
Ionen. Bei der Beschleunigermassenspektrometrie (siehe Bild) 13
C / 12 C (10 –2) der Korrektur einer im Artikel beschriebenen Feh-
werden Proben deshalb mit einem Zäsiumstrahl zerstäubt – da- lerquelle. Derzeit wird der 14 C-Nachweis mit hoher Präzision an
durch entstehen negativ geladene Kohlenstoffionen. Kohlenstoffmengen im Milligrammbereich durchgeführt.

Niederenergie-Massenspektrometer
Vereinfachtes Schema der Cs-Sputterionenquelle zur
Erzeugung negativer Ionen
Beschleunigeranlage VERA 75 kV
Vorbeschleunigung AMS-Anordnung für 14 C-Messungen bei VERA
(Vienna Environmental ( Vienna Environmental Research Accelerator)
elektrostatischer
Research Accelerator) und Analysator
x/y-Schlitze
der dreistufigen Massen-
_
C
spektrometrie. Dabei sind
VERA-Labor, Wien

x/y-Schlitze 12
C
_
13 _
+3-MV-Tandem-
C
nur die für eine 14 C-Mes- x- Beschleuniger Analysiermagnet
Multi Beam Schlitze x/y-Schlitze
sung wichtigen Komponen-
Switcher
ten darstellt. Injektormagnet
Offset
Faraday Cups Ladeketten
Gas-/Folien-
Stripper Offset Stabilisotopen-
_ _ _ _ Faraday Cups Messung
C + 12CH 2 + 13CH +7 Li 2 +...
14

_
kein 14N ! 12
C
3+ x/y-Schlitze
13 3+
C

14
C-Detektor
x/y-Schlitze elektrostatischer
Analysator
0 1 2 3 4 5
Meter 14
C 3+ Hochenergie-Massenspektrometer

www.spektrum.de 53
nisches Material aus Süßwasserseen und Flüssen, weil 14 C- Kontrolle noch einmal am AMS-Labor im französischen Sa­
arme gelöste Karbonate eine ähnliche Wirkung haben (Hard- clay oder in unserer Einrichtung in Wien datiert. Manche hat
Water-Effekt). Auch Holz- und Holzkohleproben schieden man mehrfach untersucht, nachdem sie mit unterschiedlich
aus: Sie hätten aus dem Inneren eines Baumstamms kom­ starken chemischen Vorbehandlungsmethoden gereinigt
men können, während das zu datierende archäologische Er­ worden waren. Auf diese Weise ließ sich ausschließen, dass
eignis eher dem Zeitpunkt des Fällens, also dem Alter der Kontaminationen das Ergebnis verfälschen – in dem Fall hät­
­äußeren Baumringe, entsprechen würde (Altholzeffekt). Des ten sich unterschiedliche Alter ergeben. Von den insgesamt
Weiteren kamen Knochen nicht in Frage, da es nicht auszu­ 211 Datierungen mussten 23 auf Grund grober Inkonsistenz
schließen war, dass die betreffenden Lebewesen einst Fische mit den erwarteten Werten unberücksichtigt bleiben, so dass
und Mollusken verzehrt hatten – was den marinen ­Reservoir- letztlich 188 Ergebnisse verwendet werden konnten.
oder den Hard-Water-Effekt durch die Hintertür hereinge­
bracht hätte. 14
C-Unterschiede von Sommer und Winter
Trotzdem fanden sich ausreichend viele Proben aus dem Die Einbeziehung von zusätzlicher Information wie der Zu­
Alten, Mittleren und Neuen Reich: Früchte, Samenkörner, ordnung zu Regierungsperioden und deren Dauer ermög­
Überreste kurzlebiger Pflanzen, Papyri, Textilien und anderes lichte eine auf der beschriebenen bayesschen Sequenzierung
mehr. Sie ließen sich jeweils eindeutig einer Regierungsperio­ beruhende Modellrechnung. Dabei wurde auch ein erst kurz
de zuordnen. Die Proben wurden in Oxford und ein Teil zur zuvor von der Oxforder Datierungsgruppe erkannter Effekt

Der Lohn der Mühen


Im Rahmen eines internationalen Forschungsprojekts wurden Wissenschaftler die bayessche Statistik, um die Datierungen
Radiokohlenstoffdaten für eine Reihe ausgewählter Proben be- zu präzisieren. Kalenderzeitbereiche, die einer 95,4-Prozent-
stimmt. Dabei berücksichtigten die Forscher alle bekannten Wahrscheinlichkeit entsprachen, wurden mit Thronbesteigungs­
Fehlerquellen. Beispielsweise wurden die Überreste mariner angaben historischer Chronologien verglichen. Zumeist stützt
­Lebewesen von der Untersuchung ausgeschlossen, um den Re- die Radiokohlenstoffdatierung die zu den hohen Chronologien
servoireffekt der Gewässer zu umgehen. Überdies nutzten die gehörende Einteilung des britischen Ägyptologen Ian Shaw.

Spektrum der Wissenschaft / Meganim,


nach: Bronk Ramsey, C. et al.: Radiocarbon-Based Chronology for Dynastic Egypt. In: Science 328, S. 1554–1557, 2010
Altes Reich Mittleres Reich Neues Reich

Djoser Mentuhotep II Ahmose

Snofru Amenophis I
Amenemhat I
Thutmosis III
Cheops Sesostris I
Königin Hatschepsut
Djedefre Amenemhat II
Amenophis II
Chephren
Sesostris II Amenophis III
Mykerinos Amenophis IV
Sesostris III (=Echnaton)
Schepseskaf Tutanchamun
Amenemhat III
Userkaf Haremhab
Amenemhat IV Ramses I
Sahure
Königin Sobeknofru Ramses II
Djedkare
Sethnacht
Unas Wegaf
Ramses III
Teti Ramses IX
Ramses XI

2800 2700 2600 2500 2400 2300 2200 2100 2000 1900 1800 1700 1600 1500 1400 1300 1200 1100
berechnetes Datum der Thronbesteigung (v. Chr.)

Historische Chronologien
nach Shaw, I.: The Oxford History of Ancient Egypt. Oxford University Press, Oxford 2003 (hohe Chronologie)
C-Datum
14

nach Hornung, E. et al. (Hg.): Ancient Egyptian Chronology. Brill Publishers, Leiden 2006 (niedrigere Chronologie)

95,4-Prozent-Intervall nach Spence, K.: Ancient Egyptian Chronology and the Astronominal Orientation of Pyramids.
In: Nature 408, S. 320 – 324, 16. November 2000 (niedrige Chronologie des Alten Reichs)

54  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Dezember 2011


bedingt zu erwarten, denn in den vergangenen Jahren wurde
immer wieder Material aus der pharaonischen Zeit Ägyptens
mit der 14 C-Methode datiert, und vielfach wichen die Resulta­
te drastisch von der Einschätzung der Ägyptologen ab. Man­
che Unterschiede beruhen möglicherweise auf einer etwas
zu unkritischen Auswahl, die nicht korrigierbare Fehler ein­
brachte. So mag der Altholzeffekt bei Holzkohleproben die
Datierung verfälscht haben. Auch die Wiederverwendung
von Holz wäre zu bedenken – der Zeitpunkt der letzten Ver­
wendung könnte erheblich vom Fälldatum abweichen. Mit­
unter ist die Zuordnung eines historischen Datums unsiche­
rer als von den Ägyptologen angenommen.
Es gibt jedoch durchaus Untersuchungen, bei denen trotz
Ausschluss aller Störfaktoren Differenzen von 100 bis 150
Jahren auftraten, wobei die 14 C- Methode stets das höhere
­Alter ergab. Das betrifft etwa Funde aus Tell el-Dab’a im Nil­
delta, das vom Mittleren Reich bis zum Beginn des Neuen
Reichs besiedelt war. Physiker wie Ägyptologen sind sich je­
weils weit gehend sicher, dass ihre Datierung stimmt. Eine
berücksichtigt: An botanischen Proben bekannten Alters aus plausible Erklärung steht noch aus. Es ist zu hoffen, dass eine
dem 18. und 19. Jahrhundert n. Chr. stellte sich heraus, dass Lösung dank der in den vergangenen Jahren gewachsenen
solche aus Ägypten laut der Radiokohlenstoffmethode ein Zusammenarbeit zwischen Naturwissenschaften und Geis­
um 19 plus/minus 5 14 C-Jahre höheres Alter aufwiesen als teswissenschaften bald gefunden wird.  Ÿ
zeitgleiche Proben aus mittleren geografischen Breiten. Das
lässt sich relativ leicht erklären: Der 14 C-Gehalt der untersten di e autoren
Luftschicht (Troposphäre) unterliegt natürlichen Schwan­
Eva Maria Wild und Walter
kungen von etwa vier Promille, da im Sommer mehr und im
Kutschera sind Professoren an
Winter weniger Radiokohlenstoff von der Stratosphäre in die der Fakultät für Physik der
Troposphäre gelangt. Pflanzen aus den gemäßigten Breiten, Universität Wien und arbeiten
auf dem Gebiet der Isotopen-
die vor allem im späten Frühjahr und im Sommer wachsen,
forschung an der AMS-Anlage
bauen somit auch geringfügig mehr 14 C ein als solche aus VERA. Eva Maria Wild leitet das
Ägypten, deren Wachstumsperiode in die Wintermonate 14
C-Programm der Beschleuni-
geranlage VERA und war an der in »Science« veröffentlichten
fällt. Letztere erscheinen dann etwas älter. Die Korrektur geht
Arbeit über die 14 C-Datierung des pharaonischen Ägyptens betei-
davon aus, dass die klimatischen Verhältnisse vor dem Bau ligt. Walter Kutschera hat das VERA-Laboratorium begründet und
des ersten Assuanstaudamms (1902) über lange Zeiträume war zweiter Sprecher des FWF-Spezialforschungsbereichs
konstant waren. SCIEM2000 (The Synchronization of Civilizations in the Eastern
Mediterranean in the 2nd Millennium BC).
Die Modellrechnung ergab schließlich eine sehr präzise
absolute Chronologie des pharaonischen Ägyptens (siehe quellen
Grafik links). Sie wurde 2010 im Fachmagazin »Science« pub­
liziert und sorgt seitdem für Diskussion. Dank der großen Arnold, J. R., Libby, W. F.: Age Determinations by Radiocarbon
Content: Checks with Samples of Known Age. In: Science 110,
Zahl an Proben aus dem Neuen Reich konnten die jeweiligen
S. 678–680, 1949
Thronbesteigungen mit einer durchschnittlichen Genauig­ Bowman, S.: Radiocarbon Dating (Interpreting the Past). British
keit von 24 Jahren fixiert werden. Die hohe historische Chro­ Museums Publications, London 1990
nologie stimmt mit den 14 C-Daten am besten überein; diese Bronk Ramsey, C. et al.: Radiocarbon-Based Chronology for
Dynastic Egypt. In: Science 328, S. 1554 – 1557, 2010
Epoche könnte aber ebendiesen Daten nach sogar etwa eine Dee, M. W. et al.: Investigating the Likelihood of a Reservoir Offset
Dekade früher begonnen haben als allgemein ange­nommen. in the Radiocarbon Record for Ancient Egypt. In: Journal of Archaeo-
Für das Alte und das Mittlere Reich standen leider weniger logical Science 37, S. 687 – 693, 2010
Shaw, I.: The Oxford History of Ancient Egypt. Oxford University
Proben zur Verfügung. Dennoch sind die Resultate ausrei­ Press, Oxford 2003
chend genau, um für ersteres die hohe historische Chronolo­ Taylor, R. E.: Radiocarbon Dating – An Archaeological Perspective,
gie zu stützen. Für das Mittlere Reich lässt sich zwar keine Academic Press, Orlando 1987

eindeutige Aussage treffen, auch hier scheint die hohe Chro­


Weblink
nologie dennoch die stimmigere.
Bemerkenswerterweise ergaben die 14 C-Resultate jeweils Diesen Artikel sowie weiterführende Informationen finden Sie im
nur geringfügige Abweichungen und nie größere Widersprü­ Internet: www.spektrum.de/artikel/1124695
che zu den historisch bestimmten Daten. Das war nicht un­

www.spektrum.de 55
Ägyptologie II


Ein Puzzle der besonderen Art
Ägyptologen setzen die Chronologie des Nilstaats aus einer
Vielzahl von historischen Informationen zusammen: von
Tempelinschriften bis hin zu Zeitangaben auf Weinkrügen.
Von Thomas Schneider

K
alender sind Menschenwerk und somit gesell- Die altägyptische Kultur kannte dagegen keine fortlaufen-
schaftlichen Veränderungen unterworfen. Wenn de Datierung von einem Anfangspunkt her. Dennoch treffen
beispielsweise das Erscheinungsjahr dieser Aus- wir Aussagen darüber, wann beispielsweise die Cheopspyra-
gabe von »Spektrum der Wissenschaft« 2011 lau- mide gebaut wurde beziehungsweise ihr Auftraggeber König
tet, beziffert diese Zahl die seit Christi Geburt vergangenen Cheops regierte. Dazu dienen zwei recht verschiedene Me-
Jahre gemäß den Berechnungen des Mönchs Dionysius Exi- thoden: zum einen die naturwissenschaftliche Altersbestim-
guus im Jahr 525. Dem muslimischen Kalender zufolge, der mung von Objekten, durch die dann auch die historischen
mit dem Auszug des Propheten Mohammed von Mekka nach Kontexte, aus denen sie stammen, zeitlich festgelegt sind. So
Medina beginnt, würde ab dem 26. November 2011 das Jahr erlauben 14 C-Datierungen, die Regierungszeit des besagten
1433 den Einband zieren, im jüdischen Kalender wäre es so- Pharaos mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent in die
gar das Jahr 5772 nach Erschaffung der Welt. Zeit von 2640 bis 2560 v. Chr. zu verorten (siehe den Beitrag
S. 48). Dasselbe gelingt freilich ebenfalls mit der »histori-
auf einen blick schen Chronologie«, der auf schriftlichen Informationen be-
ruhenden Ordnung und Datierung von Ereignissen – dank
der Arbeit von Generationen von Forschern.
Chronologie der Herrscher Zeitangaben – beispielsweise die Daten von Ereignissen
oder die Dauer von Regierungen – haben uns die Ägypter des
1 Eine grobe Chronologie des alten Ägypten (3. – 1. Jahrtausend
v. Chr.) ergibt sich durch die Einteilung in Königsdynastien
und die Unterscheidung von Phasen politischer Stabilität und so
Altertums in großer Zahl überliefert. Sie helfen heute, die
korrekte Abfolge der ägyptischen Herrscher und die jewei­
genannten Zwischenreichen, Perioden des Umbruchs.
ligen Regierungszeiten festzustellen. Ägyptologen haben

2 Da die Ägypter eine Datierung von einem kalendarischen


Nullpunkt her nicht kannten, müssen beispielsweise die Regie-
rungsdauern der amtierenden Könige aus Tausenden von Einzel-
Tausende solcher Daten ausgewertet, etwa aus königlichen
Bauinschriften und Feldzugsinschriften. Aber auch Wein­
daten rekonstruiert werden. Dazu geht man von einem Fixpunkt im amphoren, die anlässlich der Beisetzungen von Pharaonen
1. Jahrtausend v. Chr. aus und arbeitet sich schrittweise zurück. in das Tal der ­Könige gebracht wurden, liefern verlässliche

3 Das größte Problem stellt die Überbrückung der schlecht doku-


mentierten Zwischenzeiten dar. Eine mögliche Lösung bieten
genealogische Berechnungen. Insbesondere die Chronologie des
Angaben. Erst vor Kurzem ließ sich dadurch feststellen, dass
die Amtsdauer des Königs Haremhab, die zuvor umstritten
3. Jahrtausends ist sehr unsicher; hier können naturwissenschaft- gewesen war, 14 Jahren betrug.
liche Datierungsmethoden (14C) weiterhelfen. Auch Erwähnungen astronomischer Phänomene – etwa
zur ersten Sichtung des Sirius oder des Neumonds – können

56  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Dezember 2011


Mensch & Kultur

The Trustees of the British Museum

Die Königstafel aus dem Toten­


tempel Sethos’ I. (Thronbe­steigung
um 1300 v. Chr.) listet 75 Vorgän-
ger auf. Sie bildet eine wichtige In-
formationsquelle – obwohl sie
manchen Herrscher unterschlägt.
Das Foto zeigt eine Kopie der Tafel
aus dem Totentempel Ramses’ II.

www.spektrum.de 57
hilfreich sein. Die moderne Astronomie vermag sie unter schenalter 100 Jahren entsprächen, entspreche dies einem
günstigen Umständen in absolute Daten umzurechnen, mit Alter der ägyptischen Zivilisation von mehr als 10 000 Jah-
denen sich ganze Epochen in unserer Kalenderrechnung ren. Natürlich ist das in dieser Vereinfachung falsch – die
­verankern lassen (siehe Spektrum der Wissenschaft 12/2008, Mehrzahl der ägyptischen Könige regierte jeweils nur wenige
S. 78). Hilfreich sind auch so genannte Synchronismen, bei- Jahre –, doch beweist der Bericht, dass es tatsächlich bis in die
spielsweise Ereignisse, die sowohl in ägyptischen Texten wie griechisch-römische Zeit hinein Königslisten gab.
in Schriftquellen aus dem Vorderen Orient vorkommen; die- Der Priester Manetho nutzte sie, als er in der Mitte des
se Gleichzeitigkeiten ermöglichen es, die Annalen des Nil- 3. Jahrhunderts v. Chr. eine erste Geschichte Ägyptens ver-
staats mit denen der mesopotamischen Reiche abzu­gleichen. fasste, die »Aigyptiaka«, um die neue, in der griechischen
Insbesondere für jene Epochen, in denen Ägypten unter Kultur verwurzelte Elite des Landes mit dessen Vergangen-
einer Zentralregierung vereint war – im Alten, Mittleren und heit vertraut zu machen. Er verfolgte dabei einen pragmati-
Neuen Reich sowie in der Spätzeit –, gibt es über die Abfolge schen Ansatz, der auch heute noch Gültigkeit hat: Manetho
der Könige und ihre Zeit auf dem Thron heute kaum noch fasste Könige zu »Dynastien« zusammen, die aus derselben
Unklarheiten. Anders verhält es sich mit den so genannten Familie stammten oder in derselben Residenzstadt regier-
Zwischenzeiten: Phasen des Umbruchs, in denen regionale ten. Von der mythischen Herrschaft der Götter bis zu den
Königtümer miteinander konkurrierten. Von ihnen kennen letzten Pharaonen vor der Eroberung Ägyptens durch Ale­
wir deutlich weniger schriftliche Dokumente. Königslisten xander den Großen umfasste sein Werk laut antiken
der ägyptischen Verwaltung bilden hier die wichtigste Infor- ­Berichten 31 Dynastien und 473 Herrscher. Leider sind die
mationsquelle. Ähnliche Listen hielten fest, welche Herr- »Aigyptiaka« selbst nicht erhalten, sondern nur Auszüge
scher der Vergangenheit in einem bestimmten Tempel kul- ­daraus in den Werken jüdischer und christlicher Autoren,
tisch verehrt wurden. insbesondere in der »Chronik des Africanus« aus dem 3. und
Der griechische »Vater der Geschichtsschreibung« Hero- der »Weltchronik des Eusebius von Caesarea« aus dem
dot, der um 450 v. Chr. im zweiten Buch seiner »Historien« 4. Jahr­hundert.
von einem vermutlich fiktiven Besuch Ägyptens berichtete, Die einzige auf uns gekommene Königsliste aus altägyp­
lieferte den Griechen darin einen Beweis für das in ihren tischer Zeit findet sich auf den Fragmenten des »Turiner
­Augen unglaubliche Alter der ägyptischen Zivilisation: »Nach ­Königspapyrus«; sie bricht aber schon vor dem Neuen Reich
diesem (gemeint war der erste König Ägyptens) zählten die ab, um 1530 v. Chr. Zahlreicher sind die im Tempelkult
Priester aus einem Buch die Namen von 330 anderen Köni- ­verwendeten »Königstafeln«, etwa jene im Totentempel
gen auf«, und da, wie die Priester ihm gezeigt hätten, in je- Sethos’ I. in Abydos (um 1300 v. Chr.; siehe Bild S. 57); diese
dem Menschenalter ein König regiert habe und drei Men- Quellen sind leider ungenau und verzeichnen keine Regie-
AKG Berlin / De Agostini Picture Library

Der Apisstier verkörperte den


altägyptischen Gott Ptah; das
Tier galt als Fruchtbarkeits­
symbol (hier eine Kultdarstel­
lung aus der Nekropole von
Sakkara). Angaben zu den
Lebens­daten der heiligen Tiere
bilden heute eine wichtige
Quelle für die Chronologie
Ägyptens.

58  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Dezember 2011


rungslängen. Zudem existieren in Stein gehauene Annalen,
die herausragende Ereignisse wie die Errichtung von Monu- Chronologische Übersicht
menten oder erfolgreiche Militärexpeditionen von Herr-
Altägyptens­(alle Angaben v. Chr.)
schern auflisteten und wohl als eine Art religiöser Rechen-
schaftsbericht in verschiedenen Tempeln Ägyptens auf­ 1. Dynastie etwa 3000 – 2840
gestellt wurden; zu nennen sind hier vor allem der 2. Dynastie etwa 2840 – 2730
»Palermostein« aus dem Alten Reich und die erst seit 30 Jah- Altes Reich etwa 2730 – 2230
ren bekannten Annalen Amenemhets II. aus dem Mittleren 3. Dynastie etwa 2730 – 2660
Reich. Auch diese Texte sind lückenhaft, von politischen Er- 4. Dynastie etwa 2660 – 2530
wägungen beeinflusst und zudem oft nur unvollständig er- 5. Dynastie etwa 2530 – 2380
halten. Erst in der Gesamtschau mit anderen Quellen tragen 6. Dynastie etwa 2380 – 2230
sie zu einem verlässlichen Bild bei. Erste Zwischenzeit etwa 2230 – 2030
Mittleres Reich und Zweite Zwischenzeit etwa 2030 – 1540
Heiliger Stier ermöglicht 12. Dynastie 1983 – 1801
Brückenschlag über zwei Jahrhunderte Sesostris III. 1873 – 1854

Wie kommt nun eine historische Chronologie zu Stande? sein 7. Jahr (Illahun-Datum) 1866

Wenn wir in der Zeit vom 1. zum 3. Jahrtausend rückwärts- 15. Dynastie 1648 – 1540

schreiten, ist ihr Ausgangspunkt der Regierungsbeginn des Neues Reich 1540 – 1080

Königs Taharqa im Jahr 690 v. Chr. – das letzte völlig sichere 18. Dynastie 1540 – 1294

Datum der ägyptischen Geschichte. Auch der Amtsantritt 19. Dynastie 1294 – 1192

von Schabaka 721 v. Chr. gilt bei zumindest den meisten Ex- 20. Dynastie 1192 – 1180

perten als unstrittig. Beide Könige gehörten der kuschiti- Dritte Zwischenzeit etwa 1080 – 664

schen, also einer aus Nubien stammenden 25. Dynastie an, 21. Dynastie 1080 – 956

die das in rivalisierende Fürstentümer zersplitterte Ägypten 22. Dynastie 956 – 736

der vorhergehenden Dritten Zwischenzeit wieder vereinte Schoschenq V. 774 – 736

und damit Ägyptens Spätzeit einläutete. Die schon zur Drit- 23. Dynastie Oberägyptens etwa 830 – 730

ten Zwischenzeit gerechnete 21. Dynastie und das davorlie- 24. Dynastie von Sais im Westdelta 727 – 715

gende Neue Reich der 18. bis 20. Dynastie – zu dem beispiels- 25. Dynastie (Kuschiten) 733 – 664

weise Tutanchamun (18. Dynastie) und Ramses II. (19. Dynas- Pianchi (seit der Eroberung Ägyptens) 733 – 721

tie) gehörten – bereiten ebenfalls kaum Datierungsprobleme. Schabaka 721 – 706

Die Zeit zwischen 956 und 721 v. Chr. ist hingegen unsicheres Schebitku 706 – 690

Terrain. Somit benötigen wir eine chronologische Brücke Taharqa 690 – 664

über gut zwei Jahrhunderte, für die Abfolge, Dynastiezu­ Assyrische Zeit 671 – 664

gehörigkeit und Regierungsdauer vieler Herrscher nicht be- Spätzeit 664 – 323

kannt ist. 26. Dynastie (Saitenzeit) 664 – 525

Diese Verbindung herzustellen, gelingt vor allem dank der 27. Dynastie (1. Perserherrschaft) 525 – 404

Lebensdaten eines heiligen Apisstiers, die auf Stelen aus dem 28. Dynastie 404 – 399

Serapeum in Sakkara verzeichnet sind (siehe Bild links). Das 29. Dynastie 399 – 380

Tier war nämlich von Schoschenq V., einem König der späten 30. Dynastie 380 – 343

22. Dynastie, »in sein Amt eingesetzt«, aber unter König Scha- 2. Perserherrschaft (»31. Dynastie«) 343 – 332

baka in der frühen 25. Dynastie bestattet worden. Damit ge- Alexander der Große 332 – 323

lingt es, jene kuschitische Herrscherlinie, die durch das er-


wähnte Datum von 690 v. Chr. fest verankert werden kann,
mit einer 22. Dynastie, die sich an die vorangehenden anhän- dauer dieser Ära von 460 Jahren. Demnach begann das Neue
gen lässt, zu verknüpfen. So ergibt sich eine Gesamtlänge Reich etwa 1540 v. Chr. Insbesondere auf Grund der Unsi-
vom Beginn der 22. Dynastie bis zur Wiedervereinigung cherheiten in der Dritten Zwischenzeit verbleibt aber ein
Ägyptens durch die 25. Dynastie unter Pianchi von etwa 220 Spielraum von etwa 20 bis 30 Jahren.
Jahren – Pianchis Nachfolger Schabaka ließ den Apisstier be- Der könnte mit Hilfe von Neumonddaten aus den Regie-
statten. rungen Thutmosis’ III. und Ramses’ II. eingegrenzt werden.
Die acht Könige der 21. Dynastie sind besser dokumentiert Ersterer erwähnt beispielsweise in seinen Annalen, dass die
und regierten insgesamt 124 Jahre. Somit folgt, von Taharqas Schlacht bei Megiddo, die am 20. Tag des ersten Sommer-
Inthronisierung 690 v. Chr. aus rückwärtsgerechnet, das monats in seinem 23. Regierungsjahr stattfand, auf einen
Ende des Neuen Reichs um 1080 v. Chr. Für dessen sehr gut Neumond fiel. Welches absolute Datum in unserer Zeitrech-
belegte 18 bis 20. Dynastie lassen sich Längen von 246, 102 nung dem entspricht, lässt sich astronomisch berechnen.
beziehungsweise 112 Jahren bestimmen, mithin eine Gesamt- Dabei muss berücksichtigt werden, dass das ägyptische Son-

www.spektrum.de 59
AKG Berlin / Hervé Champollion

AKG Berlin / De Agostini Picture Library


Sesostris III. (links) war ein König des Mittleren Reichs, weshalb die Verwendbarkeit ägyptischer Neumonddaten
Ahmoses I. (rechts) der erste Pharao des Neuen Reichs. Die Dauer überhaupt zweifelhaft ist.
der zwischen den beiden Epochen liegenden Zweiten Astronomische Datierungen gelten auch als mögliche Lö-
­Zwischenzeit berechnen Ägyptologen neuerdings anhand von sung, um die Zweite Zwischenzeit zu überbrücken, die dem
Inschriften aus den Gräbern hoher Beamter. Neuen Reich voranging, also um 1540 v. Chr. endete. Diese
Epoche umfasst folgende Phasen: das Ende der 13. Dynastie,
die Mitte des 17. Jahrhunderts ihre Kontrolle über Ägypten
nen- und Mondjahr unterschiedlich lang waren und sich da- verlor; lokale Herrscher, die als 14. und 16. Dynastie gelistet
mit gegeneinander verschoben. Erst nach 25 Jahren fiel der werden; die Zeit der vom östlichen Nildelta über weite Teile
Neumond im ägyptischen Sonnenjahr wieder auf genau Ägyptens herrschenden, aus Palästina stammenden Hyksos
den­selben Kalendertag, da 309 Mondmonate (9124,5 Tage) (15. Dynastie) sowie die 17. Dynastie im ober­ägyptischen The-
gleich lang waren wie 300 Sonnenmonate (9125 Tage). Schon ben, die das Niltal schließlich wieder vereinen und das Neue
früher ergaben sich allerdings Übereinstimmungen, die le- Reich begründen sollte. Viele Herrscher dieser Übergangs-
diglich um einen Kalendertag voneinander abwichen, näm- phase sind schlecht belegt, und es ist auch schwierig, Syn-
lich nach 11 und 14 Jahren. Dieser eine Tag entspricht der chronismen und Überlappungen festzustellen.
Fehlerbreite der Beobachtung der Gestirne mit bloßem
Auge. Für den Amtsantritt Ramses’ II. wurden daher meh­ Die Sterne lügen doch
rere geschichtlich plausible Alternativen vorgeschlagen, die Zum Überbrücken und Verankern des Mittleren Reichs wur-
um 11, 14 und 25 Jahre auseinanderliegen: 1304, 1290 oder de daher oft ein »Sothisdatum« aus dem siebten Regierungs-
1279 v. Chr. Daher sprechen Ägyptologen von längeren oder jahr Sesostris’ III., des fünften Herrschers der zwölften Dy-
kür­zeren beziehungsweise höheren oder nied­rigeren nastie, benutzt. Dabei handelt es sich um die Angabe eines
Chronolo­gien des Neuen Reiches (siehe den Beitrag ­S. 48). In Frühaufgangs des Sirius (ägyptisch Sothis) in den Verwal-
jüngster Zeit haben Untersuchungen leider gezeigt, dass tungsdokumenten der Tempelstadt Illahun südlich von
Himmelsbeob­achtungen vor der Erfindung des Teleskops Memphis. Die zuverlässigsten modernen Berechnungen er-
mit noch weit grö­ßeren Unsicherheiten behaftet waren, geben dafür das Jahr 1866 und damit 1873 für den Regie-

60  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Dezember 2011


rungsbeginn Sesostris’ III.; allerdings bestehen auch hier men. Das größte Problem, das sich hier in Sachen Chronolo-
Zweifel an der Verlässlichkeit der Daten zur Himmelsbeob- gie stellt, ist das damals verwendete Datierungssystem. Denn
achtung. erst seit der elften Dynastie war die Datierung von ­Ereignissen
Deshalb gibt es neuerdings Versuche, die Zweite Zwischen- nach den Regierungsjahren der amtierenden Könige üblich;
zeit allein mit den Mitteln der historischen Chronologie an- zuvor gab man »Viehzählungen« an – mithin die Jahre der
zugehen. Zunächst zeigt eine Addition der längsten überlie- Steuererhebungen. Lange gingen Experten von einem zwei-
ferten Regierungsdauern aus dieser Phase, dass zwischen jährlichen Zensus aus, da neben der Formel »Jahr der Zäh-
dem siebten Jahr Sesostris’ III. (dem möglichen Ankerpunkt lung« gelegentlich auch eine Angabe »Jahr nach der Zählung«
des Sothisdatums) und dem ersten Jahr Ahmoses’, des Be- belegt ist. Inzwischen ist aber deutlich geworden, dass es ent-
gründers des Neuen Reichs, mindestens 282 Jahre vergangen weder keinen strikten Modus gab oder wir ihn noch nicht
sein müssen. Weitere Informationen liefern nicht die Könige verstehen. Rückwirkend erstellte Königslisten aus späteren
dieser Umbruchphase, sondern die Beamten. Epochen helfen nicht, da ihre Autoren offenbar selbst diese
Ungeachtet aller politischen Verwerfungen besorgten An­gaben im Sinn von Regierungsjahren miss­verstanden.
fernab der jeweiligen Hauptstadt die Provinzverwaltungen Dass beispielsweise die Erbauer der großen Pyramiden der
ihr Geschäft. Macht und Ansehen der hohen Beamten wuch- vierten Dynastie, die Könige Snofru, Cheops und Chephren,
sen, was sich in ihrem Grabkult niederschlug. So priesen In- deutlich länger an der Macht gewesen sein mussten, als es
schriften das Leben und Wirken der Provinzgouverneure von diese altägyptischen Chronisten errechnet haben, machen
Elkab in Oberägypten – und ermöglichen es, eine Genealogie auch neuere Abschätzungen des Bauaufwands plausibel.
zu rekonstruieren, deren 13 Generationen sich vom Beginn Eine Rückrechnung von der Ersten Zwischenzeit zum
der Zweiten Zwischenzeit bis zum Anfang des Neuen Reichs ­Alten Reich, die sich auf Zensusdaten und andere Indizien
erstreckten. Eine Auswertung zeigt, dass zwischen dem sieb- stützt, ist daher mit großen Unsicherheiten behaftet. Sie
ten Jahr Sesostris’ III. und dem ersten Jahr Ahmoses’ nicht führt für den Bau der Cheopspyramide zurück in das 26. Jahr-
282, sondern 315 beziehungsweise 355 Jahre liegen, je nach- hundert v. Chr. Unterstützt wird diese Berechnung durch
dem, ob man mit einer durchschnittlichen Generationenlän- die Naturwissenschaften: Von einem internationalen For-
ge von 25 oder 30 Jahren rechnet. schungsteam ermittelte Radiokohlenstoffdaten stimmen
Ich selbst habe vor Kurzem versucht, aus den von christli- mit der hier durchgeführten historisch-chronologischen
chen Chronografen überlieferten widersprüchlichen Sum- Rekons­truktion recht präzise überein (siehe Grafik S. 54). Sie
menangaben für die Dynastien der »Aigyptiaka« Manethos stellen vor allem die ältesten Perioden der ägyptischen Ge-
die ursprünglichen Zahlen zu rekonstruieren. Wenn meine schichte, für die astronomische Datierungsmethoden um-
Berechnungen zutreffen, ergäben sich daraus für das besagte stritten sind, auf eine solide Basis und ergänzen damit die
Zeitintervall 327 bis 352 Jahre, bei einer Überschneidung der historischen Verfahren ideal.  Ÿ
13. und 17. Dynastie von 25 bis 50 Jahren, was zu den Biogra­
fien der Statthalter von Elkab passen würde und sich sogar
der autor
mit dem Sothisdatum 1866 v. Chr. vereinbaren ließe (der
­Abstand zum Beginn des Neuen Reichs beträgt 326 Jahre). Der deutsche Ägyptologe Thomas Schneider
Ohnehin bleiben alle diese Zahlen trotz aller Sorgfalt mit Un- lehrt und forscht an der Universität von British
Columbia in Vancouver (Kanada).
sicherheiten behaftet – niemand kann mit Gewissheit sagen,
dass das Neue Reich 1540 v. Chr. begann oder vielleicht doch
schon fünf Jahre zuvor.
Mit der zwölften Dynastie, der Sesostris III. angehörte, ste-
hen wir übrigens wieder auf sicherem Boden; sie dauerte
quellen
wohl 182 Jahre. Je nach Beurteilung der Dauer der Zweiten
Zwischenzeit dürfte sie also zwischen 2000 und 1975 v. Chr. Hornung, E. et al. (Hg.): Ancient Egyptian Chronology, Handbook of
begonnen haben. Oriental Studies 1, 83. Brill Academic Publishers, Leiden, Boston
2006
Auch dem Mittleren Reich ging eine Phase der Kleinstaa- Schneider, T.: Das Ende der kurzen Chronologie: Eine kritische
ten voraus – die Erste Zwischenzeit. Hier könnten die von Ma­ Bilanz der Debatte zur absoluten Datierung des Mittleren Reiches
netho genannten 185 Jahre für die Könige von Herakleopolis und der Zweiten Zwischenzeit. In: Ägypten & Levante / Egypt & the
Levant 18, S. 275 – 313, 2008
(dem wichtigsten Königtum dieser Umbruchzeit) bis zur Schneider, T.: Contributions to the Chronology of the New King-
Reichseinigung in der späten elften Dynastie (2040 – 2020 v. dom and the Third Intermediate Period. In: Ägypten & Levante /
Chr.) durchaus der historischen Wahrheit entsprechen. Perso­ Egypt & the Levant 20, S. 373 – 403, 2010
nenbezogene Daten von lokalen Beamten sowie die archäo-
Weblink
logischen Befunde zu den Nekropolen der Ersten Zwischen-
zeit sprechen ebenfalls für eine Dauer von rund 200 Jahren. Diesen Artikel sowie weiterführende Informationen finden Sie im
Das Alte Reich endete demnach etwa 2230 v. Chr. Damit Internet: www.spektrum.de/artikel/1124695
sind wir in der Ära der bekannten Pyramidenbauer angekom­

www.spektrum.de 61
ERDE3.0
neue sechsteilige Serie Serie Energie | Teil 1

Mit Power 
in die Zukunft
D er weltweite Bedarf an nutzbarer Energie ist im Lauf
der Menschheitsgeschichte stetig gestiegen und wird
laut sämtlichen Prognosen weiter zunehmen. Denn jeder
will ständig irgendetwas machen: zur Arbeit fahren, im In-
ternet surfen, die Wohnung beleuchten, das Haus heizen,
fernsehen, emailen, Pflanzen anbauen, in Urlaub fliegen,
eine Fabrik betreiben. Und dafür benötigt man das, was
heute die abstrakte Bezeichnung »Energie« trägt.
Laut den Gesetzen der Physik lässt sich Energie weder
vermindern noch vermehren – sie bleibt einfach erhalten.
Aber wandeln und umverteilen lässt sie sich schon, bei-
spielsweise zu den genannten Zwecken. Bleibt die Frage,
woher man sie bekommt. Hier ist inzwischen klar: Um eine
ebenso langfristige wie nachhaltige Perspektive aufzubau-
en, gilt es eine Welt zu betrachten, die jenseits von Kohle
und Gas die Zivilisation aufrechterhalten muss.
Schier unerschöpflich viel Energie liefert die Sonne. Sie
sendet 15 000-mal mehr Energie, als die Menschheit ver-
braucht. Doch die Solarenergie trifft die Erdoberfläche
gleichmäßig, also diffus. Die Nutzungen sind aber lokal –
und hier fangen die Probleme schon an.
»Spektrum der Wissenschaft« hat nun Experten und
Wissenschaftsjournalisten eingeladen, die wichtigsten Op-
tionen zu durchleuchten, die sich nach heutigem Stand von
Wissen und Technologie anbieten. Das Resultat ist eine
sechsteilige Serie über zukunftweisende Energien, die in
dieser Ausgabe startet, und zwar mit dem Thema »Sonne«.
Parabolrinnenspiegel erzeugen
Warum gerade jetzt? Anlass waren die Katastrophe von Fu-
in der Anlage Andasol 1 bei­
kushima (Spektrum der Wissenschaft 8/2011, S. 76) sowie
Granada elektrischen Strom.
die Kehrtwende der Bundesregierung bei der Atomenergie-
politik. Die hatte nach dem Unfall ein Ausstiegsprogramm
beschlossen, nachdem noch ein halbes Jahr zuvor die Lauf-
zeiten für AKWs verlängert wurden. Überblick
Damit ist klar, dass die »Alternativen« deutlich früher
zum Energiemix unserer Industrienation werden beitragen
Die Zukunft der EnergiE
müssen als ursprünglich geplant. Wie stehen die Aussich-
ten auf eine Welt, die hauptsächlich erneuerbare Energien Teil 1 Strom aus der Sonne Dezember 2011
Interview mit Eicke Weber
nutzt? Die Antworten sind niemals einfach – there is no free
Teil 2 Windräder Januar 2012
lunch! Umwälzungen im großen Stil werden unvermeidlich
Teil 3 Wasserkraft Februar 2012
sein. Die Menschheit wird nicht so weiterleben können wie
bisher­. Reinhard Breuer Teil 4 Biotreibstoffe März 2012
Teil 5 Energiespeicher I: Batterien  April 2012
Teil 6 Energiespeicher II: Wasserstoff Mai 2012

68  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Dezember 2011


Erde & Umwelt

Schott AG
Sonnige Zeiten
Die Fotovoltaik boomt, und solarthermische Kraftwerke stehen in den Start-
löchern: Strom aus Sonnenlicht stellt eine wichtige Säule für die zukünftige
Energieversorgung dar. Dennoch bleiben noch viele Hausaufgaben zu erledigen,
bis die Sonne fossile Energiequellen vollständig ablösen kann.

Von Bernd Müller

D ie Energiewende in Deutschland ist beschlossene Sache.


Im Frühjahr hat die Bundesregierung den Ausstieg aus
der Kernenergie verkündet und will nun verstärkt auf andere
seren Planeten jährlich mit einer Energiemenge von etwa
­einer Trillion Kilowattstunden (1,5 × 1018 kWh); dies entspricht
in etwa dem 15000-Fachen des gesamten Primärenergie­
Energieformen setzen. Aber auf welche? Kohlekraftwerke verbrauchs der Menschheit im Jahr 2006 (1,0 × 1014  kWh).
heizen den Treibhauseffekt an, werden jedoch wohl oder ­Zudem ist die Solarenergie bei der deutschen Bevölkerung so
übel noch Jahrzehnte zur Deckung des Grundlastbedarfs im beliebt wie keine andere Form der Strom­erzeugung. Laut ei-
Stromnetz vonnöten sein. Wesentlich sauberer arbeiten zwar ner Umfrage von TNS Emnid etwa liegt der Vertrauensindex
Windräder, zur Zierde von Küstengewässern oder Berggip- für Solarenergie bei 99 Prozent und nimmt damit die Spit-
feln gereichen sie aber nicht. Und das Potenzial der Wasser- zenposition vor allen anderen Energieträgern ein.
kraft gilt hier zu Lande bereits als nahezu ausgeschöpft. Der Weg ins Solarzeitalter scheint damit vorgezeichnet.
Wie gut, dass es die Sonne gibt. Ihre Energie ist praktisch Doch wie immer im Leben gibt es nichts umsonst – im Fall
unerschöpflich. Unser Zentralgestirn wärmt und erhellt un- der Nutzung der Sonnenenergie zahlt man sogar wortwört-

www.spektrum.de 69
lich einen hohen Preis. Denn die Fotovoltaik, bei der Sonnen- große Teile der Technologieentwicklung aus Deutschland,
licht mit Solarzellen aus Halbleitern direkt in Strom umge- etwa von Forschungsinstituten wie dem Fraunhofer-Institut
wandelt wird, ist momentan die teuerste regenerative Ener- für Solare Energiesysteme in Freiburg, von Lieferanten für
giequelle, weit teurer noch als Wind- oder Wasserkraft. In Produktionsstraßen wie der Solarfirma Manz AG in Reutlin-
letzter Zeit häufen sich daher die Forderungen, die Solarener- gen sowie von Modulherstellern wie Solarworld oder Q-Cells.
gie langsamer auszubauen und mehr in andere regenerative Made in Germany, used in Germany – etwas Besseres kann
Energiequellen zu investieren. Doch die mächtige Solarlobby einer Branche kaum passieren.
in Deutschland weiß, dass die Politik gar nicht anders kann, Doch dieses Idyll ist in Gefahr. Im August dieses Jahres
als ihre Branche zu fördern, gerade auch angesichts des über- schockierten gleich mehrere Hersteller von Fotovoltaikmo-
aus positiven Images in der Bevölkerung. Die Hersteller ver- dulen die Öffentlichkeit mit Gewinneinbrüchen. Auch ließ
weisen auf das enorme Wachstumspotenzial insbesondere eine Deckelung des EEG deutsche Investoren zurückhaltend
bei der Fotovoltaik, die neben den noch raren solarthermi- werden. Zudem haben asiatische Hersteller mittlerweile
schen Großkraftwerken das wichtigste Stand- enorme Produktionskapazitäten aufgebaut
bein der Sonnenenergienutzung darstellt. Die »Waschmaschi- und drängen nun mit Macht auf den deut-
dritte Form der Nutzung ist die solare Erwär- nen, die erst schen Markt. Damit geraten die Preise un-
mung von Wasser zum Heizen oder Duschen, ter Druck – und das ist gut so, denn die
die seit vielen Jahren bewährt und wirtschaft-
bei Sonnenlicht ­Fotovoltaik ist noch nicht konkurrenzfähig
lich ist. Das gilt vor allem für südliche Länder starten« im Vergleich etwa zu Kohlestrom. Mit der
wie Israel, wo Sonnenkollektoren bei Neubau- so genannten Grid-Parity – einem Preis-
ten längst Pflicht sind. Im Folgenden soll es aber nur um die gleichstand von Solarstrom und konventionellem Strom
Stromerzeugung mittels Solarkraft gehen. aus dem Netz – rechnen Experten frühestens für 2012 oder
Vorreiter bei der Fotovoltaik ist derzeit Deutschland. Al- 2013. Selbst dann wird Solarstrom weiterhin hoch subventio-
lein 2010 wurden hier zu Lande Module mit insgesamt rund niert sein.
7,4 Gigawatt Leistung aufgebaut, fast so viel wie in den 20 Manuel Frondel vom Rheinisch-Westfälischen Institut für
Jahren davor. So summiert sich die heute installierte Leis- Wirtschaftsforschung in Aachen sieht das dicke Ende erst
tung auf über 17 Gigawatt. Auch wenn manches dafür spricht, noch kommen. Über 80 Milliarden Euro an Subventionen
dass sich das exponentielle Wachstum der letzten Jahre auf schieben deutsche Verbraucher mit der EEG-Umlage vor sich
einen linearen Anstieg abschwächen und in andere Regionen her, die bis 2030 abbezahlt werden müssen. Von den 3,5 Cent,
der Welt verlagern wird, dürfte Deutschland weiterhin eine die jeder von uns pro Kilowattstunde Ökostrom als Umlage
Triebfeder hinter dieser Technologie bleiben. bezahlt, fließen etwa 40 Prozent in die Fotovoltaik, obwohl
Warum gerade Deutschland? Zwei Gründe haben zum Fo- diese Technologie nur 12 Prozent der erneuerbaren Energien
tovoltaikboom bei uns geführt. Zum einen das Erneuerbare- ausmacht. Denn auch wenn die gut 17 Gigawatt Solarleistung
Energien-Gesetz (EEG), das dem Besitzer einer entsprechen- auf dem Papier nach viel klingen und durchaus einen be-
den Anlage 20 Jahre lang eine fixe Einspeisevergütung ga­ trächtlichen Anteil der in Deutschland je nach Jahres- und
rantiert, womit er eine Rendite von fünf bis acht Prozent Tageszeit erforderlichen bis zu 73 Gigawatt decken könnten:
erwirtschaftet. Wer sich in den letzten Jahren eine Fotovoltaik­ Nachts scheint die Sonne nun mal nicht – und bei Bewölkung
anlage aufs Dach montierte, hat sein Geld definitiv besser ist die Ausbeute ebenfalls erheblich geringer, als die Wattzahl
­angelegt als die Aktienspekulanten. Zum anderen stammen des Moduls suggeriert.
Der tatsächliche Beitrag von Solarstrom zu einer nachhal-
tigen Energieversorgung ist also nach wie vor bescheiden. Ob
auf einen blick sich das bessern wird, hängt von vielen Faktoren ab. Eine
Roadmap der Unternehmensberatung Roland Berger für den
Mit tandem- und konzentratorzellen
Bundesverband Solarwirtschaft geht davon aus, dass bis

1 Die Solarenergie wird eine wichtige Rolle bei der Energieversor-


gung der Zukunft spielen. Deutschland ist beim Ausbau der
Fotovoltaik derzeit führend; Länder wie USA und China werden aber
2020 Fotovoltaikmodule mit einer Nennleistung von 52 bis
70 Gigawatt in Deutschland installiert sein werden. Das
in den nächsten Jahren vorbeiziehen, wobei China als Produzent von scheint angesichts fallender Preise asiatischer Massenmo-
Solarmodulen den Markt dominieren wird. dule durchaus realistisch. Die Rechnung geht aber nur auf,
wenn die Solarstromerzeugung mit dem Verbrauch in Ein-
2 Solarzellen bieten noch großes Verbesserungspotenzial. Vor
allem so genannte Tandem- und Konzentratorzellen trei-
ben den Wirkungsgrad nach oben, auch an die Nanotechnologie
klang gebracht werden kann: durch den Ausbau von Strom-
speichern aus Wasserstoff, Druckluft oder großen Akkumu-
knüpfen sich Hoffnungen.
latoren sowie durch ein intelligentes Verteilernetz (Smart

3 Neben der Fotovoltaik werden sich solarthermische Großkraft-


werke etablieren, weil diese Wärme speichern und damit
nachts Strom liefern können. Ob das ambitionierte Desertec-Pro-
Grid), das elektrische Verbraucher wie Waschmaschinen erst
startet, wenn die Sonne scheint. Beides hinkt dem Fotovol­
jekt Realität wird, ist freilich noch eine offene Frage. taikausbau noch hinterher und muss forciert werden, soll
der Solarboom energiewirtschaftlich sinnvoll werden.

70  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Dezember 2011


Fotovoltaik nach dem Bienen­
Solar Or, Israel

wabenprinzip: Diese neu­


artigen Solarzellen namens
»BeeHive PV« der jungen
israelischen Firma SolarOr
sollen einmal Glasfassaden von
Gebäuden bedecken. Jede der
doppelt acrylverglasten
sechseckigen Zellen enthält
eine Siliziumzelle, auf die
Sonnenlicht 2,5-fach verstärkt
gelenkt wird. Ein Quadrat­
meter dieser Panels produziert
mit einem Wirkungsgrad von
14 Prozent etwa 140 Watt.

Deutschland allein wird das Weltklima aber nicht retten. nisieren. Nur eine Verknappung von Verschmutzungsrechten
Es kommt vielmehr darauf an, welche Entwicklung die Bran- parallel zum Ausbau erneuerbarer Energien brächte also die
che auf anderen Kontinenten nimmt. Und da sind die Aus- gewünschte Entlastung fürs Klima.
sichten tatsächlich sonnig. Vor allem die beiden größten Dennoch: Die politischen Scharmützel um Einspeise-
Luftverpester USA und China haben den Zubau von Solar- boni und der wirtschaftliche Druck durch asiatische Billig­
kraftwerken inzwischen massiv hochgefahren. 2010 lag die ware verdecken mitunter die Tatsache, dass die Fotovoltaik
neu installierte Leistung in diesen Ländern jeweils bei etwas noch erhebliches technologisches Entwicklungspotenzial
über einem Gigawatt. Voraussichtlich in drei Jahren werden hat. Während die Kunst der Kohleverbrennung in Dampf­
beide Staaten Deutschland beim Bau neuer Anlagen über­ maschinen nach 300 Jahren nun weit gehend ausgereizt ist,
holen. hat die Perfektionierung der Fotovoltaik mit Hilfe ernsthaf-
ter Grundlagenforschung erst in den letzten Jahrzehnten
Laser steigern den Wirkungsgrad richtig begonnen.
Eicke Weber vom Fraunhofer-Institut für Solare Energiesys- Manche spektakulären Konzepte wie die Erzeugung von
teme (siehe Interview S. 72), glühender Befürworter der Foto- Biosprit direkt aus Sonnenlicht (siehe Kasten S. 76) sind zwar
voltaik, war selbst überrascht von einer Prognose von Foto- noch mindestens ein Jahrzehnt vom kommerziellen Einsatz
voltaikmodulherstellern anlässlich der Messe Intersolar 2011 entfernt. Doch werden viele kleine Verbesserungen vor allem
in San Francisco. Demnach rechnet die Branche jährlich mit in der Produktionstechnik in den kommenden Jahren den
bis zu 200 Gigawatt an neuen Modulen um 2020. Damit Wirkungsgrad der Solarzellen in kleinen Schritten hochtrei-
würde die Menschheit geradezu mit Riesenschritten ins So- ben. Weil die Kosten der Module weiter sinken, steigt damit
larzeitalter marschieren. Kombiniert man diese Anlagen die Wirtschaftlichkeit für die Investoren, während gleichzei-
etwa mit Pumpspeicherkraftwerken – und gerade China tig die EEG-Vergütung abnehmen kann.
dürfte wenig Skrupel haben, auch weiterhin Dörfer umzusie- Allen Konzepten gemeinsam ist, dass bei der Produktion
deln und ganze Landstriche unter Wasser zu setzen –, könnte Laser zum Einsatz kommen. So wird das intensive Laserlicht
das in der Tat die lang ersehnte Energiewende bedeuten. zum wichtigsten Werkzeug für die Fotovoltaikforscher – etwa
Ob das auch eine Wende fürs Weltklima wäre, bleibt um- bei folgenden Verfahren:
stritten. So verweist Manuel Frondel darauf, dass bisher kei- ➤  Selektive Emitter: Der Emitter, also die sonnenzugewand-
ne deutsche Fotovoltaikanlage Kohlendioxid eingespart hat. te Halbleiterschicht einer Solarzelle, sammelt die vom Son-
Zum einen entstehen mit jeder Kilowattstunde erzeugten nenlicht erzeugten Elektronen über dünne Leiterbahnen ein.
Solarstroms über 100 Gramm des Treibhausgases, weil die Damit er möglichst gut leitet, wird er mit Phosphoratomen
Herstellung der Module sehr energieaufwändig ist und die- gezielt verunreinigt – der Fachmann spricht von Dotierung.
ser Aufwand erst nach Jahren sauberer Stromlieferung ab­ Allerdings sollte die Konzentration der Fremdatome unter
gegolten ist. Zum anderen führt die massive Einspeisung den Leiterbahnen höher sein als in der Fläche, die dem
von Solarstrom zu fallenden Preisen für Treibhausgas-Ver- ­Sonnenlicht ausgesetzt ist, weil dort sonst zu viele Ladungs­
schmutzungszertifikate. Für Betreiber von Kohlekraftwerken, träger verloren gehen. Zu diesem Zweck treibt ein Laser die
vor allem in Osteuropa, ist es jedoch billiger, solche Ver- Phosphoratome in den Silizium-Halbleiter hinein und rei-
schmutzungsrechte zu kaufen, als ihre Kraftwerke zu moder- chert den Kristall in einem schmalen Bereich damit an. Der
>>> weiter auf S. 74

www.spektrum.de 71
Interview

Apostel der Solarwende


Eicke Weber ist Physiker und Experte für Halbleiterforschung. Seit 2006 leitet er
das Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme (ISE) in Freiburg, das größte
europäische Forschungsinstitut für Solarenergie. Daneben hat er einen Lehrstuhl
für Solare Energiesysteme an der Universität Freiburg inne. Im Interview erläutert
Weber, warum er die Solarwende für unausweichlich hält.

Herr Professor Weber, in Deutschland kommt der men, die ich kürzlich von einigen Herstellern auf der Inter-
Atom­ausstieg jetzt schneller als gedacht. Kann die Solar­ solar-Messe in San Francisco gehört habe, steht uns der
technologie die damit entstehende Lücke in der Energie­ richtige Boom erst noch bevor. 100 Gigawatt werden allein
versorgung schließen? bis zum Jahr 2020 neu hinzukommen, manche reden sogar
Weber: Davon bin ich überzeugt. Die Solarenergie kommt von 200 Gigawatt. Insgesamt wären dann weltweit rund
aber in erster Linie deshalb, weil wir sowieso eine Energie- 600 Gigawatt Leistung installiert. Das führt zu so niedrigen
wende brauchen. Das hat mit der Kernenergie nur wenig Preisen, dass Sie Module als Massenware quasi im Super-
zu tun, sondern hat vor allem zwei Gründe: Zum einen markt kaufen können.
gibt es momentan zwar noch genug Erdöl, doch die Schere Welchen Anteil hätte die Fotovoltaik dann 2020 an der
zwischen Bedarf und Förderung geht immer weiter ausei- gesamten Energieversorgung?
nander; fossile Energiequellen können den Bedarf nicht Weber: Derzeit beträgt der globale elektrische Leistungs­
mehr decken. Außerdem wird das Klima durch die CO2- bedarf rund 16 Terawatt (16 000 Gigawatt). Bis 2050 wird er
Freisetzung instabil, wir leben sozusagen in einem perma- auf 30 Terawatt steigen, weil die Schwellenländer deutlich
nenten künstlichen Vulkanausbruch. Eine Umstellung auf zulegen werden. Pessimistisch kalkuliert wird die Fotovol-
nachhaltige Energiesysteme ist also unabwendbar, und taik dazu zehn Prozent beisteuern, das wären also drei Tera-
zwar weltweit. Damit schlagen wir beide Fliegen mit einer watt. Dafür müssen wir Solarmodule mit zwölf Terawatt in-
Klappe. stallieren, denn seine Spitzenleistung erzeugt ein Modul
Sie sind gewissermaßen von Amts wegen ein Verfech­ nur unter optimaler Sonneneinstrahlung, und es kann auch
ter der Sonnenenergie, insbesondere der Fotovoltaik, die an sein, dass überschüssiger Strom gerade nicht gebraucht
Ihrem Institut maßgeblich entwickelt wurde. Kritiker be­ wird. 12 000 Gigawatt bis 2050 schaffen wir locker, wenn es
mängeln aber, dass gerade die Fotovoltaik die teuerste Form bis 2020 schon 600 Gigawatt sind und die Produktions­
der nachhaltigen Stromerzeugung ist. kapazitäten weiter exponentiell wachsen. Ich glaube sogar
Weber: Es stimmt natürlich, dass viele Fördermittel ins­ an einen Fotovoltaikstromanteil von 30 bis 40 Prozent bis
besondere aus dem Erneuerbare-Energien-Gesetz in die 2050. In Deutschland könnte das zusammen mit den ande-
Fotovoltaik geflossen sind. Allerdings ist das auch die Tech- ren regenerativen Energiequellen zu einer 100-prozentig
nologie mit dem meisten Potenzial. Das gilt für die Verfüg- nachhaltigen Stromerzeugung reichen.
barkeit von geeigneten Flächen ebenso wie für die techno- Dann wird Deutschland aber nicht mehr der größte
logischen Fortschritte, die gerade in den Labors ­heranreifen Markt für Fotovoltaik sein.
und noch große Verbesserungen beim Wirkungsgrad ver- Weber: Da haben Sie Recht. Noch baut Deutschland mehr
sprechen. Die beeindruckende bisherige Lernkurve be- Solaranlagen als jedes andere Land. 2010 kamen 7,4 Giga-
zeugt das. watt neu hinzu, insgesamt waren es in Deutschland Ende
Was meinen Sie damit? 2010 rund 18 Gigawatt, weltweit 40 Gigawatt. Das ändert
Weber: Üblicherweise zeigen Grafiken den Preisverlauf pro sich zurzeit. Während die Zunahme in Deutschland in etwa
Watt Spitzenleistung über die Jahre. Die Preise der Module gleich bleiben wird, explodiert sie in anderen Ländern gera-
fallen ständig – sie sind umso stärker gesunken, je mehr dezu. Die USA und China werden noch in diesem Jahr die
neue Anlagen gebaut wurden. Wenn die Prognosen stim- Schwelle von einem Gigawatt überschreiten, in drei Jahren

72  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Dezember 2011


Professor Eicke Weber studierte Physik an der Universität
Köln, wo er auch promovierte und habilitierte. Forschungs­
aufenthalte führten ihn in die USA sowie nach Schweden.
Danach forschte er 23 Jahre in den USA, zuletzt als Professor
an der University of California in Berkeley, wo er Material­
wissenschaften lehrte.

Fraunhofer ISE

werden sie uns überholen. Gerade das chinesische Engage- wird. Deutsche Technologie setzt also weltweit Standards,
ment ist erfreulich. Die Regierung fördert dort den Ausbau und davon profitieren auch viele Arbeitsplätze hier zu
mit erheblichen Subventionen und setzt damit ein Zeichen Lande.
für eine echte Energiewende. Einen Nachteil haben aber auch die Concentrix-Modu­
Deutsche Hersteller von Fotovoltaikmodulen fallen le: Sie produzieren nachts keinen Strom.
immer weiter zurück: Unter den Top 20 ist nur noch eine Weber: Zunächst einmal: Ich garantiere Ihnen, dass mor-
deutsche Firma, aber sieben chinesische. Macht Ihnen die gen früh die Sonne aufgeht – wie an jedem Tag. Ob morgen
Schwemme billiger Fotovoltaikmodule aus China Sorgen­? früh der Wind weht, kann Ihnen dagegen niemand sicher
Weber: Nein. 2010 wurden in Deutschland Fotovoltaikmo- sagen. Damit ist Solarenergie planungssicherer als Wind-
dule mit sieben Gigawatt Leistung installiert, nur 2,5 Giga- energie. Außerdem wird der meiste Strom tagsüber ver-
watt kamen aus Deutschland. Man muss das so sehen: braucht. Die Lücke zwischen Angebot von Solarstrom und
Ohne die billigen Module aus China gäbe es gar keinen Nachfrage aus dem Netz ist also nicht so groß, wie immer
Boom, weder in Deutschland noch weltweit. Außerdem behauptet wird. In der Tat müssen wir aber über Speicher-
sind deutsche Firmen nach wie vor gut im Geschäft, insbe- möglichkeiten nachdenken. Ich denke etwa an die Wasser-
sondere die Hersteller von Produktionsstraßen. Chinesi- stofferzeugung mittels Elektrolyseuren, an der mein Insti-
sche Fotovoltaikmodule werden vorwiegend mit deut- tut arbeitet, oder an die Redoxflow-Batterie, die am Fraun-
schen Maschinen gefertigt, weil diese bessere Haltbarkeit hofer Institut für Chemische Technologie in Pfinztal
und höhere Energieausbeute ermöglichen. Wir müssen in entwickelt wird.
Deutschland allerdings darauf achten, dass wir weiterhin Und welche Rolle spielen solarthermische Großkraft­
die Technologieführerschaft behalten. Und das geht nur werke?
mit konstant kräftigen Investitionen in Forschung und Ent- Weber: Für solarthermische Kraftwerke ist die Lernkurve
wicklung. nicht so günstig. Die Technologie ist weit gehend ausgereift
Invented in Germany, made in China – ist das also die und wird nicht mehr deutlich unter einen Preis von vier
Zukunft der Solarbranche? Euro pro Watt installierter Leistung kommen. Damit ist sie
Weber: So einfach ist das nicht. Das beste Beispiel ist Con- deutlich teurer als Fotovoltaik, die schon unter einen Euro
centrix, eine Ausgründung aus dem Fraunhofer ISE. Das pro Watt gefallen ist. Andererseits sind solarthermische
Unternehmen baut Solarzellen mit vielen gestapelten Kraftwerke mit Salzspeicher, die ja auch nachts Strom lie-
Halbleiterschichten, die ein breiteres Spektrum von Licht- fern können, preiswerter als elektrische Speicher. Deshalb
wellenlängen in Strom umwandeln können. 2009 hatte halte ich Pläne zum Bau von solarthermischen Kraftwerken
mein Institut damit einen Weltrekordwirkungsgrad von in Südspanien oder Nordafrika, wie es das Desertec-Kon-
über 40 Prozent aufgestellt, inzwischen allerdings haben zept vorsieht, für eine gute Ergänzung. Fotovoltaik am Tag,
amerikanische Kollegen die Nase vorn. In Freiburg gibt es Solarthermie in der Nacht – das wäre ein interessantes Ge-
eine Produktionsanlage für 30 Megawatt pro Jahr. Concen- schäftsmodell.  Ÿ
trix wurde mittlerweile von der französischen Soitec ge-
kauft, die mit unserer Technologie in San Diego, USA, das Die Fragen stellte Bernd Müller, freier Journalist für Wissen-
mit 150 Megawatt weltgrößte Fotovoltaikkraftwerk bauen schaft und Technik in Bonn.

www.spektrum.de 73
selektive Emitter steigert den Wirkungsgrad einer kristalli- typs hoch, vor allem in sonnenreichen Gegenden, weil kon-
nen Solarzelle um bis zu 0,5 Prozentpunkte, bei heute übli- zentrierende Solarzellen bei starker Einstrahlung besonders
chen Zellen also auf rund 16,5 Prozent. Derartige Solarzellen wirtschaftlich sind.
sind bereits am Markt. Ihr ganzes Potenzial schöpfen konzentrierende Solar­
➤  Ein anderes Konzept verfolgen das Institut für Solarener- zellen aber erst als Tandemsolarzellen aus. Herkömmliche
gieforschung in Hameln und das Fraunhofer ISE. Sie verle- Module haben die schlechte Eigenschaft, nur einen Aus-
gen die Emitterkontakte auf die Rückseite, weil sich dadurch schnitt aus dem Wellenlängenspektrum des Sonnenlichts –
die Fläche zum Energieeinfang vergrößert. Wer eine Solarzel- nämlich den langwelligen Anteil – in Strom umwandeln zu
le näher betrachtet, sieht die feinen Bahnen, die die elektri- können: Die beste Ausbeute lässt sich bei Wellenlängen um
schen Ladungsträger ableiten. Doch wird da- 1000 Nanometer erzielen, also mit infraro-
von ein Teil der Halbleiterschicht verdeckt, »Zellen mit tem Licht. Die Energie, die im kurzwelligen
der damit keinen Beitrag zur Stromerzeu- Schichten aus Teil des Spektrums steckt, verpufft demnach
gung leistet. Daher sollen nun winzige lei- ungenutzt. Nun kann eine einzelne Solar­
Nanokristallen
tende Löcher im Siliziumsubstrat dafür sor- zelle niemals das gesamte Lichtspektrum ab-
gen, dass die Ladungsträger von der Vorder- wären billiger « decken. Stapelt man jedoch mehrere Zellen
seite nach hinten fließen, wo sie eingesammelt zu einem Sandwich und optimiert jede
werden. Um die Wege möglichst kurz zu halten, bedarf es vie- Schicht auf eine bestimmte Wellenlänge, steigt die Ausbeute
ler Löcher, mindestens eines pro Quadratmillimeter. Bei Zel- rapide an.
len mit etwa 15 Zentimeter Kantenlänge sind das über 20 000 Die übliche Bezeichnung »Tandemsolarzelle« untertreibt
Löcher, die ein gepulster Infrarotlaser in Sekundenschnelle sogar, denn in der Regel liegen gleich drei Zellen übereinan-
bohrt. Der Lohn: Der Flächenverlust durch die Löcher beträgt der. Auf diese Weise lässt sich mehr Energie des Sonnen-
weniger als ein Prozent. lichts nutzen. Eine Tandemzelle mit einem 400-fachen Kon-
Allerdings verbessern solche Maßnahmen den Wirkungs- zentrator des US-Herstellers Solar Junction erzielte kürzlich
grad teilweise nur um einige Zehntelprozentpunkte. Damit einen Weltrekordwirkungsgrad von 43,5 Prozent. Die Zelle
dieser einen richtigen Sprung macht, müssen andere Kon- ist nur 5,5 mal 5,5 Millimeter groß, sammelt aber mit einer
zepte her. Eine naheliegende Methode sind so genannte Kon- Linse das Licht einer 400-mal größeren Fläche ein. 2011 sol-
zentratorsolarzellen, bei denen Linsen das Sonnenlicht auf len die ersten, noch teuren Zellen ausgeliefert werden. Billi-
den Halbleiter bündeln. Das spart Material und Kosten. Im ger könnten die Zellen werden, wenn man statt herkömmli-
Jahr 2015 sollen weltweit solche Anlagen mit einer Leistung cher dünner Schichten nun Ebenen aus Nanokristallen über-
von einem Gigawatt ans Netz gehen – noch vergleichsweise einanderstapelt. Über die Größe der Kristalle ließe sich die
wenig. Dennoch ist das langfristige Potenzial dieses Zellen- Empfindlichkeit für verschiedene Wellenlängen des Lichts

Sauber, aber nicht rein


Die Solarenergie gilt als besonders umweltfreundliche Techno- termaterial auskommen, haben aber auch hier Fortschritte
logie. »Solarzellen haben keinen Schornstein«, lautet ein Werbe­ ­gebracht.
spruch der Branche. Leider gibt es aber doch einen unsichtbaren Weitere Diskussionen gibt es immer wieder über die Gefahr
Schornstein, aus dem einiges an Kohlendioxid kommt. Die Her- durch Giftstoffe in Solarzellen. Module aus Silizium enthalten
stellung der Zellen ist nämlich sehr energieintensiv, und den keine Schwermetalle, mittlerweile sind selbst die Lötstellen
Strom dafür beziehen die Fabriken meist aus dem öffentlichen überwiegend bleifrei. Anders bei den immer beliebteren, weil
Netz. Damit schleppt die Produktion auch alle Emissionen mit billigen Kadmiumtellurid-Zellen. Sie enthalten das giftige Kad-
sich, die bei der Erzeugung der entsprechenden Elektrizitäts- mium, allerdings in gebundener und laut Marktführer First Solar
menge anfallen. Und da der deutsche Strommix immer noch damit unschädlicher Form. Der Siliziumkonkurrenz ist es aller-
hauptsächlich aus Kohle und Gas stammt, schlägt das erheblich dings ein Dorn im Auge, dass die eigentlich strenge RoHS-Ver-
zu Buche. ordnung (Restriction of hazardous substances), in der die Europä-
Fairerweise muss man sagen, dass sich die energetische ische Union Schwermetalle in elektronischen Geräten verbietet,
Amortisationszeit – die Zeit, in der die Solarzelle die bei der Pro- ausgerechnet bei Solarzellen eine Ausnahme macht. Damit wer-
duktion aufgewandte Energie wieder erzeugt hat – in den letz- de eine ganze Branche in Misskredit gebracht. First Solar kontert
ten fünf Jahren halbiert hat. Sie beträgt nun 6 bis 36 Monate, mit einer Recyclinganlage in Frankfurt an der Oder. Weil Solar-
je nach Bauart und Standort. Entsprechend hat sich auch der module mindestens 20 Jahre halten, wird erst im kommenden
CO2-Ausstoß halbiert. Entscheidender Hebel ist der Material­ Jahrzehnt mit einer Zunahme der Recyclingmenge gerechnet.
einsatz, denn die Halbleiter benötigen viel Energie bei der Her- Doch ob dann noch alle Besitzer wissen, was sie vor 20 Jahren
stellung. Dünnschichttechnologien, die mit weniger Halblei- aufs Dach geschraubt haben und wie man das entsorgt?

74  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Dezember 2011


Weltrekord bei der Strom-

Solar Junction
erzeugung: 43,5 Prozent
Spitzenwirkungsgrad erzielte
die kalifornische Firma Solar
Junction mit marktfähiger
lichtkonzentrierter Fotovoltaik
(concentrated photovoltaics,
CPV). Jede Zelle misst rund 30
Quadratmillimeter und fokus­
siert das Sonnenlicht um das
400-Fache.

einstellen. Der Herstellungsprozess wäre dann einfacher dungsträger im Halbleitermaterial überwinden muss. Die
und billiger. höhere Hürde spornt die Elektronen quasi dazu an, ihre
In den Labors von David Norris, Professor vom Depart- Energie zu behalten, um die Barriere zu überwinden. Die so
ment für Maschinenbau und Verfahrenstechnik der ETH genannte Hot Silicon Cell wäre die ultimative Solarzelle. Da-
­Zürich, schaffen solche einzelnen Nanosolarzellen heute vid Norris: »Für diesen Zelltyp liegt die theoretische Grenze
­Wirkungsgrade von drei Prozent – noch viel zu wenig für eine des Wirkungsgrads bei 66 Prozent.«
kommerzielle Anwendung. Doch Norris ist davon überzeugt,
dass zehn Prozent bald erreichbar werden, in Kombination Die Vereinigung von Solarthermie und Fotovoltaik
mit herkömmlichen Tandemzellen auch mehr. Größtes Pro- Ein auf den ersten Blick etwas umständliches Konzept, das
blem: Alle bislang verwendeten Materialien sind selten und ebenfalls ein breites Spektrum des Sonnenlichts nutzen
giftig. Deshalb will der Chemiker jetzt Nanokristalle aus kann, ist die thermische Fotovoltaik. Sie vereint gewisserma-
harmlosen Kolloiden züchten. ßen Solarthermie mit Fotovoltaik. Konzentriertes Sonnen-
Die Nanotechnologie gilt ohnehin als ein Schlüssel für die licht trifft auf eine Wolframoberfläche und erhitzt sie, bis sie
Solarzellen der Zukunft. Mit winzigen Strukturen, deutlich glüht. Eine Solarzelle fängt das Glühlicht auf und erzeugt da-
kleiner als die Wellenlänge des Lichts, soll sich die Umwand- raus Strom. Durch Strukturieren der Oberfläche kann man
lung gezielt beeinflussen lassen – auf ganz unterschiedlichen die Wellenlänge des ausgesandten Lichts so einstellen, dass
Wegen. sie möglichst gut mit dem empfindlichen Bereich der Solar-
Bevor David Norris im März 2010 an die ETH kam, arbei­ zelle übereinstimmt. Das Konzept ist seit den 1960er Jahren
tete er an der University of Minnesota. Mit seinem Team ver- bekannt; solche Module kann man bereits kaufen, doch die
öffentlichte der Chemiker dort eine viel beachtete Arbeit im Wirkungsgrade sind schlechter als bei herkömmlichen Solar-
Wissenschaftsmagazin »Science«, die einen weiteren Weg zu zellen. Das klingt zunächst logisch, weil dieses Konzept den
effizienteren Solarzellen weist. Darin beschäftigt er sich mit Umweg über das Erhitzen des Wolframs nehmen muss. Der
so genannten heißen Elektronen. Wie erwähnt funktioniert Eindruck täuscht jedoch, denn theoretisch sind fast 85 Pro-
die Solarstromgewinnung nur mit Licht passender (langer) zent Wirkungsgrad möglich, weil die Wellenlänge vieler Pho-
Wellenlänge effektiv. Ist die Wellenlänge kürzer, entstehen tonen des Sonnenlichts, die sonst verloren gingen, in das
zwar auch Elektronen, aber die haben eine Extraportion Ener- passende Wellenlängenfenster transformiert werden. Nano-
gie, sind also »heiß«, wie die Physiker sagen. Diese Ladungs- materialien sollen jetzt wiederum helfen, die Wellenlänge
träger kühlen sich innerhalb von wenigen billionstel Sekun- des Glühlichts noch besser zu justieren. Thermische Foto­
den ab und heizen damit das Solarmodul auf. Das drückt den voltaik hätte dort Vorteile, wo Abwärme zum Vorheizen zur
Wirkungsgrad merklich. Verfügung steht, etwa in fossilen Kraftwerken oder Industrie­
In dem »Science«-Artikel beschreibt Norris eine Metho- anlagen, und zur dezentralen Stromerzeugung auf engs-
de, die Elektronen so lange heiß zu halten, bis sie den Halb- tem Raum.
leiter verlassen haben. Dazu nutzte das Team Nanostruktu- Viel niedriger, nämlich bei 1,3 Prozent, liegt der Wirkungs-
ren aus Bleiselenid in Kombination mit einer Schicht aus grad der Papiersolarzellen, die Forscher der Universität
Titandioxid. Dieser Trick vergrößert die so genannte Band- Chemnitz hergestellt haben. Spezielle Druckerfarben wan-
lücke, das heißt den energetischen Abstand, den ein La- deln das Sonnenlicht in Strom um, für Druck und Papier

www.spektrum.de 75
nutzt das Team herkömmliche Techniken und Materialien. wenn man – analog zur Fotosynthese – noch eine chemische
Weitere Forschungsarbeiten sollen den Wirkungsgrad auf Speicherung mittels Elektrolyse und anschließender Ver-
fünf Prozent steigern. Dank der billigen Produktion wäre brennung des Wasserstoffs hinzurechnet. Pflanzen schaffen
dann sogar eine Lebensdauer von unter einem Jahr wirt- übers Jahr gerechnet weniger als ein Prozent.
schaftlich – Solarzellen würden zur Wegwerfware. Sowohl für Blätter als auch für Solarzellen gilt: Wenn die
Mutter Natur hat dieses Prinzip längst perfektioniert. Blät- Sonne nicht scheint, entsteht weder Biomasse noch Strom.
ter sind im Prinzip Solarzellen, die einen Sommer lang Bio- Deshalb wird intensiv an Speichern für elektrische Energie
masse erzeugen und dann im Herbst entsorgt werden. Den geforscht, die einen Überschuss vom Tag für die Nacht vor-
Pendants aus Menschenhand, selbst den Papiersolarzellen halten. Doch die Speicher sind entweder noch nicht ausge-
aus Chemnitz, sind sie allerdings weit unterlegen. Rund elf reift wie die Redoxflow-Batterie des Fraunhofer ICT in Pfinz-
Prozent beträgt der Wirkungsgrad einer Siliziumsolarzelle, tal oder Druckluftspeicher in unterirdischen Höhlen, oder
sie sind ökologisch umstritten wie Pumpspeicherkraftwerke
Wie ist eine Solarzelle aufgebaut? in den Bergen. Viel einfacher ist die Speicherung in solarther-
mischen Kraftwerken, auf denen große Hoffnungen ruhen.
Sonnenstrahlung (Photonen)
Fußballfeldergroße Spiegel konzentrieren das Sonnenlicht
und erhitzen eine Flüssigkeit, die eine Dampfturbine an-
Minuspol treibt. Zwei Bauweisen gibt es: Entweder konzentrieren Para-
Metallkontakte
Stromfluss bolspiegel das Sonnenlicht auf eine Röhre vor dem Spiegel,
n-Gebiet
Verbraucher durch die Öl fließt, oder flache Spiegel erhitzen flüssiges Salz
in der Spitze eines Turms.
Raumladungszone
(pn-Übergang)
elektrisches
Feld p-Gebiet
metallisierte Strom aus Licht: Treffen Photonen auf Schichten von Silizium,
Pluspol Rückseite
gelangen elektrische Ladungen in einen Stromleiter.
Spektrum der Wissenschaft / Buske-Grafik, nach: Energieagentur NRW

Sonne im Tank
Wärme oder Strom – aus Sonnenlicht lässt sich mittels Solarkol- das bei dieser enormen Hitze Sauerstoffatome abgibt. In einem
lektoren beziehungsweise Fotovoltaikzellen beides erzeugen. zweiten Schritt bei 900 Grad reagieren CO2 und Wasserdampf
Doch es gibt noch eine dritte Möglichkeit, an der intensiv ge- mit dem reduzierten Ceriumoxid. Dieses kehrt durch den frei
forscht wird: die direkte Umwandlung von Sonnenlicht in Bio- werdenden Sauerstoff wieder in seinen Ausgangszustand zu-
masse. Das klingt nach Alchemie und ist im Grunde doch nichts rück, der Kreisprozess beginnt von Neuem. Aus einer Öffnung
anderes als das, was Pflanzen in ihren Blättern machen. Die im Boden des Reaktors fließen das Synthesegas sowie reiner
künstliche Fotosynthese ist eines der faszinierendsten Projekte Sauerstoff. »Dank der hohen Temperaturen kann man mit ho-
in der Solarforschung, weil man damit Biotreibstoff herstellen hen Reaktionsgeschwindigkeiten solare Treibstoffe herstellen«,
könnte – ohne den Umweg über Pflanzen, die wertvolle Acker- so Steinfeld. Doch vom Labor zur industriellen Großanlage ist es
flächen blockieren und einen immensen Aufwand an Bewässe- wie immer ein weiter Weg. Erst 2020 werde man einen Mega-
rung und Düngung erfordern. wattsolarreaktor in einem Solarturmkraftwerk bauen können.
Ein interessantes Konzept verfolgt Aldo Steinfeld, Professor Anderes Konzept, anderer Sprit, selbe Hochschule: Professor
für erneuerbare Energieträger an der ETH Zürich und Leiter des Hyung Gyu Park interessiert sich für Wasserstoff, der einmal
Labors für Solartechnik am Paul Scherrer Institut (PSI). Er hat ei- Brennstoffzellenautos antreiben soll. Die üb­liche Elektrolyse,
nen Solarreaktor gebaut, der Wasser und Kohlendioxid in ein bei der Wasser in seine Bestandteile Wasserstoff und Sauerstoff
Synthesegas aus Wasserstoff und Kohlenmonoxid umwandelt, zerlegt wird, ist nur mit Solarstrom umweltfreundlich und
das als Vorstufe zur Synthese von Benzin, Kerosin und anderen obendrein verlustreich, weil schon die meiste Sonnenenergie in
flüssigen Treibstoffen dienen kann. Weil das Kohlendioxid der der Solarzelle verloren geht – der anschließende elektrochemi-
Luft entzogen wird, ist die CO2-Bilanz bei der Herstellung und sche Prozess kostet ebenfalls Wirkungsgrad. Deshalb will Park
Verbrennung neutral. Die flüssigen Treibstoffe lassen sich spei- mit Sonnenlicht direkt Wasserstoff produzieren. Der Forscher
chern und verschiffen, etwa aus sonnenreichen Regionen, wo untersucht dazu Nanomateri­alien, zum Beispiel Kohlenstoff­
heute Erdöl gewonnen wird. nanoröhrchen, die er mit Sonnenlicht bestrahlt. Damit könnten
Der Züricher Solarreaktor hat eine Leistung von 2000 Watt. sich die Bindungen im Wassermolekül knacken lassen, so die
Er konzentriert das Sonnenlicht 1500-fach und heizt das Reakti- Hoffnung. Eine großtechnische Umsetzung liegt allerdings
onsgefäß auf 1500 Grad Celsius. Das Gefäß enthält Ceriumoxid, noch in weiter Ferne.

76  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Dezember 2011


Bunte Solarzellen auf Papier: Um Strom zu erzeugen, drucken
Institut für Print und Medientechnik TU Chemnitz (PMTUC), Bystrik Trnovec

Forscher der Technischen Universität Chemnitz Farben mit elek­


trischen Eigenschaften auf Standardpapier.

zeugt mit dem Strom in so genannten Elektrolyseuren Was-


serstoff und verschifft diesen in Tankern nach Europa.
Diese Vision beflügelt das Desertec-Projekt, das in den
letzten Jahre Aufsehen erregt hat. Die Desertec Industrial Ini­
tiative GmbH stützt sich auf Szenarien des Deutschen Zen­
trums für Luft- und Raumfahrt, die bis 2050 einen Anteil des
Wüstenstroms in Europa von 15 Prozent des Gesamtstrom-
bedarfs für möglich halten. Neben Begeisterung hagelte es
Kritik: Von einer Monopolstellung weniger großer Energie-
versorger auf Kosten armer Länder Nordafrikas war die Rede,
ebenso vom hohen Wasserverbrauch zur Kühlung der Anla-
gen. Und dann wären da noch die Kosten von schätzungswei-
se 400 Milliarden Euro bis zur Mitte des Jahrhunderts.
Mittlerweile ist es um das Desertec-Projekt ruhiger gewor-
Beide Typen können auch bei Dunkelheit Strom liefern – den. Vor allem deshalb, weil sich der Hauptkritikpunkt der
wenn sie mit einem Salzspeicher ausgerüstet sind. Das erste Gegner – die Gefahr unsicherer politischer Zustände in den
solarthermische Kraftwerk mit einem Wärmespeicher ist Ländern Nordafrikas – mit den Bürgerbewegungen etwa in
Andasol 1, das 2008 in Südspanien in Betrieb ging. Es misst Tunesien und dem Krieg in Libyen schneller bewahrheitete
1300 mal 1500 Meter und arbeitet nach dem Parabolrinnen- als gedacht. Im Moment wird wohl kein Investor Geld in den
prinzip. Vor den stark gekrümmten Spiegeln führen lange nordafrikanischen Wüstensand setzen wollen. Schon gibt es
Rohre vorbei, durch die Öl zirkuliert. Das auf 400 Grad Celsi- Pläne, Teile von Desertec nach Griechenland zu verlegen und
us erhitzte Öl kann durch einen Salzspeicher geleitet werden, damit Wirtschaftshilfe zu leisten. Andererseits böte Desertec
der Wärme für über sieben Stunden Volllastbetrieb aufneh- ein ideale Möglichkeit, den Neuaufbau in Nordafrika zu un-
men kann. Damit eignen sich solarthermische Kraftwerke terstützen und dort wichtige Infrastrukturprojekte zu ver-
wie Andasol 1 zur Deckung der Grundlast wie Kern- oder Koh- wirklichen, etwa die Meerwasserentsalzung. Und Deutsch-
lekraftwerke und wären ein wichtiger Baustein in der Strate- land käme damit seinem Ziel, bis 2050 fast vollständig auf
gie zum Ausbau erneuerbarer Energien. In Europa ist Spani- regenerative Energien umzusatteln, zumindest einen gro-
en Vorreiter für diese Technologie, allerdings mit kräftiger ßen Schritt näher.  Ÿ
Unterstützung durch die in Deutschland entwickelte Tech-
nik. Ebenfalls auf Solarkraftwerke setzen die USA. Jedoch ist der autor
für das mit 1000-Megawatt größte Solarkraftwerk, dessen
Bernd Müller hat Physik und Journalistik studiert.
Bau gerade im kalifornischen Blythe begonnen hat, kein Salz-
Er lebt in Bonn und berichtet seit mehr als 20
speicher vorgesehen. Es liefert also nur tagsüber Strom. Jahren in verschiedenen Medien über Themen
Auch die Bundesregierung bekennt sich zum Bau solar- aus Wissenschaft und Innovation.
thermischer Großkraftwerke, aber nicht im dicht besiedelten
Deutschland, denn dafür ist hier kein Platz. Das Riesenkraft-
werk in Blythe beansprucht eine Fläche von 27,5 Quadratkilo-
metern – ein derartiger Flächenverbrauch wäre hier zu Lande quellen
nicht durchsetzbar. Er wäre auch sinnlos, weil ein solches
Hengstenberg, C. (Hg.): Strom aus der Wüste: Welche Chancen
Kraftwerk im mitteleuropäischen Schmuddelwetter nie die
bietet das Desertec-Pojekt? FastBookPublishing, 2009
gleiche Leistung brächte wie in Kalifornien oder Spanien. Jehle, C.: Photovoltaik – Strom aus der Sonne: Technologie,
Angesichts dieser Anforderungen ist es kein Wunder, dass Witschaftlichkeit und Marktentwicklung. C. F. Müller, Heidelberg,
5. Auflage 2009
vielen Experten sofort Afrika in den Sinn kommt. Wolken­
loser Himmel und unbewohnte Wüsten im Überfluss – Nord- Webli n ks
afrika wäre als Standort für Solarkraftwerke ideal. In Ägypten
strahlt die Sonne dreimal so lange und intensiver als in www.solarserver.de und www.solarwirtschaft.de
Deutschland, das mit 1550 Stunden pro Jahr nicht gerade ver- Die Portale bieten viele interessante Artikel zur Solarenergie.

wöhnt ist. Die Entfernungen wären zudem relativ kurz und Diesen Artikel sowie weiterführende Informationen finden Sie im
ließen sich mittels Hochspannungsgleichstromübertragung Internet: www.spektrum.de/artikel/1124697
über große Strecken verlustarm überbrücken. Oder man er-

www.spektrum.de 77
Grüne Welle für den Laser
Mobile elektronische Geräte werden immer kleiner. Dennoch sollen sie groß­
formatige Bilder erzeugen. Dafür sollen zukünftig Miniatur-Laserprojektoren
sorgen. Bislang fehlte dazu jedoch eine entscheidende Voraussetzung: ein
echter grüner Laser. Jetzt haben deutsche Forscher den Durchbruch geschafft –
exklusiv in »Spektrum« berichten sie, wie es ihnen gelang.
Von Désirée Queren, Adrian Avramescu und Stephan Lutgen

N
ach einem Jahrhundert hat die klassische Glüh­ Eine direkt grün emittierende
birne als Leuchtmittel mittlerweile ausgedient Laserdiode (links) ist effizienter
und wird derzeit europaweit durch kompakte sowie kleiner als ein frequenz­
Leuchtstofflampen ersetzt. Doch diese Energie­ verdoppelter Infrarotlaser
sparlampen sind wegen ihres Gehalts an umweltschädli­ (Mitte) und eine radial emittie­
chem Quecksilber und des unausgewogenen Lichtspektrums rende Leuchtdiode (rechts).
Zentimeter
umstritten. Es zeichnet sich bereits ab, dass die noch viel effi­
zientere Lichtproduktion aus Halbleiterkristallen sie schon 0 1 2

bald vom Markt verdrängen wird. Heute sind Licht emittie­


rende Dioden, kurz LEDs, aus vielen Anwendungen im Alltag
nicht mehr wegzudenken. Jetzt beginnen Leuchtdioden die ger gesellschaftlicher Trend strebt nach immer mehr Mobili­
Lichtindustrie auf Grund ihres geringeren Stromverbrauchs tät bei gleichzeitiger optimierter Bildqualität; damit steigt
und der langen Lebensdauer zu revolutionieren. die Nachfrage nach miniaturisierten Endgeräten wie Smart­
LEDs beruhen auf Halbleiterkristallen, die beispielsweise phones und Tablets, die dennoch große, detailreiche Bilder
aus Verbindungen von Aluminium, Gallium und Indium bieten sollen. Aber wie soll das funktionieren? Die zuneh­
mit Stickstoff oder von Aluminium, Gallium und Arsen mit mende Leistungsfähigkeit mobiler Elektronik erlaubt zwar
Phosphor bestehen. Sie senden je nach Materialzusammen­ das Aufnehmen und Übertragen von hochauflösenden Digi­
setzung Licht unterschiedlicher Wellenlängen aus, vom talfotos und Videos, aber der Zuwachs an Mobilität geht au­
infraroten über den sichtbaren bis in den ultravioletten tomatisch mit schrumpfenden Displays einher, wenn die
Spektralbereich. Anorganische Leuchtdioden treten heute Bildgröße und Auflösung von den Maßen des Mobiltelefons
als farbige Lichtquellen in vielen Anwendungen auf, bei­ bestimmt wird. Für dieses Dilemma zeichnet sich nun eine
spielsweise als Scheinwerfer, Rücklicht und Tagfahrlicht im Lösung in Gestalt hochintegrierter Halbleiterprojektoren ab,
Auto, für die Armaturanzeigen im Auto, in Mobiltelefonen die künftig große, fein aufgelöste Bilder liefern werden.
oder Displays. Solche so genannten Pikoprojektoren sind so winzig, dass
Doch nicht nur für Beleuchtungszwecke sind Energie spa­ sie sich ohne Weiteres in Smartphones, Laptops und Digital­
rende Halbleiterlichtquellen das Mittel der Wahl. Ein wichti­ kameras einbauen lassen. Zwar könnten theoretisch dabei
LEDs als Lichtquellen dienen – doch sie stoßen an Grenzen,
auf einen blick wenn es um möglichst geringe Projektorgröße, hohe Auflö­
sung und Effizienz geht. In dieser Hinsicht punkten Halblei­
terlaser gegenüber LEDs mit höherer Strahlqualität und Leis­
Jagd nach grünem Laserlicht
tungsdichte; außerdem ermöglichen Laser mit ihrem schma­

1 Pikoprojektoren sollen demnächst das Betrachten großer Bilder


mit kleinen Geräten – beispielsweise Smartphones – ermögli-
chen. Dafür sind Halbleiterlaser in den drei Grundfarben Rot, Grün
len Emissionsspektrum eine naturgetreuere Wiedergabe von
Farben. Wenn man die Strahlen dreier Laser in den Farben
und Blau nötig. Rot, Grün und Blau kombiniert, lässt sich fast der ganze für
das menschliche Auge wahrnehmbare Farbraum darstellen.
2 Erst seit Neuestem gelingt es mit aufwändig kontrollierten
Epitaxieverfahren, auch grün emittierende Laserstrukturen zu
erzeugen.
Wie erzeugt ein Pikoprojektor seine Bilder? Ein winziger,
in zwei zueinander senkrechten Achsen beweglicher Mi­
krospiegel schreibt mit dem Laserstrahl zeilenweise das Bild
3 Mit diesen winzigen Farbprojektoren lassen sich demnächst
lebensgroße Bilder und Filme an Wohnzimmerwände werfen. auf die Projektionsfläche. Wegen der einzigartigen Strahl­
eigenschaften von Lasern ist eine Projektion auf beliebig

78  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Dezember 2011


Technik & Computer

alle Abbildungen des Artikels:  OSRAM Opto Semiconductors

Dies ist eine Laserdiode mit 3,8 Millimeter Durchmesser, die


direkt grünes Licht ausstrahlen kann. Seit der Entwicklung
des blauen Lasers 2001 haben Forscher auf dieses Ziel hinge­
arbeitet.

www.spektrum.de 79
­ ekrümmte Flächen mit großer Tiefenschärfe möglich –
g minium- oder Indiumgalliumnitrid (siehe Kasten rechts
ohne dass wie bei konventionellen Projektoren eine spezielle ­unten).
Optik zur Fokussierung nötig wäre. Um mit diesen Materialien einen grünen Laser zu konst­
Satte und scharfe Farbbilder erfordern drei Laser in ruieren, muss der Indiumgehalt in den Licht aussendenden
Rot, Blau und Grün. Das Problem dabei: Bislang sind erst rote InGaN-Schichten im Vergleich zum blauen Laser erhöht wer­
und blaue Laser routinemäßig herstellbar. Erste kommerziell den. Doch die veränderte Materialzusammensetzung beein­
verfügbare, nur wenige Kubikzentimeter große Laserprojek­ flusst leider nicht nur die emittierte Wellenlänge, also die
toren kombinieren die Strahlen von roten und blauen Laser­ Farbe des Lichts, sondern gleichzeitig auch drastisch die Git­
dioden mit Infrarotlasern, die durch Frequenzverdopplung teranordnung der Atome im Kristall. Die Ursache hierfür
grünes Licht liefern. Doch frequenzverdoppelte Laser haben liegt in den unterschiedlichen Eigenschaften von Indium-
im Vergleich zu direkt grün emittierenden Laserdioden ent­ und Galliumatomen.
scheidende Nachteile: Sie sind teurer, liefern schlechtere Beim Erhöhen des Indiumanteils im Kristall werden Galli­
Bildqualität und sind vor allem deutlich größer als direkte umatome durch Indiumatome auf gleichwertigen Gitter­
grüne Laserdioden aus Indiumgalliumnitrid (InGaN). plätzen ersetzt. Indium liegt aber in einer anderen Stelle im
Periodensystem der Elemente als Gallium; seine Atome sind
Problematische Kristallqualität daher größer und weisen andere Bindungsverhältnisse auf.
Nur ist es leider nicht einfach, InGaN-Laserdioden herzustel­ Das erschwert den Einbau zusätzlichen Indiums, denn die
len, die grünes Licht emittieren; das gelang erst 2009. Seit­ ­indiumhaltigen Schichten auf den GaN-Substraten stehen
her liefern sich mehrere Forschungs- und Universitätsein­ unter Spannung. Wird diese allzu groß, setzen so genannte
richtungen ein rasantes Kopf-an-Kopf-Rennen mit dem Ziel, Relaxationsprozesse die gespeicherte Energie im Kristall frei,
die Performance und Prozessstabilität des grünen Lasers was zu Versetzungen – eindimensionalen Kristalldefekten –
großserientauglich zu machen. Sie müssen dabei mehrere führt.
Hürden überwinden. Um dennoch einen möglichst regelmäßigen Indiumein­
Blaue und grüne LEDs sowie blaue Laserdioden werden bau in das GaN-Kristallgitter zu erreichen, muss die Abschei­
durch die so genannte Epitaxie, eine besondere Form der dung unter speziellen Wachstumsbedingungen ablaufen –
schichtweisen Kristallabscheidung, hergestellt. Das geschieht die aber wiederum ihrerseits die Kristallqualität verschlech­
in speziellen Reaktoren durch Gasphasenabscheidung von tern. Beispielsweise muss man die Abscheidetemperatur der
vielen perfekt einkristallinen Halbleiterschichten aus Alu­ Substratoberfläche deutlich reduzieren, da sonst das zu­

Spiegel Bildfläche

Pikoprojektor mit zwei Achsen scannender


RGB-Laser Mikrospiegel (MEMS)

Ein heutiger Pikoprojektor kombiniert drei Laserstrahlen in


den Farben Rot, Grün und Blau. Ein winziger um zwei Achsen
drehbarer Spiegel erzeugt daraus zeilenweise farbige Bilder.
Die Schema­­skizze (links) zeigt zwischen der roten und blauen
Laser­diode ein signifikant größeres Gehäuse für den grünen
Strahl. Darin verbirgt sich ein Infrarotlaser, dessen Strahlung
nach bisheriger Technik erst durch Frequenzverdopplung in
grünes Licht verwandelt wird. Ein echter grüner Laser erlaubt,
deutlich kleinere Projektoren herzustellen. Laserprojektoren
erreichen ohne zusätzliche Optik sehr gute Tiefenschärfe – selbst
auf gekrümmten Projektionsflächen (rechts).

80  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Dezember 2011


In der Fotolumineszenzauf­
nahme tauchen in der grün
emittierenden Halbleiter­
schicht (links) nach ther-
mi­scher Behandlung defekte
Bereiche im Material auf
(rechts).

20 µm 20 µm

nächst an der Oberfläche angelagerte Indium wieder frei ren, verhindern solche Strukturen die Funktion von Laser­
würde. Doch die niedrigere Temperatur hemmt die Beweg­ dioden. Nachdem wir diese Defekte durch eine geeignete
lichkeit der angelagerten Atome auf der Oberfläche; das be­ Schichtstruktur und optimierte Wachstumsbedingungen
günstigt Punktdefekte und ungleichmäßiges Wachstum. Auf vermeiden konnten, stellten wir fest, dass auch auf kleinerer
diese Weise werden viele unterschiedliche Defekte in den Skala, in der Größenordnung von 500 Nanometern (millions­
Kristall eingebaut. tel Millimetern), so genannte Indium-Gallium-Fluktuationen
Als unser Team bei der Firma Osram Opto Semiconduc­ auftreten.
tors daranging, grüne Laserdioden zu entwickeln, war dies
­eines der ersten Probleme, die es zu lösen galt. In Fotolumi­ Hilfreiche piezoelektrische Effekte
neszenzaufnahmen erscheinen defektreiche, rund 20 Mikro­ Mit dem so genannten Transmissionselektronenmikroskop
meter (tausendstel Millimeter) große Regionen als dunkle fanden wir sogar noch winzigere Defekte (um zehn Nanome­
Flecken (siehe Bild oben rechts). Die Defektbereiche produ­ ter, siehe Abbildung S. 82 oben). Nur mit derart aufwändigen
zieren bei optischer Anregung kein Licht und erscheinen da­ Nachweismethoden lassen sich feinste Defekte aufspüren,
her dunkel gegenüber den Bereichen mit guter Kristallquali­ um anschließend die Kristallwachstumsbedingungen opti­
tät, die grünes Licht emittieren. Da die fehlerhaften Gebiete mieren und eine annähernd perfekte Kristallanordnung er­
nicht nur kein Licht aussenden, sondern es sogar absorbie­ reichen zu können.

Die raffinierte Züchtung von Kristallschichten

Der geordnete Abscheideprozess auf einem vorgegebenen Sub- beheizte Substrat gebracht. An der Grenzfläche zum GaN-Sub­
strat wird Epitaxie genannt (von griechisch epi für »auf« und ta- strat läuft bei geeigneten Temperaturen und Reaktordruck die
xis für »Richtung«). Das Substrat prägt dabei seine Kristallstruk- chemische Reaktion zur Bildung von GaN ab:
tur der Atomanordnung in den abgeschiedenen Schichten auf.
Will man beispielsweise dünne Schichten von Galliumnitrid
(GaN) erzeugen, so dienen als Ausgangsstoffe eine metallorga- Die Trägergase lassen die Ausgangsstoffe erst auf dem
nische Galliumverbindung, etwa Trimethylgallium, sowie Am- Subs­trat miteinander reagieren, so dass sie sich nur
moniak (NH3 ) als Quelle für Stickstoff. Beide Substanzen wer- dort ab­scheiden. Auf diese Weise bildet sich unter geeig-
den getrennt voneinander mit Hilfe von Trägergasen auf das neten Bedingungen eine kontinu­ierliche Schicht.

Gasstrom: NH3, H3, N2, MOs Ga(CH3)3


CH4
NH3

Epitaxieschicht
Ga Substrat
NH3

beheizter Suszeptor
Ausgangsstoff
als Quelle für Galliumatome

www.spektrum.de 81
10
µPL-Karte
Tiefe Einblicke in eine grün emittierende Kristallschicht: Die
Versetzungen
8 Foto­­lumineszenz- und Transmissionselektronenmikroskopie
enthüllt noch die feinsten Defekte (links: Ovale; rechts:
8
blaue Pfeile). Sie müssen vermieden werden, wenn der grüne
4 Laser seine volle Leistung erbringen soll.
2

0 Wellenlänge (nm) Quantenfilme


Die Ladungen in der Elementarzelle geraten aus dem Gleich­
522 520 518 517 515 gewicht, und an dem Kristall entstehen auf Grund des piezo­

100 nm
2377 2384 2391 2398 2405 elektrischen Effekts elektrische Felder (Kasten unten).
Energie (eV)
Der Effekt ist an sich für grüne Laserdioden und Leucht­
dioden erwünscht. Das elektrische Feld verändert die quan­
Die Kristallqualität ist nicht die einzige Herausforderung, tenmechanischen Energiezustände an den Grenzflächen der
die es bei der Entwicklung von grünen Laserdioden zu lösen einzelnen Schichten – und somit die Wellenlänge des emit­
gilt. Halbleiterverbindungen der Elemente Gallium, Indium tierten Lichts. Leuchtdioden, die bei niedrigen Stromdichten
und Stickstoff kristallisieren in Form der »Wurtzit-Struktur«, betrieben werden, gelangen dank dieses Effekts zu langwelli­
deren Elementarzelle eine hexagonale Basis besitzt. Werden gerem grünem Licht. Doch Laserdioden erfordern viel höhe­
nun auf Grund von Spannungen in der Kristallstruktur – die re Stromdichten, um die stimulierte Emission zu erreichen.
bei dünnen, Licht emittierenden InGaN-Schichten leicht ent­ Hohe Stromdichte bedeutet zugleich hohe Ladungsträger­
stehen – Atome in der Elementarzelle ein wenig verschoben, dichte – und die schirmt das durch den piezoelektrischen Ef­
so ändern sich die physikalischen Eigenschaften deutlich. fekt erzeugte elektrische Feld teilweise ab. Das verschiebt die

Indiumgalliumnitrid-Schichten unter Spannung


Die Licht emittierenden Schichten in Leucht- und Laserdioden »pseudomorph verspannt« (Grafik ganz links). Doch wenn die
sind extrem dünn – nur wenige Nanometer – und bestehen aus Schichtdicke zu groß wird, entlädt sich die gespeicherte Ver-
Indiumgalliumnitrid (InGaN). Sie werden per Epitaxie (siehe spannungsenergie durch Relaxationsprozesse, und es bilden
Kasten S. 81) auf Substraten aus Galliumnitrid (GaN) abgeschie- sich störende Versetzungen im Kristall (Grafik rechts daneben).
den. Um InGaN-Schichten zu erzeugen, müssen im GaN Galli- Eine pseudomorphe Verspannung verändert die Eigenschaf-
umatome durch Indiumatome ersetzt werden. ten der Licht emittierenden Schicht. Im InGaN-Materialsystem
Da die Indiumatome andere Eigenschaften aufweisen als treten piezoelektrische Effekte auf, das heißt, die mechanische
die Galliumatome, verändert ihr Einbau die Kristallstruktur. Verspannung erzeugt ein elektrisches Feld. Es verbiegt quasi die
­Insbesondere hat InGaN eine größere Gitterkonstante als GaN – Energiebänder der Elektronen im Kristall und verändert damit
es beansprucht sozusagen mehr Platz. Aus diesem Grund ste- die Übergangsenergie – und somit auch die Emissionswellen­
hen die auf GaN-Substrate aufgebrachten InGaN-Schichten länge (rechte Grafiken). Diese Effekte sind erwünscht, um das er-
­unter mechanischer Spannung. Solange die Schichtdicke der zeugte Licht zum Langwelligen zu verschieben und so aus einem
­InGaN-Schicht klein bleibt, übernimmt sie die Kristallstruktur blauen Laser einen grünen zu machen, ohne dass der Indium­
des Substrats, wenn auch leicht deformiert: Die Schicht ist anteil im gleichen Verhältnis erhöht werden muss.

pseudomorph
InGaN verspannt relaxiert mit piezoelektrischem Effekt ohne piezoelektrischen Effekt

Leitungsband Leitungsband
Valenzband Valenzband
σD

σD σD
Energie
Energie

n-Seite p-Seite

0 0

2 4 6 0 2 4 6 8
Schichtdicke in Nanometern Schichtdicke in Nanometern

82  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Dezember 2011


An Problemen
interessiert uns
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Laserwellenlänge in Nanometern

Aug. 10

Au
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9

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50 .9
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52
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30 52
460
20
440
10

420
2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 0
0 50 100 150 200 250
Jahr Strom in Milliampere

Im letzten Jahrzehnt haben sich die grünen Laserdioden bei Osram Opto Semiconductors rasant
entwickelt (links). Jüngst hat sich eine wichtige charakteristische Größe, der so genannte
Schwellstrom, immer besser an den erstrebten Vergleichswert für blaue Laser angenähert (rechts).

Emissionswellenlänge deutlich weniger stark ins Langwelli­ di e autoren


ge, weshalb eine Laserdiode im Vergleich zu LEDs wesentlich
Désirée Queren
mehr Indium im Kristall benötigt, um eine grüne Emission
(Mitte) studierte
zu erreichen. Aus diesem Grund sind grüne LEDs bereits seit Werkstoffwissen­
Langem verfügbar, aber keine grünen Laserdioden. schaften an der
Friedrich-Alexan­
der-Universität
Grünes Licht am Ende des Tunnels Erlangen-Nürn­
Durch weiteres Optimieren der Wachstumsbedingungen berg und schrieb
ihre Doktorarbeit
und des Strukturaufbaus ist es den Forschern bei Osram
im Bereich der
Opto ­Semiconductors dennoch gelungen, die Kristallqualität Epitaxie von grünen Laserdioden bei Osram Opto Semiconductors.
zu verbessern und die Emissionswellenlänge der Laserdio­ Heute ist sie weiterhin im Bereich von InGaN-LEDs dort tätig.
den schrittweise in den langwelligeren Bereich zu verschie­ Adrian Avramescu (rechts) arbeitet seit vielen Jahren in die-
ser Firma auf dem gleichen Gebiet und ist heute Epitaxie-Experte
ben (siehe Grafik oben links). Die ersten grünen Laserdioden für die InGaN-Laser. Nach seinem Physikstudium an der Univer-
taugten allerdings noch nicht zur Pikoprojektion. Dafür war sität Bukarest in Rumänien sowie der Promotion an der Universität
eine signifikante Verbesserung der elektrooptischen Leis­ Hokkaido war er Gastwissenschaftler unter anderem am Riken-
Institut in Wakoshi, Japan. Stephan Lutgen (links) war nach seinem
tung nötig. Mit ersten grünen Laserdioden konnten erfolg­ Physikstudium an der Philipps-Universität in Marburg und der
reich Prototypen von mobilen Laserprojektoren demonst­ Promotion an der Humboldt-Universität zu Berlin in verschiedenen
riert werden. Für ein marktfähiges Produkt ist eine Verbesse­ Funktionen bei Osram Opto Semiconductors tätig und leitete dort
zuletzt die InGaN-Laserentwicklung. Für seine Arbeiten erhielt das
rung der elektrooptischen Kenngrößen nötig. Messbar ist Team 2010 den Karl-Heinz-Beckurts-Preis.
diese Verbesserung an der Kenngröße von Laserdioden, dem
so genannten Schwellstrom. Er bezeichnet den Strom, bei Quellen
dem der Laserbetrieb einsetzt und alle Verlustmechanismen
Lutgen, S. et al.: Grüne Laser erobern die Laserprojektion. In:
unterdrückt sind. Photonik 43, S. 56, 2011
Derzeit nähern sich die Schwellströme der grünen Laser Lutgen, S. et al.: Recent Results of Blue and Green InGaN Laser
Diodes for Laser Projection. In: Proceedings of SPIE 7953,
denen der blau emittierenden Laserdioden immer mehr an
S. 79530G1 – 12, 2011
(Grafik oben rechts). Außerdem ist für die Pikoprojektion Schwarz, U. T., Scholz, F.: Rosige Aussichten für grünes Licht. In:
eine ausreichend hohe optische Ausgangsleistung nötig – Physik Journal 10, S. 21, 2011
doch auch diese Bedingung wird von den neuesten grünen
Laserdioden bereits erfüllt. Damit ist nun endlich der Weg Weblink
frei für winzige, leistungsstarke Farbprojektoren, mit denen Diesen Artikel sowie weiterführende Informationen finden Sie im
künftig ein Smartphone lebensgroße Bilder und Filme an Internet: www.spektrum.de/artikel/1124687
jede Wohnzimmerwand zu werfen vermag.  Ÿ

84  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Dezember 2011


Philipp Blom Antipode der Lichtgestalt Diderot. Tat­
Böse Philosophen sächlich mutet heute das meiste von
Ein Salon in Paris Rousseau eher skurril und verschroben
und das vergessene Erbe der Aufklärung an, während Diderots Texte, obwohl we­
Hanser, München 2011. 400 S., € 24,90 niger bekannt, uns Heutigen noch im­
mer großes intellektuelles Vergnügen
bereiten können. Doch Blom überzieht
maßlos; statt sich mit Kritik an Rous­
seaus Denken zu begnügen, argumen­
tiert er ad personam und stellt Rous­
Aufklärung
seau platterdings als Paranoiker und

Treffpunkt der Freigeister Lügner hin.


Dafür fehlt in Bloms Bericht der
wahrlich böseste aller Philosophen
Die radikalsten Denker der französischen Aufklärung sind heute fast ganz: der Marquis de Sade (1740 – 1814).
vergessen – sehr zu Unrecht, meint Philipp Blom. Dieser besessene Pornograf entblößt in
seinen skandalösen Schriften ein Di­

D er Wiener Historiker Philipp Blom


entführt uns ins Paris des 18. Jahr­
hunderts, kurz bevor die Französische
schreckenden Strafen. Wie groß die Ge­
fahr ist, illustriert der Fall des 19-jäh­
rigen ­Jean-François Chevalier de la Barre
lemma, das Max Horkheimer und Theo­
dor W. Adorno, die Begründer der Frank­
furter Schule, erst 1944 – angesichts der
Revolution König, Adel und Kirche ent­ (1745 – 1766), der als gottlos denunziert faschistischen Vernichtungslager – in
machten wird. Der Salon des Baron und wegen Blasphemie angeklagt wird. ihrer »Dialektik der Aufklärung« analy­
d’Holbach (1723 – 1789) ist nicht nur für Der aufmüpfige Teenager entblößt vor sieren konnten. Die Aufklärung ist eben
seinen exzellenten Weinkeller und die Gericht respektlos seinen Hintern. Zur nicht nur ein Prozess der Emanzipation
raffinierten Menüs berühmt; hier tref­ Strafe wird er nach Durchbohren der im strahlenden Licht der Vernunft ge­
fen sich Umstürzler, denen nichts heilig Zunge enthauptet und auf dem Schei­ wesen; in de Sades »sadistischen« Sze­
ist. Alles Hergebrachte wird in Frage ge­ terhaufen verbrannt, nachdem ihm zu­ narien kommt die Möglichkeit zum Vor­
stellt, nur was dem Säurebad der Kritik vor noch grässlichere Folterungen ange­ schein, dass eine von jeder moralischen
standhält, soll in Zukunft gelten. droht worden waren. Hemmung befreite Herrschaft über
Solche Vergnügungen sind riskant. Vor diesem Schicksal bewahrt den Mensch und Natur ins Unmenschliche
Die radikalen Ideen der atheistischen glänzenden Denker und Literaten Denis abstürzt.
Materialisten Holbach, Julien Offray de Diderot (1713 – 1784) seine Berühmtheit. Von solchen dunklen Stellen abgese­
la Mettrie (1709 – 1751) und Claude Zusammen mit dem Mathematiker hen ist Bloms Buch ein helles Vergnü­
Adrien Helvétius (1715 – 1771) rütteln an Jean-Baptiste d’ Alembert (1717 – 1783) gen. Es enthüllt die Konturen des fast
den Grundfesten von Staat und Kirche. gibt er die monumentale »Encyclopé­ vergessenen historischen Moments,
Ihre »bösen« Gedanken sind intellek­ die« heraus, in deren unzähligen Sach­ mit dem unser modernes wissenschaft­
tueller Sprengstoff, kursieren in einer artikeln zu Wissenschaft, Technik und liches Denken seinen Anfang nahm.
schmalen Teilöffentlichkeit in Form Handwerk aufklärerische Essays über
handschriftlich kopierter Manuskripte. Gott und die Welt versteckt sind. Michael Springer
Nur wer durch Bekanntheit und gute In Bloms Darstellung ist Jean-Jac­ Der Rezensent ist Physiker und ständiger
Beziehungen geschützt ist, entgeht ab­ ques Rousseau (1712 – 1778) der finstere Mitarbeiter bei »Spektrum der Wissenschaft«.

Gastgeber und Gäste des Salons: Baron Paul Thiry d’Holbach, Denis Diderot, Jean-Baptiste le Rond d’ Alembert
und Jean-Jacques Rousseau (von links nach rechts)

www.spektrum.de 85
rezensionen

Dmitry Fuchs, Serge Tabachnikov Man kann die einzelnen Lektionen


Ein Schaubild der Mathematik mit wenigen Ausnahmen in beliebiger
30 Vorlesungen über klassische Mathematik Reihenfolge angehen. Wer nach dem
Aus dem Amerikanischen von Micaela Krieger- Durcharbeiten nicht genug vom Thema
Hauwede mit Unterstützung von Ines Laue. hat, findet in den Übungsaufgaben wei­
Springer, Berlin 2011. 554 S., € 34,95 tere Herausforderungen; erfreulicher­
weise bietet der Anhang zu vielen Auf­
gaben auch ausführliche Lösungen und
nicht nur Lösungshinweise.
Für wen ist das Buch gedacht? Fuchs
und Tabachnikov geben hier an erster
Mathematik
Stelle Studienanfänger, aber auch Teil­

Das Buch für die nehmer von Fachseminaren an und er­


weitern dann den Verwendungsbereich

verlängerte Kaffeepause großzügig auf Matheklubs an Gymna­


sien und Kaffeepausen. Das ist viel­
leicht gut gemeint, aber unrealistisch.
Wer diese »Vorlesungen« als Pausenfüller konsumieren will, muss schon Schüler oder Schülerinnen müssten
ziemlich genial sein – und wird die Pause trotzdem überziehen. schon extrem begabt und hartnäckig
zugleich sein, um ohne Unterstützung

D as Büchlein »Von Zahlen und Fi­


guren: Proben mathematischen
Denkens für Liebhaber der Mathema­
riges Leben (von 1990 bis 2001) be­
schieden war. 30 dieser Abhandlungen
wurden 2007 zu einem Buch mit dem
mit diesem Stoff zu Rande zu kommen.
Wer dagegen eine Vorlesung von Fuchs
und Tabachnikov als Zeitvertreib in der
tik« von Hans Rademacher und Otto merkwürdigen Titel »Mathematical Om­ Kaffeepause konsumieren will, muss
Toep­litz, 1930 erstmals bei Springer er­ nibus« zusammengefasst; dessen deut­ sich schon sehr gut in der Mathematik
schienen, ist ein echter Klassiker: un­ sche Übersetzung – mit ebenso selt­ auskennen – und wird dann die Pause
übertroffen in seiner Verknüpfung von samem Titel – ist das vorliegende Buch. gewaltig überziehen, weil ihn das Pro­
alten Fragen und (damals) modernen Das Werk ist in der Tat bereits jetzt blem nicht mehr loslässt.
Antworten und noch heute als Lektüre schon als Klassiker zu bezeichnen; so Die erste Lektion trägt den Titel
unbedingt zu empfehlen. mustergültig haben die Autoren jahr­ »Kann eine Zahl ungefähr rational
Nun kommt 80 Jahre später, wieder hundertealte Problemstellungen mit sein?«. Eine geschickte Wahl, denn ers­
bei Springer, ein geistiges Kind des geni­ neuen Methoden verknüpft. Groß und tens gibt die Lektion selbst, von ihrer
alen Wurfs zur Welt. Die russischen Ma­ schwer geworden ist das Kind: mehr als großen Länge abgesehen, ein sehr cha­
thematiker Dmitry Fuchs und Serge Ta­ dreimal so dick wie das Vorbild und rakteristisches Bild des ganzen Buchs
bachnikov hatten sich »Von Zahlen und weitaus anspruchsvoller. ab, und zweitens ist die Formulierung
Figuren« zum Vorbild für die Arbeiten Bei der Auswahl der Themen haben auf den ersten Blick so abstrus, dass sie
genommen, die sie zwischen 1970 bis sich die Autoren von der Schönheit der Interesse weckt. Beliebig dicht an jeder
1990 in der populären sowjetischen Probleme leiten lassen. Nun ja – auch rationalen Zahl liegen irrationale Zah­
Zeitschrift »Kvant« veröffentlichten. in der Mathematik liegt Schönheit im len und umgekehrt – da ist »ungefähr
Nach dem Ende der Sowjetunion über­ Auge des Betrachters, aber spannend rational« ein offensichtlich sinnloser
siedelten beide in die USA; ihre Neigung sind die 30 »Vorlesungen« allemal. Er­ Begriff.
zu populärer Darstellung von Mathema­ freulich groß ist die Anzahl der Abbil­ Die Autoren lösen den Widerspruch
tik haben sie beibehalten. So ist Tabach­ dungen – schließlich stammen sechs auf, indem sie »rational« zu »rational
nikov einer der Herausgeber der Zeit­ der acht Großkapitel aus den Bereichen mit kleinem Nenner« verschärfen. Nen­
schrift »The American Mathematical Geometrie und Topologie. Am Anfang nen wir eine Zahl »ungefähr rational«,
Monthly«. Artikel aus »Kvant« erschie­ jeder Vorlesung steht eine frei-assozia­ wenn es in ihrer Nähe eine rationale
nen in der englischsprachigen Zeit­ tive, häufig hintersinnige künstlerische Zahl gibt, in deren Bruchdarstellung der
schrift »Quantum«, der nur ein elfjäh­ Illustration von Sergey Ivanov, der be­ Nenner, sagen wir, dreistellig ist. Dazu
reits für »Kvant« und »Quantum« gear­ ist zu klären, was unter Nähe, sprich ei­
beitet hat (Bilder rechts oben). Zu jedem ner guten Näherung, zu verstehen ist.
Alle rezensierten Bücher können Sie in
unserem Science-Shop bestellen der ungefähr 100 im Buch erwähnten Ein erster Versuch einer solchen Defi­
Mathematiker ist ein Porträtfoto abge­ nition stellt sich als nicht tragfähig
direkt bei: www.science-shop.de
per E-Mail: shop@wissenschaft-online.de druckt, darunter zahlreiche aus dem Ar­ heraus, da es unendlich viele »gute« ra­
telefonisch: 06221 9126-841 chiv des Mathematischen Forschungs­ tionale Näherungen gibt. Der über drei­
per Fax: 06221 9126-869
instituts Oberwolfach. einhalb Seiten gehende Beweis des zu­

86  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · dezember 2011


Eröffnungsbild zur Vorlesung »Siebenundzwanzig Geraden« (links) und zu »Kegel umstülpen« (rechts)

gehörigen Satzes verlangt Kenntnisse nau die Zahl, die von Generationen von entwicklung, die am Ende die Entschei­
aus der Vektorrechnung und Routine Künstlern, Bildhauern und Architekten dung liefert, ob eine Zahl ungefähr rati­
im Umgang mit Ungleichungen. am meisten geliebt wurde: Es ist der onal ist. Im Einzelfall muss die Zahl nur
Es folgt die typische Kost, an die Be­ Goldene Schnitt (1+√5)/2.« so genau bekannt sein, wie der Taschen­
sucher von Mathematikvorlesungen Es folgt der Begriff des Kettenbruchs; rechner sie darstellt; dann kann man
gewöhnt sind: Zunächst werden neue das ist ein Bruch, deren Nenner eine ­alles, was man für die Entscheidung
Begriffe und Sachverhalte eingeführt, Summe aus einer natürlichen Zahl und braucht, ausrechnen – mit dem Ta­
deren Zusammenhang mit dem ange­ einem Bruch ist, dessen Nenner wiede­ schenrechner.
strebten Ergebnis alles andere als offen­ rum … Dann wird erklärt, was Ketten­ Das Werk ist sehr empfehlenswert
sichtlich ist. Hier ist es der Satz von Hur­ brüche mit dem euklidischen Algorith­ für alle, die Freude an höherer Mathe­
witz und Borel über quadratische Nähe­ mus zu tun haben, jener seit der Antike matik haben und sich nicht vor der zu­
rungen, in dem merkwürdigerweise die bekannten Methode, mit der man den gehörigen Anstrengung scheuen!
Zahl √5 eine Rolle spielt. »Was ist die ir­ größten gemeinsamen Teiler zweier
rationalste aller irrationalen Zahlen, die Zahlen bestimmen kann. Heinz Klaus Strick
Zahl, die sich am meisten gegen eine Nach einigen Propositionen und Der Rezensent ist Mathematiker und ehema-
­rationale Näherung sträubt? Erstaunli­ Lemmata kommt dann endlich der alles liger Leiter eines Gymnasiums in Leverkusen-
cherweise ist diese schlimmste Zahl ge­ klärende Satz: Es ist die Kettenbruch­ Opladen.

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rezensionen

François Lelord
Das Geheimnis der Cellistin. Beinahe normale Fälle eines ungewöhnlichen Psychiaters
Aus dem Französischen von Ralf Pannowitsch. Piper, München 2011. 380 S., € 19,95
Bekannt geworden ist François Lelord als Autor der Romane von Hector, dem Psychiater auf der Suche
nach dem Glück – doch eigentlich ist er selbst einer. In dieser Eigenschaft tritt er hier in die Fußstap-
fen von Oliver Sacks (»Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte«). An neun typischen
Fällen aus seiner Praxis beschreibt er psychische Störungen von Agoraphobie über Autismus und Bu-
limie bis Schizophrenie samt Behandlungsmöglichkeiten wie Psychoanalyse, Verhaltenstherapie und
Psychopharmaka. Für die deutsche Ausgabe des im Original 1993 erschienenen Buchs hat Lelord je-
des Kapitel mit einer aktualisierenden Ergänzung versehen. Nicht zuletzt dadurch ist das Buch auch
heute lesenswert. Psychiatrisch Vorgebildeten bietet es allerdings nichts Neues, und auch im Unter-
haltungswert kommt es nicht ganz an das große Vorbild Sacks heran.  Hartwig Hanser

Josef H. Reichholf
Naturgeschichte{n}. Über fitte Blesshühner, Biber mit Migrationshintergrund und warum wir uns die Umwelt
im Gleichgewicht wünschen
Knaus, München 2011. 320 S., € 19,99; Kindle eBook € 15,99
Mit rund 50 faszinierenden Geschichten nimmt uns der bekannte Münchner Biologe Josef Reichholf
mit auf erlebnisreiche Kurzreisen in die Natur, vor die Haustür wie auch in ferne Welten. Dabei ge-
lingt ihm mancher überraschende Brückenschlag, vor allem wo er uns selbst den Spiegel vorhält.
Wichtiger als humorige Hinweise auf biologisch bestimmte Wesenszüge des Menschen sind ihm Irr-
tümer, mangelhaft reflektierte Weltansichten und unhaltbare Naturvorstellungen, die er den Exper-
ten vom Naturschützer bis zum Ökologen vorhält. So etwa die Idee von der »heilen Natur«, die sich in
Wirklichkeit an der Kulturlandschaft des 19. Jahrhunderts orientiert. Und wer ist sich dessen bewusst,
dass das wunderschön blühende Rapsfeld viel weniger Arten Lebensraum bietet als eine Großstadt?
Durchgehend spannend, oft mit einem Augenzwinkern, dann wieder bissig-kritisch bis witzig lehrt
Reichholf uns manche Lektion und verschweigt dabei ungelöste Rätsel nicht.  Adelheid Stahnke

Magnus Heier
Nocebo: Wer’s glaubt wird krank. Wie man trotz Gentests, Beipackzetteln und Röntgenbildern gesund bleibt
Hirzel, Stuttgart 2011. 133 S., € 17,90
Nicht nur Hypochonder kennen das: Kaum liest man die Beschreibung einer Krankheit, schon spürt
man die Symptome bei sich selbst. Dahinter steckt der Noceboeffekt (lateinisch »ich werde scha-
den«), der kaum bekannte dunkle Zwilling der Placebowirkung. Seine Ursachen und Folgen führt uns
der Autor, selbst Facharzt für Neurologie, eindringlich vor Augen. Die moderne Diagnostik, die jede
noch so unbedeutende Auffälligkeit an den Tag bringt, liefert oft unklare Befunde, die Angst auslösen
und wirklich krank machen können. Die Beipackzettel von Arzneimitteln mit ihren langen Listen
möglicher Nebenwirkungen tragen zusätzlich zur Verunsicherung bei. Als Heilmittel empfiehlt Heier
eine humanere Medizin, die überflüssige Untersuchungen durch ein intensiveres Gespräch mit dem
Arzt ersetzt – in unserem Gesundheitssystem freilich ein frommer Wunsch.  Gerhard Trageser

Georg Brunold
Fortuna auf Triumphzug. Von der Notwendigkeit des Zufalls
Galiani, Berlin 2011. 283 S., € 19,99
Alle Achtung. Der studierte Philosoph, Schriftsteller, Journalist und Übersetzer Georg Brunold hat die
100 Quellen wirklich gelesen und versteht es, die tiefsinnigsten Gedanken aus ihnen zu referieren. Da
kommt eine bunte Mischung zusammen, die sich nur lose um das Thema Zufall rankt: die Glücksgöt-
tin in der Antike und in der christlichen Umdeutung, Glücksspiel, Wahrscheinlichkeitstheorie, Statis­
tik, Zufall in Literatur, Kunst und der wissenschaftlichen Entdeckung. Vor allem aber geht es Brunold
um den freien Willen, den Determinismus (den er überhaupt nicht mag), die Chaostheorie, die irra­
tionalen Zahlen im Allgemeinen und die Zahl π im Besonderen. Bei manchen heftigen Gedanken-
sprüngen wird der Mathematiker nervös (so wie vermutlich der Historiker bei den geschichtlichen
Darstellungen); aber amüsant zu lesen ist es schon. Christoph Pöppe

88  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · dezember 2011


Mark Alpert tische Mengen an Energie. Da muss
Crash schon eine Atombombe her; und um
Aus dem Amerikanischen von Jochen Stremmel. nicht die ganze Arbeit selbst machen zu
Page & Turner, München 2011. 445 S., € 14,99 müssen, delegieren die Weltzerstörer
die Detailarbeit an die Iraner, die schon
immer ein Faible für Massenvernich­
tungswaffen hatten – aber natürlich
über das eigentliche Ziel des Projekts
getäuscht werden müssen.
Thriller
Zu allem Überfluss sind die Wegbe­

Der Weltuntergang – reiter der Apokalypse auch noch funda­


mentalistische Christen aus God’s own

gerade noch abgewendet country. Das verschafft ihnen ihre uner­


schütterliche Selbstgewissheit, mit der
sie über Berge von Leichen gehen.
Während die Bösen es unternehmen, mit modernster Physik das Ende  Zwischendurch sieht es sehr schlecht
der Welt herbeizuführen, retten die Guten die Welt – mit etwas anderer aus für das Universum. Aber Rettung
modernster Physik. naht, weniger in Gestalt von David und
Monique, die im späteren Verlauf des

E in beliebtes Kochrezept für einen


Sciencefiction-Roman ist: Nimm an,
die Welt sei in einem einzigen Punkt an­
und die Physikerin Monique Reynolds,
der Traum des politisch korrekten Ame­
rikaners: schwarz, genial und atembe­
Romans eher eine Nebenrolle spielen,
als vielmehr durch einige israelische
Helden, allen voran einen Physiker, der
ders, als sie in Wirklichkeit ist. Arbeite raubend sexy. den Quantencomputer schon viel wei­
unter Beachtung aller übrigen Gesetze Inzwischen sind David und Monique ter entwickelt hat, als es der gegenwärti­
der Physik und der Logik die Konse­ verheiratet und haben ein kleines Kind, gen Realität entspricht. Also kann er das
quenzen dieser Annahme aus und ma­ aber wieder schlagen die Bösen zu und Faktorisierungsproblem für Produkte
che daraus eine spannende Geschichte. entführen Davids autistischen Adoptiv­ großer Primzahlen lösen, damit das Ver­
Mark Alpert, Astrophysiker und Re­ sohn, in dessen Kopf unsere Helden das schlüsselungssystem des amerikani­
dakteur bei »Scientific American«, hat Geheimnis sicher untergebracht wähn- schen Präsidenten knacken und gerade
seine kontrafaktische Annahme schon ten. Wieder sind sie nicht nur überaus noch rechtzeitig dessen bereits er­
in dem Vorgängerroman »Die Würfel brutal, sondern verfügen auch über ex­ teiltem Befehl zum Abwurf einer Atom­
Gottes« (Page & Turner 2009) getrof­ quisite Kenntnisse der modernen Phy­ bombe den gefälschten Widerruf hin­
fen: Albert Einstein hätte nicht, wie in sik. So können sie mit dem Röntgen­ terherschicken. Am Ende opfert er in ei­
der Realität, jahrzehntelang vergeblich laser, dem Lieblingsspielzeug Ronald ner Kamikazeaktion sein Leben, damit
an einer allgemeinen Feldtheorie ge­ Reagans aus der »Star Wars«-Kiste, un­ die Iraner nicht doch noch selbst an der
arbeitet, sondern sie gefunden – aber geheure Energien auf beliebig kleinem Bombe zündeln. Aber für diesen Hel­
nicht veröffentlicht, weil sie zur Kon­ Raum konzentrieren und damit das dentod hat der Leser nicht mehr viele
struktion noch weit schlimmerer Ver­ Universum zum Absturz bringen. Tränen übrig, nachdem Mark Alpert
nichtungswaffen als der Atombombe Zum Programmabsturz, wohlge­ schon so viele andere Sympathieträger
geeignet wäre. Aber wie diese fausti­ merkt, denn das Weltall ist – »Matrix« hat über die Klinge springen lassen.
schen Physiker so sind: Er hat es doch lässt grüßen – in Wirklichkeit ein gigan­ Ja, die Idee, auf sehr moderner, zum
nicht übers Herz gebracht, die Weltfor­ tisches Computerprogramm, und des­ Teil spekulativer Physik eine Roman­
mel mit ins Grab zu nehmen, sondern sen Designer haben den Speicherplatz handlung aufzubauen, hat ihren Reiz.
jedem seiner letzten vier Assistenten ei­ für die Werte der Energie ein bisschen Herausgekommen ist allerdings ein
nen Teil davon anvertraut. knapp bemessen. Also verursacht ein amerikanischer Standardthriller, sau­
In »Die Würfel Gottes« verschaffen Röntgenlaser so etwas wie einen expo- ber nach dem Lehrbuch geschrieben –
sich böse Schurken mit unglaublicher nent overflow, daraufhin stürzt das Pro­ immer dann die Szene wechseln, wenn
Brutalität die vier Einzelteile; aber be­ gramm ab, und die Welt ist zu Ende: es am spannendsten ist – und mit einem
vor sie ernsthaftes Unheil anrichten eine Softwareversion des Jüngsten Ta­ großen Maß an Gewaltanwendung. Ich
können, werden sie – mit knapper Not, ges, welche die kühnsten, aber stets erd­ gestehe, das hat mir die Freude beim Le­
damit es spannend bleibt – von den gebundenen Pläne der James-Bond- sen etwas getrübt.
­Guten aufgehalten. Das sind in erster Li­ Schurken weit in den Schatten stellt.
nie David Swift, ein Wissenschaftshisto­ Um das Ganze zu bewerkstelligen, Christoph Pöppe
riker, der auffällig viele Gemeinsam­ brauchen die Bösen nicht nur Einsteins Der Rezensent ist Redakteur bei »Spektrum der
keiten mit Mark Alpert selbst aufweist, Feldgleichungen, sondern auch gigan­ Wissenschaft«.

www.spektrum.de 89
rezensionen

Fondation Cartier pour l’art contemporain Vor allem Gromov ist in der Szene als
Mathématiques, un dépaysement soudain / schräger Vogel bekannt und geschätzt
Mathematics: A Beautiful Elsewhere (Spektrum der Wissenschaft 5/2009, S.
Ausstellung bis zum 18. März 2012. 74); auch unter Mathematikern findet
261 boulevard Raspail, F-75014 Paris man selten jemanden, der sich so be­
Geöffnet täglich außer montags 11 bis 20 Uhr, dienstags bis 22 Uhr reitwillig zum Affen macht wie er (www.
Eintritt 9,50 €, ermäßigt 6,50 € ihes.fr/~gromov). Auf der Künstlerseite
Katalog (französisch oder englisch): 224 S., mit Audio-CD, 44 € fand er einen ähnlich skurrilen Partner
http://fondation.cartier.com in Gestalt des Regisseurs David Lynch,
der mit Kultfilmen wie »Wild at Heart«
berühmt geworden ist.
Kunstausstellung
Und was ist deren gemeinsamer Bei­

Plötzliche Heimatlosigkeit trag zur Ausstellung? Ein Raum in Form


einer Null – na gut, man kann diese Zahl

oder schönes Anderswo? mit einiger Berechtigung als fundamen­


tal für die Mathematik ansehen –, an
dessen Decke die Größenordnungen der
Eine Ausstellung über Kunst und Mathematik ist sehenswert –  Welt, vom Quark bis zum Galaxienhau­
aber nicht unbedingt wegen der Kunst. fen, in einem Film mit hübschen Zeich­

D as Verhältnis zwischen Mathema­


tik und Kunst ist nicht als wirklich
herzlich zu bezeichnen. Mathematik als
Hilfsmittel der Kunst? Ja, die Geometrie
ist hilfreich zum perspektivischen
Zeichnen, und der Computer als verall­
gemeinerter Pinsel ist willkommen. Ma­
thematik als Gegenstand der Kunst? Ge­
lingt, wenn der Künstler etwas von Ma­
thematik versteht, also eher selten. Der
Mathematiker, der in der Kunst dilet­
tiert? Da rümpfen die Kunstverstän­
digen die Nase und verweisen ihn zu
den Pädagogen: Nichts dagegen, wenn
man mit hübschen bunten Bildern –
von Fraktalen und mehr – die Leute für
die Mathematik begeistert und ihnen
vielleicht sogar etwas Wissenschaft ver­
mittelt; aber echte Kunst ist doch etwas
anderes.
Die Fondation Cartier, eine Stiftung
des gleichnamigen Schmuckherstellers,
die sich der Förderung der zeitgenös­
sischen Kunst verschrieben hat, begab
sich also auf schwieriges Terrain, als sie
vor zwei Jahren mit dem Ziel einer Aus­
stellung Beziehungen zu den Mathema­
Fondation Cartier / Olivier Ouadah

tikern aufnahm. Und wie es sich für Car­


tier gehört, war nur das Beste gut ge­
nug: Michael Atiyah, Jean-Pierre Bour­
guignon, Alain Connes, Misha Gromov,
Cédric Villani und Don Zagier zählen zu
den prominentesten Figuren des Fachs.
Es traf sich günstig, dass die Mehrheit Die Pseudosphäre – nur vollständig mit ihrem Spiegelbild – ist eine besonders interes-
von ihnen in Paris ansässig ist. sante Rotationsfläche, weil auf ihr die hyperbolische Geometrie gilt.

90  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · dezember 2011


Lesershop
NEUES AUS DEM

nungen illustriert werden. An der Wand ken anderer Wissenschaftler, die mit er­
laufen Zitate aus Gromovs »Library of steren in einer engen Beziehung stehen.
Mysteries«, einer Sammlung zweifellos Ein eindrucksvolles Geflecht, zweifellos,
bedeutender Werke der Wissenschaft Poincaré war in seiner Genialität und
von dem antiken Naturphilosophen He­ Vielseitigkeit eine herausragende Aus­
raklit bis zu dem genialen, im Wortsinn nahmefigur – aber wertlos für den, der
verschollenen Mathematiker Alexander die Titel nicht zu interpretieren weiß.
Grothendieck; die Punkmusikerin Patti Und Jean-Michel Alberola hat die Hand
Smith mit ihrer rauchigen Stimme, ver­ von Cédric Villani beim Anschreiben an
schwommen abgefilmt von David Lynch, die Wandtafel abgefilmt, und nichts an­
steuert etwas mystische Aura bei. deres als die Hand. Angeblich war es ein
Nebenan ist der Raum der von Gro­ mathematischer Beweis, den Villani da
mov postulierten »vier Wunder«: Das angeschrieben hat; aber was ist die
sind die Gesetze der Physik, das Leben, künstlerische Aussage, wenn das Kunst­
das menschliche Gehirn und – die drei werk, so wie es gemacht ist, zuverlässig
anderen umfassend – das Wunder der verhindert, dass man versteht, worum
mathematischen Struktur. Die Expo­ es geht, wozu man bei weniger enger
nate in diesem Raum lassen sich aller­ Perspektive vielleicht eine Chance ge­
dings nur mit Mühe in Gromovs Wun­ habt hätte?
derschema einordnen. Da findet sich Ein Raum weiter dann das einzige
die Penrose-Pflasterung, für die Kinder wirklich materielle Kunstwerk der Aus­
zum Puzzeln und in bewegten Bildern stellung: eine Pseudosphäre aus Alumi­
projiziert ins Innere einer Halbkugel. nium, geschaffen von dem japanischen
Zweifellos nicht mehr ganz neue Ma­ Künstler Hiroshi Sugimoto (Bild links).
thematik; aber gerade der Film setzt die Eigentlich ragt diese Fläche konstanter
dahinterstehenden Ideen in faszinieren­ negativer gaußscher Krümmung bis ins
der Weise um. Man merkt, dass die Film­ Unendliche und wird dabei beliebig
macher von der Softwarefirma BUF sich dünn. Da erlaubt das Material eine bes­
intensiv in die Mathematik eingear­ sere Näherung als die traditionellen
beitet haben. Im Wechsel damit kom­ Gipsmodelle, die Sugimoto auf die Idee
men erstklassige filmische Darstellun­ gebracht haben. Aber warum gilt das als
gen von Diffusions- und Wellenphäno­ Kunst? Die wesentliche Leistung Sugi­
menen sowie von der Aerodynamik des motos besteht darin, die mathema­
Fliegens. Wenn die Bilder bloß nicht so tische Formel in bisher unerreichter Kalender »Himmel und Erde 2012«
hektisch am Betrachter vorbeirauschen Perfektion in ein Objekt umgesetzt zu
Astronomen präsentieren im Bildkalender
würden! haben; das ist eigentlich Handwerk,
»Himmel und Erde 2012« ihre schönsten Aufnah-
Im selben Raum befinden sich eine wenn auch erstklassiges.
men und lassen Sie an den fantastischen
hübsch bunte Collage der brasiliani­ Hohe Kunst und hohe Mathematik
schen Malerin Beatriz Milhazes nach haben sich getroffen und viele Worte Möglichkeiten der modernen Naturbeobachtung
Ideen des Mathematikers Cédric Villani produziert, mit denen ich nicht viel an­ teilhaben. Zusätzlich bietet er wichtige Hinweise
sowie ein Stück aktuelle Forschung: fangen kann. Mit Ausnahme von Gro­ auf die herausragenden Himmelsereignisse
Pierre-Yves Odeyer vom Standort Bor­ movs Erinnerungen aus seinem Leben; 2012 und erläutert auf einer Extraseite alle auf
deaux des Forschungszentrums INRIA die sind originell und umwerfend ko­ den Monatsblättern des Kalenders abgebildeten
(Institut national de recherche en infor­ misch. Als Nebenprodukt sind Werke Objekte knapp und anschaulich. 14 Seiten;
matique et en automatique) entwickelt entstanden, die mich begeistern – aber
13 farbige Großfotos; Spiralbindung; Format:
Software für das selbsttätige, neugier­ nicht in erster Linie wegen ihrer künst­
55 x 45,5 cm; € 29,95 zzgl. Porto; als Standing
getriebene Lernen. Seine künstlichen lerischen Qualitäten, sondern weil sie –
Subjekte sind kleine Roboter mit Affen­ ganz pädagogisch – die Mathematik so Order € 27,– inkl. Inlandsversand

köpfen, an deren Gestaltung Gromov gut transportieren. Vielleicht soll man www.spektrum.com/kalender2012
und Lynch beteiligt waren. den Kunstbegriff nicht so eng fassen.
Ein Stockwerk tiefer finden sich zwei Oder ich bin Kunstbanause.
Exponate, die ich für misslungen halte. Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Slevogtstraße 3–5 | 69126 Heidelberg | Tel.: 06221 9126-743
An einer großen Wand angeschrieben Christoph Pöppe Fax: 06221 9126-751 | service@spektrum.com
finden sich die Titel der Werke von Hen­ Der Rezensent ist Redakteur bei »Spektrum der
ri Poincaré (1854 – 1912) sowie von Wer­ Wissenschaft«.

www.spektrum.de WISSENSCHAF T AUS ERSTER HAND


91
Wissenschaft im Rückblick

Sternwarte in der Farbiger Schnee


Stratosphäre »Schneemaschinen sind
nichts weiter als Beriese-
»Die Lufthülle bedeutet für
lungsapparate. Das Wasser
die Erforschung kosmischer
enthält chemische Zusätze
Objekte ein großes Hinder-
und fällt als blütenweisser
nis. Wie ein Schleier hängt
Schnee auf die Hänge nieder. Ein Erfinder ging noch weiter:
sie zwischen uns und den
Er produzierte farbigen Schnee. Eine praktische Anwendung:
Sternen. Verständlich, daß
Der Hang für Anfänger wird blau gesprengt, für Fortgeschrit-
die Astronomen photogra-
tene grün und für die Meister des Wintersports gelb.« Neuhei-
phische Aufnahmen außer-
ten und Erfindungen 315, Dezember 1961, S. 218
halb ersehnen. Das wurde
mit dem ›Projekt Stratoskop‹
erreicht. Ein riesiger Ballon,
der eine Höhe von 28 000
Waldmensch in Gefahr
m erreicht. Nach der Belich- »Die riesigen Flächen des tropischen Regenwaldes von Süd-
tung des Films klappt das ost-Asien sind ein Naturreservat. Hier, in Borneo und Suma-
Fernrohr zurück und löst tra, lebt der Orang-Utan. Heute droht ihm tödliche Gefahr:
sich mit dem Fallschirm der Wissensdrang westlicher Nationen. Sie bezahlten hohe
vom Ballon. Das Ergebnis Preise für jedes Orangskelett, um ihre Evolutionstheorien
waren 300 m Film mit 8000 Ein großer Wetterballon zu unterbauen; dagegen unterließen sie es, das Tier in seiner
Einzelaufnahmen.« Kosmos 12, transportierte das Teleskop in natürlichen Verhaltensweise zu beobachten.« Die Umschau in
Dezember 1961, S. 518 die Stratosphäre. Wissenschaft und Technik 24, Dezember 1961, S. 745

Der Triumph des Aluminiums


»Die Industrie, die sich mit der Gewinnung von Alumi­nium
beschäftigt, hat einen außerordentlichen Aufschwung ge­-
nommen. Es ist häufiger als das Eisen. Trotzdem war metal­
lisches Aluminium bis 1880 eine Seltenheit. Man kannte
noch kein Verfahren, das Metall aus der Tonerde auf billige
Gleichzeitig in das Instrument Art zu gewinnen. Erst die Vervollkommnung der Elektrolyse
blasen und durch die Nase hat die Mittel dazu gegeben. Im Jahre 1883 wurden nur 83
einatmen – der Pfund Aluminium hergestellt, im Jahre 1909 dagegen über
Aerophor machte 34 Millionen Pfund. Weder der Kraftwagen, noch die Flug-

Fotos: aus Zeitschriften der Forschungsbibliothek für Wissenschafts- und Technikgeschichte des Deutschen Museums
es möglich. schiffahrt ließen sich denken, wenn nicht im Aluminium
ein Metall von unvergleichlicher Leichtigkeit zur Verfügung
stände.« Kosmos 12, Dezember 1911, S. 471
Gegen Atemnot bei Blasmusikern
»Der Schweriner Hofmusiker Bernard Samuels hat der mu-
sikalischen Welt eine originelle Erfindung gebracht, deren
Südfrankreich meldet ältesten Neandertaler
Einführung Musikern große Erleichterung schaffen wird. »Aus Südfrankreich kommt aufs neue die Kunde von der Auf-
Blasinstrumente habe zwei Nachteile! Das Spielen erfor- deckung fossiler Menschenreste, die der Kulturschicht des
dert bedeutende Kraftanstrengung der Atmungsorgane, die Moustérien, also der älteren Steinzeit entstammen und mit
bei älteren Musikern sich besonders bemerkbar macht. Der großer Wahrscheinlichkeit als dem Neandertalertypus ange-
zweite Nachteil ist der, daß die Atmung keine absatzlose Aus- hörig bezeichnet werden können. Die Ablagerung, in der das
führung beim Spiel gestattet. Der Aerophor – Luftbringer – Skelett angetroffen wurde, entspricht einem alten Flußlauf.
beruht auf folgender Konstruktion. Durch einen Schlauch, Lagerung und Haltung scheinen darauf hinzudeuten, daß
der in ein Mundstück mündet, wird dem Instrumente ein es sich um einen Kadaver handelt, der vom Ufer in den Fluß
Luftstrom zugeführt, der durch einen Apparat durch pedal­ gestürzt ist oder herabgeschwemmt wurde. Die Fundschicht
artiges Auftreten mit dem Fuß erzeugt wird. Der Blasebalg ist ungestört; es ergibt sich die Berechtigung, dem Skelett
ist mit einem Rückschlagventil versehen, um zu verhindern, ein hohes geologisches Alter zuzusprechen. Es ist älter als
daß Lungenluft in den Balg geblasen wird.« Die Umschau in Wis- alle bisher bekannten menschlichen Skelette.« Die Umschau in
senschaft und Technik 49, Dezember 1911, S. 1015 Wissenschaft und Technik 51, Dezember 1911, S. 1065

92  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · dezember 2011


Exponat des Monats In Kooperation mit dem Deutschen Museum

Ein Spielzeug für den Weihnachtsmann

beide Fotos: Deutsches Museum


Eine Spieluhr mit Weihnachtsbaumständer – die »Gloriosa«
des Stuttgarter Erfinders Johannes Carl Eckardt besaß
ein Plattenspielwerk, das über Anreißräder Metallzähne
zum Schwingen brachte.

Detail: Stahlkamm und


Anreißräder des Spielwerks

D er Fabrikant Johannes Carl Eckardt aus Stuttgart erhielt


1884 ein Patent für Neuerungen »an Musikwerken, wel-
che mit Mechanismen zum Drehen von Untersätzen für
Angebots. Die Töne wurden durch das Einstanzen von Lö-
chern und die dabei auf der Rückseite entstehenden Nocken
kodiert.
Weihnachtsbäume versehen sind«; zwei weitere sollten fol- Das Unternehmen schaltete Anzeigen (siehe oben) und
gen. Eckardt, dessen Firma unter anderem Nähmaschinen pries darin die Tonqualität sowie das hochwertige Gehäuse
für Kinder produziert hatte, verknüpfte damit die Tradition aus mattiertem Nussbaum mit Bronzeverzierungen. Dessen
des geschmückten Baums mit jener der festlichen Hausmu- Gestaltung sollte, dem Geschmack der Zeit entsprechend, an
sik. Zudem machte er sich zu Nutze, dass sich hochwertige Renaissancekassetten erinnern. Ebenso wichtig war freilich
und dank der Industrialisierung auch erschwingliche Spiel- die Stabilität, denn der auf dem nur 40 mal 28 Zentimeter
werke wachsender Beliebtheit erfreuten. großen Gehäuse montierte Ständer musste bis zu ein Zent-
Besonders begehrt war sein Modell »Gloriosa«, das 1880 ner schwere Christbäume tragen.
auf den Markt kam. Für das langsame Drehen des Baums Eckardts klingender Weihnachtsbaumständer waren ein
sorgte ein Uhrwerk, dessen Feder über eine Kurbel aufgezo- kommer­zieller Erfolg: Bis 1911 verkaufte er 100 000 Stück.
gen wurde. Es trieb auch die Musikmechanik an. Eckardt ver- Für den Einsatz an öffentlichen Orten baute der Erfinder
baute zunächst Spielwerke, bei denen Walzen mit Metallstif- auch Exemplare mit einem Münzeinwurf. Konkurrenten
ten verschieden lange und damit unterschiedlich gestimmte drängten auf den Markt und versuchten, seine Patente zu
Zähne von Metallkämmen anzupften (siehe Foto). Bis zu vier umgehen. Beispielsweise drehte sich der Christbaumständer
solcher Kämme konnten verbaut sein. »Triumph«, indem sich eine Schnur langsam auf die Achse
Ab 1892 bot er ein neues Modell an, dem das hier abge­ eines separat stehenden Spielwerks auf­wickelte.
bildete Exemplar entspricht. Es nutzte das in Leipzig herge- Um das Produkt über die Weihnachtszeit hinaus vermark-
stellte hochwertige Plattenspielwerk Kalliope: »Programm- ten zu können, bot die Firma Eckardt wechselbare Aufsätze
träger« waren nicht mehr Walzen, sondern Metallscheiben wie Blumenvasen, Porzellanplatten und anderen Zimmer-
mit Nocken auf der Unterseite. Drehte sich die Platte im Ins- schmuck an. Das musikalische Repertoire umfasste mehr als
trument, nahmen die Nocken Anreißräder mit, die das An­ 120 Stücke: neben weihnachtlichem Liedgut auch christliche
zupfen des Stimmkamms besorgten. An ihrem Rand hatte Choräle, leichte Musik wie das Couplet »Immer an der Wand
jede Scheibe Zacken, in die ein vom Uhrwerk angetriebenes lang« sowie nationale Melodien wie die »Wacht am Rhein«.
Zahnrad griff. Eine Andruckstange mit Hartgummirollen Die letzten Exemplare der erfolgreichen Produktreihe ka-
sorgte für einen gleichmäßigen Abstand von Nocken und men Ende der 1920er Jahre auf den Markt.
Anzupfmechanismus. Solche Plattenspielwerke ermöglich-
ten dem Besitzer einen schnellen Wechsel des zu spielenden Die Musikwissenschaftlerin Silke Berdux ist Kuratorin der Musik­
Stücks und dem Hersteller eine einfache Erweiterung seines instrumentensammlung des Deutschen Museums.

www.spektrum.de 93
Vorschau Das Januarheft 2012 ist ab 20.12. im Handel.

dreamstime / Hsc
Serie ZUKUNFT DER ENERGIE

Windenergie auf dem Vormarsch


Experten zufolge reicht die Leistung,
die sich weltweit mit Windkraftanlagen
erzielen lässt, mehr als aus, um den
globalen Energiebedarf zu decken. Und
tatsächlich investieren viele Länder in
neue Windparks. Doch damit der Strom
aus solchen Anlagen wirklich flächende-
ckend zur Energieversorgung beitragen
kann, sind länder- oder kontinentüber-
greifende Verbundnetze erforderlich

istockphoto / Arpad Radoczy


Vernunft und Glaube
Im Spannungsfeld von Wissenschaft und Religion
ringen Philosophen, Theologen und Naturwissen- Die innere Dynamik
schaftler um die Klärung von Grenzen und Gemein- des Vogelschwarms
samkeiten. Während die Theologie Vernunft und In Schwärmen bewegen sich Vögel so
Spektrum der Wissenschaft / Claus Schäfer

Wissenschaftlichkeit auch für sich reklamiert, bildet exakt aufeinander abgestimmt, als
für viele Naturwissenschaftler der Glaubensakt die folgten sie einer vorgegebenen Choreo-
unüberwindliche Barriere zwischen den Bereichen grafie. Kann allein die Interaktion zwi-
schen benachbarten Tieren ein derart
koordiniertes Verhalten hervorbringen?

Todesfalle für Sein und Nichtsein newsletter


Dinosauriertrupp in der Quantenwelt
Vor 90 Millionen Jahren versank in der Bei Quantenobjekten geht es Möchten Sie regelmäßig über
die Themen und Autoren
heutigen Wüste Gobi eine Herde nicht wie für Shakespeares Ham- des neuen Hefts informiert sein?
junger Dinosaurier im Morast eines let um »Sein oder Nichtsein«.
Sees – für Paläontologen ein Glücks­- Da der Satz vom ausgeschlosse- Wir halten Sie gern auf dem 
Laufenden: per E-Mail – 
fall, liefert der einmalige Fund doch nen Dritten mitunter nicht gilt, und natürlich kostenlos.
unschätzbare Einblicke in das kann etwas zugleich existieren
­So­zialverhalten der Urzeitechsen und nicht existieren. Das zeigen Registrierung unter:
www.spektrum.com/newsletter
neue Experimente an den Univer-
sitäten Heidelberg und Wien

94  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Dezember 2011


2/11

KOSMOLO GIE BIOMECHANIK COMPUTERLINGUISTIK


Das simulierte Biomoleküle auf der Wissen für die künstliche
Universum virtuellen Streckbank Intelligenz

Datengetriebene
6/11

Wissenschaft

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Das Unmögliche demnächst –
nur Wunder dauern etwas länger

A ls ich in die Wissenschaft einstieg, war man schon froh, wenn man mit dem Rechner eine
Kurve »plotten« konnte – gerne auch mal in Abhängigkeit von zwei Variablen, also echt
­dreidimensional! Später gelang es vereinzelt sogar, dynamische Probleme mit Hilfe von Differenzial­
gleichungen für einige Zeitschritte zu verfolgen. Und das vom »Terminal« aus, ganz ohne Loch­
streifen oder -karten – ein absolutes Highlight in der Computersteinzeit.
Der Rückblick sei gestattet, um die Dimensionen des Fortschritts zu begreifen: Welche Probleme
sich heute mit Superrechnern behandeln lassen und welch riesige Datenmengen dabei produziert
und gezielt ausgewertet werden, überstieg noch vor wenigen Jahren fast die Vorstellungskraft oder
galt schlicht als unmöglich. Darum erstaunt es mich immer wieder, was in der Wissenschaft inzwi­
schen alles machbar ist – und was insbesondere auch an dem vom Wissenschaftsmäzen Klaus
Reinhard Breuer Tschira gegründeten Heidelberger Institut für Theoretische Studien passiert, mit dem sich dieser
Sonderteil beschäftigt.
Die dort tätigen Forscher stellen ausgewählte Projekte ihrer Arbeit auf den folgenden Seiten
selbst vor, betreut und unterstützt von der Redaktion von »Spektrum der Wissenschaft«. Einige
haben vorher schon in unserem Magazin geschrieben oder wurden darin porträtiert: so der Computer­
linguist Michael Strube (»Wikipedia: Wissen für die Künstliche Intelligenz«, 12/2010, S. 94) und der
Astrophysiker Volker Springel (»Vielleicht laufen wir einem Phantom nach«, 11/2010, S. 34).

W er hätte sich träumen lassen, was Forscher heutzutage mit Hilfe von Simulationen – so nennt
man die Berechnungen inzwischen – alles ergründen können: neben der Entstehung von
Galaxien (S. 10) und der automatischen Erkennung natürlicher Sprachen (S. 30) auch die Stammes­
geschichte von Organismen (S. 22) oder die Wechselwirkung von Proteinen (S. 14). Man möchte an
numerische Zauberei glauben, so schnell gerät das (einst) Unmögliche in Reichweite – nur Wunder
dauern immer noch etwas länger.
Mit den exponentiell anwachsenden Datenmengen und Publikationen wächst aber zugleich
das Problem, sich darin noch zurechtzufinden. Entsprechend arbeiten auch Gruppen am HITS über
Datenbankmanagement, beispielsweise um für Forscher Informationen über Stoffwechselprozesse
bereitzustellen (S. 26). Denn die Simulation von Problemen mit niemals völlig zutreffenden, aber
oft nützlichen Modellen (wie Klaus Tschira in seinem Editorial auf der nächsten Seite vermerkt) ist
nur ein Aspekt jener »datengetriebenen Wissenschaft«, die mit dem Siegeszug der Höchstleistungs­
rechner immer mehr an Bedeutung gewinnt. Auf die immensen Herausforderungen, vor die sie
alle Forschungsgebiete stellt, weist HITS-Chef Andreas Reuter in seinem Beitrag ab S. 6 hin.
Ob diese Herausforderungen schon überall verstanden sind, lässt sich bezweifeln. Wohin jedoch die
abenteuer­liche Reise vermutlich geht, können Sie bei der Lektüre der folgenden Artikel erahnen.

Reinhard Breuer
Editor-at-Large
Spektrum der Wissenschaft

2 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · EXTRA


Alle Modelle sind falsch,
aber einige immerhin nützlich

W as tun Wissenschaftler, die in der Grundlagenforschung arbeiten, die also versuchen, be­
stimmte Teilaspekte der uns umgebenden Welt zu verstehen? Manche von ihnen machen
das, was die meisten Menschen von Wissenschaftlern erwarten: Sie beobachten, zählen, messen,
registrieren, katalogisieren. Das sind die Empiriker. Sie streben danach, möglichst genaue Informa­
Tim Wegner, © klaus tschira stiftung

tionen darüber zu erhalten, wie Vorgänge in der Natur ablaufen.


Aber das ist nur der eine Teil des wissenschaftlichen Geschäfts. Für den anderen Teil sind die
Theoretiker zuständig, die versuchen, in den Beobachtungen der Experimentatoren Gesetzmäßig­
keiten zu erkennen und diese so zu formulieren, dass sie nicht nur mit den vorhandenen Beob­
achtungen übereinstimmen, sondern auch das Ergebnis von Experimenten voraussagen können, die
noch gar nicht durchgeführt worden sind. Solche Gesetzmäßigkeiten können unterschiedliche
Klaus Tschira Gestalt annehmen: Formeln, Diagramme, Computerprogramme und so weiter.
Jede Theorie verkörpert ein Modell des betrachteten Ausschnitts der Wirklichkeit und ist inso­
fern stets eine Abstraktion oder Idealisierung: Sie beschreibt die Realität niemals absolut genau,
sondern erfasst bestimmte relevante Aspekte »hinreichend gut« – unter Vernachlässigung anderer,
für die Fragestellung irrelevanter Details. So gesehen sind alle Modelle falsch, wie der Statistiker
George Box von der University of Wisconsin in Madison provokant formulierte. Sie können gleich­
wohl nützlich sein, sofern sie die – zumindest näherungsweise – Berechnung von Effekten erlauben,
über die noch keine Messungen vorliegen. Die Wettervorhersage etwa beruht auf vielen Vereinfa­
chungen und trifft nicht immer zu – aber sie ist, zumindest gelegentlich, sehr nützlich.

D ie zwei genannten Arbeitsweisen ergänzen sich auf fruchtbare Weise. So nutzte Johannes
Kepler das umfangreiche Beobachtungsmaterial Tycho Brahes zur Formulierung seiner Plane­
tengesetze – ein klassisches Beispiel dafür, wie Messergebnisse durch Theoriebildung zu neuen
Erkenntnissen führen. Manchmal ist das theoretische Modell auch zuerst da. Dann dienen Messun­
gen dazu, es durch Vergleich mit seinen Voraussagen nachträglich zu bestätigen oder zu widerlegen.
In diese Kategorie fällt Einsteins allgemeine Relativitätstheorie, die erst Jahre später experimentell
untermauert wurde.
Natürlich befruchten Theorien auch die empirische Seite der Wissenschaft. So ermöglichen sie
neue experimentelle Fragestellungen oder innovative Messverfahren. Weder Experimente noch
Theorien allein verhelfen also zu grundlegenden neuen Einsichten. Nur ihr Wechselspiel bringt die
Wissenschaft voran.
Seit etwa 20 Jahren verschiebt sich jedoch die Balance zwischen Experiment und Theorie in
einem Maß, das teils schon eine Entkopplung befürchten lässt. Der Hauptgrund dafür ist, dass
erheblich mehr Fördermittel in Experimentiereinrichtungen wie Beschleuniger, Teleskope, Sequen­
zierer oder Computer geflossen sind als in die Theoriebildung. In Verbindung mit dem rasanten
Leistungszuwachs in der Halbleitertechnik kam es so zur Ansammlung gigantischer Datenmengen,
die kein Mensch mehr allein durch Sichten und Nachdenken verarbeiten kann. Die Frage, wie solche
Datenfluten jemals zu Theorien verdichtet, zu Erkenntnis veredelt werden können, geriet völlig in
den Hintergrund. Das war für mich der Impuls zur Gründung des gemeinnützigen Heidelberger
Instituts für Theoretische Studien (HITS).
Daten gibt es, wie gesagt, in Hülle und Fülle, und zwar auf allen Gebieten der Naturwissen­
schaften und darüber hinaus. Die Forschungsgruppen des HITS sollen technisch und organisatorisch
die Möglichkeit bekommen, Methoden zu entwickeln und zusammen mit experimentell arbeitenden
Forschern zu erproben, die es erlauben, diese Datenmengen effektiv zu verwalten und zur Gewin­
nung neuer Einsichten nutzbar zu machen. Wenn dabei gelegentlich regelrechte Forschungs-Hits
entstehen, ist das ganz im Sinne des Erfinders.

Klaus Tschira
Geschäftsführer HITS gGmbH

Datengetriebene Wissenschaft 3
inhalt

6 D
 atengetriebene Forschung –
Herausforderung für die Informatik
Von Andreas Reuter
Auf allen Gebieten der Natur- und In­ge­
nieurwissenschaften gewinnt eine Arbeits-
methode an Bedeutung, bei der die Ana­-
lyse sehr großer Mengen von Daten zu
neuen Erkenntnissen führt. Mit welchen
technischen und organisatorischen Maß-
nahmen kann die Informatik eine ­solche
datengetriebene Forschung unterstützen­?


10 Der Kosmos im Computer
Von Volker Springel
In den fortgeschrittensten Supercomputer-
simulationen versuchen Forscher, eine
Brücke vom Universum kurz nach dem
Urknall bis zur Gegenwart zu schlagen. Sie
untersuchen, wie sich aus der einst homo-
gen verteilten Materie die heutige Vielfalt
von Galaxien entwickeln konnte

14 D
 as biomolekulare Erkennungspuzzle
Von Rebecca C. Wade
Proteine sind die Funktionsträger des
Lebens. Ihre Wechselwirkungen miteinan-
der und mit anderen Biomolekülen sorgen
dafür, dass Zellen ihre Aufgabe im Organis-
mus erfüllen. Um diese Wechselwirkungen
besser zu ver­stehen, setzen Forscher zuneh-
mend rechner­gestützte Methoden ein. Com-
putersimula­tionen von Proteininteraktio-
nen leisten auch einen immer wichtigeren
Beitrag zum Design von Wirkstoffen gegen
Krankheiten und in der Biotechnologie

18 Zerren an Biomolekülen im Computer


Von Ilona Baldus und Frauke Gräter
Mechanische Kräfte sind lebenswichtig – im
großen wie im kleinen Maßstab. Eine
Forschungs­gruppe am Heidelberger Institut
für Theoretische Studien untersucht ihre
Wirkung auf der kleinsten Ebene: vom
Protein bis hin zur einzelnen chemischen
Bindung

Titelmotiv: Brett Ryder

4 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · EXTRA


22 Hochleistungsrechner

mit frdl. gen. von Anne Ashley und Gerard manning, salk institute
und der Stammbaum des Lebens
Von Alexandros Stamatakis
Eine wahre Flut von DNA-Daten ermöglicht
inzwischen immer präzisere Rekonstruk­
tionen von Stammbäumen – im Prinzip
jedenfalls. In der Praxis über­fordern exakte
Lösungen auch die leistungsfähigsten
Computer. Die Herausforderung heißt
Europa
Zeitalter
des­halb­, die Effizienz der Programme für Kunst

Näherungslösungen zu steigern Person


(Kunst)
Staat in Europa

Moderne
Deutschland

Russland

26 Pfade im Informationsdschungel
Phosphoglucose- Person Phosphofructo- Kultur
Hexo-Kinase (Europa) Aldolase
+
Isomerase (Bildende Kunst) Kinase
Neuzeit
Deutscher

Von Wolfgang Müller ATP ADP


Künstler ATP ADP Russe
Kunstwerk
Wer die verschlungenen Wege des Stoff-
Glucose Glucose-6-Phosphat Fructose-6-Phosphat Fructose-1,6-Bisphosphat
Kultur
Glycerinaldehyd-
Person
3-phosphat
der Neuzeit
Dihydroxyaceton-
Phosphat
Kultur
(Deutschland)
wechsels erforscht, benötigt Orientierungs-
Kohlenstoff ATP Adenosintriphosphat irreversible Reaktion
(Russland)

Sauerstoff Person reversible Reaktion


ADP Adenosindiphosphat
hilfe. Die Datenbank SABIO-RK hilft mitWasserstoff
Phosphatgruppe NAD+ Nicotinamid-Adenin-Dinucleotid
(Musik)
Enolase Enzym
Künstler der
Bildenden Kunst
Kunst Kunst
(Russland)
allerlei Finessen der Informatik, benötigte Neue Musik
Komponist
(Deutschland)

Deutscher
Daten in der Flut an Publikationen aufzu­ Pyruvat- H2O
Enolase
Komponist Phosphoglycerat-
Künstler
Phosphoglycerat-
Russischer
Künstler
Glycerinaldehyd-
Künstler
3-phosphat-
der Neuzeit Triosephosphat-
Kinase (Klassische Musik) Mutase Kinase Dehydrogenase Isomerase

finden Komponist
(Kirchenmusik)
Russische
Musik

Komponist (Oper)
ATP ADP H2O ATP ADP NADH, H+
Grafiker
Deutscher
Musiker Russischer NAD+
Künstler
der Moderne
Pyruvat Phosphoenol- 2-Phospho- 3-Phospho-
Musiker 1,3-Bisphospho-
Radierer
pyruvat Komponist glycerat
Deutscher
glycerat glycerat

30 Kreativ durch Analogien


(20. Jahrhundert) Russischer Grafikdesigner
Komponist
Komponist
Kunst
der Moderne
Dirigent
Von Michael Strube Max Reger
Russischer
Maler
Expressionismus

Gleiche Strukturen erkennen bei Dingen, Paul Hindemith Igor Strawinski


Maler des
Expressionismus
Werk Konstruktivismus

die auf den ersten Blick nichts miteinander (Neue Musik)


Deutscher
Künstler
des Konstruktivismus
Maler

gemein haben: Das ist das Arbeitsprinzip, Werk der


Darstellenden Kunst
Werk von
Paul Hindemith El Lissitzky
Suprematismus

mit dem die interdisziplinäre Computerlin- Mann

Künstler
Ludus Tonalis Ernst Ludwig Paula des Suprematismus
guistik ihre Erfolge erzielt Musikalisches
Werk
Kirchner Modersohn-Becker
Dadaismus
Mathis der Maler
Werk von
Ballett (Werk) Igor Strawinski
Künstler
Frau Hannah Höch des Dadaismus
Oper (Werk)

34 Virtuelle Forschungs­-
The Rake’s
Le sacre
Progress
du printemps

umgebungen für morgen


Von Uwe Schwiegelshohn
Um Wissenschaftlern die Infrastruktur
bieten zu können, die sie für ihre Arbeit
in der Zukunft brauchen, müssen Hoch-
schulen und außeruniversitäre Institu­
tionen ihre Kräfte bündeln und neue Wege
beschreiten

38 Wissenschaft braucht Vernetzung


Von John Wilbanks
Forscher können der anschwellenden Daten-
flut nur Herr werden und sie zum rasche­-
ren Erkenntnis­gewinn nutzen, wenn sie sich
als Mitglieder eines großen Netzwerks
verstehen. Dies erfordert neue Modalitäten
der Zusammenarbeit

Datengetriebene Wissenschaft 5
Datengetriebene Forschung –
Herausforderung für die Informatik
Auf allen Gebieten der Natur- und Ingenieurwissenschaften gewinnt eine Arbeitsmethode
an Bedeutung, bei der die Analyse von sehr großen Mengen an Daten zu neuen Erkenntnissen
führt. Mit welchen technischen und organisatorischen Maßnahmen kann die Informatik eine
solche datengetriebene Forschung unterstützen?

Von Andreas Reuter

D
erzeit vollzieht sich ein grund- beitsteilige Vor­gehensweise nicht bewältigen. Heute gilt die Simulation vielfach als drit-
legender Wandel in den Natur- Zum anderen stehen Wissenschaftler immer te Säule der Wissenschaft – neben Experiment
und Ingenieurwissenschaften – häufiger nur noch in sehr indirektem Kontakt und Theorie. Manche sprechen ihr zwar die-
und das gleich auf mehreren mit den Gegenständen ihrer Untersuchung, sen Rang ab und betrachten sie nur als eine
Ebenen. So ändern sich etwa als Folge des seien es Zellen oder Galaxien. von mehreren möglichen Arten, theoretische
­Internets und der darauf aufbauenden Diens- Wenn wir die Entwicklung im Methoden- Modelle auszuwerten. Tatsache aber ist, dass
te die Kommunikationsstrukturen innerhalb vorrat der Naturwissenschaften einmal Revue ohne Simulation viele Modelle »steril« bleiben
und zwischen den Fachgebieten ganz erheb- passieren lassen (unterer Kasten auf S. 8), so würden, da es nicht möglich wäre, Ergebnisse
lich. Außerdem entwickeln sich neue Organi- gab es ganz am Anfang die empirische Be- daraus abzuleiten.
sationsformen für wissenschaftliche Einrich- schreibung, die sich gelegentlich zu – gleich- Von der Simulation führt der Weg schließ-
tungen, die der rasch wachsenden Komplexi- falls empirisch abgeleiteten – Handlungsre- lich zur datengetriebenen Wissenschaft. Auf
tät der Forschungsvorhaben Rechnung tragen. geln verdichtete. Parallel dazu, aber doch mit den ersten Blick scheint sie nichts grundsätz-
Das wiederum erfordert neue Finan­zie­rungs­ einer merklichen Verzögerung, entwickelte lich Neues zu bieten; schließlich geht es nur
modelle für wissenschaftliche (Groß-)Vorha- sich die Theoriebildung. Ihr Ziel war, formali- um die Zusammenführung von Experiment
ben. Ferner wandelt sich die Position der sierte Modelle der beobachteten Phänomene (Messung), Theoriebildung und Simulation
­Wissenschaft in der Gesellschaft: Ihr wird – zu erstellen. Diese sind aber nur um den Preis zu einem kohärenten Methodenvorrat. Das
zumindest in den westlichen Ländern – sehr idealisierender Annahmen möglich – bei- eigentlich Interessante ist jedoch der Grund,
viel mehr Transparenz und Rechtfertigung der spielsweise durch Vernachlässigung der Rei- der diese Zusammenführung notwendig
Ziele und Methoden abverlangt als früher. bung bei der Beschreibung von Bewegungs­ macht: die rasch wachsende Menge von Da-
Aber auch die wissenschaftliche Methodik gesetzen. ten, die von Messgeräten (wie Satelliten, Tele-
selbst befindet sich im Umbruch. In der öf- skopen, Sequenziermaschinen und Microar-
fentlichen Wahrnehmung, die sich in Filmen Rasch anschwellende Datenflut rays) oder aus Simulationen (etwa Klimavor-
oder Reportagen widerspiegelt, erscheint Wis- Der nächste Schritt bestand darin, den Grad hersagen und Szenarienanalysen) stammen.
senschaft immer noch als Tätigkeit, der ein- der Idea­lisierung zu verringern, um auch Denn die Menge neu erzeugter und gespei-
zelne (vorzugsweise geniale) Forscher in der kom­plexe Vorgänge wie etwa die Verformung cherter Daten verdoppelt sich jedes Jahr, oder
Abgeschiedenheit eines Labors nachgehen. eines Autos beim Aufprall oder die Flugeigen- anders ausgedrückt: In jedem einzelnen Jahr
Dort kommen sie nach zähem Ringen und di- schaften eines Flugzeugs so realistisch beschrei­ fallen mehr experimentelle oder Simulations-
versen Geistesblitzen zu bahnbrechenden Er- ben zu können, dass sich die Ergebnisse der daten an als in allen Vorjahren zusammen. Am
kenntnissen – oder aber erfinden eine fürch- Modellanalyse auf das tatsächliche System Anfang sieht eine solche exponentielle Wachs-
terliche Waffe, je nachdem, ob sie auf der Sei- über­tragen lassen. Dies führte zu sehr kompli- tumskurve noch relativ harmlos aus, und tat-
te der Guten oder der Schurken stehen. zierten Modellen, deren Gleichungen nicht sächlich konnten Forscher immerhin bis ins
Dieses romantisierende Bild hat mit mo- mehr direkt lösbar waren. In solchen Fällen 20. Jahrhundert hinein Messergebnisse durch
derner Forschung wenig zu tun. Zum einen bleibt nur die Möglichkeit, mit Methoden der Sichten und Darübernachdenken analysieren.
wird Wissenschaft in immer größeren, kom- numerischen Mathematik Näherungslösun- Mit zunehmender Automatisierung der
plexeren Projekten und Projektverbünden or- gen zu bestimmen, was bei großen Problemen Messgeräte und dem breiteren Einsatz von Si-
ganisiert – man denke etwa an den Large wie etwa der Crashsimulation im Automobil- mulationsmethoden sind die Daten in vielen
Hadron Collider (LHC) bei der Europäischen bau Gleichungssysteme mit Hunderttausen- Projekten jedoch schon längst auf einen Um-
Organisation für Kernforschung CERN in den oder Millionen von Unbekannten ergibt. fang angewachsen, der es völlig unmöglich
Genf. Solche Vorhaben lassen sich ohne in- Deren Handhabung ist überhaupt nur noch macht, sie im herkömmlichen Sinn direkt in
dustrielle Methoden und eine hochgradig ar- mit dem Computer möglich. Augenschein zu nehmen. Hierzu nur zwei

6 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · EXTRA


Beispiele: Das LHC-Experiment des CERN und andere Verfahren so weit reduziert wer- lautet: Ihre Aufgabe ist es, Hardware- und
wird im Vollbetrieb 15 Petabytes (PB) pro den, dass das Ergebnis für den Menschen wie- Softwaresysteme zur Verfügung zu stellen, die
Jahr erzeugen, und beim Square Kilometer der aufnehmbar ist. Vor 50 Jahren haben Wis- es den Wissenschaftlern ermöglichen, alle für
Array (einem für 2024 geplanten System von senschaftler noch unmittelbar durch die Tele- ihre Fragestellung erforderlichen Auswertun-
Radioteleskopen) soll es sogar 1 PB pro Tag skope oder Mikroskope geschaut, selbst die gen effizient durchzuführen, ohne sich dabei
sein. Liegen die Milliarden der aktuellen Fi- Messgeräte abgelesen und die Vorgänge im um IT-spezifische Aspekte kümmern zu müs-
nanzkrise schon jenseits der menschlichen Reagenzglas beobachtet. Heute kommen sie sen. Ein Biologe will schließlich Biologie be-
Vorstellungskraft, so verhält es sich mit den mit den Experimenten oft erst durch das in treiben und nicht programmieren. Aber was
Petabytes noch eine Million Mal schlimmer Berührung, was auf dem Bildschirm ihres PCs heißt das konkret? In den folgenden Abschnit-
(oberer Kasten auf S. 8). Wenn ein Mensch 80 erscheint, nachdem es über viele Stufen hin- ten skizziere ich die wichtigsten Forderungen
Jahre lang ohne Unterbrechung nichts ande- weg gefiltert, komprimiert und visualisiert an die IT (Übersicht im Kasten unten).
res täte, als sich 1 PB an Ergebnissen »anzuse- worden ist. Zunächst müssen die von den Experimen-
hen«, müsste er pro Sekunde 320 000 Buch- Forschung im heutigen Sinn besteht also ten oder Simulationen kommenden Daten
staben (ein Taschenbuch) lesen, um ganz großteils in der durch Computer, Datenban- zuverlässig gespeichert werden – und dies un-
durchzukommen. ken und viele andere Softwarewerkzeuge un- ter Umständen mit enormer Geschwindig-
Es bleibt also nichts anderes übrig, als die terstützten Verarbeitung sehr großer Mengen keit, wenn man an die oben zitierten Beispiele
experimentellen Daten zunächst von Software von Daten, die aus einer Vielzahl von Quellen denkt. Es darf keine Unterbrechungen geben,
unterschiedlichster Art aufbereiten zu lassen. stammen. Und damit stellt sich die Frage, was weil viele Versuche nicht wiederholbar sind.
Das Datenvolumen muss durch Verdichtung, die Informationstechnik (IT) dazu beitragen Ferner gilt es, die Daten schon beim Erfassen
Selektion, statistische Analyse, Visualisierung kann und muss. Die offensichtliche Antwort zu prüfen, zu filtern und für die langfristige

Computergestützter Umgang mit riesigen Datenmengen


Zum Anlegen, Verwalten und Nutzbarmachen eines globalen Datenpools braucht es Software, die vielerlei Anforderungen erfül-
len muss. Einige wesentliche sind hier in der Grafik veranschaulicht.

Projektdokumentation
Messgerät mit
eigenem Speicher

Festplatte Referenzierung
Verknüpfung mit der
Einbindung wissenschaftlichen
weiterer Daten Struktur- Literatur
anpasssung
passiv
Magnetband
Gutachter

Daten-
Laufwerk sammlung
Erweiterbarkeit

aktiv

Datenextraktion

Datenerfassung
Spektrum der Wissenschaft / Buske-Grafik, nach: Andreas Reuter

globaler Datenpool

Observatorium

Arbeitsplatz des Wissenschaftlers Modellbildung/Visualisierung

Datengetriebene Wissenschaft 7
Speicherung aufzubereiten, was weitere hohe miteinander verknüpfen zu können, um über- Modellierungsmethoden einsetzt, muss es
Anforderungen an die Leistungsfähigkeit der greifende Fragen zu untersuchen. Zum Bei- möglich sein, die Daten flexibel in der dafür
Hard- und Software stellt. spiel müssen in der Klimaforschung meteoro- erforderlichen Struktur bereitzustellen.
Das Abspeichern hat dabei so zu erfolgen, logische, ozeanografische, geografische, statis- Zur Verarbeitung der Rohdaten gehört
dass die Bestände wachsen können, unter tische und etliche weitere Datensammlungen auch, sie zu verdichten; denn nur in kompri-
Umständen um mehrere Größenordnungen. zueinander in Beziehung gesetzt werden. Das mierter Form kann der Forscher die enthal­
Außerdem muss jederzeit eine Erweiterung scheitert heute oft an ihrem unterschiedlichen tene Information aufnehmen. Die Software
um neue Informationskategorien und Daten- Aufbau. So verwenden die einzelnen Diszipli- sollte möglichst verschiedene Arten der Ver-
strukturen möglich sein. nen häufig andere Begriffe und Einheiten dichtung erlauben, so dass sich im Einzelfall
Verwandt damit ist die Forderung, Daten oder nicht einmal dasselbe Koordinatensys- diejenige Methode auswählen lässt, die am
aus verschiedenen Projekten und Disziplinen tem. Da jedes Fachgebiet zudem seine eigenen besten zu den jeweiligen Daten und Modellen
passt. Von besonderer Bedeutung ist dabei die
visuelle Darstellung.
Meist müssen Datenbestände für verschie-
Größenvergleich dene Auswertungen immer wieder durchsucht
1 Petabyte = 1015 Bytes = 1 000 000 000 000 000 Bytes und verarbeitet werden. Wenn sie sehr groß
Buch mit 330 Seiten: 1 Million = 106 Buchstaben (1 Buchstabe entspricht 1 Byte) sind, beansprucht das viel Zeit. Die Geschwin-
Library of Congress: Rund 31 Millionen Bücher (ohne Handschriften, Fotos und so digkeit des Zugriffs auf gespeicherte Daten
weiter); 1 PB entspricht also dem Umfang von 10 Millionen Kongressbibliotheken. beträgt heute bestenfalls 1012 Bytes (1 Tera­
Schnelle DSL-Leitung: 50 Mbit/Sekunde ð 8 × 106 Bytes/Sekunde byte) pro Sekunde; 10 PB zu durchsuchen,
Transfer von 1 PB über diese Leitung: 1,25 × 108 Sekunden ð 1448 Tage ð 4 Jahre dauert somit rund drei Stunden. Um übermä-
ßige Wartezeiten zu vermeiden, sollte man
deshalb den Daten Indexstrukturen überstül-
pen können, die es erlauben, jederzeit gezielt
relevante Teilmengen auszuwählen.
Entwicklung der wissenschaftlichen Vorgehensweise
Wenn Forschungsarbeiten auf der Auswer-
Bis vor rund 300 Jahren: Empirie
aus: Tycho Brahe, Mechanica, 1602

tung verschiedener Datensammlungen beru-


Wissenschaft beschränkt sich auf die empirische Beschreibung hen, ist es zudem unabdingbar, dass die ent-
der Naturphänomene. Gelegentlich werden auch (empirisch sprechenden Publikationen eindeutig auf die
abgeleitete) Rechenregeln entwickelt, etwa zum Erstellen von zu Grunde liegenden Datenbestände verwei-
Kalendern. sen. Dabei müssen Bestände und Software zur
Auswertung auch für die Gutachter und an-
Seit 300 Jahren: Theorie dere Leser der Artikel zugänglich sein, weil
Forscher gehen dazu über, Naturphänomene zu generalisieren eine Beurteilung solcher Veröffentlichungen
.
und in Form von (mathematischen) Modellen theoretisch er- a = 4ÐGp – K c2 anders nicht möglich ist.
a 3 a2
klärbar zu machen. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass
wis­senschaftliche Projekte immer öfter ge-
Seit etwa 50 Jahren: Simulation meinsam von mehreren Instituten und Ar-
LLNL.gov

Naturphänomene wachsender Komplexität lassen sich mit zu- beitsgruppen durchgeführt werden. Jede Ein-
nehmender Genauigkeit auf Computern simulieren – oft unter richtung erzeugt oder verarbeitet in diesem
Rückgriff auf mathematische Modelle. Fall einen Teil der Daten, wobei andere Ko-
operationspartner eventuell auf ihre Ergebnis-
Heute: Datengetriebene Wissenschaft se zugreifen. Da auch Urheberrechte und Fra-
Experiment, Theoriebildung und Simulation wer- gen der wissenschaftlichen Priorität eine Rolle
den zusammengeführt: spielen, muss gewährleistet sein, dass keine
➤ Geräte und Simulationen erzeugen sehr große Gruppe Daten einer anderen sehen kann, die
Mengen von Daten. diese nicht zur gemeinsamen Nutzung freige-
➤ Diese Daten werden durch Software aufbereitet. geben hat. Eng damit verwandt ist die Forde-
➤ Die Daten und die daraus abgeleiteten Informa- rung, dass alle Interaktionen der Wissenschaft-
tionen werden in Computern gespeichert. ler mit den Datenbeständen – wie Modellde-
➤ Die Wissenschaftler analysieren die Daten- finitionen, Auswertungen, Veröffent­lichungen
sammlungen mit Hilfe von Suchverfahren, sta- und so weiter – automatisch zu einer­Projekt-
tistischen Methoden, Visualisierungsverfahren dokumentation zusammengeführt werden.
und so weiter. Allerdings sollen die Schutzvorkehrungen
kleines Foto: ESO, Stéphane Guisard;
rechts: Besselfunctions, CC-by-2.5
die Zusammenarbeit nicht behindern. Tat-

8 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · EXTRA


SKA / Xilo Studios
Das Square Kilometer Array, ein für 2024 geplantes System von Radioteleskopen, wird ein Rechner, der rund 1000-mal so schnell
1 Petabyte (PB) an Daten pro Tag liefern. Solch riesige Datenmengen lassen sich nicht arbeitet wie der heutige Rekordhalter, also
mehr ohne äußerst leistungsfähige Computer und ausgefeilte Software auswerten. eine Leistung im Bereich von Exaflops (1018
Rechenoperationen pro Sekunde) erbringt.
Die Informationstechnologie hat somit
sächlich scheuen viele Wissenschaftler immer che Auswertungsbedürfnisse eignen. Auf sie eine ganze Reihe von Problemen zu lösen, um
noch davor zurück, ihre Ergebnisse in eine ge- hinzuwirken, ist auch eine Aufgabe der natio- der modernen, datengetriebenen Wissenschaft
meinsam mit anderen genutzte Datenbank zu nalen und supranationalen Fördereinrichtun- gerecht zu werden –, und eines der schwierigs-
stellen, auch wenn es strikte Zugriffskontrol- gen. Anderenfalls wäre eine datenzentrierte ten, die Parallelverarbeitung auf Millionen
len gibt. Oft schicken dieselben Forscher ihre Kooperation über verschiedene Disziplinen von Rechenknoten, habe ich nicht einmal an-
Daten freilich bedenkenlos per E-Mail an hinweg zum Scheitern verurteilt. gesprochen. Wichtig ist, dass die Werkzeug-
Kollegen, obwohl im Prinzip jeder deren In- Im Zusammenhang mit der computerge- entwicklung auf Seiten der Informatik Hand
halt während der Übertragung mitlesen kann. stützten Wissenschaft sind aber nicht nur me- in Hand mit Methodenentwicklung auf Sei-
Schließlich muss sichergestellt sein, dass thodische und Informatikprobleme zu lösen. ten der Wissenschaft geht. Denn nur so funk-
relevante Daten nicht durch Hardwareausfälle So erfordert etwa die Möglichkeit zur Integra- tioniert jenes Wechselspiel, das seit jeher
oder Bedienfehler verloren gehen können. tion von Datenbeständen über die Grenzen Triebfeder des wissenschaftlichen Fortschritts
Viele Fördereinrichtungen für Forschungs- von Projekten und Disziplinen hinweg die war: Neue Methoden stellen neue Anforde-
projekte verlangen Mindestaufbewahrungs- Definition von Standards möglichst großer rungen, und neue technische Möglichkeiten
fristen für alle projektbezogenen Daten und Reichweite. Außerdem können Zentren zum eröffnen den Weg zu neuen Methoden.  Ÿ
Ergebnisse. Verwalten umfangreicher Datenbestände so-
wie die Hochleistungsrechner zu deren Bear-
Das Ende pragmatischer beitung nicht an jedem Institut oder auch nur der autor
Schnellschüsse an jeder Universität eingerichtet werden – das Andreas Reuter ist Pro-
Heute werden die genannten Probleme oft in wäre viel zu teuer. Sinnvoll ist eine hierarchi- fessor für Informatik
an der Universität Hei-
jedem Institut oder für jedes Projekt durch sche Organisation mit wenigen Supercom­
delberg und Geschäfts-
Rückgriff auf etwas halbwegs Brauchbares im- puterzentren an der Spitze, einigen »großen« führer des Heidelberger
mer wieder von Neuem gelöst. Diese Ad-hoc- Zentren darunter und vielen Institutsservern Instituts für Theore-
tische Studien (HITS).
Lösungen sind in der Regel aber so spezifisch, auf der dritten Stufe.
dass sie schon für das nächste Projekt nicht Der Aufbau solcher nationalen oder bes­-
quellen
mehr taugen (jedenfalls nicht vollständig). ser noch internationalen Kooperationsstruk-
Bell, G. et al.: Peta­scale Computational
Außerdem legt jedes Labor und jede Projekt- turen ist naturgemäß auch ein politisches
Systems: Balanced Cyber-Infrastructure in
gruppe eigene Regeln und Konventionen fest. Thema, in das Standortpräferenzen und Pres- a Data-Centric World. Letter to NSF
Das macht die Übertragbarkeit der Daten oft tigefragen hineinspielen. Immerhin laufen be- Cyberinfrastructure Directorate. In: IEEE
schwierig bis unmöglich. Statt pragmatischer reits die ­erforderlichen Abstimmungsprozesse Computer 39, S. 110 – 112, 2006
Hey, T. et al.: The Fourth Paradigm – Data-
Schnellschüsse müssen in Zukunft also gene- in Deutschland, Europa, den USA, Australien Intensive Scientific Discovery. Microsoft
rische Lösungen her, die sich für eine große oder China. Das nächste Ziel für die Spitze Corpo­ration, 2009
Klasse von Problemen und für unterschiedli- der Hierarchie ist jedenfalls schon definiert:

Datengetriebene Wissenschaft 9
Der Kosmos im Computer
Die Arbeitsgruppe »Theoretische Astrophysik« schlägt eine Brücke vom Universum
kurz nach dem Urknall bis zur Gegenwart. In den fortgeschrittensten Super­
computersimulationen untersuchen die Forscher, wie sich aus der einst homogen
verteilten Materie die heutige Vielfalt von Galaxien entwickeln konnte.

Von Volker Springel

A
stronomie und Astrophysik be­ Vielleicht die größte Zumutung, welche ausgesehen hat. Zu jener Zeit waren Materie
schäftigen sich mit dem wohl die moderne Kosmologie für unseren Ver­ und Strahlung fast perfekt gleich­mäßig ver­
größten aller denkbaren For­ stand bereithält, ist aber die Entdeckung, dass teilt, abgesehen von winzigen Abweichungen,
schungsgegenstände: dem Uni­ das Universum vor allem so genannte Dunkle den Folgen von Quantenfluktuationen in ei­
versum als Ganzem. Tatsächlich sprengen die Materie und Dunkle Energie enthält. Erstere ner frühen Phase des Urknalls. Diese lassen
Dimensionen der Zahlen in diesen Diszipli­ besteht aus einer bislang noch nicht nachge­ sich noch heute messen, denn sie sind dem
nen die menschliche Vorstellungskraft und wiesenen Teilchenart, die sich vor allem durch ­extrem gleichmäßigen »Hintergrund« aus
Erfahrungswelt. Welche physikalische Größe ihre Schwerkraftwirkung verrät. Die Dunkle ­Mikrowellenstrahlung aufgeprägt, der das All
man auch betrachtet – ob Temperatur, Dich­ Energie ist noch rätselhafter. Forscher machen erfüllt. Die Astronomen vermuten, dass die
te, Druck oder Magnetfeldstärke –, im Univer­ sie für die beschleunigte Ausdehnung des Kos­ Schwankungen gleichsam die Saatkörner für
sum finden wir dafür fast durchweg Zahlen­ mos verantwortlich. alle späteren von der Schwerkraft geformten
werte, die um viele Größenordnungen über Im Universum dominieren also keines­ Materiestrukturen im Universum darstellen.
allem liegen, was wir auf der Erde und in un­ wegs die Atome der »normalen«, so genann­ Um die Entstehung dieser Strukturen zu
seren Laboratorien je werden messen können. ten baryonischen Materie. Vielmehr repräsen­ untersuchen, sind wir mittlerweile nicht mehr
Schon grundlegende Tatsachen über den tiert der Stoff, aus dem wir selbst ebenso wie allein auf Beobachtungen angewiesen. Viel­
Kosmos übersteigen unseren Erfahrungshori­ Sterne und Galaxien bestehen, gerade einmal mehr haben sich Computersimulationen als
zont. Wir wissen heute, dass das Universum vier Prozent der kosmischen Energiedichte. außerordentlich wichtiges neues Forschungs­
etwa 13,6 Milliarden Jahre alt ist, dass dieses Diese Erkenntnis verdanken wir dem instrument etabliert. Dank ihrer Hilfe lassen
Raumzeitgebilde expandiert und dass sich die Lambda-CDM-Modell (Lambda Cold Dark sich komplexe physikalische Gleichungssyste­
Expansion sogar immer weiter beschleunigt. Matter), das als Standardmodell der Kosmo­ me lösen, ohne dass wir auf Vereinfachungen
Wir wissen, dass Sterne viele hundert Millio­ logie gilt. Als umfassende Theorie des Univer­ zurückgreifen müssen, welche die Ergebnisse
nen Jahre lang leben – aber nicht ewig –, dass sums erklärt es eine Vielzahl astronomischer verfälschen. Auch virtuelle astrophysikalische
Planeten um andere Sterne eher die Regel als Daten und macht auch genaue Voraussagen Experimente sind nun möglich. Im Compu­
die Ausnahme sind und dass große Galaxien darüber, wie das All unmittelbar nach dem ter können wir beispielsweise zwei Galaxien
gewaltige Schwarze Löcher beherbergen. heißen Urknall vor 13,6 Milliarden Jahren kollidieren und miteinander verschmelzen

alle Abbildungen dieses Artikels:  Volker Springel

Vom großen Ganzen zum Detail


In den Filamenten aus Dunkler Materie, die im Lauf der Millen-
nium-XXL-Simulation entstehen, bilden sich ganze Haufen von
Galaxien, im Bildausschnitt rechts erkennbar
als kleine, helle Flecken. Die Kantenlänge
dieses zweidimensionalen Ausschnitts
aus der Simulation beträgt mehrere
Milliarden Lichtjahre. Zoomt man
in sie hinein (kreisförmiger Bildaus-
schnitt, Durchmesser rund 20 Millio-
nen Lichtjahre), sieht man die Mate-
rieansammlungen in höherer Auflö-
sung. Je heller hier die Bildpunkte, desto
größer ist die Dichte der Dunklen Materie.

10  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · EXTRA


seits eine Signatur der Expansionsgeschichte
des Alls darstellen und damit wichtige Hin­
Dem Geschehen
weise auf die Eigenschaften der Dunklen
dynamisch auf der Spur Energie geben.
Um Gase oder Flüssigkeiten in einem Seit den frühen 1980er Jahren hat sich die
Volumen zu untersuchen, kann man Zahl der Teilchen in den jeweils größten kos­
den Raum in statische Zellen untertei- mologischen Simulationen etwa alle einein­
len. Besser ist jedoch ein Voronoi-Gitter halb Jahre verdoppelt. Diesem langjährigen
(Grafik), wie es der Simulationskode Trend zufolge hätte die Millennium-XXL-­
AREPO für die Berechnung von strömen- Simulation erst im Jahr 2015 möglich sein
den Gasen verwendet. Jede Zelle um- sollen. Dass sie schon heute realisiert wurde,
fasst den Raumbereich, der dem zuge- ist unseren neuen Strategien im Umgang mit
hörigen Punkt am nächsten liegt. Die extrem großen Datenmengen und den darauf
Wände zwischen den Zellen sind die aufbauenden Galaxienmodellen zu verdan­
Ebenen, welche die Verbindungsstrecken (gepunktet) benachbarter Punkte in der ken. Sie fanden ihren Niederschlag zum einen
Mitte senkrecht durchschneiden. Verschiebt man die Punkte mit der lokalen Gas­ in einer speziell angepassten Version unserer
geschwindigkeit, verändert sich das Gitter dynamisch. Die räumliche Auflösung des Simulationssoftware GADGET3. Zum ande­
Verfahrens ist dadurch gerade dort besonders hoch, wo viel geschieht. ren reizten wir die Möglichkeiten des JuRoPa-
Supercomputers am Forschungszentrum Jü­
lich voll aus.
lassen. Solche Verschmelzungsprozesse spiel­ und Galaxienhaufen. Es enthält 303 Mil­liar­ Dort schufteten alles in allem 12 288 Pro­
ten eine entscheidende Rolle beim Aufbau den (6720 3 ) Dunkle-Materie-Bausteine, die zessoren gemeinsam an der Rechnung. In ins­
immer größerer Galaxien. Während wir sie in ei­ne würfelförmige Raumregion mit einer gesamt fast drei Millionen Arbeitsstunden
der Natur nie beobachten können – schließ­ Kantenlänge von weit mehr als zehn Milliar­ führten sie 86 Trilliarden Kraftberechnungen
lich benötigen sie Jahrmilliarden –, lassen sie den Lichtjahren erfüllen. Die Dunkle-Materie- aus. Jede einzelne davon ermittelt die gravita­
sich nun am Rechner simulieren. Bausteine unserer Simulation sind dabei nicht tive Wechselwirkung eines einzelnen Dunkle-
Genau solchen Experimenten widmet sich als Elementarteilchen zu verstehen. Vielmehr Materie-Bausteins mit allen anderen Kom­
meine Arbeitsgruppe »Theoretische Astrophy­ ist jeder einzelne von ihnen ein fiktives Makro­ ponenten der Simulation. Dank der Paralleli­
sik« am Heidelberger Institut für Theoretische partikel mit einer Milliarde Sonnenmassen. sierung der Berechnungen erhielten wir das
Studien (HITS). Mit ihnen wollen wir eine Ergebnis schon nach 9,3 Tagen. Ein gewöhn­
Brücke vom Universum kurz nach dem Ur­ Die weltgrößte licher Computerprozessor, der eine Rechnung
knall, als es sich durch nur wenige Parameter kosmologische Simulation nach der anderen ausführt, hätte dazu gut 300
vollständig beschreiben ließ, bis zu seinem Ihre Auflösung und ihr Volumen machen Jahre benötigt.
heutigen komplexen Zustand schlagen. Vor Millennium-XXL, die ihren Vorgänger darin Einer der wichtigsten Faktoren, welche die
allem haben wir uns zum Ziel gesetzt, das um den Faktor 30 übertrifft, zur weltweit Größe solcher Simulationen beschränken, ist
Phänomen der Galaxienbildung über die ge­ größten kosmologischen Simulation über­ der Speicherbedarf. Für unseren neuen Kode
samte Zeit seit dem Urknall aufzuklären. haupt. Sie liefert unerreicht genaue statisti­ entwickelten wir daher auch besonders spei­
Bei der Entstehung von Galaxien ist ein sche Daten über die großräumige Struktur chereffiziente und schnelle Berechnungsver­
außerordentlich breites Spektrum an physi­ des Kosmos und die Entstehungsgeschichte fahren. Am Ende benötigte die Rechnung für
kalischen Prozessen im Spiel. Es reicht von von etwa 500 Millionen Galaxien. die 303 Milliarden Teilchen dennoch fast 30
der Dynamik der Dunklen Materie und der Diese Daten sind unerlässlich, um zukünf­ Terabyte oder 30 000 Gigabyte Hauptspei­
Dunklen Energie über Vorgänge bei der tige Beobachtungsprogramme, welche die cher, womit wir den uns zugeteilten Speicher
Stern­entstehung bis hin zur Entwicklung su­ zeitliche Entwicklung der Dunklen Energie des Superrechners vollständig ausnutzten.
perschwerer Schwarzer Löcher, zu elektro­ im Universum und ihre physikalische Natur Das riesige Volumen der Millennium-
mag­netischen Strahlungsprozessen und zur ergründen sollen, zu kalibrieren und syste­ XXL-Simulation erlaubt es, auch extrem sel­
Magnetohydrodynamik. Es sind vor allem matische Fehlerquellen auszuschließen. Der tene Ereignisse und Objekte aufzuspüren, bei­
Computersimulationen, welche diese Kom­ Grundgedanke besteht darin, dass die beob­ spielsweise sehr massereiche Galaxienhaufen.
plexität berechenbar machen. achtbare Galaxienverteilung Rückschlüsse auf Das Lambda-CDM-Modell sagt voraus, dass
Ein aktuelles Beispiel dafür ist die Millen­ die tatsächliche Materieverteilung im Univer­ die Masse von Galaxienhaufen eine recht
nium-XXL-Simulation, die wir unlängst mit sum zulässt. Welcher Art diese Beziehung ist, scharf definierte Obergrenze im Bereich von
Kollegen des internationalen Virgo-Konsor­ die vom Galaxientyp und auch von der Zeit einigen 1015 Sonnenmassen besitzt. In jüngs­
tiums auf dem JuRoPa-Supercomputer am abhängt, können wir dank der Simulations­ ter Zeit wurden tatsächlich einige Exemplare
Forschungszentrum Jülich durchgeführt ha­ daten genau untersuchen. In der Materiever­ entdeckt, die recht nahe an dieser Grenze
ben. In diesem Modell verfolgen wir die Ent­ teilung finden wir wiederum so genannte ba­ ­liegen. Manche Forscher behaupten sogar, sie
stehung kosmischer Strukturen wie Galaxien ryonische akustische Oszillationen, die ihrer­ lägen bereits darüber. In der Millennium-

Datengetriebene Wissenschaft 11
XXL-­Simulation bilden sich tatsächlich auch etwa eine Gaswolke nur deshalb allmählich zu nannten Voronoi-Zelle umgeben sind. Diese
Galaxienhaufen, die ein wenig mehr Masse einem Stern, weil sich die Teilchen gegenseitig besteht einfach aus derjenigen Raumregion,
besitzen. Noch besteht daher kein offensicht­ anziehen. die näher an diesem Punkt liegt als an irgend­
licher Grund zur Besorgnis: Alle Galaxien­ Astrophysiker müssen also neue Wege ge­ einem anderen. Gemeinsam bilden die Voro­
haufen, die je beobachtet wurden, lassen sich hen, um geeignete numerische Verfahren für noi-Zellen dann ein Voronoi-Gitter, das den
weiterhin mit dem kosmologischen Standard­ die Kosmologie zu entwickeln. Die zentrale Raum gewissermaßen pflastert. Die Wände
modell erklären. Doch schon die Entdeckung Idee des Ansatzes zur Simulation baryonischer zwischen den Zellen sind die Ebenen, welche
eines einzigen Haufens, dessen Masse diese Gase, den unsere Gruppe entwickelt hat, ist die Verbindungsstrecken benachbarter Punk­
Grenze deutlich überschreitet, könnte es wi­ der Einsatz eines unstrukturierten Gitters, das te in der Mitte senkrecht durchschneiden (sie­
derlegen. im Unterschied zu herkömmlichen Verfahren he Abbildung S. 11). Nun kann man, wäh­
nicht stationär ist, sondern sich mit dem Gas rend sich Gestalt und Topologie des Gitters
Eher ein Gas als eine Flüssigkeit mitbewegen kann. Dadurch lässt sich genau kontinuierlich ändern, die Bewegung der ein­
Trotz ihrer beeindruckenden Größe besitzt dort, wo die relevanten Prozesse stattfinden, zelnen Punkte der lokalen Bewegung des Ga­
die Millennium-XXL-Simulation einen Nach­ eine hohe Auflösung erzielen. Bei der neuen ses anpassen.
teil: Über kleinräumige Strukturen und Vor­ Methode gehen wir von einem Satz von Punk­ Darüber hinaus gelang es uns, ein so ge­
gänge in einzelnen Galaxien trifft sie nur we­ ten im Raum aus, die jeweils von einer so ge­ nanntes Godunov-Verfahren höherer Ord­
nige Aussagen. Schließlich ist selbst ein Ob­
jekt von der Größe der Milchstraße durch
gerade einmal 1000 Bausteine repräsentiert.
Klügere Algorithmen, weniger Artefakte
Hinzu kommt: Unsere Simulation behandelt
die normale baryonische Materie der Einfach­ Bewegen sich zwei Phasen eines Gases aneinander vorbei – im Beispiel fließt eine
heit halber als stoßfreies Fluid; als einzige dichte Phase (rot) nach rechts, eine weniger dichte (blau) nach links –, entsteht eine
Wechselwirkung ist also die Schwerkraft be­ so genannte Scherströmung, die zu typischen Kevin-Helmholtz-Wirbeln führt (un-
rücksichtigt. Tatsächlich unterliegt die Mate­ terste Zeile). Ein dynamisch mitbewegtes Voronoi-Gitter (schwarz umrandete Git-
rie aber Druckkräften und verhält sich damit terzellen) erlaubt es, sie korrekt und ohne Artefakte darzustellen.
eher wie ein ideales Gas. Außerdem kann sie
Zeitpunkt
thermische Energie verlieren, indem sie Strah­ 1 2 3
lung abgibt. Unter der Wirkung der Schwer­
kraft kann sie also, weil sie von Hitze weniger
stark auseinandergetrieben wird, noch viel
stärker verklumpen als Dunkle Materie.
Diese Unterschiede von baryonischer und
Dunkler Materie werden auf kleinen Skalen
wichtig. Wir müssen also die baryonischen
Prozesse korrekt simulieren, wenn unser Mo­
dell auch über die inneren Regionen von Ga­
4 5 6
laxien Aussagen treffen soll. Die Berechnung
des hydrodynamischen Verhaltens normaler
Materie erweist sich allerdings als ausgespro­
chen anspruchsvoll. Die typische Dichte des
Wasserstoff- und Heliumgases, das sich zu
sternbildenden Galaxien verdichtet, ist sehr
niedrig. Ein solches ideales Gas, in dem prak­
tisch keine innere Reibung stattfindet, neigt
über einen sehr weiten Skalenbereich hin-
weg stark zu Turbulenzen. Zudem führen gro­ 7 8 9
ße Unterschiede in Temperatur, Dichte und
Geschwindigkeit zu gewaltigen Überschall­
strömungen. Und schließlich »spürt« auch
­jedes Teilchen im Gas die Schwerkraft aller
anderen Gaspartikel. Während diese so ge­
nannte Eigengravitation bei strömungsme­
chanischen Problemen auf der Erde völlig ver­
nachlässigbar ist, gewinnt sie in der Astrophy­
sik entscheidende Bedeutung. So kontrahiert

12  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · EXTRA


Näher an der Realität
Rayleigh-Taylor-Instabilitäten führen da­
zu, dass sich zwei Phasen eines Fluids
turbulent miteinander vermischen. Das
Bild links zeigt das Simulationsergebnis
bei mitbewegtem Gitter, rechts kam ein
traditionelles festes Gitter zum Einsatz.
Letzteres führt zu größeren Advektions-
fehlern, so dass sich die simulierten Flu-
ide lokal viel stärker als in der Realität
vermischen. Auch die feine Schichtung
der Phasen geht früher verloren.

nung auf dem bewegten Gitter zu implemen­ Will man diese so genannten Kelvin-Helm­
tieren. Mit seiner Hilfe können wir mit analy­ holtz-Instabilitäten numerisch beschreiben,
tischen Methoden bestimmen, wie viel Masse, führen Advektionsfehler in der Regel dazu,
Energie und Impuls eine Zelle nach jedem dass sich die Phasen im Modell früher vermi­ der autor
Zeitschritt enthält. schen als in der Realität. Indem wir ­diese Feh­
ler stark reduzieren, können wir Überschall­ Volker Springel hat in
Tübingen und an der
Mitfließende Gitter strömungen und Turbulenzen mit größerer University of California
Der wesentliche Vorteil ist dabei der lagrange­ Präzision darstellen (Bilder links und oben). in Berkeley Physik
sche Charakter der Methode. Wenn irgendwo Deshalb wollen wir das neue Verfahren auch studiert und im Jahr
2000 an der Ludwig-­
im Universum eine neue Galaxie entsteht und in unserer Simulationssoftware AREPO ein­ Maximilians-Universität
sich die Gasdichte in dieser Region millionen­ setzen. An ersten Rechnungen dieser Art ar­ München promoviert.
fach erhöht, dann fließt das Gitter automa­ beiten wir bereits intensiv, sowohl mit Kolle­ Als Postdoc war er an der Harvard Uni-
versity in Cambridge (Massachusetts) und
tisch mit. Es erlaubt also genau dort eine stark gen am Harvard Center for Astrophysics am Max-Planck-Institut für Astrophysik in
erhöhte räumliche Auflösung, wo die Galaxie in Cambridge (Massachusetts) als auch im Garching, wo er anschließend bis 2010
entsteht. Daneben erweisen sich die Zahlen­ Virgo-Konsortium. eine Forschungsgruppe zur numerischen
Kosmologie leitete. Seither ist er Professor
werte der Ergebnisse, anders als in traditionel­ Außerdem wollen wir in der nächsten Zeit für Theoretische Astrophysik an der
len Gittermethoden, als vollständig unabhän­ endlich die Entstehung von Spiralgalaxien Universität Heidelberg. Hier forscht er am
gig vom verwendeten Bezugssystem. besser verstehen lernen. Sternsysteme dieses Heidelberger Institut für Theoretische
Studien (HITS) und am Astronomischen
Das fließende Gitter verringert zudem Typs sind zwar die häufigsten im Universum,
Rechen­institut des Zentrums für Astro­
Advektionsfehler. Zu diesem Typ von Berech­ doch in bisherigen Simulationen bildeten sich nomie.
nungsfehler kommt es, wenn ein Masseteil­ fast ausschließlich elliptische Galaxien. Wir
chen mit der Strömung mitgeführt wird und vermuten die Gründe dafür in einem unzu­ Quellen
dabei nicht vollständig, sondern nur teilweise reichenden Verständnis der Regulation der
von einer Zelle in die nächste übertritt, so dass Stern­entstehung durch bestimmte astro­ Springel, V.: E pur si muove: Galilean-
invariant Cosmological Hydrodynamical
es zu einem unerwünschten Ausschmieren der physika­lische Prozesse wie etwa die Explosion Simulations on a Moving Mesh. In:
Strömung kommt. Wegen der diskreten Struk­ von Sternen als Supernovae. Auch die man­ Monthly Notices of the Royal Astrono­
tur des Gitters lässt sich dieser Vorgang mathe­ gelnde Genauigkeit der bisher eingesetzten mical Society 401, S. 791 – 851, 2010.
Vorab publiziert auf http://arxiv.org/
matisch nicht exakt darstellen. In einem be­ numerischen Methoden spielt eine Rolle. Zu­ abs/0901.4107
wegten Gitter kann die Zelle hingegen passend mindest dieses zweite Problem wird unser Vogelsberger, M. et al.: Moving Mesh
mitbewegt werden, so dass sich viele Advek­ neuer AREPO-Kode möglicherweise lösen Cosmology: Numerical Techniques
and Global Statistics. Eingereicht.
tionsfehler von vornherein vermeiden lassen können. Vorab publiziert auf http://arxiv.org/
und ein künstliches Mischen in hohem Maß Die vielleicht größte Aufgabe der Kosmo­ abs/1109.1281
verhindert wird. logen besteht in diesen Jahren aber darin, die
Ein Beispiel zeigen die Bilder links. Hier Rätsel um die Dunkle Seite des Kosmos auf­ Weblink
strömen unterschiedlich dichte Gase aneinan­ zuklären. Mit unseren Simulationen versu­
der vorbei. Dabei wachsen kleine Störungen chen wir, sie dabei zu unterstützen – indem www.h-its.org/tap
Details zu Millennium-Simulationen und
an der Grenzfläche schnell zu wellenartigen wir physikalische Modelle überprüfen helfen, weiteren Simulationsprojekten der HITS-
Wirbeln heran, welche die beiden Phasen die eines Tages unser gesamtes Universum be­ Arbeitsgruppe Theoretische Astrophysik
schließlich turbulent miteinander vermischen. schreiben könnten.  Ÿ

Datengetriebene Wissenschaft 13
Das biomolekulare
Erkennungspuzzle
Proteine sind die Funktionsträger des Lebens. Ihre Wechselwirkungen miteinander und mit
anderen Biomolekülen sorgen dafür, dass Zellen ihre Aufgabe im Organismus erfüllen. Um
diese Wechselwirkungen besser zu verstehen, setzen Forscher zunehmend rechnergestützte
Methoden ein. Computersimulationen von Proteininteraktionen leisten auch einen immer
­wichtigeren Beitrag zum Design von Wirkstoffen gegen Krankheiten und in der Biotechnologie.

Von Rebecca C. Wade

I
n einer Zelle wimmelt es geradezu von nen kurze lineare Sequenzmotive fest, an wel­ größere Distanzen hin finden. Manchmal
großen und kleinen Molekülen, die cher Stelle sich eine andere Substanz anlagern spielen sie dagegen kaum eine Rolle. In sol­
ständig in Bewegung sind. Wie finden kann. In vielen Fällen jedoch ist weniger offen­ chen Fällen leisten zum Beispiel anziehende
und erkennen sie in diesem Gewirr ihre ­sichtlich, woran Moleküle einander erkennen. Kräfte zwischen hydrophoben (Wasser mei­
jeweiligen Bindungspartner? Wie können sie Wie stark und selektiv sich zwei Substan­ denden) Gruppen, die nur eine geringe
mit mehreren anderen Molekülen zusammen zen aneinander binden, hängt von der freien ­Reichweite haben, den größten Beitrag zur
Komplexe bilden? Und wie kommt es, dass Energie der betreffenden Bindung ab. Diese Bindungsstärke. Das Problem der genauen
manche dieser Vorgänge schnell und andere wiederum setzt sich aus verschiedenen Kom­ Beschreibung der physikochemischen Wech­
langsam ablaufen? Bei der Suche nach Lö­ ponenten zusammen. Das Problem ist, dass selwirkungen zwischen Molekülen – sei es mit
sungsstrategien für das Puzzle der biomoleku­ diese oft groß sind und teils entgegengesetzte einer auf physikalischen Gesetzmäßigkeiten
laren Erkennung helfen neben ausgeklügelten Wirkungen haben. Aus diesem Grund bedarf basierenden Energiefunktion oder einer rein
Experimenten und biochemischen Untersu­ es sehr genauer Berechnungen, um aus den empirisch aufgestellten Funktion – wird ge­
chungen vermehrt Berechnungen und Simu­ Einzelkomponenten die (häufig sehr kleine) wöhnlich als Scoring-Problem bezeichnet.
lationen am Computer. Mit ihnen befassen Summe korrekt zu ermitteln. Eine weitere Herausforderung ist das so
wir uns in der Arbeitsgruppe »Molekulare Eine weitere Schwierigkeit liegt darin, dass genannte Sampling-Problem. Schon beim
und zelluläre Modellierung« am Heidelberger die relative Bedeutung der Komponenten von Puzzle gibt es unzählige denkbare Kombi­na-
Institut für Theoretische Studien. Fall zu Fall variiert, was es schwer macht, ein tionen der einzelnen Plättchen – und der
Betrachten Sie zum Beispiel ein Puzzle aus allgemein gültiges Computermodell für ein Spieler bemüht sich, die Möglichkeiten einzu­
2000 Teilen, das ein Schloss in einer schönen solches Problem zu entwickeln. So dominie­ grenzen, um die Anzahl der vergeblichen Ver­
Landschaft zeigt. Einige Plättchen lassen sich ren bei einer Bindung zwischen Proteinen suche beim Einpassen eines Teils zu verrin­
ganz einfach platzieren: Flaggen, Turmspitzen manchmal weit reichende elektrostatische gern. Ein Puzzle ist jedoch nur ein zweidi­
oder auch Mauerkanten. Bei anderen hilft nur Kräfte, dank deren sich Moleküle auch über mensionales Objekt. Das Durchprobieren
geduldiges Probieren. Das gilt etwa für grün­
liche oder bräunliche Teile, die zu den Bäu­
men im Wald gehören, oder für solche in den
Suche nach Enzymhemmern am Computermodell
verschiedenen Blautönen des Himmels.
Bei der Bindung zwischen Biomolekülen Auf dem Strukturbild eines Enzyms namens LmPTR1, das nur im Leishmania-Parasi-
spielt wie im Puzzle die Passform eine wesent­ ten vorkommt und sich deshalb als Angriffspunkt für Medikamente gegen die Leish-
liche Rolle. Dies erkannte vor über einem maniose eignet, ist die Oberfläche der vier identischen Untereinheiten in verschiede-
Jahrhundert bereits Emil Fischer, der die nen Farben dargestellt (links). An einem der aktiven Zentren haftet sein gewöhnliches
Wech­selwirkungen zwischen Enzymen und Subs­trat, ein Molekül namens Pteridin (dunkelviolett), zusammen mit dem Kofaktor
Substraten mit dem Bild von Schlüssel und (NADPH, türkis). Die Ausschnittvergrößerung (rechts) zeigt die Bindungstasche des
Schloss beschrieb. Doch wie bei den Puzzle­ ­Enzyms (graue Moleküloberfläche) mit zwei daran angelagerten potenziellen Hemm-
teilen reicht die Gestalt nicht aus, um alle stoffen. Farbig hervorgehoben sind Proteinregionen, die laut Berechnung die Bindung
möglichen Wechselwirkungen eindeutig zu Wasser abweisender (gelb) oder Wasser liebender funktioneller Gruppen (blau) be-
beschreiben. Einige Moleküle tragen gut defi­ günstigen. Die Wirkstoffkandidaten (gelb, hellblau) lagern sich zwischen dem Kofaktor
nierte »Flaggen«, die ihre Position in der Zelle (grau) und den ringförmigen aromatischen Seitenketten zweier Aminosäuren des Pro-
oder ihre Beziehung zu anderen Stoffen be­ teins ein (alle drei als Stäbchenmodell dargestellt).
stimmen. So legen etwa bei manchen Protei­

14  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · EXTRA


möglicher Konstellationen in einem dreidi­ rauf hin, dass die betreffenden Bereiche auf taillierte Darstellung. In solchen so genannten
mensionalen biomolekularen System mit un­ Grund ihrer Funktion während der Evolution Coarse-Grain-Modellen werden mehrere Ato­
gleich mehr »Teilen« stellt noch viel höhere weit gehend erhalten geblieben sind. Anhand me, zum Beispiel Seitenketten von Proteinen
Anforderungen. solcher Sequenzmotive sowie der räumlichen oder sogar ganze Proteine, zu größeren Parti­
So hat jedes Teilchen im Raum drei Frei­ Anordnung der Atome im Molekül gelingt es keln zusammengefasst und mit parametrisier­
heitsgrade für die Translation und drei für die in einigen Fällen, Bindungsstellen zu identifi­ ten Interaktionsprofilen versehen.
Rotation. Hinzu kommt, dass die Moleküle zieren und die Position der Bindungspartner Durch Verwendung geeigneter Energie­
nicht starr wie Puzzleteile sind, sondern auf im Komplex vorherzusagen. Mit Hilfe der funktionen, wie sie bei Moleküldynamik-
Grund thermischer Bewegungen ständig ihre dreidimensionalen Molekülstrukturen und oder Monte-Carlo-Verfahren zum Einsatz
Gestalt ändern. Auch können sie, wenn sie der wissensbasierten Analysemethoden kön­ kommen, lassen sich zudem thermische Be­
eine Bindung eingehen, ihre Form aneinander nen die Forscher dann die Bindungsaffinitä­ wegungen und Verformungen der Biomole­
anpassen. Biomolekulare Systeme haben also ten zwischen Molekülen abschätzen. küle simulieren. Das erlaubt nicht nur die
extrem viele Freiheitsgrade, was die Entwick­ Die wachsende Menge an genetischen und Vorhersage von Bindungsstellen und der
lung detaillierter Modelle erschwert. Diese strukturellen Daten macht diese Strategie zwar Struktur von Molekülkomplexen, sondern
müssen schließlich alle für die molekulare Er­ zusehends leistungsfähiger, aber die Qualität auch eine Abschätzung der Bindungsstärke
kennung relevanten Variablen genau genug ihrer Ergebnisse variiert stark mit den verwen­ und -kinetik. Letztere beschreibt die Ge­
berücksichtigen, ohne dabei die Möglichkei­ deten Daten und hängt zudem davon ab, in­ schwindigkeit, mit der sich die Bindung bil­
ten des Computers zu überschreiten. wieweit es gelingt, die jeweils relevanten Infor­ det beziehungsweise auflöst.
mationen aus Datenbanken herauszufiltern. Das Problem, wie sich Biomoleküle erken­
Viele Wege führen zum Modell Die zweite Strategie nutzt physikalisch- nen, gehört zwar zunächst in die Grundlagen­
Es gibt verschiedene Ansätze zur Konstruk- chemische Prinzipien zur Modellierung bio­ forschung, ist aber auch beim gezielten Ent­
tion von Modellen, mit denen sich die Erken­ molekularer Interaktionen. Dabei erstellen die wurf von Medikamenten und der Entwick­
nung zwischen Biomolekülen simulieren und Forscher mathematische Energiefunktionen, lung künstlich modifizierter Proteine von
vorhersagen lässt. Hier möchte ich auf die in die physikalische Bindungsfaktoren wie die großer Bedeutung. So werden die rechnerge­
zwei gebräuchlichsten näher eingehen, die Van-der-Waals-Wechselwirkungen oder elek­ stützten Methoden zur Lösung dieses Prob­
sich auch miteinander kombinieren lassen. tro­statische Kräfte eingehen. Nur in wenigen lems besonders in der pharmazeutischen, ag­
Die erste Strategie folgt dem bioinformati­ Fällen lohnt es sich hierbei, auf die genauen, rochemischen und biotechnologischen Indus­
schen Ansatz. Die Grundlage sind hier experi­ aber auch sehr rechenintensiven Methoden trie eingesetzt. Dort leisten sie gute Dienste
mentelle Ergebnisse, die in eigens dafür ange­ der Quantenmechanik zurückzugreifen. vor allem bei der Suche nach biomolekularen
legten Datenbanken gesammelt werden. Da­ Üblicherweise beschränkt man sich auf Interaktionen in der Wirkstoffentwicklung
bei handelt es sich etwa um Molekülstrukturen den Einsatz molekularmechanischer Modelle, und bei der Vorhersage, wie sich Mutatio­nen
oder um die Abfolge der Aminosäuren von bei denen jedes Atom durch eine passend ge­ auf die Struktur und Eigenschaften von Prote­
Proteinen oder die Basensequenz von Genen. wählte Kugel repräsentiert wird. Die Rolle der inen auswirken. Hier möchte ich den Einsatz
Die Datenbanken werden nun nach Über­ Bindungen zwischen den Atomen überneh­ dieser computergestützten Methoden anhand
einstimmungen beziehungsweise Unterschie­ men Federn mit empirisch bestimmten Ei­ unserer eigenen Arbeiten beschreiben. Diese
den zwischen den Einträgen durchsucht. Fin­ genschaften wie der Rückstellkraft. reichen von der Medikamentenentwicklung
det man etwa Ähnlichkeiten in der Sequenz Für die Simulation großer Systeme mit bis zu Untersuchungen der DNA-An­ordnung,
von Genen oder Proteinen, so deutet das da­ sehr vielen Atomen reicht oft eine weniger de­ der Oligomerisierungszustände von Proteinen
und der Oberflächenaktivierung.

Wirkstoffe gegen Parasiten


Rebecca C. Wade  und Stefania Ferrari, Università degli Studi di Modena

Die Leishmaniose ist eine schwere Erkran­


kung, an der weltweit rund zwölf Millionen
Menschen leiden. Sie tritt hauptsächlich in är­
meren Ländern der warmen Klimazonen auf.
Auslöser sind einzellige Parasiten aus der Fa­
milie der Trypanosomatidae, die durch Bisse
von Sandmücken übertragen werden. Heuti­
ge Medikamente sind nur bedingt wirksam
und haben viele Nebenwirkungen. Außerdem
ist der Erreger gegen viele von ihnen schon
mehr oder weniger resistent.
Als aussichtsreicher Angriffspunkt für neu­
artige Arzneimittel gegen den Parasiten Leish-
mania major ließ sich eine Pteridinreduktase

Datengetriebene Wissenschaft 15
namens LmPTR1 ausmachen. Sie gehört ge­ zu erzielen, war es wichtig, dass die Ringstruk­ Dieses Projekt macht deutlich, wie sich
meinsam mit der Dihydrofolatreduktase turen der Wirkstoffkandidaten zwischen de­ unsere rechnergestützten Proteinsimulationen
(DHFR) zum Folatstoffwechselweg und ist nen des Kofaktors und den aromatischen Sei­ und die von unseren Kollegen in Italien und
wichtig für die DNA-Synthese. Wird sie zu­ tenketten des Proteins zu liegen kommen (sie­ Belgien durchgeführten Laborexperimente
sammen mit DHFR gehemmt, kann der Pa­ he Kasten auf S. 14/15). ­erfolgreich ergänzen. Auch wenn solche com­
rasit keine neue Erbsubstanz synthetisieren Wie Kollegen in Italien und Belgien an­ puterbasierten Ansätze in der pharmazeuti­
und sich folglich auch nicht vermehren. hand von Laborexperimenten zeigen konn­ schen Industrie weit verbreitet sind, darf das
Beiden Enzymen ist gemeinsam, dass sie ten, hemmen einige der von uns identifizier­ nicht darüber hinwegtäuschen, dass Standard­
sowohl den Kofaktor NADPH als auch das ten potenziellen Wirkstoffe tatsächlich die verfahren häufig Einschränkungen unterlie­
Substrat Folsäure (oder Abwandlungen davon) Enzymaktivität von LmPTR1. Um diese Sub­ gen und an das zu untersuchende Zielpro-
bei ihrer enzymatischen Aktivität verwenden. stanzen zu optimieren, untersuchten wir in tein speziell angepasst werden müssen. Beim
Im Gegensatz zur Dihydrofolatreduktase, die weiteren Simulationen, wie sich durch Aus­ LmPTR1 war es etwa entscheidend, dass wir
bei den Parasiten wie auch beim Menschen tausch einzelner Atome oder Atomgruppen vier Wassermoleküle im aktiven Zentrum des
vorkommt, findet man die Pteridinreduktase die Bindung an das aktive Zentrum des En­ Proteins berücksichtigten. Dadurch gelang es,
jedoch nur beim Parasiten. Gelingt es nun, zyms verstärken lässt. die für die Wirkstoffentwicklung wichtige
Verbindungen zu finden, die nicht aus der Zwei rechnerbasierte Entwicklungsdurch­ korrekte Orientierung der Wirkstoffkandida­
Stoffklasse der Folsäuren stammen, sich aber gänge und eine anschließende experimentel- ten zu ermitteln, auch wenn wir die Enzym­
dennoch spezifisch an das parasitäre Enzym le Prüfung am isolierten Enzym lieferten so aktivität beziehungsweise Bindungsstärke
LmPTR1 heften, minimiert man das Risiko 18 spezifisch wirksame LmPTR1-Inhibitoren. nicht zuverlässig vorhersagen konnten.
von Nebenwirkungen beim Menschen. Sechs davon hemmten nicht nur die Aktivität
Die Kristallstruktur des Enzyms LmPTR1 des isolierten Enzyms, sondern auch das Raffinierte Packung der DNA
war schon bekannt. Wir konnten sie also be­ Wachstum der Parasiten in Zellkultur. Eine Der Kern einer eukaryotischen Zelle enthält
nutzen, um bei einem virtuellen Screening dieser Substanzen entspricht sogar dem Wirk­ fadenförmige DNA mit einem Durchmesser
eine große Substanzbibliothek nach geeigne­ stoff eines Medikaments, das bereits zur Be­ von etwa 10 bis 20 Mikrometern und einer
ten Verbindungen zu durchsuchen, die gut in handlung von Erkrankungen des Zentralner­ Gesamtlänge von zwei Metern. Damit die
das aktive Zentrum des Enzyms passen und vensystems zugelassen ist. Möglicherweise Erbsubstanz überhaupt in die Zelle passt,
keine Ähnlichkeiten zu Folsäurederivaten auf­ lässt sich dessen Anwendungsbereich auf die muss sie zu einer kompakten Struktur, dem so
weisen. Um die angestrebte Hemmwirkung Therapie parasitärer Erkrankungen ausweiten. genannten Chromatin, aufgewickelt werden.
Um dies zu bewerkstelligen, benutzt die Zelle
Histone: positiv geladene Proteine, die sich an
die negativ geladenen Nukleinsäuren binden,
Erbfaden am Wickel
aus denen die Erbsubstanz besteht.
Simulationen ergaben, wie sich das Linker-Histon (blau) an das Nukleosom (braun) Den Grundbaustein des Chromatins bil­
bindet und so zur Packung der DNA beiträgt. Unter Berücksichtigung der Flexibilität den die Nukleosomen, um deren Proteinkern
der beiden Enden des DNA-Stücks gibt es eine Reihe möglicher Anordnungen, von sich die DNA spulenförmig wickelt. Zwi­
denen 13 als Überlagerung dargestellt sind. Die an die DNA gebundenen Aminosäu- schen ihnen erstrecken sich zunächst noch
rereste sind in Orange (nukleosomale DNA) und Grün (Linker-DNA) gezeigt. freiliegende Abschnitte des DNA-Fadens, die
als Linker-DNA bezeichnet werden. An die
Nukleosomen heften sich die so genannten
Linker-Histone. Diese kleinen Proteine sor­
gen dafür, dass sich die perlschnurartige Nuk­
leosomenkette zickzackförmig zusammenla­
gert oder wie eine Wendeltreppe windet und
so die kompakten Chromatinfasern bildet.
Ferner tragen sie dazu bei, das Abschreiben
und Vervielfältigen der DNA zu regulieren.
Anders als die Ladungsunterschiede zwi­
schen den Histonen und der DNA vermuten
lassen, beruht die Bindung nicht nur auf elek­
trostatischen Wechselwirkungen. Wir wollten
daher genauer wissen, wie sich die Linker-
Histone an die Nukleosomen anlagern. Zu
Rebecca C. Wade

diesem Zweck untersuchten wir die Wande­


rung der kleinen Proteine zum Nukleosom,
indem wir ihre brownsche Molekularbewe­

16  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · EXTRA


bei dem die Proteine mit atomarer Auflösung
dargestellt waren, aber nicht ihre Konforma­
Der Haftkraft von Pilzsporen auf der Spur
tion verändern konnten. Die Simulationen
Die Simulation der Diffusion von Hydrophobinmolekülen in wässriger Lösung in zeigten, wie Dipol-Dipol-Wechselwirkungen
Gegenwart einer Graphitoberfläche half, ihre hohe Haftfähigkeit zu ergründen. Rote das Erkennen der Moleküle untereinander
Schleifen zeigen helikale Abschnitte, gelbe Pfeile Faltblattstrukturen des Proteins. fördern. Zudem konnten wir sehen, wie die
Proteine Oligomere bilden: Die in der Simu­
lation gefundene Zusammenlagerung von je­
weils vier Hydrophobinen entspricht den kris­
tallografisch nachgewiesenen Homotetrame­
ren. An der Graphitoberfläche neigen diese
Oligomere dazu, sich aufzulösen und über
ihre hydrophobe Außenseite mit dem Fest­
körper in Kontakt zu treten (Kasten links).
Die biomolekulare Erkennung ist ein an­
spruchsvolles Problem, das modernste rech­
nergestützte Methoden aus den verschiedens­
ten Fachgebieten erfordert. Die drei hier be­
schriebenen Anwendungen sind gute Beispiele
dafür, wie Computersimulationen dabei hel­
Rebecca C. Wade
fen können, dieses äußerst komplexe Problem
zu lösen.  Ÿ
gung simulierten. Dabei konnten wir beob­ neten diffusionsgetriebenen »Begegnungs­
achten, wie elektrostatische Interaktionen das komplexen« lassen sich nun mit einem di e autori n
Linker-Histon anziehen und es so lenken, verfeinerten Modell, das die Flexibilität der
dass es sich in einer bestimmten Orientierung Makromoleküle vollständig berücksichtigt, Rebecca C. Wade studier­
an das Nukleosom bindet. Außerdem sahen weitere Details untersuchen. So kann jetzt te Physik an der Univer­
sity of Oxford (B. A. hons.
wir, wie die räumliche Gestalt des Nukleo­ beispielsweise bestimmt werden, wie die Part­
1985) und promovierte in
soms den Vorgang beeinflusst. nermoleküle ihre Gestalt während des Bin­ molekularer Biophysik
In unseren Simulationen ließen wir das dungsvorgangs aneinander anpassen und wel­ (Dr. phil. 1988). Danach
forschte sie an den Uni-
Linker-Histon an verschiedene Konformatio­ chen Einfluss dabei die nur auf kurze Distan­
versitäten Houston und
nen des Nukleosoms beziehungsweise seiner zen wirksamen Wasserstoffbrückenbindungen Illinois. 1992 bis 2001 war sie Gruppenlei­
flankierenden Linker-DNA-Stücke anlagern und hydrophoben Wechselwirkungen haben. terin am European Molecular Biology
und konnten so den vorherrschenden Bin­ Laboratory (EMBL) in Heidelberg. Seit 2001
leitet sie die Gruppe »Molecular and
dungsmodus herausfinden. Dieser entspricht Das Geheimnis Cellular Modeling« (MCM), zunächst bei
den experimentell ermittelten Daten. Es zeig­ extremer Oberflächenaktivität der EML Research GmbH und seit 2010
te sich, dass das Linker-Histon asymmetrisch Hydrophobine sind kleine Proteine mit der am Heidelberger Institut für Theoretische
Studien (HITS).
am Übergang zwischen der nukleosomalen höchsten Oberflächenaktivität aller bekann­
DNA und einem der beiden Linker-DNA- ten Eiweißstoffe. Sie kommen in der Hülle
quellen
Stücke haftet (siehe Kasten links). War die von Pilzsporen vor und haften auch an äu­
Konformation des Nukleosoms weniger kom­ ßerst glatten Oberflächen. Wegen dieser Ei­ Ferrari, S. et al.: Virtual Screening Identifi­
pakt, band es sich an einer stärker beengten genschaft sind Hydrophobine für biotechno­ cation of Nonfolate Compounds, Inclu­
ding a CNS Drug, as Antiparasitic Agents
Stelle an die Linker-DNA. Die Entdeckung logische Anwendungen wie die Herstellung Inhibiting Pteridine Reductase. In: Journal
zweier unterschiedlicher Bindungsarten deu­ von Biosensoren oder die Immobilisierung of Medical Chemistry 54, S. 211 – 221, 2011
tet darauf hin, dass das Linker-Histon mit von Enzymen von großem Interesse. Wir Mereghetti, P. et al.: Brownian Dynamics
Simulation of Protein Solutions: Structu­
über die Struktur des Chromatins bestimmt. wollten wissen, wie sie sich in Lösung verhal­
ral and Dynamical Properties. Biophysical
Indem es die Nukleosomen konformations­ ten und worauf ihre extreme Haftfähigkeit an Journal 99, S. 782 – 791, 2010
abhängig erkennt und stabilisiert, fördert es Oberflächen beruht. Dazu simulierten wir die Mereghetti, P., Wade, R. C.: Diffusion of
Hydrophobin Proteins in Solution and
die Bildung enger Zickzack- oder lockerer brownsche Molekularbewegung von hunder­
Interactions with a Graphite Surface. In:
Schraubenwindungen. ten Hydrophobinmolekülen in wässriger Lö­ BMC Biophysics 4, Artikel 9, 2011,
Damit das Durchprobieren vieler verschie­ sung in Gegenwart einer Graphitoberfläche. doi:10.1186/2046-1682-4-9
dener Konformationen und Bindungsstellen Ausgehend von einer experimentell ermit­ Pachov, G. et al.: On the Structure and
Dynamics of the Complex of the Nucleo­
die Kapazität unserer Computer nicht über­ telten Proteinstruktur des Klasse-II-Hydro­ some and the Linker Histone. In: Nucleic
stieg, nahmen wir für die Simulationen Ver­ pho­bins (HFBI) aus dem Schimmelpilz Tri- Acid Research 2011, doi: 10.1093/nar/gkr101
einfachungen vor. Ausgehend von den errech­ choderma reesei verwendeten wir ein Modell,

Datengetriebene Wissenschaft 17
Zerren an Biomolekülen
im Computer
Mechanische Kräfte sind lebenswichtig – im großen wie im kleinen Maßstab.
Eine Forschungsgruppe am Heidelberger Institut für Theoretische Studien untersucht ihre
Wirkung auf der kleinsten Ebene: vom Protein bis hin zur einzelnen chemischen Bindung.

Von Ilona Baldus und Frauke Gräter

O
b Pflanze oder Säugetier, kein
Lebewesen kann ohne Ein­
Kontrolle der Blutgerinnung

Ilona Baldus und Frauke Gräter


wirkung mechanischer Kräfte
überleben. Ein beeindrucken­ Der Von-Willebrand-Faktor spielt eine
des Beispiel dafür kommt aus der Raumfahrt: wichtige Rolle bei der Blutgerinnung.
Während eines mehrwöchigen Aufenthalts Scherspannungen beim Austreten von
im All würde ein Astronaut ohne spezielles Blut aus einer Wunde strecken das ver-
Krafttraining einen erheblichen Teil seiner knäuelte fadenförmige Molekül. Da- Scherkraft
Knochenmasse verlieren. Woran liegt das? durch wird es klebrig und verbindet sich
Der menschliche Körper erneuert ständig mit Blutplättchen zu engmaschigen
sein Knochengewebe und baut es dafür kon­ Netzwerken. Wie Computersimulatio-
tinuierlich ab. Der gleichzeitige erneute Auf­ nen ergaben, legt die Entfaltung aller-
bau hängt allerdings davon ab, wie stark der dings auch eine Stelle frei, an der Enzy-
Knochen benutzt wird – das heißt, in wel­ me das Molekül zerschneiden können (roter Kreis). Das verhindert ein Überschießen
chem Maß Kräfte durch Stehen, Gehen und der Gerinnungsreaktion und die Bildung von Thromben. In der Schemazeichnung
Laufen darauf einwirken. Im Weltall ist die ist nur der relevante Teil des in Wahrheit viel größeren Proteins gezeigt.
Gravitation um ein Vielfaches geringer als am
Erdboden, was die Belastung der Knochen
stark reduziert und ihren Wiederaufbau ver­ oder Druck registrieren und mit einem Signal zigen molekularen Kraftsensoren im Detail
zögert. Nur das Krafttraining im All verhin­ darauf antworten, das ein biochemisches Pro­ verstehen. Manche Krankheiten beruhen da­
dert also, dass ein Raumfahrer mit stark ge­ gramm in Gang setzt? rauf, dass das Messen und Verarbeiten der
schwächtem Skelett auf die Erde zurück­ Der Antwort auf diese Frage sind Forscher ­mechanischen Kraft in bestimmten Geweben
kehrt. in den letzten Jahren ein gutes Stück näher ge­ gestört ist. Mit unseren Untersuchungen ver­
Der große Einfluss mechanischer Kräfte kommen. Offenbar gibt es tatsächlich Kraft­ folgen wir das Ziel, in Zusammenarbeit mit
auf das Leben zeigt sich selbst auf der Ebene sensoren, und vereinzelt wurden sie auch Medizinern die molekularen Mechanismen
einzelner Zellen. Auch sie reagieren in einer schon identifiziert. Wie sie genau funktionie­ hinter solchen Störungen aufzudecken.
ungewohnten Umgebung manchmal anders ren, lässt sich experimentell aber nur schwer
als normal, wie beispielsweise André E. X. und oft ausschließlich indirekt beobachten; Scherkräfte im Blut
Brown und Dennis E. Discher von der Uni­ denn es handelt sich meistens um Proteine, Der so genannte Von-Willebrand-Faktor
versity of Pennsylvania in Philadelphia 2009 also Eiweißstoffe, die typischerweise nicht (VWF) bietet ein anschauliches Beispiel für
festgestellt haben. Demnach wachsen Nerven­ mehr als wenige Nanometer (milliardstel Me­ den Einfluss mechanischer Kräfte auf Vor­
zellen auf dem harten Boden der im Labor ter) messen. gänge in Lebewesen. Es handelt sich um ein
verwendeten Petrischalen weitaus schlechter In der Gruppe für »Molekulare Biomecha­ Protein im Blut, das die Blutgerinnung ein­
als auf einer weichen, elastischen Oberfläche, nik« am Heidelberger Institut für Theoreti­ leitet. Fehlt der VWF oder wirkt er nur unzu­
an der sie fester haften. Das wirft natürlich sche Studien (HITS) benutzen wir deshalb reichend, kommen Blutungen nicht zum
die Frage auf, wie lebende Organismen oder leistungsstarke Computer und physikalische Stillstand, was tödlich sein kann. In diesem
gar einzelne Zellen die auf sie einwirkende Modelle, um den Einfluss mechanischer Kräf­ Fall sprechen Mediziner auch vom Von-­
mechanische Kraft eigentlich spüren. Verfü­ te auf einzelne Proteinmoleküle zu ergründen. Willebrand-Syndrom. Umgekehrt kann eine
gen sie über spezielle Sensoren, die einen Zug Wir möchten die Funktionsweise solcher win­ zu starke Wirkung des VWF, also eine über­

18  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · EXTRA


mäßige Blutgerinnung, die Bildung von komplett verstopfen. Besonders hohe Zug­ chemische Bindungen in Molekülen verstär­
Pfropfen – Thrombosen – verursachen. Me­ kräfte entfalten den VWF deshalb so weit, ken oder schwächen können. Wann und wie
chanische Kräfte kontrollieren das Gleichge­ dass die Protease Zutritt zur Schnittstelle er­ passiert das? Dieser Frage sind wir nachge­
wicht zwischen Blutfluss und -gerinnung in hält. So kann sich ein Gleichgewicht zwi­ gangen. Wir wollten wissen, wie leicht sich
den Adern und besonders im Umkreis einer schen Blutgerinnung und Auflösung der eine Bindung lösen lässt, wenn man von bei­
Wunde. Blutpfropfen einstellen. Der Kraftsensor da­ den Seiten daran zieht wie an einem Seil.
Generell gilt: Wann immer eine Flüssig­ für ist der VWF. Er übersetzt ein rein mecha­ ­Allerdings ist rohe Gewalt nicht immer das
keit durch ein Rohr strömt, entsteht eine nisches in ein biochemisches Signal – ein le­ beste Mittel. Man denke nur an eine klem­
Scherkraft, weil die Strömung in der Rohr­ benswichtiger Vorgang. mende Tür. Meist gibt sie zwar umso eher
mitte schneller ist als am Rand. Ein mit­ nach, je stärker man dagegendrückt. Trotz­
schwimmender Faden wird dadurch ge­ Bindungsbruch unter Spannung dem ist es nicht immer angebracht, sich mit
streckt. Der VWF ist ein solcher Faden, aller­ Spielen mechanische Kräfte auch in noch klei­ voller Wucht dagegenzuwerfen. Besser ver­
dings so winzig klein und dünn, dass er sich neren Dimensionen eine Rolle? Jegliche feste sucht man vielleicht zunächst, die Tür vor­
nur im Mikroskop erkennen lässt. Er geht im Materie besteht aus Atomen, die durch che­ sichtig mit der Klinke zu öffnen. Auch bei
Scherfluss, der bei einer Verletzung besonders mische Bindungen zusammengehalten wer­ der chemischen Bindung hängt die ideale
hoch ist, von einem verknäuelten in den lang­ den. Diese ähneln Klebstoffen unterschied­ Öffnungsmethode vom Einzelfall ab.
gestreckten Zustand über (Kasten links). Als licher Haftkraft. Je nach Funktion des Mole­ In Proteinen gibt es verschiedenste Wech­
Folge davon wird er besonders klebrig und küls sind sie sehr stark oder leicht zu lösen. selwirkungen zwischen den Atomen. Zwei
verbindet sich mit anderen solchen Fäden Manche wirken als Schalter, der nach Bedarf davon wollen wir hier betrachten: Wasser­
und mit Blutplättchen zu engmaschigen geöffnet wird, andere sollen einer molekula­ stoffbrücken und kovalente Bindungen. Ers­
Netzwerken. Sie bilden das erste Gerüst für ren Struktur dauerhafte Stabilität verleihen. tere ähneln Klettverschlüssen. Einzeln lassen
Blutgerinnsel, die das Ausfließen von Blut Das gilt zum Beispiel für die Bindungen, die sie sich leicht lösen, aber im Verbund sind sie
verhindern. das Rückgrat eines Proteins aufbauen. sehr stabil. Wasserstoffbrücken halten Struk­
Interessanterweise gibt es im langen Fa­ Angesichts der großen Bedeutung mecha­ turelemente wie das Beta-Faltblatt und die Al­
denmolekül des VWF eine Stelle, an der ihn nischer Signale in Lebewesen liegt die Ver­ pha-Helix zusammen. Im letzteren Fall sind
ein anderer Blutbestandteil, eine Protease, mutung nahe, dass Zugspannungen auch die Proteinbausteine, die Aminosäuren, wie
zerschneiden kann. Im verknäuelten Zu­
stand ist diese Schnittstelle tief im Inneren –
in der so genannten A2-Domäne – verbor­
Auf Biegen und Brechen
gen und damit für die molekulare Schere
schlecht zugänglich. Wir vermuteten jedoch, Inwieweit mechanische Kräfte das Öffnen einer Bindung erleichtern, lässt sich ex-
dass sie frei gelegt wird, wenn sich der Faden perimentell ermitteln. So herrscht in Ringmolekülen je nach ihrer Größe eine unter-
durch die Scherkraft streckt. schiedlich starke Spannung (links). Man kann nun prüfen, ob sich dieser Umstand
Um Klarheit zu gewinnen, untersuchten auf die Geschwindigkeit des Bindungsbruchs auswirkt. Eine andere Möglichkeit ist,
wir den Vorgang in Computersimulationen. das Molekül in ein Kraftmikroskop einzuspannen und durch Verbiegen des Tastarms
Hierzu befestigten wir an den Enden des (Cantilevers) einen Zug darauf auszu­üben (rechts).
­verknäuelten Proteins virtuelle Federn und
bewegten diese voneinander weg. Das klingt
viel einfacher, als es ist. Tatsächlich erfor-
derte es sehr aufwändige Rechnungen, denen
Modelle der klassischen newtonschen Physik
zu Grunde lagen. Am Ende aber konnten wir
so ermitteln, wie sich der VWF unter Zug­
spannung entfaltet. In der Tat geben be­
stimmte Teile des Fadenmoleküls sukzessive
der Kraft nach und lösen sich voneinander.
Dabei wird schließlich auch die Spaltstelle
frei gelegt, an der die Schneideenzyme anset­
zen können.
Das ist für die biologische Rolle des VWF
sehr wichtig. Die Netzwerke, zu denen sich
die von der Scherkraft gestreckten Fäden zu­
sammenlagern, sind zwar für die Blutge­
rinnung notwendig, doch ein unbegrenztes
Wachstum würde das Gefäß für alle Zeit Ilona Baldus und Frauke Gräter

Datengetriebene Wissenschaft 19
Molekulare Brückensprengung
tert eine angelegte Zugspannung den Bindungsbruch vor ­allem
Das kleine Molekül DTT (Dithiothreitol) zerstört die Disulfid- dadurch, dass das Schwefelatom von DTT schon aus größerer
brücke d1 in einem Protein (Titin) unter Bildung einer neuen Di- Entfernung die neue Disulfidbindung eingehen und die alte
sulfidbrücke d2. Wie Computersimulationen ergaben, erleich- ­dabei lösen kann.

Kraft Kraft

d1

d2

Ilona Baldus und Frauke Gräter

in einer Wendeltreppe angeordnet: Das Rück­ mit dem anderen an der Spitze des Tastarms. stabiler wird die Bindung und desto schneller
grat bildet das Gerüst und die Wasserstoffbrü­ Dieser besteht aus einer Blattfeder, mit der löst sie sich. Dies ist ganz ähnlich wie bei ei­
cken das Geländer. In einem Beta-Faltblatt sich eine mechanische Kraft auf das einge­ nem Gummiband: Je stärker man daran
verlaufen zwei Abschnitte des Protein­rück­ spannte Molekül ausüben lässt. So kann man zieht, desto eher reißt es.
grats parallel zueinander. Wasserstoffbrücken direkt verfolgen, wie leicht sich die Bindung Man könnte meinen, die Mechanochemie
verbinden diese Stränge durch elektrostati­ bei welcher Zugkraft öffnet. einer solchen Reaktion damit verstanden zu
sche Kräfte miteinander. Beta-Faltblätter ge­ Doch nackte Gewalt führt dabei nicht haben – gerade weil man sich den Effekt der
ben Proteinen zwar große Stabilität, lassen zum Ziel. Wie in der Natur geht es darum, Zugkraft intuitiv vorstellen kann. Aber wie so
sich aber bei genügend Zugkraft auftrennen. die Bindung so sanft wie möglich zu ­lösen. oft sind die Zusammenhänge komplexer, als
Kovalente Bindungen sind wesentlich fes­ Das gelingt durch Zugabe von kleinen Hilfs­ sie auf den ersten Blick erscheinen. So gibt es
ter. Dabei teilen sich zwei Atome ein Elektro­ molekülen, so genannten Reduktionsmitteln. Reaktionspartner, bei denen die mechanische
nenpaar. Ein biologisch wichtiges Beispiel Diese enthalten bei Disulfidbrücken ein Kraft das Öffnen der chemischen Bindung
sind Schwefel-Schwefel-Bindungen oder, wie Schwefelatom, das sich mit dem einen Teil erschwert! In einem anderen Fall, den eine
Chemiker sagen, Disulfidbrücken. Sie bilden der Disulfidbrücke verbindet und so den an­ Gruppe um Roman Boulatov von der Univer­
sich etwa zwischen zwei Molekülen der Ami­ deren daraus verdrängt. sity of Illinois in Urbana-Champaign 2009
nosäure Cystein. Solche Bindungen haben Derartige Messungen im Labor ergaben, entdeckte, löst sich die Disulfidbrücke unab­
meist die Aufgabe, die Struktur des Proteins dass sich Disulfidbindungen in Proteinen un­ hängig von der an ihr angreifenden Zugspan­
zu stabilisieren – auch gegen von außen ein­ ter Mitwirkung eines Reduktionsmittels sehr nung immer gleich schnell. Für dieses Expe­
wirkende Zugkräfte. leicht aufbrechen lassen. Zugspannungen riment bauten die Wissenschaftler die Schwe­
Neuerdings lässt sich im Labor beobach­ von wenigen hundert Pikonewton reichen fel-Schwefel-Bindung in kleine ringförmige
ten, wie Disulfidbrücken oder andere kova­ bereits aus. Das entspricht in etwa der Kraft, Moleküle ein. Über die Größe des Rings
lente Bindungen unter Zugspannung aufbre­ die ein einzelner Mensch aufwenden müsste, konnten sie die darin herrschende Spannung
chen (Kasten auf S. 19). Dazu befestigt man um mit der gesamten Weltbevölkerung zu­ gezielt verändern (siehe Kasten auf S. 19).
ein einzelnes Molekül in einem Kraftmikros­ sammen ein 1-Euro-Stück hochzuhalten. Da­ Wie beeinflusst eine mechanische Kraft
kop mit einem Ende an der Unterlage und bei gilt: Je größer die Zugspannung, desto in­ also eine chemische Bindung? Warum er­

20  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · EXTRA


leichtert sie in bestimmten Fällen deren Öff­ bricht schon in größerem Abstand, weil sie Reize als lebenswichtige Informationen di­
nung? Wird die Bindung durch die Zug­ von der äußeren Kraft geschwächt ist. Das rekt in biochemische Signale umwandeln
spannung vorgedehnt oder auf andere Weise beschleunigt die Reaktion. und verarbeiten. Computersimulationen, wie
geschwächt? Oder ist sie einfach nur leichter Wie man sieht, sind der Ablauf des Bin­ wir sie in der Gruppe »Molekulare Biomecha­
zugänglich für das Reduktionsmittel, weil dungsbruchs und der Einfluss der Kraft da­ nik« am HITS in Heidelberg durchführen,
das gesamte Molekül dabei auseinandergezo­ rauf komplexe Angelegenheiten. Das macht helfen Schlüsselprozesse aufzudecken, die
gen wird? die Computersimulationen und ihre Inter­ sich diese Kraftsensoren zu Nutze machen.
In unserer Forschungsgruppe am HITS in pretation äußerst aufwändig. Es gibt jedoch Die Erkenntnisse, die wir dabei gewinnen,
Heidelberg suchen wir auf numerischem Weg eine dazu komplementäre Methode, die di­ schaffen letztendlich die Voraussetzung dafür,
nach Antworten auf diese Fragen. Deshalb rekter und dadurch einfacher ist: die Betrach­ korrigierend in Störungen der Signalkaskade
haben wir den Bindungsbruch am Computer tung der Energielandschaft einer Reaktion. bei Krankheiten einzugreifen oder die natür­
simuliert. Dabei zeigte sich in Einklang mit Daraus lässt sich unmittelbar ersehen, wie lichen Vorbilder im Labor für andere Zwecke
den experimentellen Befunden, dass sich Bin­ leicht eine Umsetzung abläuft. nachzuahmen. Wir sind gespannt!  Ÿ
dungen normalerweise mit steigender Kraft Energielandschaften gleichen Gebirgen.
schneller lösen. Am wohlsten fühlen sich die Stoffe im Tal. Je di e autori n n en
Wir können allerdings auch gewisser­ tiefer es ist, desto besser. Der Weg von einem Ilona Baldus (oben)
maßen genauer hinschauen, was im Einzel­ Tal ins andere führt über einen Berg oder hat an der Universität
nen passiert. So erhalten wir Einblicke in Ab­ Pass. Im Falle der Disulfidbrücke ist das zu Heidelberg Chemie
studiert. Sie ist Dokto­
läufe, die experimentell nur sehr schwer und erreichende Tal die offene Bindung.
randin bei Frauke Gräter
mit großem Aufwand zugänglich wären. Auch die Rolle der mechanischen Kraft und untersucht den
Zum Beispiel können wir die Reaktion in lässt sich mit der Energielandschaft veran­ Einfluss mechani­scher
Kräfte auf Redoxpoten­
Einzelschritte zerlegen. Das Öffnen der Di­ schaulichen. Sie hebt das betreffende Mole­
ziale von Prote­inen.
sulfidbrücke beginnt damit, dass sich das kül ein Stück weit aus seinem Tal heraus, was Frauke Gräter ist seit
Schwefelatom des Reduktionsmittels der Bin­ den Weg über den Berg bereits deutlich er­ 2009 Leiterin der
dung nähert, die unter Spannung steht. Es leichtert. Außerdem senkt sie das zu errei­ Forschungsgruppe
»Molekulare Biomecha­
nimmt mit einem der beiden Brückenschwe­ chende Tal ab und erniedrigt zugleich den nik« am Heidelberger
felatome Kontakt auf und bildet mit ihm Pass dorthin. Institut für Theoretische
eine neue Disulfidbindung. Dabei wird das Wir haben auch solche Energielandschaf­ Studien (HITS). Zuvor leitete sie eine
Nachwuchsforschergruppe, die an der
andere Schwefelatom verdrängt und die ehe­ ten berechnet. Dabei bestätigte sich, dass mit Chinese Academy of Sciences in Schang­
malige Disulfidbrücke gesprengt (Kasten steigender Zugkraft, die auf eine Disulfidbrü­ hai, einem Partner­institut der Max-
links). cke wirkt, das Tal für die offene Bindung im­ Planck-Gesellschaft, und an der Univer­
sität Heidelberg angesiedelt war. Nach
mer weiter absinkt. Das macht das Lösen der ihrer Promotion an der Universität
Paradoxe Wirkung einer Verknüpfung energetisch vorteilhafter. Im Göttingen war die Chemikerin bis 2007
äußeren Zugkraft Einklang mit den Ergebnissen der Compu­ am Max-Planck-Institut für Biophysi­
kalische Chemie in Göttingen und an der
Diesen Vorgang bezeichnen Chemiker als bi­ tersimulation dehnt die Kraft also nicht ein­ Columbia University in New York tätig.
molekulare nukleophile Substitutionsreak­ fach nur die Disulfidbrücke, sondern wirkt
tion (SN 2). Am Computer haben wir die ein­ sich auf das ganze Molekül aus. So ändert sie quellen
zelnen Schritte unter die Lupe genommen. Winkel und verdreht Strukturelemente, was
Dabei interessierten wir uns für zwei Mess­ die Schwefel-Schwefel-Bindung zusätzlich Baldauf, C. et al.: Shear-Induced Unfolding
Activates von Willebrand Factor A2 Domain
größen: den Abstand zwischen den Schwefel­ destabilisiert. Sobald die Brücke bricht, kön­ for Proteolysis. In: Journal of Thrombosis
atomen in der aufbrechenden (d1 ) und in der nen Winkel und verzerrte Strukturelemente and Haemostasis 7, S. 2096 – 2105, 2009
neu entstehenden Disulfidbrücke (d2 ). ihre ursprüngliche Position wieder einneh­ Brown, A. E. X., Discher, D. E.: Conforma­
tional Changes and Signaling in Cell
Das Ergebnis war überraschend. Zwar hat­ men. Bei diesem Entspannen wird sehr viel and Matrix Physics. In: Current Biology 19,
ten wir erwartet, dass sich beide Bindungs­ Energie frei. Auch hier bietet sich der Ver­ S. R781 – R789, 2009
längen, also d1 und d2, während des Reak­ gleich mit dem Gummiband an: Spannt man Kucharski, T. J. et al.: Kinetics of Thiol/
Disulfide Exchange Correlate Weakly
tionsprozesses ändern und die ursprüngliche es stark und zerschneidet es, so kehrt es mit
with the Restoring Force in the Disulfide
Schwefel-Schwefel-Bindung von der Zug­ einem kräftigen Schnalzen in seinen unge­ Moiety. In: Angewandte Chemie 121,
kraft verlängert wird. Allerdings fiel die Deh­ spannten Zustand zurück. S. 7174 – 7177, 2009
Li, W., Gräter, F.: Atomistic Evidence of
nung nur sehr gering aus. Wirklich unerwar­ Wie man sieht, sind lebendige Systeme
how Force Dynamically Regulates Thiol/
tet war hingegen, dass auch d2 von der exter­ auf verschiedenste Weise mechanischen Kräf­ Disulfide Exchange. In: Journal of the
nen Kraft beeinflusst wird, obwohl diese nur ten ausgesetzt. Biologische Strukturen, von American Chemical Society 132, S.
auf d1 wirkt. Wie wir feststellten, muss sich kleinen Eiweißmolekülen bis zu Zellen und 16790 – 16795, 2010
Wiita, A. P. et al.: Probing the Chemistry
unter Zugspannung das Schwefelatom des Geweben, haben im Verlauf der Evolution of Thioredoxin Catalysis with Force. In:
Reduktionsmittels der Bindung nicht mehr die Fähigkeit erlangt, gezielt darauf zu reagie­ Nature 450, S. 124 – 127, 2007
so weit nähern, um sie zu öffnen. Sie zer­ ren. So kann der Organismus mechanische

Datengetriebene Wissenschaft 21
Hochleistungsrechner
und der Stammbaum des Lebens
Eine wahre Flut von DNA-Daten ermöglicht inzwischen immer präzisere Rekonstruktionen von
Stammbäumen – im Prinzip jedenfalls. In der Praxis überfordert die Suche nach der optimalen
Lösung auch die leistungsfähigsten Computer. Die Herausforderung heißt deshalb, die Effizienz
der Programme für Näherungslösungen zu steigern.

Von Alexandros Stamatakis

D
ie computergestützte Berech­ oder Hoffnung, dass der »optimale« Stamm­ Mensch AAACCCCGTTTTT
nung von Stammbäumen, wel­ baum auch der wahre ist. An seinen Blättern Gorilla AAACTTTAAGGGT
che die Verwandtschaftsver­ befinden sich die Organismen, für welche Schimpanse AAGATTCGTTTTT
hältnisse zwischen Organismen DNA-Daten vorliegen. Die inneren Knoten – Orang-Utan AGAATCCGTTTGT
wiedergeben, ist eine verhältnismäßig junge sprich: Verzweigungen – repräsentieren hypo­
Disziplin. Doch reichen ihre Anfänge immer­ thetische gemeinsame Vorfahren. Dabei stehen die Buchstaben für die Basen
hin bis in die 1960er Jahre zurück. Für jeden Von diesen existieren in der Regel keine Adenin, Thymin, Cytosin und Guanin, die das
Organismus beziehungsweise jede Spezies, DNA-Daten, weil sich normalerweise nur genetische Alphabet ausmachen. Ein mögli­
­deren Position im Stammbaum ermittelt wer­ aus lebenden Organismen Erbsubstanz ge­ cher Stammbaum für diese Daten ist im Kas­
den soll, liegen typischerweise DNA-Daten winnen lässt. Allerdings gab es in letzter Zeit ten unten gezeigt. Dabei bleibt offen, wo der
oder Angaben zu morphologischen Merk­ bedeutende Fortschritte bei der Sequenzie­ gemeinsame Vorfahr aller Menschenaffen, das
malen vor – etwa über die Knochenform. Bei rung alter DNA; dadurch ist es insbesondere heißt die Wurzel des Baums, liegt. Diese wird
Bak­terien kann es sich auch um chemische der Gruppe um Svante Pääbo vom Max- zur Vereinfachung der mathematischen Mo­
­Eigenschaften handeln, die für die jeweilige Planck-Institut für evolutionäre Anthropo­ delle üblicherweise weggelassen.
Spezies charakteristisch sind. logie in Leipzig gelungen, das Neandertaler­ Grundlage für die Optimierung ist eine
Das Ziel besteht darin, anhand geeigneter genom zu entziffern. abstrakte Funktion f , eine Rechenvorschrift,
Modelle denjenigen Stammbaum zu rekon­ Betrachten wir ein klassisches Beispiel: die zu einem gegebenen Stammbaum und zu
struieren, der am besten zu den vorliegenden den Stammbaum von Mensch, Schimpanse, ge­gebenen DNA-Daten einen Zahlenwert lie­
Daten passt. Mathematisch gesehen, handelt Gorilla und Orang-Utan. Der auf DNA-Se­ fert: die »Plausibilität« (likelihood). Je höher
es sich also um ein Optimierungsproblem. quenzen beruhende Eingabedatensatz könn­ dieser Wert, desto besser ist der Stammbaum
Dahinter steckt die stillschweigende Annahme te, grob vereinfacht, dann so aussehen: mit den Daten vereinbar. Wenn man also drei

Der DNA-Stammbaum der Menschenaffen


e

tan
ns
pa

g-U
ch
im

a
ns

an
rill
Sch

Me

Or
Go

Millionen Jahre

hypothetischer
10 gemeinsamer Vorfahre

15

20

25 gemeinsamer Vorfahre
alle Abbildungen dieses Artikels:  Alexandros  Stamatakis

22  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · EXTRA


Stammbäume ohne Wurzel
Anhand von DNA-Daten der Menschenaffen allein lässt sich keine Aussage über die Wurzel des Stammbaums machen. Sie kann
an den verschiedensten Stellen liegen (oben). Dem trägt die Darstellung ohne Wurzel Rechnung (unten).

Schimpanse Gorilla Schimpanse Gorilla

gemeinsamer Vorfahre
Wurzel des Baums

Mensch Orang-Utan Mensch Orang-Utan

gemeinsamer Vorfahre
Wurzel des Baums

Stammbaum ohne Wurzel


Schimpanse Gorilla

Mensch Orang-Utan

Stammbäume in Betracht zieht, muss man die Aufgabe vermutlich nicht innerhalb eines ver­ lutionsmodelle und Rekonstruktionsverfah­
Funktion für alle drei berechnen. Der optima­ nünftigen Zeitraums zu schaffen. ren perfekt sind, heißt das nicht, dass sie auch
le Baum ist dann derjenige, für den der größte Optimierungsprobleme, für die der Be­ korrekt auf dem Computer umgesetzt wur­
Wert herauskommt. darf an Rechenzeit derart schnell zunimmt, den. Durch die starke Zunahme rechnerba­
In unserem Beispiel mit den Menschenaf­ kommen in vielen Bereichen der Informatik sierter Datenanalysen in der Biologie haben
fen lässt sich dieses Problem leicht lösen, weil vor und heißen NP-vollständig. Peter Gritz­ Fehler in Veröffentlichungen, die auf Pro­
für vier Organismen nur drei unterschiedliche mann und René Brandenberg beschreiben grammierfehlern beruhen, in jüngster Zeit
wurzellose Bäume existieren (Kasten oben). sie in ihrem populärwissenschaftlichen Buch stark zugenommen. Zusammen mit meinem
Dabei erweist sich derjenige, bei dem der »Das Geheimnis des kürzesten Weges« auf Doktoranden Fernando Izquierdo-Carrasco
Mensch mit dem Schimpansen näher ver­ für Laien gut verständliche Art und Weise. habe ich die Probleme der Verifikation von
wandt ist als beide mit dem Gorilla und dem Stammbäumen und von Programmen zu de­
Orang-Utan, als plausibelste Lösung. Doch Automatische Suchverfahren ren Berechnung kürzlich ausführlich darge­
wie sieht die Funktion f aus? In der Praxis be­ Da das Problem nicht exakt lösbar ist, behilft legt (Briefings in Bioinformatics 12, S. 270).
nutzt man dafür statistische Modelle, die auf man sich mit so genannten heuristischen Trotz solcher Schwierigkeiten und Unsi­
Schätzungen beruhen, wie wahrscheinlich Suchverfahren, die zwar nicht die beste, aber cherheiten kommen Verfahren zur Rekonst­
Mutationen sind, bei denen eine der vier Ba­ zumindest eine ziemlich gute Lösung liefern. ruktion von Stammbäumen in der medizini­
sen durch eine andere ersetzt wird. Leider gibt es bei der Berechnung von Stamm­ schen und biologischen Forschung heute rou­
Das grundsätzliche Problem bei diesem bäumen keine Möglichkeit, mit Sicherheit zu tinemäßig zum Einsatz. So dienen sie etwa
Verfahren ist, dass die Anzahl der möglichen sagen, wie weit das Ergebnis einer solchen ap­ dazu, den Ursprung von Virusepidemien zu
Bäume extrem stark mit der Anzahl der ent­ proximativen Suche vom Optimum entfernt ermitteln oder die bakterielle Zusammen­
haltenen Spezies zunimmt. So beläuft sie sich ist. Deshalb ist es unerlässlich, dass Biologen setzung der Darmflora zu analysieren. Um das
bei 50 Arten, was heutzutage noch eine relativ den gefundenen Baum anhand ihres Wissens berühmte Zitat des russischen Genetikers
kleine Zahl ist, bereits auf 2,84·10 76 Kandida­ auf Plausibilität prüfen. Theodosius Dobzhansky (1900 – 1975) zu be­
ten. Für jeden von ihnen müsste der Wert der Man kann das Suchverfahren auch an sehr mühen: »In der Biologie macht nichts Sinn,
Funktion f berechnet werden, denn es gibt schnell evolvierenden Organismen wie etwa außer im Licht der Evolution.«
keinen Trick, einen Großteil davon von vorn­ Viren testen, deren Stammbaum über die letz­ Was sind die aktuellen Entwicklungen
herein auszuschließen. Unter der optimisti­ ten Jahre bis Jahrzehnte bekannt ist. Auch im und Herausforderungen auf dem Gebiet der
schen Annahme, dass diese Berechnung für Erfolgsfall bietet das jedoch keine Gewähr da­ Stammbaumberechnung? Zuallererst ist die
einen Baum mit 50 Organismen eine Sekun­ für, dass die Methode bei Lebewesen, die sich Revolution bei der DNA-Sequenzierung zu
de Rechenzeit benötigt, würde die Evaluie­ im Verlauf von Jahrmillionen entwickelt ha­ nennen. Die Analyse des Erbguts wurde durch
rung aller Bäume auf einem einzelnen Prozes­ ben, genauso gut funktioniert. bahnbrechende Fortschritte in den letzten
sor 9·10 68 Jahre dauern. Selbst mit der gesam­ Ein weiterer Unsicherheitsfaktor ist die fünf bis sechs Jahren wesentlich vereinfacht
ten Rechenkraft auf der Erde wäre diese Programmverifikation. Selbst wenn die Evo­ und beschleunigt, so dass zugleich die Kosten

Datengetriebene Wissenschaft 23
dramatisch gesunken sind. Dadurch lassen Diese Datenflut stellt die Informatiker vor Der Webserver http://phylobench.vital-it.ch/
sich inzwischen auch komplette Genome ei­ enorme Probleme. Das gilt insbesondere für raxml-bb/ bietet auch interessierten Laien die
ner Spezies sehr viel leichter entziffern. Wäh­ den Speicherplatzbedarf der Programme zur Möglichkeit, es auszuprobieren; ein kleiner
rend vor zehn Jahren die Sequenzierung des Stammbaumrekonstruktion, da zur Berech­ Testdatensatz findet sich unter www.exelixis-
menschlichen Erbguts noch Schlagzeilen nung der Bewertungsfunktion f zunehmend lab.org/dna.phy.
machte, nehmen heute selbst Biologen eher komplette Genome für 50 oder 100 Spezies Zur Beschleunigung der Rechnung verfol­
gelangweilt zur Kenntnis, dass schon wieder im Arbeitsspeicher gehalten werden müssen. gen wir verschiedene Ansätze. So sind wir auf
irgendein Genom entschlüsselt wurde. der Suche nach Tricks, um redundante Be­
Die Herausforderung verlagert sich daher Ziel: Effiziente Bewertung rechnungen zu vermeiden und Speicherplatz
zunehmend vom Labor zur Datenverarbei­ der Güte eines Stammbaums zu sparen. Ausgangspunkt hierfür ist die ma­
tung. Das Hauptproblem besteht darin, dass Solche Programme verbringen bis zu 99 Pro­ thematische Beschreibung der Wahrschein­
die Menge der DNA-Daten wesentlich schnel­ zent ihrer Gesamtlaufzeit damit, die Funktion lichkeitsberechnungen: Wir bemühen uns,
ler zunimmt als die Rechengeschwindigkeit f für verschiedene denkbare Bäume auszuwer­ die Funktion f so zu transformieren, dass sie
der Computer oder Prozessoren zu ihrer Ana­ ten (Kasten unten). Deshalb besteht eines der bei geringerem Speicherbedarf und weniger
lyse. Das betrifft sowohl die Bioinformatik als Hauptziele der von mir geleiteten Scientific Rechenoperationen genau das gleiche Ergeb­
auch ihre Teildisziplin, die rechnergestützte Computing Group am Heidelberger Institut nis liefert. Von großer Bedeutung ist auch, das
Ermittlung von Stammbäumen. Die Compu­ für Theoretische Studien darin, die Zeit und Programm an moderne Rechnerarchitekturen
terwissenschaftler stehen deshalb vor der den Speicherplatzbedarf für diese Aufgabe so anzupassen. Dadurch lassen sich die Ressour­
schwierigen Aufgabe, immer effizientere Pro­ weit wie möglich zu reduzieren. cen der eingesetzten Prozessoren besser nut­
gramme und Methoden zur Datenspeiche­ Über die vergangenen zehn Jahre haben zen. Das ermöglicht einen höheren Daten­
rung und -analyse bereitzustellen. wir das frei verfügbare Programm RAxML durchsatz und steigert so die Anzahl der eva­
Ohne Hoch- und Höchstleistungsrechner, (Randomized Accelerated Maximum Likelihood) luierten Bäume pro Sekunde.
in denen mehrere Einzelrechner (Prozessoren) entwickelt. Statt die Menge aller Stammbäu­ Wir gehen allerdings auch den umgekehr­
gleichzeitig an einem Problem arbeiten, lässt me erschöpfend abzuarbeiten – was aussichts­ ten Weg und fragen uns, wie die ideale Rech­
sich die Datenflut vielfach nicht mehr be­ los wäre –, konstruiert das Programm zu Be­ nerarchitektur für unser Programm aussehen
wältigen. Zur Rekonstruktion von Stamm­ ginn eine Anzahl von Bäumen, indem es Blatt würde. In diesem Teilprojekt entwerfen wir
bäumen standen noch vor zehn Jahren ledig­ für Blatt in zufälliger Reihenfolge an jeweils optimale Schaltkreise zur Berechnung der
lich die Sequenzen von ein oder zwei Genen optimaler Stelle einfügt. Es versucht diese Wahrscheinlichkeitsfunktion f. Zum Testen
zur Verfügung, die jeweils etwa 1000 Basen­ Bäume zu verbessern, indem es ganze Äste ab­ und Verifizieren unserer Architekturen be­
paare umfassten. Inzwischen liegen immer öf­ schneidet und an anderer Stelle wieder ein­ nutzen wir so genannte Field Programmable
ter ­die weitaus umfangreicheren kompletten setzt, das Ganze im Rahmen eines kombi­ Gate Arrays, bei denen es sich um eine Art
Genome vor. So besteht das Erbgut des Men­ natorischen Optimierungsverfahrens namens programmierbare Hardware handelt. Sie be­
schen aus etwa 20 000 bis 25 000 Genen; nach simulated annealing. RAxML gehört zu den stehen aus vielen elektronischen Grundbau­
ei­nigen Schätzungen sind es sogar bis zu fünf bis sechs weltweit am meisten benutzten steinen (»Gattern«), die sich mittels einer
75 000. Programmen zur Stammbaumrekonstruk­tion. Hardware-Beschreibungssprache dynamisch
miteinander verbinden lassen, um die vorge­
gebene Schaltung nachzubilden.
Bei all diesen Versuchen achten wir darauf,
Berechnung des Verwandtschaftsgrads
dass unsere Ergebnisse nicht nur auf RAxML
Für vier Spezies existieren nur drei unterschiedliche wurzellose Stammbäume. Die anwendbar sind, sondern auch auf alle an­
Funktion f berechnet die Wahrscheinlichkeit, dass der betreffende Baum zu den deren likelihood-basierten Programme zur
DNA-Daten passt. Ihre Werte zeigen, dass Mensch und Schimpanse enger miteinan- Stammbaumberechnung. Deren Geschwin­
der verwandt sind als mit Gorilla und Orang-Utan. digkeit hängt ja gleichfalls entscheidend da­

) = 0,1
von ab, wie effizient die Funktion f auf dem

f(
Mensch AAACCCCGTTTTT
Schimpanse Mensch

,
Gorilla AAACTTTAAGGGT
SchimpanseAAGATTCGTTTTT
Rechner umgesetzt ist.
Orang-Utan AGAATCCGTTTGT
Wie erwähnt, lassen sich sehr umfangrei­
Gorilla Orang-Utan
che, speicherintensive Datensätze inzwischen
Schimpanse Gorilla nur noch mit Hochleistungsrechnern verar­

f( ) = 0,3
Mensch AAACCCCGTTTTT

,
Gorilla AAACTTTAAGGGT beiten. Am HITS steht uns solch ein großer
SchimpanseAAGATTCGTTTTT

Orang-Utan
Orang-Utan AGAATCCGTTTGT Parallelrechner zur Verfügung. Das System
Mensch
besteht aus 42 Rechenknoten mit je 48 Pro­
Orang-Utan Gorilla zessoren, die durch ein leistungsfähiges Netz­

f( , ) = 0,2
Mensch AAACCCCGTTTTT
Gorilla AAACTTTAAGGGT
SchimpanseAAGATTCGTTTTT werk miteinander verbunden sind.
Orang-Utan AGAATCCGTTTGT
Mensch Schimpanse Idealerweise gilt es, diese insgesamt 2016
Prozessoren alle gleichzeitig zu beschäftigen.

24  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · EXTRA


nung berechnet werden. Allerdings lassen sich
auf dem Hochleistungsrechner des HITS mit
Beispiel eines ausgedehnten DNA-Stammbaums
Daten von etwa 20 Genen schon Bäume für
Diesen Stammbaum für 56 000 Pflanzen errechnete die Gruppe des Autors kürzlich 120 000 Spezies berechnen. In Zusammenar­
in Zusammenarbeit mit Forschern von der Yale University und der Brown University beit mit Kollegen an der Yale University und
in den USA. der Brown University in den USA haben wir
vor Kurzem einen Stammbaum der Pflanzen
mit etwa 56 000 Spezies rekonstruiert und
publiziert – den größten seiner Art bisher
(Kasten links).
Obwohl es noch ein weiter Weg ist, kom­
men wir unserem Endziel, der Berechnung
des Stammbaums aller Lebewesen, allmählich
näher. Die stetige Verbesserung der Sequen­
zier­verfahren und Rechnerarchitekturen lässt
uns hoffen, dass wir dieses Ziel eines Tages
auch erreichen werden.  Ÿ

der autor
Alexandros Stamatakis
leitet am Heidelberger
Institut für Theoretische
Studien die Scientific
Computing Group. Er hat
an der Technischen
Universität München
Informatik studiert und
dort im Jahr 2004 in der Informatik
promoviert. Nach Postdoc-Stationen auf
Kreta und an der ETH Lausanne (Schweiz)
war er von 2008 bis 2010 als Nachwuchs-
Am besten wäre es, wenn jeder von ihnen ei­ Stammbaum eingesetzt, wobei diese Zahl gruppenleiter an der Ludwig-Maximili-
ans-Universität und später an der TU
nen anderen Stammbaum evaluieren würde. kein Limit darstellt. Das Programm nutzt München (Emmy-Noether-Programm der
Dazu müsste der einzelne Prozessor jedoch auch die Fähigkeit zur Parallelverarbeitung bei DFG) tätig, bevor er im Oktober 2010 ans
das komplette Datenmaterial im eigenen Ar­ Mehrkernprozessoren, wie sie in allen neueren HITS kam.

beitsspeicher verfügbar haben – wozu dieser Laptops und Desktops zu finden sind.
quellen
möglicherweise nicht ausreicht. Da liegt es Abgesehen von unseren Bemühungen, die
nahe, die Aufgabe in Teilaufgaben zu zerlegen, Effizienz der Programme zur Stammbaumbe­ Alachiotis, N. et al.: A Reconfigurable
Architecture for the Phylogenetic Like­
die jede für sich nur eine relativ kleine Teil­ rechnung zu steigern, beschäftigen wir uns lihood Function. Konferenzbeitrag, FPL
menge aller Daten erfordern, und diese ent­ aber auch mit der Analyse sehr großer biolo­ Prag 2009. Online unter: http://sco.h-its.
sprechend auf die Prozessoren zu verteilen. gischer Datensätze. Diese interdisziplinären org/exelixis/nikos/publications.html
Gritzmann, P., Brandenberg, R.: Das Ge-
Allerdings darf die einzelne Teilaufgabe auch Projekte verbessern unser Verständnis der Bio­ heimnis des kürzesten Weges: ein
nicht zu klein sein; sonst nimmt der Aus­ logie und helfen uns, aktuelle rechnerische mathematisches Abenteuer. Springer,
tausch von Daten, der vor und nach der Er­ oder methodische Herausforderungen zu er­ Berlin/Heidelberg 2004
Ott, M. et al.: Large-Scale Maximum
ledigung jeder Teilaufgabe erforderlich ist, kennen. Beispielhaft sei hier das »plant tree of Likelihood-Based Phylogenetic Analysis
einen zu großen Teil der Rechenzeit in An­ life grand challenge project« genannt, das on the IBM BlueGene/L. In: Proceedings of
spruch. Die Analyse und Identifizierung von der Deutschen Forschungsgemeinschaft IEEE/ACM Supercomputing (SC2007)
Conference, Reno, Nevada, November
solcher Teilaufgaben ist nicht einfach und bil­ (DFG) und der National Science Founda-
2007
det einen der Schwerpunkte im Teilgebiet der tion in den USA gefördert wird. Sein Haupt­ Stamatakis, A., Izquierdo-Carrasco, F.:
Informatik, das sich mit der parallelen Pro­ ziel besteht darin, einen umfassenden Stamm­ Result Verification, Code Verification and
Computation of Support Values in Phy­lo-
grammierung beschäftigt. baum der Pflanzen mit etwa 500 000 Spezies
genetics. In: Briefings in Bioinformatics 12,
Auch hier gilt, dass die angewandten Pa- zu berechnen und online zur Verfügung zu S. 270 – 279, 2011
rallelisierungsstrategien auf alle likelihood-­ stellen, so dass Biologen ihn für weiterfüh­ Stamatakis, A., Alachiotis, N.: Time and
Memory Efficient Likelihood-Based Tree
basierten Programme übertragbar sein sollten rende Analysen nutzen können. Das ist eine
Searches on Gappy Phylogenomic Align­-
und es auch sind. Mit RAxML wurden schon ­Herkulesaufgabe, zumal die benötigten Daten ments. In: Bioinformatics 26, S. i132– i139,
bis zu 1024 Prozessoren simultan zur Be­ keineswegs komplett vorliegen. Noch nie 2010
rechnung der Funktion f für einen einzigen konnte ein Stammbaum dieser Größenord­

Datengetriebene Wissenschaft 25
Pfade im Informationsdschungel
Wer die verschlungenen Wege des Stoffwechsels erforscht, benötigt Orientierungshilfe. Die Datenbank
SABIO-RK hilft mit allerlei Finessen der Informatik, benötigte Daten in der Flut an Publikationen zu finden.

Von Wolfgang Müller

A
llein vor dem Rechner sitzend, scher disziplinübergreifend zusammen. Wäh- die als Energieträger im Körper fungieren).
versunken in einer abstrakten rend Experimentatoren sich zum Beispiel in- Über Koeffizienten lassen sich diese Glei-
Welt aus Bits und Bytes – das ist tensiv mit der Messung von Vorgängen inner- chungen an die Temperatur, den pH-Wert
das Bild, das sich viele von der halb der Zelle befassen, haben Theoretiker und andere Parameter anpassen.
Arbeit des Informatikers machen. Tatsächlich etwa Stoffwechselketten und deren Kombina- Wie überall in der Wissenschaft folgt der
sieht die Realität oft anders aus. So unterstützt tionen im Blick. Sie versuchen die zu Grunde Erkenntnisgewinn dem immer gleichen Sche-
die HITS-Gruppe »Scientific Databases and liegenden biochemischen Prozesse in mathe- ma: Auf der Basis bereits publizierter For-
Visualization« (SDBV) Systembiologen durch matischen Modellen zu formulieren, um nicht schungsergebnisse entsteht eine Hypothese,
die Einrichtung und Pflege spezieller Daten- allein das »Wer reagiert mit wem?« zu beant- die experimentell überprüft wird; die Analyse
banken. Das erfordert interdisziplinäre Zu- worten, sondern auch Fragen wie »Wie schnell der Messergebnisse begründet dann ein Mo-
sammenarbeit und regen Austausch mit den läuft die Reaktionskette bei den gegebenen dell dessen, was im Experiment passiert ist.
Nutzern. äußeren Bedingungen ab?«. Solche kineti- Alle gewonnenen Informationen werden
Systembiologen betrachten Vorgänge in schen Modelle sind Differenzialgleichungen, schließlich publiziert und speisen wiederum
lebenden Organismen nicht isoliert, sondern die beispielsweise die zeitliche Veränderung neue Theorien und Experimente.
in größeren Zusammenhängen. Da sich hier- der Glukosekonzentration und der durch den Und gerade an dieser Stelle helfen Daten-
bei schnell zu viele Informationen für einen Abbau des Moleküls entstehenden Produkte banken. Denn der Austausch über gedruckte
einzigen Kopf anhäufen, arbeiten diese For- widerspiegeln (unter anderem ATP und ADP, Journale ist nicht nur langsam, es fällt Wissen-

Reaktionsketten im Visier der Forscher


Beim Glukosestoffwechsel wird das Zuckermolekül in einer Reaktionskette zu Pyruvat umgesetzt; es entstehen außerdem die
Energieträger Adenosindiphosphat und Adenosintriphosphat (ADP und ATP). Immer wieder greifen dabei Enzyme wie die Hexo­
kinase ein und katalysieren einen Zwischenschritt. Wie schnell aber laufen die Reaktionen ab, welchen Einfluss haben die Stoff­
konzentrationen und die Umgebungsbedingungen? Solche Zusatzinformationen zu Stoffwechselwegen enthält die Datenbank
SABIO-RK.

Phosphoglucose- Phosphofructo-
Hexo-Kinase Aldolase
+
Isomerase Kinase

ATP ADP ATP ADP


Glucose Glucose-6-Phosphat Fructose-6-Phosphat Fructose-1,6-Bisphosphat Glycerinaldehyd- Dihydroxyaceton-
3-phosphat Phosphat

Kohlenstoff ATP Adenosintriphosphat irreversible Reaktion


Sauerstoff reversible Reaktion
ADP Adenosindiphosphat
Wasserstoff
Phosphatgruppe NAD+ Nicotinamid-Adenin-Dinucleotid Enolase Enzym
Spektrum der Wissenschaft / Art for Science

H2O Glycerinaldehyd-
Pyruvat- Phosphoglycerat- Phosphoglycerat- 3-phosphat- Triosephosphat-
Kinase Enolase Mutase Kinase Dehydrogenase Isomerase

ATP ADP H2O ATP ADP NADH, H+


NAD+
Pyruvat Phosphoenol- 2-Phospho- 3-Phospho- 1,3-Bisphospho-
pyruvat glycerat glycerat glycerat

26  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · EXTRA


Der Screenshot illustriert eine Schlagwort-
suche mit SABIO-RK. In diesem Fall gab der
Nutzer das Enzym »Pyruvate kinase« ein,
das System meldet 615 mögliche Resultate.
Um die Suche auf den menschlichen Stoff-
wechsel einzugrenzen, erfolgt die Eingabe
von »hum« in die Suchmaske, die Datenbank
liefert dazu eine Reihe von Vorschlägen.

schaftlern auch zunehmend schwerer, aus der mationen als auch die Detailtiefe eventueller zen. Zudem ist SABIO-RK zwar einerseits
gesamten Flut an Informationen nur die das zusätzlicher Kommentare. Zum anderen soll- eine Webanwendung, die wie ein Ingenieurs-
jeweilige Thema betreffenden herauszufiltern. te Gleiches auch gleich bezeichnet sein. erzeugnis geplant und gebaut werden muss.
Aktuell verzeichnet PubMed, eine der wich- Über eine Suchmaske mit geeigneten Fil- Darum herum ranken sich aber andererseits
tigsten Publikationsverzeichnisse für die Me- tern kann ein Nutzer auf die Datenbank zu- auch interessante Forschungsthemen.
dizin, allein zur Leber – dem zentralen Organ greifen – etwa nach Reaktionen suchen, an So sind die Namen der reagierenden Stoffe
des Stoffwechsels – mehr als 700 000 Veröf- denen bestimmte Moleküle beteiligt sind. Die oft nicht eindeutig, was die Forderung, Glei-
fentlichungen. Um die jeweils relevanten zu Informationen werden zudem auf Wunsch als ches gleich zu benennen, zu einer anspruchs-
ermitteln und daraus die für eine bestimmte SBML-Dateien ausgegeben, also in der Sys- vollen Aufgabe macht. Beispielsweise bezeich-
Fragestellung wichtigen Daten zu entneh- tems Biology Markup Language, einem inter- nen das deutsche »Wasser« und die chemische
men, benötigt ein Forscher die Unterstützung national standardisierten Dateiformat der sys- Formel H2O die gleiche Substanz. Für das
der elektronischen Medien. tembiologischen Modellierung. Ferner gibt es englische water listet die Datenbank ChEBI
Hierzu hat unsere Gruppe die Datenbank Verknüpfungen zu anderen Datensammlun- nicht weniger als 14 Synonyme auf.
SABIO-RK (System for the Analysis of Bioche- gen: So kann man sich mit einem Klick bei Auch die IUPAC, eine internationale Or-
mical Pathways – Reaction Kinetics) entwi- ChEBI (Chemical Entities of Biological Inte- ganisation, die regelt, wie chemische Verbin-
ckelt. Wie es der Name andeutet, enthält sie rest), einer Datenbank, die am European Bio- dungen zu bezeichnen sind, lässt hier viel
von uns aufbereitete Angaben zu Stoffwech- informatics Institute in Hinxton (England) Spielraum. Ein Beispiel aus dem Glukose-
selwegen. So genannte Biokuratoren wählen entwickelt und gepflegt wird, weitere Infor- stoffwechsel: Glyceraldehyd-3-Phosphat, das
zunächst potenziell nützliche Artikel anhand mationen zu einem Reaktionspartner holen. korrekt auch als 3-Phosphoglyceraldehyd ge-
der Zusammenfassungen in PubMed aus. schrieben werden kann, denn die standardi-
Hilfskräfte lesen diese Publikationen und ge- Problematische Vielfalt der Namen sierte Nomenklatur erlaubt die Umstellung
ben die daraus entnommenen Daten zunächst Für diese Arbeit benötigen wir mehr als die von Namensteilen.
in eine nichtöffentliche Version der Daten- Expertise in der Informatik. Es genügt nicht Eine Vereinheitlichung ist bereits Teil der
bank ein. Nun kommen wieder die Biokura- zu wissen, wie Nutzer in einer Datenbank su- Kuratierung. So darf es schon bei der Eingabe
toren zum Zuge, die zum einen darauf achten, chen und wie man sie dabei optimal unter- nur entweder Glucose oder Glukose geben.
dass Gleiches gleich gespeichert wird. Dies be- stützen kann. Wir müssen auch verstehen, wie Genauer gesagt, speichern wir nicht einen
trifft sowohl die formale Struktur der Infor- Systembiologen Daten gewinnen und einset- Textnamen, sondern die standardisierten Be-

Datengetriebene Wissenschaft 27
zeichner der ChEBI: Der Glukose entspricht men in Wortbestandteile zerlegen. Diese wer- Problem, korrekte Wort-Transformationsre-
dort der Identifikator ChEBI:17234, der ein- den sortiert, manche durch andere ersetzt. geln zu suchen, nun die Aufgabe, Molekülna-
deutig und sprachunabhängig ist. Um eine Die einzelnen Schritte sind jeweils so gewählt, men korrekt in Strukturen umzusetzen. Doch
derartige Umsetzung in einen standardisier- dass Wörter gleichen Sinns auf gleiche künst- kann der semantische Ansatz viel mehr, ver-
ten Bezeichner schon bei der Eingabe von liche Wörter abgebildet werden. Beispielswei- mag sogar mit Überbegriffen umzugehen:
Suchbegriffen durch die Nutzer zu unterstüt- se entfernt dieses Verfahren in den IUPAC- Sucht man etwa nach einer Reaktion eines Al-
zen, lassen sich gängige Verfahren der Sprach- konformen englischen Bezeichnungen 1-bu- kohols mit einem anderen Molekül, wäre der
verarbeitung wie Stemming-Algorithmen lei- tanol und butan-1-ol die Bindestriche, sortiert semantische Ansatz der Namen-Normalisie-
der nicht einsetzen. Diese bilden Worte auf ei- die Wortbestandteile und kommt in beiden rung im Vorteil, einerlei um welchen Alkohol
nen gemeinsamen Wortstamm ab, könnten Fällen zu dem identischen Ergebnis 1butanol. es sich handelt; ein morphologischer Ansatz
beispielsweise für »gehst« und »geht« die Basis Der zweite Ansatz hingegen beschäftigt müsste hierzu stark erweitert werden.
»geh« finden. sich mit dem Sinn der Wörter, ist also seman- Wir verfolgen deshalb beide Verfahren pa-
In langjähriger Zusammenarbeit mit der tischer Natur. Dieser Algorithmus übersetzt rallel. Die morphologische Methode steht
Gruppe von Uwe Reyle an der Universität Molekülbezeichnungen in chemische Struk- kurz vor dem Einsatz, die semantische ist da-
Stuttgart entstanden zwei neue Verfahren zur turformeln und käme damit im Beispielfall von noch weiter entfernt. In der aktuellen Im-
Namen-Normalisierung. Das eine folgt einem ebenfalls zu dem Ergebnis, dass die zwei ver- plementierung arbeitet sie auch deutlich lang-
morphologischen Ansatz, untersucht also die schiedenen Wörter identische chemische samer. Als Anbieter einer Dienstleistung müs-
Form des Wortes. Dazu müssen wir jeden Na- Strukturen bezeichnen. Zwar wird aus dem sen wir uns fragen, mit welchem Aufwand wir

Stöbern in der Datenbank mit parallelen Koordinaten


Die Datenbank SABIO-RK entspricht einem vieldimensionalen Raum. So genannte parallele Koordinaten ermöglichen dennoch
eine intuitive Herangehensweise. Das Beispiel beschränkt die Suche auf sechs Dimensionen: Enzym, Gewebetyp, Organismus, Um­
gebungstemperatur, pH-Wert und den Eintrag in der Datenbank (Entry-ID). Fragt man nach Reaktionen, die durch eine Pyruvat­
kinase katalysiert werden, ergibt sich das linke Bild. Offenbar wären Daten für verschiedene Zelltypen wie Melanome oder Eryth­
rozyten abrufbar (linke Grafik), im Fokus der Suche stehen aber nur Informationen zu Gehirnzellen. Markieren des Kreuzungs­
punkts »Brain Tissue« lässt nicht relevante Linien verblassen. Auf einen Blick sieht der Nutzer nun beispielsweise, dass er
Messergebnisse für Experimente an Ratten (Rattus norwegicus) abrufen kann (rechte Grafik). Sofern er sich aber für die Kinetik des
Enzyms bei 26 Grad Celsius interessiert, müsste er auf Messungen an Mäusen (Mus musculus) zurückgreifen.

HITS-Gruppe Scientific Databases and Visualization

28  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · EXTRA


wie viel Resultat im Sinne unserer Nutzer be- Diesem Vorgehen entsprechen so genann- parallele Koordinaten. Hier werden Punkte in
kommen. Gibt es Problemstellungen, bei de- te explorative Suchansätze. Sie sollen einem hochdimensionalen Räumen nicht auf den
nen er gern mehrere Sekunden wartet, bis ein Nutzer sozusagen ein Gefühl für die Daten- dreidimensionalen Anschauungsraum proji-
Ergebnis vorliegt? Die Diskussion ist noch of- sammlung vermitteln. Shneiderman hat dazu ziert, sondern als miteinander verknüpfte Li-
fen. Klar ist aber, dass wir mit beiden Ansät- 1996 sein Visual Information Seeking Mantra nienzüge dargestellt (siehe Kasten linke Seite).
zen nicht immer richtigliegen. Ihr einziger für die Datenbankprogrammierung formu- Dabei entspricht jeder dieser Züge einer Di-
Zweck ist es, den vom Nutzer gewählten Be- liert: »Overview first, zoom and filter, details on mension, daher die Bezeichnung des Verfah-
zeichner einmalig in einen standardisierten demand« – zunächst gilt es, einen Überblick rens: Die Koordinatenachsen werden parallel
umzusetzen. Intern wird dann nur noch die- zu vermitteln, dann immer näher heranzuge- zueinander gestellt, ein Punkt im vieldimen­
ser verwendet. hen und Daten herauszufiltern, schließlich sionalen Raum auf einen Linienzug in einer
Wer in SABIO-RK nach bestimmten Re- Details bei Bedarf anzuzeigen. Fläche abgerollt.
aktanten sucht, profitiert von dieser Namen- Das bekannte Webprogramm Google Das Grundverfahren wurde bereits im aus-
Normalisierung, denn er muss sich keine Ge- Maps ist ein schönes Beispiel für eine gelunge- gehenden 19. Jahrhundert entwickelt und
danken darum machen, wie die Substanz oder ne Realisierung dieses Mantras. Nehmen wir seitdem auf verschiedene Problemstellungen
das Enzym in den für ihn wichtigen Publika- an, Sie möchten einen abgelegenen Camping- angepasst. Seine Anwendung in Suchszena­
tionen bezeichnet wurde. Viele Nutzer brin- platz in Südfrankreich finden, dann würden rien ist dennoch keineswegs trivial, da viele
gen aber weniger Vorwissen über unsere Da- Sie von der Weltkugel ausgehend nach Süd- Fragen zu beantworten sind: Wie sollte man
tensammlung mit. Prinzipbedingt enthält sie frankreich zoomen, dort besonders grüne Re- die Achsen anordnen, wie Kreuzungen besser
nur einen sehr kleinen, aber gut gewählten gionen und darin wiederum nach Camping- kenntlich machen, wie dem Nutzer die Aus-
und relevanten Teil der veröffentlichten reak- plätzen suchen. Erst dann kommen Details: wahl der ihn interessierenden Bereiche er-
tionskinetischen Daten. Wie heißt der Ort, wie der Campingplatz, wie leichtern? Für all diese Fragestellungen gibt es
haben Nutzer ihn bewertet? Und all das geht generelle und auch für das Problem angepass-
Das Mantra so schnell vonstatten, dass kaum jemand be- te Antworten.
der Datenbanksuche merkt, wie die Satellitenkarte mit jedem Die beschriebenen Techniken – die Na-
Wir wollen einem Biologen ermöglichen, Zoom nachgeladen wird. men-Normalisierung ebenso wie die explora-
schnell herauszufinden, ob die für ihn wichti- Dass diese Technik auch für die Wissen- tive Suche – haben zum Ziel, dem Nutzer ei-
gen Daten in unserer Sammlung vorhanden schaft taugt, beweist SubtiPathways, eine Ent- nen Überblick zu geben und in ihm Erwar-
sind. Das lässt sich vielleicht mit einem Kun- wicklung der Universität Göttingen. Anstatt tungen an Suchresultate zu wecken, die das
den vergleichen, der ein Kaufhaus betritt, um der Landkarten präsentiert es Stoffwechsel­ System dann auch erfüllen kann. Um dies gut
eine ihm passende Hose zu finden. Vielleicht wege; an manchen Orten darauf sind weitere machen zu können, müssen wir erfahren, wie
ist schon die Größe klar, aber andere Merk- Informationen hinterlegt. Dieser Ansatz eignet die Nutzer arbeiten, sowie ihre Wünsche und
male kommen erst bei der Suche selbst in den sich aber nur für Datensätze mit maximal fünf ihre Prioritäten kennen. Wir müssen als inter-
Sinn (Jeans, blau, elastischer Stoff). Dimensionen. Volker Springels Sternsimula- disziplinär arbeitende Gruppe in der Lage
Die meisten der heutzutage gebräuchli- tionen (siehe den Beitrag S. 10) sind dafür ein sein, Vorschläge zu machen. Dabei sind unse-
chen Such-Interfaces ermöglichen das, was beeindruckendes Beispiel: Verschiedene Ener- re Kuratoren wichtig, die aus der Biologie und
die Computerwissenschaftler Ben Shneider- giedichten im dreidimensionalen Raum wer- Biochemie kommen und die Rolle der Nutzer
man und Catherine Plaisant von der Univer­ den durch Helligkeiten als vierte Dimension übernehmen können, gleichzeitig aber auch
sity of Maryland fact finding und extended fact dargestellt, deren zeitliche Veränderung er- informatisches Verständnis haben. Für viele
finding nennen. Hier geht es im Wesentlichen weitert die Simulation um eine fünfte Achse. andere Fragestellungen hingegen ist die direk-
darum, bereits vorhandenes Wissen zu ergän- Stoffwechselpfade sind aber vielschichti- te Zusammenarbeit mit Systembiologen au-
zen wie: Es gibt eine Naturkonstante c, die ger: Es ist wichtig, an welchem Organismus, ßerhalb der Gruppe unerlässlich.  Ÿ
Lichtgeschwindigkeit im Vakuum. Wie groß welchem Gewebe und welchem Zelltyp eine
ist diese? Oder im Kontext der Systembiolo- Messung durchgeführt wurde; oft sind vier bis
der autor
gie: Wie stark bindet ein bestimmtes Enzym fünf verschiedene Moleküle an einer Reaktion
bei einem pH-Wert von fünf an sein Substrat? beteiligt, die sich je nach den äußeren Bedin- Wolfgang Müller stu-
dierte Experimentalphy-
Dem Kunden im Kaufhaus wäre damit gungen unterschiedlich verhalten. Um einen
sik in Konstanz und
nicht geholfen, da er nur sehr vage Vorgaben solchen Prozess auf unseren dreidimensiona- parallel dazu Informatik
machen kann. Dennoch wird er das ge- len Anschauungsraum abzubilden – und dann an der Fernuniversität
Hagen. Er habilitierte
wünschte Produkt finden, da Einkaufszentren Techniken wie in Google Maps einzusetzen –,
sich an der Universität
Anhaltspunkte zur Navigation geben. So wird müssten wir Dimensionen weglassen. Bamberg mit einer
er die Parfümerie- oder Süßwarenabteilung Für deren Auswahl gibt es zwar durchaus Arbeit zur Suche in selbstorganisierten
ignorieren, die richtige Etage für die Her- Verfahren, wünschenswert im Sinne der ex- verteilten Systemen. Seit 2009 leitet er
die SDBV-Gruppe, die 1999 am EML
renoberbekleidung ansteuern, dort zu den plorativen Suche wäre aber nach wie vor, die Research, dem Vorgänger des HITS, von
Hosenständern gelangen, eine Grobauswahl Gesamtheit intuitiv erfassen zu können. Die Isabel Rojas gegründet wurde.
anhand der Größen treffen und so fort. von uns favorisierte Lösung sind so genannte

Datengetriebene Wissenschaft 29
Kreativ durch Analogien
Gleiche Strukturen erkennen bei Dingen, die auf den ersten Blick nichts miteinander gemein haben:
Das ist das Arbeitsprinzip, mit dem die interdisziplinäre Computerlinguistik ihre Erfolge erzielt.

Von Michael Strube

D
ie Computerlinguistik vereinigt Struktur. Im Prinzip dasselbe tut ein Mensch, und in akzeptabler Zeit zumindest seine gram­
Elemente von Informatik und der einen gesprochenen Satz hört und ver­ matische Struktur erkennen.
Linguistik; sie verwendet darü­ steht. Mehr noch: Ein solches Programm soll vor
ber hinaus Methoden aus wei­ Diese Analogie ist noch nicht besonders dem eigentlichen Parsing kontinuierliche
teren Gebieten wie Mathematik, Psychologie, bemerkenswert, weil die Entwickler der Pro­ Sprache erkennen, das heißt im pausenlosen
Statistik und künstliche Intelligenz. Der Reiz grammiersprachen und der zugehörigen Par­ Strom der gesprochenen Laute einzelne Wör­
und die Herausforderung einer solchen inter­ serprogramme von Anfang an stark von der ter und damit auch die Grenzen zwischen den
disziplinären Wissenschaft liegen darin, Ana­ Linguistik beeinflusst waren; da verwundert Wörtern ausfindig machen, und das unab­
logien zwischen Konzepten aus weit entfern­ es nicht, dass sie deren Denkstrukturen über­ hängig von der Person des Sprechers und mit
ten Teilgebieten zu erkennen und zu nutzen. nommen haben. Aber die Analogie funktio­ großem Wortschatz. Diese Aufgabe in ausrei­
Paradebeispiel dafür ist einer der entschei­ niert auch in Gegenrichtung. Erst als die In­ chender Qualität zu lösen, gelang erst mit
denden Durchbrüche, welche die Computer­ formatiker Methoden aus dem Kompilieren Hilfe einer weiteren Analogie. Man interpre­
linguistik prägten. Es geht um das »Parsing«: formaler Sprachen – insbesondere Program­ tiert das Sprachsignal als verrauschte, das
Ein Computerprogramm, genauer gesagt ein miersprachen – auf natürliche Sprache über­ heißt durch zufällige Störungen verunreinigte
Compiler, nimmt Zeichen für Zeichen den trugen, wurde das Parsing von gewöhnlichen Version einer Zeichenkette, die dekodiert
Input des Benutzers entgegen, der in diesem Sätzen überhaupt effektiv berechenbar. Erst werden muss. Dank der neuen Betrachtungs­
Fall seinerseits aus dem Text eines Computer­ dann konnten sie also Programme schreiben, weise lassen sich nun statistische Methoden
programms besteht, und ermittelt dessen die einen normalen, gesprochenen Satz hören aus der Informationstheorie anwenden.

Koreferenzresolution mit annotierten Paaren


Als Trainingsmaterial für Lernprogramme dienen Listen
As we know, Putin has kept putting off
this visit to Japan since last year, like (»Annotationen«) aus Paaren von Erwähnungen, zum Beispiel
back then when Yeltsin repeatedly postponed aus obigem Text, mit der – von menschlichen Bearbeitern hin­
his trip to Japan. zugefügten – Angabe, ob diese Erwähnungen sich auf densel­
That is to say, Japan asked for too high a ben Gegenstand beziehen (koreferent sind, blauer Strich) oder
price. nicht (roter Strich).
That is, it asked the Russian president to
come to Japan to make concessions on terri- Putin this visit to Japan
torial issues. Putin Japan
this visit to Japan Japan
Well, well, the Russian president was Japan Yeltsin
still unwilling, was unwilling to make this visit to Japan Yeltsin
concessions. Putin Yeltsin
Yeltsin his
his Japan
Yeltsin Japan
Im Text oben sind als koreferent erkannte Erwähnungen farbig Japan Japan
unterlegt und durch gleichfarbige Striche miteinander verbun­ Japan it
it the Russian president
den. Hier kommt es nicht nur darauf an zu verstehen, dass »his« Japan the Russian president
Japan the Russian president
sich auf »Yeltsin« bezieht und »it« auf Japan, sondern auch da­ his the Russian president
Spektrum der Wissenschaft

rauf, dass mit »the Russian president« »Putin« gemeint ist. Letz­ Yeltsin the Russian president
Japan the Russian president
teres erfordert sogar Weltwissen, nämlich dass zu der Zeit, als this visit to Japan the Russian president
Putin the Russian president
dieser Text geäußert wurde, nicht mehr Boris Jelzin, sondern ... ...
Wladimir Putin russischer Präsident war.

30  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · EXTRA


tis c h e s G es
sch m ma ch
m m a ti e s G es ra le
ra c ic h e n f o lge

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Putin

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Yeltsin this visit to Japan
g l e ic
he W
his orta Japan
rt (Pro
Koreferenzresolution mit Hypergraphen e Z e i c h e n fo no men Japan
ch l )

ge
the Russian

gle
Das Programm definiert zunächst mit Hilfe einzelner Merkmale fürKoreferenzketten.
president Die Teilmengen sinditim linken Bild durch
Teilmengen aller Erwähnungen (Hypergraphen) als Kandidaten farbige Umrandungen
the Russian
president
dargestellt. Sie werden
Japan dann mit Hilfe
von Algorithmen der linearen Algebra verrechnet; das Ergebnis
tis c h e s G es ist die korrekte Zerlegung (rechts).
sch m ma ch
m m a ti e s G es ra le
ra c ic h e n f o lge

ch
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t e i l w e ches
he

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es

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Putin is e
i
ich

gl e
ht

Putin

Spektrum der Wissenschaft,  nach:  Michael Strube


gle

Yeltsin this visit to Japan this visit to Japan


Yeltsin
g l e ic
he W
his orta Japan his
rt (Pro Japan
ic h e n
e Ze fo no me n Japan
ch l )
Japan
i

ge

the Russian
gle

the Russian
president it president it
the Russian the Russian
president Japan Japan
president

Putin
Von den so entwickelten
Yeltsin Methoden this
pro­ visit
und to
»it«.Japan
Formal gesprochen kommt es darauf benen korrekten Lösungen, die als Trainings-
fitierte schließlichhisimmens die maschinelle Japanan, alle Erwähnungen in Teilmengen aufzutei­ und Testdaten dienen (»Annotationen«), Re­
Übersetzung. Hier trägt dieselbe Analogie:Japan len, deren Elemente zueinander koreferent geln oder statistische Zusammenhänge ab.
Die Ausgangssprache
the Russianwird als verrauschte Ver­ sind; und natürlich darf eine Erwähnung Damit die Standardverfahren des maschi­
president it
sion der Zielsprache angesehen. Obwohl die nicht zwei verschiedenen Teilmengen angehö­ nellen Lernens angewendet werden können,
the Russian
automatische Übersetzung auf den erstenJapan
president ren. Diese Mengen heißen auch »Koreferenz­ arbeitet man mit Paaren von Erwähnungen.
Blick nichts mit der Spracherkennung gemein ketten«, weil sie häufig, wie im Kasten, durch Eine Annotation besteht aus einer Liste sol­
hat, erkannten Computerlinguisten eine verbindende Striche dargestellt werden. cher Paare mitsamt der Angabe, ob die bei­
Strukturähnlichkeit und übertrugen den Lö­ Frühe Arbeiten in der Computerlinguistik den Erwähnungen eines Paars koreferent
sungsansatz von der Spracherkennung auf die griffen Erkenntnisse aus der Linguistik auf sind oder nicht (Kasten links, rechte Grafik).
automatische Übersetzung. und stellten komplexe Regeln für die Korefe­ Das Programm lernt nicht nur danach, es
renzresolution auf, die eine vollständige syn­ gibt zu einem neu vorgelegten Text Listen
Ist »er« Putin oder Jelzin? taktische und häufig auch semantische Analy­ von Paaren aus. Diese »paarweise Klassifika­
Hier wird ein Muster deutlich: Man löst ein se des Textes voraussetzten. Da dieser Ansatz tion« hat den Vorteil, dass sie bekannten und
computerlinguistisches Problem, indem man nicht robust genug für eine Anwendung im gut verstandenen Methoden des maschinel­
eine Analogie zu einem scheinbar entfernten größeren Stil war, wurden seit den späten len Lernens zugänglich ist. Nachteil ist, dass
Gebiet erkennt – natürliche Sprachen und 1990er Jahren zunehmend Verfahren des ma­ Wissen um den Kontext verloren geht. So
Programmiersprachen, Spracherkennung und schinellen Lernens eingesetzt: Ein Programm kann es einem solchen Programm durchaus
Informationstheorie, maschinelle Überset­ leitet automatisch aus von Menschen vorgege­ passieren, dass es »Putin« und »Yeltsin« durch
zung und Spracherkennung. Zwei Studien
aus meiner Arbeitsgruppe zeigen im Folgen­
den, wie eine solche Übertragung im Einzel­ Glossar
fall geleistet werden kann.
Eine wichtige Aufgabe beim automati­ ➤  Syntax ist die grammatische Struktur eines Textes, Semantik seine Bedeutung.
schen Verstehen von Texten ist die so genann­ ➤  P arsing: Einen Eingabetext Zeichen für Zeichen entgegennehmen, dabei Gren­
te Koreferenzresolution: zu erkennen, dass zen zwischen bedeutungstragenden Elementen (»Wörtern«) und in gewissen
sich mehrere Ausdrücke im Text (»Erwähnun­ Grenzen die Struktur des Texts erkennen.
gen«) auf denselben Gegenstand beziehen ➤  Z wei Ausdrücke im Text (»Erwähnungen«) koreferieren, wenn sie denselben Ge­
(»koreferieren«). Eine Erwähnung kann zum genstand bezeichnen.
Beispiel ein Eigenname in unterschiedlichen ➤  Koreferenzresolution ist die Identifizierung koreferenter Erwähnungen.
Varianten, ein Pronomen oder auch eine zu­ ➤  A nnotation ist ein von einem menschlichen Bearbeiter mit Zusatzinformatio­
sammengesetzte Nominalphrase sein. In dem nen versehenes Textbeispiel für das maschinelle Lernen.
Text im Kasten links sind die Erwähnungen ➤  Ein Synset ist eine Menge annähernd synonymer Ausdrücke in der Datenbank
»Putin« und »the Russian president« korefe­ WordNet.
rent, ebenso »Yeltsin« und »his« sowie »Japan«

Datengetriebene Wissenschaft 31
Europa
Zeitalter
wenn sie koreferent sind; aber das ist ja erst
Kunst

Person
das Ergebnis der Analyse und nicht der Aus­
Staat in Europa
(Kunst)
gangspunkt. Diese Kanten wiederum drücken
Moderne
Deutschland nichts weiter aus als eine paarweise Klassifika­
tion und bieten daher keinen Fortschritt.
Person Kultur
Russland
Weiter kommt man mit einem neuen
(Bildende Kunst) (Europa)

Deutscher
Neuzeit Konzept. Ein Hypergraph ist ein verallgemei­
Künstler Russe
nerter Graph, bei dem eine Kante mehr als
Kunstwerk zwei Knoten miteinander verbinden kann.
Person
Kultur
(Deutschland)
Kultur der Neuzeit Damit ist er die graphentheoretische Entspre­
(Russland)
chung einer Menge, und wir haben eine ange­
Person
(Musik) Künstler der
Bildenden Kunst
messene Darstellung des Koreferenzproblems
Kunst Kunst
Neue Musik (Deutschland) (Russland) gefunden: Erwähnungen sind Knoten im Hy­
Komponist
Deutscher
pergraphen, und jeder Gegenstand ist eine
Russischer
Künstler Künstler
Komponist Künstler
der Neuzeit Hyperkante, die alle seine koreferenten Er­
(Klassische Musik)

Komponist
Russische
Musik
wähnungen umfasst. Das Problem der Kore­
(Kirchenmusik)
Komponist (Oper)
Grafiker
ferenzresolution kann dann als Clusteranalyse
Deutscher
Musiker Russischer
Künstler
der Moderne
für Hypergraphen aufgefasst werden.
Musiker Radierer
Komponist
Deutscher
Mit diesem neuen theoretischen Rahmen
(20. Jahrhundert) Russischer Grafikdesigner
Komponist
Komponist
Kunst
ist unser Programm zur Koreferenzresolution
Dirigent Russischer
der Moderne
nicht mehr ausschließlich auf die Beispielpaa­
Maler
Max Reger
Expressionismus
re der paarweisen Klassifikation angewiesen.
Maler des
Paul Hindemith Igor Strawinski Expressionismus Vielmehr zieht es eine Vielzahl von »Merkma­
Werk Konstruktivismus
(Neue Musik)
Künstler
len« (features) heran. Ein Merkmal ist ein In­
Deutscher
Maler
des Konstruktivismus
diz dafür, dass zwei Erwähnungen im Prinzip
Werk der Suprematismus
Darstellenden Kunst
Werk von
Paul Hindemith El Lissitzky koreferent sein können. Eines von ihnen zeigt
Mann
an, ob Erwähnungen der gleichen semanti­
Künstler

Musikalisches
Ludus Tonalis Ernst Ludwig
Kirchner
Paula
Modersohn-Becker
des Suprematismus
schen Klasse angehören, also zum Beispiel
Werk
Spektrum der Wissenschaft

Mathis der Maler


Werk von
Dadaismus
beide eine Person, einen Ort oder ein Fahr­
Ballett (Werk) Igor Strawinski
Künstler
zeug bezeichnen. Ein anderes Merkmal stellt
Frau Hannah Höch
Oper (Werk)
des Dadaismus
dar, ob Erwähnungen die gleiche Zeichenket­
The Rake’s
Progress
Le sacre
du printemps
te enthalten (»Präsident Putin«, »Wladimir
Putin«, »Putin«, …). Weitere Merkmale ent­
Dieser kleine Ausschnitt aus dem Kategoriennetz der deutschen Wikipedia konzentriert halten Wissen über grammatische Eigenschaf­
sich auf die nähere Umgebung der Einträge zu einigen Künstlern vom Beginn des ten einer Erwähnung wie Genus, Numerus
20. Jahrhunderts. Blaue Pfeile haben die Bedeutung »ist ein« (»ein russischer Komponist und Person, über ihre syntaktische Rolle (Sub­
ist ein Komponist«, »Igor Strawinski war ein Dirigent«), rote Linien kennzeichnen jekt, Objekt, …) oder bestimmte syntaktische
das Wissen, dass eine solche Beziehung nicht besteht. Beziehungen zwischen zwei Erwähnungen,
etwa dass eine Erwähnung Apposition einer
anderen ist (»Wladimir Putin, der russische
eine lange Koreferenzkette verbindet – und Grunde, dass Koreferenzketten eigentlich Präsident, …«). Auch der Abstand im Text
damit in einen Topf wirft –, weil an irgend­ Mengen sind und es darum geht, jede Erwäh­ zwischen zwei Erwähnungen, gezählt in Wör­
einer Stelle das Pronomen »his« zum einen nung genau einer Menge zuzuweisen. In der tern oder Sätzen, wird als Merkmal ausge­
wie zum anderen passt und schon die Fest­ Informatik fanden wir ein geeignetes Analo­ drückt. Insgesamt arbeiten wir mit etwa 20
stellung, dass »his« nur einen der beiden gon zu dieser Aufgabe: die Clusteranalyse. unterschiedlichen Merkmalen.
Herren meinen kann, über die Betrachtung Man ordne Datenpunkte Mengen (»Clus­ Unser Programm erstellt im ersten Schritt
einzelner Paare hinausgeht. tern«) zu, und zwar so, dass eng benachbarte zu jedem Merkmal einen Satz von Hyperkan­
Dies war – stark vereinfacht – der Stand Datenpunkte in der Regel in ein und densel­ ten. Diese sind manchmal gewöhnliche Kan­
der Forschung, als vor drei Jahren Jie Cai als ben Cluster geraten. Nur kann man zwar zu ten, verbinden also nur zwei Erwähnungen,
Doktorandin in meiner Arbeitsgruppe anfing. zwei (durch Koordinaten gegebenen) Daten­ zum Beispiel bei dem Merkmal für den Ab­
Wir fragten uns, wie man das Problem der punkten in einfacher Weise deren Entfernung stand im Text. Die meisten aber umfassen
Koreferenz angemessener repräsentieren und definieren; aber das funktioniert für Erwäh­ mehr als zwei Erwähnungen; sie machen die
insbesondere Wissen über den Kontext in die nungen nicht. Allenfalls sind Erwähnungen Stärke des Verfahrens aus. Allen Hyperkanten
Entscheidung mit einbeziehen kann. Dabei Punkte (»Knoten«) in einem Graphen, die ge­ werden mit Hilfe von annotierten Trainings­
legten wir das oben beschriebene Konzept zu nau dann durch eine Kante verbunden sind, daten Gewichte zugewiesen; das sind Zahlen,

32  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · EXTRA


die bezeichnen, wie stark das mit dem Merk­ Netzwerk ergibt. WordNet enthält aber nur tegorien – den »Synsets« aus WordNet ent­
mal ausgedrückte Indiz für Koreferenz ist. Da wenig Wissen über durch mit Eigennamen sprechen. Hat man diese Strukturgleichheit
das Verfahren robust ist gegenüber kleinen bezeichnete Konzepte. So gibt es in der aktu­ erst einmal gefunden, ist es relativ leicht, sie
Abweichungen bei den Gewichten, kommt es ellen Version (Stand 30. Mai 2011) zwar ei­ zu nutzen – in diesem Fall Wikipedia in ein
mit fünf Prozent der Trainingsdaten aus, die nen Eintrag über »Vladimir Putin«; »Boris semantisches Netzwerk umzuformen und da­
für die paarweise Klassifikation erforderlich Yeltsin« hat allerdings nie Eingang in die Da­ rauf weitere Strukturen aufzubauen.
sind. Das ist von entscheidender Bedeutung, tenbank gefunden. Wir waren also auf der In beiden Beispielen war es entscheidend,
da Annotationen für jedes Sachgebiet neu er­ ­Suche nach einer Wissensquelle, die mehr Analogien zwischen auf den ersten Blick
stellt werden müssen, viele Stunden menschli­ ­Informationen über durch Eigennamen be­ nicht zusammenhängenden Gebieten zu er­
cher Arbeit erfordern und daher teuer sind. zeichnete Konzepte enthält und dennoch so kennen. In einem interdisziplinären Gebiet
Die mit Gewichten versehenen Hyperkan­ gut strukturiert ist wie WordNet. wie der Computerlinguistik gilt dies auch
ten lassen sich in Matrizen umwandeln. Die Ein Blick auf die im Oktober 2005 noch eine Abstraktionsstufe höher: Es kommt da­
wiederum kann man mit Standardmethoden recht kleine »Wikipedia« zeigte uns, dass diese rauf an, Analogien zwischen Analogien zu
aus der linearen Algebra so transformieren, Online-Enzyklopädie die erste Bedingung er­ sehen. »Good mathematicians see analogies
dass am Ende eine korrekte Zerlegung in füllt. Die zweite Bedingung erforderte einen between theorems or theories. The very best
Mengen koreferenter Erwähnungen steht erneuten, unbefangenen Blick. Im Gegensatz ones see analogies between analogies«, so der
(Kasten S. 31 oben). zu gewöhnlichen, unstrukturierten Webseiten bedeutende Mathematiker Stanislaw Ulam
enthält Wikipedia neben dem ebenfalls un­ (1909 – 1984) in seinem Werk »Analogies
Wikipedia strukturierten Text einige Strukturelemente, between analogies«.
als lexikalische Datenbank die unserer Aufgabe dienlich waren. So findet Die wissenschaftliche Umgebung bei
In Experimenten mit Standarddatensätzen man am Ende jedes Artikels die Liste der Ka­ HITS stellt in dieser Beziehung eine einmali­
konnten Jie Cai und ich zeigen, dass unsere tegorien, denen er angehört. Die Kategorien ge Chance dar, da die Interdisziplinarität zu
Methode trotz deutlich geringeren Bedarfs an selbst sind ebenfalls kategorisiert, so dass man den Voraussetzungen seiner Existenz zählt.
Lernstoff wesentlich bessere Ergebnisse bei mit ihrer Hilfe von einem Artikel zu einem Vielleicht werde ich eines Tages sogar Metho­
der Koreferenzresolution erzielt als die übli­ anderen gelangen kann, der mit dem ersten den aus der Biomechanik oder der theoreti­
chen Verfahren, und das in etwa einem Viertel semantisch verwandt ist. schen Astrophysik auf computerlinguistische
der Rechenzeit. Wegen des geringen Trai­ Damit war klar: Wenn es gelingt, aus den Probleme anwenden!  Ÿ
ningsaufwands ist es uns auch gelungen, unser Wikipedia-Kategorien ein semantisches Netz
Verfahren ohne größere Mühe auf eine neues zu extrahieren, dann verfügt man über eine der autor
Sachgebiet zu übertragen: Inzwischen analy­ Ressource, die WordNet zumindest bei den
Michael Strube, Jahrgang
siert es nicht nur Nachrichtentexte, sondern durch Eigennamen bezeichneten Konzepten 1965, wurde 1996 an der
auch Arztberichte. überlegen ist. In der Folge haben Ponzetto Universität Freiburg mit
Aufgaben wie die Koreferenzresolution be­ und ich (später stieß Vivi Nastase als Postdoc einer Dissertation in
Computerlinguistik
nötigen über das linguistische Wissen (»Ist zum Team) mehrere Verfahren entwickelt, die
promoviert. Nach einer
›Putin‹ ein Substantiv oder ein Verb?«) hinaus Wikipedia zuerst in ein semantisches Netz­ Postdoc-Zeit an der
auch Wissen über Objekte in der Welt und werk umwandeln, dann in eine Taxonomie University of Pennsylva-
nia in Philadelphia kam er 2000 als
ihre Beziehungen zueinander (»Ist ›Putin‹ ein und schließlich in ein Netzwerk mit reichhal­
wissenschaftlicher Mitarbeiter zur EML
Mensch oder ein Ort?«). Koreferenzrelationen tigen semantischen Relationen (Spektrum der Research gGmbH in Heidelberg. Ein Jahr
bestehen häufig zwischen einem Unter- und Wissenschaft 12/2010, S. 94; Bild S. 33). Die später wurde er Leiter der Natural
einem Oberbegriff, etwa »Wladimir Putin« Language Processing Group des Instituts,
Anwendung auf mehrere computerlinguisti­
das mittler­weile Heidelberger Institut für
und »der russische Präsident«, »der russische sche Probleme belegte die Richtigkeit unserer Theoretische Studien heißt. Er ist Hono-
Politiker«. Im Oktober 2005 stellte sich mei­ Grundannahme. rarprofessor an der Universität Heidelberg
nem damaligen Doktoranden Simone Paolo Die beiden hier beschriebenen Projekte im Fach Computerlinguistik.

Ponzetto und mir die Frage, wie wir unserem weisen eine Gemeinsamkeit auf. Beim Prob­
Koreferenzresolutionssystem dieses Wissen lem der Koreferenzresolution kam es darauf quellen
zur Verfügung stellen können. an, auf einer abstrakten Ebene die Struktur­
Cai, J., Strube, M.: End-to-End Coreference
Die in der Computerlinguistik populärste gleichheit zwischen dem linguistischen Phä­ Resolution via Hypergraph Partitioning. In:
Ressource für derartiges Wissen ist »Word­ nomen der Koreferenz, dem mathematischen Proceedings of the 23rd International
Conference on Computational Linguistics,
Net«, eine lexikalische Datenbank, die Wörter Konzept der Menge und dem graphentheo­
Peking, 23. – 27. August 2010, S. 143 – 151.
so genannten »Synsets« zuordnet, die jeweils retischen Konstrukt des Hypergraphen zu se­ Download über www.aclweb.org/
eine Menge (annähernd) synonymer Ausdrü­ hen. Bei der Wissensextraktion aus Wikipedia anthology/C/C10/
Ponzetto, S. P., Strube, M.: Taxonomy
cke enthalten. Die Synsets sind in einer Taxo­ ging es darum, das Kategoriensystem in Wi­
In­duction Based on a Collaboratively Built
nomie angeordnet und durch viele weitere se­ kipedia als Netzwerk zu erkennen, dessen Knowledge Repository. In: Artificial Intelli-
mantische Relationen miteinander verknüpft, Kanten semantische Nähe ausdrücken und gence 175, S. 1737  – 1756, 2011
so dass sich ein reichhaltiges semantisches dessen Knoten – Wikipedia-Artikel und -Ka­

Datengetriebene Wissenschaft 33
Virtuelle Forschungsumgebungen
für morgen
Um Wissenschaftlern die Infrastruktur bieten zu können, die sie für ihre Arbeit in der Zukunft brauchen,
müssen Hochschulen und außeruniversitäre Institutionen ihre Kräfte bündeln und neue Wege beschreiten.

Von Uwe Schwiegelshohn

N
ur dort, wo der Boden und das attraktiv zu machen und so in der Antike ­ xperiment und Beobachtung ihre Alleinstel­
E
Angebot an Wasser und Licht den Wettbewerb um die klügsten Köpfe zu lung im Erkenntnisprozess. Dieser Trend setzt
ihren Bedürfnissen genügen, gewinnen. sich bis in die Gegenwart fort, in der neben
werden Pflanzen gedeihen und Während es damals nur wenige solcher den Bibliotheken als weitere Querschnitts­
Frucht tragen. Genauso verhält es sich auch Stätten der Gelehrsamkeit gab, änderte sich funktion die Rechenzentren zur Verarbeitung
mit der Wissenschaft: Ein Forscher benötigt die Situation im Spätmittelalter deutlich. Mit von Forschungsdaten aufkamen. Inzwischen
eine seinem Thema angemessene Umgebung, dem Untergang des Römischen Reichs im wendet eine typische technische Universität
um herausragende Ergebnisse zu erzielen. Das 5. Jahrhundert war eine Phase weit gehender durchschnittlich weniger als zwei Prozent ih­
war schon in der Antike so, wobei sich die er­ wissenschaftlicher Stagnation angebrochen. res jährlichen Etats für die Ausstattung ihrer
forderliche Infrastruktur im Lauf der Jahr­ Nun aber wurden die antiken naturphiloso­ Bibliothek auf, hingegen über fünf Prozent
hunderte freilich beträchtlich erweitert hat. phischen Erkenntnisse wiederentdeckt, und für Laborräume und technische Einrichtun­
Doch auch wenn wir heute von »virtuellen die Mächtigen ihrer Zeit gründeten Universi­ gen. Dies war und ist die Konsequenz einer
Forschungsumgebungen« sprechen, sind die täten als neue Form, Studium und Forschung veränderten Forschungslandschaft, in der sich
Grundbedürfnisse doch erstaunlich gleich ge­ eine Heimat zu geben. Das Modell erwies sich die Natur- von den reinen Geisteswissenschaf­
blieben. Gelehrte brauchen vor allen Dingen als erfolgreich. Um 1230 gab es bereits etwa ten lösten und größeren Raum einnahmen.
eines: die Möglichkeit, sich mit anderen Ex­ 20 solcher Einrichtungen in Europa, 1789 Da Experimente disziplinspezifisch sind,
perten ihres Fachs auszutauschen. waren es schon 142. Im deutschen Sprach­ erfordern sie unterschiedliche Forschungsum­
Weil diese beiden Grundpfeiler jeder For­ raum vollzog sich diese Entwicklung etwas gebungen. Angesichts einer wachsenden Zahl
schung Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. am langsamer. Bis 1400 gab es erst drei Universi­ von Teildisziplinen wird es für eine Universi­
Museion Alexandrias gegeben waren, wurde täten, bis 1500 wuchs ihre Zahl aber auf zehn. tät immer aufwändiger, das ganze Spektrum
es zur zentralen Stätte antiker Gelehrsamkeit. Heute sind es in Deutschland allein ungefähr der Wissenschaften abzubilden, auch wenn
Nirgends sonst beherbergte eine Bibliothek 100. Hinzu kommen noch andere Arten sich Forschungsumgebungen bei vergleichba­
eine solche Vielzahl an Schriften – hundert­ von Hochschulen und außeruniversitäre For­ ren Fragestellungen durchaus ähneln.
tausende sollen es gewesen sein. Nicht anders schungseinrichtungen. Mitunter benötigen wissenschaftliche Ins­
als heute ermöglichten diese frühen Publika­ trumente spezifische Einsatzorte. Dazu gehö­
tionen eine indirekte Kommunikation zwi­ Niedergang der Bibliotheken ren astronomische Teleskope, die einen dunst­
schen Forschern über Generationen hinweg. Auch in den mittelalterlichen Universitäten freien Himmel erfordern (siehe Foto rechts),
Auf Grund seiner Bedeutung wurde das spielten die Bibliotheken eine tragende Rolle, oder die polaren Beobachtungsstationen und
Museion oft von den Großen der Zeit geleitet, und daran hat sich bis in die Gegenwart nichts Forschungsschiffe der Klimaforscher. Die ef­
etwa von Eratosthenes, der den Erdumfang geändert. Nach wie vor ist die Publikation das fiziente Nutzung dieser weit entfernten Be­
und die Schiefe der Ekliptik vermaß, oder von primäre Mittel, Forschungsergebnisse in der obachtungsstandorte verlangt, große Daten­
dem frühen Sprachwissenschaftler Aristo­ Fachwelt zu verbreiten. Seit der Erfindung des volumina von dort schnell zu den jeweiligen
phanes. Selbst längere Reisen und die damit Buchdrucks durch Johannes Gutenberg Mitte Wissenschaftlern an ihren Heimatuniversitä­
verbundenen Gefahren schreckten Wissen des 15. Jahrhunderts lassen sie sich leicht ver­ ten zu übermitteln.
Suchende nicht ab. Seine einzigartige Ausstat­ vielfältigen – und dank des Aufkommens der Während Gelehrte noch Anfang des 20.
tung verdankte das Museion dem Engagement Zeitungen und schließlich des Wissenschafts­ Jahrhunderts in Briefwechseln Informationen
des ptolemäischen Herrschergeschlechts. Ob­ journalismus auch einer breiten Öffentlich­ austauschten und Theorien diskutierten, wol­
wohl die Wirtschaftsmacht ihres Landes noch keit vermitteln. len Forscher heute mit anderen ohne Verzöge­
nicht davon abhing, wissenschaftliche Er­ Dennoch gab es seit den Zeiten Galileo rung und unabhängig vom Aufenthaltsort in
kenntnisse in technische Innovationen um­ Galileis (1564 – 1642) eine strukturelle Ver­ Verbindung treten können. Das leisten die
zumünzen, legten diese Könige großen Wert änderung: Schriften – und damit die Biblio­ modernen, globalen Kommunikationssyste­
darauf, den »Forschungsstandort« Alexandria theken – verloren mit der Einführung von me, darunter vor allem das Internet. Hierfür

34  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · EXTRA


kleines Foto: ESO; groSSes Foto: ESO, Gerhard Hüdepohl 

Das aus vier Einzelteleskopen bestehende


Very Large Telescope (VLT) steht auf einem
Berg in der chilenischen Atacama-Wüste.
Ein derartiges Projekt lässt sich nur in inter-
nationaler Kooperation realisieren.

Datengetriebene Wissenschaft 35
die technische Infrastruktur bereit­zustellen,

AKG Berlin / Bibliothèque de Troyes, Ms 129, fol. 32


ist ebenfalls eine Kernkompetenz der Rechen­
zentren. Sie versetzen nicht nur Wissenschaft­
ler – vorwiegend Naturwissenschaftler – aus
unterschiedlichen Einrichtungen und Län­
dern in die Lage, gemeinsam zu forschen und
zu veröffentlichen, sie unterstützen auch den
zunehmend interdisziplinären Charakter der
Wissenschaft. Fragt man beispielsweise, wel­
che Auswirkungen die globale Erwärmung
und die mit ihr einhergehenden Veränderun­
gen von Lebensräumen auf die Verbreitung
von Krankheiten haben werden, sind Spezia­
listen verschiedener Fachrichtungen gefragt.
Von modernen Forschungsumgebungen
wird erwartet, dass sie eine solche Vernetzung
unterstützen. Das Vorhandensein der genann­
ten Kommunikationssysteme allein genügt
dafür nicht mehr. Ebenso wichtig wird die
Kompatibilität zwischen früher isoliert funk­ Das Studium von Schriften bildete im Mittelalter die Basis aller Gelehrsamkeit (oben: ein
tionierenden Laboren. Das erfordert die Ein­ Hörsaal der Pariser Sorbonne im 15. Jahrhundert). Mit dem Aufkommen des Experi-
richtung und Pflege möglichst standardisier­ ments im 16. Jahrhundert verloren Bibliotheken an Bedeutung. Manche Forschungsfragen
ter Schnittstellen, was ebenfalls in die Kom­
petenz der Rechenzentren fällt und ihre
Bedeutung noch steigert. für waren die in den 1970er Jahren entstan­ nik verlängert sich die Wartezeit nur gering­
Die wachsende Anzahl der Universitäten denen deutschen Bibliotheksverbünde. Zu­ fügig.
und die immer aufwändigere technische Aus­ nächst wurden Zentralkataloge geschaffen, in Eine weitere Neuentwicklung ist die vir­
stattung lässt freilich die Kosten steigen. So denen ein Titel nur einmal aufgeführt ist, was tuelle Forschungsumgebung, die annähernd
entstand der Begriff der Forschungsinfra­ die Katalogpflege vereinfacht. Später kam die die gleiche Funktionalität wie eine ideal aus­
struktur, die neben der Qualität der darin ent­ Onlinefernleihe hinzu, die einzelne Büche­ gestattete lokale aufweist, obwohl nicht mehr
haltenen Forschungsumgebungen auch orga­ reien entlastete, weil nun keine mehr ein kom­ alle Komponenten am Standort existieren.
nisatorische Aspekte wie die Kosteneffizienz plettes Literaturangebot vorhalten musste. Voraussetzung ist eine gesteuerte Kooperation
berücksichtigt. Eines der ersten Beispiele da­ Dank der modernen Kommunikationstech­ zwischen den Trägern der lokalen Umgebun­
gen und die Vernetzung der einzelnen For­
Felix Müller, Bern

scher untereinander. Somit ist die typische


Forschungsumgebung von heute immer eine
virtuelle, da sie unterschiedliche Standorte
verbindet.
Das betrifft insbesondere wissenschaftliche
Experimente, die aus Kostengründen nur an
wenigen oder gar nur an einem Ort durch­
geführt werden können. Man denke etwa an
­die Projekte aus dem Bereich der Teilchen­
physik am Large Hadron Collider (LHC) am
CERN (Europäische Organisation für Kern­
forschung) in der Nähe von Genf. Solche Or­
ganisationen wurden gegründet, um Groß­
experimente durchzuführen. Sie sind in der
Regel durch öffentliche Mittel finanziert und
bilden eine wesentliche Säule von Forschungs­
infrastrukturen. Umfangreiche und den ange­
schlossenen Wissenschaftlern zugänglich zu
Im 3. Jahrhundert v. Chr. avancierte die Universität Alexandrias zu einem Zentrum des machende Datenvolumina entstehen aber
Wissens. Von christlichen Fanatikern zerstört, wurde sie im 4. Jahrhundert n. Chr. andern- auch durch die Digitalisierung von Literatur
orts neu gebaut. Polnische Archäologen glauben, einige der Hörsäle entdeckt zu haben. und Kultur oder im Zuge einer Vielzahl klei­

36  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · EXTRA


über Bundesländergrenzen hinweg schon un­
CERN

ternommen.
Im Extremfall könnte ein Rechenzentrum
die gesamte Infrastruktur stellen – bezie­
hungsweise als eigenständiges Unternehmen
ausgegliedert werden; man spricht von Infra­
structure-as-a-Service. Dieser Ansatz ist vor
allem in solchen Fächern sinnvoll, die die ver­
fügbare Technologie möglichst optimal aus­
nutzen wollen. Geht es dagegen nur um die
Ausführung von bestimmten Programmen,
etwa zur statistischen Auswertung, ist das
Konzept Software-as-a-Service interessanter.
Ein Forscher könnte dann eine speziell für
­seine Aufgabenstellung entwickelte Software
verwenden, ohne sich um deren Implemen­
tierung kümmern oder selbst über die not­
wendige Hardware verfügen zu müssen.
Das würde auch die lokalen Rechenzent­
erfordern die Konzentration von Experimentiereinrichtungen an einem Ort (im Bild ren entlasten, da sie in Zukunft kaum in der
oben der LHC am CERN). Von dort müssen die Ergebnisse über Kommunikationsnetzwerke Lage sein werden, die Vielzahl unterschiedli­
zu den über die ganze Welt verteilten Wissenschaftlern weitergeleitet werden. cher Anwendungssoftware für die jeweils we­
nigen Nutzer bereitzustellen und zu pflegen.
Zudem sinkt das Risiko, dass ein in einem
nerer Studien mit aufwändigen Bilddaten wie den LHC-Experimenten ist das durch das so Projekt entwickeltes Verfahren vergessen und
in der Medizin. Diese Informationen werden genannte Worldwide LHC Computing Grid in einem anderen neu entwickelt wird.
in der Regel in großen Archiven gesammelt (WLCG) – ein aus miteinander kommuni­ Die entstehende Forschungsinfrastruktur
und wiederum anderen Forschern zur Verfü­ zierenden Rechnern auf der ganzen Welt be­ besitzt dann zwei Komponenten, deren Zu­
gung gestellt. stehendes Netzwerk – bereits in Ansätzen ge­ sammenspiel noch nicht geklärt ist: Auf der
Sowohl aus dem Interesse der Beteiligten schehen. einen Seite übernimmt die Universität diszi­
als auch aus Effizienzgründen sollten all diese Das erfordert eine dienstleistungsorien­ plinübergreifend die Strukturierung der For­
Daten möglichst vielen Gruppen zugänglich tierte Softwaretechnologie. Ein Beispiel dafür schungsumgebung vor Ort, auf der anderen
sein. Damit entsteht ein Bedarf an virtuel- ist das so genannte Cloud Computing. Eine arbeitet der Träger einer virtuellen disziplin­
len Forschungsumgebungen, die institutions­ solche »Rechnerwolke« besteht aus einem spezifischen Forschungsumgebung über die
übergreifend aufgebaut sind. Im Gegensatz Netzwerk von Computern, aus dem ein An­ Grenzen der Institutionen hinweg. Offen sind
zum erwähnten Bibliotheksverbund oder zum bieter die nachgefragten Ressourcen dyna­ bis jetzt die Mechanismen der Zusammenar­
Rechenzentrum wären diese zwar disziplin­ misch zuweist. Letzterer weiß also nicht mehr, beit und die Finanzierung solcher Infrastruk­
spezifisch, durch Synergieeffekte würden aber wo konkret jene Maschinen stehen, die seine turen. Um den Forschungsstandort Deutsch­
die Kosten reduziert. Daten oder eine bestimmte Software vorhal­ land auch für die Zukunft gut zu positionie­
ten – all das bleibt ihm wie hinter einer Wolke ren, sollten diese Fragen so schnell wie möglich
Rechnen in der Wolke verborgen. gelöst werden.  Ÿ
Virtuelle Forschungsumgebungen sollen vor Hier bietet sich eine weitere Chance für
allem notwendige Dienste für die beteiligten die Hochschulen, Kosten zu sparen und
der autor
Wissenschaftler anbieten, angefangen von gleichzeitig ein Mehr an Infrastruktur zu bie­
der Verbindung zu anderen Forschern, wis­ ten. Gegenwärtig versorgen ihre Rechenzent­ Uwe Schwiegelshohn
leitet das Institut für
senschaftlichen Geräten oder Datenspeichern ren noch die vor Ort arbeitenden Forscher.
­Roboterforschung der
an weit entfernten Orten bis hin zur Bereit­ Angesichts der Fragmentierung der Hoch­ Technischen Universität
stellung und Pflege benötigter Software für schullandschaft in viele Disziplinen mit je­ Dortmund, wo er sich
vor allem auf die Gebiete
die Auswertung von Messergebnissen. Es wä- weils nur einer kleinen Zahl von Wissen­
Grid Computing und au-
re ineffizient, wenn solche Software von je­ schaftlern pro Universität lässt sich auf diese tonome mobile Roboter
dem Wissenschaftler selbst erstellt werden Weise kaum die nötige hohe Auslastung errei­ konzentriert. Er ist zudem Prorektor für
müsste, wie dies in der Vergangenheit oft der chen. Vernünftiger wären Rechenzentrums­ den Geschäftsbereich Finanzen der Hoch-
schule. In diesem Rahmen befasst er
Fall war. Nachdem aber jetzt die Institutions­ verbünde analog den Bibliotheksverbünden; sich auch mit fakultätsübergreifenden
grenzen einmal aufgebrochen sind, bietet es erste Schritte in diese Richtung wurden so­ Fragen der Strukturentwicklung.
sich an, sie auch hier zu überschreiten. Bei wohl innerhalb von Bundesländern als auch

Datengetriebene Wissenschaft 37
Wissenschaft braucht Vernetzung
Forscher können der rapide anwachsenden Datenmengen nur Herr werden und
sie zum rascheren Erkenntnisgewinn nutzen, wenn sie ihre Rolle als Mitglieder eines
großen Netzwerks verstehen und akzeptieren. Dies erfordert neue Formen des
Umgangs mit urheberrechtlichen Fragen und neue Modalitäten der Zusammenarbeit.

Von John Wilbanks

D
ie Gewinnung neuer Erkennt- die alten Erklärungsmuster den neuen Reali-
nisse durch die Analyse großer täten nicht mehr gewachsen sind.
Datensammlungen wird oft als Dies scheint mir die Idee hinter Jim Grays
»viertes Paradigma« wissen- Begründung eines vierten Paradigmas und
schaftlichen Arbeitens bezeichnet. Unabhän- dem Bild von der »Datenflut« zu sein: dass
gig davon, ob man dem zustimmt, ist es sinn- unsere Fähigkeit, Daten zu messen, zu spei-
voll, die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs chern, zu analysieren und zu visualisieren, die
Paradigmenwechsel in Thomas Kuhns »Struc- neue Realität ist, der sich die Wissenschaft
ture of Scientific Revolutions« noch einmal zu stellen muss. Daten sind der Kern dieses neu-
reflektieren. en Paradigmas, und es steht auf einer Stufe
Kuhns Modell beschreibt eine Welt der mit dem, was wir für den wissenschaftlichen
Wissenschaft, in der ein System von Ideen die Methodenvorrat halten: der experimentellen
Vorherrschaft erringt, sich etabliert und so Beobachtung, der Theoriebildung und der Si-
eine Sicht der Welt hervorbringt (das »Para- mulation.
digma«), die für sich selbst Macht und Ein- Müssen wir die ersten drei Paradigmen
fluss gewinnt. Dieses System von Ideen be- also begraben? Keineswegs, vielmehr will ich
zieht seine Geltung daraus, dass es eine plausi- Das Onlinelexikon Wikipedia ist das sie fei­ern. Mit der experimentellen Beobach-
ble Erklärung für beobachtbare Phänomene bekannteste Beispiel einer für alle frei tung und Theoriebildung sind wir weit ge-
liefert. Auf diese Weise haben wir zum Bei- zugänglichen Website, welche die kommen – von einem Weltbild, in dem die
spiel den Äther als Träger des Lichts bekom- ­Gemeinschaft der Internetnutzer welt- Sonne um die Erde kreist, bis zur Quanten-
men sowie die Miasmen-Theorie für Infekti- weit unentgeltlich aufgebaut hat, physik. Simulation ist das Herzstück vieler ak-
onskrankheiten und die Vorstellung, dass die stetig erweitert, pflegt und aktualisiert. tueller Forschungsaktivitäten, von der Rekon-
Sonne um die Erde kreist. Das System von struktion des antiken Rom bis hin zur Wetter-
Ideen, die Sicht der Welt, das Paradigma ver- vorhersage. Die Genauigkeit von Simulationen
festigt sich durch schrittweise Erweiterung. seits gedrängt. Neue Ideen fallen nicht auf und Prognosen steht im Zentrum heißer poli-
Jeder einzelne Wissenschaftler arbeitet in der fruchtbaren Boden, bekommen kein Geld tischer Debatten um die Wirtschaftsentwick-
Regel so, dass er das Paradigma Stück für und kein Personal. Furcht, Unsicherheit und lung und den Klimawandel. Und natürlich
Stück ergänzt. Wem es gelingt, ein großes Skepsis bestimmen die Reaktion auf originelle gilt, dass Beobachtung und Theorie unabding­
Stück hinzuzufügen, der erlangt Autorität, Vorstellungen, Methoden, Modelle und An- bar sind für gute Simulationen. Ich kann auf
Forschungsaufträge, Preise und Auszeichnun- sätze, die dem herrschenden Paradigma zuwi- meinem Bildschirm sehr schön etwas simulie-
gen – und Direktorenposten. derlaufen. ren, in dem die Gravitation nicht vorkommt,
Alle Beteiligten profitieren von ihren In- Doch Weltanschauungen gehen unter und aber wenn ich mit meinem Auto über einen
vestitionen in ein System von Ideen, das über Paradigmen stürzen, wenn sie die Beobach- Klippenrand fahre, wird mich die Schwerkraft
die Ideen selbst hinausreicht. Firmen und Re- tungen nicht mehr erklären können oder gnadenlos wieder einholen.
gierungen (und die Leute, die für sie arbeiten) wenn ein Experiment zweifelsfrei nachweist, So gesehen handelt es sich also nicht um
gründen Geschäftspläne und politische Vor- dass sie falsch sind. Der Äther hat sich nach einen Paradigmenwechsel im kuhnschen Sin-
gaben auf eine solche Sicht der Welt. Das Hunderten von Jahren stetiger Verfeinerung ne. Daten werden nicht die gute alte Realität
führt zum Aufbau eines Schutzwalls – einer als Schimäre erwiesen, und so erging es dem beiseiteschieben. Stattdessen stellen sie eine
Art Immunsystem –, der das Weltbild gegen Miasma und dem Geozentrismus. Die Zeit Reihe von Anforderungen an die Methoden
Angriffe abschirmt. Zweifler werden ins Ab- für einen Wechsel ist dann gekommen, wenn und Konventionen, mit denen wir über Beob-

38  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · EXTRA


achtungen und Theorien kommunizieren, Datengetriebene Forschung, richtig verstan- kommt der Beherrschung von Unmassen an
aber auch an die Robustheit und Komplexität den, wird mehr Paradigmenwechsel bei wis- Daten entgegen – Netzwerke können gewalti-
unserer Simulationen und schließlich an die senschaftlichen Theorien in kürzerer Zeit her- ge Mengen von Informationen in etwas Nütz-
Art, wie wir unser Wissen darlegen, weiterge- vorbringen, weil wir unser jeweiliges Weltbild liches verwandeln, so dass die Überfülle an In-
ben und integrieren. sofort mit der »objektiven Realität« verglei- formationen nicht länger ein »Problem« ist,
Was sich ändern muss, ist das Paradigma chen können, die sich so effektiv messen lässt. das »gelöst« werden muss. Und beim Umgang
von uns selbst als Wissenschaftlern, nicht die Netzwerke beschreiben den Umbruch mit der Datenflut können wir vom Entwurf
alten Paradigmen des Erkenntnisgewinns. Als durch die Datenflut vielleicht besser als der Netzwerke lernen: Wenn wir ihrer Herr
wir anfingen zu begreifen, dass alles Stoffliche die kuhnsche Dynamik. Ihre Skalierbarkeit werden wollen, müssen wir eine offene Stra­
aus Atomen besteht, dass wir das Produkt un-
serer Gene sind und dass die Erde um die Son­
ne kreist – da vollzogen sich Paradigmenwech­ Der Apache-Webserver, der populärste Webserver im Internet, ist ein Paradebeispiel
sel im kuhnschen Sinne. Was wir hier disku- für Open-Source-Software, die Enthusiasten weltweit unentgeltlich programmieren und
tieren, geht quer durch all diese Umbrüche. der Allgemeinheit zur Verfügung stellen.

http://www2.jusch.ch/dokus/debiananwenderhandbuch.de/bilder/webmin/server-apache.png

Datengetriebene Wissenschaft 39
mit den anderen Schichten kompatibel ist
Freie Inhalte im Internet und zusammenwirkt oder »interoperiert«, wie
Computerwissenschaftler sagen. Ich glaube,
Das Open Directory Project (ODP) gilt als größtes von Menschen gepflegtes Webver- diese Sichtweise wird dem Wesen wissen-
zeichnis des World Wide Web. Seine Inhalte sind für jeden kostenlos zugänglich und schaftlicher Methodik eher gerecht als das
werden von freiwilligen Redakteuren unentgeltlich bearbeitet und aktualisiert. Die Konzept eines Paradigmenwechsels mit sei-
Grafik zeigt die Entwicklung der Einträge im deutschsprachigen Zweig des ODP. nem destruk­tiven Ansatz. Daten sind das Er-
Quelle: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Datei:Odp_sitecount_world_deutsch.png&filetimestamp=20100211081729
gebnis allmählicher Fortschritte bei den Mess-
und Beobachtungsverfahren. Sie untermau-
500 000
ern die Theorie, sie treiben und validieren die
450 000 Simulation, und sie werden am besten in stan-
400 000
dardisierter wechselseitiger Kommunikation
Windharp / CC-by-SA-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.de)

mit den genannten Schichten des Wissens-


350 000
netzwerks ausgetauscht.
300 000
Vorzüge des Prinzips
250 000
der Offenheit
200 000 Krass gesagt ist das Paradigma, das zerstört
150 000 werden muss, die Idee, dass wir Wissenschaft-
ler als unvernetzte Individuen forschen. Wenn
100 000
denn diese Metapher akzeptabel erscheint,
50 000 hält sie für uns, die wir über den Entwurf ei-
0 nes Netzwerks für die wissenschaftliche
­Kommunikation nachdenken, zwei Lektio-
2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009
nen bereit.
Die erste Lektion, frei nach David Isen-
tegie verfolgen, die auf den Erfahrungen mit und die zugleich ein Namensschema für Rech- berg, ist die, dass das Internet seine Durch-
Netzwerken beruht. ner und Dateien vorgeben. Da wir uns alle schlagskraft einer ganz speziellen Eigenschaft
Damit meine ich die Rechner- und Kom- dieser Methoden bedienen und jeder sie nut- verdankt: Es ist öffentlich. Das gilt gleich in
munikationsnetzwerke, die lediglich auf ei- zen kann, ohne um Erlaubnis zu fragen, ent- mehrfacher Hinsicht. Die Definitionen der
nem Satz von Protokollen aufgebaut sind, wickelt sich das Netzwerk ganz von selbst und Standards, auf denen das Internet beruht, sind
Schicht für Schicht, von Endpunkt zu End- wächst immer weiter. offen und frei zugänglich – frei zum Lesen,
punkt. Das Internet und das Web sind an- So gesehen sind Daten nicht ein »viertes zum Herunterladen, zum Kopieren, zum Ver-
hand von Dokumenten realisiert worden, die Paradigma«, sondern eine »vierte Netzwerk- wenden. Sie sind frei im urheberrechtlichen
standardisierte Methoden dafür definieren, schicht« (auf dem Ethernet, TCP/IP und dem Sinn. Die Spezifikationen können von jedem
wie Daten übertragen und dargestellt werden, World Wide Web), die, von oben nach unten, herangezogen werden, der sie verbessern und

Eine Publikation von Spektrum der Wissenschaft und dem Heidelberger Institut für Theroretische Studien

Chefredakteur: Dr. Carsten Könneker Geschäftsführer: Dr. Klaus Tschira, Prof. Dr. Andreas Reuter Leitung: Dr. Joachim Schüring
Editor-at-Large: Dr. Reinhard Breuer (v.i.S.d.P.) Presse- und Öffentlichkeitsarbeit: Dr. Peter Saueressig Anschrift: Spektrum der Wissenschaft – Custom Publishing,
Redaktionsleiter: Dr. Hartwig Hanser (Monatshefte), Dr. Gerhard Anschrift: HITS gGmbH, Schloss-Wolfsbrunnenweg 35, Postfach 10 48 40, 69038 Heidelberg;
Trageser (Sonderhefte) 69118 Heidelberg, Hausanschrift: Slevogtstraße 3–5, 69126 Heidelberg,
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Linsmeier, Dr. Christoph Pöppe
Art Direction: Karsten Kramarczik www.h-its.org www.spektrum.com/cp
Layout: Sibylle Franz, Claus Schäfer
Schlussredaktion: Christina Meyberg (Ltg.), Sigrid Spies,
Katharina Werle Gesamtherstellung: L. N. Schaffrath Druckmedien GmbH & Co. KG, Marktweg 42–50, 47608 Geldern
Bildredaktion: Alice Krüßmann (Ltg.), Anke Lingg,
Gabriela Rabe Sämtliche Nutzungsrechte an dem vorliegenden Werk liegen bei der Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH.
Redaktionsassistenz: Anja Albat-Nollau, Britta Feuerstein Jegliche Nutzung des Werks, insbesondere die Vervielfältigung, Verbreitung, öffentliche Wiedergabe oder öffentliche Zugänglich­
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schaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

Erscheinungstermin: Spektrum der Wissenschaft 12/2011

40  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · EXTRA


erweitern möchte, aber ihr Wert beruht nicht und die so entstehenden Produkte in vielen explosionsartig verbreitet und schützen mitt-
auf Optimierungen durch Einzelne, sondern Fällen besser sind als die in traditionellen, lerweile mehrere hundert Millionen digitaler
darauf, dass sehr viele Menschen sie benutzen. zentralisierten Umgebungen erzeugten. (Ein Objekte im Netz. Es zeigt sich, dass offene
Wie Isenberg anmerkt, bringt dies eine Reihe gutes Beispiel ist der Apache-Webserver, der ­Lizenzen bemerkenswerte Vorteile haben: Sie
von »Wundern« hervor: Das Netzwerk wächst seit 1996 der populärste Webserver im Inter- ermöglichen (bei vernachlässigbaren Trans­
ohne zentrale Kontrollinstanz, es lässt uns net ist.) aktionskosten) für digitale Objekte wie Musik
Dinge verbessern, ohne um Erlaubnis zu fra- Creative Commons hat diese Lektionen oder Fotografien – und für wissenschaftliche
gen, es erschließt und fördert neue Märkte auf die Lizenzierung angewendet und einen Information – denselben Grad gemeinschaft-
(denken Sie an E-Mail, Instant Messaging, so- Satz von Standardlizenzen für digitale Me­ licher Nutzbarkeit, den wir von technischen
ziale Netze – oder Pornografie). Versuche, die dienprodukte entwickelt. Diese haben sich Netzwerken kennen.
offene Struktur des Internets zu verändern,
würden es in seiner Existenz gefährden. Das
muss denjenigen unter uns, die in einer Welt
Urheberrechtsschutz für online publizierte Werke
der wirtschaftlichen Rivalitäten und der klas-
sischen ökonomischen Theorien aufgewach- Creative Commons bietet die Möglichkeit, geistiges Eigentum im Internet unter
sen sind, unbegreiflich erscheinen. Von ihrer verschieden strikten Lizenzbedingungen zu veröffentlichen.
Warte aus ist es widersinnig, dass Wikipedia

http://education-copyright.org/wp-content/uploads/2011/06/Creative-Commons-Infographic.png
existiert und noch dazu der Encyclopedia Bri-
tannica den Rang streitig macht.
Aber, mit Galilei gesprochen: »Sie bewegt
sich doch.« Wikipedia existiert, und das Netz –
eine einvernehmliche Halluzination, die auf
einer Sammlung technischer Standards be-
ruht – transportiert Skype-Video-­Anrufe zwi-
schen mir und meiner Familie in Brasilien –
und zwar umsonst. Es ist eine In­no­va­tions­
maschine wie keine je zuvor. Das Netz lehrt
uns, dass neue Netzwerkschichten für den
Umgang mit Daten die Idee der Offenheit be-
herzigen sollten – der Nutzung von Stan-
dards, die uns allen erlauben, frei zusammen-
zuarbeiten und die Segnungen des Netzes, die
wir von der riesigen Dokumentensammlung
des World Wide Web kennen, für die giganti-
schen Datensammlungen nutzbar zu machen,
die wir so leicht zusammentragen können. In diesem Lokal in Spanien ist nur Musik mit Creative-Commons-Lizenz aus dem Internet
Die zweite Lektion kommt aus einer an­ zu hören.
deren offenen Welt, derjenigen der Open-
Klaus Graf / CC-by-SA-2.5 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.5/deed.de)
Source-Software. Die Erstellung von Software
nach dem Modell verteilter kleiner Einzelbei-
träge, zusammengeführt durch technische
und rechtliche Standardisierung, war auch so
eine theoretische Unmöglichkeit, die durch
die Realität des Internets einen wahrhaft
kuhnschen Paradigmenwechsel erfuhr. Die
Möglichkeit der jederzeitigen Kommunika­
tion, verbunden mit günstigem Zugang zu
Programmierwerkzeugen, und die weitsich­
tige Anwendung öffentlicher Urheberrechts­
lizenzen hatten einen seltsamen Effekt: Sie
brachten Software hervor, die funktionierte
und mit der Zeit immer umfangreicher und
leistungsfähiger wurde. Die wichtige Erkennt-
nis ist, dass wir Millionen von Gehirnen an-
zapfen können, wenn wir standardisieren,

Datengetriebene Wissenschaft 41
bilden, weil die Werkzeuge billig und über-
all zugänglich sind – das trifft auf die Teil-
chenphysik oder Molekularbiologie nicht zu.
Einige der großartigen Dinge im Web eignen
sich nicht so gut für Wissenschaft und For-
schung, weil das Prinzip der auf Konsens
­basierenden Einschätzungen nur die lang­
weiligen Dinge zu Tage fördert, denen jeder
zustimmt, aber nicht das Abgelegene, das oft
viel interessanter ist.
Dennoch gibt es herzlich wenige Alterna-
tiven zum Netzwerkansatz. Die Datenflut ist
da, und sie ebbt nicht ab. Wir können mehr
und schneller messen als jemals zuvor. Und
Ich dachte, wir können Messungen in enormer Zahl
ich spüre einen Paradigmenwechsel, gleichzeitig nebeneinander durchführen. Un-
aber mir war nur die Unterhose hochgerutscht. sere Gehirnkapazität bleibt dagegen für alle
Zeit auf ein Gehirn pro Person beschränkt.
Wir müssen also zusammenarbeiten, wenn
wir Schritt halten wollen, und Netzwerke sind
Scheinbar fehlende Anreize sind bei all- Um ihn zu überwinden, müssen wir in die besten Kooperationswerkzeuge, die unsere
dem der Punkt, der klassischen ökonomi- Annotation und Qualitätssicherung investie- Kultur hervorgebracht hat. Das aber bedeu-
schen Theorien zuwiderläuft. Das ist ein an- ren, in Hardware zur Speicherung und Wie- tet, dass wir unseren Umgang mit Daten ge-
deres Beispiel für einen wahrhaft kuhnschen dergabe von Daten sowie in die Grundlagen nauso offen gestalten müssen wie die Proto-
Paradigmenwechsel – die alte Theorie konnte zu ihrer gemeinsamen Visualisierung und kolle, die Rechner und Dokumente miteinan-
keine Welt beschreiben, in der Menschen um- Analyse. Wir brauchen offene Standards, die der verbinden. Es ist der einzige Weg, auf dem
sonst arbeiten, doch die neue Realität zeigt, es erlauben, Daten allen zugänglich zu ma- wir die erforderliche Leistungsstufe erreichen
dass genau dies passiert. chen und im Verbund zu nutzen. Wir brau- können.  Ÿ
chen eine verbindliche Definition für die
Forscher als Knoten im Netzwerk ­Datenschicht. Und vor allem müssen wir der autor
Es gibt im Netz durchaus Widerstand gegen Wissenschaftler aus allen Gebieten darin un-
John Wilbanks ist
Science Commons / CC-by-3.0

eine datenintensive Schicht. Doch der beruht terweisen, auf dieser neuen Datenschicht zu Executive Director of
längst nicht im gleichen Maß auf Urheber- arbeiten. Solange unsere Ausbildungskultur Science Commons bei
der Organisation
rechtsbedenken, wie das bei Software der Fall von den Prinzipien der gildenartigen Mikro-
Creative Commons. Er
war (gleichwohl ist das Beharrungsvermögen spezialisierung geprägt ist, wird der Wissen- hat die Bioinformatik­
des Urheberrechts groß, wenn es um die An- schaftsbetrieb der Datenschicht weiter erheb- firma Intellico gegrün-
det, die semantische
passung der Fachgutachter-Kultur bei wissen- lichen Widerstand entgegensetzen.
Graphennetzwerke für die pharmazeu-
schaftlichen Veröffentlichungen geht, was die Wir sollten uns selbst als vernetzte Kno- tische Forschung entwickelt, und gehört
»Webrevolution« in der wissenschaftlichen ten sehen, die Daten weitergeben, Theorien dem Beirat der U. S. National Library of
­­Literatur de facto verhindert). Zwar existieren testen und die Simulationen anderer Wissen- Medicine’s PubMed Central an.

im Zusammenhang mit Daten Urheberrechts­ schaftler benutzen. Angesichts der Tatsache,


quellen
probleme, aber Widerstand kommt noch von dass jede Kurve zur Beschreibung der Kapazi-
vielen anderen Seiten: Es ist schwierig, Daten täten für das Sammeln von Daten exponen­ Bell, G. et al.: Beyond the Data Deluge. In:
mit Anmerkungen zu versehen und sie dann tiell ansteigt, müssen wir unsere eigenen Ka- Science 323, S. 1297 – 1298, 2009, doi:
10.1126/science.1170411
erneut zu benutzen, es ist schwierig, große pazitäten zur Nutzung dieser Daten entspre-
Kuhn, T. S.: The Structure of Scientific
Datenmengen zu übermitteln, es ist schwie- chend steigern – und das schnellstmöglich. Revolutions. University of Chicago Press,
rig, Daten miteinander zu kombinieren, die Wir müssen uns und unser Wissen vernetzen. Chicago 1996
nicht von vornherein dafür ausgelegt wurden, Nichts, was die Menschen bislang hervorge- Science Commons Protocol on Open Access
Data: http://sciencecommons.org/
und so weiter. Dadurch haben Daten für alle bracht haben, wächst so schnell wie offene projects/publishing/open-access-data-
außer denen, die sie erzeugen, eine sehr kurze Netze. protocol
Halbwertszeit. Dieser Widerstand hat seinen Wie alle Vergleiche hat natürlich auch die
Ursprung im Paradigma von uns selbst als in- Netz­metapher ihre Grenzen. Wissen ist Gekürzte Übersetzung des Kapitels »I Have
dividuellen Wissenschaftlern, nicht in den Pa- schwieriger zu vernetzen als Dokumente. Ein Seen the Paradigm Shift, and It Is Us« aus »The
Fourth Paradigm – Data-Intensive Scientific
radigmen der experimentellen Beobachtung, kooperativer Arbeitsstil kann sich bei der Soft- Discovery«. Herausgegeben von Tony Hey,
der Theoriebildung oder der Simulation. wareentwicklung leichter von selbst heraus­ Stuart Tensley und Kristin Tolle. Microsoft 2009

42  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · EXTRA


Das Heidelberger Institut für
Theoretische Studien (HITS)
ist das Forschungsinstitut der
gemeinnützigen Klaus Tschira
Stiftung. Der methodische Schwer-
punkt liegt auf der Theorie- und
Modellbildung. Dabei spielen
rechnergestützte Simulationen
und Datenerschließung eine
zentrale Rolle. Derzeit arbeiten
rund achtzig Forscher aus
fünfzehn Ländern in den sechs
Arbeitsgruppen, darunter zahl-
reiche Doktoranden und junge
Gastwissenschaftler.
Think Beyond
the Limits!

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