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PREISE
2011
DEZEMBER 2011
NEUE SERIE
www.spektrum.de
Editorial
Hartwig Hanser
Redaktionsleiter
hanser@spektrum.com
Den Stand der Technik darstellen – dieses Motto trifft auch auf den Artikel ab S. 78 zu. Hier
beschreiben drei Forscher, wie sie in jahrelanger mühevoller Detailarbeit bei der Regensbur-
ger Firma Osram Opto Semiconductors den grünen Laser zur Serienreife entwickelten. Damit
ist nun der Weg frei für handliche Minilaserprojektoren, die sich beispielsweise in Handys
einbauen lassen und auf Knopfdruck riesige hoch aufgelöste Bilder an die Wand werfen kön-
nen. Vielleicht schauen wir ja in ein paar Jahren mit dieser Technik daheim Fernsehsendun- Auf dem Weg zu leistungs
gen und Filme, spielen Videogames und betrachten unsere Urlaubsfotos – und das alles so fähigen Minilaserprojektoren
groß wie die ganze Wohnzimmerwand! fehlte bislang ein zentraler
Baustein: ein echter grüner Laser.
Jetzt haben Désirée Queren,
Adrian Avramescu (oben) und
Herzlich Ihr Stephan Lutgen bei Osram Opto
Semiconductors den Durchbruch
geschafft. Die Forscher berichten
ab S. 78, wie sie die technischen
Hürden überwanden.
26 Das übersehene zweite Auge 48 Neues aus dem alten Ägypten 78 Grüner Laser
r forschung aktuell
12 Nobelpreis für Physik
Das Universum startet durch
68 15 Nobelpreis für Medizin
TITELthema Wachposten des Immunsystems
21 Nobelpreis für
Wirtschaftswissenschaften
Ursache und Wirkung in der
Makroökonomie
erde & umwelt technik & computer
24 Springers Einwürfe
Ist der Embryo Natur oder Kultur?
78 Grüne Welle für den Laser
r
Wissenschaft
Exponentiell
Bedeutung der Solarenergie
anwachsende Daten- 93 Exponat des Monats
mengen fordern die Der klingende Christbaumständer
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94 Vorschau
Wissenschaft
Datengetriebene
1 1 /6
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Universum
Das simulierte
virtuellen Streckbank
Biomoleküle auf der
Intelligenz
Wissen für die Künstliche
5
11/2
leserbriefe
Jen Christiansen
Antwort der Redaktion:
Der Radius des sichtbaren Univer-
sums (der Beobachtungshori-
zont) ist gegeben durch die
größte Entfernung, aus der uns
Licht gerade noch erreichen
kann. Wäre mit dem Urknall vor
Bei mehreren Gruppen der Panzerfische 13,7 Milliarden Jahren das Univer-
entwickelten sich die Jungen in der Mutter. sum genau so, wie es heute ist, also
Hier eine Rekonstruktion von Materpiscis Embryo ohne kosmische Expansion, auf einen
Schlag entstanden, dann wäre unser Be-
obachtungshorizont tatsächlich gerade
Innere Befruchtung von Vorteil 13,7 Milliarden Lichtjahre groß. Doch in
Die vor 375 Millionen Jahren lebenden Panzerfische praktizierten als Erste Wirklichkeit folgte auf den Urknall zu-
die Kopulation, fand der australische Paläontologe John A. Long anhand von erst eine immens starke Expansion,
Fossilien heraus. (»Die Pioniere des Sex«, Oktober 2011, S. 30) kosmische Inflation genannt, und seit-
her eine weiter andauernde gemächli-
Siglinde Uhlmann, Nidda: Der Vorteil innerer Befruchtung für die größere chere, aber beschleunigte Ausdehnung
Radiation (siehe S. 35 des Beitrags) könnte auch darin gelegen haben, dass bei des Weltalls.
äußerer Befruchtung eine Isolation der neu entstehenden Genpools schwer Von dieser Expansion wurde das von
zu erreichen ist, wenn eine größere Population im Wasser gleichzeitig ab- den frühesten und fernsten Quellen
laicht. Das kann die Entstehung neuer Arten erschweren. ausgehende Licht quasi mitbefördert
(etwa wie ein Fußgänger, der auf einem
rasch gedehnten Gummilaufband da-
Wie weit können Wolfgang Grimm, Darmstadt: Im Arti- hinschreitet) und legte die viel größere
Astronomen sehen? kel heißt es, dass Astronomen rund 42 Entfernung von rund 42 Milliarden
Milliarden Lichtjahre weit sehen kön- Lichtjahren zurück. Dieser Wert ergibt
Der Kosmologe George Ellis bezweifelte, nen. Bisher dachte ich immer, der sicht- sich aus dem kosmischen Standardmo-
dass Forscher die Existenz anderer bare Bereich habe einen Radius von dell, wenn man bei der Berechnung des
Universen jemals nachweisen können. etwa 13 Milliarden Lichtjahre, was durch Beobachtungshorizonts die anfängli-
(»Multiversum in Beweisnot«, Novem das Alter des Universums von etwas che kosmische Inflation und die seithe-
ber 2011, S. 36) über 13 Milliarden Jahre gegeben ist. rige Expansion berücksichtigt.
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spektrogramm
KOSMOLOGIE
GENETIK
ECHOORTUNG
ATMOSPHÄRENCHEMIE
Antarktis gemessen wurden. Forscher der Sonne nach dem Polarwinter die
um Markus Rex vom Alfred-Wegener- Ozonzerstörung einsetzt.
Institut für Polar- und Meeresfor- Der Klimawandel hat zu diesen
schung in Bremerhaven haben jetzt die Phänomenen beigetragen. Denn die
Gründe dafür analysiert. überdurchschnittliche Erwärmung der
Verantwortlich für den noch nie da untersten Atmosphärenschicht (der
gewesenen Ozonabbau war demnach Troposphäre) beruht darauf, dass hier
ein ungewöhnlich lang anhaltender Treibhausgase mehr Wärmestrahlung Das Ozonloch über der Arktis (violetter
und stabiler Polarwirbel über der zurückhalten – wodurch weniger Bereich, Mitte), gemessen im April 2011
Arktis, der den Austausch mit wärme- Wärme in die höheren Schichten
ren Luftmassen bis in den April hinein gelangt. Zugleich strömt mehr Kohlen-
verhindert hatte. Hinzu kam, dass die dioxid in die Stratosphäre, wo es – an- den höheren Atmosphärenschichten,
Stratosphäre (die zweitunterste Atmo- ders als in der Troposphäre – nicht was wiederum die Entstehung eines
sphärenschicht) über der Arktis im erwärmend, sondern abkühlend wirkt. Ozonlochs fördert.
Winter 2010/2011 außerordentlich Beides mindert die Temperaturen in Nature 478, S. 469 – 475, 2011
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spektrogramm
Aktuelle Meldungen und
Archäologie Hintergründe finden Sie auf
ZELLBIOLOGIE
von der Zahl chemischer Bindungsstel- ger« – hergestellt, an dessen Ende eine
Mikro-
len auf ihrer Oberfläche ab – zumin- winzige Pyramide mit gekappter Golfschläger
dest laut Theorie. Tote Zellen besitzen Spitze saß. Mit dieser als Schlägerkopf
demnach weniger Bindungsstellen und drückten sie seitlich gegen Zellen, die
haften schlechter. Die Forscher um am Untergrund hafteten. Sie ermittel-
Yajing Shen von der Nagoya University ten, wie stark sich der Hebel verbog,
in Japan haben dies nun für Hefezellen und berechneten daraus die Kraft, die
Hefezelle
bestätigt. Bei lebenden Zellen ermittel- zum Ablösen jeder Zelle nötig war.
ten sie eine Adhäsionskraft von rund Mit Hilfe des Farbstoffs Methylenblau 5 Mikrometer
19 Mikronewton, während es bei toten unterschieden sie dabei zwischen
etwa 6 Mikronewton waren. Auf ver- lebenden und toten Hefezellen. Ein winziger »Golfschläger« drückt seitlich
schiedenen Oberflächen – Wolfram, Der Vorteil ihrer Methode, schreiben gegen eine Hefezelle, um sie vom Unter-
Gold und Indiumzinnoxid – variierte die Forscher, liege darin, dass der grund abzulösen.
Ein solcher Glücksfund gelingt selten: Dieser 151 Millionen Jahre alte Raub
saurier (Theropode) aus den Kalkschichten des Oberen Juras bei Kelheim ist
beinahe vollständig erhalten und damit auch weltweit gesehen eine Rarität.
Das 72 Zentimeter lange Skelett eines Jungtiers lässt sogar noch minera-
lisierte Reste von Haut und haarähnlichen Protofedern erkennen – Merkmale,
die vor allem von Dinosaurierfossilien aus China bekannt sind. Aus ande-
ren Fundstätten gibt es dafür bislang nur wenige Nachweise.
forschung aktuell
anfangs sehr erschrocken über dieses 1988 hatte Saul Perlmutter vom Law
ferner, lichtschwächer
Ergebnis und fanden es zu verrückt, um rence Berkeley National Laboratory und
150 näher, lichtstärker wahr zu sein.« Denn die Expansion des der University of California das Super
beschleunigte
Expansion Universums schien sich den Daten zu nova Cosmology Project initiiert. Seine
100 folge nicht zu verlangsamen, sondern Idee: Er wollte die Expansion des Kos
Bryan Christie Design
Radio: NRAO / AUI / NSF / GBT / VLA, Alan Dyer et al.; optisch: Middlebury College, Frank Winkler und NOAO / AURA / NSF / CTIO & DSS
Röntgen: NASA / CXC / Rutgers, G. Cassam-Chenai, J. Hughes et al.;
Stephen Hawking
entschlüsselt
das Universum
Im Jahr 1006 n. Chr. leuchtete ein neuer »Stern« am Erdhimmel auf: die Überreste der
Supernova SN 1006 vom Typ Ia im Sternbild Wolf – die womöglich hellste Supernova, von
der Menschen je Notiz nahmen. Die drei Laureaten nutzten in den 1990er Jahren beson-
ders weit entfernte Supernovae, um die Expansion des Universums zu vermessen.
schwächer eine Supernova erscheint, und der Helligkeit, mit der uns die Su
desto weiter ist sie also entfernt. Super pernova am Himmel erscheint, lässt
novae vom Typ Ia zählen daher zu den sich dann ihre absolute (intrinsische)
»Standardkerzen«, mit denen sich das Helligkeit ermitteln. Um im Bild zu
Universum vermessen lässt. Andere bleiben: Kenne ich die Entfernung ei
Standardkerzen – wie etwa die Delta- ner Glühbirne und messe ihre schein
NASA
in Vielfachen der heutigen Größe 4 Einsteins Relativitätstheorie zufolge sind Europäischen Südsternwarte den der
relative Größe des Universums
vier Weltmodelle möglich. Wie sich das zeitigen Stand zusammen. Darüber hi
3 Universum tatsächlich entwickelt, hängt naus führten weitere Beobachtungen
von seiner Materiedichte sowie der Men- zu demselben Resultat. Dazu zählen die
ge an Dunkler Energie ab. Beispielsweise Untersuchung der kosmischen Hinter
2
könnte sich die Expansion eines Tages grundstrahlung mit dem Weltraum
umkehren und das Universum auf einen teleskop WMAP und die Entwicklung
1
Punkt zusammenschrumpfen (orange- von Galaxienhaufen. »Diese Ergebnisse
farbene Kurve). Heute favorisieren haben unsere Schlussfolgerungen aus
0 Kosmologen die Hypothese, dass sich den Supernova-Beobachtungen ent
–10 heute 10 20 30
Milliarden Jahre das Universum bis in alle Ewigkeit scheidend unterstützt«, so Leibundgut.
beschleunigt ausdehnt (rote Kurve). Manche Physiker führen die Dunkle
Energie auf eine Eigenschaft des Vaku
ums zurück. Denn der Quantentheorie
seit dem Urknall entwickelt hat, müs nis bereits abzeichnete, blieb Perlmutter zufolge entstehen auch im leeren Raum
sen die Forscher möglichst viele Super mit seinen Schlussfolgerungen damals unablässig so genannte virtuelle Teil
novae vom Typ Ia in unterschiedlichen noch vorsichtig. chen und verschwinden nach Bruchtei
Entfernungen finden und deren Hellig Sein Verfahren funktionierte aber so len einer Sekunde wieder. Mit diesem
keiten bestimmen. Dann kommt ein gut, dass Brian P. Schmidt von der Aus Phänomen ist wiederum eine so ge
zweites Phänomen ins Spiel. Wegen der tralian National University in Weston nannte Vakuumenergie verbunden.
Expansion des Raums dehnt sich die Creek und Adam G. Riess, der an der Deren Abschätzung führt allerdings zu
Wellenlänge des Lichts einer Supernova Johns Hopkins University und dem einem Wert, der um mehr als 100 Zeh
auf seiner Reise zur Erde. Diese so ge Space Telescope Science Institute in nerpotenzen über der tatsächlichen
nannte Rotverschiebung nimmt mit Baltimore forscht, 1994 ein ähnliches Größe der Dunklen Energie liegt – die
der Distanz zu, denn je weiter eine Su Projekt mit dem Namen High-Redshift wohl größte bekannte Unstimmigkeit
pernova entfernt ist, desto stärker hat Supernova Search starteten. Im Früh in der gesamten Physik.
sich das Universum zwischen dem Aus jahr 1998 reichte die Gruppe um Riess Manche Theoretiker machen auch
senden des Lichts und dessen Ankunft und Schmidt eine Veröffentlichung auf Energiefelder verantwortlich, die Bruch
bei uns vergrößert. der Basis von 16 Supernovae ein, Perl teile von Sekunden nach dem Urknall
Hätte sich das Universum seit dem mutters Team folgte im September und entstanden sein könnten. Schon da
Urknall mit konstanter Geschwindig präsentierte die Auswertung von 42 Su mals war es zu einer kurzen Phase ex
keit ausgedehnt, so würde die schein pernovae. Beide Gruppen waren zum trem stark beschleunigter Expansion
bare Helligkeit der Supernovae Hand in selben Ergebnis gekommen: Die Hellig gekommen.
Hand mit dem Wert der Rotverschie keiten der Objekte lagen um bis zu 25 »Überzeugend sind diese Vorschläge
bung gehen. Tatsächlich aber erschie Prozent unter dem erwarteten Wert. aber alle nicht«, sagt Norbert Strau
nen die Sternexplosionen schwächer, mann, emeritierter Professor für theo
als es die Rotverschiebung erwarten Wie Wasserdampf retische Physik der Universität Zürich.
ließ, waren also weiter entfernt. Daraus im Kessel »Die Dunkle Energie«, meint der pro
wiederum folgerten die Kosmologen: Nach heutigem Wissen bremste die funde Kenner der Relativitätstheorie,
Die Ausdehnung des Universums muss Materie die Ausdehnung des Raums »ist eines der grundlegenden Probleme
sich im Lauf der Zeit beschleunigen. zunächsttatsächlich. Nach einigen Mil der modernen Physik.« Auch dieser
Perlmutters Projekt war sehr auf liarden Jahren, etwa der Hälfte des heu Umstand trug wohl zur Entscheidung
wändig, denn Supernovae sind selten. tigen Weltalters, setzte jedoch eine Be des Nobelkomitees bei.
Pro Jahrtausend treten in einer durch schleunigung ein, und seitdem expan Wenige Stunden nach der Preisver
schnittlichen Galaxie nur wenige davon diert das Universum mit wachsender kündung empfahl das Wissenschaftsko
auf. Außerdem musste das Team die Ex Geschwindigkeit. mitee der Europäischen Weltraumorga
plosion ab einem möglichst frühen Zeit Statt von einer kosmologischen Kon nisation ESA übrigens den Bau eines
punkt vermessen. Es lichtete darum mit stanten sprechen Forscher heute allge neuen Weltraumteleskops: Euclid. 2019
einem Teleskop jede Nacht ein großes meiner von Dunkler Energie. Wie Was soll es ins All starten und dann aus
Himmelsfeld ab, in dem sich mehrere serdampf in einem Kessel treibe sie das schließlich der Erforschung der Dunk
tausend Galaxien befanden, und hoffte Universum auseinander. »Bis heute ha len Energie dienen.
auf Zufallsfunde. Auf diese Weise ent ben wir mehr als 1000 Supernovae ver
deckten die Forscher bis 1994 sieben Su messen, und alle bestätigen das ur Thomas Bührke ist promovierter Astrophysiker.
pernovae. Obwohl sich in diesen weni sprüngliche Ergebnis«, fasst der Astro Seit 1990 arbeitet er als freier Wissenschafts-
gen Messdaten das unglaubliche Ergeb physiker Bruno Leibundgut von der journalist und Buchautor.
Université de Strasbourg
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forschung aktuell
getestet und
*von Lehrer n be 38/2011
e: W&V, Ausga
benotet. Qu ell
mann und Beutler haben damit nicht Wirkverstärker von Impfstoffen. Umge dritischen Zellen sitzen, die mit ihrer
nur maßgeblich zu einem besseren kehrt ist es denkbar, durch geeignete Hilfe feindliche Strukturen erkennen.
Verständnis der angeborenen Immun Hemmstoffe die Immunreaktion zu »Das zeigt einmal mehr die zentrale
antwort beigetragen. Ihre Entdeckung dämpfen, etwa um einen septischen Rolle dieser Zellen, die quasi an der
ebnet auch neue Wege zur Behandlung Schock zu verhindern – oder wenn sich Schnittstelle zwischen angeborener
des septischen Schocks und anderer das Verteidigungssystem im Fall einer und erworbener Immunantwort sit
Krankheiten. So lässt sich mit Substan Autoimmunerkrankung gegen körper zen«, betont Schuler.
zen, die TLR-Moleküle aktivieren, die eigene Zellen richtet.
körpereigene Abwehr ankurbeln. Nach Da überrascht es kaum, dass Toll- Stefanie Reinberger ist promovierte Biologin
diesem Prinzip funktionieren etwa ähnliche Rezeptoren auch auf den den und freie Wissenschaftsjournalistin in Köln.
trugen. Dem israelischen Physiker war halb sagt man, das Hexagon weise eine
1982 der Nachweis gelungen, dass es sechszählige Drehsymmetrie auf. Die
Kristalle gibt, in denen die Atome nicht gleiche Symmetrie findet sich auch in
periodisch, aber trotzdem regelmäßig einem daraus aufgebauten Fliesenmus
angeordnet sind und die deshalb »ver ter. Hingegen kann, da kein flächen
botene« Symmetrien aufweisen. Was deckendes Mosaik aus regelmäßigen
das heißt, kann ein Exkurs ins heimi Fünfecken möglich ist, dessen fünfzäh
Technion, Haifa
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forschung aktuell
Mackay fragte sich, ob es vielleicht hartnäckigsten Kritiker war der be Anordnungen von Atomen enthält, die
auch entsprechende aperiodische An rühmte Altvater der Quanten- und jeweils eine fünfzählige Drehsymmet
ordnungen von Atomen im Raum gibt. Strukturchemie sowie zweifache No rie aufweisen.
Er nahm ein Penrose-Mosaik, stanzte belpreisträger Linus Pauling (1901 – Quasikristalle sind aber nicht nur
an den Ecken der Rauten kleine Löcher 1994) –, nahm doch eine Reihe von Kris theoretisch faszinierende Exoten, wel
hinein und benutzte es als Beugungs tallografen die unerhörte Neuigkeit che die Grundfesten der Kristallografie
gitter. Beim Bestrahlen mit Laserlicht ernst. Einige erinnerten sich, selbst erschütterten. Sie zeichnen sich auch
erzeugte dieses Gitter ein Muster aus schon Beugungsbilder mit verbotenen durch besondere Materialeigenschaf
Lichtpunkten, die in Form regelmäßi Symmetrien erhalten und als ver ten aus, die sie für technische Anwen
ger Zehnecke angeordnet waren. meintlichen Hinweis auf Kristallzwil dungen interessant machen. So sind sie
Als Steinhardt das Manuskript von linge verworfen zu haben. ungewöhnlich hart, spröde und korro
Shechtman las, erkannte er den Zusam Andere Forscher machten sich ge sionsbeständig. Der robuste, hochfeste
menhang zwischen dessen Beugungs zielt auf die Suche nach weiteren Qua Stahl eines schwedischen Unterneh
bild und dem von Mackay. Gemeinsam sikristallen – und waren erfolgreich mens besteht, wie sich zeigte, aus har
mit dem Festkörperphysiker Dov Le (Spektrum der Wissenschaft 10/1986, S. ten Quasikristallen, die in einen wei
vine, der damals an der University of 74). Inzwischen sind mehrere hundert cheren Eisentyp eingebettet sind. Er
Pennsylvania promovierte, entwickelte bekannt. Auch über die Grundprinzipi wird unter anderem für Rasierklingen
er ein dreidimensionales Gegenstück en ihres inneren Aufbaus gab es bald verwendet. Quasikristalle leiten zudem
des Penrose-Mosaiks und berechnete ziemlich genaue Vorstellungen (Spek Wärme und elektrischen Strom nur
dessen Beugungsmuster. Es hatte gro trum der Wissenschaft 6/1991, S. 48). schlecht und haben nichthaftende
ße Ähnlichkeit mit dem von Shecht Oberflächen. Auch das verleiht ihnen
man gefundenen – insbesondere zeigte Besondere Materialeigenschaften Potenzial für viele Anwendungen.
es ebenfalls eine zehnzählige Drehsym Waren es anfangs ausschließlich künst Nach neuesten Erkenntnissen kön
metrie. In ihrer Publikation prägten liche Materialien, welche die verbote nen Quasikristalle ihre ungewöhnliche
Steinhardt und Levine für die neue nen Symmetrien zeigten, so berichte Struktur sogar anderen Materialien wie
Stoffklasse die bis heute gängige Be ten Forscher 2009 erstmals über einen etwa Blei aufprägen, wenn diese auf
zeichnung Quasikristall. natürlich vorkommenden Quasikris ihrer Oberfläche abgeschieden werden.
Diese Veröffentlichung erschien nur tall. Er stammte aus einem Flussbett in Davon erhoffen sich Wissenschaftler
wenige Wochen nach der von Shecht den Koryakbergen auf der Halbinsel wie der Physiker Clemens Bechinger
man, und beide zusammen schlugen Kamtschatka in Ostsibirien und be von der Universität Stuttgart ganz neu
gewaltige Wellen (Spektrum der Wis stand aus Aluminium, Kupfer und Ei artige Varianten altbekannter Werkstof
senschaft 4/1985, S. 24). Obwohl die sen. Das neue Mineral erhielt den Na fe mit wertvollen Eigenschaften. Wie
Skepsis weiterhin überwog – einer der men Ikosaedrit, weil es ikosaedrische stark die atomare Struktur die Eigen
D er diesjährige Wirtschaftsnobel
preis ehrt nicht nur zwei heraus
ragende Ökonomen; er ist auch Balsam
intensiv mit der Frage auseinanderge
setzt, wie die Auswirkungen eines
schockartigen Ereignisses – Beispiel:
1970er Jahren vorherrschten und da
mals unter Beschuss von vielen Seiten
gerieten, weil sie, so der Kern der zahl
für die ganze Profession. Denn just das das Platzen einer Immobilienpreisbla reichen Einwände, von falschen Voraus
Fachgebiet der Preisträger, die empiri se – auf die Wirtschaftsaktivität unter setzungen ausgingen. Erstens unter
sche Makroökonomie, hatte wegen der sucht werden können. Sargent und stellten sie Kausalbeziehungen, die
jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise Sims haben auf diesem Gebiet wegwei nicht empirisch überprüft, sondern im
heftige Kritik einstecken müssen. Ihre sende Arbeiten geleistet. Wesentlichen aus der ökonomischen
Vertreter beschränken sich nicht da Beide Preisträger setzten den Aus Theorie übernommen worden waren;
rauf, die gesamtwirtschaftliche Ent gangspunkt ihrer Untersuchung in der damit beschäftigte sich Christopher A.
wicklung zu beschreiben und Ursache- Auseinandersetzung mit den makro Sims. Zweitens vernachlässigten die
Wirkungs-Beziehungen zu quantifizie ökonomischen Modellen, die in den Standardmodelle, wie die Wirtschafts
ren; sie erstellen auch Prognosen und
leiten daraus Empfehlungen für die
Geld- und Fiskalpolitik ab. Da hätten sie Ein mathematisches Modell versucht, beobachtete Größen, die »Variablen«, zum
doch die Immobilienpreisblase recht Beispiel Lohnniveau oder Arbeitslosigkeit, durch mathematische Funktionen wie
zeitig erkennen und die Folgen ihres derzugeben. Diese Funktionen enthalten gewisse noch unbestimmte Zahlen, die
Platzens richtig einschätzen sollen, lau »Parameter«. Diese sind so zu wählen, dass die vom Modell errechneten Werte der
teten die Hauptvorwürfe. Variablen den tatsächlich beobachteten nahekommen. Gelingt dies, so sagt man,
In der Tat haben sich die Makro das Modell »erkläre« den realen Prozess.
ökonomen in den letzten Jahrzehnten
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ben. Diese Annahme war auch weniger
durch die Realität motiviert als da
Ein VAR-Modell im Einsatz durch, dass man mit ihr besser rechnen
Wie wird sich eine überraschende Zinserhöhung durch die Notenbank in den USA kann. Wer sie fallen lässt, muss nicht
auf die Gesamtwirtschaft auswirken? nur die tatsächliche, sondern auch die
James H. Stock von der Harvard University und Mark W. Watson von der Princeton erwartete Wachstumsrate als Parame
University haben ein VAR-Modell mit den Variablen Inflationsrate, Arbeitslosen ter ins Modell einführen – eine noch zu
quote und Notenbankzins erstellt und dessen Parameter anhand echter Wirt bestimmende Unbekannte mehr, mit
schaftsdaten geschätzt (»Vector Autoregressions«, Journal of Economic Perspecti allen dazugehörigen Unsicherheiten.
ves 15, S. 101 – 115, 2001). Dann setzten sie als Anfangswerte (für t = 0) reale Daten für Mit oder ohne rationale Erwartun
Inflationsrate und Arbeitslosigkeit und einen um einen Prozentpunkt erhöhten gen: Die neue Klasse von Makromodel
Wert für den Notenbankzins. Deren Werte für die folgenden Zeiten t = 1, 2, 3, … be len überforderte die herkömmlichen
rechneten sie durch Anwendung der Modellgleichungen. statistischen Verfahren. Es war nicht
möglich, deren Parameter durch Ab
0,3 Prozent 0,25 Prozent gleich mit der Realität zu bestimmen
0,2 0,20 und die Brauchbarkeit dieser Parame
0,1 0,15 terschätzung zu quantifizieren. Neue
Quartale 0,10
5 10 15 20
Methoden, die das leisten, musste Sar
– 0,1 0,05 gent erst entwickeln.
– 0,2 5 10 15 20 Im Nachhinein konnte er damit
–0,05 Quartale
–0,3 auch die – von etlichen Fachkollegen
heftig kritisierte – Annahme rationaler
Ergebnis: Die Inflationsrate (links) steigt nach einer Zinsanhebung kurzfristig an, Erwartungen hinterfragen, mit dem
ist aber nach acht Quartalen deutlich niedriger als ohne Zinserhöhung. Die Ar Ergebnis, dass die Beobachtungen die
beitslosenquote (rechts) reagiert auf die Zinserhöhung um drei Quartale verzö se zumindest nicht eindeutig bestäti
gert mit einem Anstieg, der erst nach vier Jahren abklingt. Dargestellt ist jeweils gen. So ist zwar die Überlegung sehr
der Unterschied zwischen den Werten mit und ohne Zinserhöhung (rote Kurve) plausibel, Haushalte würden in Erwar
sowie ein Konfidenzintervall von einer Standardabweichung nach oben wie nach tung einer zukünftigen Steuererhö
unten (graues Feld). Unter realen Umständen wäre die Wahrscheinlichkeit, dass hung bereits heute ihre Konsum- und
die tatsächlichen Werte in dieses Intervall fallen, 66 Prozent. Sparpläne anpassen. Wenn man aber
der Theorie entsprechend unterstellt,
Spektrum der Wissenschaft, nach: James H. Stock und Mark W. Watson
dass sie dies ohne Zeitverzögerung
akteure ihre Erwartungen bilden – ein die Wirtschaftsakteure Informationen und im richtigen Umfang tun, so erge
zentraler Aspekt wirtschaftlichen Han über die Zukunft sammeln, sie bei der ben sich für wichtige gesamtwirt
delns; auf dieser Kritik bauen die Ar Erwartungsbildung verarbeiten – und schaftliche Größen wie den privaten
beiten von Thomas J. Sargent auf. dabei keine systematischen Fehler Konsum Werte, die mit den Beobach
Dass Erwartungen bei ökonomi machen. Das heißt zum Beispiel: tungen nicht übereinstimmen. Sar
schen Entscheidungen eine wichtige Möglicherweise überschätzen einzelne gent und Sims haben deshalb die The
Rolle spielen, ist unumstritten. Unter Haushalte die wirtschaftliche Wachs orie rationaler Erwartungen modifi
nehmen investieren in zusätzliche Pro tumsrate und damit die (Real-)Zins ziert, indem sie unterstellten, dass die
duktionsanlagen, weil sie damit rech sätze der Zukunft, sparen deswegen in Wirtschaftsakteure die verfügbare In
nen, in Zukunft mehr Produkte ab der Gegenwart mehr und konsumieren formation nur unvollständig und mit
setzen zu können. Haushalte sparen, weniger, als ihren Interessen ent zeitlicher Verzögerung zur Kenntnis
weil sie glauben, dass ihnen das, was sie spricht; aber Fehler dieser Art sollen nehmen und verarbeiten.
später vom Ersparten anschaffen kön sich über die große Zahl der Haushalte Christopher Sims hat eine andere
nen, mehr bringen wird als ein Konsum herausmitteln. Schwäche aufgegriffen, unter der die
heute. Aber wie bilden Haushalte und Modelle der 1970er Jahre litten: die Viel
Unternehmen ihre Erwartungen? Grei Wie weise ist der Durchschnitt? zahl von Kausalbeziehungen, die aus
fen sie nur auf Erfahrungen aus der Damit ist der Ökonom zwar nicht zu theoretischen Überlegungen übernom
Vergangenheit zurück, oder versuchen der völlig unrealistischen Annahme ge men, empirisch aber nicht überprüft
sie anhand aktueller Informationen nötigt, dass jeder einzelne Akteur über wurden. Seine Lösung ist einfach und
eine bessere Prognose zu finden? sehr gute Prognosefähigkeiten verfügt, so vielseitig anwendbar, dass sie die
Die Theorie der rationalen Erwar aber er muss eine solche Fähigkeit – meisten Klassen makroökonomischer
tungen, zu deren Vertretern Sargent kaum weniger problematisch – dem Modelle umfasst, jene mit rationalen
und Sims gehören, unterstellt, dass durchschnittlichen Akteur zuschrei Erwartungen eingeschlossen.
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Ist der Embryo Natur oder Kultur? schlimmer ausgefallen. Es traf sich
günstig, dass der amerikanische Noten
Zum Gerichtsurteil gegen Patente auf menschliche Stammzellen bankchef Ben Bernanke sich in seinem
wissenschaftlichen Leben intensiv mit
A
ls Doktorand an der Harvard University in Cam- Diese Entdeckung könnte Menschen mit Störungen der in-
bridge (Massachusetts) züchtete der angehende neren Uhr helfen. Solche Beeinträchtigungen wirken sich oft
Genetiker Clyde E. Keeler (1900 – 1994) in seiner auf die Psyche, die Konzentrationsfähigkeit und die Gesund-
Studentenbude Mitte der 1920er Jahre Mäuse. heit aus, wie sich an Leuten zeigt, die nachts arbeiten müs-
Merkwürdigerweise war sämtlicher Nachwuchs völlig blind. sen. Mediziner nehmen an, dass Nachtarbeit auf Dauer Herz-
Doch noch mehr wunderte Keeler, dass sich die Pupillen dieser Kreislauf-Erkrankungen und Magen-Darm-Probleme hervor-
Tiere trotzdem zusammenzogen, wenn er das Licht anmachte. rufen kann sowie das Risiko für Krebs beziehungsweise das
Der Pupillenreflex war nur langsamer als bei den Eltern. metabolische Syndrom erhöht, das die Gefahr für Altersdia-
Erst Jahrzehnte später kamen andere Forscher der Sa- betes, Herzinfarkt oder Schlaganfall steigert.
che auf die Spur. Sie beobachteten, dass Mäuse ihre innere
Uhr, den zirkadianen Rhythmus, auch dann an vorgegebene Nächtliche Katastrophen
Licht-Dunkel-Verhältnisse anglichen, wenn ihre Netzhaut Wie stark wir vom Tagesrhythmus und vor allem vom Licht
(Retina) auf Grund genetischer Eingriffe keine Stäbchen und abhängen, zeigen die vielen Bewohner des hohen Nordens,
Zapfen aufwies. Obwohl ihnen also die Sinneszellen – Licht- die im Winter teils schwerste Depressionen bekommen. Auch
rezeptoren – zum Sehen von Bildern fehlten, folgten Aktivi- geschahen einige besonders spektakuläre Unfälle der Indus
täts- und Schlafmuster, Körpertemperatur und Hormonaus- triegeschichte nachts, so 1989 die Havarie des Öltankers
schüttung dem normalen Tag-Nacht-Rhythmus. Dies ging erst Exxon Valdez, durch die weite Küstenabschnitte Alaskas ver-
verloren, wenn man den Tieren die Augen herausoperierte. seucht wurden, oder 1984 die Chemiekatastrophe von Bho-
Ähnlich scheint es sich bei vielen Säugern und offensicht- pal in Indien, die tausende Menschenleben und bis zu einer
lich auch bei manchen blinden Menschen zu verhalten. Nach halben Million auf Dauer schwer Geschädigter forderte.
neueren Untersuchungen können einige Blinde ihre innere Lichtempfindliche Organe, die keine Bilder vermitteln,
Uhr an den Tag-Nacht-Wechsel anpassen, und ihre Pupillen sondern nur Hell und Dunkel, kennen Biologen schon länger
reagieren auf Licht. von verschiedenen Organismen. Manch ein Tier spürt damit,
Wie das zu erklären sei, war Sinnesphysiologen allerdings dass ihm plötzlich die Deckung fehlt. Schnellstens sucht es
lange unklar. Konnten im Auge denn außer Stäbchen und sich wieder in Sicherheit zu bringen, sei es vor einem Raub-
Zapfen überhaupt noch andere Sinneszellen existieren, die feind oder vor schädlicher UV-Strahlung. Diverse Arten kön-
alle Forscher bisher übersehen hatten? Kaum ein anderes Ge- nen sich mit Hilfe solcher Wahrnehmung auch tarnen, in-
webe des Körpers ist schließlich so eingehend und detailliert dem sie ihr Aussehen der Umgebung angleichen. Sehen im
untersucht wie die Netzhaut. landläufigen Sinn müssen die Tiere dafür nicht können.
Doch laut Studien der letzten Jahre gibt es im Säugerauge – Schon der österreichische Zoologe und spätere Nobelpreis-
auch bei Menschen – zusätzlich spezialisierte Lichtrezepto- träger Karl von Frisch (1886 – 1982) bemerkte 1911, dass au-
ren, die am Sehen von Bildern nicht beteiligt sind. Diese Sin- genlose Elritzen auf helles Licht mit Dunkelwerden reagier-
neszellen verwenden zur Lichtperzeption sogar andere Mo- ten. Beschädigte man ihr Stammhirn, konnten sie das nicht
Gallery Stock / Christian Weber
leküle als die Stäbchen und Zapfen. Zudem stehen sie mit mehr. Von Frisch vermutete deshalb, sie besäßen dort spezi-
anderen Hirngebieten in Verbindung als die klassischen Foto- elle – nichtvisuelle – Lichtrezeptoren.
rezeptoren. In gewisser Weise vereint das Auge zwei Sinnes- Solche Zellen nur zur reinen Lichtwahrnehmung haben
organe in einem, so wie auch das Innenohr einerseits das offenbar viele Tiere. Wie etwa Michael Menaker, damals an
Hörorgan, andererseits das Gleichgewichtsorgan enthält. der University of Texas in Austin, Anfang der 1970er Jahre
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nachwies, stellen Sperlinge ihre innere Uhr auch dann noch sie. Kannten Anatomen und Physiologen die Sehzellen der
korrekt nach dem Hell-Dunkel-Wechsel ein, wenn sie keine Netzhaut nicht seit Mitte der 1850er Jahre? Es erschien da
Augen mehr haben. Dies ermöglichen, wie sich später ergab, rum undenkbar, dass sämtliche Experten irgendwelche an-
lichtempfindliche Zellen im Gehirn. Dorthin gelangt durch deren lichtempfindlichen Zellen 150 Jahren lang übersehen
Federn, Haut und Schädel erstaunlich viel Licht. haben sollten.
Keelers Beobachtungen an seinen Mäusen ließen die Biolo- Doch am Ende behielt Foster recht. Zu der Einsicht trugen
gen rätseln, ob es wohl auch bei Säugern irgendwelche beson- Forschungen bei, die Mark D. Rollag und ich seit Mitte der
deren Lichtsensoren gibt. Nur konnten sie sich nicht vorstel- 1990er Jahre an der Uniformed Services University of the
len, dass solche Zellen im Auge sitzen. Dazu war die Netzhaut Health Sciences in Bethesda, Maryland, durchführten. Rollag
anatomisch bereits viel zu gründlich erforscht. Erst in den interessierte sich damals für einen speziellen Tarnmechanis-
frühen 1980er Jahren brachten Arbeiten von Randy J. Nelson mus von Amphibien. Pigmentzellen im Schwanz von Kaul-
und Irving Zucker von der University of California in Berkeley quappen, Melanozyten oder Melanophoren genannt, wer-
diese Überzeugung ins Wanken. Die Forscher wiesen nach, den bei Licht schnell dunkler – eine Schutzreaktion der Tiere,
dass augenlose Mäuse ihre innere Uhr nicht mehr an die äu- die nicht über die Sehzellen im Auge läuft, sondern über die
ßeren Tag-Nacht-Verhältnisse angleichen können. Enthielten Melanophoren in der Haut selbst. Das geschieht sogar dann
die Augen der Nager etwa doch besondere Lichtsensoren? noch, wenn man diese Zellen in eine Kulturschale bringt. In
Menaker, inzwischen an der University of Oregon in Eu den kultivierten Pigmentzellen entdeckten wir ein bisher un-
gene, ging dieser Frage zusammen mit Joseph Takahashi und bekanntes Protein. Weil es verblüffend den Opsinen gleicht,
David Hudson nach. Sie testeten Mäuse, die auf Grund einer jenen Proteinen, die Stäbchen und Zapfen als Fotopigmente
Mutation keine funktionsfähigen Stäbchen und Zapfen aus- verwenden, nannten wir es Melanopsin.
bildeten oder allenfalls nur ganz wenige, kaum aktive Zap-
fen. Die Forscher wollten prüfen, ob ein Auge, das keine Bil- Überraschung in den retinalen Ganglienzellen
der erfassen kann, dennoch Lichteindrücke vermittelt. Zu ih- Wegen seiner Ähnlichkeit mit den bekannten Opsinen ver-
rer Überraschung war das tatsächlich der Fall: Diese blinden muteten wir, das neue Protein könnte die Hautdunkelung
Mäuse waren wie ihre sehenden Artgenossen nachtaktiv und mit einer molekularen Reaktion auf Licht einleiten. Neugie-
schliefen tagsüber meist, nahmen also offenbar Licht wahr. rig geworden forschten wir weiter, ob Melanopsin vielleicht
Immerhin erschien es zunächst möglich, dass die paar auch in anderen lichtsensitiven Zellen vorkommt. Zunächst
mickrigen restlichen Zapfen diese Synchronisation noch leis- prüften wir verschiedene Gewebe von Fröschen, die bekann-
teten. Solchen Spekulationen machte jedoch Russell Foster termaßen direkt auf Licht reagieren, darunter bestimmte
1999 ein Ende, der damals am Imperial College London arbei- Hirngebiete, sowie Iris und Netzhaut. Weder Stäbchen noch
tete. Selbst an Mäusen, denen Zapfen und Stäbchen gänzlich Zapfen enthielten unseren Tests zufolge Melanopsin. Den-
fehlten, wies der Neurowissenschaftler immer noch die An- noch wiesen wir das Protein in der Retina nach – und zwar, zu
gleichung an die äußeren Hell-Dunkel-Phasen nach. Es ging unserem eigenen Erstaunen, in so genannten retinalen Gang-
also wirklich ohne die bekannten Sehzellen. lienzellen. Niemand hatte je vermutet, dass diese Nervenzel-
Das bedeutete, im Auge mussten noch andere Fotorezep- len, die die Signale der Sehzellen nach einigen Verarbeitungs-
toren vorhanden sein – eines bisher unbekannten Typs. Doch schritten durch andere Neurone dem Sehnerv zuführen,
für viele Forscher grenzte diese Folgerung geradezu an Häre- selbst lichtempfindlich sein könnten.
Die Netzhaut von Wirbeltieren besteht grob gesehen aus
auf einen blick drei Schichten von Sinnes- und Nervenzellen. Die äußerste,
im Auge hinterste Schicht enthält die Stäbchen und Zapfen,
Unser uraltes Lichtsystem die zwischen die noch weiter außen liegenden Pigmentzel-
len ragen. Die beiden Typen von Fotorezeptoren fangen das
1 Obwohl Menschen Licht ausschließlich über die Augen wahr-
nehmen, können manche Blinde ihre innere Uhr dem äußeren
Tag-Nacht-Rhythmus angleichen.
Licht auf, das zuvor die anderen Schichten passiert hat, und
liefern daraufhin den Zellen der mittleren Schicht Signale.
Deren verschiedene Zelltypen verarbeiten die Information
2 Die Netzhaut enthält neben den bekannten Sehzellen – den
Stäbchen und Zapfen – in einer anderen Schicht weitere, nicht-
visuelle Lichtsinneszellen. Diese spezialisierten Neurone über
weiter und übermitteln das Ergebnis den retinalen Ganglien-
zellen, aus denen die dritte, innerste Zellschicht hauptsäch-
mitteln autonom Lichtreize für die innere Uhr ans Gehirn, sind aber
auch Durchgangsstation für nichtvisuelle Signale aus den Seh lich besteht. Deren Axone – lange weiterleitende Fortsätze –
zellen. bilden den Sehnerv, der ins Gehirn führt.
Anscheinend ist nur ein ganz kleiner Anteil der retinalen
3 Die neu entdeckten Sinneszellen reagieren auf blaues Licht. Sie
scheinen zu einem alten Wahrnehmungssystem zu gehören,
das noch von wirbellosen Tieren stammt. Mit dem neuen Wissen
Ganglienzellen direkt lichtempfindlich. Die ersten Hinweise
darauf fanden meine Kollegen und ich im Jahr 2000. Bei Mäu-
wollen Forscher neue Therapien etwa gegen die Winterdepression,
manche Schlafstörungen und andere psychische oder physische sen sind es, wie wir später feststellten, etwa zwei Prozent die-
Leiden entwickeln. ser Zellen – und beim Menschen anscheinend ähnlich weni-
ge. 2002 bestätigten David M. Berson und seine Kollegen von
retinale
Ganglienzellen
Sehrinde lichtsensitive
(visueller Kortex) Ganglienzellen
Sehbahn zum Sehnerv
Netzhaut Einstellung
Sehnerv (Retina) Sehen der inneren
Uhr auf Licht/
Signal zum Dunkel
Gehirn
Stäbchen fotosensitive
und Zapfen Ganglienzellen
andere Melanopsin
Sehpigmente
Licht Licht
der Brown University in Providence (Rhode Island) unseren welche die Pupillenweite steuern. In beiden Fällen waren die
Befund experimentell. Diese Forscher hatten die Zapfen und zugehörigen retinalen Ganglienzellen genau jene, die Mela
Stäbchen im Auge von Mäusen ausgeschaltet und die me nopsin enthalten. Sämtliche Befunde besagten unseres Er-
lanopsinhaltigen Ganglienzellen mit einem Farbstoff mar- achtens letztlich dasselbe: In der Netzhaut existieren tatsäch
kiert. Dann präparierten sie die Netzhaut heraus und setzten lich fotosensitive Ganglienzellen, und diese ermöglichen es
sie Licht aus. Tatsächlich »feuerten« die markierten Gang Mäusen ohne funktionsfähige Stäbchen und Zapfen, ihre Pu-
lienzellen daraufhin Signale. Da die Stäbchen und Zapfen auf pillen bei Licht zu verengen und ihre innere Uhr dem äuße-
die Lichtreize nicht reagieren konnten, mussten die Gang ren Tag-Nacht-Rhythmus anzupassen. Nur wenn Mäuse gar
lienzellen selbst auf das Licht angesprochen haben. keine Augen haben, beziehungsweise gar keine Netzhaut und
Ergebnisse anderer Forscher stützten unsere These. So damit auch keine retinalen Ganglienzellen, können sie bei-
wiesen Samer Hattar von der Johns Hopkins University in des nicht mehr – das war die Hypothese.
Baltimore (Maryland) und seine Kollegen bei Mäusen nach, Es bedurfte nur noch eines letzten Experiments, um den
dass einige der Axone des Sehnervs in den Nucleus supra postulierten Zusammenhang zu besiegeln – so dachten wir:
chiasmaticus gelangen – jenes Hirngebiet, das die innere Uhr Man müsste Mäuse züchten, die zwar kein Melanopsin bil-
kontrolliert. Andere Axone gehen wiederum in Hirngebiete, den, weil das Gen dafür fehlt oder ausgeschaltet ist, sonst aber
www.spektrum.de 29
ganz normale Augen haben, das heißt gesunde, funktionale dass das Mäusegenom – dessen Sequenzierung gerade da-
Stäbchen und Zapfen. Solche Tiere sollten unseres Erachtens mals fertig wurde – nirgendwo weitere Gene für Fotopigmen-
unfähig sein, ihre innere Uhr auf einen Licht-Dunkel-Wechsel te aufzuweisen scheint als die bereits bekannten.
einzustellen. Aber »Wissenschaft ist eine grausame Geliebte«, So rangen wir uns schließlich zu der Hypothese durch,
wie auch wir in unserem Labor manchmal sagen. Denn die dass die drei Sinneszellsorten zusammenarbeiten: dass Stäb-
Mäuse dachten gar nicht daran, uns den erwarteten Gefallen chen, Zapfen und melanopsinbewehrte Ganglienzellen ge-
zu tun. Trotz fehlenden Melanopsins kamen sie mit dem vor- meinsam die Lichtreaktionen zu Wege bringen. Nun züchte-
gegebenen Tag-Nacht-Rhythmus einigermaßen zurecht. ten wir Mäuse ohne Stäbchen und Zapfen, die auch kein Me-
Was war der Grund? Zuerst überlegten wir, ob sich viel- lanopsin bildeten. Diese Tiere bemerkten offenbar keinerlei
leicht sogar noch ein anderer bisher unentdeckter Lichtre- Lichtreize mehr, und auch ihre innere Uhr stellte sich nicht
zeptor irgendwo in der Netzhaut versteckte. Diese These ver- auf Hell-Dunkel-Rhythmen ein. Sie waren anscheinend kom-
warfen wir aber bald. Als stärkstes Gegenargument zählte, plett blind, als ob sie gar keine Augen besäßen.
➊ ➋ ➌ ➍ ➎ ➏
retinale Gang-.
lienzelle
lichtsensitive
retinale Gang-
lienzelle mit
Melanopsin
Die
Ganglienzellen keine Stäbchen betreffenden
Stäbchen und keine Augen / bilden kein und Zapfen, kein Ganglienzellen
Experiment Netzhaut normal Zapfen fallen aus keine Netzhaut Melanopsin Melanopsin fehlen komplett.
Sehfähigkeit?
Synchronisation
mit teils
Lichtrhythmus?
Folgerung
Funktionen Stäbchen und Augen für Licht- Melanopsin ist Eines von beidem Die betreffenden
normal Zapfen für Licht- synchronisation beteiligt, aber ist erforderlich. Ganglienzellen sind
synchronisation erforderlich nicht unbedingt immer nötig,
nicht erforderlich erforderlich. Melanopsin aber
nicht.
Kaulquappe: Getty images / Kim Taylor und Jane Burton; Sperling: Getty images / Cyril Laubscher; maus: Getty Images / Dorling Kindersley
In den nächsten Jahren wurde allmählich klarer, wie das das nicht dem Bildsehen dient, sondern rein der Helligkeits-
alles zusammenhängt. Anscheinend stellen die lichtsensiti- wahrnehmung. Die Netzhaut beherbergt folglich den einfa-
ven Ganglienzellen auch die Durchgangsstation für nichtvi- cheren alten Sinnesapparat neben der modernen Version für
suelle Lichtinformationen dar, die von den regulären Sehzel- strukturiertes Sehen der Umgebung.
len kommen (siehe Schema rechts unten im Kasten S. 29). Die Entdeckung dieses bisher unbekannten Sinnessys-
tems könnte auch von medizinischem Nutzen sein, weist es
Wann die innere Uhr verloren geht – und wann nicht doch auf bisher unbekannte Zusammenhänge gesunder Au-
Drei Forscherteams, darunter meinem, gelang es 2008, bei gen mit der psychischen Verfassung hin. Da es von blauem
Mäusen ganz gezielt allein die lichtempfindlichen Ganglien- Licht angeregt wird, lassen sich damit möglicherweise Men-
zellen abzutöten, also nicht nur die Produktion von Mela schen behandeln, die unter Jetlag, Winterdepression oder
nopsin zu verhindern. Sehen konnten diese Nager gut, aber Schlafstörungen leiden. Vermutlich helfen die heute in sol-
ihre Pupillen reagierten schlecht auf Lichteinfall, und sie chen Fällen bereits gern angewendeten Lichttherapien eben
brachten oft Tag und Nacht durcheinander (letzte Spalte im deswegen, weil die lichtsensitiven retinalen Ganglienzellen
Kasten links). Das bedeutet: Für die nichtvisuellen Licht dabei aktiv werden. Blinde Kinder, bei denen diese Neurone
reaktionen sind diese Ganglienzellen unbedingt erforder- etwa wegen eines Glaukoms defekt sind, scheinen eher unter
lich, auch wenn sie selbst wegen eines Gendefekts nicht als Schlafstörungen zu leiden als Kinder, die aus anderen Grün-
Detektoren funktionieren. Somit ist das System redundant den nicht sehen können. Mit den neu entdeckten lichtsensi-
aufgebaut: Die melanopsinhaltigen Zellen können einerseits tiven Zellen der Netzhaut im Blick ließen sich für eine Rei-
selbst das Licht erfassen oder andererseits solche Informa he von Gesundheitsbeschwerden, aber auch Augendefekten
tionen der Zapfen und Stäbchen weitergeben – oder beides ganz neue Therapien entwickeln. Ÿ
zusammen.
Nach dem gleichen Prinzip könnte das System auch beim der autor
Menschen funktionieren, worauf einige Befunde hindeuten.
Ignacio Provencio hat an der University of
2007 veröffentlichten Foster und seine Kollegen eine Studie
Virginia in Charlottesville eine Biologieprofessur.
über zwei Blinde, die keine funktionsfähigen Stäbchen und Für die Neurowissenschaften begann er sich
Zapfen besaßen. Deren innere Uhr stellte sich auf einen mit als Student von Jon Copeland am Swarthmore
blauem Licht vorgegebenen Rhythmus ein. Das funktionier- College (Philadelphia) zu interessieren, wo er an
Glühwürmchen, Kakerlaken und Krebsen
te am besten, wenn dieses Licht genau den Wellenlängenbe- forschte.
reich aufwies, auf den Melanopsin anspricht, was wir zusam-
men mit Bersons Arbeitsgruppe herausgefunden hatten. quellen
Für noch interessanter halten wir folgende Entdeckung
unseres Teams: Wenn man das Melanopsin in einer Zelle mit Berson, D. M. et al.: Phototransduction by Retinal Ganglion
Cells That Set the Circadian Clock. In: Science 295, S. 1070 – 1073,
Licht stimuliert, stößt dies in der Zelle eine bestimmte Sig- 2002
nalkaskade an. Und diese biochemische Reaktionsfolge äh- Do, M. T. H., Yau, K.-W.: Intrinsically Photosensitive Retinal Ganglion
nelt mehr den Vorgängen in Fotorezeptorzellen von Fliegen Cells. In: Physiological Reviews 90, S. 1547 – 1581, 2010
Provencio, I. et al.: Melanopsin: An Opsin in Melanophores, Brain
und Tintenfischen als den Signalkaskaden in Zapfen oder and Eye. In: Proceedings of the National Academy of Sciences USA
Stäbchen eines Säugerauges. 95, S. 340 – 345, 1998
Allzu sehr überraschte uns das nicht. Denn wir wussten
seit Jahren, dass die genetische Sequenz für Melanopsin stär- Weblink
ker an die von Fotopigmenten wirbelloser Tiere erinnert als Diesen Artikel sowie weiterführende Informationen finden Sie im
an die Sequenzen bei Wirbeltieren. Es sieht so aus, als ob hier Internet: www.spektrum.de/artikel/1125585
ein altes, urtümliches lichtempfindliches System vorliegt,
www.spektrum.de 31
Planetenforschung
Dem Mars
auf die Pelle gerückt
In diesen Wochen will das Mars Science Laboratory an die Erfolge der Marssonde Phoenix
anknüpfen. 2008 hatte sie Hinweise darauf gefunden, dass der Rote Planet vielleicht
doch nicht so lebensfeindlich ist wie lange gedacht. Der Phoenix-Chefwissenschaftler
berichtet über Herausforderungen und Überraschungen bei interplanetaten Missionen.
Von Peter H. Smith
A
m 25. November öffnet sich drei Wochen lang ein ser noch organische Moleküle und schon gar keine Mikroben
Startfenster für das Mars Science Laboratory. Die entdecken ließen. Starke Oxidationsmittel wie Wasserstoff-
Sonde führt den leistungsfähigsten Rover aller peroxid und die intensive ultraviolette Strahlung aus dem
Zeiten mit sich: »Curiosity« (englisch für Neugier). Weltraum hatten die Oberfläche sterilisiert.
Mit dem ferngesteuerten Erkundungsfahrzeug (siehe Kasten Doch der Phoenix hat unsere Hoffnungen wiederaufle-
auf S. 35) will die US-Weltraumbehörde NASA den Marskrater ben lassen. Möglicherweise, so lassen sich seine Daten aus
Gale untersuchen. Dieser ist eine der reichsten Lagerstätten dem Jahr 2008 interpretieren, fand Viking nur deshalb keine
des Roten Planeten für Tonerde und Sulfatverbindungen – organischen Moleküle, weil die Sonde selbst die Proben un-
Überbleibsel einer Epoche, in der auf dem Mars noch Wasser brauchbar machte. Phoenix bestätigte außerdem, dass dicht
floss und im Lauf der Zeit tiefe Täler in den Boden grub. unter der Marsoberfläche Wassereis existiert. Unser Nach-
Ein Marsjahr lang, das sind 687 Tage, wird der autogroße barplanet ist also keineswegs staubtrocken. Vielleicht ist er
Rover seine Umgebung erkunden. Seine Fahrt beginnt auf sogar noch immer lebensfreundlich.
dem Grund des Kraters und führt dort über uraltes Gestein. Das Mars Science Laboratory führt konsequent die Missi-
Falls die NASA die Mission über das erste Jahr hinaus verlän- onen der vergangenen 15 Jahre fort, bei denen Sonden auf der
gert, wird Curiosity beginnen, den fünf Kilometer hohen Marsoberfläche landeten. Gemeinsam mit einer Reihe von
Zentralberg zu erklimmen und dabei allmählich auf immer Satelliten, die in einen Orbit um den Planeten geschickt wur-
jüngere Ablagerungen stoßen. Mit einem Roboterarm nimmt den, haben sie eine Welt bemerkenswerter Komplexität ent-
der Rover Proben davon auf und befördert sie in sein Bord hüllt. Auf dem Mars breiteten sich einst Seen aus, und es hin-
labor, das sie analysiert und vor allem auch organische Be- gen Regenwolken über seinen Landschaften (siehe »Wasser
standteile aufspüren kann. auf dem frühen Mars«, SdW 2/2007, S. 22). Über der Region
Dass wir überhaupt wieder nach Leben auf dem Mars su- Nili Fossae haben die Forscher sogar Hinweise auf Methan-
chen, haben wir vor allem der Mission Phoenix zu verdan- gas gefunden, und Planetologen sind dessen geologischem
ken. Für viele Wissenschaftler hatte die Suche schon lange oder vielleicht sogar biologischem Ursprung auf der Spur
zuvor, nämlich mit den beiden Viking-Missionen, geendet. (»Das Rätsel des Methans auf Mars und Titan«, SdW 7/2007,
1976 wiesen die Daten der beiden Landefähren auf eine äu- S. 32). 2011 sandte der Mars Reconnaissance Orbiter weitere
ßerst lebensfeindliche Umgebung hin, in der sich weder Was- faszinierende Aufnahmen aus der Umlaufbahn. Auf der
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Oberfläche des Planeten hatte er feine Strukturen entdeckt, Nun aber plante das AMES-Forschungszentrum eine Gene-
die sich am einfachsten durch salzhaltiges Wasser erklären ralüberholung der Sonde, und ich sollte die Rolle des leiten-
lassen, das dort jeweils in der warmen Jahreszeit fließt. den Wissenschaftlers übernehmen. Doch ich zögerte. Mehr
Jetzt ist also die nächste Raumsonde bereit für den Start als ein Dutzend Jahre lang war ich schon an Planetenmissio-
und verspricht neue Erkenntnisse. Wie es ihr ergehen wird, er- nen beteiligt. Die vielen Reisen, endlosen Meetings und pau-
ahnen wir vielleicht am besten, wenn wir einen Rückblick auf senlosen Telefonate reizten mich nicht mehr. Sie hielten mich
die technische und emotionale Achterbahnfahrt werfen, die überdies von der wissenschaftlichen Arbeit ab, für die ich
eine interplanetare Mission für alle Beteiligten bedeutet – und einst ausgebildet wurde. Davon abgesehen existierte für das
darauf, wie der Phoenix das Fliegen beinahe doch nicht lernte. neue Projekt keinerlei Finanzierung, niemand kümmerte sich
Raumsonden sind millionenteure Spezialinstrumente. Es um die nötigen Forschungsanträge, keine große wissenschaft-
ist daher keineswegs alltäglich, dass man ans Telefon geht liche Einrichtung hatte ihre Unterstützung zugesagt, und die
und gefragt wird, ob man eine haben möchte. Genau das ge- Antragsfrist würde schon bald enden. Aber natürlich faszi-
schah mir im Jahr 2002. Am anderen Ende der Leitung waren nierte mich die Vorstellung, eine Marsmisssion zu leiten. Ich
Wissenschaftler des Ames Research Center der NASA und er- selbst hatte den Ergebnissen der Viking-Sonden niemals
innerten mich an eine drei Meter große Kiste, die in einem Glauben schenken wollen. Wie war es möglich, dass sie kein
Reinraum des Technologiekonzerns Lockheed Martin in Den- organisches Material gefunden hatten? Müsste nicht eine
ver lagerte. Eingemottet war darin: der Mars Surveyor 2001 besser konzipierte Mission mehr Erfolg haben?
Lander. Er hätte eigentlich 2001 starten sollen, aber ange- Zwei Wochen lang quälte ich mich. Die Surveyor-Raum-
sichts zweier kurz zuvor gescheiterter Missionen kam es nie sonde war ursprünglich dafür ausgerichtet, nahe dem Äqua-
dazu. Im Dezember 1999 war seine Schwestersonde, der Mars tor zu landen, Bodenproben mit einem Roboterarm zu ent-
Polar Lander, beim Landeanflug zerschellt, und schon einige nehmen und einen kleinen Rover abzusetzen, der Gestein in
Wochen zuvor war auch der Mars Climate Orbiter beim Ein- der Umgebung untersucht. Einige der Instrumente sollten
tritt in die Atmosphäre verloren gegangen. Das Marspro- zudem helfen, eine mögliche bemannte Mission vorzuberei-
gramm der NASA hatte einen schweren Schlag erhalten. Auch ten. An einen Rover war angesichts unseres Budgets aber
ich hatte ihn gespürt: Die Kamera des Mars Polar Lander war nicht zu denken, und Pläne für bemannte Missionen waren
von meinem eigenen Team entwickelt und gebaut worden. damals nicht aktuell. Einiges Gepäck konnte daher entfallen.
www.spektrum.de 33
Ziel: Der Surveyor sollte sich gewissermaßen wieder aus sei-
NASA / Univ. of Colorado, Steve Lee / Cornell University, Jim Bell /
Space Science Institute, Mike Wolff
Phoenix: 2008 ner eigenen Asche erheben und als »Phoenix« auf die große
Viking 2: Reise gehen. Die Feuerprobe bestand der Vogel 18 Monate
1976 – 1980
später. Nachdem er sich gegen 20 konkurrierende Missions-
Viking 1: Sojourner: 1997
1976 – 1982 konzepte durchgesetzt hatte, erteilte uns die NASA im Au-
Curiosity gust 2003 den Zuschlag. Wir konnten die Sonde auspacken.
Opportunity: ab 2012
seit 2004 Spirit:
2004 – 2010 Kämpfen mit einem hartnäckigen Problem
Mars 3: 1971
Bis zum Start, der im August 2007 erfolgen sollte, hatten wir
noch vier Jahre Zeit. Wir verbrachten sie vor allem damit, die
Konzeptionsfehler zu finden, die wohl seinem Schwester-
schiff zum Verhängnis geworden waren. Die Ingenieure ent-
Kraterberg deckten schließlich rund 25 größerer Mängel, und es schien
zwar aufwändig, aber dennoch einfacher und billiger, sie zu
Kraterrand beheben, als einen Neubau in Angriff zu nehmen. Die meis-
ten Eingriffe waren unkompliziert. Sie betrafen die Heiz
elemente, die zu reduzierende Größe des Fallschirms, die
NASA, JPL / Caltech / ASU / UA
www.spektrum.de 35
wir heraus, könnte Reflexionen vom abgeworfenen Hitze- Brustkorb zusammen. Sechs Feststoffraketen fielen in den
schild falsch interpretieren und so einen Abbruch der Lan- Atlantik, während drei weitere zündeten. Der Phoenix war
dung auslösen. Auch Schaltungen und Antennen erwiesen unterwegs.
sich als fehleranfällig. Zehn Monate später hatte er 600 Millionen Kilometer
Die Probleme schienen nicht aufzuhören. Im Februar zurückgelegt und begann, die Anziehungskraft des Mars zu
2007, nur fünf Monate bevor wir die Raumsonde auf die Trä- spüren. Das Landemanöver war sekundengenau geplant
gerrakete montieren sollten, hatten wir noch mit 65 Unregel- und perfekt vorbereitet. Die Umlaufbahnen der beiden
mäßigkeiten zu kämpfen. Ohne zuverlässiges Radar stand Marssatelliten Odyssey und Mars Reconnaissance Orbiter
aber der Start selbst in Frage. Besorgt verfolgte die NASA, wie waren bereits so angepasst, dass sie die Signale des Phoenix
wir stets neue Fehler entdeckten. Deren Schwere nahm aller- im Augenblick von seinem Eintritt in die Atmosphäre an die
dings ab, und im Juni konnten wir die Behörde davon über- Erde weiterleiten konnten, wo wir sie 15 Minuten später im
zeugen, dass die verbliebenen Probleme vernachlässigbar Kontrollzentrum empfangen würden.
wären. Dennoch blieb es ein Glücksspiel. Würden wir bis kurz
vor Schluss immer wieder fündig, wie können wir dann si- »Die Sonde ist zu schnell!«
cher sein, dass nicht weitere Fehler im System lauerten? Ich war trotzdem fast krank vor Sorge. Eine Landung auf dem
Im August 2007 schlossen wir im Kennedy Space Center, Mars ist wesentlich komplizierter als eine auf der Erde oder
dem US-Weltraumbahnhof in Florida, die letzten Tests ab, dem Mond. Die Raumsonde beginnt als interplanetare Reise-
und es ging an die Montage der Sonde auf der Trägerrakete. fähre, muss aber dann ihre Gestalt fünfmal verändern. Erst
Doch während ein Kran das Instrument zur Spitze der 40 stößt sie ihr so genanntes Marschflugmodul ab und verwan-
Meter hohen Delta-II-Rakete beförderte, brach ein Gewitter delt sich in eine stromlinienförmige Abstiegsstufe, die mit
aus und zwang die Techniker, den Montageturm zu evakuie- fast 20 000 Kilometer pro Stunde durch die Atmosphäre
ren. Unsere Raumsonde, die empfindlichen elektronischen fällt und der Reibungshitze widerstehen muss. Ist die Kapsel
Bauteile nur notdürftig abgedeckt, hing in einer Höhe von auf 1500 Kilometer pro Stunde abgebremst, entfaltet sich ihr
20 Metern inmitten eines fürchterlichen Sommergewitters. Fallschirm. Doch in der dünnen Atmosphäre kann dieser die
Nervös brachten wir sie danach zurück in die Montagehalle, Geschwindigkeit nur auf 150 Kilometer pro Stunde reduzie-
doch zum Glück schien sie intakt geblieben. ren. Einen Kilometer über der Oberfläche trennt sich die Lan-
Früh am Morgen des 4. August begann der Countdown. defähre von Kapsel und Fallschirm und geht in den freien
Ich verließ die heiligen Hallen des Kontrollraums, um den Fall über. Der nach unten gerichtete Schub von zwölf Düsen
Start direkt zu beobachten. Es war 5 Uhr 15, noch standen reduziert die Geschwindigkeit der Sonde weiter, bis sie nur
Sterne am Himmel, und im Osten zeigte sich der Mars. Plötz- noch einige Kilometer pro Stunde schnell ist und endlich
lich waren die Gebäude in der Umgebung der Abschuss waagerecht aufsetzt. Auch die speziell konstruierten Beine
rampe erleuchtet, als würde die Sonne aufgehen. Still erhob der Sonde dämpfen den Aufprall. In einem letzten Schritt
sich die Rakete in den Himmel. Eine halbe Minute später er- müssen sich die Solarmodule der Sonde entfalten. All das
reichte mich der Schall, die Druckwellen pressten meinen passiert in sieben Minuten – wenn es denn klappt.
1000 Meter über der Oberfläche, 800 Meter, 600 Meter.
Einer unserer Ingenieure verlas die Telemetriedaten, die uns
NASA, JPL / Caltech
das Radar schickte. Die Sonde ist zu schnell, überlegte ich un-
ruhig, bei diesem Tempo können wir nicht sicher landen. Als
Phoenix die Marke von 100 Metern erreichte, wurde es auf
Sedimente einen Schlag besser. 90 Meter, 80 Meter, 75 Meter. Der Vogel
verfestigte
Sedimente hatte Aufsetzgeschwindigkeit erreicht! Bald erreichte uns
das erste Signal von der Oberfläche, und der ganze Raum
brach in Jubel aus.
junge Kurz darauf ging es erneut um alles: Würde der Phoenix
Krater seine Solarmodule entfalten? Die nächsten zwei Stunden er-
Tone schienen uns endlos. Die Odyssey musste einmal den ganzen
te
lf a Mars umkreisen, bevor sie wieder Kontakt aufnehmen konn-
Su
jüngere te. Dann wussten wir endgültig: Die Module hatten wie ge-
Gesteinsschichten
plant funktioniert, und die Sonde schoss bereits Bilder. Ein
magischer Blick auf die Arktis des Mars wurde uns zuteil.
Entlang der rot markierten Täler trug einst fließendes Wasser Nach sechs Jahren Vorbereitung konnten wir nun den
Sedimente aus dem nördlichen Kraterrand (oben) in das geplante wissenschaftlichen Teil der Mission in Angriff nehmen. 35
Landegebiet. Sie lagerten sich fächerförmig ab und verfestigten Wissenschaftler, 50 Ingenieure und 20 Studenten begannen,
sich teilweise. Von hier aus wird der Rover südwärts in höhere Tag und Nacht zu arbeiten. Aus Gründen der Effizienz pass-
Regionen fahren und auf ton- und sulfathaltige Böden stoßen. ten wir uns dem Marstag an, der 24 Stunden und 40 Minu-
www.spektrum.de 37
ten dauert, und leisteten jeweils zwei Schichten. So litten wir ten die einstigen Experimente mit Proben aus der chileni-
permanent unter einer Art Jetlag. schen Atacama-Wüste. Setzten sie der Probe Perchlorat zu,
Was der Phoenix dann im Lauf der Zeit entdeckte, darüber gab dieses Sauerstoff ab und oxidierte die organischen Ver-
wurde vielfach berichtet (siehe auch »Phoenix auf dem bindungen in der Probe. Dabei entstand auch Chlormethan.
Mars«, SdW 4/2010, S. 24). Gleich zu Anfang legte der Robo- Selbst eine beträchtliche Konzentration von organischen
terarm eine helle Bodenschicht frei, die wir im Verlauf von Bestandteilen, mehr als ein Teilchen pro Million, hätte der
drei bis vier Marstagen verschwinden sahen. Der Thermal Viking-Sonde auf diese Weise entgehen können. TEGA er
Evolved Gas Analyzer (TEGA) – das Instrument kombiniert härtete diese Interpretation, denn bei Ofentemperaturen
acht Schmelzöfen mit einem Massenspektrometer, das die von über 300 Grad Celsius entdeckte das Instrument Kohlen
austretenden Gase einer erhitzten Probe analysiert – belegte dioxid – also genau, was man erwarten würde, wenn orga
schließlich, dass es sich tatsächlich um Wassereis handelte. nische Komponenten im Boden von Perchlorat oxidiert
Die Landschaft war nicht die trockene, wüste Ebene, als die werden.
sie erschien, sondern ein Eisfeld unbekannter Tiefe. Doch alles zusammengenommen lieferte Phoenix nur In-
dizien für mögliches Leben auf dem Mars. Nun hat es den
Als endlich alles klappte, war das Wasser verdampft Stab an das Mars Science Laboratory übergeben. Das MSL
Im Prinzip spielten wir wie ein Kind im Sandkasten. Der Ro- braucht Bodenproben nicht mehr zu erhitzen. Vielmehr wird
boterarm mit seiner Schaufel entnahm Proben und ließ sie der Marsboden einer besonderen chemische Suppe zugege-
in einen Schacht fallen, über den sie zu den Instrumenten ben, aus der organische Bestandteile verdampfen und von
gelangten. Allerdings mussten unsere Steuerkommandos einem Massenspektrometer entdeckt werden können.
300 Millionen Kilometer überbrücken. In einem Testlabor in Die spektakuläre Phoenixmission währte fünf Monate,
Tucson, Arizona, hatten wir darum eine genaue Kopie von dann schlug der polare Marswinter mit Dunkelheit und Kälte
Roboterarm, Kameras und Materialschleusen aufgebaut, um zu. Im November 2008 verloren wir das Signal. Bis zum Früh-
unsere Kommandos erst zu testen, bevor wir sie zum Mars jahrsanbruch auf dem Mars hofften ich und meine Kolle-
schickten. gen – Optimismus gehört zum Berufsbild des Wissenschaft-
Aber anders als die lockere Erde aus Arizona, mit der wir lers –, dass der Phoenix sich erneut aus dem Eis der Polar-
geübt hatten, erwies sich der Marsboden als klumpig. Ein nacht erheben würde. Ein letztes Satellitenbild zeigt ihn aber
Drahtsieb vor der Probenschleuse, das eigentlich nur Stein- am Rand einer flussähnlichen Struktur, mit gebrochenen So-
chen herausfiltern sollte, hielt darum auch die Erde zurück. larmodulen, begraben unter der Last von Kohlendioxideis.
Von der ersten Schaufel gelangte kein einziges Körnchen in Aus einem Vorposten der Wissenschaft ist ein Teil der Land-
den TEGA-Ofen an. Ein spezieller Mechanismus erlaubte uns schaft geworden. Ÿ
zwar, das Gitter vibrieren zu lassen; trotzdem dauerte es vier
Marstage, bis genug Material im Ofen landete; in der Zwi- der autor
schenzeit sublimierte natürlich jegliches locker gebundene Peter H. Smith von der University of Arizona war
gefrorene Wasser. Viele Proben verfehlten schlicht auch die an einigen der bekanntesten Missionen der
Schleusen. Die Erde, die doch senkrecht herunter in die Inst- Raumfahrt beteiligt, etwa Pioneer 11 und den
Marsrovern Sojourner, Spirit und Opportunity.
rumente rieseln sollte, wurde von starken Winden zur Seite Außerdem war er Chefwissenschaftler der
geblasen. Phoenix-Mission.
Zu den größten Überraschungen zählte die Entdeckung
zweier unerwarteter Verbindungen im Boden: Kalziumkar
bonat und Perchlorat. Mikroorganismen in irdischen Wüsten Literaturtipp
können Perchlorate und Nitrate als Energiequellen nutzen;
Kessler, A.: Martian Summer: Robot Arms, Cowboy Spacemen, and
in konzentrierter Form kann Perchlorat außerdem den Ge- My 90 Days with the Phoenix Mars Mission. Pegasus, New York 2011
frierpunkt von Wasser auf minus 70 Grad Celsius senken, so Als Beobachter im Kontrollraum erlebte der Autor die Mission mit.
dass Mikroben in Kälteperioden eine Nische finden könnten.
Kalziumkarbonat wiederum entsteht, wenn sich atmosphä- Webli n ks
risches Kohlendioxid in flüssigem Wasser löst – ein weiterer www.spektrumdirekt.de/mars
Beleg dafür, dass die Region um den Phoenix einst feucht Aktuelle Nachrichten vom Mars Science Laboratory
war. Die Substanz erklärt auch die verklumpten Erdproben, http://mars.jpl.nasa.gov/msl/mission/whereistherovernow/
denn sie wirkt wie Zement. msl20110915/
100-minütiger öffentlicher Vortrag des Curiosity-Projektmanagers
Und wie steht es mit dem Rätsel um das Chlormethan, das Richard Cook
bei den Viking-Missionen aus den erhitzten Bodenproben
www.youtube.com/watch?v=P4boyXQuUIw
entwich? Die Wissenschaftler vermuteten damals eine Kon- Elfminütige Animation zur Mission Mars Science Laboratory
tamination mit einem irdischen Reinigungsmittel. Die Per- Diesen Artikel sowie weiterführende Informationen finden Sie im
chloratfunde lassen eine alternative Deutung zu. Forscher Internet: www.spektrum.de/artikel/1127413
der Universidad Nacional Autónoma de México reproduzier-
Von H. joachim sch l ichtin g In der Flamme sind alle Naturkräfte tätig.
Novalis (1772 – 1801)
SAUERSTOFF
Abgase: Wasserdampf LICHT
Kohlenstoffdioxid Dank der von der Flamme ausgehenden Hinsicht organisiert sich die Flamme
Verbrennung Wärmestrahlung sorgt »das System« ei- selbst. Weil die brennende Kerze kürzer
ENERGIEFREISETZUNG genständig für Nachschub an Brenn- wird und der heiße Saum der Flamme
Glühen des Verdampfen
Wärme- des flüssigen
abgabe
Kohlenstoffs
Wachses stoff. Von der Hitze flüssig gehalten sich mit ihr nach unten bewegt, schiebt
nach außen
steigt das Wachs durch die Kapillaren sich der Docht kontinuierlich in die Hit-
Aufstieg im Docht des Dochts nach oben. Gleichzeitig zeregion hinein. Dort verkohlt und ver-
schmilzt die Flamme einen schüsselför dampft seine Spitze, was seine Länge
Verflüssigen des
festen Wachses migen Brennstofftank in das obere Ende konstant hält. Zudem kippt der biegsa-
Wachs (fest)
der festen Kerzensubstanz und füllt ihn me Docht, je länger er wird, zur Seite
mit Vorrat. Auch der Tank erneuert sich weg und damit genau in den bestens
Bei einer Kerze setzt verbrennender ständig, wenngleich man ihm das nicht mit Sauerstoff versorgten Bereich der
Wachsdampf Licht, Wärme und Abgase ansieht: Das feste Wachs, aus dem seine Flammenoberfläche. Hier ist die Flam-
frei. Ihre Helligkeit verdankt sie vor Wand besteht, schmilzt in genau dem me rund 1400 Grad Celsius heiß, und
allem glühenden Kohlenstoffteilchen, Maß, in dem der Docht flüssiges Wachs hier beginnt der Docht auch zu glühen
die nicht vollständig verbrannt sind. ins Reaktionszentrum der Flamme (siehe Foto oben).
www.spektrum.de 41
Physikalische unterhaltungen
Klassische Mechanik
bung »abgeführt«.
Aus dem gleichen Grund schneidet
Beschleunigung a die einwärts laufende spiralähnliche
Kurve im Phasenraum bei vorhandener
Reibung nur die waagerechten Arme
Gesamtenergie E E des Achsenkreuzes rechtwinklig. Für den
harmonischen Oszillator bei der ge-
nannten passenden Skalenwahl (die rei-
kinetische
www.spektrum.de 45
Physikalische unterhaltungen
v Hat das Potenzial zwei Minima, so kann Federpendel nicht richtig auswuchtet,
die zugehörige Bewegung den Schmetter wenn also sein Schwerpunkt nicht ge-
lingseffekt demonstrieren. Ein beliebig nau in der Achse liegt. Man kann aber
kleiner Unterschied in der Anfangsenergie auch eine Fahrschiene zu einer Kurve
lässt die Kugel in dem einen statt dem mit mehreren Minima formen und ei-
x anderen Minimum zur Ruhe kommen. nen Waggon darauf laufen lassen (Bild
links). Im Programm geben wir einfach
eine weit gehend beliebige Kurve als
kraft, sondern das Ziehen am Auf Abhängigkeit des Potenzials von der
hängepunkt samt Achse entscheidend: Auslenkung vor. Wenn Reibung im Spiel
Wenn man eine Schwerependeluhr frei ist, hängt von deren Stärke und den
fallen lässt, pendelt sie durchaus nicht, Startwerten von Winkel und Winkelge-
E anders als eine Drehfederpendeluhr schwindigkeit ab, bei welchem Mini-
(mechanische Taschen- oder Armband- mum das Pendel zur Ruhe kommt.
uhr). Wenn wir ein mechanisches Met- Das widerlegt die alte Behauptung
ronom an einem langen Gummiband »Kleine Abweichungen in den Startwer-
auf- und abschwingen lassen, schlägt es ten führen auch zu kleinen Abweichun-
umso schneller, je größer die Quadrat- gen im Endzustand« (das »starke Gesetz
wurzel aus der augenblicklichen Span- der Kausalität«). Die wissenschaftliche
t
nung des Gummifadens ist. Folklore kennt diese empfindliche Ab-
Für die iterative Lösung dieses Pro hängigkeit von den Anfangsdaten als
sung mit kleinen diskreten Zeitschrit- blems müssen wir nur die Definition Schmetterlingseffekt – eines der Ein-
ten gibt es immer noch. Kurzfilme, die der potenziellen Energie ändern. Sie ist gangstore zur Chaostheorie.
mit einem entsprechenden TurboPas- jetzt nicht mehr dem Quadrat des Aus- Damit die Bewegung vollständig de-
cal-Programm gerechnet wurden, sind lenkungswinkels f proportional, son- terminiert ist, müssten die Anfangsda-
auf der Website www.spektrum.de/arti- dern der Funktion 1 – cos f. ten auf unendlich viele Stellen hinter
kel/1125586 dieses Artikels zu finden. In dem Komma bekannt sein, was nie wirk-
dem ganzen Programm (Kasten S. 45 Auf dem Weg zum Chaos lich erreichbar ist. Ohnehin kann die Ex-
unten) kommen nirgends Winkelfunk- Ein Lauf, der vieles Interessante zeigt, perimentalphysik mit dem Unterschied
tionen oder eine Berechnung einer Pe- hat eine nicht zu starke Reibung und zwischen rationalen und irrationalen
riode vor (außer einmal zur Festlegung beginnt mit mehreren vollen Über- Zahlen, der in der Chaostheorie ent-
der Skalenfaktoren). schlägen (Bild S. 45 oben). Das ist zu- scheidend ist, nichts anfangen. Dass es
Für das harmonische Federdrehpen- nächst noch gar keine Schwingung, überhaupt feste Strukturen wie definier-
del brauchen wir am rechnerischen Teil sondern eine Rotation, die im unteren te chemische Elemente gibt, denen das
des Programms nichts zu ändern, nur Scheitel etwas schneller ist als im obe- allgegenwärtige Chaos nichts ausmacht,
an der zeichnerischen Wiedergabe. Die ren, bis der obere nicht mehr über- verdanken wir der Quantenmechanik
mathematischen Zusammenhänge sind schritten wird. Es kann theoretisch pas- mit ihren diskreten Werten, die von
dieselben. Wir können die Größen, die sieren, dass das Pendel im oberen ganzen Zahlen abhängen. Ÿ
beim geradlinig laufenden Federpen- Scheitel stehen bleibt und dann die Fre-
del auftreten, durch die entsprechen- quenz null und die Periode unendlich der autor
den des Drehpendels ersetzen: Winkel- erreicht. Bei sehr schwacher Reibung
Norbert Treitz ist pen
statt Ortsauslenkung, Winkelgeschwin- und knappem Überschlag gibt es im
sionierter Professor für
digkeit statt Geschwindigkeit, ebenso Phasenraum im Grenzfall eine halbe Didaktik der Physik an
für die Winkelbeschleunigung, Dreh- Sinuskurve und ihr Spiegelbild, etwas der Universität Duisburg-
Essen.
moment statt Kraft, Trägheitsmoment später eine geschlossene Kurve, die zu
statt Masse. Die zur Federkonstante einer immer kleineren Ellipse (bei
analoge Drehfederkonstante wird auch geschickter Skalierung einem Kreis) quelle
als Direktionsmoment bezeichnet. Zeit spiralt. Der cosinusförmige Potenzial- Treitz, N.: Physik in bewegten Bildern
und Energie bleiben sie selbst, die Ener- topf wird nahe seinem unteren Schei- (CD). In: Brücke zur Physik. Harri Deutsch,
Frankfurt am Main 2003
gieanteile müssen aber nun aus den tel durch eine Parabel angenähert; das
Rotationsgrößen berechnet werden. ist der harmonische Grenzfall. WEblink
Beim Schwerependel ist, wie ich in Ein kombiniertes Feder-und-Schwe
Diesen Artikel sowie weiterführende
dem Artikel über »Dammi« (Spektrum rependel kann man bauen, wenn man Informationen finden Sie im Internet:
der Wissenschaft 7/2005, S. 106) darge- ein Schwerependel mit einer Drehfeder www.spektrum.de/artikel/1125586
legt habe, eigentlich nicht die Schwer- ausstattet oder – eher unfreiwillig – ein
C und
14
»S
eid Euch bewusst, dass von diesen Pyramiden 40 Jahr Nach gut 200 Jahren Forschung gilt heute die Chronologie
hunderte auf euch herabblicken«, ermahnte Napo des antiken Nilstaats, festgemacht an der Abfolge seiner
leon Bonaparte seine Soldaten im Juli 1798 in Giseh. Herrscher und Herrscherinnen, eigentlich als gut bekannt.
Nach heutigem Wissen irrte sich der Feldherr bezüg Im Detail aber verbleiben Unsicherheiten, die immer wieder
lich der Cheopspyramide um etwa 400 Jahre; sie entstand Anlass zur Diskussion geben (siehe den Beitrag S. 56). Als Fol
im 26. Jahrhundert v. Chr. Seine Fehleinschätzung verwun ge davon verwenden Ägyptologen nicht eine einzige, son
dert nicht, denn die wissenschaftliche Erforschung Altägyp dern mehrere so genannte hohe und niedrige Chronologien,
tens begann mit ebendiesem Feldzug: Im Tross der Inva die ein höheres beziehungsweise niedrigeres Alter für Thron
sionsarmee reisten Naturforscher und Ingenieure, die alles, besteigungen angeben. Sie differieren für das Neue Reich
was sie im Land der Pharaonen sahen, vermaßen und doku nur um etwa zehn Jahre, bei der Datierung des Alten Reichs
mentierten (SdW 12/1994, S. 72 ). hingegen beträgt der Unterschied gut 100 Jahre.
Das Problem der korrekten Datierung teilt die Ägyptolo
auf einen blick gie freilich mit anderen Altertumswissenschaften. Insbeson
dere die zeitliche Entwicklung prähistorischer Kulturen ließ
Eine Uhr aus Kohlenstoff sich mangels schriftlicher Quellen lange nur anhand ihrer
Artefakte rekonstruieren. Vor allem Gebrauchskeramiken
1 In der Lufthülle entsteht unablässig radioaktives 14 C, das auch von
Lebewesen aufgenommen wird. In der Atmosphäre wie in der
Biomasse stellt sich annähernd dieselbe Konzentration davon ein. So-
dienten dabei als »Leitfossilien«, da sie sich auf Grund tech
nischer oder kultureller Entwicklungen in den verschiede
bald ein Lebewesen stirbt, zerfällt das aufgenommene 14 C. Anhand
nen Kulturphasen immer wieder in charakteristischer Weise
der verbleibenden Konzentration sollte sich feststellen lassen, wie
alt organisches Material aus einer archäologischen Fundstätte ist. verändert haben.
Eine absolute, nicht auf solchen Vergleichen oder Schrif
2 Tatsächlich können diverse Effekte die 14 C-Datierung verfäl-
schen. Inzwischen kennen die Experten aber Methoden, sie zu
korrigieren, Messungen und Berechnungen präziser zu machen.
ten beruhende Datierung ermöglichte erstmals die Radio
karbonmethode des US-amerikanischen Chemikers und Phy
Ziel ist dabei auch, Kulturen, die keine oder wenige Schriftquellen sikers Willard Frank Libby (1908 – 1980); 1960 wurde er dafür
hinterlassen haben, in ihrer zeitlichen Entwicklung zu erfassen.
mit dem Nobelpreis für Chemie geehrt. Die aus dem Welt
www.spektrum.de 49
Arnold, J. R., Libby, W. F.: Age determinations by radiocarbon content: checks with samples of known age.
In: Science 110, S. 678–680, 1949, fig. 1
5000 BP
Bei stets konstanter 14 C-Konzentration in der At-
mosphäre sollte das mit der Radiokohlenstoffme-
Radiokohlenstoffalter
Daten nach: Reimer, P. et al. (2009); OxCal v3.10 Bronk Ramsey, C. (2005); cub r:5 sd:12 prob usp[chron]
Folgen für die Praxis
Probe aus dem Gründungsdepot
3400 des Hatschepsut-Tempels
Radiokohlenstoffalter: 3249 ± 32 BP
www.spektrum.de 51
derum älter als eine aus c. Die Kombination des gemessenen leme, denn sie hatten nur die radiometrische Methode zur
14
C-Gehalts von Proben mit solchen Vorinformationen liefert Verfügung: Der Zerfall des 14 C-Isotops setzt Elektronen frei,
wesentlich präzisere Datierungen. Dieses Verfahren lässt sich die ein Detektor registriert. Zwar befinden sich derzeit in le
auch bei Proben anwenden, die zwar nicht aus einer einzigen bender Materie gut 60 Milliarden 14 C-Atome je Gramm Koh
Ausgrabungsstätte stammen, bei denen jedoch die zeitliche lenstoff, doch bei einer Halbwertszeit von 5730 Jahren zer
Abfolge durch andere Informationen genau bekannt ist. fällt davon jede Minute weniger als ein Milliardstel. Genauer
Entsprechende Fundobjekte sind in Museen vorhanden, gesagt werden dabei im Mittel nur 13,6 Elektronen ausge
doch darf davon allenfalls eine geringe Menge entnommen sandt. Eine Präzision von 0,3 Prozent beziehungsweise 25
werden. Zur Zeit Libbys stellte deshalb das Nachweisver Jahren erfordert aber 100 000 Zerfallsereignisse. Das lässt
fahren des Radiokohlenstoffs die Forscher vor große Prob sich in einer vernünftigen Messzeit nur erreichen, wenn
Stichwort Dendrochronologie
Bäume der gemäßigten Breiten bauen neues Holz nur während Dendrochronologen verlängern solche Jahresringkurven im-
der Vegetationsperiode vom Frühjahr bis zum Herbst auf, im mer weiter in die Vergangenheit. Wird eine geeignete ältere
Spätherbst stellen sie das Wachstum ein. Das Resultat sind die Probe vermessen, suchen sie dazu nach Überlappungen der
Jahresringmuster, an denen sich das Lebensalter eines Baums Ringdickenmuster. Die mitteleuropäischen Jahresringchronolo-
abzählen lässt (der innerste Ring ist der älteste). Die Dicke der gien von Eichen und Kiefern reichen derzeit bis zum Ende der
Baumringe hängt von den am Standort herrschenden Wachs- Eiszeit vor etwa 12 500 Jahren zurück. Unbekannte Holzproben
tumsbedingungen ab. In warmen, feuchten Jahren baut die aus diesem Zeitbereich können durch Vergleich der Ringdicken-
Pflanze mehr Masse auf, in kälteren und/oder trockenen Zeiten muster in günstigen Fällen bis auf ein Jahr genau datiert wer-
fallen die Baumringe schmaler aus. Dadurch entsteht eine cha- den; damit ist die Dendrochronologie eine der genauesten Da-
rakteristische Abfolge, die als Grundlage einer Jahresringchro- tierungsmethoden überhaupt.
nologie herangezogen werden kann. Bäume einer Region zei-
gen typische Dickenabfolgen, die durch das regionale Klima ver-
ursacht werden. Lokal bedingte Schwankungen lassen sich Aus den Jahresringen von Holzproben, alten Bauhölzern und
dabei durch Mittelung von Dickenabfolgen mehrerer Bäume gefällten Stämmen werden Kurven der Ringbreiten gewonnen
derselben Region herausrechnen. und zu einer Chronologie überlagert.
Holzprobe
präparierte Holzprobe
Überlagerung
Niederenergie-Massenspektrometer
Vereinfachtes Schema der Cs-Sputterionenquelle zur
Erzeugung negativer Ionen
Beschleunigeranlage VERA 75 kV
Vorbeschleunigung AMS-Anordnung für 14 C-Messungen bei VERA
(Vienna Environmental ( Vienna Environmental Research Accelerator)
elektrostatischer
Research Accelerator) und Analysator
x/y-Schlitze
der dreistufigen Massen-
_
C
spektrometrie. Dabei sind
VERA-Labor, Wien
x/y-Schlitze 12
C
_
13 _
+3-MV-Tandem-
C
nur die für eine 14 C-Mes- x- Beschleuniger Analysiermagnet
Multi Beam Schlitze x/y-Schlitze
sung wichtigen Komponen-
Switcher
ten darstellt. Injektormagnet
Offset
Faraday Cups Ladeketten
Gas-/Folien-
Stripper Offset Stabilisotopen-
_ _ _ _ Faraday Cups Messung
C + 12CH 2 + 13CH +7 Li 2 +...
14
_
kein 14N ! 12
C
3+ x/y-Schlitze
13 3+
C
14
C-Detektor
x/y-Schlitze elektrostatischer
Analysator
0 1 2 3 4 5
Meter 14
C 3+ Hochenergie-Massenspektrometer
www.spektrum.de 53
nisches Material aus Süßwasserseen und Flüssen, weil 14 C- Kontrolle noch einmal am AMS-Labor im französischen Sa
arme gelöste Karbonate eine ähnliche Wirkung haben (Hard- clay oder in unserer Einrichtung in Wien datiert. Manche hat
Water-Effekt). Auch Holz- und Holzkohleproben schieden man mehrfach untersucht, nachdem sie mit unterschiedlich
aus: Sie hätten aus dem Inneren eines Baumstamms kom starken chemischen Vorbehandlungsmethoden gereinigt
men können, während das zu datierende archäologische Er worden waren. Auf diese Weise ließ sich ausschließen, dass
eignis eher dem Zeitpunkt des Fällens, also dem Alter der Kontaminationen das Ergebnis verfälschen – in dem Fall hät
äußeren Baumringe, entsprechen würde (Altholzeffekt). Des ten sich unterschiedliche Alter ergeben. Von den insgesamt
Weiteren kamen Knochen nicht in Frage, da es nicht auszu 211 Datierungen mussten 23 auf Grund grober Inkonsistenz
schließen war, dass die betreffenden Lebewesen einst Fische mit den erwarteten Werten unberücksichtigt bleiben, so dass
und Mollusken verzehrt hatten – was den marinen Reservoir- letztlich 188 Ergebnisse verwendet werden konnten.
oder den Hard-Water-Effekt durch die Hintertür hereinge
bracht hätte. 14
C-Unterschiede von Sommer und Winter
Trotzdem fanden sich ausreichend viele Proben aus dem Die Einbeziehung von zusätzlicher Information wie der Zu
Alten, Mittleren und Neuen Reich: Früchte, Samenkörner, ordnung zu Regierungsperioden und deren Dauer ermög
Überreste kurzlebiger Pflanzen, Papyri, Textilien und anderes lichte eine auf der beschriebenen bayesschen Sequenzierung
mehr. Sie ließen sich jeweils eindeutig einer Regierungsperio beruhende Modellrechnung. Dabei wurde auch ein erst kurz
de zuordnen. Die Proben wurden in Oxford und ein Teil zur zuvor von der Oxforder Datierungsgruppe erkannter Effekt
Snofru Amenophis I
Amenemhat I
Thutmosis III
Cheops Sesostris I
Königin Hatschepsut
Djedefre Amenemhat II
Amenophis II
Chephren
Sesostris II Amenophis III
Mykerinos Amenophis IV
Sesostris III (=Echnaton)
Schepseskaf Tutanchamun
Amenemhat III
Userkaf Haremhab
Amenemhat IV Ramses I
Sahure
Königin Sobeknofru Ramses II
Djedkare
Sethnacht
Unas Wegaf
Ramses III
Teti Ramses IX
Ramses XI
2800 2700 2600 2500 2400 2300 2200 2100 2000 1900 1800 1700 1600 1500 1400 1300 1200 1100
berechnetes Datum der Thronbesteigung (v. Chr.)
Historische Chronologien
nach Shaw, I.: The Oxford History of Ancient Egypt. Oxford University Press, Oxford 2003 (hohe Chronologie)
C-Datum
14
nach Hornung, E. et al. (Hg.): Ancient Egyptian Chronology. Brill Publishers, Leiden 2006 (niedrigere Chronologie)
95,4-Prozent-Intervall nach Spence, K.: Ancient Egyptian Chronology and the Astronominal Orientation of Pyramids.
In: Nature 408, S. 320 – 324, 16. November 2000 (niedrige Chronologie des Alten Reichs)
www.spektrum.de 55
Ägyptologie II
Ein Puzzle der besonderen Art
Ägyptologen setzen die Chronologie des Nilstaats aus einer
Vielzahl von historischen Informationen zusammen: von
Tempelinschriften bis hin zu Zeitangaben auf Weinkrügen.
Von Thomas Schneider
K
alender sind Menschenwerk und somit gesell- Die altägyptische Kultur kannte dagegen keine fortlaufen-
schaftlichen Veränderungen unterworfen. Wenn de Datierung von einem Anfangspunkt her. Dennoch treffen
beispielsweise das Erscheinungsjahr dieser Aus- wir Aussagen darüber, wann beispielsweise die Cheopspyra-
gabe von »Spektrum der Wissenschaft« 2011 lau- mide gebaut wurde beziehungsweise ihr Auftraggeber König
tet, beziffert diese Zahl die seit Christi Geburt vergangenen Cheops regierte. Dazu dienen zwei recht verschiedene Me-
Jahre gemäß den Berechnungen des Mönchs Dionysius Exi- thoden: zum einen die naturwissenschaftliche Altersbestim-
guus im Jahr 525. Dem muslimischen Kalender zufolge, der mung von Objekten, durch die dann auch die historischen
mit dem Auszug des Propheten Mohammed von Mekka nach Kontexte, aus denen sie stammen, zeitlich festgelegt sind. So
Medina beginnt, würde ab dem 26. November 2011 das Jahr erlauben 14 C-Datierungen, die Regierungszeit des besagten
1433 den Einband zieren, im jüdischen Kalender wäre es so- Pharaos mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent in die
gar das Jahr 5772 nach Erschaffung der Welt. Zeit von 2640 bis 2560 v. Chr. zu verorten (siehe den Beitrag
S. 48). Dasselbe gelingt freilich ebenfalls mit der »histori-
auf einen blick schen Chronologie«, der auf schriftlichen Informationen be-
ruhenden Ordnung und Datierung von Ereignissen – dank
der Arbeit von Generationen von Forschern.
Chronologie der Herrscher Zeitangaben – beispielsweise die Daten von Ereignissen
oder die Dauer von Regierungen – haben uns die Ägypter des
1 Eine grobe Chronologie des alten Ägypten (3. – 1. Jahrtausend
v. Chr.) ergibt sich durch die Einteilung in Königsdynastien
und die Unterscheidung von Phasen politischer Stabilität und so
Altertums in großer Zahl überliefert. Sie helfen heute, die
korrekte Abfolge der ägyptischen Herrscher und die jewei
genannten Zwischenreichen, Perioden des Umbruchs.
ligen Regierungszeiten festzustellen. Ägyptologen haben
www.spektrum.de 57
hilfreich sein. Die moderne Astronomie vermag sie unter schenalter 100 Jahren entsprächen, entspreche dies einem
günstigen Umständen in absolute Daten umzurechnen, mit Alter der ägyptischen Zivilisation von mehr als 10 000 Jah-
denen sich ganze Epochen in unserer Kalenderrechnung ren. Natürlich ist das in dieser Vereinfachung falsch – die
verankern lassen (siehe Spektrum der Wissenschaft 12/2008, Mehrzahl der ägyptischen Könige regierte jeweils nur wenige
S. 78). Hilfreich sind auch so genannte Synchronismen, bei- Jahre –, doch beweist der Bericht, dass es tatsächlich bis in die
spielsweise Ereignisse, die sowohl in ägyptischen Texten wie griechisch-römische Zeit hinein Königslisten gab.
in Schriftquellen aus dem Vorderen Orient vorkommen; die- Der Priester Manetho nutzte sie, als er in der Mitte des
se Gleichzeitigkeiten ermöglichen es, die Annalen des Nil- 3. Jahrhunderts v. Chr. eine erste Geschichte Ägyptens ver-
staats mit denen der mesopotamischen Reiche abzugleichen. fasste, die »Aigyptiaka«, um die neue, in der griechischen
Insbesondere für jene Epochen, in denen Ägypten unter Kultur verwurzelte Elite des Landes mit dessen Vergangen-
einer Zentralregierung vereint war – im Alten, Mittleren und heit vertraut zu machen. Er verfolgte dabei einen pragmati-
Neuen Reich sowie in der Spätzeit –, gibt es über die Abfolge schen Ansatz, der auch heute noch Gültigkeit hat: Manetho
der Könige und ihre Zeit auf dem Thron heute kaum noch fasste Könige zu »Dynastien« zusammen, die aus derselben
Unklarheiten. Anders verhält es sich mit den so genannten Familie stammten oder in derselben Residenzstadt regier-
Zwischenzeiten: Phasen des Umbruchs, in denen regionale ten. Von der mythischen Herrschaft der Götter bis zu den
Königtümer miteinander konkurrierten. Von ihnen kennen letzten Pharaonen vor der Eroberung Ägyptens durch Ale
wir deutlich weniger schriftliche Dokumente. Königslisten xander den Großen umfasste sein Werk laut antiken
der ägyptischen Verwaltung bilden hier die wichtigste Infor- Berichten 31 Dynastien und 473 Herrscher. Leider sind die
mationsquelle. Ähnliche Listen hielten fest, welche Herr- »Aigyptiaka« selbst nicht erhalten, sondern nur Auszüge
scher der Vergangenheit in einem bestimmten Tempel kul- daraus in den Werken jüdischer und christlicher Autoren,
tisch verehrt wurden. insbesondere in der »Chronik des Africanus« aus dem 3. und
Der griechische »Vater der Geschichtsschreibung« Hero- der »Weltchronik des Eusebius von Caesarea« aus dem
dot, der um 450 v. Chr. im zweiten Buch seiner »Historien« 4. Jahrhundert.
von einem vermutlich fiktiven Besuch Ägyptens berichtete, Die einzige auf uns gekommene Königsliste aus altägyp
lieferte den Griechen darin einen Beweis für das in ihren tischer Zeit findet sich auf den Fragmenten des »Turiner
Augen unglaubliche Alter der ägyptischen Zivilisation: »Nach Königspapyrus«; sie bricht aber schon vor dem Neuen Reich
diesem (gemeint war der erste König Ägyptens) zählten die ab, um 1530 v. Chr. Zahlreicher sind die im Tempelkult
Priester aus einem Buch die Namen von 330 anderen Köni- verwendeten »Königstafeln«, etwa jene im Totentempel
gen auf«, und da, wie die Priester ihm gezeigt hätten, in je- Sethos’ I. in Abydos (um 1300 v. Chr.; siehe Bild S. 57); diese
dem Menschenalter ein König regiert habe und drei Men- Quellen sind leider ungenau und verzeichnen keine Regie-
AKG Berlin / De Agostini Picture Library
Wie kommt nun eine historische Chronologie zu Stande? sein 7. Jahr (Illahun-Datum) 1866
Wenn wir in der Zeit vom 1. zum 3. Jahrtausend rückwärts- 15. Dynastie 1648 – 1540
schreiten, ist ihr Ausgangspunkt der Regierungsbeginn des Neues Reich 1540 – 1080
Königs Taharqa im Jahr 690 v. Chr. – das letzte völlig sichere 18. Dynastie 1540 – 1294
Datum der ägyptischen Geschichte. Auch der Amtsantritt 19. Dynastie 1294 – 1192
von Schabaka 721 v. Chr. gilt bei zumindest den meisten Ex- 20. Dynastie 1192 – 1180
perten als unstrittig. Beide Könige gehörten der kuschiti- Dritte Zwischenzeit etwa 1080 – 664
schen, also einer aus Nubien stammenden 25. Dynastie an, 21. Dynastie 1080 – 956
und damit Ägyptens Spätzeit einläutete. Die schon zur Drit- 23. Dynastie Oberägyptens etwa 830 – 730
ten Zwischenzeit gerechnete 21. Dynastie und das davorlie- 24. Dynastie von Sais im Westdelta 727 – 715
gende Neue Reich der 18. bis 20. Dynastie – zu dem beispiels- 25. Dynastie (Kuschiten) 733 – 664
weise Tutanchamun (18. Dynastie) und Ramses II. (19. Dynas- Pianchi (seit der Eroberung Ägyptens) 733 – 721
Die Zeit zwischen 956 und 721 v. Chr. ist hingegen unsicheres Schebitku 706 – 690
über gut zwei Jahrhunderte, für die Abfolge, Dynastiezu Assyrische Zeit 671 – 664
Diese Verbindung herzustellen, gelingt vor allem dank der 27. Dynastie (1. Perserherrschaft) 525 – 404
Lebensdaten eines heiligen Apisstiers, die auf Stelen aus dem 28. Dynastie 404 – 399
Serapeum in Sakkara verzeichnet sind (siehe Bild links). Das 29. Dynastie 399 – 380
Tier war nämlich von Schoschenq V., einem König der späten 30. Dynastie 380 – 343
22. Dynastie, »in sein Amt eingesetzt«, aber unter König Scha- 2. Perserherrschaft (»31. Dynastie«) 343 – 332
baka in der frühen 25. Dynastie bestattet worden. Damit ge- Alexander der Große 332 – 323
www.spektrum.de 59
AKG Berlin / Hervé Champollion
www.spektrum.de 61
ERDE3.0
neue sechsteilige Serie Serie Energie | Teil 1
Mit Power
in die Zukunft
D er weltweite Bedarf an nutzbarer Energie ist im Lauf
der Menschheitsgeschichte stetig gestiegen und wird
laut sämtlichen Prognosen weiter zunehmen. Denn jeder
will ständig irgendetwas machen: zur Arbeit fahren, im In-
ternet surfen, die Wohnung beleuchten, das Haus heizen,
fernsehen, emailen, Pflanzen anbauen, in Urlaub fliegen,
eine Fabrik betreiben. Und dafür benötigt man das, was
heute die abstrakte Bezeichnung »Energie« trägt.
Laut den Gesetzen der Physik lässt sich Energie weder
vermindern noch vermehren – sie bleibt einfach erhalten.
Aber wandeln und umverteilen lässt sie sich schon, bei-
spielsweise zu den genannten Zwecken. Bleibt die Frage,
woher man sie bekommt. Hier ist inzwischen klar: Um eine
ebenso langfristige wie nachhaltige Perspektive aufzubau-
en, gilt es eine Welt zu betrachten, die jenseits von Kohle
und Gas die Zivilisation aufrechterhalten muss.
Schier unerschöpflich viel Energie liefert die Sonne. Sie
sendet 15 000-mal mehr Energie, als die Menschheit ver-
braucht. Doch die Solarenergie trifft die Erdoberfläche
gleichmäßig, also diffus. Die Nutzungen sind aber lokal –
und hier fangen die Probleme schon an.
»Spektrum der Wissenschaft« hat nun Experten und
Wissenschaftsjournalisten eingeladen, die wichtigsten Op-
tionen zu durchleuchten, die sich nach heutigem Stand von
Wissen und Technologie anbieten. Das Resultat ist eine
sechsteilige Serie über zukunftweisende Energien, die in
dieser Ausgabe startet, und zwar mit dem Thema »Sonne«.
Parabolrinnenspiegel erzeugen
Warum gerade jetzt? Anlass waren die Katastrophe von Fu-
in der Anlage Andasol 1 bei
kushima (Spektrum der Wissenschaft 8/2011, S. 76) sowie
Granada elektrischen Strom.
die Kehrtwende der Bundesregierung bei der Atomenergie-
politik. Die hatte nach dem Unfall ein Ausstiegsprogramm
beschlossen, nachdem noch ein halbes Jahr zuvor die Lauf-
zeiten für AKWs verlängert wurden. Überblick
Damit ist klar, dass die »Alternativen« deutlich früher
zum Energiemix unserer Industrienation werden beitragen
Die Zukunft der EnergiE
müssen als ursprünglich geplant. Wie stehen die Aussich-
ten auf eine Welt, die hauptsächlich erneuerbare Energien Teil 1 Strom aus der Sonne Dezember 2011
Interview mit Eicke Weber
nutzt? Die Antworten sind niemals einfach – there is no free
Teil 2 Windräder Januar 2012
lunch! Umwälzungen im großen Stil werden unvermeidlich
Teil 3 Wasserkraft Februar 2012
sein. Die Menschheit wird nicht so weiterleben können wie
bisher. Reinhard Breuer Teil 4 Biotreibstoffe März 2012
Teil 5 Energiespeicher I: Batterien April 2012
Teil 6 Energiespeicher II: Wasserstoff Mai 2012
Schott AG
Sonnige Zeiten
Die Fotovoltaik boomt, und solarthermische Kraftwerke stehen in den Start-
löchern: Strom aus Sonnenlicht stellt eine wichtige Säule für die zukünftige
Energieversorgung dar. Dennoch bleiben noch viele Hausaufgaben zu erledigen,
bis die Sonne fossile Energiequellen vollständig ablösen kann.
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lich einen hohen Preis. Denn die Fotovoltaik, bei der Sonnen- große Teile der Technologieentwicklung aus Deutschland,
licht mit Solarzellen aus Halbleitern direkt in Strom umge- etwa von Forschungsinstituten wie dem Fraunhofer-Institut
wandelt wird, ist momentan die teuerste regenerative Ener- für Solare Energiesysteme in Freiburg, von Lieferanten für
giequelle, weit teurer noch als Wind- oder Wasserkraft. In Produktionsstraßen wie der Solarfirma Manz AG in Reutlin-
letzter Zeit häufen sich daher die Forderungen, die Solarener- gen sowie von Modulherstellern wie Solarworld oder Q-Cells.
gie langsamer auszubauen und mehr in andere regenerative Made in Germany, used in Germany – etwas Besseres kann
Energiequellen zu investieren. Doch die mächtige Solarlobby einer Branche kaum passieren.
in Deutschland weiß, dass die Politik gar nicht anders kann, Doch dieses Idyll ist in Gefahr. Im August dieses Jahres
als ihre Branche zu fördern, gerade auch angesichts des über- schockierten gleich mehrere Hersteller von Fotovoltaikmo-
aus positiven Images in der Bevölkerung. Die Hersteller ver- dulen die Öffentlichkeit mit Gewinneinbrüchen. Auch ließ
weisen auf das enorme Wachstumspotenzial insbesondere eine Deckelung des EEG deutsche Investoren zurückhaltend
bei der Fotovoltaik, die neben den noch raren solarthermi- werden. Zudem haben asiatische Hersteller mittlerweile
schen Großkraftwerken das wichtigste Stand- enorme Produktionskapazitäten aufgebaut
bein der Sonnenenergienutzung darstellt. Die »Waschmaschi- und drängen nun mit Macht auf den deut-
dritte Form der Nutzung ist die solare Erwär- nen, die erst schen Markt. Damit geraten die Preise un-
mung von Wasser zum Heizen oder Duschen, ter Druck – und das ist gut so, denn die
die seit vielen Jahren bewährt und wirtschaft-
bei Sonnenlicht Fotovoltaik ist noch nicht konkurrenzfähig
lich ist. Das gilt vor allem für südliche Länder starten« im Vergleich etwa zu Kohlestrom. Mit der
wie Israel, wo Sonnenkollektoren bei Neubau- so genannten Grid-Parity – einem Preis-
ten längst Pflicht sind. Im Folgenden soll es aber nur um die gleichstand von Solarstrom und konventionellem Strom
Stromerzeugung mittels Solarkraft gehen. aus dem Netz – rechnen Experten frühestens für 2012 oder
Vorreiter bei der Fotovoltaik ist derzeit Deutschland. Al- 2013. Selbst dann wird Solarstrom weiterhin hoch subventio-
lein 2010 wurden hier zu Lande Module mit insgesamt rund niert sein.
7,4 Gigawatt Leistung aufgebaut, fast so viel wie in den 20 Manuel Frondel vom Rheinisch-Westfälischen Institut für
Jahren davor. So summiert sich die heute installierte Leis- Wirtschaftsforschung in Aachen sieht das dicke Ende erst
tung auf über 17 Gigawatt. Auch wenn manches dafür spricht, noch kommen. Über 80 Milliarden Euro an Subventionen
dass sich das exponentielle Wachstum der letzten Jahre auf schieben deutsche Verbraucher mit der EEG-Umlage vor sich
einen linearen Anstieg abschwächen und in andere Regionen her, die bis 2030 abbezahlt werden müssen. Von den 3,5 Cent,
der Welt verlagern wird, dürfte Deutschland weiterhin eine die jeder von uns pro Kilowattstunde Ökostrom als Umlage
Triebfeder hinter dieser Technologie bleiben. bezahlt, fließen etwa 40 Prozent in die Fotovoltaik, obwohl
Warum gerade Deutschland? Zwei Gründe haben zum Fo- diese Technologie nur 12 Prozent der erneuerbaren Energien
tovoltaikboom bei uns geführt. Zum einen das Erneuerbare- ausmacht. Denn auch wenn die gut 17 Gigawatt Solarleistung
Energien-Gesetz (EEG), das dem Besitzer einer entsprechen- auf dem Papier nach viel klingen und durchaus einen be-
den Anlage 20 Jahre lang eine fixe Einspeisevergütung ga trächtlichen Anteil der in Deutschland je nach Jahres- und
rantiert, womit er eine Rendite von fünf bis acht Prozent Tageszeit erforderlichen bis zu 73 Gigawatt decken könnten:
erwirtschaftet. Wer sich in den letzten Jahren eine Fotovoltaik Nachts scheint die Sonne nun mal nicht – und bei Bewölkung
anlage aufs Dach montierte, hat sein Geld definitiv besser ist die Ausbeute ebenfalls erheblich geringer, als die Wattzahl
angelegt als die Aktienspekulanten. Zum anderen stammen des Moduls suggeriert.
Der tatsächliche Beitrag von Solarstrom zu einer nachhal-
tigen Energieversorgung ist also nach wie vor bescheiden. Ob
auf einen blick sich das bessern wird, hängt von vielen Faktoren ab. Eine
Roadmap der Unternehmensberatung Roland Berger für den
Mit tandem- und konzentratorzellen
Bundesverband Solarwirtschaft geht davon aus, dass bis
Deutschland allein wird das Weltklima aber nicht retten. nisieren. Nur eine Verknappung von Verschmutzungsrechten
Es kommt vielmehr darauf an, welche Entwicklung die Bran- parallel zum Ausbau erneuerbarer Energien brächte also die
che auf anderen Kontinenten nimmt. Und da sind die Aus- gewünschte Entlastung fürs Klima.
sichten tatsächlich sonnig. Vor allem die beiden größten Dennoch: Die politischen Scharmützel um Einspeise-
Luftverpester USA und China haben den Zubau von Solar- boni und der wirtschaftliche Druck durch asiatische Billig
kraftwerken inzwischen massiv hochgefahren. 2010 lag die ware verdecken mitunter die Tatsache, dass die Fotovoltaik
neu installierte Leistung in diesen Ländern jeweils bei etwas noch erhebliches technologisches Entwicklungspotenzial
über einem Gigawatt. Voraussichtlich in drei Jahren werden hat. Während die Kunst der Kohleverbrennung in Dampf
beide Staaten Deutschland beim Bau neuer Anlagen über maschinen nach 300 Jahren nun weit gehend ausgereizt ist,
holen. hat die Perfektionierung der Fotovoltaik mit Hilfe ernsthaf-
ter Grundlagenforschung erst in den letzten Jahrzehnten
Laser steigern den Wirkungsgrad richtig begonnen.
Eicke Weber vom Fraunhofer-Institut für Solare Energiesys- Manche spektakulären Konzepte wie die Erzeugung von
teme (siehe Interview S. 72), glühender Befürworter der Foto- Biosprit direkt aus Sonnenlicht (siehe Kasten S. 76) sind zwar
voltaik, war selbst überrascht von einer Prognose von Foto- noch mindestens ein Jahrzehnt vom kommerziellen Einsatz
voltaikmodulherstellern anlässlich der Messe Intersolar 2011 entfernt. Doch werden viele kleine Verbesserungen vor allem
in San Francisco. Demnach rechnet die Branche jährlich mit in der Produktionstechnik in den kommenden Jahren den
bis zu 200 Gigawatt an neuen Modulen um 2020. Damit Wirkungsgrad der Solarzellen in kleinen Schritten hochtrei-
würde die Menschheit geradezu mit Riesenschritten ins So- ben. Weil die Kosten der Module weiter sinken, steigt damit
larzeitalter marschieren. Kombiniert man diese Anlagen die Wirtschaftlichkeit für die Investoren, während gleichzei-
etwa mit Pumpspeicherkraftwerken – und gerade China tig die EEG-Vergütung abnehmen kann.
dürfte wenig Skrupel haben, auch weiterhin Dörfer umzusie- Allen Konzepten gemeinsam ist, dass bei der Produktion
deln und ganze Landstriche unter Wasser zu setzen –, könnte Laser zum Einsatz kommen. So wird das intensive Laserlicht
das in der Tat die lang ersehnte Energiewende bedeuten. zum wichtigsten Werkzeug für die Fotovoltaikforscher – etwa
Ob das auch eine Wende fürs Weltklima wäre, bleibt um- bei folgenden Verfahren:
stritten. So verweist Manuel Frondel darauf, dass bisher kei- ➤ Selektive Emitter: Der Emitter, also die sonnenzugewand-
ne deutsche Fotovoltaikanlage Kohlendioxid eingespart hat. te Halbleiterschicht einer Solarzelle, sammelt die vom Son-
Zum einen entstehen mit jeder Kilowattstunde erzeugten nenlicht erzeugten Elektronen über dünne Leiterbahnen ein.
Solarstroms über 100 Gramm des Treibhausgases, weil die Damit er möglichst gut leitet, wird er mit Phosphoratomen
Herstellung der Module sehr energieaufwändig ist und die- gezielt verunreinigt – der Fachmann spricht von Dotierung.
ser Aufwand erst nach Jahren sauberer Stromlieferung ab Allerdings sollte die Konzentration der Fremdatome unter
gegolten ist. Zum anderen führt die massive Einspeisung den Leiterbahnen höher sein als in der Fläche, die dem
von Solarstrom zu fallenden Preisen für Treibhausgas-Ver- Sonnenlicht ausgesetzt ist, weil dort sonst zu viele Ladungs
schmutzungszertifikate. Für Betreiber von Kohlekraftwerken, träger verloren gehen. Zu diesem Zweck treibt ein Laser die
vor allem in Osteuropa, ist es jedoch billiger, solche Ver- Phosphoratome in den Silizium-Halbleiter hinein und rei-
schmutzungsrechte zu kaufen, als ihre Kraftwerke zu moder- chert den Kristall in einem schmalen Bereich damit an. Der
>>> weiter auf S. 74
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Interview
Herr Professor Weber, in Deutschland kommt der men, die ich kürzlich von einigen Herstellern auf der Inter-
Atomausstieg jetzt schneller als gedacht. Kann die Solar solar-Messe in San Francisco gehört habe, steht uns der
technologie die damit entstehende Lücke in der Energie richtige Boom erst noch bevor. 100 Gigawatt werden allein
versorgung schließen? bis zum Jahr 2020 neu hinzukommen, manche reden sogar
Weber: Davon bin ich überzeugt. Die Solarenergie kommt von 200 Gigawatt. Insgesamt wären dann weltweit rund
aber in erster Linie deshalb, weil wir sowieso eine Energie- 600 Gigawatt Leistung installiert. Das führt zu so niedrigen
wende brauchen. Das hat mit der Kernenergie nur wenig Preisen, dass Sie Module als Massenware quasi im Super-
zu tun, sondern hat vor allem zwei Gründe: Zum einen markt kaufen können.
gibt es momentan zwar noch genug Erdöl, doch die Schere Welchen Anteil hätte die Fotovoltaik dann 2020 an der
zwischen Bedarf und Förderung geht immer weiter ausei- gesamten Energieversorgung?
nander; fossile Energiequellen können den Bedarf nicht Weber: Derzeit beträgt der globale elektrische Leistungs
mehr decken. Außerdem wird das Klima durch die CO2- bedarf rund 16 Terawatt (16 000 Gigawatt). Bis 2050 wird er
Freisetzung instabil, wir leben sozusagen in einem perma- auf 30 Terawatt steigen, weil die Schwellenländer deutlich
nenten künstlichen Vulkanausbruch. Eine Umstellung auf zulegen werden. Pessimistisch kalkuliert wird die Fotovol-
nachhaltige Energiesysteme ist also unabwendbar, und taik dazu zehn Prozent beisteuern, das wären also drei Tera-
zwar weltweit. Damit schlagen wir beide Fliegen mit einer watt. Dafür müssen wir Solarmodule mit zwölf Terawatt in-
Klappe. stallieren, denn seine Spitzenleistung erzeugt ein Modul
Sie sind gewissermaßen von Amts wegen ein Verfech nur unter optimaler Sonneneinstrahlung, und es kann auch
ter der Sonnenenergie, insbesondere der Fotovoltaik, die an sein, dass überschüssiger Strom gerade nicht gebraucht
Ihrem Institut maßgeblich entwickelt wurde. Kritiker be wird. 12 000 Gigawatt bis 2050 schaffen wir locker, wenn es
mängeln aber, dass gerade die Fotovoltaik die teuerste Form bis 2020 schon 600 Gigawatt sind und die Produktions
der nachhaltigen Stromerzeugung ist. kapazitäten weiter exponentiell wachsen. Ich glaube sogar
Weber: Es stimmt natürlich, dass viele Fördermittel ins an einen Fotovoltaikstromanteil von 30 bis 40 Prozent bis
besondere aus dem Erneuerbare-Energien-Gesetz in die 2050. In Deutschland könnte das zusammen mit den ande-
Fotovoltaik geflossen sind. Allerdings ist das auch die Tech- ren regenerativen Energiequellen zu einer 100-prozentig
nologie mit dem meisten Potenzial. Das gilt für die Verfüg- nachhaltigen Stromerzeugung reichen.
barkeit von geeigneten Flächen ebenso wie für die techno- Dann wird Deutschland aber nicht mehr der größte
logischen Fortschritte, die gerade in den Labors heranreifen Markt für Fotovoltaik sein.
und noch große Verbesserungen beim Wirkungsgrad ver- Weber: Da haben Sie Recht. Noch baut Deutschland mehr
sprechen. Die beeindruckende bisherige Lernkurve be- Solaranlagen als jedes andere Land. 2010 kamen 7,4 Giga-
zeugt das. watt neu hinzu, insgesamt waren es in Deutschland Ende
Was meinen Sie damit? 2010 rund 18 Gigawatt, weltweit 40 Gigawatt. Das ändert
Weber: Üblicherweise zeigen Grafiken den Preisverlauf pro sich zurzeit. Während die Zunahme in Deutschland in etwa
Watt Spitzenleistung über die Jahre. Die Preise der Module gleich bleiben wird, explodiert sie in anderen Ländern gera-
fallen ständig – sie sind umso stärker gesunken, je mehr dezu. Die USA und China werden noch in diesem Jahr die
neue Anlagen gebaut wurden. Wenn die Prognosen stim- Schwelle von einem Gigawatt überschreiten, in drei Jahren
Fraunhofer ISE
werden sie uns überholen. Gerade das chinesische Engage- wird. Deutsche Technologie setzt also weltweit Standards,
ment ist erfreulich. Die Regierung fördert dort den Ausbau und davon profitieren auch viele Arbeitsplätze hier zu
mit erheblichen Subventionen und setzt damit ein Zeichen Lande.
für eine echte Energiewende. Einen Nachteil haben aber auch die Concentrix-Modu
Deutsche Hersteller von Fotovoltaikmodulen fallen le: Sie produzieren nachts keinen Strom.
immer weiter zurück: Unter den Top 20 ist nur noch eine Weber: Zunächst einmal: Ich garantiere Ihnen, dass mor-
deutsche Firma, aber sieben chinesische. Macht Ihnen die gen früh die Sonne aufgeht – wie an jedem Tag. Ob morgen
Schwemme billiger Fotovoltaikmodule aus China Sorgen? früh der Wind weht, kann Ihnen dagegen niemand sicher
Weber: Nein. 2010 wurden in Deutschland Fotovoltaikmo- sagen. Damit ist Solarenergie planungssicherer als Wind-
dule mit sieben Gigawatt Leistung installiert, nur 2,5 Giga- energie. Außerdem wird der meiste Strom tagsüber ver-
watt kamen aus Deutschland. Man muss das so sehen: braucht. Die Lücke zwischen Angebot von Solarstrom und
Ohne die billigen Module aus China gäbe es gar keinen Nachfrage aus dem Netz ist also nicht so groß, wie immer
Boom, weder in Deutschland noch weltweit. Außerdem behauptet wird. In der Tat müssen wir aber über Speicher-
sind deutsche Firmen nach wie vor gut im Geschäft, insbe- möglichkeiten nachdenken. Ich denke etwa an die Wasser-
sondere die Hersteller von Produktionsstraßen. Chinesi- stofferzeugung mittels Elektrolyseuren, an der mein Insti-
sche Fotovoltaikmodule werden vorwiegend mit deut- tut arbeitet, oder an die Redoxflow-Batterie, die am Fraun-
schen Maschinen gefertigt, weil diese bessere Haltbarkeit hofer Institut für Chemische Technologie in Pfinztal
und höhere Energieausbeute ermöglichen. Wir müssen in entwickelt wird.
Deutschland allerdings darauf achten, dass wir weiterhin Und welche Rolle spielen solarthermische Großkraft
die Technologieführerschaft behalten. Und das geht nur werke?
mit konstant kräftigen Investitionen in Forschung und Ent- Weber: Für solarthermische Kraftwerke ist die Lernkurve
wicklung. nicht so günstig. Die Technologie ist weit gehend ausgereift
Invented in Germany, made in China – ist das also die und wird nicht mehr deutlich unter einen Preis von vier
Zukunft der Solarbranche? Euro pro Watt installierter Leistung kommen. Damit ist sie
Weber: So einfach ist das nicht. Das beste Beispiel ist Con- deutlich teurer als Fotovoltaik, die schon unter einen Euro
centrix, eine Ausgründung aus dem Fraunhofer ISE. Das pro Watt gefallen ist. Andererseits sind solarthermische
Unternehmen baut Solarzellen mit vielen gestapelten Kraftwerke mit Salzspeicher, die ja auch nachts Strom lie-
Halbleiterschichten, die ein breiteres Spektrum von Licht- fern können, preiswerter als elektrische Speicher. Deshalb
wellenlängen in Strom umwandeln können. 2009 hatte halte ich Pläne zum Bau von solarthermischen Kraftwerken
mein Institut damit einen Weltrekordwirkungsgrad von in Südspanien oder Nordafrika, wie es das Desertec-Kon-
über 40 Prozent aufgestellt, inzwischen allerdings haben zept vorsieht, für eine gute Ergänzung. Fotovoltaik am Tag,
amerikanische Kollegen die Nase vorn. In Freiburg gibt es Solarthermie in der Nacht – das wäre ein interessantes Ge-
eine Produktionsanlage für 30 Megawatt pro Jahr. Concen- schäftsmodell. Ÿ
trix wurde mittlerweile von der französischen Soitec ge-
kauft, die mit unserer Technologie in San Diego, USA, das Die Fragen stellte Bernd Müller, freier Journalist für Wissen-
mit 150 Megawatt weltgrößte Fotovoltaikkraftwerk bauen schaft und Technik in Bonn.
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selektive Emitter steigert den Wirkungsgrad einer kristalli- typs hoch, vor allem in sonnenreichen Gegenden, weil kon-
nen Solarzelle um bis zu 0,5 Prozentpunkte, bei heute übli- zentrierende Solarzellen bei starker Einstrahlung besonders
chen Zellen also auf rund 16,5 Prozent. Derartige Solarzellen wirtschaftlich sind.
sind bereits am Markt. Ihr ganzes Potenzial schöpfen konzentrierende Solar
➤ Ein anderes Konzept verfolgen das Institut für Solarener- zellen aber erst als Tandemsolarzellen aus. Herkömmliche
gieforschung in Hameln und das Fraunhofer ISE. Sie verle- Module haben die schlechte Eigenschaft, nur einen Aus-
gen die Emitterkontakte auf die Rückseite, weil sich dadurch schnitt aus dem Wellenlängenspektrum des Sonnenlichts –
die Fläche zum Energieeinfang vergrößert. Wer eine Solarzel- nämlich den langwelligen Anteil – in Strom umwandeln zu
le näher betrachtet, sieht die feinen Bahnen, die die elektri- können: Die beste Ausbeute lässt sich bei Wellenlängen um
schen Ladungsträger ableiten. Doch wird da- 1000 Nanometer erzielen, also mit infraro-
von ein Teil der Halbleiterschicht verdeckt, »Zellen mit tem Licht. Die Energie, die im kurzwelligen
der damit keinen Beitrag zur Stromerzeu- Schichten aus Teil des Spektrums steckt, verpufft demnach
gung leistet. Daher sollen nun winzige lei- ungenutzt. Nun kann eine einzelne Solar
Nanokristallen
tende Löcher im Siliziumsubstrat dafür sor- zelle niemals das gesamte Lichtspektrum ab-
gen, dass die Ladungsträger von der Vorder- wären billiger « decken. Stapelt man jedoch mehrere Zellen
seite nach hinten fließen, wo sie eingesammelt zu einem Sandwich und optimiert jede
werden. Um die Wege möglichst kurz zu halten, bedarf es vie- Schicht auf eine bestimmte Wellenlänge, steigt die Ausbeute
ler Löcher, mindestens eines pro Quadratmillimeter. Bei Zel- rapide an.
len mit etwa 15 Zentimeter Kantenlänge sind das über 20 000 Die übliche Bezeichnung »Tandemsolarzelle« untertreibt
Löcher, die ein gepulster Infrarotlaser in Sekundenschnelle sogar, denn in der Regel liegen gleich drei Zellen übereinan-
bohrt. Der Lohn: Der Flächenverlust durch die Löcher beträgt der. Auf diese Weise lässt sich mehr Energie des Sonnen-
weniger als ein Prozent. lichts nutzen. Eine Tandemzelle mit einem 400-fachen Kon-
Allerdings verbessern solche Maßnahmen den Wirkungs- zentrator des US-Herstellers Solar Junction erzielte kürzlich
grad teilweise nur um einige Zehntelprozentpunkte. Damit einen Weltrekordwirkungsgrad von 43,5 Prozent. Die Zelle
dieser einen richtigen Sprung macht, müssen andere Kon- ist nur 5,5 mal 5,5 Millimeter groß, sammelt aber mit einer
zepte her. Eine naheliegende Methode sind so genannte Kon- Linse das Licht einer 400-mal größeren Fläche ein. 2011 sol-
zentratorsolarzellen, bei denen Linsen das Sonnenlicht auf len die ersten, noch teuren Zellen ausgeliefert werden. Billi-
den Halbleiter bündeln. Das spart Material und Kosten. Im ger könnten die Zellen werden, wenn man statt herkömmli-
Jahr 2015 sollen weltweit solche Anlagen mit einer Leistung cher dünner Schichten nun Ebenen aus Nanokristallen über-
von einem Gigawatt ans Netz gehen – noch vergleichsweise einanderstapelt. Über die Größe der Kristalle ließe sich die
wenig. Dennoch ist das langfristige Potenzial dieses Zellen- Empfindlichkeit für verschiedene Wellenlängen des Lichts
Solar Junction
erzeugung: 43,5 Prozent
Spitzenwirkungsgrad erzielte
die kalifornische Firma Solar
Junction mit marktfähiger
lichtkonzentrierter Fotovoltaik
(concentrated photovoltaics,
CPV). Jede Zelle misst rund 30
Quadratmillimeter und fokus
siert das Sonnenlicht um das
400-Fache.
einstellen. Der Herstellungsprozess wäre dann einfacher dungsträger im Halbleitermaterial überwinden muss. Die
und billiger. höhere Hürde spornt die Elektronen quasi dazu an, ihre
In den Labors von David Norris, Professor vom Depart- Energie zu behalten, um die Barriere zu überwinden. Die so
ment für Maschinenbau und Verfahrenstechnik der ETH genannte Hot Silicon Cell wäre die ultimative Solarzelle. Da-
Zürich, schaffen solche einzelnen Nanosolarzellen heute vid Norris: »Für diesen Zelltyp liegt die theoretische Grenze
Wirkungsgrade von drei Prozent – noch viel zu wenig für eine des Wirkungsgrads bei 66 Prozent.«
kommerzielle Anwendung. Doch Norris ist davon überzeugt,
dass zehn Prozent bald erreichbar werden, in Kombination Die Vereinigung von Solarthermie und Fotovoltaik
mit herkömmlichen Tandemzellen auch mehr. Größtes Pro- Ein auf den ersten Blick etwas umständliches Konzept, das
blem: Alle bislang verwendeten Materialien sind selten und ebenfalls ein breites Spektrum des Sonnenlichts nutzen
giftig. Deshalb will der Chemiker jetzt Nanokristalle aus kann, ist die thermische Fotovoltaik. Sie vereint gewisserma-
harmlosen Kolloiden züchten. ßen Solarthermie mit Fotovoltaik. Konzentriertes Sonnen-
Die Nanotechnologie gilt ohnehin als ein Schlüssel für die licht trifft auf eine Wolframoberfläche und erhitzt sie, bis sie
Solarzellen der Zukunft. Mit winzigen Strukturen, deutlich glüht. Eine Solarzelle fängt das Glühlicht auf und erzeugt da-
kleiner als die Wellenlänge des Lichts, soll sich die Umwand- raus Strom. Durch Strukturieren der Oberfläche kann man
lung gezielt beeinflussen lassen – auf ganz unterschiedlichen die Wellenlänge des ausgesandten Lichts so einstellen, dass
Wegen. sie möglichst gut mit dem empfindlichen Bereich der Solar-
Bevor David Norris im März 2010 an die ETH kam, arbei zelle übereinstimmt. Das Konzept ist seit den 1960er Jahren
tete er an der University of Minnesota. Mit seinem Team ver- bekannt; solche Module kann man bereits kaufen, doch die
öffentlichte der Chemiker dort eine viel beachtete Arbeit im Wirkungsgrade sind schlechter als bei herkömmlichen Solar-
Wissenschaftsmagazin »Science«, die einen weiteren Weg zu zellen. Das klingt zunächst logisch, weil dieses Konzept den
effizienteren Solarzellen weist. Darin beschäftigt er sich mit Umweg über das Erhitzen des Wolframs nehmen muss. Der
so genannten heißen Elektronen. Wie erwähnt funktioniert Eindruck täuscht jedoch, denn theoretisch sind fast 85 Pro-
die Solarstromgewinnung nur mit Licht passender (langer) zent Wirkungsgrad möglich, weil die Wellenlänge vieler Pho-
Wellenlänge effektiv. Ist die Wellenlänge kürzer, entstehen tonen des Sonnenlichts, die sonst verloren gingen, in das
zwar auch Elektronen, aber die haben eine Extraportion Ener- passende Wellenlängenfenster transformiert werden. Nano-
gie, sind also »heiß«, wie die Physiker sagen. Diese Ladungs- materialien sollen jetzt wiederum helfen, die Wellenlänge
träger kühlen sich innerhalb von wenigen billionstel Sekun- des Glühlichts noch besser zu justieren. Thermische Foto
den ab und heizen damit das Solarmodul auf. Das drückt den voltaik hätte dort Vorteile, wo Abwärme zum Vorheizen zur
Wirkungsgrad merklich. Verfügung steht, etwa in fossilen Kraftwerken oder Industrie
In dem »Science«-Artikel beschreibt Norris eine Metho- anlagen, und zur dezentralen Stromerzeugung auf engs-
de, die Elektronen so lange heiß zu halten, bis sie den Halb- tem Raum.
leiter verlassen haben. Dazu nutzte das Team Nanostruktu- Viel niedriger, nämlich bei 1,3 Prozent, liegt der Wirkungs-
ren aus Bleiselenid in Kombination mit einer Schicht aus grad der Papiersolarzellen, die Forscher der Universität
Titandioxid. Dieser Trick vergrößert die so genannte Band- Chemnitz hergestellt haben. Spezielle Druckerfarben wan-
lücke, das heißt den energetischen Abstand, den ein La- deln das Sonnenlicht in Strom um, für Druck und Papier
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nutzt das Team herkömmliche Techniken und Materialien. wenn man – analog zur Fotosynthese – noch eine chemische
Weitere Forschungsarbeiten sollen den Wirkungsgrad auf Speicherung mittels Elektrolyse und anschließender Ver-
fünf Prozent steigern. Dank der billigen Produktion wäre brennung des Wasserstoffs hinzurechnet. Pflanzen schaffen
dann sogar eine Lebensdauer von unter einem Jahr wirt- übers Jahr gerechnet weniger als ein Prozent.
schaftlich – Solarzellen würden zur Wegwerfware. Sowohl für Blätter als auch für Solarzellen gilt: Wenn die
Mutter Natur hat dieses Prinzip längst perfektioniert. Blät- Sonne nicht scheint, entsteht weder Biomasse noch Strom.
ter sind im Prinzip Solarzellen, die einen Sommer lang Bio- Deshalb wird intensiv an Speichern für elektrische Energie
masse erzeugen und dann im Herbst entsorgt werden. Den geforscht, die einen Überschuss vom Tag für die Nacht vor-
Pendants aus Menschenhand, selbst den Papiersolarzellen halten. Doch die Speicher sind entweder noch nicht ausge-
aus Chemnitz, sind sie allerdings weit unterlegen. Rund elf reift wie die Redoxflow-Batterie des Fraunhofer ICT in Pfinz-
Prozent beträgt der Wirkungsgrad einer Siliziumsolarzelle, tal oder Druckluftspeicher in unterirdischen Höhlen, oder
sie sind ökologisch umstritten wie Pumpspeicherkraftwerke
Wie ist eine Solarzelle aufgebaut? in den Bergen. Viel einfacher ist die Speicherung in solarther-
mischen Kraftwerken, auf denen große Hoffnungen ruhen.
Sonnenstrahlung (Photonen)
Fußballfeldergroße Spiegel konzentrieren das Sonnenlicht
und erhitzen eine Flüssigkeit, die eine Dampfturbine an-
Minuspol treibt. Zwei Bauweisen gibt es: Entweder konzentrieren Para-
Metallkontakte
Stromfluss bolspiegel das Sonnenlicht auf eine Röhre vor dem Spiegel,
n-Gebiet
Verbraucher durch die Öl fließt, oder flache Spiegel erhitzen flüssiges Salz
in der Spitze eines Turms.
Raumladungszone
(pn-Übergang)
elektrisches
Feld p-Gebiet
metallisierte Strom aus Licht: Treffen Photonen auf Schichten von Silizium,
Pluspol Rückseite
gelangen elektrische Ladungen in einen Stromleiter.
Spektrum der Wissenschaft / Buske-Grafik, nach: Energieagentur NRW
Sonne im Tank
Wärme oder Strom – aus Sonnenlicht lässt sich mittels Solarkol- das bei dieser enormen Hitze Sauerstoffatome abgibt. In einem
lektoren beziehungsweise Fotovoltaikzellen beides erzeugen. zweiten Schritt bei 900 Grad reagieren CO2 und Wasserdampf
Doch es gibt noch eine dritte Möglichkeit, an der intensiv ge- mit dem reduzierten Ceriumoxid. Dieses kehrt durch den frei
forscht wird: die direkte Umwandlung von Sonnenlicht in Bio- werdenden Sauerstoff wieder in seinen Ausgangszustand zu-
masse. Das klingt nach Alchemie und ist im Grunde doch nichts rück, der Kreisprozess beginnt von Neuem. Aus einer Öffnung
anderes als das, was Pflanzen in ihren Blättern machen. Die im Boden des Reaktors fließen das Synthesegas sowie reiner
künstliche Fotosynthese ist eines der faszinierendsten Projekte Sauerstoff. »Dank der hohen Temperaturen kann man mit ho-
in der Solarforschung, weil man damit Biotreibstoff herstellen hen Reaktionsgeschwindigkeiten solare Treibstoffe herstellen«,
könnte – ohne den Umweg über Pflanzen, die wertvolle Acker- so Steinfeld. Doch vom Labor zur industriellen Großanlage ist es
flächen blockieren und einen immensen Aufwand an Bewässe- wie immer ein weiter Weg. Erst 2020 werde man einen Mega-
rung und Düngung erfordern. wattsolarreaktor in einem Solarturmkraftwerk bauen können.
Ein interessantes Konzept verfolgt Aldo Steinfeld, Professor Anderes Konzept, anderer Sprit, selbe Hochschule: Professor
für erneuerbare Energieträger an der ETH Zürich und Leiter des Hyung Gyu Park interessiert sich für Wasserstoff, der einmal
Labors für Solartechnik am Paul Scherrer Institut (PSI). Er hat ei- Brennstoffzellenautos antreiben soll. Die übliche Elektrolyse,
nen Solarreaktor gebaut, der Wasser und Kohlendioxid in ein bei der Wasser in seine Bestandteile Wasserstoff und Sauerstoff
Synthesegas aus Wasserstoff und Kohlenmonoxid umwandelt, zerlegt wird, ist nur mit Solarstrom umweltfreundlich und
das als Vorstufe zur Synthese von Benzin, Kerosin und anderen obendrein verlustreich, weil schon die meiste Sonnenenergie in
flüssigen Treibstoffen dienen kann. Weil das Kohlendioxid der der Solarzelle verloren geht – der anschließende elektrochemi-
Luft entzogen wird, ist die CO2-Bilanz bei der Herstellung und sche Prozess kostet ebenfalls Wirkungsgrad. Deshalb will Park
Verbrennung neutral. Die flüssigen Treibstoffe lassen sich spei- mit Sonnenlicht direkt Wasserstoff produzieren. Der Forscher
chern und verschiffen, etwa aus sonnenreichen Regionen, wo untersucht dazu Nanomaterialien, zum Beispiel Kohlenstoff
heute Erdöl gewonnen wird. nanoröhrchen, die er mit Sonnenlicht bestrahlt. Damit könnten
Der Züricher Solarreaktor hat eine Leistung von 2000 Watt. sich die Bindungen im Wassermolekül knacken lassen, so die
Er konzentriert das Sonnenlicht 1500-fach und heizt das Reakti- Hoffnung. Eine großtechnische Umsetzung liegt allerdings
onsgefäß auf 1500 Grad Celsius. Das Gefäß enthält Ceriumoxid, noch in weiter Ferne.
wöhnt ist. Die Entfernungen wären zudem relativ kurz und Diesen Artikel sowie weiterführende Informationen finden Sie im
ließen sich mittels Hochspannungsgleichstromübertragung Internet: www.spektrum.de/artikel/1124697
über große Strecken verlustarm überbrücken. Oder man er-
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Grüne Welle für den Laser
Mobile elektronische Geräte werden immer kleiner. Dennoch sollen sie groß
formatige Bilder erzeugen. Dafür sollen zukünftig Miniatur-Laserprojektoren
sorgen. Bislang fehlte dazu jedoch eine entscheidende Voraussetzung: ein
echter grüner Laser. Jetzt haben deutsche Forscher den Durchbruch geschafft –
exklusiv in »Spektrum« berichten sie, wie es ihnen gelang.
Von Désirée Queren, Adrian Avramescu und Stephan Lutgen
N
ach einem Jahrhundert hat die klassische Glüh Eine direkt grün emittierende
birne als Leuchtmittel mittlerweile ausgedient Laserdiode (links) ist effizienter
und wird derzeit europaweit durch kompakte sowie kleiner als ein frequenz
Leuchtstofflampen ersetzt. Doch diese Energie verdoppelter Infrarotlaser
sparlampen sind wegen ihres Gehalts an umweltschädli (Mitte) und eine radial emittie
chem Quecksilber und des unausgewogenen Lichtspektrums rende Leuchtdiode (rechts).
Zentimeter
umstritten. Es zeichnet sich bereits ab, dass die noch viel effi
zientere Lichtproduktion aus Halbleiterkristallen sie schon 0 1 2
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ekrümmte Flächen mit großer Tiefenschärfe möglich –
g minium- oder Indiumgalliumnitrid (siehe Kasten rechts
ohne dass wie bei konventionellen Projektoren eine spezielle unten).
Optik zur Fokussierung nötig wäre. Um mit diesen Materialien einen grünen Laser zu konst
Satte und scharfe Farbbilder erfordern drei Laser in ruieren, muss der Indiumgehalt in den Licht aussendenden
Rot, Blau und Grün. Das Problem dabei: Bislang sind erst rote InGaN-Schichten im Vergleich zum blauen Laser erhöht wer
und blaue Laser routinemäßig herstellbar. Erste kommerziell den. Doch die veränderte Materialzusammensetzung beein
verfügbare, nur wenige Kubikzentimeter große Laserprojek flusst leider nicht nur die emittierte Wellenlänge, also die
toren kombinieren die Strahlen von roten und blauen Laser Farbe des Lichts, sondern gleichzeitig auch drastisch die Git
dioden mit Infrarotlasern, die durch Frequenzverdopplung teranordnung der Atome im Kristall. Die Ursache hierfür
grünes Licht liefern. Doch frequenzverdoppelte Laser haben liegt in den unterschiedlichen Eigenschaften von Indium-
im Vergleich zu direkt grün emittierenden Laserdioden ent und Galliumatomen.
scheidende Nachteile: Sie sind teurer, liefern schlechtere Beim Erhöhen des Indiumanteils im Kristall werden Galli
Bildqualität und sind vor allem deutlich größer als direkte umatome durch Indiumatome auf gleichwertigen Gitter
grüne Laserdioden aus Indiumgalliumnitrid (InGaN). plätzen ersetzt. Indium liegt aber in einer anderen Stelle im
Periodensystem der Elemente als Gallium; seine Atome sind
Problematische Kristallqualität daher größer und weisen andere Bindungsverhältnisse auf.
Nur ist es leider nicht einfach, InGaN-Laserdioden herzustel Das erschwert den Einbau zusätzlichen Indiums, denn die
len, die grünes Licht emittieren; das gelang erst 2009. Seit indiumhaltigen Schichten auf den GaN-Substraten stehen
her liefern sich mehrere Forschungs- und Universitätsein unter Spannung. Wird diese allzu groß, setzen so genannte
richtungen ein rasantes Kopf-an-Kopf-Rennen mit dem Ziel, Relaxationsprozesse die gespeicherte Energie im Kristall frei,
die Performance und Prozessstabilität des grünen Lasers was zu Versetzungen – eindimensionalen Kristalldefekten –
großserientauglich zu machen. Sie müssen dabei mehrere führt.
Hürden überwinden. Um dennoch einen möglichst regelmäßigen Indiumein
Blaue und grüne LEDs sowie blaue Laserdioden werden bau in das GaN-Kristallgitter zu erreichen, muss die Abschei
durch die so genannte Epitaxie, eine besondere Form der dung unter speziellen Wachstumsbedingungen ablaufen –
schichtweisen Kristallabscheidung, hergestellt. Das geschieht die aber wiederum ihrerseits die Kristallqualität verschlech
in speziellen Reaktoren durch Gasphasenabscheidung von tern. Beispielsweise muss man die Abscheidetemperatur der
vielen perfekt einkristallinen Halbleiterschichten aus Alu Substratoberfläche deutlich reduzieren, da sonst das zu
Spiegel Bildfläche
20 µm 20 µm
nächst an der Oberfläche angelagerte Indium wieder frei ren, verhindern solche Strukturen die Funktion von Laser
würde. Doch die niedrigere Temperatur hemmt die Beweg dioden. Nachdem wir diese Defekte durch eine geeignete
lichkeit der angelagerten Atome auf der Oberfläche; das be Schichtstruktur und optimierte Wachstumsbedingungen
günstigt Punktdefekte und ungleichmäßiges Wachstum. Auf vermeiden konnten, stellten wir fest, dass auch auf kleinerer
diese Weise werden viele unterschiedliche Defekte in den Skala, in der Größenordnung von 500 Nanometern (millions
Kristall eingebaut. tel Millimetern), so genannte Indium-Gallium-Fluktuationen
Als unser Team bei der Firma Osram Opto Semiconduc auftreten.
tors daranging, grüne Laserdioden zu entwickeln, war dies
eines der ersten Probleme, die es zu lösen galt. In Fotolumi Hilfreiche piezoelektrische Effekte
neszenzaufnahmen erscheinen defektreiche, rund 20 Mikro Mit dem so genannten Transmissionselektronenmikroskop
meter (tausendstel Millimeter) große Regionen als dunkle fanden wir sogar noch winzigere Defekte (um zehn Nanome
Flecken (siehe Bild oben rechts). Die Defektbereiche produ ter, siehe Abbildung S. 82 oben). Nur mit derart aufwändigen
zieren bei optischer Anregung kein Licht und erscheinen da Nachweismethoden lassen sich feinste Defekte aufspüren,
her dunkel gegenüber den Bereichen mit guter Kristallquali um anschließend die Kristallwachstumsbedingungen opti
tät, die grünes Licht emittieren. Da die fehlerhaften Gebiete mieren und eine annähernd perfekte Kristallanordnung er
nicht nur kein Licht aussenden, sondern es sogar absorbie reichen zu können.
Der geordnete Abscheideprozess auf einem vorgegebenen Sub- beheizte Substrat gebracht. An der Grenzfläche zum GaN-Sub
strat wird Epitaxie genannt (von griechisch epi für »auf« und ta- strat läuft bei geeigneten Temperaturen und Reaktordruck die
xis für »Richtung«). Das Substrat prägt dabei seine Kristallstruk- chemische Reaktion zur Bildung von GaN ab:
tur der Atomanordnung in den abgeschiedenen Schichten auf.
Will man beispielsweise dünne Schichten von Galliumnitrid
(GaN) erzeugen, so dienen als Ausgangsstoffe eine metallorga- Die Trägergase lassen die Ausgangsstoffe erst auf dem
nische Galliumverbindung, etwa Trimethylgallium, sowie Am- Substrat miteinander reagieren, so dass sie sich nur
moniak (NH3 ) als Quelle für Stickstoff. Beide Substanzen wer- dort abscheiden. Auf diese Weise bildet sich unter geeig-
den getrennt voneinander mit Hilfe von Trägergasen auf das neten Bedingungen eine kontinuierliche Schicht.
Epitaxieschicht
Ga Substrat
NH3
beheizter Suszeptor
Ausgangsstoff
als Quelle für Galliumatome
www.spektrum.de 81
10
µPL-Karte
Tiefe Einblicke in eine grün emittierende Kristallschicht: Die
Versetzungen
8 Fotolumineszenz- und Transmissionselektronenmikroskopie
enthüllt noch die feinsten Defekte (links: Ovale; rechts:
8
blaue Pfeile). Sie müssen vermieden werden, wenn der grüne
4 Laser seine volle Leistung erbringen soll.
2
100 nm
2377 2384 2391 2398 2405 elektrischen Effekts elektrische Felder (Kasten unten).
Energie (eV)
Der Effekt ist an sich für grüne Laserdioden und Leucht
dioden erwünscht. Das elektrische Feld verändert die quan
Die Kristallqualität ist nicht die einzige Herausforderung, tenmechanischen Energiezustände an den Grenzflächen der
die es bei der Entwicklung von grünen Laserdioden zu lösen einzelnen Schichten – und somit die Wellenlänge des emit
gilt. Halbleiterverbindungen der Elemente Gallium, Indium tierten Lichts. Leuchtdioden, die bei niedrigen Stromdichten
und Stickstoff kristallisieren in Form der »Wurtzit-Struktur«, betrieben werden, gelangen dank dieses Effekts zu langwelli
deren Elementarzelle eine hexagonale Basis besitzt. Werden gerem grünem Licht. Doch Laserdioden erfordern viel höhe
nun auf Grund von Spannungen in der Kristallstruktur – die re Stromdichten, um die stimulierte Emission zu erreichen.
bei dünnen, Licht emittierenden InGaN-Schichten leicht ent Hohe Stromdichte bedeutet zugleich hohe Ladungsträger
stehen – Atome in der Elementarzelle ein wenig verschoben, dichte – und die schirmt das durch den piezoelektrischen Ef
so ändern sich die physikalischen Eigenschaften deutlich. fekt erzeugte elektrische Feld teilweise ab. Das verschiebt die
pseudomorph
InGaN verspannt relaxiert mit piezoelektrischem Effekt ohne piezoelektrischen Effekt
Leitungsband Leitungsband
Valenzband Valenzband
σD
σD σD
Energie
Energie
n-Seite p-Seite
0 0
2 4 6 0 2 4 6 8
Schichtdicke in Nanometern Schichtdicke in Nanometern
focus.de/abo
540 70
Osram-C-Ebene 450
10
520 60 Nanometer
g.
Laserwellenlänge in Nanometern
Aug. 10
Au
er
9
et
50 .9
ov
m
500
rN
o
an
e te
2N
40 m
o
an
52
480
2N
30 52
460
20
440
10
420
2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 0
0 50 100 150 200 250
Jahr Strom in Milliampere
Im letzten Jahrzehnt haben sich die grünen Laserdioden bei Osram Opto Semiconductors rasant
entwickelt (links). Jüngst hat sich eine wichtige charakteristische Größe, der so genannte
Schwellstrom, immer besser an den erstrebten Vergleichswert für blaue Laser angenähert (rechts).
Gastgeber und Gäste des Salons: Baron Paul Thiry d’Holbach, Denis Diderot, Jean-Baptiste le Rond d’ Alembert
und Jean-Jacques Rousseau (von links nach rechts)
www.spektrum.de 85
rezensionen
gehörigen Satzes verlangt Kenntnisse nau die Zahl, die von Generationen von entwicklung, die am Ende die Entschei
aus der Vektorrechnung und Routine Künstlern, Bildhauern und Architekten dung liefert, ob eine Zahl ungefähr rati
im Umgang mit Ungleichungen. am meisten geliebt wurde: Es ist der onal ist. Im Einzelfall muss die Zahl nur
Es folgt die typische Kost, an die Be Goldene Schnitt (1+√5)/2.« so genau bekannt sein, wie der Taschen
sucher von Mathematikvorlesungen Es folgt der Begriff des Kettenbruchs; rechner sie darstellt; dann kann man
gewöhnt sind: Zunächst werden neue das ist ein Bruch, deren Nenner eine alles, was man für die Entscheidung
Begriffe und Sachverhalte eingeführt, Summe aus einer natürlichen Zahl und braucht, ausrechnen – mit dem Ta
deren Zusammenhang mit dem ange einem Bruch ist, dessen Nenner wiede schenrechner.
strebten Ergebnis alles andere als offen rum … Dann wird erklärt, was Ketten Das Werk ist sehr empfehlenswert
sichtlich ist. Hier ist es der Satz von Hur brüche mit dem euklidischen Algorith für alle, die Freude an höherer Mathe
witz und Borel über quadratische Nähe mus zu tun haben, jener seit der Antike matik haben und sich nicht vor der zu
rungen, in dem merkwürdigerweise die bekannten Methode, mit der man den gehörigen Anstrengung scheuen!
Zahl √5 eine Rolle spielt. »Was ist die ir größten gemeinsamen Teiler zweier
rationalste aller irrationalen Zahlen, die Zahlen bestimmen kann. Heinz Klaus Strick
Zahl, die sich am meisten gegen eine Nach einigen Propositionen und Der Rezensent ist Mathematiker und ehema-
rationale Näherung sträubt? Erstaunli Lemmata kommt dann endlich der alles liger Leiter eines Gymnasiums in Leverkusen-
cherweise ist diese schlimmste Zahl ge klärende Satz: Es ist die Kettenbruch Opladen.
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François Lelord
Das Geheimnis der Cellistin. Beinahe normale Fälle eines ungewöhnlichen Psychiaters
Aus dem Französischen von Ralf Pannowitsch. Piper, München 2011. 380 S., € 19,95
Bekannt geworden ist François Lelord als Autor der Romane von Hector, dem Psychiater auf der Suche
nach dem Glück – doch eigentlich ist er selbst einer. In dieser Eigenschaft tritt er hier in die Fußstap-
fen von Oliver Sacks (»Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte«). An neun typischen
Fällen aus seiner Praxis beschreibt er psychische Störungen von Agoraphobie über Autismus und Bu-
limie bis Schizophrenie samt Behandlungsmöglichkeiten wie Psychoanalyse, Verhaltenstherapie und
Psychopharmaka. Für die deutsche Ausgabe des im Original 1993 erschienenen Buchs hat Lelord je-
des Kapitel mit einer aktualisierenden Ergänzung versehen. Nicht zuletzt dadurch ist das Buch auch
heute lesenswert. Psychiatrisch Vorgebildeten bietet es allerdings nichts Neues, und auch im Unter-
haltungswert kommt es nicht ganz an das große Vorbild Sacks heran. Hartwig Hanser
Josef H. Reichholf
Naturgeschichte{n}. Über fitte Blesshühner, Biber mit Migrationshintergrund und warum wir uns die Umwelt
im Gleichgewicht wünschen
Knaus, München 2011. 320 S., € 19,99; Kindle eBook € 15,99
Mit rund 50 faszinierenden Geschichten nimmt uns der bekannte Münchner Biologe Josef Reichholf
mit auf erlebnisreiche Kurzreisen in die Natur, vor die Haustür wie auch in ferne Welten. Dabei ge-
lingt ihm mancher überraschende Brückenschlag, vor allem wo er uns selbst den Spiegel vorhält.
Wichtiger als humorige Hinweise auf biologisch bestimmte Wesenszüge des Menschen sind ihm Irr-
tümer, mangelhaft reflektierte Weltansichten und unhaltbare Naturvorstellungen, die er den Exper-
ten vom Naturschützer bis zum Ökologen vorhält. So etwa die Idee von der »heilen Natur«, die sich in
Wirklichkeit an der Kulturlandschaft des 19. Jahrhunderts orientiert. Und wer ist sich dessen bewusst,
dass das wunderschön blühende Rapsfeld viel weniger Arten Lebensraum bietet als eine Großstadt?
Durchgehend spannend, oft mit einem Augenzwinkern, dann wieder bissig-kritisch bis witzig lehrt
Reichholf uns manche Lektion und verschweigt dabei ungelöste Rätsel nicht. Adelheid Stahnke
Magnus Heier
Nocebo: Wer’s glaubt wird krank. Wie man trotz Gentests, Beipackzetteln und Röntgenbildern gesund bleibt
Hirzel, Stuttgart 2011. 133 S., € 17,90
Nicht nur Hypochonder kennen das: Kaum liest man die Beschreibung einer Krankheit, schon spürt
man die Symptome bei sich selbst. Dahinter steckt der Noceboeffekt (lateinisch »ich werde scha-
den«), der kaum bekannte dunkle Zwilling der Placebowirkung. Seine Ursachen und Folgen führt uns
der Autor, selbst Facharzt für Neurologie, eindringlich vor Augen. Die moderne Diagnostik, die jede
noch so unbedeutende Auffälligkeit an den Tag bringt, liefert oft unklare Befunde, die Angst auslösen
und wirklich krank machen können. Die Beipackzettel von Arzneimitteln mit ihren langen Listen
möglicher Nebenwirkungen tragen zusätzlich zur Verunsicherung bei. Als Heilmittel empfiehlt Heier
eine humanere Medizin, die überflüssige Untersuchungen durch ein intensiveres Gespräch mit dem
Arzt ersetzt – in unserem Gesundheitssystem freilich ein frommer Wunsch. Gerhard Trageser
Georg Brunold
Fortuna auf Triumphzug. Von der Notwendigkeit des Zufalls
Galiani, Berlin 2011. 283 S., € 19,99
Alle Achtung. Der studierte Philosoph, Schriftsteller, Journalist und Übersetzer Georg Brunold hat die
100 Quellen wirklich gelesen und versteht es, die tiefsinnigsten Gedanken aus ihnen zu referieren. Da
kommt eine bunte Mischung zusammen, die sich nur lose um das Thema Zufall rankt: die Glücksgöt-
tin in der Antike und in der christlichen Umdeutung, Glücksspiel, Wahrscheinlichkeitstheorie, Statis
tik, Zufall in Literatur, Kunst und der wissenschaftlichen Entdeckung. Vor allem aber geht es Brunold
um den freien Willen, den Determinismus (den er überhaupt nicht mag), die Chaostheorie, die irra
tionalen Zahlen im Allgemeinen und die Zahl π im Besonderen. Bei manchen heftigen Gedanken-
sprüngen wird der Mathematiker nervös (so wie vermutlich der Historiker bei den geschichtlichen
Darstellungen); aber amüsant zu lesen ist es schon. Christoph Pöppe
www.spektrum.de 89
rezensionen
Fondation Cartier pour l’art contemporain Vor allem Gromov ist in der Szene als
Mathématiques, un dépaysement soudain / schräger Vogel bekannt und geschätzt
Mathematics: A Beautiful Elsewhere (Spektrum der Wissenschaft 5/2009, S.
Ausstellung bis zum 18. März 2012. 74); auch unter Mathematikern findet
261 boulevard Raspail, F-75014 Paris man selten jemanden, der sich so be
Geöffnet täglich außer montags 11 bis 20 Uhr, dienstags bis 22 Uhr reitwillig zum Affen macht wie er (www.
Eintritt 9,50 €, ermäßigt 6,50 € ihes.fr/~gromov). Auf der Künstlerseite
Katalog (französisch oder englisch): 224 S., mit Audio-CD, 44 € fand er einen ähnlich skurrilen Partner
http://fondation.cartier.com in Gestalt des Regisseurs David Lynch,
der mit Kultfilmen wie »Wild at Heart«
berühmt geworden ist.
Kunstausstellung
Und was ist deren gemeinsamer Bei
nungen illustriert werden. An der Wand ken anderer Wissenschaftler, die mit er
laufen Zitate aus Gromovs »Library of steren in einer engen Beziehung stehen.
Mysteries«, einer Sammlung zweifellos Ein eindrucksvolles Geflecht, zweifellos,
bedeutender Werke der Wissenschaft Poincaré war in seiner Genialität und
von dem antiken Naturphilosophen He Vielseitigkeit eine herausragende Aus
raklit bis zu dem genialen, im Wortsinn nahmefigur – aber wertlos für den, der
verschollenen Mathematiker Alexander die Titel nicht zu interpretieren weiß.
Grothendieck; die Punkmusikerin Patti Und Jean-Michel Alberola hat die Hand
Smith mit ihrer rauchigen Stimme, ver von Cédric Villani beim Anschreiben an
schwommen abgefilmt von David Lynch, die Wandtafel abgefilmt, und nichts an
steuert etwas mystische Aura bei. deres als die Hand. Angeblich war es ein
Nebenan ist der Raum der von Gro mathematischer Beweis, den Villani da
mov postulierten »vier Wunder«: Das angeschrieben hat; aber was ist die
sind die Gesetze der Physik, das Leben, künstlerische Aussage, wenn das Kunst
das menschliche Gehirn und – die drei werk, so wie es gemacht ist, zuverlässig
anderen umfassend – das Wunder der verhindert, dass man versteht, worum
mathematischen Struktur. Die Expo es geht, wozu man bei weniger enger
nate in diesem Raum lassen sich aller Perspektive vielleicht eine Chance ge
dings nur mit Mühe in Gromovs Wun habt hätte?
derschema einordnen. Da findet sich Ein Raum weiter dann das einzige
die Penrose-Pflasterung, für die Kinder wirklich materielle Kunstwerk der Aus
zum Puzzeln und in bewegten Bildern stellung: eine Pseudosphäre aus Alumi
projiziert ins Innere einer Halbkugel. nium, geschaffen von dem japanischen
Zweifellos nicht mehr ganz neue Ma Künstler Hiroshi Sugimoto (Bild links).
thematik; aber gerade der Film setzt die Eigentlich ragt diese Fläche konstanter
dahinterstehenden Ideen in faszinieren negativer gaußscher Krümmung bis ins
der Weise um. Man merkt, dass die Film Unendliche und wird dabei beliebig
macher von der Softwarefirma BUF sich dünn. Da erlaubt das Material eine bes
intensiv in die Mathematik eingear sere Näherung als die traditionellen
beitet haben. Im Wechsel damit kom Gipsmodelle, die Sugimoto auf die Idee
men erstklassige filmische Darstellun gebracht haben. Aber warum gilt das als
gen von Diffusions- und Wellenphäno Kunst? Die wesentliche Leistung Sugi
menen sowie von der Aerodynamik des motos besteht darin, die mathema
Fliegens. Wenn die Bilder bloß nicht so tische Formel in bisher unerreichter Kalender »Himmel und Erde 2012«
hektisch am Betrachter vorbeirauschen Perfektion in ein Objekt umgesetzt zu
Astronomen präsentieren im Bildkalender
würden! haben; das ist eigentlich Handwerk,
»Himmel und Erde 2012« ihre schönsten Aufnah-
Im selben Raum befinden sich eine wenn auch erstklassiges.
men und lassen Sie an den fantastischen
hübsch bunte Collage der brasiliani Hohe Kunst und hohe Mathematik
schen Malerin Beatriz Milhazes nach haben sich getroffen und viele Worte Möglichkeiten der modernen Naturbeobachtung
Ideen des Mathematikers Cédric Villani produziert, mit denen ich nicht viel an teilhaben. Zusätzlich bietet er wichtige Hinweise
sowie ein Stück aktuelle Forschung: fangen kann. Mit Ausnahme von Gro auf die herausragenden Himmelsereignisse
Pierre-Yves Odeyer vom Standort Bor movs Erinnerungen aus seinem Leben; 2012 und erläutert auf einer Extraseite alle auf
deaux des Forschungszentrums INRIA die sind originell und umwerfend ko den Monatsblättern des Kalenders abgebildeten
(Institut national de recherche en infor misch. Als Nebenprodukt sind Werke Objekte knapp und anschaulich. 14 Seiten;
matique et en automatique) entwickelt entstanden, die mich begeistern – aber
13 farbige Großfotos; Spiralbindung; Format:
Software für das selbsttätige, neugier nicht in erster Linie wegen ihrer künst
55 x 45,5 cm; € 29,95 zzgl. Porto; als Standing
getriebene Lernen. Seine künstlichen lerischen Qualitäten, sondern weil sie –
Subjekte sind kleine Roboter mit Affen ganz pädagogisch – die Mathematik so Order € 27,– inkl. Inlandsversand
köpfen, an deren Gestaltung Gromov gut transportieren. Vielleicht soll man www.spektrum.com/kalender2012
und Lynch beteiligt waren. den Kunstbegriff nicht so eng fassen.
Ein Stockwerk tiefer finden sich zwei Oder ich bin Kunstbanause.
Exponate, die ich für misslungen halte. Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Slevogtstraße 3–5 | 69126 Heidelberg | Tel.: 06221 9126-743
An einer großen Wand angeschrieben Christoph Pöppe Fax: 06221 9126-751 | service@spektrum.com
finden sich die Titel der Werke von Hen Der Rezensent ist Redakteur bei »Spektrum der
ri Poincaré (1854 – 1912) sowie von Wer Wissenschaft«.
Fotos: aus Zeitschriften der Forschungsbibliothek für Wissenschafts- und Technikgeschichte des Deutschen Museums
es möglich. schiffahrt ließen sich denken, wenn nicht im Aluminium
ein Metall von unvergleichlicher Leichtigkeit zur Verfügung
stände.« Kosmos 12, Dezember 1911, S. 471
Gegen Atemnot bei Blasmusikern
»Der Schweriner Hofmusiker Bernard Samuels hat der mu-
sikalischen Welt eine originelle Erfindung gebracht, deren
Südfrankreich meldet ältesten Neandertaler
Einführung Musikern große Erleichterung schaffen wird. »Aus Südfrankreich kommt aufs neue die Kunde von der Auf-
Blasinstrumente habe zwei Nachteile! Das Spielen erfor- deckung fossiler Menschenreste, die der Kulturschicht des
dert bedeutende Kraftanstrengung der Atmungsorgane, die Moustérien, also der älteren Steinzeit entstammen und mit
bei älteren Musikern sich besonders bemerkbar macht. Der großer Wahrscheinlichkeit als dem Neandertalertypus ange-
zweite Nachteil ist der, daß die Atmung keine absatzlose Aus- hörig bezeichnet werden können. Die Ablagerung, in der das
führung beim Spiel gestattet. Der Aerophor – Luftbringer – Skelett angetroffen wurde, entspricht einem alten Flußlauf.
beruht auf folgender Konstruktion. Durch einen Schlauch, Lagerung und Haltung scheinen darauf hinzudeuten, daß
der in ein Mundstück mündet, wird dem Instrumente ein es sich um einen Kadaver handelt, der vom Ufer in den Fluß
Luftstrom zugeführt, der durch einen Apparat durch pedal gestürzt ist oder herabgeschwemmt wurde. Die Fundschicht
artiges Auftreten mit dem Fuß erzeugt wird. Der Blasebalg ist ungestört; es ergibt sich die Berechtigung, dem Skelett
ist mit einem Rückschlagventil versehen, um zu verhindern, ein hohes geologisches Alter zuzusprechen. Es ist älter als
daß Lungenluft in den Balg geblasen wird.« Die Umschau in Wis- alle bisher bekannten menschlichen Skelette.« Die Umschau in
senschaft und Technik 49, Dezember 1911, S. 1015 Wissenschaft und Technik 51, Dezember 1911, S. 1065
www.spektrum.de 93
Vorschau Das Januarheft 2012 ist ab 20.12. im Handel.
dreamstime / Hsc
Serie ZUKUNFT DER ENERGIE
Wissenschaftlichkeit auch für sich reklamiert, bildet exakt aufeinander abgestimmt, als
für viele Naturwissenschaftler der Glaubensakt die folgten sie einer vorgegebenen Choreo-
unüberwindliche Barriere zwischen den Bereichen grafie. Kann allein die Interaktion zwi-
schen benachbarten Tieren ein derart
koordiniertes Verhalten hervorbringen?
Datengetriebene
6/11
Wissenschaft
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Das Unmögliche demnächst –
nur Wunder dauern etwas länger
A ls ich in die Wissenschaft einstieg, war man schon froh, wenn man mit dem Rechner eine
Kurve »plotten« konnte – gerne auch mal in Abhängigkeit von zwei Variablen, also echt
dreidimensional! Später gelang es vereinzelt sogar, dynamische Probleme mit Hilfe von Differenzial
gleichungen für einige Zeitschritte zu verfolgen. Und das vom »Terminal« aus, ganz ohne Loch
streifen oder -karten – ein absolutes Highlight in der Computersteinzeit.
Der Rückblick sei gestattet, um die Dimensionen des Fortschritts zu begreifen: Welche Probleme
sich heute mit Superrechnern behandeln lassen und welch riesige Datenmengen dabei produziert
und gezielt ausgewertet werden, überstieg noch vor wenigen Jahren fast die Vorstellungskraft oder
galt schlicht als unmöglich. Darum erstaunt es mich immer wieder, was in der Wissenschaft inzwi
schen alles machbar ist – und was insbesondere auch an dem vom Wissenschaftsmäzen Klaus
Reinhard Breuer Tschira gegründeten Heidelberger Institut für Theoretische Studien passiert, mit dem sich dieser
Sonderteil beschäftigt.
Die dort tätigen Forscher stellen ausgewählte Projekte ihrer Arbeit auf den folgenden Seiten
selbst vor, betreut und unterstützt von der Redaktion von »Spektrum der Wissenschaft«. Einige
haben vorher schon in unserem Magazin geschrieben oder wurden darin porträtiert: so der Computer
linguist Michael Strube (»Wikipedia: Wissen für die Künstliche Intelligenz«, 12/2010, S. 94) und der
Astrophysiker Volker Springel (»Vielleicht laufen wir einem Phantom nach«, 11/2010, S. 34).
W er hätte sich träumen lassen, was Forscher heutzutage mit Hilfe von Simulationen – so nennt
man die Berechnungen inzwischen – alles ergründen können: neben der Entstehung von
Galaxien (S. 10) und der automatischen Erkennung natürlicher Sprachen (S. 30) auch die Stammes
geschichte von Organismen (S. 22) oder die Wechselwirkung von Proteinen (S. 14). Man möchte an
numerische Zauberei glauben, so schnell gerät das (einst) Unmögliche in Reichweite – nur Wunder
dauern immer noch etwas länger.
Mit den exponentiell anwachsenden Datenmengen und Publikationen wächst aber zugleich
das Problem, sich darin noch zurechtzufinden. Entsprechend arbeiten auch Gruppen am HITS über
Datenbankmanagement, beispielsweise um für Forscher Informationen über Stoffwechselprozesse
bereitzustellen (S. 26). Denn die Simulation von Problemen mit niemals völlig zutreffenden, aber
oft nützlichen Modellen (wie Klaus Tschira in seinem Editorial auf der nächsten Seite vermerkt) ist
nur ein Aspekt jener »datengetriebenen Wissenschaft«, die mit dem Siegeszug der Höchstleistungs
rechner immer mehr an Bedeutung gewinnt. Auf die immensen Herausforderungen, vor die sie
alle Forschungsgebiete stellt, weist HITS-Chef Andreas Reuter in seinem Beitrag ab S. 6 hin.
Ob diese Herausforderungen schon überall verstanden sind, lässt sich bezweifeln. Wohin jedoch die
abenteuerliche Reise vermutlich geht, können Sie bei der Lektüre der folgenden Artikel erahnen.
Reinhard Breuer
Editor-at-Large
Spektrum der Wissenschaft
W as tun Wissenschaftler, die in der Grundlagenforschung arbeiten, die also versuchen, be
stimmte Teilaspekte der uns umgebenden Welt zu verstehen? Manche von ihnen machen
das, was die meisten Menschen von Wissenschaftlern erwarten: Sie beobachten, zählen, messen,
registrieren, katalogisieren. Das sind die Empiriker. Sie streben danach, möglichst genaue Informa
Tim Wegner, © klaus tschira stiftung
D ie zwei genannten Arbeitsweisen ergänzen sich auf fruchtbare Weise. So nutzte Johannes
Kepler das umfangreiche Beobachtungsmaterial Tycho Brahes zur Formulierung seiner Plane
tengesetze – ein klassisches Beispiel dafür, wie Messergebnisse durch Theoriebildung zu neuen
Erkenntnissen führen. Manchmal ist das theoretische Modell auch zuerst da. Dann dienen Messun
gen dazu, es durch Vergleich mit seinen Voraussagen nachträglich zu bestätigen oder zu widerlegen.
In diese Kategorie fällt Einsteins allgemeine Relativitätstheorie, die erst Jahre später experimentell
untermauert wurde.
Natürlich befruchten Theorien auch die empirische Seite der Wissenschaft. So ermöglichen sie
neue experimentelle Fragestellungen oder innovative Messverfahren. Weder Experimente noch
Theorien allein verhelfen also zu grundlegenden neuen Einsichten. Nur ihr Wechselspiel bringt die
Wissenschaft voran.
Seit etwa 20 Jahren verschiebt sich jedoch die Balance zwischen Experiment und Theorie in
einem Maß, das teils schon eine Entkopplung befürchten lässt. Der Hauptgrund dafür ist, dass
erheblich mehr Fördermittel in Experimentiereinrichtungen wie Beschleuniger, Teleskope, Sequen
zierer oder Computer geflossen sind als in die Theoriebildung. In Verbindung mit dem rasanten
Leistungszuwachs in der Halbleitertechnik kam es so zur Ansammlung gigantischer Datenmengen,
die kein Mensch mehr allein durch Sichten und Nachdenken verarbeiten kann. Die Frage, wie solche
Datenfluten jemals zu Theorien verdichtet, zu Erkenntnis veredelt werden können, geriet völlig in
den Hintergrund. Das war für mich der Impuls zur Gründung des gemeinnützigen Heidelberger
Instituts für Theoretische Studien (HITS).
Daten gibt es, wie gesagt, in Hülle und Fülle, und zwar auf allen Gebieten der Naturwissen
schaften und darüber hinaus. Die Forschungsgruppen des HITS sollen technisch und organisatorisch
die Möglichkeit bekommen, Methoden zu entwickeln und zusammen mit experimentell arbeitenden
Forschern zu erproben, die es erlauben, diese Datenmengen effektiv zu verwalten und zur Gewin
nung neuer Einsichten nutzbar zu machen. Wenn dabei gelegentlich regelrechte Forschungs-Hits
entstehen, ist das ganz im Sinne des Erfinders.
Klaus Tschira
Geschäftsführer HITS gGmbH
Datengetriebene Wissenschaft 3
inhalt
6 D
atengetriebene Forschung –
Herausforderung für die Informatik
Von Andreas Reuter
Auf allen Gebieten der Natur- und Inge
nieurwissenschaften gewinnt eine Arbeits-
methode an Bedeutung, bei der die Ana-
lyse sehr großer Mengen von Daten zu
neuen Erkenntnissen führt. Mit welchen
technischen und organisatorischen Maß-
nahmen kann die Informatik eine solche
datengetriebene Forschung unterstützen?
10 Der Kosmos im Computer
Von Volker Springel
In den fortgeschrittensten Supercomputer-
simulationen versuchen Forscher, eine
Brücke vom Universum kurz nach dem
Urknall bis zur Gegenwart zu schlagen. Sie
untersuchen, wie sich aus der einst homo-
gen verteilten Materie die heutige Vielfalt
von Galaxien entwickeln konnte
14 D
as biomolekulare Erkennungspuzzle
Von Rebecca C. Wade
Proteine sind die Funktionsträger des
Lebens. Ihre Wechselwirkungen miteinan-
der und mit anderen Biomolekülen sorgen
dafür, dass Zellen ihre Aufgabe im Organis-
mus erfüllen. Um diese Wechselwirkungen
besser zu verstehen, setzen Forscher zuneh-
mend rechnergestützte Methoden ein. Com-
putersimulationen von Proteininteraktio-
nen leisten auch einen immer wichtigeren
Beitrag zum Design von Wirkstoffen gegen
Krankheiten und in der Biotechnologie
mit frdl. gen. von Anne Ashley und Gerard manning, salk institute
und der Stammbaum des Lebens
Von Alexandros Stamatakis
Eine wahre Flut von DNA-Daten ermöglicht
inzwischen immer präzisere Rekonstruk
tionen von Stammbäumen – im Prinzip
jedenfalls. In der Praxis überfordern exakte
Lösungen auch die leistungsfähigsten
Computer. Die Herausforderung heißt
Europa
Zeitalter
deshalb, die Effizienz der Programme für Kunst
Moderne
Deutschland
Russland
26 Pfade im Informationsdschungel
Phosphoglucose- Person Phosphofructo- Kultur
Hexo-Kinase (Europa) Aldolase
+
Isomerase (Bildende Kunst) Kinase
Neuzeit
Deutscher
Deutscher
Daten in der Flut an Publikationen aufzu Pyruvat- H2O
Enolase
Komponist Phosphoglycerat-
Künstler
Phosphoglycerat-
Russischer
Künstler
Glycerinaldehyd-
Künstler
3-phosphat-
der Neuzeit Triosephosphat-
Kinase (Klassische Musik) Mutase Kinase Dehydrogenase Isomerase
finden Komponist
(Kirchenmusik)
Russische
Musik
Komponist (Oper)
ATP ADP H2O ATP ADP NADH, H+
Grafiker
Deutscher
Musiker Russischer NAD+
Künstler
der Moderne
Pyruvat Phosphoenol- 2-Phospho- 3-Phospho-
Musiker 1,3-Bisphospho-
Radierer
pyruvat Komponist glycerat
Deutscher
glycerat glycerat
Künstler
Ludus Tonalis Ernst Ludwig Paula des Suprematismus
guistik ihre Erfolge erzielt Musikalisches
Werk
Kirchner Modersohn-Becker
Dadaismus
Mathis der Maler
Werk von
Ballett (Werk) Igor Strawinski
Künstler
Frau Hannah Höch des Dadaismus
Oper (Werk)
34 Virtuelle Forschungs-
The Rake’s
Le sacre
Progress
du printemps
Datengetriebene Wissenschaft 5
Datengetriebene Forschung –
Herausforderung für die Informatik
Auf allen Gebieten der Natur- und Ingenieurwissenschaften gewinnt eine Arbeitsmethode
an Bedeutung, bei der die Analyse von sehr großen Mengen an Daten zu neuen Erkenntnissen
führt. Mit welchen technischen und organisatorischen Maßnahmen kann die Informatik eine
solche datengetriebene Forschung unterstützen?
D
erzeit vollzieht sich ein grund- beitsteilige Vorgehensweise nicht bewältigen. Heute gilt die Simulation vielfach als drit-
legender Wandel in den Natur- Zum anderen stehen Wissenschaftler immer te Säule der Wissenschaft – neben Experiment
und Ingenieurwissenschaften – häufiger nur noch in sehr indirektem Kontakt und Theorie. Manche sprechen ihr zwar die-
und das gleich auf mehreren mit den Gegenständen ihrer Untersuchung, sen Rang ab und betrachten sie nur als eine
Ebenen. So ändern sich etwa als Folge des seien es Zellen oder Galaxien. von mehreren möglichen Arten, theoretische
Internets und der darauf aufbauenden Diens- Wenn wir die Entwicklung im Methoden- Modelle auszuwerten. Tatsache aber ist, dass
te die Kommunikationsstrukturen innerhalb vorrat der Naturwissenschaften einmal Revue ohne Simulation viele Modelle »steril« bleiben
und zwischen den Fachgebieten ganz erheb- passieren lassen (unterer Kasten auf S. 8), so würden, da es nicht möglich wäre, Ergebnisse
lich. Außerdem entwickeln sich neue Organi- gab es ganz am Anfang die empirische Be- daraus abzuleiten.
sationsformen für wissenschaftliche Einrich- schreibung, die sich gelegentlich zu – gleich- Von der Simulation führt der Weg schließ-
tungen, die der rasch wachsenden Komplexi- falls empirisch abgeleiteten – Handlungsre- lich zur datengetriebenen Wissenschaft. Auf
tät der Forschungsvorhaben Rechnung tragen. geln verdichtete. Parallel dazu, aber doch mit den ersten Blick scheint sie nichts grundsätz-
Das wiederum erfordert neue Finanzierungs einer merklichen Verzögerung, entwickelte lich Neues zu bieten; schließlich geht es nur
modelle für wissenschaftliche (Groß-)Vorha- sich die Theoriebildung. Ihr Ziel war, formali- um die Zusammenführung von Experiment
ben. Ferner wandelt sich die Position der sierte Modelle der beobachteten Phänomene (Messung), Theoriebildung und Simulation
Wissenschaft in der Gesellschaft: Ihr wird – zu erstellen. Diese sind aber nur um den Preis zu einem kohärenten Methodenvorrat. Das
zumindest in den westlichen Ländern – sehr idealisierender Annahmen möglich – bei- eigentlich Interessante ist jedoch der Grund,
viel mehr Transparenz und Rechtfertigung der spielsweise durch Vernachlässigung der Rei- der diese Zusammenführung notwendig
Ziele und Methoden abverlangt als früher. bung bei der Beschreibung von Bewegungs macht: die rasch wachsende Menge von Da-
Aber auch die wissenschaftliche Methodik gesetzen. ten, die von Messgeräten (wie Satelliten, Tele-
selbst befindet sich im Umbruch. In der öf- skopen, Sequenziermaschinen und Microar-
fentlichen Wahrnehmung, die sich in Filmen Rasch anschwellende Datenflut rays) oder aus Simulationen (etwa Klimavor-
oder Reportagen widerspiegelt, erscheint Wis- Der nächste Schritt bestand darin, den Grad hersagen und Szenarienanalysen) stammen.
senschaft immer noch als Tätigkeit, der ein- der Idealisierung zu verringern, um auch Denn die Menge neu erzeugter und gespei-
zelne (vorzugsweise geniale) Forscher in der komplexe Vorgänge wie etwa die Verformung cherter Daten verdoppelt sich jedes Jahr, oder
Abgeschiedenheit eines Labors nachgehen. eines Autos beim Aufprall oder die Flugeigen- anders ausgedrückt: In jedem einzelnen Jahr
Dort kommen sie nach zähem Ringen und di- schaften eines Flugzeugs so realistisch beschrei fallen mehr experimentelle oder Simulations-
versen Geistesblitzen zu bahnbrechenden Er- ben zu können, dass sich die Ergebnisse der daten an als in allen Vorjahren zusammen. Am
kenntnissen – oder aber erfinden eine fürch- Modellanalyse auf das tatsächliche System Anfang sieht eine solche exponentielle Wachs-
terliche Waffe, je nachdem, ob sie auf der Sei- übertragen lassen. Dies führte zu sehr kompli- tumskurve noch relativ harmlos aus, und tat-
te der Guten oder der Schurken stehen. zierten Modellen, deren Gleichungen nicht sächlich konnten Forscher immerhin bis ins
Dieses romantisierende Bild hat mit mo- mehr direkt lösbar waren. In solchen Fällen 20. Jahrhundert hinein Messergebnisse durch
derner Forschung wenig zu tun. Zum einen bleibt nur die Möglichkeit, mit Methoden der Sichten und Darübernachdenken analysieren.
wird Wissenschaft in immer größeren, kom- numerischen Mathematik Näherungslösun- Mit zunehmender Automatisierung der
plexeren Projekten und Projektverbünden or- gen zu bestimmen, was bei großen Problemen Messgeräte und dem breiteren Einsatz von Si-
ganisiert – man denke etwa an den Large wie etwa der Crashsimulation im Automobil- mulationsmethoden sind die Daten in vielen
Hadron Collider (LHC) bei der Europäischen bau Gleichungssysteme mit Hunderttausen- Projekten jedoch schon längst auf einen Um-
Organisation für Kernforschung CERN in den oder Millionen von Unbekannten ergibt. fang angewachsen, der es völlig unmöglich
Genf. Solche Vorhaben lassen sich ohne in- Deren Handhabung ist überhaupt nur noch macht, sie im herkömmlichen Sinn direkt in
dustrielle Methoden und eine hochgradig ar- mit dem Computer möglich. Augenschein zu nehmen. Hierzu nur zwei
Projektdokumentation
Messgerät mit
eigenem Speicher
Festplatte Referenzierung
Verknüpfung mit der
Einbindung wissenschaftlichen
weiterer Daten Struktur- Literatur
anpasssung
passiv
Magnetband
Gutachter
Daten-
Laufwerk sammlung
Erweiterbarkeit
aktiv
Datenextraktion
Datenerfassung
Spektrum der Wissenschaft / Buske-Grafik, nach: Andreas Reuter
globaler Datenpool
Observatorium
Datengetriebene Wissenschaft 7
Speicherung aufzubereiten, was weitere hohe miteinander verknüpfen zu können, um über- Modellierungsmethoden einsetzt, muss es
Anforderungen an die Leistungsfähigkeit der greifende Fragen zu untersuchen. Zum Bei- möglich sein, die Daten flexibel in der dafür
Hard- und Software stellt. spiel müssen in der Klimaforschung meteoro- erforderlichen Struktur bereitzustellen.
Das Abspeichern hat dabei so zu erfolgen, logische, ozeanografische, geografische, statis- Zur Verarbeitung der Rohdaten gehört
dass die Bestände wachsen können, unter tische und etliche weitere Datensammlungen auch, sie zu verdichten; denn nur in kompri-
Umständen um mehrere Größenordnungen. zueinander in Beziehung gesetzt werden. Das mierter Form kann der Forscher die enthal
Außerdem muss jederzeit eine Erweiterung scheitert heute oft an ihrem unterschiedlichen tene Information aufnehmen. Die Software
um neue Informationskategorien und Daten- Aufbau. So verwenden die einzelnen Diszipli- sollte möglichst verschiedene Arten der Ver-
strukturen möglich sein. nen häufig andere Begriffe und Einheiten dichtung erlauben, so dass sich im Einzelfall
Verwandt damit ist die Forderung, Daten oder nicht einmal dasselbe Koordinatensys- diejenige Methode auswählen lässt, die am
aus verschiedenen Projekten und Disziplinen tem. Da jedes Fachgebiet zudem seine eigenen besten zu den jeweiligen Daten und Modellen
passt. Von besonderer Bedeutung ist dabei die
visuelle Darstellung.
Meist müssen Datenbestände für verschie-
Größenvergleich dene Auswertungen immer wieder durchsucht
1 Petabyte = 1015 Bytes = 1 000 000 000 000 000 Bytes und verarbeitet werden. Wenn sie sehr groß
Buch mit 330 Seiten: 1 Million = 106 Buchstaben (1 Buchstabe entspricht 1 Byte) sind, beansprucht das viel Zeit. Die Geschwin-
Library of Congress: Rund 31 Millionen Bücher (ohne Handschriften, Fotos und so digkeit des Zugriffs auf gespeicherte Daten
weiter); 1 PB entspricht also dem Umfang von 10 Millionen Kongressbibliotheken. beträgt heute bestenfalls 1012 Bytes (1 Tera
Schnelle DSL-Leitung: 50 Mbit/Sekunde ð 8 × 106 Bytes/Sekunde byte) pro Sekunde; 10 PB zu durchsuchen,
Transfer von 1 PB über diese Leitung: 1,25 × 108 Sekunden ð 1448 Tage ð 4 Jahre dauert somit rund drei Stunden. Um übermä-
ßige Wartezeiten zu vermeiden, sollte man
deshalb den Daten Indexstrukturen überstül-
pen können, die es erlauben, jederzeit gezielt
relevante Teilmengen auszuwählen.
Entwicklung der wissenschaftlichen Vorgehensweise
Wenn Forschungsarbeiten auf der Auswer-
Bis vor rund 300 Jahren: Empirie
aus: Tycho Brahe, Mechanica, 1602
Naturphänomene wachsender Komplexität lassen sich mit zu- beitsgruppen durchgeführt werden. Jede Ein-
nehmender Genauigkeit auf Computern simulieren – oft unter richtung erzeugt oder verarbeitet in diesem
Rückgriff auf mathematische Modelle. Fall einen Teil der Daten, wobei andere Ko-
operationspartner eventuell auf ihre Ergebnis-
Heute: Datengetriebene Wissenschaft se zugreifen. Da auch Urheberrechte und Fra-
Experiment, Theoriebildung und Simulation wer- gen der wissenschaftlichen Priorität eine Rolle
den zusammengeführt: spielen, muss gewährleistet sein, dass keine
➤ Geräte und Simulationen erzeugen sehr große Gruppe Daten einer anderen sehen kann, die
Mengen von Daten. diese nicht zur gemeinsamen Nutzung freige-
➤ Diese Daten werden durch Software aufbereitet. geben hat. Eng damit verwandt ist die Forde-
➤ Die Daten und die daraus abgeleiteten Informa- rung, dass alle Interaktionen der Wissenschaft-
tionen werden in Computern gespeichert. ler mit den Datenbeständen – wie Modellde-
➤ Die Wissenschaftler analysieren die Daten- finitionen, Auswertungen, Veröffentlichungen
sammlungen mit Hilfe von Suchverfahren, sta- und so weiter – automatisch zu einerProjekt-
tistischen Methoden, Visualisierungsverfahren dokumentation zusammengeführt werden.
und so weiter. Allerdings sollen die Schutzvorkehrungen
kleines Foto: ESO, Stéphane Guisard;
rechts: Besselfunctions, CC-by-2.5
die Zusammenarbeit nicht behindern. Tat-
Datengetriebene Wissenschaft 9
Der Kosmos im Computer
Die Arbeitsgruppe »Theoretische Astrophysik« schlägt eine Brücke vom Universum
kurz nach dem Urknall bis zur Gegenwart. In den fortgeschrittensten Super
computersimulationen untersuchen die Forscher, wie sich aus der einst homogen
verteilten Materie die heutige Vielfalt von Galaxien entwickeln konnte.
A
stronomie und Astrophysik be Vielleicht die größte Zumutung, welche ausgesehen hat. Zu jener Zeit waren Materie
schäftigen sich mit dem wohl die moderne Kosmologie für unseren Ver und Strahlung fast perfekt gleichmäßig ver
größten aller denkbaren For stand bereithält, ist aber die Entdeckung, dass teilt, abgesehen von winzigen Abweichungen,
schungsgegenstände: dem Uni das Universum vor allem so genannte Dunkle den Folgen von Quantenfluktuationen in ei
versum als Ganzem. Tatsächlich sprengen die Materie und Dunkle Energie enthält. Erstere ner frühen Phase des Urknalls. Diese lassen
Dimensionen der Zahlen in diesen Diszipli besteht aus einer bislang noch nicht nachge sich noch heute messen, denn sie sind dem
nen die menschliche Vorstellungskraft und wiesenen Teilchenart, die sich vor allem durch extrem gleichmäßigen »Hintergrund« aus
Erfahrungswelt. Welche physikalische Größe ihre Schwerkraftwirkung verrät. Die Dunkle Mikrowellenstrahlung aufgeprägt, der das All
man auch betrachtet – ob Temperatur, Dich Energie ist noch rätselhafter. Forscher machen erfüllt. Die Astronomen vermuten, dass die
te, Druck oder Magnetfeldstärke –, im Univer sie für die beschleunigte Ausdehnung des Kos Schwankungen gleichsam die Saatkörner für
sum finden wir dafür fast durchweg Zahlen mos verantwortlich. alle späteren von der Schwerkraft geformten
werte, die um viele Größenordnungen über Im Universum dominieren also keines Materiestrukturen im Universum darstellen.
allem liegen, was wir auf der Erde und in un wegs die Atome der »normalen«, so genann Um die Entstehung dieser Strukturen zu
seren Laboratorien je werden messen können. ten baryonischen Materie. Vielmehr repräsen untersuchen, sind wir mittlerweile nicht mehr
Schon grundlegende Tatsachen über den tiert der Stoff, aus dem wir selbst ebenso wie allein auf Beobachtungen angewiesen. Viel
Kosmos übersteigen unseren Erfahrungshori Sterne und Galaxien bestehen, gerade einmal mehr haben sich Computersimulationen als
zont. Wir wissen heute, dass das Universum vier Prozent der kosmischen Energiedichte. außerordentlich wichtiges neues Forschungs
etwa 13,6 Milliarden Jahre alt ist, dass dieses Diese Erkenntnis verdanken wir dem instrument etabliert. Dank ihrer Hilfe lassen
Raumzeitgebilde expandiert und dass sich die Lambda-CDM-Modell (Lambda Cold Dark sich komplexe physikalische Gleichungssyste
Expansion sogar immer weiter beschleunigt. Matter), das als Standardmodell der Kosmo me lösen, ohne dass wir auf Vereinfachungen
Wir wissen, dass Sterne viele hundert Millio logie gilt. Als umfassende Theorie des Univer zurückgreifen müssen, welche die Ergebnisse
nen Jahre lang leben – aber nicht ewig –, dass sums erklärt es eine Vielzahl astronomischer verfälschen. Auch virtuelle astrophysikalische
Planeten um andere Sterne eher die Regel als Daten und macht auch genaue Voraussagen Experimente sind nun möglich. Im Compu
die Ausnahme sind und dass große Galaxien darüber, wie das All unmittelbar nach dem ter können wir beispielsweise zwei Galaxien
gewaltige Schwarze Löcher beherbergen. heißen Urknall vor 13,6 Milliarden Jahren kollidieren und miteinander verschmelzen
Datengetriebene Wissenschaft 11
XXL-Simulation bilden sich tatsächlich auch etwa eine Gaswolke nur deshalb allmählich zu nannten Voronoi-Zelle umgeben sind. Diese
Galaxienhaufen, die ein wenig mehr Masse einem Stern, weil sich die Teilchen gegenseitig besteht einfach aus derjenigen Raumregion,
besitzen. Noch besteht daher kein offensicht anziehen. die näher an diesem Punkt liegt als an irgend
licher Grund zur Besorgnis: Alle Galaxien Astrophysiker müssen also neue Wege ge einem anderen. Gemeinsam bilden die Voro
haufen, die je beobachtet wurden, lassen sich hen, um geeignete numerische Verfahren für noi-Zellen dann ein Voronoi-Gitter, das den
weiterhin mit dem kosmologischen Standard die Kosmologie zu entwickeln. Die zentrale Raum gewissermaßen pflastert. Die Wände
modell erklären. Doch schon die Entdeckung Idee des Ansatzes zur Simulation baryonischer zwischen den Zellen sind die Ebenen, welche
eines einzigen Haufens, dessen Masse diese Gase, den unsere Gruppe entwickelt hat, ist die Verbindungsstrecken benachbarter Punk
Grenze deutlich überschreitet, könnte es wi der Einsatz eines unstrukturierten Gitters, das te in der Mitte senkrecht durchschneiden (sie
derlegen. im Unterschied zu herkömmlichen Verfahren he Abbildung S. 11). Nun kann man, wäh
nicht stationär ist, sondern sich mit dem Gas rend sich Gestalt und Topologie des Gitters
Eher ein Gas als eine Flüssigkeit mitbewegen kann. Dadurch lässt sich genau kontinuierlich ändern, die Bewegung der ein
Trotz ihrer beeindruckenden Größe besitzt dort, wo die relevanten Prozesse stattfinden, zelnen Punkte der lokalen Bewegung des Ga
die Millennium-XXL-Simulation einen Nach eine hohe Auflösung erzielen. Bei der neuen ses anpassen.
teil: Über kleinräumige Strukturen und Vor Methode gehen wir von einem Satz von Punk Darüber hinaus gelang es uns, ein so ge
gänge in einzelnen Galaxien trifft sie nur we ten im Raum aus, die jeweils von einer so ge nanntes Godunov-Verfahren höherer Ord
nige Aussagen. Schließlich ist selbst ein Ob
jekt von der Größe der Milchstraße durch
gerade einmal 1000 Bausteine repräsentiert.
Klügere Algorithmen, weniger Artefakte
Hinzu kommt: Unsere Simulation behandelt
die normale baryonische Materie der Einfach Bewegen sich zwei Phasen eines Gases aneinander vorbei – im Beispiel fließt eine
heit halber als stoßfreies Fluid; als einzige dichte Phase (rot) nach rechts, eine weniger dichte (blau) nach links –, entsteht eine
Wechselwirkung ist also die Schwerkraft be so genannte Scherströmung, die zu typischen Kevin-Helmholtz-Wirbeln führt (un-
rücksichtigt. Tatsächlich unterliegt die Mate terste Zeile). Ein dynamisch mitbewegtes Voronoi-Gitter (schwarz umrandete Git-
rie aber Druckkräften und verhält sich damit terzellen) erlaubt es, sie korrekt und ohne Artefakte darzustellen.
eher wie ein ideales Gas. Außerdem kann sie
Zeitpunkt
thermische Energie verlieren, indem sie Strah 1 2 3
lung abgibt. Unter der Wirkung der Schwer
kraft kann sie also, weil sie von Hitze weniger
stark auseinandergetrieben wird, noch viel
stärker verklumpen als Dunkle Materie.
Diese Unterschiede von baryonischer und
Dunkler Materie werden auf kleinen Skalen
wichtig. Wir müssen also die baryonischen
Prozesse korrekt simulieren, wenn unser Mo
dell auch über die inneren Regionen von Ga
4 5 6
laxien Aussagen treffen soll. Die Berechnung
des hydrodynamischen Verhaltens normaler
Materie erweist sich allerdings als ausgespro
chen anspruchsvoll. Die typische Dichte des
Wasserstoff- und Heliumgases, das sich zu
sternbildenden Galaxien verdichtet, ist sehr
niedrig. Ein solches ideales Gas, in dem prak
tisch keine innere Reibung stattfindet, neigt
über einen sehr weiten Skalenbereich hin-
weg stark zu Turbulenzen. Zudem führen gro 7 8 9
ße Unterschiede in Temperatur, Dichte und
Geschwindigkeit zu gewaltigen Überschall
strömungen. Und schließlich »spürt« auch
jedes Teilchen im Gas die Schwerkraft aller
anderen Gaspartikel. Während diese so ge
nannte Eigengravitation bei strömungsme
chanischen Problemen auf der Erde völlig ver
nachlässigbar ist, gewinnt sie in der Astrophy
sik entscheidende Bedeutung. So kontrahiert
nung auf dem bewegten Gitter zu implemen Will man diese so genannten Kelvin-Helm
tieren. Mit seiner Hilfe können wir mit analy holtz-Instabilitäten numerisch beschreiben,
tischen Methoden bestimmen, wie viel Masse, führen Advektionsfehler in der Regel dazu,
Energie und Impuls eine Zelle nach jedem dass sich die Phasen im Modell früher vermi der autor
Zeitschritt enthält. schen als in der Realität. Indem wir diese Feh
ler stark reduzieren, können wir Überschall Volker Springel hat in
Tübingen und an der
Mitfließende Gitter strömungen und Turbulenzen mit größerer University of California
Der wesentliche Vorteil ist dabei der lagrange Präzision darstellen (Bilder links und oben). in Berkeley Physik
sche Charakter der Methode. Wenn irgendwo Deshalb wollen wir das neue Verfahren auch studiert und im Jahr
2000 an der Ludwig-
im Universum eine neue Galaxie entsteht und in unserer Simulationssoftware AREPO ein Maximilians-Universität
sich die Gasdichte in dieser Region millionen setzen. An ersten Rechnungen dieser Art ar München promoviert.
fach erhöht, dann fließt das Gitter automa beiten wir bereits intensiv, sowohl mit Kolle Als Postdoc war er an der Harvard Uni-
versity in Cambridge (Massachusetts) und
tisch mit. Es erlaubt also genau dort eine stark gen am Harvard Center for Astrophysics am Max-Planck-Institut für Astrophysik in
erhöhte räumliche Auflösung, wo die Galaxie in Cambridge (Massachusetts) als auch im Garching, wo er anschließend bis 2010
entsteht. Daneben erweisen sich die Zahlen Virgo-Konsortium. eine Forschungsgruppe zur numerischen
Kosmologie leitete. Seither ist er Professor
werte der Ergebnisse, anders als in traditionel Außerdem wollen wir in der nächsten Zeit für Theoretische Astrophysik an der
len Gittermethoden, als vollständig unabhän endlich die Entstehung von Spiralgalaxien Universität Heidelberg. Hier forscht er am
gig vom verwendeten Bezugssystem. besser verstehen lernen. Sternsysteme dieses Heidelberger Institut für Theoretische
Studien (HITS) und am Astronomischen
Das fließende Gitter verringert zudem Typs sind zwar die häufigsten im Universum,
Recheninstitut des Zentrums für Astro
Advektionsfehler. Zu diesem Typ von Berech doch in bisherigen Simulationen bildeten sich nomie.
nungsfehler kommt es, wenn ein Masseteil fast ausschließlich elliptische Galaxien. Wir
chen mit der Strömung mitgeführt wird und vermuten die Gründe dafür in einem unzu Quellen
dabei nicht vollständig, sondern nur teilweise reichenden Verständnis der Regulation der
von einer Zelle in die nächste übertritt, so dass Sternentstehung durch bestimmte astro Springel, V.: E pur si muove: Galilean-
invariant Cosmological Hydrodynamical
es zu einem unerwünschten Ausschmieren der physikalische Prozesse wie etwa die Explosion Simulations on a Moving Mesh. In:
Strömung kommt. Wegen der diskreten Struk von Sternen als Supernovae. Auch die man Monthly Notices of the Royal Astrono
tur des Gitters lässt sich dieser Vorgang mathe gelnde Genauigkeit der bisher eingesetzten mical Society 401, S. 791 – 851, 2010.
Vorab publiziert auf http://arxiv.org/
matisch nicht exakt darstellen. In einem be numerischen Methoden spielt eine Rolle. Zu abs/0901.4107
wegten Gitter kann die Zelle hingegen passend mindest dieses zweite Problem wird unser Vogelsberger, M. et al.: Moving Mesh
mitbewegt werden, so dass sich viele Advek neuer AREPO-Kode möglicherweise lösen Cosmology: Numerical Techniques
and Global Statistics. Eingereicht.
tionsfehler von vornherein vermeiden lassen können. Vorab publiziert auf http://arxiv.org/
und ein künstliches Mischen in hohem Maß Die vielleicht größte Aufgabe der Kosmo abs/1109.1281
verhindert wird. logen besteht in diesen Jahren aber darin, die
Ein Beispiel zeigen die Bilder links. Hier Rätsel um die Dunkle Seite des Kosmos auf Weblink
strömen unterschiedlich dichte Gase aneinan zuklären. Mit unseren Simulationen versu
der vorbei. Dabei wachsen kleine Störungen chen wir, sie dabei zu unterstützen – indem www.h-its.org/tap
Details zu Millennium-Simulationen und
an der Grenzfläche schnell zu wellenartigen wir physikalische Modelle überprüfen helfen, weiteren Simulationsprojekten der HITS-
Wirbeln heran, welche die beiden Phasen die eines Tages unser gesamtes Universum be Arbeitsgruppe Theoretische Astrophysik
schließlich turbulent miteinander vermischen. schreiben könnten. Ÿ
Datengetriebene Wissenschaft 13
Das biomolekulare
Erkennungspuzzle
Proteine sind die Funktionsträger des Lebens. Ihre Wechselwirkungen miteinander und mit
anderen Biomolekülen sorgen dafür, dass Zellen ihre Aufgabe im Organismus erfüllen. Um
diese Wechselwirkungen besser zu verstehen, setzen Forscher zunehmend rechnergestützte
Methoden ein. Computersimulationen von Proteininteraktionen leisten auch einen immer
wichtigeren Beitrag zum Design von Wirkstoffen gegen Krankheiten und in der Biotechnologie.
I
n einer Zelle wimmelt es geradezu von nen kurze lineare Sequenzmotive fest, an wel größere Distanzen hin finden. Manchmal
großen und kleinen Molekülen, die cher Stelle sich eine andere Substanz anlagern spielen sie dagegen kaum eine Rolle. In sol
ständig in Bewegung sind. Wie finden kann. In vielen Fällen jedoch ist weniger offen chen Fällen leisten zum Beispiel anziehende
und erkennen sie in diesem Gewirr ihre sichtlich, woran Moleküle einander erkennen. Kräfte zwischen hydrophoben (Wasser mei
jeweiligen Bindungspartner? Wie können sie Wie stark und selektiv sich zwei Substan denden) Gruppen, die nur eine geringe
mit mehreren anderen Molekülen zusammen zen aneinander binden, hängt von der freien Reichweite haben, den größten Beitrag zur
Komplexe bilden? Und wie kommt es, dass Energie der betreffenden Bindung ab. Diese Bindungsstärke. Das Problem der genauen
manche dieser Vorgänge schnell und andere wiederum setzt sich aus verschiedenen Kom Beschreibung der physikochemischen Wech
langsam ablaufen? Bei der Suche nach Lö ponenten zusammen. Das Problem ist, dass selwirkungen zwischen Molekülen – sei es mit
sungsstrategien für das Puzzle der biomoleku diese oft groß sind und teils entgegengesetzte einer auf physikalischen Gesetzmäßigkeiten
laren Erkennung helfen neben ausgeklügelten Wirkungen haben. Aus diesem Grund bedarf basierenden Energiefunktion oder einer rein
Experimenten und biochemischen Untersu es sehr genauer Berechnungen, um aus den empirisch aufgestellten Funktion – wird ge
chungen vermehrt Berechnungen und Simu Einzelkomponenten die (häufig sehr kleine) wöhnlich als Scoring-Problem bezeichnet.
lationen am Computer. Mit ihnen befassen Summe korrekt zu ermitteln. Eine weitere Herausforderung ist das so
wir uns in der Arbeitsgruppe »Molekulare Eine weitere Schwierigkeit liegt darin, dass genannte Sampling-Problem. Schon beim
und zelluläre Modellierung« am Heidelberger die relative Bedeutung der Komponenten von Puzzle gibt es unzählige denkbare Kombina-
Institut für Theoretische Studien. Fall zu Fall variiert, was es schwer macht, ein tionen der einzelnen Plättchen – und der
Betrachten Sie zum Beispiel ein Puzzle aus allgemein gültiges Computermodell für ein Spieler bemüht sich, die Möglichkeiten einzu
2000 Teilen, das ein Schloss in einer schönen solches Problem zu entwickeln. So dominie grenzen, um die Anzahl der vergeblichen Ver
Landschaft zeigt. Einige Plättchen lassen sich ren bei einer Bindung zwischen Proteinen suche beim Einpassen eines Teils zu verrin
ganz einfach platzieren: Flaggen, Turmspitzen manchmal weit reichende elektrostatische gern. Ein Puzzle ist jedoch nur ein zweidi
oder auch Mauerkanten. Bei anderen hilft nur Kräfte, dank deren sich Moleküle auch über mensionales Objekt. Das Durchprobieren
geduldiges Probieren. Das gilt etwa für grün
liche oder bräunliche Teile, die zu den Bäu
men im Wald gehören, oder für solche in den
Suche nach Enzymhemmern am Computermodell
verschiedenen Blautönen des Himmels.
Bei der Bindung zwischen Biomolekülen Auf dem Strukturbild eines Enzyms namens LmPTR1, das nur im Leishmania-Parasi-
spielt wie im Puzzle die Passform eine wesent ten vorkommt und sich deshalb als Angriffspunkt für Medikamente gegen die Leish-
liche Rolle. Dies erkannte vor über einem maniose eignet, ist die Oberfläche der vier identischen Untereinheiten in verschiede-
Jahrhundert bereits Emil Fischer, der die nen Farben dargestellt (links). An einem der aktiven Zentren haftet sein gewöhnliches
Wechselwirkungen zwischen Enzymen und Substrat, ein Molekül namens Pteridin (dunkelviolett), zusammen mit dem Kofaktor
Substraten mit dem Bild von Schlüssel und (NADPH, türkis). Die Ausschnittvergrößerung (rechts) zeigt die Bindungstasche des
Schloss beschrieb. Doch wie bei den Puzzle Enzyms (graue Moleküloberfläche) mit zwei daran angelagerten potenziellen Hemm-
teilen reicht die Gestalt nicht aus, um alle stoffen. Farbig hervorgehoben sind Proteinregionen, die laut Berechnung die Bindung
möglichen Wechselwirkungen eindeutig zu Wasser abweisender (gelb) oder Wasser liebender funktioneller Gruppen (blau) be-
beschreiben. Einige Moleküle tragen gut defi günstigen. Die Wirkstoffkandidaten (gelb, hellblau) lagern sich zwischen dem Kofaktor
nierte »Flaggen«, die ihre Position in der Zelle (grau) und den ringförmigen aromatischen Seitenketten zweier Aminosäuren des Pro-
oder ihre Beziehung zu anderen Stoffen be teins ein (alle drei als Stäbchenmodell dargestellt).
stimmen. So legen etwa bei manchen Protei
Datengetriebene Wissenschaft 15
namens LmPTR1 ausmachen. Sie gehört ge zu erzielen, war es wichtig, dass die Ringstruk Dieses Projekt macht deutlich, wie sich
meinsam mit der Dihydrofolatreduktase turen der Wirkstoffkandidaten zwischen de unsere rechnergestützten Proteinsimulationen
(DHFR) zum Folatstoffwechselweg und ist nen des Kofaktors und den aromatischen Sei und die von unseren Kollegen in Italien und
wichtig für die DNA-Synthese. Wird sie zu tenketten des Proteins zu liegen kommen (sie Belgien durchgeführten Laborexperimente
sammen mit DHFR gehemmt, kann der Pa he Kasten auf S. 14/15). erfolgreich ergänzen. Auch wenn solche com
rasit keine neue Erbsubstanz synthetisieren Wie Kollegen in Italien und Belgien an puterbasierten Ansätze in der pharmazeuti
und sich folglich auch nicht vermehren. hand von Laborexperimenten zeigen konn schen Industrie weit verbreitet sind, darf das
Beiden Enzymen ist gemeinsam, dass sie ten, hemmen einige der von uns identifizier nicht darüber hinwegtäuschen, dass Standard
sowohl den Kofaktor NADPH als auch das ten potenziellen Wirkstoffe tatsächlich die verfahren häufig Einschränkungen unterlie
Substrat Folsäure (oder Abwandlungen davon) Enzymaktivität von LmPTR1. Um diese Sub gen und an das zu untersuchende Zielpro-
bei ihrer enzymatischen Aktivität verwenden. stanzen zu optimieren, untersuchten wir in tein speziell angepasst werden müssen. Beim
Im Gegensatz zur Dihydrofolatreduktase, die weiteren Simulationen, wie sich durch Aus LmPTR1 war es etwa entscheidend, dass wir
bei den Parasiten wie auch beim Menschen tausch einzelner Atome oder Atomgruppen vier Wassermoleküle im aktiven Zentrum des
vorkommt, findet man die Pteridinreduktase die Bindung an das aktive Zentrum des En Proteins berücksichtigten. Dadurch gelang es,
jedoch nur beim Parasiten. Gelingt es nun, zyms verstärken lässt. die für die Wirkstoffentwicklung wichtige
Verbindungen zu finden, die nicht aus der Zwei rechnerbasierte Entwicklungsdurch korrekte Orientierung der Wirkstoffkandida
Stoffklasse der Folsäuren stammen, sich aber gänge und eine anschließende experimentel- ten zu ermitteln, auch wenn wir die Enzym
dennoch spezifisch an das parasitäre Enzym le Prüfung am isolierten Enzym lieferten so aktivität beziehungsweise Bindungsstärke
LmPTR1 heften, minimiert man das Risiko 18 spezifisch wirksame LmPTR1-Inhibitoren. nicht zuverlässig vorhersagen konnten.
von Nebenwirkungen beim Menschen. Sechs davon hemmten nicht nur die Aktivität
Die Kristallstruktur des Enzyms LmPTR1 des isolierten Enzyms, sondern auch das Raffinierte Packung der DNA
war schon bekannt. Wir konnten sie also be Wachstum der Parasiten in Zellkultur. Eine Der Kern einer eukaryotischen Zelle enthält
nutzen, um bei einem virtuellen Screening dieser Substanzen entspricht sogar dem Wirk fadenförmige DNA mit einem Durchmesser
eine große Substanzbibliothek nach geeigne stoff eines Medikaments, das bereits zur Be von etwa 10 bis 20 Mikrometern und einer
ten Verbindungen zu durchsuchen, die gut in handlung von Erkrankungen des Zentralner Gesamtlänge von zwei Metern. Damit die
das aktive Zentrum des Enzyms passen und vensystems zugelassen ist. Möglicherweise Erbsubstanz überhaupt in die Zelle passt,
keine Ähnlichkeiten zu Folsäurederivaten auf lässt sich dessen Anwendungsbereich auf die muss sie zu einer kompakten Struktur, dem so
weisen. Um die angestrebte Hemmwirkung Therapie parasitärer Erkrankungen ausweiten. genannten Chromatin, aufgewickelt werden.
Um dies zu bewerkstelligen, benutzt die Zelle
Histone: positiv geladene Proteine, die sich an
die negativ geladenen Nukleinsäuren binden,
Erbfaden am Wickel
aus denen die Erbsubstanz besteht.
Simulationen ergaben, wie sich das Linker-Histon (blau) an das Nukleosom (braun) Den Grundbaustein des Chromatins bil
bindet und so zur Packung der DNA beiträgt. Unter Berücksichtigung der Flexibilität den die Nukleosomen, um deren Proteinkern
der beiden Enden des DNA-Stücks gibt es eine Reihe möglicher Anordnungen, von sich die DNA spulenförmig wickelt. Zwi
denen 13 als Überlagerung dargestellt sind. Die an die DNA gebundenen Aminosäu- schen ihnen erstrecken sich zunächst noch
rereste sind in Orange (nukleosomale DNA) und Grün (Linker-DNA) gezeigt. freiliegende Abschnitte des DNA-Fadens, die
als Linker-DNA bezeichnet werden. An die
Nukleosomen heften sich die so genannten
Linker-Histone. Diese kleinen Proteine sor
gen dafür, dass sich die perlschnurartige Nuk
leosomenkette zickzackförmig zusammenla
gert oder wie eine Wendeltreppe windet und
so die kompakten Chromatinfasern bildet.
Ferner tragen sie dazu bei, das Abschreiben
und Vervielfältigen der DNA zu regulieren.
Anders als die Ladungsunterschiede zwi
schen den Histonen und der DNA vermuten
lassen, beruht die Bindung nicht nur auf elek
trostatischen Wechselwirkungen. Wir wollten
daher genauer wissen, wie sich die Linker-
Histone an die Nukleosomen anlagern. Zu
Rebecca C. Wade
Datengetriebene Wissenschaft 17
Zerren an Biomolekülen
im Computer
Mechanische Kräfte sind lebenswichtig – im großen wie im kleinen Maßstab.
Eine Forschungsgruppe am Heidelberger Institut für Theoretische Studien untersucht ihre
Wirkung auf der kleinsten Ebene: vom Protein bis hin zur einzelnen chemischen Bindung.
O
b Pflanze oder Säugetier, kein
Lebewesen kann ohne Ein
Kontrolle der Blutgerinnung
Datengetriebene Wissenschaft 19
Molekulare Brückensprengung
tert eine angelegte Zugspannung den Bindungsbruch vor allem
Das kleine Molekül DTT (Dithiothreitol) zerstört die Disulfid- dadurch, dass das Schwefelatom von DTT schon aus größerer
brücke d1 in einem Protein (Titin) unter Bildung einer neuen Di- Entfernung die neue Disulfidbindung eingehen und die alte
sulfidbrücke d2. Wie Computersimulationen ergaben, erleich- dabei lösen kann.
Kraft Kraft
d1
d2
in einer Wendeltreppe angeordnet: Das Rück mit dem anderen an der Spitze des Tastarms. stabiler wird die Bindung und desto schneller
grat bildet das Gerüst und die Wasserstoffbrü Dieser besteht aus einer Blattfeder, mit der löst sie sich. Dies ist ganz ähnlich wie bei ei
cken das Geländer. In einem Beta-Faltblatt sich eine mechanische Kraft auf das einge nem Gummiband: Je stärker man daran
verlaufen zwei Abschnitte des Proteinrück spannte Molekül ausüben lässt. So kann man zieht, desto eher reißt es.
grats parallel zueinander. Wasserstoffbrücken direkt verfolgen, wie leicht sich die Bindung Man könnte meinen, die Mechanochemie
verbinden diese Stränge durch elektrostati bei welcher Zugkraft öffnet. einer solchen Reaktion damit verstanden zu
sche Kräfte miteinander. Beta-Faltblätter ge Doch nackte Gewalt führt dabei nicht haben – gerade weil man sich den Effekt der
ben Proteinen zwar große Stabilität, lassen zum Ziel. Wie in der Natur geht es darum, Zugkraft intuitiv vorstellen kann. Aber wie so
sich aber bei genügend Zugkraft auftrennen. die Bindung so sanft wie möglich zu lösen. oft sind die Zusammenhänge komplexer, als
Kovalente Bindungen sind wesentlich fes Das gelingt durch Zugabe von kleinen Hilfs sie auf den ersten Blick erscheinen. So gibt es
ter. Dabei teilen sich zwei Atome ein Elektro molekülen, so genannten Reduktionsmitteln. Reaktionspartner, bei denen die mechanische
nenpaar. Ein biologisch wichtiges Beispiel Diese enthalten bei Disulfidbrücken ein Kraft das Öffnen der chemischen Bindung
sind Schwefel-Schwefel-Bindungen oder, wie Schwefelatom, das sich mit dem einen Teil erschwert! In einem anderen Fall, den eine
Chemiker sagen, Disulfidbrücken. Sie bilden der Disulfidbrücke verbindet und so den an Gruppe um Roman Boulatov von der Univer
sich etwa zwischen zwei Molekülen der Ami deren daraus verdrängt. sity of Illinois in Urbana-Champaign 2009
nosäure Cystein. Solche Bindungen haben Derartige Messungen im Labor ergaben, entdeckte, löst sich die Disulfidbrücke unab
meist die Aufgabe, die Struktur des Proteins dass sich Disulfidbindungen in Proteinen un hängig von der an ihr angreifenden Zugspan
zu stabilisieren – auch gegen von außen ein ter Mitwirkung eines Reduktionsmittels sehr nung immer gleich schnell. Für dieses Expe
wirkende Zugkräfte. leicht aufbrechen lassen. Zugspannungen riment bauten die Wissenschaftler die Schwe
Neuerdings lässt sich im Labor beobach von wenigen hundert Pikonewton reichen fel-Schwefel-Bindung in kleine ringförmige
ten, wie Disulfidbrücken oder andere kova bereits aus. Das entspricht in etwa der Kraft, Moleküle ein. Über die Größe des Rings
lente Bindungen unter Zugspannung aufbre die ein einzelner Mensch aufwenden müsste, konnten sie die darin herrschende Spannung
chen (Kasten auf S. 19). Dazu befestigt man um mit der gesamten Weltbevölkerung zu gezielt verändern (siehe Kasten auf S. 19).
ein einzelnes Molekül in einem Kraftmikros sammen ein 1-Euro-Stück hochzuhalten. Da Wie beeinflusst eine mechanische Kraft
kop mit einem Ende an der Unterlage und bei gilt: Je größer die Zugspannung, desto in also eine chemische Bindung? Warum er
Datengetriebene Wissenschaft 21
Hochleistungsrechner
und der Stammbaum des Lebens
Eine wahre Flut von DNA-Daten ermöglicht inzwischen immer präzisere Rekonstruktionen von
Stammbäumen – im Prinzip jedenfalls. In der Praxis überfordert die Suche nach der optimalen
Lösung auch die leistungsfähigsten Computer. Die Herausforderung heißt deshalb, die Effizienz
der Programme für Näherungslösungen zu steigern.
D
ie computergestützte Berech oder Hoffnung, dass der »optimale« Stamm Mensch AAACCCCGTTTTT
nung von Stammbäumen, wel baum auch der wahre ist. An seinen Blättern Gorilla AAACTTTAAGGGT
che die Verwandtschaftsver befinden sich die Organismen, für welche Schimpanse AAGATTCGTTTTT
hältnisse zwischen Organismen DNA-Daten vorliegen. Die inneren Knoten – Orang-Utan AGAATCCGTTTGT
wiedergeben, ist eine verhältnismäßig junge sprich: Verzweigungen – repräsentieren hypo
Disziplin. Doch reichen ihre Anfänge immer thetische gemeinsame Vorfahren. Dabei stehen die Buchstaben für die Basen
hin bis in die 1960er Jahre zurück. Für jeden Von diesen existieren in der Regel keine Adenin, Thymin, Cytosin und Guanin, die das
Organismus beziehungsweise jede Spezies, DNA-Daten, weil sich normalerweise nur genetische Alphabet ausmachen. Ein mögli
deren Position im Stammbaum ermittelt wer aus lebenden Organismen Erbsubstanz ge cher Stammbaum für diese Daten ist im Kas
den soll, liegen typischerweise DNA-Daten winnen lässt. Allerdings gab es in letzter Zeit ten unten gezeigt. Dabei bleibt offen, wo der
oder Angaben zu morphologischen Merk bedeutende Fortschritte bei der Sequenzie gemeinsame Vorfahr aller Menschenaffen, das
malen vor – etwa über die Knochenform. Bei rung alter DNA; dadurch ist es insbesondere heißt die Wurzel des Baums, liegt. Diese wird
Bakterien kann es sich auch um chemische der Gruppe um Svante Pääbo vom Max- zur Vereinfachung der mathematischen Mo
Eigenschaften handeln, die für die jeweilige Planck-Institut für evolutionäre Anthropo delle üblicherweise weggelassen.
Spezies charakteristisch sind. logie in Leipzig gelungen, das Neandertaler Grundlage für die Optimierung ist eine
Das Ziel besteht darin, anhand geeigneter genom zu entziffern. abstrakte Funktion f , eine Rechenvorschrift,
Modelle denjenigen Stammbaum zu rekon Betrachten wir ein klassisches Beispiel: die zu einem gegebenen Stammbaum und zu
struieren, der am besten zu den vorliegenden den Stammbaum von Mensch, Schimpanse, gegebenen DNA-Daten einen Zahlenwert lie
Daten passt. Mathematisch gesehen, handelt Gorilla und Orang-Utan. Der auf DNA-Se fert: die »Plausibilität« (likelihood). Je höher
es sich also um ein Optimierungsproblem. quenzen beruhende Eingabedatensatz könn dieser Wert, desto besser ist der Stammbaum
Dahinter steckt die stillschweigende Annahme te, grob vereinfacht, dann so aussehen: mit den Daten vereinbar. Wenn man also drei
tan
ns
pa
g-U
ch
im
a
ns
an
rill
Sch
Me
Or
Go
Millionen Jahre
hypothetischer
10 gemeinsamer Vorfahre
15
20
25 gemeinsamer Vorfahre
alle Abbildungen dieses Artikels: Alexandros Stamatakis
gemeinsamer Vorfahre
Wurzel des Baums
gemeinsamer Vorfahre
Wurzel des Baums
Mensch Orang-Utan
Stammbäume in Betracht zieht, muss man die Aufgabe vermutlich nicht innerhalb eines ver lutionsmodelle und Rekonstruktionsverfah
Funktion für alle drei berechnen. Der optima nünftigen Zeitraums zu schaffen. ren perfekt sind, heißt das nicht, dass sie auch
le Baum ist dann derjenige, für den der größte Optimierungsprobleme, für die der Be korrekt auf dem Computer umgesetzt wur
Wert herauskommt. darf an Rechenzeit derart schnell zunimmt, den. Durch die starke Zunahme rechnerba
In unserem Beispiel mit den Menschenaf kommen in vielen Bereichen der Informatik sierter Datenanalysen in der Biologie haben
fen lässt sich dieses Problem leicht lösen, weil vor und heißen NP-vollständig. Peter Gritz Fehler in Veröffentlichungen, die auf Pro
für vier Organismen nur drei unterschiedliche mann und René Brandenberg beschreiben grammierfehlern beruhen, in jüngster Zeit
wurzellose Bäume existieren (Kasten oben). sie in ihrem populärwissenschaftlichen Buch stark zugenommen. Zusammen mit meinem
Dabei erweist sich derjenige, bei dem der »Das Geheimnis des kürzesten Weges« auf Doktoranden Fernando Izquierdo-Carrasco
Mensch mit dem Schimpansen näher ver für Laien gut verständliche Art und Weise. habe ich die Probleme der Verifikation von
wandt ist als beide mit dem Gorilla und dem Stammbäumen und von Programmen zu de
Orang-Utan, als plausibelste Lösung. Doch Automatische Suchverfahren ren Berechnung kürzlich ausführlich darge
wie sieht die Funktion f aus? In der Praxis be Da das Problem nicht exakt lösbar ist, behilft legt (Briefings in Bioinformatics 12, S. 270).
nutzt man dafür statistische Modelle, die auf man sich mit so genannten heuristischen Trotz solcher Schwierigkeiten und Unsi
Schätzungen beruhen, wie wahrscheinlich Suchverfahren, die zwar nicht die beste, aber cherheiten kommen Verfahren zur Rekonst
Mutationen sind, bei denen eine der vier Ba zumindest eine ziemlich gute Lösung liefern. ruktion von Stammbäumen in der medizini
sen durch eine andere ersetzt wird. Leider gibt es bei der Berechnung von Stamm schen und biologischen Forschung heute rou
Das grundsätzliche Problem bei diesem bäumen keine Möglichkeit, mit Sicherheit zu tinemäßig zum Einsatz. So dienen sie etwa
Verfahren ist, dass die Anzahl der möglichen sagen, wie weit das Ergebnis einer solchen ap dazu, den Ursprung von Virusepidemien zu
Bäume extrem stark mit der Anzahl der ent proximativen Suche vom Optimum entfernt ermitteln oder die bakterielle Zusammen
haltenen Spezies zunimmt. So beläuft sie sich ist. Deshalb ist es unerlässlich, dass Biologen setzung der Darmflora zu analysieren. Um das
bei 50 Arten, was heutzutage noch eine relativ den gefundenen Baum anhand ihres Wissens berühmte Zitat des russischen Genetikers
kleine Zahl ist, bereits auf 2,84·10 76 Kandida auf Plausibilität prüfen. Theodosius Dobzhansky (1900 – 1975) zu be
ten. Für jeden von ihnen müsste der Wert der Man kann das Suchverfahren auch an sehr mühen: »In der Biologie macht nichts Sinn,
Funktion f berechnet werden, denn es gibt schnell evolvierenden Organismen wie etwa außer im Licht der Evolution.«
keinen Trick, einen Großteil davon von vorn Viren testen, deren Stammbaum über die letz Was sind die aktuellen Entwicklungen
herein auszuschließen. Unter der optimisti ten Jahre bis Jahrzehnte bekannt ist. Auch im und Herausforderungen auf dem Gebiet der
schen Annahme, dass diese Berechnung für Erfolgsfall bietet das jedoch keine Gewähr da Stammbaumberechnung? Zuallererst ist die
einen Baum mit 50 Organismen eine Sekun für, dass die Methode bei Lebewesen, die sich Revolution bei der DNA-Sequenzierung zu
de Rechenzeit benötigt, würde die Evaluie im Verlauf von Jahrmillionen entwickelt ha nennen. Die Analyse des Erbguts wurde durch
rung aller Bäume auf einem einzelnen Prozes ben, genauso gut funktioniert. bahnbrechende Fortschritte in den letzten
sor 9·10 68 Jahre dauern. Selbst mit der gesam Ein weiterer Unsicherheitsfaktor ist die fünf bis sechs Jahren wesentlich vereinfacht
ten Rechenkraft auf der Erde wäre diese Programmverifikation. Selbst wenn die Evo und beschleunigt, so dass zugleich die Kosten
Datengetriebene Wissenschaft 23
dramatisch gesunken sind. Dadurch lassen Diese Datenflut stellt die Informatiker vor Der Webserver http://phylobench.vital-it.ch/
sich inzwischen auch komplette Genome ei enorme Probleme. Das gilt insbesondere für raxml-bb/ bietet auch interessierten Laien die
ner Spezies sehr viel leichter entziffern. Wäh den Speicherplatzbedarf der Programme zur Möglichkeit, es auszuprobieren; ein kleiner
rend vor zehn Jahren die Sequenzierung des Stammbaumrekonstruktion, da zur Berech Testdatensatz findet sich unter www.exelixis-
menschlichen Erbguts noch Schlagzeilen nung der Bewertungsfunktion f zunehmend lab.org/dna.phy.
machte, nehmen heute selbst Biologen eher komplette Genome für 50 oder 100 Spezies Zur Beschleunigung der Rechnung verfol
gelangweilt zur Kenntnis, dass schon wieder im Arbeitsspeicher gehalten werden müssen. gen wir verschiedene Ansätze. So sind wir auf
irgendein Genom entschlüsselt wurde. der Suche nach Tricks, um redundante Be
Die Herausforderung verlagert sich daher Ziel: Effiziente Bewertung rechnungen zu vermeiden und Speicherplatz
zunehmend vom Labor zur Datenverarbei der Güte eines Stammbaums zu sparen. Ausgangspunkt hierfür ist die ma
tung. Das Hauptproblem besteht darin, dass Solche Programme verbringen bis zu 99 Pro thematische Beschreibung der Wahrschein
die Menge der DNA-Daten wesentlich schnel zent ihrer Gesamtlaufzeit damit, die Funktion lichkeitsberechnungen: Wir bemühen uns,
ler zunimmt als die Rechengeschwindigkeit f für verschiedene denkbare Bäume auszuwer die Funktion f so zu transformieren, dass sie
der Computer oder Prozessoren zu ihrer Ana ten (Kasten unten). Deshalb besteht eines der bei geringerem Speicherbedarf und weniger
lyse. Das betrifft sowohl die Bioinformatik als Hauptziele der von mir geleiteten Scientific Rechenoperationen genau das gleiche Ergeb
auch ihre Teildisziplin, die rechnergestützte Computing Group am Heidelberger Institut nis liefert. Von großer Bedeutung ist auch, das
Ermittlung von Stammbäumen. Die Compu für Theoretische Studien darin, die Zeit und Programm an moderne Rechnerarchitekturen
terwissenschaftler stehen deshalb vor der den Speicherplatzbedarf für diese Aufgabe so anzupassen. Dadurch lassen sich die Ressour
schwierigen Aufgabe, immer effizientere Pro weit wie möglich zu reduzieren. cen der eingesetzten Prozessoren besser nut
gramme und Methoden zur Datenspeiche Über die vergangenen zehn Jahre haben zen. Das ermöglicht einen höheren Daten
rung und -analyse bereitzustellen. wir das frei verfügbare Programm RAxML durchsatz und steigert so die Anzahl der eva
Ohne Hoch- und Höchstleistungsrechner, (Randomized Accelerated Maximum Likelihood) luierten Bäume pro Sekunde.
in denen mehrere Einzelrechner (Prozessoren) entwickelt. Statt die Menge aller Stammbäu Wir gehen allerdings auch den umgekehr
gleichzeitig an einem Problem arbeiten, lässt me erschöpfend abzuarbeiten – was aussichts ten Weg und fragen uns, wie die ideale Rech
sich die Datenflut vielfach nicht mehr be los wäre –, konstruiert das Programm zu Be nerarchitektur für unser Programm aussehen
wältigen. Zur Rekonstruktion von Stamm ginn eine Anzahl von Bäumen, indem es Blatt würde. In diesem Teilprojekt entwerfen wir
bäumen standen noch vor zehn Jahren ledig für Blatt in zufälliger Reihenfolge an jeweils optimale Schaltkreise zur Berechnung der
lich die Sequenzen von ein oder zwei Genen optimaler Stelle einfügt. Es versucht diese Wahrscheinlichkeitsfunktion f. Zum Testen
zur Verfügung, die jeweils etwa 1000 Basen Bäume zu verbessern, indem es ganze Äste ab und Verifizieren unserer Architekturen be
paare umfassten. Inzwischen liegen immer öf schneidet und an anderer Stelle wieder ein nutzen wir so genannte Field Programmable
ter die weitaus umfangreicheren kompletten setzt, das Ganze im Rahmen eines kombi Gate Arrays, bei denen es sich um eine Art
Genome vor. So besteht das Erbgut des Men natorischen Optimierungsverfahrens namens programmierbare Hardware handelt. Sie be
schen aus etwa 20 000 bis 25 000 Genen; nach simulated annealing. RAxML gehört zu den stehen aus vielen elektronischen Grundbau
einigen Schätzungen sind es sogar bis zu fünf bis sechs weltweit am meisten benutzten steinen (»Gattern«), die sich mittels einer
75 000. Programmen zur Stammbaumrekonstruktion. Hardware-Beschreibungssprache dynamisch
miteinander verbinden lassen, um die vorge
gebene Schaltung nachzubilden.
Bei all diesen Versuchen achten wir darauf,
Berechnung des Verwandtschaftsgrads
dass unsere Ergebnisse nicht nur auf RAxML
Für vier Spezies existieren nur drei unterschiedliche wurzellose Stammbäume. Die anwendbar sind, sondern auch auf alle an
Funktion f berechnet die Wahrscheinlichkeit, dass der betreffende Baum zu den deren likelihood-basierten Programme zur
DNA-Daten passt. Ihre Werte zeigen, dass Mensch und Schimpanse enger miteinan- Stammbaumberechnung. Deren Geschwin
der verwandt sind als mit Gorilla und Orang-Utan. digkeit hängt ja gleichfalls entscheidend da
) = 0,1
von ab, wie effizient die Funktion f auf dem
f(
Mensch AAACCCCGTTTTT
Schimpanse Mensch
,
Gorilla AAACTTTAAGGGT
SchimpanseAAGATTCGTTTTT
Rechner umgesetzt ist.
Orang-Utan AGAATCCGTTTGT
Wie erwähnt, lassen sich sehr umfangrei
Gorilla Orang-Utan
che, speicherintensive Datensätze inzwischen
Schimpanse Gorilla nur noch mit Hochleistungsrechnern verar
f( ) = 0,3
Mensch AAACCCCGTTTTT
,
Gorilla AAACTTTAAGGGT beiten. Am HITS steht uns solch ein großer
SchimpanseAAGATTCGTTTTT
Orang-Utan
Orang-Utan AGAATCCGTTTGT Parallelrechner zur Verfügung. Das System
Mensch
besteht aus 42 Rechenknoten mit je 48 Pro
Orang-Utan Gorilla zessoren, die durch ein leistungsfähiges Netz
f( , ) = 0,2
Mensch AAACCCCGTTTTT
Gorilla AAACTTTAAGGGT
SchimpanseAAGATTCGTTTTT werk miteinander verbunden sind.
Orang-Utan AGAATCCGTTTGT
Mensch Schimpanse Idealerweise gilt es, diese insgesamt 2016
Prozessoren alle gleichzeitig zu beschäftigen.
der autor
Alexandros Stamatakis
leitet am Heidelberger
Institut für Theoretische
Studien die Scientific
Computing Group. Er hat
an der Technischen
Universität München
Informatik studiert und
dort im Jahr 2004 in der Informatik
promoviert. Nach Postdoc-Stationen auf
Kreta und an der ETH Lausanne (Schweiz)
war er von 2008 bis 2010 als Nachwuchs-
Am besten wäre es, wenn jeder von ihnen ei Stammbaum eingesetzt, wobei diese Zahl gruppenleiter an der Ludwig-Maximili-
ans-Universität und später an der TU
nen anderen Stammbaum evaluieren würde. kein Limit darstellt. Das Programm nutzt München (Emmy-Noether-Programm der
Dazu müsste der einzelne Prozessor jedoch auch die Fähigkeit zur Parallelverarbeitung bei DFG) tätig, bevor er im Oktober 2010 ans
das komplette Datenmaterial im eigenen Ar Mehrkernprozessoren, wie sie in allen neueren HITS kam.
beitsspeicher verfügbar haben – wozu dieser Laptops und Desktops zu finden sind.
quellen
möglicherweise nicht ausreicht. Da liegt es Abgesehen von unseren Bemühungen, die
nahe, die Aufgabe in Teilaufgaben zu zerlegen, Effizienz der Programme zur Stammbaumbe Alachiotis, N. et al.: A Reconfigurable
Architecture for the Phylogenetic Like
die jede für sich nur eine relativ kleine Teil rechnung zu steigern, beschäftigen wir uns lihood Function. Konferenzbeitrag, FPL
menge aller Daten erfordern, und diese ent aber auch mit der Analyse sehr großer biolo Prag 2009. Online unter: http://sco.h-its.
sprechend auf die Prozessoren zu verteilen. gischer Datensätze. Diese interdisziplinären org/exelixis/nikos/publications.html
Gritzmann, P., Brandenberg, R.: Das Ge-
Allerdings darf die einzelne Teilaufgabe auch Projekte verbessern unser Verständnis der Bio heimnis des kürzesten Weges: ein
nicht zu klein sein; sonst nimmt der Aus logie und helfen uns, aktuelle rechnerische mathematisches Abenteuer. Springer,
tausch von Daten, der vor und nach der Er oder methodische Herausforderungen zu er Berlin/Heidelberg 2004
Ott, M. et al.: Large-Scale Maximum
ledigung jeder Teilaufgabe erforderlich ist, kennen. Beispielhaft sei hier das »plant tree of Likelihood-Based Phylogenetic Analysis
einen zu großen Teil der Rechenzeit in An life grand challenge project« genannt, das on the IBM BlueGene/L. In: Proceedings of
spruch. Die Analyse und Identifizierung von der Deutschen Forschungsgemeinschaft IEEE/ACM Supercomputing (SC2007)
Conference, Reno, Nevada, November
solcher Teilaufgaben ist nicht einfach und bil (DFG) und der National Science Founda-
2007
det einen der Schwerpunkte im Teilgebiet der tion in den USA gefördert wird. Sein Haupt Stamatakis, A., Izquierdo-Carrasco, F.:
Informatik, das sich mit der parallelen Pro ziel besteht darin, einen umfassenden Stamm Result Verification, Code Verification and
Computation of Support Values in Phylo-
grammierung beschäftigt. baum der Pflanzen mit etwa 500 000 Spezies
genetics. In: Briefings in Bioinformatics 12,
Auch hier gilt, dass die angewandten Pa- zu berechnen und online zur Verfügung zu S. 270 – 279, 2011
rallelisierungsstrategien auf alle likelihood- stellen, so dass Biologen ihn für weiterfüh Stamatakis, A., Alachiotis, N.: Time and
Memory Efficient Likelihood-Based Tree
basierten Programme übertragbar sein sollten rende Analysen nutzen können. Das ist eine
Searches on Gappy Phylogenomic Align-
und es auch sind. Mit RAxML wurden schon Herkulesaufgabe, zumal die benötigten Daten ments. In: Bioinformatics 26, S. i132– i139,
bis zu 1024 Prozessoren simultan zur Be keineswegs komplett vorliegen. Noch nie 2010
rechnung der Funktion f für einen einzigen konnte ein Stammbaum dieser Größenord
Datengetriebene Wissenschaft 25
Pfade im Informationsdschungel
Wer die verschlungenen Wege des Stoffwechsels erforscht, benötigt Orientierungshilfe. Die Datenbank
SABIO-RK hilft mit allerlei Finessen der Informatik, benötigte Daten in der Flut an Publikationen zu finden.
A
llein vor dem Rechner sitzend, scher disziplinübergreifend zusammen. Wäh- die als Energieträger im Körper fungieren).
versunken in einer abstrakten rend Experimentatoren sich zum Beispiel in- Über Koeffizienten lassen sich diese Glei-
Welt aus Bits und Bytes – das ist tensiv mit der Messung von Vorgängen inner- chungen an die Temperatur, den pH-Wert
das Bild, das sich viele von der halb der Zelle befassen, haben Theoretiker und andere Parameter anpassen.
Arbeit des Informatikers machen. Tatsächlich etwa Stoffwechselketten und deren Kombina- Wie überall in der Wissenschaft folgt der
sieht die Realität oft anders aus. So unterstützt tionen im Blick. Sie versuchen die zu Grunde Erkenntnisgewinn dem immer gleichen Sche-
die HITS-Gruppe »Scientific Databases and liegenden biochemischen Prozesse in mathe- ma: Auf der Basis bereits publizierter For-
Visualization« (SDBV) Systembiologen durch matischen Modellen zu formulieren, um nicht schungsergebnisse entsteht eine Hypothese,
die Einrichtung und Pflege spezieller Daten- allein das »Wer reagiert mit wem?« zu beant- die experimentell überprüft wird; die Analyse
banken. Das erfordert interdisziplinäre Zu- worten, sondern auch Fragen wie »Wie schnell der Messergebnisse begründet dann ein Mo-
sammenarbeit und regen Austausch mit den läuft die Reaktionskette bei den gegebenen dell dessen, was im Experiment passiert ist.
Nutzern. äußeren Bedingungen ab?«. Solche kineti- Alle gewonnenen Informationen werden
Systembiologen betrachten Vorgänge in schen Modelle sind Differenzialgleichungen, schließlich publiziert und speisen wiederum
lebenden Organismen nicht isoliert, sondern die beispielsweise die zeitliche Veränderung neue Theorien und Experimente.
in größeren Zusammenhängen. Da sich hier- der Glukosekonzentration und der durch den Und gerade an dieser Stelle helfen Daten-
bei schnell zu viele Informationen für einen Abbau des Moleküls entstehenden Produkte banken. Denn der Austausch über gedruckte
einzigen Kopf anhäufen, arbeiten diese For- widerspiegeln (unter anderem ATP und ADP, Journale ist nicht nur langsam, es fällt Wissen-
Phosphoglucose- Phosphofructo-
Hexo-Kinase Aldolase
+
Isomerase Kinase
H2O Glycerinaldehyd-
Pyruvat- Phosphoglycerat- Phosphoglycerat- 3-phosphat- Triosephosphat-
Kinase Enolase Mutase Kinase Dehydrogenase Isomerase
schaftlern auch zunehmend schwerer, aus der mationen als auch die Detailtiefe eventueller zen. Zudem ist SABIO-RK zwar einerseits
gesamten Flut an Informationen nur die das zusätzlicher Kommentare. Zum anderen soll- eine Webanwendung, die wie ein Ingenieurs-
jeweilige Thema betreffenden herauszufiltern. te Gleiches auch gleich bezeichnet sein. erzeugnis geplant und gebaut werden muss.
Aktuell verzeichnet PubMed, eine der wich- Über eine Suchmaske mit geeigneten Fil- Darum herum ranken sich aber andererseits
tigsten Publikationsverzeichnisse für die Me- tern kann ein Nutzer auf die Datenbank zu- auch interessante Forschungsthemen.
dizin, allein zur Leber – dem zentralen Organ greifen – etwa nach Reaktionen suchen, an So sind die Namen der reagierenden Stoffe
des Stoffwechsels – mehr als 700 000 Veröf- denen bestimmte Moleküle beteiligt sind. Die oft nicht eindeutig, was die Forderung, Glei-
fentlichungen. Um die jeweils relevanten zu Informationen werden zudem auf Wunsch als ches gleich zu benennen, zu einer anspruchs-
ermitteln und daraus die für eine bestimmte SBML-Dateien ausgegeben, also in der Sys- vollen Aufgabe macht. Beispielsweise bezeich-
Fragestellung wichtigen Daten zu entneh- tems Biology Markup Language, einem inter- nen das deutsche »Wasser« und die chemische
men, benötigt ein Forscher die Unterstützung national standardisierten Dateiformat der sys- Formel H2O die gleiche Substanz. Für das
der elektronischen Medien. tembiologischen Modellierung. Ferner gibt es englische water listet die Datenbank ChEBI
Hierzu hat unsere Gruppe die Datenbank Verknüpfungen zu anderen Datensammlun- nicht weniger als 14 Synonyme auf.
SABIO-RK (System for the Analysis of Bioche- gen: So kann man sich mit einem Klick bei Auch die IUPAC, eine internationale Or-
mical Pathways – Reaction Kinetics) entwi- ChEBI (Chemical Entities of Biological Inte- ganisation, die regelt, wie chemische Verbin-
ckelt. Wie es der Name andeutet, enthält sie rest), einer Datenbank, die am European Bio- dungen zu bezeichnen sind, lässt hier viel
von uns aufbereitete Angaben zu Stoffwech- informatics Institute in Hinxton (England) Spielraum. Ein Beispiel aus dem Glukose-
selwegen. So genannte Biokuratoren wählen entwickelt und gepflegt wird, weitere Infor- stoffwechsel: Glyceraldehyd-3-Phosphat, das
zunächst potenziell nützliche Artikel anhand mationen zu einem Reaktionspartner holen. korrekt auch als 3-Phosphoglyceraldehyd ge-
der Zusammenfassungen in PubMed aus. schrieben werden kann, denn die standardi-
Hilfskräfte lesen diese Publikationen und ge- Problematische Vielfalt der Namen sierte Nomenklatur erlaubt die Umstellung
ben die daraus entnommenen Daten zunächst Für diese Arbeit benötigen wir mehr als die von Namensteilen.
in eine nichtöffentliche Version der Daten- Expertise in der Informatik. Es genügt nicht Eine Vereinheitlichung ist bereits Teil der
bank ein. Nun kommen wieder die Biokura- zu wissen, wie Nutzer in einer Datenbank su- Kuratierung. So darf es schon bei der Eingabe
toren zum Zuge, die zum einen darauf achten, chen und wie man sie dabei optimal unter- nur entweder Glucose oder Glukose geben.
dass Gleiches gleich gespeichert wird. Dies be- stützen kann. Wir müssen auch verstehen, wie Genauer gesagt, speichern wir nicht einen
trifft sowohl die formale Struktur der Infor- Systembiologen Daten gewinnen und einset- Textnamen, sondern die standardisierten Be-
Datengetriebene Wissenschaft 27
zeichner der ChEBI: Der Glukose entspricht men in Wortbestandteile zerlegen. Diese wer- Problem, korrekte Wort-Transformationsre-
dort der Identifikator ChEBI:17234, der ein- den sortiert, manche durch andere ersetzt. geln zu suchen, nun die Aufgabe, Molekülna-
deutig und sprachunabhängig ist. Um eine Die einzelnen Schritte sind jeweils so gewählt, men korrekt in Strukturen umzusetzen. Doch
derartige Umsetzung in einen standardisier- dass Wörter gleichen Sinns auf gleiche künst- kann der semantische Ansatz viel mehr, ver-
ten Bezeichner schon bei der Eingabe von liche Wörter abgebildet werden. Beispielswei- mag sogar mit Überbegriffen umzugehen:
Suchbegriffen durch die Nutzer zu unterstüt- se entfernt dieses Verfahren in den IUPAC- Sucht man etwa nach einer Reaktion eines Al-
zen, lassen sich gängige Verfahren der Sprach- konformen englischen Bezeichnungen 1-bu- kohols mit einem anderen Molekül, wäre der
verarbeitung wie Stemming-Algorithmen lei- tanol und butan-1-ol die Bindestriche, sortiert semantische Ansatz der Namen-Normalisie-
der nicht einsetzen. Diese bilden Worte auf ei- die Wortbestandteile und kommt in beiden rung im Vorteil, einerlei um welchen Alkohol
nen gemeinsamen Wortstamm ab, könnten Fällen zu dem identischen Ergebnis 1butanol. es sich handelt; ein morphologischer Ansatz
beispielsweise für »gehst« und »geht« die Basis Der zweite Ansatz hingegen beschäftigt müsste hierzu stark erweitert werden.
»geh« finden. sich mit dem Sinn der Wörter, ist also seman- Wir verfolgen deshalb beide Verfahren pa-
In langjähriger Zusammenarbeit mit der tischer Natur. Dieser Algorithmus übersetzt rallel. Die morphologische Methode steht
Gruppe von Uwe Reyle an der Universität Molekülbezeichnungen in chemische Struk- kurz vor dem Einsatz, die semantische ist da-
Stuttgart entstanden zwei neue Verfahren zur turformeln und käme damit im Beispielfall von noch weiter entfernt. In der aktuellen Im-
Namen-Normalisierung. Das eine folgt einem ebenfalls zu dem Ergebnis, dass die zwei ver- plementierung arbeitet sie auch deutlich lang-
morphologischen Ansatz, untersucht also die schiedenen Wörter identische chemische samer. Als Anbieter einer Dienstleistung müs-
Form des Wortes. Dazu müssen wir jeden Na- Strukturen bezeichnen. Zwar wird aus dem sen wir uns fragen, mit welchem Aufwand wir
Datengetriebene Wissenschaft 29
Kreativ durch Analogien
Gleiche Strukturen erkennen bei Dingen, die auf den ersten Blick nichts miteinander gemein haben:
Das ist das Arbeitsprinzip, mit dem die interdisziplinäre Computerlinguistik ihre Erfolge erzielt.
D
ie Computerlinguistik vereinigt Struktur. Im Prinzip dasselbe tut ein Mensch, und in akzeptabler Zeit zumindest seine gram
Elemente von Informatik und der einen gesprochenen Satz hört und ver matische Struktur erkennen.
Linguistik; sie verwendet darü steht. Mehr noch: Ein solches Programm soll vor
ber hinaus Methoden aus wei Diese Analogie ist noch nicht besonders dem eigentlichen Parsing kontinuierliche
teren Gebieten wie Mathematik, Psychologie, bemerkenswert, weil die Entwickler der Pro Sprache erkennen, das heißt im pausenlosen
Statistik und künstliche Intelligenz. Der Reiz grammiersprachen und der zugehörigen Par Strom der gesprochenen Laute einzelne Wör
und die Herausforderung einer solchen inter serprogramme von Anfang an stark von der ter und damit auch die Grenzen zwischen den
disziplinären Wissenschaft liegen darin, Ana Linguistik beeinflusst waren; da verwundert Wörtern ausfindig machen, und das unab
logien zwischen Konzepten aus weit entfern es nicht, dass sie deren Denkstrukturen über hängig von der Person des Sprechers und mit
ten Teilgebieten zu erkennen und zu nutzen. nommen haben. Aber die Analogie funktio großem Wortschatz. Diese Aufgabe in ausrei
Paradebeispiel dafür ist einer der entschei niert auch in Gegenrichtung. Erst als die In chender Qualität zu lösen, gelang erst mit
denden Durchbrüche, welche die Computer formatiker Methoden aus dem Kompilieren Hilfe einer weiteren Analogie. Man interpre
linguistik prägten. Es geht um das »Parsing«: formaler Sprachen – insbesondere Program tiert das Sprachsignal als verrauschte, das
Ein Computerprogramm, genauer gesagt ein miersprachen – auf natürliche Sprache über heißt durch zufällige Störungen verunreinigte
Compiler, nimmt Zeichen für Zeichen den trugen, wurde das Parsing von gewöhnlichen Version einer Zeichenkette, die dekodiert
Input des Benutzers entgegen, der in diesem Sätzen überhaupt effektiv berechenbar. Erst werden muss. Dank der neuen Betrachtungs
Fall seinerseits aus dem Text eines Computer dann konnten sie also Programme schreiben, weise lassen sich nun statistische Methoden
programms besteht, und ermittelt dessen die einen normalen, gesprochenen Satz hören aus der Informationstheorie anwenden.
rauf, dass mit »the Russian president« »Putin« gemeint ist. Letz Yeltsin the Russian president
Japan the Russian president
teres erfordert sogar Weltwissen, nämlich dass zu der Zeit, als this visit to Japan the Russian president
Putin the Russian president
dieser Text geäußert wurde, nicht mehr Boris Jelzin, sondern ... ...
Wladimir Putin russischer Präsident war.
ch
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t e i l w e ches
he
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Putin
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Yeltsin this visit to Japan
g l e ic
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his orta Japan
rt (Pro
Koreferenzresolution mit Hypergraphen e Z e i c h e n fo no men Japan
ch l )
ge
the Russian
gle
Das Programm definiert zunächst mit Hilfe einzelner Merkmale fürKoreferenzketten.
president Die Teilmengen sinditim linken Bild durch
Teilmengen aller Erwähnungen (Hypergraphen) als Kandidaten farbige Umrandungen
the Russian
president
dargestellt. Sie werden
Japan dann mit Hilfe
von Algorithmen der linearen Algebra verrechnet; das Ergebnis
tis c h e s G es ist die korrekte Zerlegung (rechts).
sch m ma ch
m m a ti e s G es ra le
ra c ic h e n f o lge
ch
g Ze
t e i l w e ches
he
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hl
g le
es
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Putin is e
i
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gl e
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Putin
ge
the Russian
gle
the Russian
president it president it
the Russian the Russian
president Japan Japan
president
Putin
Von den so entwickelten
Yeltsin Methoden this
pro visit
und to
»it«.Japan
Formal gesprochen kommt es darauf benen korrekten Lösungen, die als Trainings-
fitierte schließlichhisimmens die maschinelle Japanan, alle Erwähnungen in Teilmengen aufzutei und Testdaten dienen (»Annotationen«), Re
Übersetzung. Hier trägt dieselbe Analogie:Japan len, deren Elemente zueinander koreferent geln oder statistische Zusammenhänge ab.
Die Ausgangssprache
the Russianwird als verrauschte Ver sind; und natürlich darf eine Erwähnung Damit die Standardverfahren des maschi
president it
sion der Zielsprache angesehen. Obwohl die nicht zwei verschiedenen Teilmengen angehö nellen Lernens angewendet werden können,
the Russian
automatische Übersetzung auf den erstenJapan
president ren. Diese Mengen heißen auch »Koreferenz arbeitet man mit Paaren von Erwähnungen.
Blick nichts mit der Spracherkennung gemein ketten«, weil sie häufig, wie im Kasten, durch Eine Annotation besteht aus einer Liste sol
hat, erkannten Computerlinguisten eine verbindende Striche dargestellt werden. cher Paare mitsamt der Angabe, ob die bei
Strukturähnlichkeit und übertrugen den Lö Frühe Arbeiten in der Computerlinguistik den Erwähnungen eines Paars koreferent
sungsansatz von der Spracherkennung auf die griffen Erkenntnisse aus der Linguistik auf sind oder nicht (Kasten links, rechte Grafik).
automatische Übersetzung. und stellten komplexe Regeln für die Korefe Das Programm lernt nicht nur danach, es
renzresolution auf, die eine vollständige syn gibt zu einem neu vorgelegten Text Listen
Ist »er« Putin oder Jelzin? taktische und häufig auch semantische Analy von Paaren aus. Diese »paarweise Klassifika
Hier wird ein Muster deutlich: Man löst ein se des Textes voraussetzten. Da dieser Ansatz tion« hat den Vorteil, dass sie bekannten und
computerlinguistisches Problem, indem man nicht robust genug für eine Anwendung im gut verstandenen Methoden des maschinel
eine Analogie zu einem scheinbar entfernten größeren Stil war, wurden seit den späten len Lernens zugänglich ist. Nachteil ist, dass
Gebiet erkennt – natürliche Sprachen und 1990er Jahren zunehmend Verfahren des ma Wissen um den Kontext verloren geht. So
Programmiersprachen, Spracherkennung und schinellen Lernens eingesetzt: Ein Programm kann es einem solchen Programm durchaus
Informationstheorie, maschinelle Überset leitet automatisch aus von Menschen vorgege passieren, dass es »Putin« und »Yeltsin« durch
zung und Spracherkennung. Zwei Studien
aus meiner Arbeitsgruppe zeigen im Folgen
den, wie eine solche Übertragung im Einzel Glossar
fall geleistet werden kann.
Eine wichtige Aufgabe beim automati ➤ Syntax ist die grammatische Struktur eines Textes, Semantik seine Bedeutung.
schen Verstehen von Texten ist die so genann ➤ P arsing: Einen Eingabetext Zeichen für Zeichen entgegennehmen, dabei Gren
te Koreferenzresolution: zu erkennen, dass zen zwischen bedeutungstragenden Elementen (»Wörtern«) und in gewissen
sich mehrere Ausdrücke im Text (»Erwähnun Grenzen die Struktur des Texts erkennen.
gen«) auf denselben Gegenstand beziehen ➤ Z wei Ausdrücke im Text (»Erwähnungen«) koreferieren, wenn sie denselben Ge
(»koreferieren«). Eine Erwähnung kann zum genstand bezeichnen.
Beispiel ein Eigenname in unterschiedlichen ➤ Koreferenzresolution ist die Identifizierung koreferenter Erwähnungen.
Varianten, ein Pronomen oder auch eine zu ➤ A nnotation ist ein von einem menschlichen Bearbeiter mit Zusatzinformatio
sammengesetzte Nominalphrase sein. In dem nen versehenes Textbeispiel für das maschinelle Lernen.
Text im Kasten links sind die Erwähnungen ➤ Ein Synset ist eine Menge annähernd synonymer Ausdrücke in der Datenbank
»Putin« und »the Russian president« korefe WordNet.
rent, ebenso »Yeltsin« und »his« sowie »Japan«
Datengetriebene Wissenschaft 31
Europa
Zeitalter
wenn sie koreferent sind; aber das ist ja erst
Kunst
Person
das Ergebnis der Analyse und nicht der Aus
Staat in Europa
(Kunst)
gangspunkt. Diese Kanten wiederum drücken
Moderne
Deutschland nichts weiter aus als eine paarweise Klassifika
tion und bieten daher keinen Fortschritt.
Person Kultur
Russland
Weiter kommt man mit einem neuen
(Bildende Kunst) (Europa)
Deutscher
Neuzeit Konzept. Ein Hypergraph ist ein verallgemei
Künstler Russe
nerter Graph, bei dem eine Kante mehr als
Kunstwerk zwei Knoten miteinander verbinden kann.
Person
Kultur
(Deutschland)
Kultur der Neuzeit Damit ist er die graphentheoretische Entspre
(Russland)
chung einer Menge, und wir haben eine ange
Person
(Musik) Künstler der
Bildenden Kunst
messene Darstellung des Koreferenzproblems
Kunst Kunst
Neue Musik (Deutschland) (Russland) gefunden: Erwähnungen sind Knoten im Hy
Komponist
Deutscher
pergraphen, und jeder Gegenstand ist eine
Russischer
Künstler Künstler
Komponist Künstler
der Neuzeit Hyperkante, die alle seine koreferenten Er
(Klassische Musik)
Komponist
Russische
Musik
wähnungen umfasst. Das Problem der Kore
(Kirchenmusik)
Komponist (Oper)
Grafiker
ferenzresolution kann dann als Clusteranalyse
Deutscher
Musiker Russischer
Künstler
der Moderne
für Hypergraphen aufgefasst werden.
Musiker Radierer
Komponist
Deutscher
Mit diesem neuen theoretischen Rahmen
(20. Jahrhundert) Russischer Grafikdesigner
Komponist
Komponist
Kunst
ist unser Programm zur Koreferenzresolution
Dirigent Russischer
der Moderne
nicht mehr ausschließlich auf die Beispielpaa
Maler
Max Reger
Expressionismus
re der paarweisen Klassifikation angewiesen.
Maler des
Paul Hindemith Igor Strawinski Expressionismus Vielmehr zieht es eine Vielzahl von »Merkma
Werk Konstruktivismus
(Neue Musik)
Künstler
len« (features) heran. Ein Merkmal ist ein In
Deutscher
Maler
des Konstruktivismus
diz dafür, dass zwei Erwähnungen im Prinzip
Werk der Suprematismus
Darstellenden Kunst
Werk von
Paul Hindemith El Lissitzky koreferent sein können. Eines von ihnen zeigt
Mann
an, ob Erwähnungen der gleichen semanti
Künstler
Musikalisches
Ludus Tonalis Ernst Ludwig
Kirchner
Paula
Modersohn-Becker
des Suprematismus
schen Klasse angehören, also zum Beispiel
Werk
Spektrum der Wissenschaft
Ponzetto und mir die Frage, wie wir unserem weisen eine Gemeinsamkeit auf. Beim Prob
Koreferenzresolutionssystem dieses Wissen lem der Koreferenzresolution kam es darauf quellen
zur Verfügung stellen können. an, auf einer abstrakten Ebene die Struktur
Cai, J., Strube, M.: End-to-End Coreference
Die in der Computerlinguistik populärste gleichheit zwischen dem linguistischen Phä Resolution via Hypergraph Partitioning. In:
Ressource für derartiges Wissen ist »Word nomen der Koreferenz, dem mathematischen Proceedings of the 23rd International
Conference on Computational Linguistics,
Net«, eine lexikalische Datenbank, die Wörter Konzept der Menge und dem graphentheo
Peking, 23. – 27. August 2010, S. 143 – 151.
so genannten »Synsets« zuordnet, die jeweils retischen Konstrukt des Hypergraphen zu se Download über www.aclweb.org/
eine Menge (annähernd) synonymer Ausdrü hen. Bei der Wissensextraktion aus Wikipedia anthology/C/C10/
Ponzetto, S. P., Strube, M.: Taxonomy
cke enthalten. Die Synsets sind in einer Taxo ging es darum, das Kategoriensystem in Wi
Induction Based on a Collaboratively Built
nomie angeordnet und durch viele weitere se kipedia als Netzwerk zu erkennen, dessen Knowledge Repository. In: Artificial Intelli-
mantische Relationen miteinander verknüpft, Kanten semantische Nähe ausdrücken und gence 175, S. 1737 – 1756, 2011
so dass sich ein reichhaltiges semantisches dessen Knoten – Wikipedia-Artikel und -Ka
Datengetriebene Wissenschaft 33
Virtuelle Forschungsumgebungen
für morgen
Um Wissenschaftlern die Infrastruktur bieten zu können, die sie für ihre Arbeit in der Zukunft brauchen,
müssen Hochschulen und außeruniversitäre Institutionen ihre Kräfte bündeln und neue Wege beschreiten.
N
ur dort, wo der Boden und das attraktiv zu machen und so in der Antike xperiment und Beobachtung ihre Alleinstel
E
Angebot an Wasser und Licht den Wettbewerb um die klügsten Köpfe zu lung im Erkenntnisprozess. Dieser Trend setzt
ihren Bedürfnissen genügen, gewinnen. sich bis in die Gegenwart fort, in der neben
werden Pflanzen gedeihen und Während es damals nur wenige solcher den Bibliotheken als weitere Querschnitts
Frucht tragen. Genauso verhält es sich auch Stätten der Gelehrsamkeit gab, änderte sich funktion die Rechenzentren zur Verarbeitung
mit der Wissenschaft: Ein Forscher benötigt die Situation im Spätmittelalter deutlich. Mit von Forschungsdaten aufkamen. Inzwischen
eine seinem Thema angemessene Umgebung, dem Untergang des Römischen Reichs im wendet eine typische technische Universität
um herausragende Ergebnisse zu erzielen. Das 5. Jahrhundert war eine Phase weit gehender durchschnittlich weniger als zwei Prozent ih
war schon in der Antike so, wobei sich die er wissenschaftlicher Stagnation angebrochen. res jährlichen Etats für die Ausstattung ihrer
forderliche Infrastruktur im Lauf der Jahr Nun aber wurden die antiken naturphiloso Bibliothek auf, hingegen über fünf Prozent
hunderte freilich beträchtlich erweitert hat. phischen Erkenntnisse wiederentdeckt, und für Laborräume und technische Einrichtun
Doch auch wenn wir heute von »virtuellen die Mächtigen ihrer Zeit gründeten Universi gen. Dies war und ist die Konsequenz einer
Forschungsumgebungen« sprechen, sind die täten als neue Form, Studium und Forschung veränderten Forschungslandschaft, in der sich
Grundbedürfnisse doch erstaunlich gleich ge eine Heimat zu geben. Das Modell erwies sich die Natur- von den reinen Geisteswissenschaf
blieben. Gelehrte brauchen vor allen Dingen als erfolgreich. Um 1230 gab es bereits etwa ten lösten und größeren Raum einnahmen.
eines: die Möglichkeit, sich mit anderen Ex 20 solcher Einrichtungen in Europa, 1789 Da Experimente disziplinspezifisch sind,
perten ihres Fachs auszutauschen. waren es schon 142. Im deutschen Sprach erfordern sie unterschiedliche Forschungsum
Weil diese beiden Grundpfeiler jeder For raum vollzog sich diese Entwicklung etwas gebungen. Angesichts einer wachsenden Zahl
schung Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. am langsamer. Bis 1400 gab es erst drei Universi von Teildisziplinen wird es für eine Universi
Museion Alexandrias gegeben waren, wurde täten, bis 1500 wuchs ihre Zahl aber auf zehn. tät immer aufwändiger, das ganze Spektrum
es zur zentralen Stätte antiker Gelehrsamkeit. Heute sind es in Deutschland allein ungefähr der Wissenschaften abzubilden, auch wenn
Nirgends sonst beherbergte eine Bibliothek 100. Hinzu kommen noch andere Arten sich Forschungsumgebungen bei vergleichba
eine solche Vielzahl an Schriften – hundert von Hochschulen und außeruniversitäre For ren Fragestellungen durchaus ähneln.
tausende sollen es gewesen sein. Nicht anders schungseinrichtungen. Mitunter benötigen wissenschaftliche Ins
als heute ermöglichten diese frühen Publika trumente spezifische Einsatzorte. Dazu gehö
tionen eine indirekte Kommunikation zwi Niedergang der Bibliotheken ren astronomische Teleskope, die einen dunst
schen Forschern über Generationen hinweg. Auch in den mittelalterlichen Universitäten freien Himmel erfordern (siehe Foto rechts),
Auf Grund seiner Bedeutung wurde das spielten die Bibliotheken eine tragende Rolle, oder die polaren Beobachtungsstationen und
Museion oft von den Großen der Zeit geleitet, und daran hat sich bis in die Gegenwart nichts Forschungsschiffe der Klimaforscher. Die ef
etwa von Eratosthenes, der den Erdumfang geändert. Nach wie vor ist die Publikation das fiziente Nutzung dieser weit entfernten Be
und die Schiefe der Ekliptik vermaß, oder von primäre Mittel, Forschungsergebnisse in der obachtungsstandorte verlangt, große Daten
dem frühen Sprachwissenschaftler Aristo Fachwelt zu verbreiten. Seit der Erfindung des volumina von dort schnell zu den jeweiligen
phanes. Selbst längere Reisen und die damit Buchdrucks durch Johannes Gutenberg Mitte Wissenschaftlern an ihren Heimatuniversitä
verbundenen Gefahren schreckten Wissen des 15. Jahrhunderts lassen sie sich leicht ver ten zu übermitteln.
Suchende nicht ab. Seine einzigartige Ausstat vielfältigen – und dank des Aufkommens der Während Gelehrte noch Anfang des 20.
tung verdankte das Museion dem Engagement Zeitungen und schließlich des Wissenschafts Jahrhunderts in Briefwechseln Informationen
des ptolemäischen Herrschergeschlechts. Ob journalismus auch einer breiten Öffentlich austauschten und Theorien diskutierten, wol
wohl die Wirtschaftsmacht ihres Landes noch keit vermitteln. len Forscher heute mit anderen ohne Verzöge
nicht davon abhing, wissenschaftliche Er Dennoch gab es seit den Zeiten Galileo rung und unabhängig vom Aufenthaltsort in
kenntnisse in technische Innovationen um Galileis (1564 – 1642) eine strukturelle Ver Verbindung treten können. Das leisten die
zumünzen, legten diese Könige großen Wert änderung: Schriften – und damit die Biblio modernen, globalen Kommunikationssyste
darauf, den »Forschungsstandort« Alexandria theken – verloren mit der Einführung von me, darunter vor allem das Internet. Hierfür
Datengetriebene Wissenschaft 35
die technische Infrastruktur bereitzustellen,
ternommen.
Im Extremfall könnte ein Rechenzentrum
die gesamte Infrastruktur stellen – bezie
hungsweise als eigenständiges Unternehmen
ausgegliedert werden; man spricht von Infra
structure-as-a-Service. Dieser Ansatz ist vor
allem in solchen Fächern sinnvoll, die die ver
fügbare Technologie möglichst optimal aus
nutzen wollen. Geht es dagegen nur um die
Ausführung von bestimmten Programmen,
etwa zur statistischen Auswertung, ist das
Konzept Software-as-a-Service interessanter.
Ein Forscher könnte dann eine speziell für
seine Aufgabenstellung entwickelte Software
verwenden, ohne sich um deren Implemen
tierung kümmern oder selbst über die not
wendige Hardware verfügen zu müssen.
Das würde auch die lokalen Rechenzent
erfordern die Konzentration von Experimentiereinrichtungen an einem Ort (im Bild ren entlasten, da sie in Zukunft kaum in der
oben der LHC am CERN). Von dort müssen die Ergebnisse über Kommunikationsnetzwerke Lage sein werden, die Vielzahl unterschiedli
zu den über die ganze Welt verteilten Wissenschaftlern weitergeleitet werden. cher Anwendungssoftware für die jeweils we
nigen Nutzer bereitzustellen und zu pflegen.
Zudem sinkt das Risiko, dass ein in einem
nerer Studien mit aufwändigen Bilddaten wie den LHC-Experimenten ist das durch das so Projekt entwickeltes Verfahren vergessen und
in der Medizin. Diese Informationen werden genannte Worldwide LHC Computing Grid in einem anderen neu entwickelt wird.
in der Regel in großen Archiven gesammelt (WLCG) – ein aus miteinander kommuni Die entstehende Forschungsinfrastruktur
und wiederum anderen Forschern zur Verfü zierenden Rechnern auf der ganzen Welt be besitzt dann zwei Komponenten, deren Zu
gung gestellt. stehendes Netzwerk – bereits in Ansätzen ge sammenspiel noch nicht geklärt ist: Auf der
Sowohl aus dem Interesse der Beteiligten schehen. einen Seite übernimmt die Universität diszi
als auch aus Effizienzgründen sollten all diese Das erfordert eine dienstleistungsorien plinübergreifend die Strukturierung der For
Daten möglichst vielen Gruppen zugänglich tierte Softwaretechnologie. Ein Beispiel dafür schungsumgebung vor Ort, auf der anderen
sein. Damit entsteht ein Bedarf an virtuel- ist das so genannte Cloud Computing. Eine arbeitet der Träger einer virtuellen disziplin
len Forschungsumgebungen, die institutions solche »Rechnerwolke« besteht aus einem spezifischen Forschungsumgebung über die
übergreifend aufgebaut sind. Im Gegensatz Netzwerk von Computern, aus dem ein An Grenzen der Institutionen hinweg. Offen sind
zum erwähnten Bibliotheksverbund oder zum bieter die nachgefragten Ressourcen dyna bis jetzt die Mechanismen der Zusammenar
Rechenzentrum wären diese zwar disziplin misch zuweist. Letzterer weiß also nicht mehr, beit und die Finanzierung solcher Infrastruk
spezifisch, durch Synergieeffekte würden aber wo konkret jene Maschinen stehen, die seine turen. Um den Forschungsstandort Deutsch
die Kosten reduziert. Daten oder eine bestimmte Software vorhal land auch für die Zukunft gut zu positionie
ten – all das bleibt ihm wie hinter einer Wolke ren, sollten diese Fragen so schnell wie möglich
Rechnen in der Wolke verborgen. gelöst werden. Ÿ
Virtuelle Forschungsumgebungen sollen vor Hier bietet sich eine weitere Chance für
allem notwendige Dienste für die beteiligten die Hochschulen, Kosten zu sparen und
der autor
Wissenschaftler anbieten, angefangen von gleichzeitig ein Mehr an Infrastruktur zu bie
der Verbindung zu anderen Forschern, wis ten. Gegenwärtig versorgen ihre Rechenzent Uwe Schwiegelshohn
leitet das Institut für
senschaftlichen Geräten oder Datenspeichern ren noch die vor Ort arbeitenden Forscher.
Roboterforschung der
an weit entfernten Orten bis hin zur Bereit Angesichts der Fragmentierung der Hoch Technischen Universität
stellung und Pflege benötigter Software für schullandschaft in viele Disziplinen mit je Dortmund, wo er sich
vor allem auf die Gebiete
die Auswertung von Messergebnissen. Es wä- weils nur einer kleinen Zahl von Wissen
Grid Computing und au-
re ineffizient, wenn solche Software von je schaftlern pro Universität lässt sich auf diese tonome mobile Roboter
dem Wissenschaftler selbst erstellt werden Weise kaum die nötige hohe Auslastung errei konzentriert. Er ist zudem Prorektor für
müsste, wie dies in der Vergangenheit oft der chen. Vernünftiger wären Rechenzentrums den Geschäftsbereich Finanzen der Hoch-
schule. In diesem Rahmen befasst er
Fall war. Nachdem aber jetzt die Institutions verbünde analog den Bibliotheksverbünden; sich auch mit fakultätsübergreifenden
grenzen einmal aufgebrochen sind, bietet es erste Schritte in diese Richtung wurden so Fragen der Strukturentwicklung.
sich an, sie auch hier zu überschreiten. Bei wohl innerhalb von Bundesländern als auch
Datengetriebene Wissenschaft 37
Wissenschaft braucht Vernetzung
Forscher können der rapide anwachsenden Datenmengen nur Herr werden und
sie zum rascheren Erkenntnisgewinn nutzen, wenn sie ihre Rolle als Mitglieder eines
großen Netzwerks verstehen und akzeptieren. Dies erfordert neue Formen des
Umgangs mit urheberrechtlichen Fragen und neue Modalitäten der Zusammenarbeit.
D
ie Gewinnung neuer Erkennt- die alten Erklärungsmuster den neuen Reali-
nisse durch die Analyse großer täten nicht mehr gewachsen sind.
Datensammlungen wird oft als Dies scheint mir die Idee hinter Jim Grays
»viertes Paradigma« wissen- Begründung eines vierten Paradigmas und
schaftlichen Arbeitens bezeichnet. Unabhän- dem Bild von der »Datenflut« zu sein: dass
gig davon, ob man dem zustimmt, ist es sinn- unsere Fähigkeit, Daten zu messen, zu spei-
voll, die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs chern, zu analysieren und zu visualisieren, die
Paradigmenwechsel in Thomas Kuhns »Struc- neue Realität ist, der sich die Wissenschaft
ture of Scientific Revolutions« noch einmal zu stellen muss. Daten sind der Kern dieses neu-
reflektieren. en Paradigmas, und es steht auf einer Stufe
Kuhns Modell beschreibt eine Welt der mit dem, was wir für den wissenschaftlichen
Wissenschaft, in der ein System von Ideen die Methodenvorrat halten: der experimentellen
Vorherrschaft erringt, sich etabliert und so Beobachtung, der Theoriebildung und der Si-
eine Sicht der Welt hervorbringt (das »Para- mulation.
digma«), die für sich selbst Macht und Ein- Müssen wir die ersten drei Paradigmen
fluss gewinnt. Dieses System von Ideen be- also begraben? Keineswegs, vielmehr will ich
zieht seine Geltung daraus, dass es eine plausi- Das Onlinelexikon Wikipedia ist das sie feiern. Mit der experimentellen Beobach-
ble Erklärung für beobachtbare Phänomene bekannteste Beispiel einer für alle frei tung und Theoriebildung sind wir weit ge-
liefert. Auf diese Weise haben wir zum Bei- zugänglichen Website, welche die kommen – von einem Weltbild, in dem die
spiel den Äther als Träger des Lichts bekom- Gemeinschaft der Internetnutzer welt- Sonne um die Erde kreist, bis zur Quanten-
men sowie die Miasmen-Theorie für Infekti- weit unentgeltlich aufgebaut hat, physik. Simulation ist das Herzstück vieler ak-
onskrankheiten und die Vorstellung, dass die stetig erweitert, pflegt und aktualisiert. tueller Forschungsaktivitäten, von der Rekon-
Sonne um die Erde kreist. Das System von struktion des antiken Rom bis hin zur Wetter-
Ideen, die Sicht der Welt, das Paradigma ver- vorhersage. Die Genauigkeit von Simulationen
festigt sich durch schrittweise Erweiterung. seits gedrängt. Neue Ideen fallen nicht auf und Prognosen steht im Zentrum heißer poli-
Jeder einzelne Wissenschaftler arbeitet in der fruchtbaren Boden, bekommen kein Geld tischer Debatten um die Wirtschaftsentwick-
Regel so, dass er das Paradigma Stück für und kein Personal. Furcht, Unsicherheit und lung und den Klimawandel. Und natürlich
Stück ergänzt. Wem es gelingt, ein großes Skepsis bestimmen die Reaktion auf originelle gilt, dass Beobachtung und Theorie unabding
Stück hinzuzufügen, der erlangt Autorität, Vorstellungen, Methoden, Modelle und An- bar sind für gute Simulationen. Ich kann auf
Forschungsaufträge, Preise und Auszeichnun- sätze, die dem herrschenden Paradigma zuwi- meinem Bildschirm sehr schön etwas simulie-
gen – und Direktorenposten. derlaufen. ren, in dem die Gravitation nicht vorkommt,
Alle Beteiligten profitieren von ihren In- Doch Weltanschauungen gehen unter und aber wenn ich mit meinem Auto über einen
vestitionen in ein System von Ideen, das über Paradigmen stürzen, wenn sie die Beobach- Klippenrand fahre, wird mich die Schwerkraft
die Ideen selbst hinausreicht. Firmen und Re- tungen nicht mehr erklären können oder gnadenlos wieder einholen.
gierungen (und die Leute, die für sie arbeiten) wenn ein Experiment zweifelsfrei nachweist, So gesehen handelt es sich also nicht um
gründen Geschäftspläne und politische Vor- dass sie falsch sind. Der Äther hat sich nach einen Paradigmenwechsel im kuhnschen Sin-
gaben auf eine solche Sicht der Welt. Das Hunderten von Jahren stetiger Verfeinerung ne. Daten werden nicht die gute alte Realität
führt zum Aufbau eines Schutzwalls – einer als Schimäre erwiesen, und so erging es dem beiseiteschieben. Stattdessen stellen sie eine
Art Immunsystem –, der das Weltbild gegen Miasma und dem Geozentrismus. Die Zeit Reihe von Anforderungen an die Methoden
Angriffe abschirmt. Zweifler werden ins Ab- für einen Wechsel ist dann gekommen, wenn und Konventionen, mit denen wir über Beob-
http://www2.jusch.ch/dokus/debiananwenderhandbuch.de/bilder/webmin/server-apache.png
Datengetriebene Wissenschaft 39
mit den anderen Schichten kompatibel ist
Freie Inhalte im Internet und zusammenwirkt oder »interoperiert«, wie
Computerwissenschaftler sagen. Ich glaube,
Das Open Directory Project (ODP) gilt als größtes von Menschen gepflegtes Webver- diese Sichtweise wird dem Wesen wissen-
zeichnis des World Wide Web. Seine Inhalte sind für jeden kostenlos zugänglich und schaftlicher Methodik eher gerecht als das
werden von freiwilligen Redakteuren unentgeltlich bearbeitet und aktualisiert. Die Konzept eines Paradigmenwechsels mit sei-
Grafik zeigt die Entwicklung der Einträge im deutschsprachigen Zweig des ODP. nem destruktiven Ansatz. Daten sind das Er-
Quelle: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Datei:Odp_sitecount_world_deutsch.png&filetimestamp=20100211081729
gebnis allmählicher Fortschritte bei den Mess-
und Beobachtungsverfahren. Sie untermau-
500 000
ern die Theorie, sie treiben und validieren die
450 000 Simulation, und sie werden am besten in stan-
400 000
dardisierter wechselseitiger Kommunikation
Windharp / CC-by-SA-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.de)
Eine Publikation von Spektrum der Wissenschaft und dem Heidelberger Institut für Theroretische Studien
Chefredakteur: Dr. Carsten Könneker Geschäftsführer: Dr. Klaus Tschira, Prof. Dr. Andreas Reuter Leitung: Dr. Joachim Schüring
Editor-at-Large: Dr. Reinhard Breuer (v.i.S.d.P.) Presse- und Öffentlichkeitsarbeit: Dr. Peter Saueressig Anschrift: Spektrum der Wissenschaft – Custom Publishing,
Redaktionsleiter: Dr. Hartwig Hanser (Monatshefte), Dr. Gerhard Anschrift: HITS gGmbH, Schloss-Wolfsbrunnenweg 35, Postfach 10 48 40, 69038 Heidelberg;
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Redaktion: Thilo Körkel (Online-Koordinator), Dr. Klaus-Dieter Tel.: 06221 533-245, Fax: 06221 533-198 Tel.: 06221 9126-612, Fax: 06221 9126-5612
Linsmeier, Dr. Christoph Pöppe
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Layout: Sibylle Franz, Claus Schäfer
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Katharina Werle Gesamtherstellung: L. N. Schaffrath Druckmedien GmbH & Co. KG, Marktweg 42–50, 47608 Geldern
Bildredaktion: Alice Krüßmann (Ltg.), Anke Lingg,
Gabriela Rabe Sämtliche Nutzungsrechte an dem vorliegenden Werk liegen bei der Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH.
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schaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.
http://education-copyright.org/wp-content/uploads/2011/06/Creative-Commons-Infographic.png
existiert und noch dazu der Encyclopedia Bri-
tannica den Rang streitig macht.
Aber, mit Galilei gesprochen: »Sie bewegt
sich doch.« Wikipedia existiert, und das Netz –
eine einvernehmliche Halluzination, die auf
einer Sammlung technischer Standards be-
ruht – transportiert Skype-Video-Anrufe zwi-
schen mir und meiner Familie in Brasilien –
und zwar umsonst. Es ist eine Innovations
maschine wie keine je zuvor. Das Netz lehrt
uns, dass neue Netzwerkschichten für den
Umgang mit Daten die Idee der Offenheit be-
herzigen sollten – der Nutzung von Stan-
dards, die uns allen erlauben, frei zusammen-
zuarbeiten und die Segnungen des Netzes, die
wir von der riesigen Dokumentensammlung
des World Wide Web kennen, für die giganti-
schen Datensammlungen nutzbar zu machen,
die wir so leicht zusammentragen können. In diesem Lokal in Spanien ist nur Musik mit Creative-Commons-Lizenz aus dem Internet
Die zweite Lektion kommt aus einer an zu hören.
deren offenen Welt, derjenigen der Open-
Klaus Graf / CC-by-SA-2.5 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.5/deed.de)
Source-Software. Die Erstellung von Software
nach dem Modell verteilter kleiner Einzelbei-
träge, zusammengeführt durch technische
und rechtliche Standardisierung, war auch so
eine theoretische Unmöglichkeit, die durch
die Realität des Internets einen wahrhaft
kuhnschen Paradigmenwechsel erfuhr. Die
Möglichkeit der jederzeitigen Kommunika
tion, verbunden mit günstigem Zugang zu
Programmierwerkzeugen, und die weitsich
tige Anwendung öffentlicher Urheberrechts
lizenzen hatten einen seltsamen Effekt: Sie
brachten Software hervor, die funktionierte
und mit der Zeit immer umfangreicher und
leistungsfähiger wurde. Die wichtige Erkennt-
nis ist, dass wir Millionen von Gehirnen an-
zapfen können, wenn wir standardisieren,
Datengetriebene Wissenschaft 41
bilden, weil die Werkzeuge billig und über-
all zugänglich sind – das trifft auf die Teil-
chenphysik oder Molekularbiologie nicht zu.
Einige der großartigen Dinge im Web eignen
sich nicht so gut für Wissenschaft und For-
schung, weil das Prinzip der auf Konsens
basierenden Einschätzungen nur die lang
weiligen Dinge zu Tage fördert, denen jeder
zustimmt, aber nicht das Abgelegene, das oft
viel interessanter ist.
Dennoch gibt es herzlich wenige Alterna-
tiven zum Netzwerkansatz. Die Datenflut ist
da, und sie ebbt nicht ab. Wir können mehr
und schneller messen als jemals zuvor. Und
Ich dachte, wir können Messungen in enormer Zahl
ich spüre einen Paradigmenwechsel, gleichzeitig nebeneinander durchführen. Un-
aber mir war nur die Unterhose hochgerutscht. sere Gehirnkapazität bleibt dagegen für alle
Zeit auf ein Gehirn pro Person beschränkt.
Wir müssen also zusammenarbeiten, wenn
wir Schritt halten wollen, und Netzwerke sind
Scheinbar fehlende Anreize sind bei all- Um ihn zu überwinden, müssen wir in die besten Kooperationswerkzeuge, die unsere
dem der Punkt, der klassischen ökonomi- Annotation und Qualitätssicherung investie- Kultur hervorgebracht hat. Das aber bedeu-
schen Theorien zuwiderläuft. Das ist ein an- ren, in Hardware zur Speicherung und Wie- tet, dass wir unseren Umgang mit Daten ge-
deres Beispiel für einen wahrhaft kuhnschen dergabe von Daten sowie in die Grundlagen nauso offen gestalten müssen wie die Proto-
Paradigmenwechsel – die alte Theorie konnte zu ihrer gemeinsamen Visualisierung und kolle, die Rechner und Dokumente miteinan-
keine Welt beschreiben, in der Menschen um- Analyse. Wir brauchen offene Standards, die der verbinden. Es ist der einzige Weg, auf dem
sonst arbeiten, doch die neue Realität zeigt, es erlauben, Daten allen zugänglich zu ma- wir die erforderliche Leistungsstufe erreichen
dass genau dies passiert. chen und im Verbund zu nutzen. Wir brau- können. Ÿ
chen eine verbindliche Definition für die
Forscher als Knoten im Netzwerk Datenschicht. Und vor allem müssen wir der autor
Es gibt im Netz durchaus Widerstand gegen Wissenschaftler aus allen Gebieten darin un-
John Wilbanks ist
Science Commons / CC-by-3.0
eine datenintensive Schicht. Doch der beruht terweisen, auf dieser neuen Datenschicht zu Executive Director of
längst nicht im gleichen Maß auf Urheber- arbeiten. Solange unsere Ausbildungskultur Science Commons bei
der Organisation
rechtsbedenken, wie das bei Software der Fall von den Prinzipien der gildenartigen Mikro-
Creative Commons. Er
war (gleichwohl ist das Beharrungsvermögen spezialisierung geprägt ist, wird der Wissen- hat die Bioinformatik
des Urheberrechts groß, wenn es um die An- schaftsbetrieb der Datenschicht weiter erheb- firma Intellico gegrün-
det, die semantische
passung der Fachgutachter-Kultur bei wissen- lichen Widerstand entgegensetzen.
Graphennetzwerke für die pharmazeu-
schaftlichen Veröffentlichungen geht, was die Wir sollten uns selbst als vernetzte Kno- tische Forschung entwickelt, und gehört
»Webrevolution« in der wissenschaftlichen ten sehen, die Daten weitergeben, Theorien dem Beirat der U. S. National Library of
Literatur de facto verhindert). Zwar existieren testen und die Simulationen anderer Wissen- Medicine’s PubMed Central an.