Volksgemeinschaft bezeichnete in der politischen Ideenwelt des 20. Jahrhunderts das
völkische Ideal einer weitgehend konfliktfreien, harmonischen Gesellschaft, die Klassenschranken und Klassenkampf hinter sich gelassen hatte. Seit dem Ersten Weltkrieg benutzten fast alle deutschen Parteien diesen Begriff. Besonders wirkungsmächtig war die Formel von der Volksgemeinschaft in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur. 1937 definierte Meyers Konversations-Lexikon Volksgemeinschaft als „Zentralbegriff des nationalsozialistischen Denken[s]“. Der Begriff besteht aus dem Bestimmungswort Volk, dem Grundwort Gemeinschaft und weist das Fugenelement -s- auf. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden ethnische Zugehörigkeit und Sprache zu Kriterien der Bestimmung einer Nation. Der Nationsbegriff war stärker mit dem Begriff „Staat“ verknüpft, „Volk“ dagegen ließ sich leichter ethnisch verstehen. Der Begriff „Volksgemeinschaft“ ersetzte zunehmend den bis dahin geläufigen der „Volksnation“. „Volksgemeinschaft“ als Gegenbild zur modernen, von Konflikten und sozialen Gegensätzen geprägten Gesellschaft war für verschiedene politische Gruppierungen – besonders für konservative, aber auch liberale, nationalbolschewistische und christliche Bewegungen – attraktiv. Durch den von Ferdinand Tönnies herausgestellten Gegensatz von Gemeinschaft und Gesellschaft gewann der Begriff der „Volksgemeinschaft“ an Popularität. In ihm bilden sich die von Tönnies geprägten Antinomien ab: Einheit gegen Pluralität, Individualismus gegen Verbundenheit der Gemeinschaft, Sonderinteressen gegen Gemeinwohl. Zunächst war der Gemeinschafts-Begriff politisch noch weitgehend deutungsoffen; er konnte „national“, „sozialistisch“, „konservativ“ oder „völkisch“ interpretiert werden. Ein Teil dieser Volksgemeinschaften waren die gegen den Klassenkampf gerichteten Werksgemeinschaften, die ein harmonisches Miteinander von Arbeitgebern und Arbeitnehmern anstrebten. Sie wurden als „Gelbe“ diskreditiert (Gelb als Farbe des Verrats), konnten sich aber dennoch bis in die Weimarer Republik organisieren. Obwohl politisch im Liberalismus gegründet, bildeten sich unter den Werksgemeinschaften auch andere politische Richtungen heraus, wie etwa mit der Deutschen Werkgemeinschaft (DW, ab 1921) Otto Dickels eine völkische Gruppierung mit monopolistischem Anspruch. Das ethnisch definierte Volk war in dieser Vorstellungswelt nicht mehr klassisches „Staatsvolk“, für das Institutionen und Recht eines Staates charakteristisch sind, sondern imaginierte Abstammungsgemeinschaften, gemeinschaftliches Blut und Boden waren die gemeinsamen Merkmale. Dementsprechend wurden die Begriffe von „Staat“ und „Staatsgebiet“ durch die von „Volk“ und „Lebensraum“ ersetzt. Dieser Lebensraum sei das Territorium des ethnisch definierten Volkes. Die Staatswissenschaftler Johann Plenge und Rudolf Kjellén popularisierten die Vorstellung von einem Staat, in dem „alle mit gleichem Anteil leben“, was auf Inklusion und Homogenität abzielte. Unterstützt wurde dieser Gedanke von so unterschiedlichen Gelehrten wie Franz Oppenheimer, Werner Sombart, Ferdinand Tönnies, Max Scheler, Friedrich Meinecke und Ernst Troeltsch. Die ethnische Definition des Volkes und die Vorstellung der Homogenität entsprachen jedoch nicht der Zusammensetzung der Bevölkerung auf deutschem Staatsgebiet. Bereits 1911 wurde die Volksgemeinschaftsidee vom Alldeutschen Verband im Sinne von Ausgrenzung und Vertreibung Fremdsprachiger verstanden. Juden, Katholiken und nationale Minderheiten (preußische Polen, französischsprachige Lothringer, Dänen in Nordschleswig) sollten nicht zur Volksgemeinschaft gehören. Hierbei taten sich insbesondere Georg von Below, Eduard Meyer, Dietrich Schäfer und Reinhold Seeberg hervor, die der 1917 gegründeten Deutschen Vaterlandspartei nahestanden. Die Entwicklung zu einem politischen Schlüsselbegriff erfolgte im Ersten Weltkrieg unter dem Eindruck des Augusterlebnisses von 1914. Nachdem im Reichstag sämtliche Abgeordnete den Kriegskrediten zugestimmt hatten, entstand in Teilen der Bevölkerung ein Hochgefühl nationaler Einheit, das Kaiser Wilhelm II. in dem Satz zusammenfasste, er kenne keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche. Zwei Tage vorher hatte auch die Führung der sozialdemokratischen Gewerkschaften beschlossen, für die Dauer des Krieges auf Arbeitskämpfe zu verzichten. In den Großstädten kam es zu nationalistischen Massendemonstrationen. Die soziale, politische und konfessionelle Spaltung des deutschen Volkes schien sich in einem Taumel nationaler Begeisterung aufzulösen. Beeindruckt durch das „Augusterlebnis“ entwickelten zahlreiche Journalisten, Professoren und Intellektuelle 1914/15 in Artikeln und Broschüren die Ideen von 1914, die den Krieg als Ausgangspunkt einer neuen nationalen Einheit feierten. An diese Publikationen konnten die Nationalsozialisten während der Weimarer Republik mit ihren Volksgemeinschaftsparolen anschließen. Nach dem verlorenen Krieg wurde das völkische Denken in Deutschland tragender Konsens und bestimmend für die nach Armin Mohler so benannte Konservative Revolution, bestehend aus völkischer Bewegung, Jungkonservativen, Nationalrevolutionären, Landvolkbewegung und Jugendbewegung (Bündischen). Deutsche definieren sich angesichts ihrer ursprünglichen staatlichen Zersplitterung anders als beispielsweise Frankreich oder Großbritannien in der Regel nicht als Staatsnation und tendierten daher auch leichter zu einer Ethnisierung des Volksbegriffes. In der romantisch geprägten Jugendbewegung des Wandervogels und besonders des Jungdeutschen Ordens wurde die Volksgemeinschaft aufbauend auf kleine überschaubare Räume (Nachbarschaftshilfe) als Ideal der künftigen Gesellschaft propagiert. Gegen die vermeintlich anonyme, von ökonomischen Nutzenüberlegungen, egoistischem Individualismus und Parteienstreit (das Parlament galt als Schwatzbude) bestimmte „Gesellschaft“, sollte eine wahre demokratische Gemeinschaft des Volks verwirklicht werden. Mohler: „Nehmen wir beispielsweise das Individuum. In der ‘Konservativen Revolution’ verliert es seinen unbedingten Wert und wird zum Teil eines Ganzen – zu einem Teil allerdings, der seine besondere Würde dadurch erhält, dass er Teil eben dieses Ganzen ist.“ Nach Kellershohn gehört „der Primat des Ganzen, des Volkes, der Volksgemeinschaft“ zu den „Grundprinzipien des völkischen Denkens und bildet sicherlich nicht eine Grenze zwischen dem, was Mohler unter Konservativer Revolution versteht, und der NS-Ideologie.“ Die nationalsozialistische Lehre definierte die Volksgemeinschaft als „die auf blutmäßiger Verbundenheit, auf gemeinsamem Schicksal und auf gemeinsamem politischen Glauben beruhende Lebensgemeinschaft eines Volkes, der Klassen- und Standesgegensätze wesensfremd sind. Die Volksgemeinschaft ist Ausgang und Ziel der Weltanschauung und Staatsordnung des Nationalsozialismus.“ Dabei war die Zugehörigkeit zur arischen Rasse zwar eine notwendige Bedingung für die Zugehörigkeit zur (deutschen) Volksgemeinschaft, aber sie war nicht hinreichend. Die Volksgemeinschaft war eine Gesinnungsgemeinschaft, die das Bekenntnis zur Weltanschauung des Nationalsozialismus erforderte. „Volksgemeinschaft“ im Nationalsozialismus versprach soziale Gemeinschaft, Überwindung der Klassengesellschaft, politische Einheit und nationalen Wiederaufstieg. Große Teile der deutschen Bevölkerung teilten diese sozialen Ziele und ließen sich durch diese Ziele mobilisieren. Außerdem wirkte der Begriff Volksgemeinschaft auch ausgrenzend: Wer im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie kein Volksgenosse war, konnte auch nicht an der Volksgemeinschaft teilhaben. Somit war die Teilhabe an der Volksgemeinschaft ausschließlich den im Sinne der Ideologie als Arier definierten Deutschen möglich. Die Vorstellung von einer Volksgemeinschaft war Motor für die Wahlkampferfolge der NSDAP vor 1933; nach 1933 setzte sie erhebliche soziale Schubkräfte frei, die die Ausbreitung der nationalsozialistischen Organisationswelt vorantrieben. Diese Ausbreitung war auch ein Ergebnis der flexiblen Anschlussfähigkeit des Begriffs für unterschiedliche Milieus und persönliche Interessen, so dass „Volksgemeinschaft“ im Alltag der Gesellschaft ganz unterschiedlich verwendet wurde, wie Dietmar von Reeken und Malte Thießen bemerken: „Die soziale Wirksamkeit dieser Utopie setzte ihre Vieldeutigkeit voraus. […] Je nach Interesse und Situation ließ sich der Begriff nationalistisch, antisemitisch oder militaristisch auslegen. Er entsprach Blut-und-Boden- oder Gleichheitsvorstellungen ebenso wie dem Leistungsgedanken, er stand für Kameradschaft und Gemeinschaft (vs. Gesellschaft) oder Kultur (vs. Zivilisation) – und gelegentlich auch für alles zusammen.“ Auch deshalb war diese Volksgemeinschaft eine Zentralmetapher für die sozialen Seiten des Dritten Reiches und eine der schlagkräftigsten propagandistischen Formeln der nationalsozialistischen Massenbewegung. Insbesondere bei der jüngeren Generation trug der Begriff und sein Anspruch auf eine Modernisierung der staatlichen Einrichtungen zur Legitimation des NS-Regimes bei. Mit dem Begriff der „Volksgemeinschaft“ wurde ein Ideal sozialer Geborgenheit, politischer Gerechtigkeit und nationaler Erneuerung der deutschen Gesellschaft propagiert. Wer allerdings nicht zur deutschen „Volksgemeinschaft“ gehörte oder gehören wollte, wurde ausgegrenzt, zum Feind erklärt oder sogar vernichtet. Merkmale dieser Ordnungsvorstellungen waren: Integrationsvorstellungen • Bekenntnis zur völkischen „Glaubens- und Kampfgemeinschaft“: „Erst wenn der ideale Drang nach Unabhängigkeit in den Formen militärischer Machtmittel die kampfesmäßige Organisation erhält, kann der drängende Wunsch eines Volkes in herrliche Wirklichkeit umgesetzt werden.“ (Adolf Hitler, Mein Kampf) Die ideologisch maßgebliche Tageszeitung hieß Völkischer Beobachter. • Propagandistische Ausklammerung aller Unterschiede in Stand, Vermögen, Bildung und Wissen (dem allerdings später von Joseph Goebbels widersprochen wurde) • Führer- und Gefolgschaftsprinzip • Quasi-religiöse Gemeinschaft mit Ritualen durch Massenaufmärsche und Fackelzüge, Nachtkundgebungen mit „Lichtdomen“, Sakralisierung von Swastika und SS-Rune (Schutzstaffel), propagandistisch aufgezogene Straßensammlungen für das Winterhilfswerk des Deutschen Volkes, der Eintopfsonntag, Ritualformeln (z. B. bei Gefallenen-Anzeigen: „In stolzer Trauer“). • Konsequente nationalsozialistische Erziehung (siehe auch: Nationalpolitische Erziehungsanstalt, Erziehung im Nationalsozialismus) • Ehrung der Mutter, zum Beispiel durch Mutterkreuz • Die Unterorganisation Kraft durch Freude (KdF) erlaubte der Regierung, Macht auf die Freizeitgestaltung der Deutschen auszuüben. Ebenso ermöglichten die Gliederungen der Hitler-Jugend (Jungvolk, eigentliche Hitlerjugend, Jungmädel, Bund Deutscher Mädel und das BDM-Werk „Glaube und Schönheit“) dem nationalsozialistischen Regime Einflussnahme auf das Denken und Handeln der Kinder und Jugendlichen. Rassistische und antisemitische Exklusion • Der völkische Staat: „Wir haben schärfstens zu unterscheiden zwischen dem Staat als einem Gefäß und der Rasse als dem Inhalt […]. Das Deutsche Reich soll als Staat alle Deutschen umschließen mit der Aufgabe, aus diesem Volke die wertvollen Bestände an rassischen Urelementen nicht nur zu sammeln und zu erhalten, sondern langsam und sicher zur beherrschenden Stellung emporzuführen.“ • Durch die Deutsche Arbeitsfront wurden Arbeitnehmer stärker in diese „Volksgemeinschaft“ eingebunden und Nicht-Anpassungswillige kurzerhand als „Volksschädlinge“ in Erziehungslager deportiert. • „Arisierung“, die Enteignung der jüdischen Bevölkerung. • Germanisierung und „Verteidigung“ des „Deutschtums“ und der Volksdeutschen durch Eroberungskrieg. • Rechtfertigung des Verbots von Gewerkschaften, der Verfolgung und Deportation von Homosexuellen, Kommunisten und Sozialisten, der Zwangssterilisation Behinderter, der Rassenhygiene durch Vernichtung, des Antiziganismus und zum Verüben des Holocaust. Kontroversen über den Realitätsgehalt der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ Kontrovers wird in der Forschung die Frage diskutiert, ob die „Volksgemeinschaft“ der Nationalsozialisten in erster Linie eine Propagandaparole war oder ob und inwieweit sie auch die soziale Realität der „arischen“ deutschen Gesellschaft geprägt hat. Frank Bajohr und Michael Wildt vertreten die Ansicht, man dürfe die Formel von der Volksgemeinschaft nicht so verstehen, als seien „soziale Differenzen oder Eigentums- und Besitzverhältnisse im NS- Deutschland eingeebnet worden“. Vielmehr sei die Volksgemeinschaft in erster Linie eine „Verheißung“ geblieben. Im krassen Gegensatz dazu behauptet Götz Aly, das NS-Regime habe für ein „in Deutschland bis dahin nicht gekanntes Maß an Gleichheit und sozialer Aufwärtsmobilisierung“ gesorgt. Zurückhaltender argumentiert Michael Grüttner, der in seinem Beitrag für den Gebhardt, davon ausgeht, „dass zumindest in Teilbereichen der deutschen Gesellschaft“ tatsächlich ernsthafte Versuche unternommen wurden, das Volksgemeinschaftskonzept in die Praxis umzusetzen. Vor allem im Reichsarbeitsdienst, in der Hitlerjugend und im Militär habe es „signifikante Egalisierungsprozesse“ gegeben. Nach 1945: Folgen der Volksgemeinschaft und Erinnerung Nach Kriegsende war „Volksgemeinschaft“ zwar als Leitbegriff in politischen Programmen diskreditiert. Allenfalls die Deutsche Reichspartei (DRP) und die Sozialistische Reichspartei (SRP) warben in den 1950er und 1960er Jahren mit der Volksgemeinschaft als Wahlziel. Trotzdem finden sich auch jenseits des rechtsradikalen Spektrums in vielen politischen Debatten offensichtliche Bezüge oder sogar explizite Erwähnungen der „Volksgemeinschaft“. Der Zeithistoriker Malte Thießen schreibt, dass in Debatten im Deutschen Bundestag um Entschädigungen, um NS-Kriegsverbrecher oder Emigranten „völkische“ Grenzen gezogen wurden, an denen die Nachwirkungen der Volksgemeinschaft deutlich werden. Noch deutlichere Hinweise findet man laut Malte Thießen in Interviews mit Zeitzeugen: Hier werde die „Volksgemeinschaft“ so oft gebraucht, weil sie „als Kontrastfolie zur heutigen Zeit [dient], in der es nach Ansicht der Zeitzeugen keinen Zusammenhalt, keine Kameradschaft oder gegenseitige Hilfe mehr gibt“. Noch schwerere Folgen habe die „Volksgemeinschaft“ demnach bei Erinnerungen von ehemals Verfolgten. Interviews mit als Juden, Kommunisten oder politisch Verfolgten oder mit Widerstandskämpfern zeigen nach Auffassung Thießens, dass die Grenzen der „Volksgemeinschaft“ auch nach 1945 empfunden wurden. Die ehemals Verfolgten fühlten sich z. T. bis heute als Ausgeschlossene bzw. als „Gemeinschaftsfremde“ und beziehen sich daher auf die „Volksgemeinschaft“. Nachwirkungen zeigt die „Volksgemeinschaft“ insbesondere noch in der politischen Kultur der NPD. Diese wirbt mit Parolen wie „Volksgemeinschaft statt Kapitalismus“ um Wählerstimmen und instrumentalisiert scheinbar „schöne“ Werte der NS-Zeit für ihre Zwecke. Im NPD-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Januar 2017 war die Auseinandersetzung mit dem „von ihr vertretenen Konzept ethnischer Definition der ‚Volksgemeinschaft‘“ ein zentraler Aspekt bei der Feststellung verfassungswidriger Ziele der Partei. Die AfD Sachsen-Anhalt verwendete den Begriff „Volksgemeinschaft“ in einem Beitrag auf der Facebook-Seite des Landesverbands. Entartete Kunst „Entartete Kunst“ war während der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland der offiziell propagierte Begriff für mit rassentheoretischen Begründungen diffamierte Moderne Kunst. Der Begriff Entartung wurde Ende des 19. Jahrhunderts von der Medizin auf die Kunst übertragen. Als „Entartete Kunst“ galten im NS-Regime alle Kunstwerke und kulturellen Strömungen, die mit der Kunstauffassung und dem Schönheitsideal der Nationalsozialisten, der sogenannten Deutschen Kunst, nicht in Einklang zu bringen waren: Expressionismus, Dadaismus, Neue Sachlichkeit, Surrealismus, Kubismus oder Fauvismus. Darüber hinaus wurden alle Werke von Künstlern mit jüdischem Hintergrund als entartet bewertet. Das Wort „Entartung“ stammt ursprünglich aus dem Mittelhochdeutschen, wo es die Bedeutung „aus der Art schlagen“ hatte. Im 19. Jahrhundert wurde der Begriff erstmals im abwertenden Zusammenhang benutzt, als der Romantiker Friedrich Schlegel in Bezug auf die Dichtung der Spätantike von „entarteter Kunst“ schrieb. Der französische Diplomat und Schriftsteller Joseph Arthur Comte de Gobineau verwendete 1853 den Begriff in seinem Essai sur l’inégalité des races humaines erstmals in rassisch abwertendem Sinn, jedoch ohne antisemitische oder deutschnationale Konnotationen. Karl Ludwig Schemann, der Gobineaus Werk ins Deutsche übersetzte und zwischen 1898 und 1901 veröffentlichte, war Mitglied des Alldeutschen Verbandes. Richard Wagner veröffentlichte 1850 den Artikel Das Judenthum in der Musik, in dem er den Einfluss des Judentums in der Musik anprangerte und die Emanzipation von den Juden forderte. Wagner veröffentlichte weitere theoretische Schriften, in denen er sich auch mit anderen Kunstgattungen befasste und die zum Teil kontrovers aufgenommen wurden. 1892/93 publizierte der jüdische Kulturkritiker Max Nordau sein Werk Entartung, in dem er nachzuweisen versuchte, dass die Entartung der Kunst auf die Entartung der Künstler zurückgeführt werden kann. Seine Thesen wurden später von den Nationalsozialisten aufgegriffen, von Hitler zum Teil sogar fast wortwörtlich übernommen. Auch Kaiser Wilhelm II. äußerte sich in seiner berüchtigten Rinnsteinrede anlässlich der Eröffnung der Siegesallee am 18. Dezember 1901 abfällig über modernistische Kunstströmungen. „Entartete Kunst“: Ecce Homo von Lovis Corinth, 1925 Hafenkneipe von Joachim Ringelnatz, 1933
Diffamierung aller Formen moderner Kunst
Die Nationalsozialisten entwickelten ein gesondertes Kunstideal einer Deutschen Kunst und verfolgten dem entgegenstehende Kunst, die auch als „Verfallskunst“ und „artfremd“ bezeichnet wurde, weil sie von Pessimismus und Pazifismus geprägt sei. Künstler, deren Werke nicht den nationalsozialistischen Idealen entsprachen, die Kommunisten oder Juden waren, wurden verfolgt. Die Nationalsozialisten belegten sie mit Berufs- und Malverboten, ließen ihre Kunstwerke aus Museen und öffentlichen Sammlungen entfernen, konfiszierten „Entartete Kunst“, zwangen Künstler zur Emigration oder ermordeten sie. Es gab drei konsequente Diffamierungs-Maßnahmen der NS-Kulturpolitik: Bücherverbrennung im Mai 1933 in Berlin und 21 weiteren Städten sowie nach dem Anschluss Österreichs 1938 auch dort, Verfolgung der Maler und ihrer „entarteten Kunst“ und Verfolgung der „entarteten Musik“ an den Reichsmusiktagen 1938 in Düsseldorf. Mit der Einführung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933, mit dessen Hilfe jüdische, kommunistische und weitere unerwünschte Künstler aus öffentlichen Ämtern gewaltsam entfernt wurden, sowie der Bücherverbrennung 1933 am 10. Mai 1933 mit dem Höhepunkt auf dem Berliner Opernplatz, wurde bereits in den ersten Monaten nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten deutlich, dass die Vielfalt des Kunstschaffens der Weimarer Republik unwiderruflich zu Ende war. Der Vernichtungsangriff auf die Moderne und ihre Protagonisten betraf alle Sparten der Kultur wie Literatur, Filmkunst, Theater, Architektur oder Musik. Moderne Musik wie der Swing oder der Jazz wurde auf der am 24. Mai 1938 eröffneten Ausstellung „Entartete Musik“ ebenso rücksichtslos diffamiert wie der „Musikbolschewismus“ von international bekannten Komponisten wie Hanns Eisler, Paul Hindemith oder Arnold Schönberg, von denen die meisten überdies auch jüdischer Herkunft waren. In der Folge erschien ab 1940 das berüchtigte Lexikon der Juden in der Musik. 1930–1936 Der vom NS-Volksbildungsminister Thüringens Wilhelm Frick bewirkte Erlass „Wider die Negerkultur für deutsches Volkstum“ (5. April 1930), der sich gegen die moderne Kunst richtete, war der Ausgangspunkt des Angriffes auf als „undeutsch“ definierte Einflüsse in der Kunst. Dies führte im Oktober 1930 zur Überstreichung von Oskar Schlemmers Wandgestaltung der Weimarer Werkstattgebäude. Weiter betrieb Frick die Auflösung der Weimarer Bauhausschule und entließ die Lehrerschaft. Er berief Paul Schultze-Naumburg, einen führenden Vertreter einer rechtskonservativen Bau- und Kulturideologie, zum Direktor der neugegründeten Vereinigten Kunstlehranstalten Weimar. Unter dessen Leitung wurden im Weimarer Schlossmuseum Werke von Ernst Barlach, Charles Crodel, Otto Dix, Erich Heckel, Oskar Kokoschka, Franz Marc, Emil Nolde, Karl Schmidt-Rottluff und anderen entfernt. Zwar wurde Minister Frick am 1. April 1931 das Vertrauen des Thüringischen Landtages entzogen, doch die Landtagswahlen vom 31. Juli 1932 brachten der NS-Fraktion die absolute Mehrheit und öffneten den Zugriff von Weimar auf Berlin, was konsequenterweise dazu führte, dass exemplarisch die gerade zum Goethejahr 1932 mit Wandmalereien von Charles Crodel erneuerten Kuranlagen von Bad Lauchstädt im Sommer 1933 teils verbrannt, teils überstrichen wurden, während in Berlin ein erbitterter Richtungskampf geführt wurde, den Alfred Rosenberg im Winter 1934/1935 für sich entschied und nach den Olympischen Spielen in Berlin 1936 umsetzte. Der Künstler Emil Bartoschek malte übertrieben naturalistische Bilder, die über eine Galerie in der Berliner Friedrichstraße zahlreiche Käufer fanden, um von seiner abstrakten Malerei abzulenken, die einem kleinen Kreis vorbehalten blieb. Georg Meistermann berichtete, dass schon Anfang 1933, nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten, Breker und Radziwill auf den Fluren der Kunstakademie Düsseldorf Grafiken des Expressionismus einträchtig verurteilten, die dort in herabsetzender Ansicht in einer kleinen Schau von „Entarteter Kunst“ ausgestellt worden waren. 1936–1945 Auftakt der neuerlichen Verfolgungswelle war die Schließung der Neuen Abteilung der Nationalgalerie Berlin im Kronprinzenpalais am 30. Oktober 1936 und der Erlass vom 30. Juni 1937, der den neuen Reichskunstkammerpräsidenten Adolf Ziegler ermächtigte, „die im deutschen Reichs-, Länder- und Kommunalbesitz befindlichen Werke deutscher Verfallskunst seit 1910 auf dem Gebiete der Malerei und der Bildhauerei zum Zwecke einer Ausstellung auszuwählen und sicherzustellen“. 1936 erging ein totales Verbot jeglicher Kunst der Moderne. Hunderte Kunstwerke, vor allem aus dem Bereich der Malerei, wurden aus den Museen entfernt und entweder für die Ausstellung „Entartete Kunst“ konfisziert, ins Ausland verkauft oder zerstört. Maler, Schriftsteller und Komponisten erhielten – soweit sie nicht ins Ausland emigriert waren – Arbeits- und Ausstellungsverbot. Das bereits seit 1933 bestehende Ankaufsverbot für nichtarische und moderne Kunstwerke wurde verschärft. Die schrittweise Entrechtung der jüdischen Bevölkerung hatte zur Folge, dass auch zahlreiche Kunstwerke aus deren Privatbesitz in die Hand des Staates fielen und, sofern sie als „entartet“ galten, vernichtet oder ins Ausland verkauft wurden. Gedenktafel in der Köpenicker Straße in Berlin vor einem ehemaligen Depot für „Entartete Kunst“
Bekannte verfemte Künstler
Unmittelbar nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten gaben diese in aggressiver Weise mit polizeilich erzwungenen Ausstellungsschließungen und verbalen wie tätlichen Angriffen auf Künstler und kulturelle Vereine die Linie vor, die sie hinsichtlich der Kulturpolitik in den Folgejahren durchzusetzen gedachten. Als Reaktion darauf flohen viele Künstler in die Nachbarstaaten Deutschlands. Weitere Fluchtwellen wurden durch die Nürnberger Gesetze 1935 ausgelöst, sowie durch die Diffamierung als „Entartete“ Kunst und die Novemberpogrome 1938. Beispielsweise flohen 64 Hamburger Künstler in 23 unterschiedliche Länder. Als „entartet“ galten unter anderem die Werke von Ernst Barlach, Willi Baumeister, Max Beckmann, Karl Caspar, Maria Caspar-Filser, Marc Chagall, Giorgio de Chirico, Lovis Corinth, Otto Dix, Max Ernst, Otto Freundlich, Paul Gauguin, Wilhelm Geyer, Otto Griebel, George Grosz, Werner Heuser, Karl Hofer, Karl Hubbuch, Hans Jürgen Kallmann, Wassily Kandinsky, Ernst Ludwig Kirchner, Paul Klee, Oskar Kokoschka, Käthe Kollwitz, Wilhelm Lehmbruck, Elfriede Lohse-Wächtler, Gerhard Marcks, Ludwig Meidner, Paula Modersohn-Becker, Piet Mondrian, Rudolf Möller, Otto Pankok, Max Pechstein, Pablo Picasso, Christian Rohlfs, Oskar Schlemmer, Karl Schmidt-Rottluff und Werner Scholz. Die Ausstellung „Entartete Kunst“ in München 1937 Die Ausstellung „Entartete Kunst“ wurde am 19. Juli 1937 in München in den Hofgarten-Arkaden eröffnet und zeigte 650 konfiszierte Kunstwerke aus 32 deutschen Museen. Sie wanderte reichsweit auch an andere Häuser und wurde Schulklassen und Parteinahen Verbänden "vorgeführt". Über zwei Millionen Besucher sahen sie. Das ist deutlich ein Vielfaches als die zeitgleich stattfindende Große Deutsche Kunstausstellung im Haus der Deutschen Kunst, die von 420.000 Menschen besucht wurde. Das (propagierte) Interesse an der verspotteten Kunst war also viel größer als das an der offiziell gefeierten. Die Ausstellung wurde von Joseph Goebbels initiiert und von Adolf Ziegler, dem Präsidenten der Reichskammer der bildenden Künste, geleitet. Gleichzeitig setzte mit der Beschlagnahme von insgesamt rund 16.000 modernen Kunstwerken, die zum Teil ins Ausland verkauft oder zerstört wurden, die „Säuberung“ der deutschen Kunstsammlungen ein, wobei anscheinend aus Museen im Besitz jüdischer Sammler z. T. auch ältere Kunstwerke betroffen waren. Handzettel zur Ausstellung 1937 in München Die Ausstellung ging als Wanderausstellung durch die Großstädte des Reichs. Nach Berlin wurde sie, nach dem am 13. März 1938 verkündeten Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich, vom 7. Mai bis 18. Juni im Wiener Künstlerhaus, vom 4. bis zum 25. August im Salzburger Festspielhaus und in Hamburg vom 11. November bis 31. Dezember 1938 gezeigt. Von Februar 1938 bis April 1941 wurde sie in folgenden (bisher bekannten) Städten gezeigt: Berlin, Leipzig, Düsseldorf, Hamburg, Frankfurt am Main, Wien, Salzburg, Stettin und Halle. Die Ausstellung „Entartete Kunst“ setzte die Exponate mit Zeichnungen von geistig Behinderten gleich und kombinierte sie mit Fotos verkrüppelter Menschen, die bei den Besuchern Abscheu und Beklemmungen erregen sollten. So sollte der Kunstbegriff der avantgardistischen Moderne ad absurdum geführt und moderne Kunst als „entartet“ und als Verfallserscheinung verstanden werden. Diese Präsentation „kranker“, „jüdisch- bolschewistischer“ Kunst diente auch zur Legitimierung der Verfolgung „rassisch Minderwertiger“ und „politischer Gegner“.
… und 1938 in Berlin
Beschlagnahme von Kunstwerken
Hitler ordnete am 24. Juli 1937 an, dass alle Museen und öffentlichen Ausstellungen Werke herausgeben mussten, die Ausdruck des „Kulturverfalls“ waren. Im Juli 1937 beschlagnahmte die Reichskammer der Bildenden Künste z. B. aus der Hamburger Kunsthalle 72 Gemälde, 296 Aquarelle, Pastelle und Handzeichnungen, 926 Radierungen, Holzschnitte und Lithografien sowie acht Skulpturen. Einige Werke aus dieser Beschlagnahmewelle wurden in die oben dargestellte Wanderausstellung „Entartete Kunst“ aufgenommen. In weiteren Beschlagnahmeaktionen ab August 1937 wurden insgesamt etwa 20.000 Kunstwerke von 1400 Künstlern aus über 100 Museen entfernt. Darunter befanden sich auch Leihgaben aus Privatbesitz, wie zum Beispiel 13 Gemälde aus der Sammlung von Sophie Lissitzky-Küppers, die im Provinzialmuseum Hannover konfisziert wurden. Verwertung „Entarteter Kunst“ Die beschlagnahmten Werke kamen in Depots in Berlin (z. B. in den Viktoria-Speicher, Köpenicker Straße) und in das Schloss Schönhausen. Die Enteignung der Museen wurde durch das Gesetz über Einziehung von Erzeugnissen entarteter Kunst nachträglich am 31. Mai 1938 legitimiert. Göring schlug einen devisenbringenden Verkauf der Kunstwerke im Ausland vor, Hitler tauschte einige gegen alte Meister. Im Hof der Hauptfeuerwache in Berlin-Kreuzberg wurden am 20. März 1939 nach offizieller Verlautbarung 1004 Gemälde und 3825 Grafiken verbrannt, manche sollen beiseitegeschafft worden sein. 125 Werke waren für eine Versteigerung in der Schweiz vorgesehen. Eine von Göring und anderen eingesetzte Kommission zur Verwertung der Produkte entarteter Kunst schätzte die Mindestgebote und wählte schließlich das Auktionshaus Theodor Fischer in Luzern für die Auktion aus. Diese Auktion fand am 30. Juni 1939 statt und fand großes Interesse in der ganzen Welt. Allerdings waren die Ergebnisse für die Werke der verfemten Künstler ziemlich niedrig, denn es war bekannt geworden, dass Nazideutschland mit dem Verkauf seinen Devisenstatus verbessern wollte. Viele, aber nicht alle Werke wurden verkauft. Weitere Verkäufe von enteigneten Werken im Auftrag des Reiches wurden größtenteils durch die vier Kunsthändler Bernhard A. Böhmer, Karl Buchholz, Hildebrand Gurlitt, Ferdinand Möller sowie in geringerem Rahmen durch Paul Graupe, Karl Haberstock, Hansjoachim Quantmeyer und anderen getätigt. Das Sammler-Ehepaar Sophie und Emanuel Fohn erwarb Werke sogenannter entarteter Kunst oder tauschte solche gegen Arbeiten von Künstlern aus dem 18. und 19. Jahrhundert. So entstand bereits während der NS-Zeit die Sammlung Sophie und Emanuel Fohn, die 1964 durch Schenkung in den Besitz der Bayrische Staatsgemäldesammlung überging. Ein Bestand an nicht verkauften Kunstwerken wurden am 20. März 1939 von der Berliner Feuerwehr in einer als Übung bezeichneten Aktion verbrannt. Dabei wurden fünftausend Gemälde, Plastiken, Zeichnungen, Aquarelle und Grafiken vernichtet. „Nach dem Abschlußbericht, den Goebbels Hitler am 4. Juli 1939 gab, sollen die meisten Kunstwerke vernichtet oder magaziniert, ein Teil von 300 Gemälden und Plastiken sowie 3000 Graphiken ins Ausland verkauft worden sein.“ Bildnis des Dr. Gachet von Vincent van Gogh, gelangte in die Privatsammlung von Hermann Göring
Endgültige Verluste für die Museen
Viele deutsche Museen hatten zwischen den Weltkriegen durch Ankauf und Schenkungen bedeutende Sammlungen Moderner Kunst erworben. Durch die Beschlagnahmen im Rahmen der Propaganda-Aktion „Entartete Kunst“ im Sommer 1937 wurde den Museen ein großer Teil ihres Bestandes entschädigungslos entzogen. So beklagte etwa der frühere Direktor der Hamburger Kunsthalle, Alfred Hentzen, den großen künstlerischen wie materiellen Verlust: „Der Ausbau [der Sammlung] geht nur langsam vorwärts, immer langsamer, je mehr unseren unzulänglichen Mitteln die Kunstmarkt-Preise davonlaufen, und es ist heute schon zu befürchten, daß manche schwere Lücke nicht mehr geschlossen werden kann. […] Die Erklärung für diese Mängel und Lücken ist die gleiche, die alle deutschen Museen geben müssen. Der Grundstock der zeitgenössischen Sammlung, den Gustav Pauli von 1914 bis 1933 sorgsam wägend aufgebaut hatte, ist 1937 durch Beschlagnahme und Verkauf vernichtet worden – in einem Ausmaße, daß in dieser Auswahl nur fünf Erwerbungen aus seiner Zeit auftauchen. […] Alles, was Pauli an Werken jüngerer Zeitgenossen erworben hatte, Hauptwerke von Munch, Nolde, Kirchner, Schmidt-Rottluff, Heckel, Kokoschka, Franz Marc, ja sogar ein Frühwerk der blauen Periode von Picasso, fiel dem Bildersturm zum Opfer und befindet sich heute in Museen und Privatsammlungen des Auslands. Der Verlust wird nie wieder ganz wettzumachen sein.“ Vergessene verfemte Künstler Viele der als entartet diffamierten Maler werden heute zu den „vergessenen Künstlern“ bzw. zur Verschollenen Generation gezählt, weil sie selber in Armut starben, zur Selbsttötung getrieben oder ermordet wurden und ihre Werke als „entartet“ konfisziert und größtenteils vernichtet wurden. Selbst denen, die überlebten, gelang es nach dem Zweiten Weltkrieg oftmals nicht mehr, wieder Anerkennung zu erlangen, weil sie sich in ihrem Stil zwar weiterentwickelt hatten, sich aber nicht mit den neuen Kunstrichtungen identifizieren wollten. Zu den „vergessenen Künstlern“ gehören u. a. Jankel Adler, Walter Gramatté, Curt Grosspietsch, Maximilian Jahns, Rudolf Jahns, Richard Haizmann, Ludwig Haller-Rechtern, Fritz Heinsheimer, Werner Hofmann, Johannes Molzahn, Gerta Overbeck-Schenk, Curt Querner, Carl Rabus, Anita Rée, Grete Schick, Fritz Schulze, Kurt Scheele, Erich Schmid, Georg Alfred Stockburger, Fritz Stuckenberg, Franz Wilhelm Seiwert, Kasia von Szadurska, Oscar Zügel und Werner Scholz. Der Kunstsammler Gerhard Schneider erwarb seit Mitte der 1980er Jahre den Nachlass des 1942 gestorbenen Malers Valentin Nagel sowie realistisch-expressive Arbeiten anderer Künstler, die verfemt in Vergessenheit geraten waren und macht sie der Öffentlichkeit bekannt. Das 2015 gegründete, von der Wuppertaler Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft und dem Exil-Pen (P.E.N.-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland) initiierte Zentrum für verfolgte Künste in Solingen, widmet sich der Aufarbeitung der vergessenen Künstler. Zu ihnen gehören neben bildenden Künstlern auch Schriftsteller, Musiker, Komponisten, Schauspieler, Tänzer usw. Das Zentrum für verfolgte Künste zeigt in zwei Dauerausstellungen die vergessenen Künstler aus den Bereichen Malerei und Literatur und ergänzt in Wechselausstellungen das Thema. Forschungsprojekt Die Forschungsstelle „Entartete Kunst“ wurde im Frühjahr 2003, initiiert und hauptsächlich finanziert von der Ferdinand-Möller-Stiftung, am Kunsthistorischen Institut der Freien Universität Berlin ins Leben gerufen. Die Leitung obliegt Klaus Krüger, Professor am Kunsthistorischen Institut der FU Berlin. Koordinatorin ist Meike Hoffmann unter Mitarbeit von Andreas Hüneke. Seit 2016 wird die Forschungsstelle von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien Monika Grütters gefördert. Im April 2004 entstand ein gleichnamiges Schwesternprojekt am Kunsthistorischen Seminar der Universität Hamburg. Im Fokus der Forschungen stehen die Methoden nationalsozialistischer Kunstpolitik, insbesondere Vorgeschichte, Ereignisse sowie Auswirkungen der Beschlagnahme moderner Kunstwerke in deutschen Museen 1937. Eingebunden darin sind Recherchen zu den Femeausstellungen moderner Kunst seit 1933 und zu der Propagandaschau „Entartete Kunst“ mit ihren zahlreichen Stationen zwischen 1937 und 1941. Darüber hinaus werden das Schicksal der betroffenen Künstler, die Strategien der Museumsleiter und die Rolle der Kunsthändler dabei erforscht. Wichtiges Ziel ist die Erstellung eines Gesamtverzeichnisses aller beschlagnahmten Werke der „Entarteten Kunst“. Eine Schriftenreihe gibt den Forschungsstand wider. Ein weiterer Schwerpunkt des Projekts liegt auf der universitären Lehre zur Provenienzforschung. Hinzu kommt die praktische Anleitung zum Umgang mit Primärquellen und zur Auswertung von Archivmaterial sowie die Kooperation mit Berliner Museen und Institutionen, die sich mit nationalsozialistischer Raubkunst und Restitution beschäftigen. Literatur Fritz Kaiser (Hrsg.): Entartete „Kunst“. Ausstellungsführer. Zusammengestellt von der Reichspropagandaleitung der NSDAP, Amtsleitung Kultur. Verlag für Kultur- und Wirtschaftswerbung, Berlin 1937. 32, Seiten, 56 Abbildungen; wahrscheinlich erst ab 1938 in Berlin als Ausstellungsführer eingesetzt. Jürgen Claus (Katalog, Text, Dokumentation): „Entartete Kunst.“ Bildersturm vor 25 Jahren. Ausstellungskatalog Haus der Kunst München, 25. Oktober – 16. Dezember 1962. Entartete Kunst. Ausstellungsführer, München-Berlin 1937. Reprint des Originals von 1937. König, Köln ISBN 3-88375-086-7. (Teildruck der Ausgabe Stationen der Moderne. Kataloge epochaler Kunstausstellungen in Deutschland 1910–1962, ISBN 3-88375-082-4) Weiterer Reprint der Originalbroschüre: 1969 im Verlag Y. Fongi, München, mit getrennt beigefügten Zitaten von NS-Ideologen zur Kunst, von NS-Zeitschriften der 1960er Jahre und von Personen, die im Streit um die Münchener Kunstakademie 1969 eine Rolle spielten (Hermann Kaspar, F. J. Strauß, u. a.). Wien 1938. Katalog zur 110. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien vom 11. März – 30. Juni 1988. Österreichischer Bundesverlag, Wien 1988, ISBN 3-215-07022- 7. Norbert Berghof (Red.): Kunst in der Verfolgung: Entartete Kunst (Ausstellung) 1937 in München. 18 Beispiele. Neckar, Villingen 1998. Begleitheft: Lebensdaten und Selbstzeugnisse (der Künstler). ebd. 1998. Sabine Brantl: Haus der Kunst München. Ein Ort und seine Geschichte im Nationalsozialismus. Allitera, München 2007, ISBN 3-86520-242-X. Hildegard Brenner: Die Kunstpolitik des Nationalsozialismus. Rowohlts deutsche Enzyklopädie 167/168. Rowohlt, Reinbek 1963. Christine Fischer-Defoy, Kaspar Nürnberg (Hrsg.): Gute Geschäfte – Kunsthandel in Berlin 1933–1944. Aktives Museum Faschismus und Widerstand, Berlin 2011, ISBN 978-3-00- 034061-1 (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Centrum Judaicum (10. April – 31. Juli 2011) und im Landesarchiv Berlin (20. Oktober 2011 – 27. Januar 2012)). Uwe Fleckner (Hrsg.): Angriff auf die Avantgarde. Kunst und Kunstpolitik im Nationalsozialismus. Akademie, Berlin 2007, ISBN 3-05-004062-9. Boris Thorsten Grell: „Entartete Kunst“. Rechtsprobleme der Erfassung und des späteren Schicksals der sogenannten entarteten Kunst. Dissertation an der Universität Zürich, 1999. Berthold Hinz: Die Malerei im deutschen Faschismus. Kunst und Konterrevolution. Heyne, München 1984, ISBN 3-453-01906-7. Dina Kashapova: Kunst, Diskurs und Nationalsozialismus. Semantische und pragmatische Studien. Reihe Germanistische Linguistik, 266. Niemeyer, Tübingen 2006, ISBN 3-484- 31266-1. Georg Kreis et al.: „Entartete“ Kunst für Basel. Die Herausforderung von 1939. Wiese, Basel 1990, ISBN 3-909158-31-5. (Die 21 Ankäufe aus Deutschland und wie es dazu kam.) Hans-Peter Lühr: Die Ausstellung „Entartete Kunst“ und der Beginn der NS-Barbarei in Dresden. Geschichtsverein, Dresden 2004, ISBN 3-910055-70-2. Beate Marks-Hanssen: Innere Emigration? Verfemte Künstlerinnen und Künstler in der Zeit des Nationalsozialismus. dissertation.de, Berlin 2006, ISBN 3-86624-169-0. Brigitte Pedde: Willi Baumeister 1889–1955. Schöpfer aus dem Unbekannten. epubli, Berlin 2013. ISBN 978-3-8442-6815-7 (Open-Access-Ausgabe) Franz Roh: Entartete Kunst. Kunstbarbarei im Dritten Reich. Fackelträger, Hannover 1962; enthält auch die sonst schwer erhältliche originale NS-Broschüre zur Ausstellung „Entartete Kunst“, für München u. a. Orte, genannt „Ausstellungsführer“ (Cover) bzw. „Führer durch die Ausstellung“ (Titel) als Nachdruck. Christian Saehrendt: „Die Brücke“ zwischen Staatskunst und Verfemung. Expressionistische Kunst als Politikum in der Weimarer Republik, im „Dritten Reich“ und im Kalten Krieg. Seiner, Stuttgart 2005, ISBN 978-3-515-08614-1 (= Rüdiger vom Bruch, Eckart Henning (Hrsg.): Pallas Athene. Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, Band 13). Matthias Wemhoff: Der Berliner Skulpturenfund: „Entartete Kunst“ im Bombenschutt, Schnell + Steiner, Regensburg 2010, ISBN 978-3-7954-2463-3. Rainer Zimmermann: Expressiver Realismus. Malerei der verschollenen Generation. 2. Auflage, Hirmer, München 1994, ISBN 3-7774-6420-1 (Kurzbiografien von etwa 400 Künstlern). Christoph Zuschlag: Entartete Kunst. Ausstellungsstrategien im Nazi-Deutschland. Werner, Worms 1995, ISBN 3-88462-096-7. Frank Bajohr, Michael Wildt (Hrsg.): Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus. Fischer, Frankfurt am Main 2009, ISBN 978-3-596-18354-8. Steffen Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914“ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg. Akademie, Berlin 2003, ISBN 3-05-003745- 8. Norbert Götz: Ungleiche Geschwister. Die Konstruktion von nationalsozialistischer Volksgemeinschaft und schwedischem Volksheim. Baden-Baden 2001 (PDF; 70 MB). Franz Janka: Die braune Gesellschaft. Ein Volk wird formatiert. Verlag der Evangelischen Gesellschaft, Stuttgart 1997, ISBN 3-7918-1975-5. Heiko Kauffmann, Helmut Kellershohn, Jobst Paul (Hg.): Völkische Bande. Dekadenz und Wiedergeburt. Analysen rechter Ideologie Unrast, Münster 2005, ISBN 3-89771-737-9. Steffen Raßloff: Flucht in die nationale Volksgemeinschaft. Das Erfurter Bürgertum zwischen Kaiserreich und NS-Diktatur Böhlau, Köln [u. a.] 2003, ISBN 3-412-11802-8. Dietmar von Reeken, Malte Thießen (Hrsg.): „Volksgemeinschaft“ als soziale Praxis. Neue Forschungen zur NS-Gesellschaft vor Ort. Paderborn 2013, ISBN 978-3-506-77745-4. Karsten-Heinz Schönbach: Die Illusion der „Volksgemeinschaft“ – Bündnis zwischen Großindustrie und NS-Führung gegen die Arbeiterschaft. In: Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Heft I/2013. Lil-Christine Schlegel-Voß: Alter in der „Volksgemeinschaft“. Zur Lebenslage der älteren Generation im Nationalsozialismus. Duncker & Humblot, Berlin 2005, ISBN 978-3-428- 11547-1 (zugl. Diss., Univ. Marburg, 2003). Martina Steber/Bernhard Gotto (Hrsg.): Visions of Community in Nazi Germany – Social Engineering and Private Lives, Oxford University Press, Oxford 2014, ISBN 978-0-19- 968959-0. Sybille Steinbacher: Volksgenossinnen. Frauen in der NS-Volksgemeinschaft. Wallstein, Göttingen 2007, ISBN 978-3-8353-0188-7 (= Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus, Band 23). Dietmar Süß: „Volksgemeinschaft“ und Vernichtungskrieg. Gesellschaft im nationalsozialistischen Deutschland. In: Dietmar Süß, Winfried Süß (Hrsg.): Das Dritte Reich. Eine Einführung. Pantheon, München 2008, ISBN 978-3-570-55044-1, S. 79–102. Malte Thießen: Erinnerungen an die „Volksgemeinschaft“. Integration und Exklusion im kommunalen und kommunikativen Gedächtnis. In: Detlef Schmiechen-Ackermann (Hg.): „Volksgemeinschaft“: Mythos, wirkungsmächtige soziale Verheißung oder soziale Realität im „Dritten Reich“? (= Nationalsozialistische „Volksgemeinschaft“, Bd. 1). Schöningh, Paderborn 2012, ISBN 978-3-506-77165-0, S. 319–334. Michael Wildt: Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1917–1939. Hamburger Edition, 2007; ausführl. Rez. Hans Mommsen, FR Literaturbeilage 21. März 2007, S. 18. Bd. 2 Sp. 1279, nach Hilde Kammer/Elisabet Bartsch, Nationalsozialismus. Begriffe aus der Zeit der Gewaltherrschaft 1933–1945, S. 222. Eric Hobsbawm: Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, Frankfurt a.M. 2005, ISBN 3-593-37778-0, S. 122. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: Von der Deutschen Doppelrevolution bis zum Begriff des Ersten Weltkriegs 1849–1914, München 1995, ISBN 3- 406-32263-8, S. 951. Jörn Retterath: „Was ist das Volk?“ Volks- und Gemeinschaftskonzepte der politischen Mitte in Deutschland 1917–1924, Walter de Gruyter, 2016, ISBN 978-3-11046-454-2, S. 319. E. Heller (Wie Farben wirken. Farbpsychologie, Farbsymbolik, kreative Farbgestaltung) und A. Rabbow (Lexikon politischer Symbole) in: Farben als Wegweiser in der Politik. Bundeszentrale für politische Bildung, abgerufen am 23. Oktober 2016. Paul Hoser: Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP), 1920–1923/1925–1945. Historisches Lexikon Bayerns, 12. Februar 2007. Peter Walkenhorst: Nation – Volk – Rasse. Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890–1914, Göttingen 2007, ISBN 978-3-525-35157-4, S. 222. Zit. in: Sönke Neitzel, Weltkrieg und Revolution 1914–1918/19, Berlin 2008, S. 29. 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Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 2009, S. 165–187, hier S. 169–170. Zit. nach Malte Thießen: Schöne Zeiten? Erinnerungen an die „Volksgemeinschaft“ nach 1945, in: Bajohr/Wildt (Hrsg.): Volksgemeinschaft, S. 179. Malte Thießen: Erinnerungen an die „Volksgemeinschaft“. Integration und Exklusion im kommunalen und kommunikativen Gedächtnis, in: Detlef Schmiechen-Ackermann (Hg.): „Volksgemeinschaft“: Mythos, wirkungsmächtige soziale Verheißung oder soziale Realität im „Dritten Reich“?, Schöningh, Paderborn 2012, S. 319–334. Günter Platzdasch: Walter Benjamin und das NPD-Urteil. 17. Januar 2017, abgerufen am 23. Januar 2017. Neurechter Kurs: Die AfD und die „Volksgemeinschaft“, tagesschau.de, 29. Dezember 2015.