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Heute mach ich rot

In der britischen Firma Coexist können Frauen bei Menstruationsschmerzen früher gehen, von zu Hause
arbeiten oder überhaupt freimachen. Wie kommt das an?

15.07.2019

Bezahlte Fehltage bei Periodenschmerzen – das ist in einigen Ländern per Gesetz möglich, in anderen haben
einzelne Firmen entsprechende Regelungen entworfen. Die britische Unternehmerin Bex Baxter hat für die
Firma Coexist eine „Period Policy“ entwickelt: Frauen können bei Schmerzen früher gehen, statt sich mit
Krämpfen auf dem Bürostuhl zu winden, mit Wärmeflasche Homeoffice machen oder, wenn sie möchten, die
Fehlstunden an anderen Tagen wieder aufarbeiten.

Befürworter*innen finden das gerecht und notwendig: Sie sehen darin einen Schritt in Richtung
Entstigmatisierung und die Chance, ihre Produktivität durch ein flexibleres Arbeitsmodell zu steigern.
Kritiker*innen fürchten, dass Frauen damit ihren Stand in der Arbeitswelt gefährden – oder die Regelung
ausnutzen.

fluter.de: Frau Baxter, haben Sie Menstruationsbeschwerden?

Bex Baxter: Ja. Seit 25 Jahren leide ich an Dysmenorrhö, also starken Schmerzen während der Periode.
Lange dachte ich, das müsse ich eben aushalten. Als ich doch einmal einen Arzt konsultierte, sagte der:
„Bekommen Sie einfach ein Baby, danach wird es besser.“ Diese Aussage fand ich wenig hilfreich …

Also kamen Sie durch Ihre persönliche Erfahrung auf die Idee, eine Period Policy zu entwickeln?

Nein, die kam mir erst, als ich als Managerin bei Coexist Verantwortung für andere trug. Eines Morgens
sah ich eine Mitarbeiterin an der Rezeption – weiß wie ein Bettlaken und sich vor Schmerzen krümmend.
Natürlich sagte ich, sie solle nach Hause gehen. Ihre Antwort war allerdings: „Ich hab doch nur meine
Tage.“ In der nächsten Vorstandssitzung schilderte ich den vier männlichen Mitgliedern die Situation und
sagte: „Ich möchte eine Menstrual Policy für Coexist entwickeln.“ Sie waren sofort offen dafür.

Was geschah zwischen diesem ersten Impuls und der fertigen Policy?

Die Freistellung bei Periodenschmerzen ist keine neue Idee: In Japan wurde sie bereits 1928 diskutiert
(und 1947 gesetzlich verankert), als sich Busfahrerinnen ohne regelmäßigen Zugang zu Toiletten dafür
einsetzten. Ähnliche Gesetze gibt es z.B. in Taiwan und Indonesien. In Europa machten zuletzt einzelne
Initiativen Schlagzeilen: ein italienischer Gesetzesentwurf zu drei freien Tagen bei Vorlage eines Attests
oder ein Projekt in Schweden, an dem auch ein Fußball-App-Startup teilnimmt. In Deutschland ist (noch)
keine vergleichbare Initiative bekannt.

Coexist ist ein kleines Sozialunternehmen. Als wir die Policy starteten, waren wir 30 Angestellte, davon 22
Frauen. Zuerst lernten wir in einem Workshop mit Alexandra Pope [Zyklusexpertin, Anm. d. Red.] das
nötige Grundwissen zum weiblichen Zyklus. Gemeinsam mit der Menstruationsforscherin Lara Owen
entwickelten wir dann das Flexitime-Konzept: Bei Periodenschmerzen können Mitarbeiterinnen einen
Tag freibekommen, von zu Hause aus arbeiten, später kommen oder früher gehen. Wenn sie möchten,
können sie die Fehlstunden an anderen Zeiten des Zyklus aufholen: zum Beispiel in den Tagen rund um
den Eisprung, wo viele Frauen vor Energie strotzen. Seit der Einführung hat durchschnittlich die Hälfte
der Frauen die Policy aktiv genutzt: Manche ziehen sich zum Arbeiten in ruhige Räume zurück, andere
nehmen einen Tag frei und holen die Arbeitszeit später auf.

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Bei Coexist kommt das Konzept gut an – es gibt aber auch Kritiker solcher Sonderregelungen. Sie
fürchten, Frauen würde damit abgesprochen, genauso leistungsfähig und kompetent zu sein wie
Männer.

Als ich in einer britischen Talkshow über unser Projekt sprach, rief eine Zuschauerin an und sagte: „Diese
Frau wirft den Feminismus um 100 Jahre zurück.“ Für mich bedeutet Gleichberechtigung aber nicht, dass
wir Unterschiede negieren, sondern dass wir angemessen auf sie eingehen. Natürlich haben nicht alle
Frauen Beschwerden – bei Coexist macht die Hälfte der Frauen gar keinen Gebrauch von der Policy.
Allerdings zeigten alle Interesse, natürliche Zyklen in unseren Arbeitsplatz zu integrieren. Und das Thema
hat die Tür für weitere Diskurse geöffnet.

„Für mich bedeutet Gleichberechtigung nicht, dass wir Unterschiede negieren, sondern dass wir
angemessen auf sie eingehen.“

Welche zum Beispiel?

Leistungsschwankungen hat jeder, unabhängig vom Geschlecht. Sei es wegen psychischer Besonderheiten,
chronischer Krankheiten oder aufgrund der Tages- oder Jahreszeit. Ein Beispiel: Bei Coexist litt ein
Mitarbeiter regelmäßig an Migräne. Früher schämte er sich für seine Beschwerden. Die Period Policy
bereitete aber den Weg dafür, dass er heute seine Migräne einfach bei der Arbeitsplanung berücksichtigen
kann. Das ist gut für ihn und wirkt sich positiv auf seine Arbeit aus.

Warum priorisieren Sie angesichts diverser anderer Beschwerden dennoch die im Zusammenhang
mit der Menstruation?

Weil wir merkten: Wenn wir das Thema Menstruationsschmerzen nicht gezielt ansprechen, wird es
immer ein Tabu bleiben. Es gibt wohl kaum eine gesundheitliche Einschränkung, die so viele Menschen
betrifft und trotzdem so stark tabuisiert ist.

Rebecca „Bex“ Baxter ist eine britische Unternehmerin, Beraterin und Gesangslehrerin. Bei Coexist CIC
arbeitete sie sieben Jahre lang als Personalmanagerin und Vorstandsmitglied. In ihrer Neugründung
Cyclical LLC berät Baxter Firmen zu Perioden-Richtlinien und flexiblen Arbeitsmodellen, um
Menstruationsprobleme in den Mainstream zu bringen.
(Foto: Charlotte Baxter)

Was, wenn Mitarbeiterinnen das Thema als zu privat empfinden?

Natürlich ist unsere Policy freiwillig. Schon seit langem gilt bei Coexist Vertrauensarbeitszeit. Man kann
sich weiterhin „normal“ krankmelden und muss nicht seine nächste Periode im Bürokalender eintragen –
obwohl das inzwischen fast alle tun.

Wie bitte? Gibt es da keine Bedenken – Stichwort Datenschutz?

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Die Sorge um Datenschutz ist mir neu, aber auch darauf kann man ja eingehen. Mitarbeiterinnen tragen
ihre Daten ein, weil sie sich gerne darüber austauschen und mit ihren Zyklusphasen planen. Was zu
Coexist passt, passt aber nicht unbedingt zu anderen Unternehmen. Solche Richtlinien müssen im Team
entwickelt und an die jeweilige Situation angepasst werden.

„Eine Freundin von mir ist bipolar. Wenn sie ein Hoch hat, arbeitet sie tagelang, während eines Tiefs muss
sie aussetzen. Was wäre, wenn sie nach diesem Rhythmus arbeiten dürfte?“

Welche Firmen kommen für solche Vorhaben infrage? In Großkonzernen dürfte es schwierig
werden.

Nicht unbedingt. Auch ein Großkonzern ist ja in Einheiten untergliedert, hier könnte man pro Abteilung
arbeiten. Wichtiger als Firmengröße oder Branche ist der Wille und eine gewisse Offenheit. Das merke ich
in meiner Beratertätigkeit: Gemeinsam mit Lara Owen habe ich eine Agentur gegründet, die Unternehmen
bei der Entwicklung von Zyklus-Richtlinien unterstützt. Wir sind auf Mainstreamfirmen spezialisiert, für
die das Thema oft neu ist. Das ist gar kein Problem. Ich möchte nicht bekehren, sondern die Strukturen in
der Arbeitswelt verbessern.

Wie sähe für Sie eine ideale Arbeitswelt aus – sozusagen Ihre menstruelle Utopie?

Ich liebe diesen Begriff! In einer idealen Arbeitswelt würden wir über die Menstruation genauso offen
sprechen wie über andere Phasen und Konditionen. Wir würden diese nicht nur anerkennen, sondern
gezielt nutzen. Ein Beispiel: Eine Freundin von mir ist bipolar. Wenn sie ein Hoch hat, arbeitet sie tagelang
durch. Während eines Tiefs muss sie aussetzen. Was wäre, wenn sie nach diesem Rhythmus arbeiten
dürfte? In einer solchen Welt hätten wir nicht nur zufriedenere Menschen, sondern auch produktivere
Firmen.

Titelbild: iStock / Getty Images Plus

Die Pille, davor und danach


Noch vor einigen Jahren hielt ich die Pille für das beste Verhütungsmittel – und damit war ich nicht allein.
Mittlerweile hat sich das geändert

23.03.2018

Spätestens in der neunten Klasse begann das Flüstern. Wer sie bereits nimmt. Ob sie dick macht oder
vielleicht sogar dünn. Dass mit ihr die Pickel verschwinden und die Haare glänzen. Dass sie die
Menstruation mildert. Auch der Gedanke an Sex schwingt schon mit. Aber eher abstrakt. Wer sie nimmt,
könnte bereits Sex haben. Muss aber nicht. Schließlich nimmt man sie ja auch, um den Zyklus zu
„regulieren“ und die Haut „in den Griff“ zu kriegen. Die Pille. Kein Mensch würde an dieser Stelle fragen,
welche. Die Pille ist ein Meilenstein, historisch und individuell. An den Tag, an dem ich zum ersten Mal
eine aus dem bunten Blister drückte, kann ich mich noch ganz genau erinnern. An mein erstes Mal drei
Jahre später auch. Ich bekam die Pille aber bereits mit 15, weil ich darauf bestand.

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Die Insignie der Weiblichkeit?

Klar war, dass man erst in dem Moment, wo man sie nahm, eine echte Frau, ja einen Tick näher am
Erwachsensein war, also Sex haben konnte. Die, die sie als Erste hatten, gaben ordentlich damit an. Einige
schleppten sie im Federmäppchen mit sich herum, andere bewahrten sie im Zahnputzbecher auf. Sie war
wie Labello Rosé und Mascara – ein Teil unserer Identität –, und wer sie noch nicht hatte, bequatschte die
Eltern oder nahm sie ab 15 heimlich. „Ich will die Pille“, sagten wir dann zu unserem Frauenarzt.

Von nun an würden wir nicht bloß schönere Haut bekommen, sondern auch unsere Fruchtbarkeit und
damit die zukünftige Karriere und das Leben überhaupt im Griff haben

Der stellte ein paar Fragen, machte eine Untersuchung, und Minuten später konnten wir diese Insignie der
Weiblichkeit nach Hause tragen, während wir uns gleichzeitig in dem Bewusstsein sonnten, eine extrem
erwachsene Entscheidung getroffen zu haben: Denn von nun an würden wir nicht bloß schönere Haut
bekommen, sondern auch unsere Fruchtbarkeit und damit die zukünftige Karriere und das Leben
überhaupt im Griff haben. Heute sind es im Alter von 15 bereits 20 Prozent der Mädchen, die täglich
Hormone einnehmen, mit 16 bereits 40 Prozent, und schon mit 19 nehmen mehr als 70 Prozent aller
jungen Frauen die Pille. Die Entscheidung ist damals wie heute sehr leicht, das Schwierigste daran, wenn
überhaupt, der Gang zum Frauenarzt.

Dass die in der Pille enthaltenen Hormone nicht wie gut dressierte Brieftauben in unsere Gebärmutter
fliegen und dort ihre empfängnisverhütende Wirkung entfalten, sondern an einer Vielzahl von Rezeptoren
in unserem Körper, ja auch in unserem Gehirn wirken, das wissen die wenigsten von uns in diesem
Moment. Auch dass die Pille unseren Zyklus nicht „reguliert“, sondern den Eisprung und damit den Zyklus
an sich unterbindet, ist den wenigsten bewusst, schließlich kriegen wir doch „regelmäßig“ unsere Tage.
Wer nicht die endlose Packungsbeilage liest, weiß auch nicht, dass sie negative Effekte auf unsere Psyche
und unser seelisches Wohlbefinden haben kann. Dabei ist schon seit Jahrzehnten bekannt, dass die
Hormongabe einige Frauen sogar depressiv, ängstlich und unsicher macht. Auch davon, dass sie laut
umfangreichen Studien unsere Libido negativ beeinflussen kann, sprechen Frauenärzte nur sehr selten,
und das erhöhte Risiko für Embolien und Thrombosen wird in den meisten Fällen bloß im Vorübergehen
erwähnt.

Die Pille bedeutete einst Selbstbestimmung. Das hat sich ein wenig geändert

Wie kommt es zustande, dass wir sie trotz dieser Risiken dennoch mit einer solchen
Selbstverständlichkeit verschrieben bekommen? Nun, die Pille gilt noch immer als ein Meilenstein der
sexuellen Befreiung, was vor allen Dingen auch damit zu tun hat, dass sie aus einer sagenumwobenen
Allianz zwischen einer US-amerikanischen Feministin und der Pharmaindustrie hervorging.

Margaret Sanger engagierte sich bereits im frühen 20. Jahrhundert für mehr Wissen zum Thema
Verhütung, um Frauen ein selbstbestimmtes Leben ohne ungewollte Schwangerschaften zu ermöglichen.
Das war revolutionär und brachte sie sogar ins Gefängnis, denn sexuell aufgeklärte, selbstbestimmte
Frauen waren vor rund 100 Jahren gesellschaftlich unerwünscht.

Aufklärung war damals ein unheimlich zähes Geschäft und Sanger im Jahr 1950 dermaßen frustriert über
die mageren Früchte ihrer Arbeit, dass sie sofort ihre Chance ergriff, als sie dem Biologen Gregory Pincus
begegnete, der bereits seit Jahren die Einsatzmöglichkeiten künstlicher Sexualhormone erforschte. Eine
Pille gegen die Schwangerschaft. Ein revolutionärer Gedanke! Dank Katharine McCormick, einer
wohlhabenden Frauenrechtlerin und Freundin von Sanger, die gut zwei Millionen Dollar ihres
Privatvermögens investierte, wurde schließlich die erste Pille entwickelt – ein Wunschkind sozusagen aus
der Zweckehe von Feminismus und Pharmaindustrie.

Ein unvergleichlicher Siegeszug

Obwohl die Menschen bei ihrer Markteinführung in den 1960ern bereits die Wahl zwischen Kondom,
Diaphragma und Spirale hatten und schon damals auch ohne die Pille kaum jemand hätte schwanger
werden müssen, schlug sie ein wie eine Bombe. Zwar wurde sie zunächst wegen

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Menstruationsbeschwerden verschrieben – und das auch nur an verheiratete Frauen mit mehreren
Kindern –, aber man wusste um ihre empfängnisverhütende Wirkung. Neben ihrer Wirksamkeit bestand
das wahrscheinlich überzeugendste Argument für die Pille darin, dass man über Verhütung nun nicht
mehr sprechen musste, weder mit dem Partner noch mit dem Apotheker, dessen missbilligender
Gesichtsausdruck unverheirateten Paaren damals die Schamesröte ins Gesicht trieb.

Der weiblichen Körper gilt immer noch als Hindernis im Leben, das uns vollkommen unberechenbar
immer dann einen Strich durch die Rechnung macht, wenn wir es am wenigsten gebrauchen können

Heute leben wir in einer Welt, in der die Verbreitung von Verhütungswissen nicht mehr unter Strafe steht.
Auch das Gespräch darüber müsste nicht mehr hochnotpeinlich sein. Sexualität ist allgegenwärtig, in der
Werbung etwa oder im Internet. Trotzdem ist unser Wissen über Verhütung noch immer extrem
lückenhaft. So erleben auch junge Mädchen von heute eine Schwangerschaft als vollkommen
unberechenbares Schreckgespenst, das jederzeit über sie hereinbrechen kann. Weil nicht alle wissen, wie
der weibliche Zyklus funktioniert, sind sich die wenigsten darüber im Klaren, dass ohne Pille nur an rund
sieben Tagen des Monats überhaupt das Risiko besteht, schwanger zu werden. Wieso glauben wir
dennoch, ohne sie nicht sicher verhüten zu können?

Die Tatsache, dass wir sie beim Arzt beziehungsweise in der Apotheke erhalten, täuscht über eine
wesentliche Erkenntnis hinweg: Die Pille ist ein Produkt und die Pharmaindustrie wie alle Industrien in
allererster Linie gewinnorientiert. Seit Jahrzehnten tut sie alles dafür, dass wir die Pille als notwendiges
Instrument der Befreiung betrachten, und je weniger wir es zur Befreiung brauchen, umso vehementer
erklärt sie uns, dass der weibliche Körper ohne hormonelle Eingriffe eine einzige Last darstellt. Besuchen
wir die Webseiten, lesen wir von PMS, „schlechter“ Haut, Regelbeschwerden und einem „unregelmäßigen“
Zyklus als gute Gründe für hormonelle Verhütung. All das fügt sich in einen öffentlichen Diskurs, der einen
weiblichen Körper immer noch als Hindernis im Leben begreift, das uns vollkommen unberechenbar
immer dann einen Strich durch die Rechnung macht, wenn wir es am wenigsten gebrauchen können.

Viele andere Verhütungsmittel sind genauso zuverlässig wie die Pille – oder sogar noch viel sicherer

Auch deutsche Ärzte, deren Fortbildungen vielfach von der Pharmaindustrie ausgerichtet und finanziert
werden, greifen diese Argumente auf, statt uns über die Vielzahl an Methoden aufzuklären, die uns als
Frauen des 21. Jahrhunderts zur Verfügung stehen. Dazu gehören ganz wesentlich die Kupferspirale,
Kondome und Diaphragmen, aber auch die symptothermale Methode, auch als NFP bekannt, die neben
der Körpertemperatur auch den sogenannten Zervixschleim beobachtet.

So kann man mit NFP sowohl den Beginn als auch das Ende der fruchtbaren Phase bestimmen, was diese
Methode laut aktuellen wissenschaftlichen Studien etwa so sicher wie die Pille macht: Ihr Pearl-Index, der
die Sicherheit des Verhütungsmittels angibt, liegt bei 0,4. Das heißt, von 100 Frauen werden im Lauf eines
Jahres bei Anwendung dieser Methode 0,4 schwanger. Auch die Sicherheit von Kondomen ist weitaus
höher als bisher angenommen.

Überhaupt wird jede Form der Verhütung immer dann sicherer, wenn wir offen mit unserem Partner und
dem Arzt unseres Vertrauens umgehen – genauso wie mit dem eigenen Körper. Es geht eben bei
Verhütung nicht darum, was eine einzelne Person macht, egal ob Frau oder Mann, sondern wie ein Paar
das gemeinsam geregelt bekommt. Dass die Vollendung von Margaret Sangers Lebensaufgabe darin
bestand, die Antibabypille auf den Weg zu bringen, sollte uns nicht darüber hinwegsehen lassen, dass sie
von einer viel wesentlicheren Überzeugung getrieben war: Frauen sollten im Angesicht aller
Möglichkeiten und unter Berücksichtigung aller verfügbaren Informationen über den eigenen Körper
bestimmen dürfen.

Tilelbild: Laura Zalenga

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Droht ein absolutes Abtreibungsverbot?
Mehrere US-Bundesstaaten haben in den vergangenen Wochen strikte Anti-Abtreibungsgesetze
verabschiedet. Sie könnten in Zukunft im ganzen Land gelten

13.06.2019

Was würden wir über die Situation von Frauenrechten in Deutschland sagen, wenn es im ganzen Land nur
noch eine Klinik gäbe, die Abtreibungen anbietet? In insgesamt sechs US-Bundesstaaten (Kentucky,
Missouri, Mississippi, North Dakota, South Dakota und West Virginia) ist das der Fall: Hier führt nur noch
jeweils eine Klinik Schwangerschaftsabbrüche durch. Momentan kämpft das letzte Krankenhaus in
Missouris Hauptstadt St. Louis vor Gericht gegen seine Schließung. Sollten sich die Abtreibungsgegner
durchsetzen, wäre Missouri der erste von 50 US-Bundesstaaten, in dem überhaupt keine Abtreibungen
mehr möglich sind. Die Logik dahinter ist so schlicht wie effektiv: Wo nicht angeboten wird, muss gar
nicht erst verboten werden.

Das Recht auf Schwangerschaftsabbruch ist seit 1973 in der amerikanischen Verfassung verankert.
Damals klagte sich eine junge Frau aus Texas, wo Abtreibungen verboten waren, bis zum Obersten Gericht
durch. Sie verwendete das Pseudonym „Jane Roe“ und gewann gegen den texanischen Staatsanwalt Henry
Wade. Das Urteil im Fall „Roe gegen Wade“ ging als eines der gesellschaftlich strittigsten in die Geschichte
ein. Seither versuchen Evangelikale und streng Konservative, diese Grundsatzentscheidung zu kippen und
Abtreibungen gänzlich zu verbieten. Fast 50 Jahre nach dem Urteilsspruch stehen die Chancen dafür
offenbar gut.

Ein neues Gesetz in Alabama verbietet Abtreibung sogar bei Inzest oder Vergewaltigung

Mehrere konservative Bundesstaaten haben in den vergangenen Monaten ihr Abtreibungsrecht massiv
verschärft, etwa mit der Verabschiedung eines sogenannten Herzschlag-Gesetzes. Abtreiben ist demnach
illegal, sobald beim Fötus Herztöne erkannt werden können; das ist in der Regel sechs Wochen nach
Beginn der Schwangerschaft der Fall – ein Zeitpunkt, zu dem manche Frauen noch nicht einmal wissen,
dass sie schwanger sind.

Doch vorerst hängen die Gesetze in der Schwebe. „Abtreibungen sind immer noch legal in Amerika, und
zwar in allen 50 Staaten“, sagt Rachel Johnson-Farias, Direktorin des Center on Reproductive Rights and
Justice an der University of California in Berkeley. In den USA geht das Bundesrecht dem Landesrecht der
Bundesstaaten vor. „Die Abgeordneten wissen, dass diese Gesetze nicht geltendem Verfassungsrecht
entsprechen. In fast allen Fällen beantragen Bürgerrechtsorganisationen vor Gericht einstweilige
Verfügungen gegen diese Beschlüsse.“ Dass gerade in jüngster Zeit mehrere konservative Bundesstaaten
aus der Deckung kommen, überrascht Johnson-Farias nicht. Es sei taktisches Kalkül.

Die verfassungswidrigen Verbote müssen vor dem Obersten Gericht verhandelt werden

Im Wahlkampf hatte Donald Trump versprochen, als Präsident für den Supreme Court Richter zu
nominieren, die sich klar für die Lebensrechte des Embryos einsetzen werden. In weniger als zwei
Amtsjahren installierte der neue Präsident mit Neil Gorsuch und Brett Kavanaugh gleich zwei solche
Juristen am Obersten Gericht des Landes – einer seiner größten Erfolge im Weißen Haus. Somit hat das
Gericht einen Überhang an als konservativ geltenden Richtern. Einige republikanische
Gouverneure fühlen sich daher ermutigt, Gesetze in ihren Bundesstaaten durchzubringen, die nicht
verfassungskonform sind. Die Folge: Diese Abtreibungsverbote müssten irgendwann vor dem Obersten
Gericht in Washington verhandelt werden.

Die Abgeordneten in Alabama verabschiedeten Ende Mai ein Gesetz, das jegliche Form von Abtreibung
verbietet, auch im Fall von Inzest oder Vergewaltigung. Einzige Ausnahme: wenn das Leben der Mutter
gefährdet ist. Wer als Arzt dem Gesetz zuwiderhandelt und Eingriffe vornimmt, dem droht eine Haftstrafe
von bis zu 99 Jahren. Dass die republikanischen Abgeordneten im Senat von Alabama allesamt weiß und
männlich sind, halten viele (zum Beispiel Rihanna, Diddy und Hilary Duff) für bezeichnend. Tatsächlich

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lässt sich beobachten: Je schlechter Frauen in der Politik eines Bundesstaates vertreten sind,
desto strenger die Abtreibungsgesetze.

Führen solche Fälle wie aus Alabama tatsächlich dazu, dass das „Roe gegen Wade“-Urteil – damals
ein Meilenstein der Frauenrechtsbewegung – gekippt wird? „Selbst wenn wir es jetzt mit einem
konservativen Supreme Court zu tun haben, gibt es keine Anzeichen dafür, dass sie das Roe-Urteil
demnächst aufheben“, sagt Mary Ziegler, Professorin an der Florida State University. Die Juristin hat
mehrere Bücher über den Fall von 1973 geschrieben.

Selbst Donald Trump ist das Gesetz aus Alabama zu radikal

Erst kürzlich habe das Gericht ein weitaus weniger drastisches Gesetz aus Indiana vorgelegt bekommen
und es bei der Entscheidung des Berufungsgerichtes belassen. Dem Gericht einen Extremfall
aufzudrücken könnte, so Ziegler, den umgekehrten Effekt haben: Der Supreme Court ignoriert ihn. Wohl
auch deswegen distanzierten sich Donald Trump und andere Republikaner von dem Gesetz in Alabama
und bezeichneten es als zu radikal.

Laut Ziegler hätten die Abtreibungsgegner aus Alabama größere Chancen, wenn sie zeigen würden,
warum „Roe gegen Wade“ überhaupt juristisch untragbar ist. Dem Supreme Court genügten die rein
taktischen Überlegungen der Abtreibungsgegner nicht. „Wenn die Richter sich jetzt hinstellen und das
Gesetz aus Alabama stützen, macht das einen schlechten Eindruck. Es lässt sie wie Parteigenossen
aussehen, nicht wie unabhängige Richter“, sagt sie und fügt hinzu: „Ich glaube, dass es noch ein paar Jahre
dauern wird, bis sie das Urteil kippen könnten.“ Noch ein paar Jahre. Für viele von Amerikas Frauen klingt
das wenig beruhigend.

Der Körperkult der Nazis


Die Nazis stellten den Körper ins Zentrum ihrer Ideologie. Durch Zucht, Selektion und Erziehung sollte der
„Neue Mensch“ geschaffen werden – und durch massenhafte Ermordung aller, die aus dem Raster fielen.
Das Weltbild dahinter war wirr

31.08.2018

Wenn Heinrich Himmler, der „Reichsführer SS“ und einer der mächtigsten Männer im NS-Staat,
Bauchschmerzen hatte – und das war mitunter mehrmals täglich der Fall –, dann rief er seinen Leibarzt
Felix Kersten zu sich, legte sich auf die Liege und ließ sich stundenlang durchkneten, bis alle Krämpfe
verschwunden waren. Kersten war der Einzige, der die heftigen Leiden des ranghohen Nazis lindern
konnte, und nach Himmlers Überzeugung lag das daran, dass er nicht nur klassischer Physiotherapeut
war, sondern sich auch in chinesischen und tibetischen Behandlungstechniken hatte ausbilden lassen.
Erstaunlicherweise deckte sich das nur allzu gut mit Himmlers bizarrem Weltbild. Denn auch wenn er, wie
alle NS-Ideologen, an die Überlegenheit der „arischen Herrenrasse“ glaubte, versammelten sich darin
neben grotesken Rassentheorien, nordischen Mythen und mittelalterlichen Heldenepen auch
Versatzstücke fernöstlicher Religionen und Philosophien. So las er die „Bhagavad Gita“, eine zentrale
hinduistische Schrift, und interessierte sich für Yoga.

Sie bedienten sich überall, nahmen, was ihnen passte, ließen weg, was ihnen nicht passte

Die Bhagavad Gita ist so etwas wie die Bibel des Hinduismus. Das ist außerordentlich verkürzt
ausgedrückt, unpräzise und schrecklich verallgemeinernd – aber in einem Beitrag über den Körperkult im
Nationalsozialismus dennoch nicht ganz fehl am Platz, weil diese Aussage in ihrer Mangelhaftigkeit recht
anschaulich das Vorgehen verdeutlicht, das die Naziführer an den Tag legten, wenn sie sich etwas
aneigneten. Wer den Körperkult der Nationalsozialisten verstehen will, muss auch verstehen, wie sie ihre
Ideologie zusammensetzten. Kurz zusammengefasst: Sie bedienten sich überall, nahmen, was ihnen
passte, ließen weg, was ihnen nicht passte. Und wenn sie etwas unbedingt haben wollten, was eigentlich

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nicht passte, dann manipulierten, verzerrten, veränderten sie es so lange, bis es ihren Vorstellungen
entsprach. So verfuhr auch Heinrich Himmler, der Chef der SS, mit dem Yoga und der Bhagavad Gita.

Vom Sonnengruß zum Hitlergruß war der Weg einmal gar nicht so weit: Auch in den 30er-Jahren gab es
schonmal eine kleine Yoga-Welle in Deutschland. Und weil sich die Nazis weltanschaulich sowieso überall
bedienten, taten sie das auch in dieser hinduistischen Tradition
(Foto: ullstein bild via Getty Images)

Yoga war in Europa zu dieser Zeit kein gänzlich neues Phänomen, sondern nur eine von zahlreichen
Strömungen, die sich auf ganz neue Weise mit dem Menschen, seiner Umwelt, seinem Körper und der
Natur auseinandersetzten. Naturheilkunde, Vegetarismus, Rohkost- und Vollkornernährung oder auch die
aufkommende FKK-Kultur – oft zusammengefasst als „Lebensreformbewegungen“ – galten als Reaktionen
auf eine Welt im Umbruch, die in tausend Stücke zu zerspringen schien. Auch Turnen, Fußball und andere
Sportarten erfreuten sich großer Beliebtheit, nicht zuletzt deshalb, weil sie Ablenkung boten. Aufklärung,
Industrialisierung, Verstädterung und die Evolutionstheorie hatten jahrhundertealte Gewissheiten,
Gesellschaftsstrukturen und Glaubenssätze ins Wanken gebracht. Manch einer fühlte sich allein gelassen
in einer modernen Welt, die im Ersten Weltkrieg mit Millionen von Toten ihre dunkelsten Schattenseiten
gezeigt hatte.

Die Rückbesinnung auf den eigenen Körper, auf die Natur, war da ein naheliegender Schritt und erklärt
die Faszination, die fernöstliche Religionen und Philosophien wie Buddhismus, Hinduismus und damit
auch Yoga auf viele Menschen ausübten. Denn hier ging es nicht um einen personalisierten Schöpfergott,
der von der europäischen Philosophie gerade für tot erklärt worden war, sondern um eine universelle
göttliche Kraft, die der Mensch in der Natur und in sich selbst erfahren konnte. Daher legten diese Lehren
ein weniger repressives Verhältnis zum Körper nahe und hatten für den Weg der spirituellen Entwicklung
sogar unterstützende Körperpraktiken wie Yoga kultiviert.

Die Erschaffung des „Neuen Menschen“ durch Erziehung, Zucht und Selektion – und die Ermordung aller,
die in dieses Bild nicht passten

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten kamen all diese Strömungen auf den Prüfstand. Das
Prinzip blieb stets dasselbe: Was nützlich war oder ungefährlich für die nationalsozialistische Ideologie,
wurde übernommen, beibehalten oder zumindest geduldet; alles andere wurde verboten. So kam es, dass
etwa der „Bund für sozialistische Lebensgestaltung und Freikörperkultur“ im März 1933 aufgelöst wurde,
nationalsozialistische Nudisten sich aber im neugegründeten „Kampfring für völkische Freikörperkultur“
versammeln konnten.

Wichtig war hierbei die Intention, die hinter einer Bewegung steckte: Während sozialistische FKKler beim
Ablegen von Bekleidung in erster Linie die Gleichheit aller Menschen im Sinn hatten, weil
Klassenunterschiede scheinbar verschwanden, wenn alle nackt waren, zielten völkische Nackedeis eher
auf die Wiederherstellung eines angeblichen germanischen Urzustandes ab. Auch wenn es bei der FKK-
Kultur damals ebensowenig wie heute um Sexualität ging, gab es doch auch Strömungen, die dem
nationalsozialistischen Rassenwahn folgten und allen Ernstes glaubten: Wenn eine deutsche Frau öfter
mal einen kraftstrotzenden nackten Arier sähe, würde sie sich für exotische Fremdlinge nie mehr
interessieren, sondern nur noch für ihresgleichen – und damit zur Erhaltung und Reinheit der „arischen
Rasse“ beitragen.

Tapferkeit, Kraft, Gesundheit, Schönheit, Fruchtbarkeit, darauf kam es an. Auch bei der Hitlerjugend, die
Teil des Zuchtapparates für den „Neuen Menschen“ war. Von geistigen Fähigkeiten war da erst einmal
nicht die Rede
(Foto: Keystone/Getty Images)

Denn das war der Kern der NS-Ideologie: die Erschaffung des sogenannten „Neuen Menschen“. Der Weg
dorthin: Erziehung, Zucht, Selektion – und die Ermordung aller, die in dieses Bild nicht passten. Der

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Idealtypus des „Neuen Menschen“ war mit dem des „Ariers“ identisch: Groß, blond und blauäugig sollte er
sein, vor Kraft strotzend. Oder, wie es Hitler in seiner bekannten Rede in Nürnberg im September 1935
vor rund 54.000 Hitlerjungen ausdrückte: „Flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl.“

Von geistigen Fähigkeiten war da erst einmal nicht die Rede. Tapferkeit, Kraft, Gesundheit, Schönheit,
Fruchtbarkeit – das waren die Attribute, auf die es bei der Hitlerjugend, die Teil des Zuchtapparates für
den „Neuen Menschen“ war, zunächst ankam. Entsprechend war auch die Ausbildung in den
nationalsozialistischen Eliteinternaten gestaltet, den „Nationalpolitischen Lehranstalten“ (Napola), in
denen streng nach pseudowissenschaftlichen Rassekriterien ausgewählte Schüler zu solchen „Neuen
Menschen“ erzogen werden sollten. An erster Stelle stand die „Charakterbildung“, mit der einzig die
bedingungslose Akzeptanz des nationalsozialistischen Weltbildes erreicht werden sollte.

Es ging also nicht um Bildung des Allgemeinwissens, sondern in erster Linie um die Indoktrinierung mit
der NS-Rassenlehre. Danach folgte gleich das körperliche Training, das nicht nur auf Kraft und Fitness
abzielte, sondern auch – oft auf grausame Weise – auf Abhärtung und Leidensfähigkeit abzielte. Hinzu
kamen militärische Übungen und Geländespiele, da die Betonung des Körperlichen nicht zuletzt dem
Zweck diente, möglichst leistungsstarke Soldaten heranzuzüchten. Denn Kriege würden ja schon
deswegen nötig sein, um „Lebensraum“ für diese „Neuen Menschen“ zu schaffen, was Hitler bereits
in„Mein Kampf“ skizziert hatte und als wesentlicher Teil der „Blut-und-Boden-Ideologie“ bekannt
geworden war. Die eigentliche Schulbildung in Sprachen und Wissenschaften hingegen stand auf dem
Stundenplan an letzter Stelle.

Ein Problem: Das Ideal vom hochgewachsenen, blonden, blauäugigen Germanen traf auf den Großteil der
deutschen Bevölkerung gar nicht zu

Auch die Auswahl der SS-Soldaten erfolgte hauptsächlich nach den auf den Körper abzielenden
Rassekriterien der NS-Ideologie. Sie beschrieben gewissermaßen den Prototyp des „Neuen Menschen“.
Auch hier zeigte sich dasselbe Schema: Was den Nazis gelegen kam, wurde aufgegriffen und umgedeutet.
Schnell war auch die Rede vom „Übermenschen“ und der schon erwähnten „Herrenrasse“ – übrigens
Begriffe, die von dem deutschen Philologen Friedrich Nietzsche aus dem 19. Jahrhundert stammten, die
jedoch mit seiner ursprünglichen philosophischen Argumentation und Intention gar nichts mehr zu tun
hatten.

Allerdings gab es ein offensichtliches Problem: Das Ideal vom hochgewachsenen, blonden, blauäugigen
Germanen traf auf den Großteil der deutschen Bevölkerung nicht zu, geschweige denn auf den obersten
Führungszirkel der NS-Regierung. In einer zeitgenössischen französischen Karikatur hieß es spöttisch:
„Schlank wie Göring, blond wie Hitler, groß wie Goebbels.“ Also wurde die „arische Rasse“ seitens der NS-
Führung sicherheitshalber noch einmal über ihr vermeintliches Gegenteil definiert: In allererster Linie
bedeutete „arisch“ von nun an stets: nicht jüdisch. Indem die Nationalsozialisten die Begriffe „Rasse“ und
„Volk“ gleichsetzten, verstanden sie auch das jüdische Volk als Rasse, die sie im Gegensatz zu sich selbst
als minderwertig ansahen.

Ballspiele in einem Camp der Hitlerjugend in Österreich. Die angebliche Überlegenheit einer „arischen
Herrenrasse“ war durch und durch pseudowissenschaftlich
(Foto: Keystone/Getty Images)

Verstärkt wurden solche Vorstellungen durch Kunst und Kultur. Die berühmte Filmemacherin Leni
Riefenstahl entwarf vor allem in ihren bekanntesten Werken „Triumph des Willens“ (1935) sowie den
Olympia-Filmen „Fest der Völker“ (1938) und „Fest der Schönheit“ (1938) das Körperbild des perfekten
Ariers. Niemand nahm Anstoß daran, dass sie Männer und Frauen darin oft nackt zeigte, sahen diese doch
gar nicht mehr wie Menschen aus, sondern eher wie griechische Götterbildnisse oder Helden aus der
nordischen Mythologie. Auch die gewaltigen Statuen des Bildhauers Arno Breker und die Gemälde des
hinter vorgehaltener Hand als „Reichsschamhaarmaler“ verspotteten Adolf Ziegler transportierten das
Ideal einer kraftstrotzenden germanischen Körperlichkeit, die fast immer in pseudoästhetischen
Aktdarstellungen daherkam.

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Juden wurden in menschenverachtenden Propagandafilmen physisch deformiert, angsteinflößend und
hässlich dargestellt

Demgegenüber wurden „Juden“, beispielsweise in menschenverachtenden Propagandafilmen wie „Jud


Süß“ oder „Der ewige Jude“, physisch deformiert, angsteinflößend und hässlich dargestellt. Auch
Menschen mit körperlichen Behinderungen oder Krankheiten galten in der NS-Propoganda als
Gegenstück zum „Volkskörper“ und wurden somit entmenschlicht: Es sollte der Eindruck entstehen, sie
seien gar keine Menschen, sondern Ungeziefer, das nicht nur getötet, sondern sogar „ausgerottet“ werden
müsse, um die „Reinheit“ und „Hygiene“ der eigenen Rasse zu garantieren. Diese Argumentation legte
letztendlich den Grundstein für den Holocaust und die Entrechtung, Verfolgung und Ermordung von
Millionen von Menschen in ganz Europa.

Und auch wenn es natürlich vollkommen absurd klingt, so war dies letztlich ein wesentlicher
Beweggrund, warum Heinrich Himmler sich für Yoga interessierte. Doch er missbrauchte die Philosophie
des Yoga und des Hinduismus, um das Morden nicht nur zu legitimieren, sondern auch spirituell zu
untermauern. Es gibt in der Bhagavad Gita einen Vers, der als Rechtfertigung von Gewalt gelesen werden
kann:

„Zum Schutz der Guten, aber zum Verderben der Bösen, komm ich mitten unter sie, den Weg zu lehren,
der zum Heil führt. (…) Doch kann mein Werk mich nimmer mehr beflecken, ich hege kein Verlangen nach
Gewinn.“

Es ist einer von 700 Versen! Und als Rechtfertigung von Gewalt kann man ihn auch nur dann lesen, wenn
man ihn wörtlich versteht und nicht als Metapher, wie es die meisten Hinduismus-Experten tun. Himmler
war das egal. Seiner eigenen wirren Interpretation der Bhagavad Gita folgend, betrachtete er die SS als
eine Art Kriegerkaste, die trotz aller Verbrechen rein bleibe, weil ihr Tun einem höheren Zweck diene.

Der Therapeut Felix Kersten übrigens bearbeitete den „Reichsführer SS“ nicht nur mit seinen Händen,
sondern setzte sich während der Behandlungen oft erfolgreich für die Freilassung politischer Gefangener
ein. Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs soll er dank seiner Kontakte zur schwedischen Regierung dazu
beigetragen haben, dass einige Konzentrationslager kampflos übergeben wurden, statt sie zu zerstören.
Zehntausende Menschen wurden so gerettet.

Sollte jede*r automatisch Organspender sein?


Soll, wer nicht ausdrücklich widerspricht, künftig als Organspender*in gelten? Wir haben die
„Widerspruchslösung“ auf Herz und Nieren diskutiert

14.06.2019

Nein, eine Spende muss freiwillig bleiben

sagt Christa Roth

Seit April ist die vom Bundestag beschlossene zweite gesetzliche Änderung des Transplantationsgesetzes
– die Verbesserung der Zusammenarbeit und der Strukturen bei der Organspende (GZSO) – rechtskräftig.
Krankenhäuser erhalten mehr Zeit und Geld für Transplantationen. Und bei knapp 10.000 Patienten in
Deutschland steigt die Hoffnung, nicht mehr lange auf ein Spenderorgan warten zu müssen.

Geht es nach Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), kommt dieses Jahr aber noch eine weitere
Gesetzesanpassung: Ihr zufolge sollen künftig alle Bürger potenzielle Organspender sein, solange sie
selbst oder ihre nächsten Angehörigen nicht widersprechen. Befürworter erhoffen sich durch
diese „doppelte Widerspruchslösung“ kürzere Wartezeiten auf Organe. Kritiker dagegen sorgen sich, im
Todesfall zu einem Ersatzteillager gemacht zu werden. Und das nicht zu Unrecht.

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Die Kampagnen zum neuen Gesetz informieren, klären aber nicht auf

2018 wurden in Deutschland 955 Menschen postmortal Organe entnommen. Damit ist die Zahl der
Spender erstmals seit Jahren gestiegen, so die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO), die jede
Organspende in Deutschland koordiniert. Für die Vermittlung von Spenderorganen in einem Verbund aus
acht europäischen Ländern ist dann die Stiftung Eurotransplant zuständig. 2017 kamen auf eine Million
Einwohner lediglich 9,7 Organspender. Damit gehört Deutschland zu den Schlusslichtern in Europa.
Spanien, wo die Widerspruchslösung gilt, ist mit 46,9 Organspendern auf eine Million Einwohner
Spitzenreiter. Anders als in Deutschland, wo der Hirntod Bedingung für eine Organentnahme ist, können
in Spanien auch Menschen Organe entnommen werden, deren Herz gerade erst aufgehört hat zu schlagen.
Doch ein Herzstillstand ist kein sicheres Todeszeichen, und es kommt immer wieder vor, dass Menschen
nach einer Reanimation wieder die Augen aufschlagen.

Bislang konnte in Deutschland nur Spender werden, wer dem Eingriff nachweislich zugestimmt hat. Es
gibt jedoch kein Register, das den persönlichen Entschluss festhält. Erkennbar macht man sich zum
Beispiel durch das Mitführen eines Dokuments oder durch eine Patientenverfügung. Einer Umfrage der
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zufolge heißen 84 Prozent der Deutschen eine
Organspende prinzipiell gut. Aber nur 36 Prozent besitzen einen Organspendeausweis, aus dem ihre
Position hervorgeht.

Woher kommt diese Diskrepanz? Vernachlässigen viele einfach, sich um einen Organspendeausweis zu
kümmern? Oder sind sie sich zu unsicher, um eine Entscheidung zu treffen? Die Widerspruchslösung
führe dazu, „einmal im Leben“ aktiv darüber nachzudenken, sagt Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die
neue Gesetzeslage sei nur „ein Zwang, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen“, behauptet Spahn –
keine Zwangsabgabe. Beide ignorieren, dass Zugang und Aneignung des dafür notwendigen medizinischen
Wissens weiterhin jedem selbst überlassen bleiben. Organspende-Kampagnen informieren zwar, gehen
aber längst nicht auf alle Argumente ein und bieten deshalb keine umfassende, ergebnisoffene Aufklärung.

Nur Zwangssysteme schreiben vor, wann und wie wir uns mit unserem Sterben zu beschäftigen haben

Leider scheint eine bessere gesellschaftliche Auseinandersetzung bislang nicht Teil der vorgesehenen
Gesetzesanpassungen zu sein und wird – im Gegensatz zum Deutschen Ethikrat – etwa von der DSO auch
nicht gefordert. Allerdings sieht die den Grund für niedrige Organspendezahlen nicht in der vermeintlich
mangelnden Spendenbereitschaft. Ursächlich seien vielmehr die problematischen Abläufe in den
Entnahmekliniken. Mögliche Spender zu erkennen, Meldung bei der DSO zu erstatten und alles für eine
Transplantation vorzubereiten bedeutet einen Mehraufwand, den manches Krankenhaus scheut. Das
bestätigen Untersuchungen der Universitäten Kiel und Jena.

Der Forderung vieler Ärzte, dieses organisatorische Defizit mit finanzieller Unterstützung durch die
Politik zu beheben, um so die Zahl der gespendeten Organe erheblich zu steigern, trägt das GZSO bereits
Rechnung. Wozu dann noch die Aufhebung der Zustimmungspflicht?

Ein unterlassener Widerspruch darf nicht als Zuspruch gewertet werden. Eine Entscheidung in dieser
persönlichen Frage sollte nicht getroffen werden müssen, sondern – genauso wie die Spende selbst – auf
freiwilliger Basis jedes Einzelnen geschehen. So wie kein Mensch das Recht auf eine Organspende hat, so
darf sich dieses auch der Staat nicht mittels Gewaltmonopol konstruieren. Vorzuschreiben, wann und auf
welche Weise man sich mit dem eigenen Sterben zu beschäftigen hat, entspricht einem Zwangssystem, das
auch dann abzulehnen ist, wenn andere Staaten es praktizieren. Zumindest so lange, bis eine
Volksbefragung zur Widerspruchsregelung den zustimmenden Konsens der Bevölkerung anzeigt. Aber die
scheint – übrigens im Gegensatz zum Hirntod-Konzept – momentan tabu.

Christa Roth arbeitet als freie Journalistin und hat mit schwer kranken Familienmitgliedern und Freunden
schon viel Zeit in Krankenhäusern verbracht. Seit 2015 besitzt sie eine Patientenverfügung.

Ja, Leben retten geht über Bequemlichkeit

findet Ralf Pauli

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Das beste Argument für eine Neuregelung der Organspende ist zugleich das drängendste: Etwa 9.500
schwer kranke Menschen warten derzeit in Deutschland auf mindestens ein funktionsfähiges Organ. Ob
Herz, Lunge oder Niere – hierzulande werden viel zu wenig lebensrettende Organe gespendet. Im
vergangenen Jahr waren es 3.113– gerade mal ein Drittel der benötigten Anzahl. Oder anders formuliert:
Steigt die Zahl der Spenderinnen und Spender nicht sprunghaft an, würde es rein rechnerisch rund drei
Jahre dauern, um allein die momentan Wartenden zu versorgen. Für viele Betroffene ist der
Versorgungsengpass jedoch fatal: Im Schnitt sterben alle zwei Tage fünf Menschen, die auf der Warteliste
für Spenderorgane stehen.

Das krasse Missverhältnis zwischen gespendeten und benötigten Organen zeigt, wie dringend der
Handlungsbedarf ist. Einen ersten Schritt hat Gesundheitsminister Jens Spahn bereits gemacht, indem er
den Krankenhäusern mehr Geld und mehr Fachpersonal für Organspenden zur Verfügung stellt. Nun muss
ein zweiter Schritt folgen, um auch die Spendebereitschaft der Bürgerinnen und Bürger zu erhöhen. Das
Kuriose ist: 84 Prozent der Deutschen halten Organspende für eine gute Sache. Die tatsächliche
Spenderquote spricht jedoch eine andere Sprache: Mit 11,5 Spendern pro einer Million Einwohner gehört
Deutschland europaweit zu den Schlusslichtern; zum Teil sind die Nachbarn drei bis vier Mal so
„spendabel“. Das hat einen einfachen Grund: die sogenannte Widerspruchslösung.

Die Lösung mit Spenderausweis klingt fair, krankt aber an Faulheit und Unentschlossenheit

In mittlerweile 21 der 28 EU-Ländergilt diese Regelung. Sie besagt: Wer nicht widerspricht, ist nach dem
Tod automatisch Organspender. Anders als in den meisten europäischen Ländern sollen in Deutschland
auch noch die Angehörigen befragt werden, wenn der Wille unklar ist (doppelte Widerspruchslösung). So
kommt Spanien etwa auf die Spitzenquote von 46,9 Spendern auf eine Million Einwohner. In Deutschland
ist die Gesetzeslage derzeit noch umgekehrt: Nur wer sich vor seinem Tod explizit mit der Organspende
einverstanden erklärt hat, dem dürfen nach dem Ableben Organe oder Gewebe entnommen werden.
Klingt nach einem fairen Verfahren, krankt aber an der Faulheit oder der Unentschlossenheit des
Einzelnen. Anders ist kaum zu erklären, warum nicht mal die Hälfte derer, die für Organspenden sind,
einen Organspenderausweis besitzt. Und das hat – überspitzt formuliert – zur Folge, dass die egoistische
Bequemlichkeit über dem lebensrettenden Gemeinwohl steht.

Zudem gibt es noch ein anderes Problem: Mit der aktuellen Regelung ist keineswegs sichergestellt, dass
der Wille des Verstorbenen tatsächlich befolgt wird. Finden Klinikärzte etwa keinen
Organspenderausweis im Portemonnaie – oder können oder wollen die Hinterbliebenen nicht umgehend
Auskunft über die Einstellung des Verstorbenen zur Organspende geben –, darf nicht operiert werden.
Protokolle von Angehörigengesprächen legen jedoch nahe, wie selten der Wille des Verstorbenen
tatsächlich bekannt ist. In den 326 Fällen vergangenes Jahr, in denen Hinterbliebene eine Organentnahme
verweigert haben, war bei gerade mal 41 Prozent der Verstorbenen die ablehnende Haltung gegen
Organspende bekannt. Bedenkt man, dass jeder Organspender theoretisch bis zu sieben Organe und dann
auch noch Gewebe wie Haut, Blutgefäße oder Knochen spenden kann, tut das ganz schön weh.

Von der Widerspruchslösung in Deutschland hätten Patienten in ganz Europa etwas

Mit der Widerspruchslösung würde sich das auf einen Schlag ändern, auch wenn manche die Regelung als
Zumutung begreifen. Wahr ist, dass sich jede Person, die Mitmenschen nach dem eigenen Tod keine
Organe zur Verfügung stellen möchte, dann aktiv eine entsprechende Notiz zum Beispiel in einer
zentralen, gesicherten Datenbankhinterlegen müsste. Dass damit aber schon das Prinzip der Freiwilligkeit
verletzt wäre, wie Gegner der Widerspruchslösung gerne anführen, ist Unsinn. Die neue Regelung zwingt
die Bürger ja nicht zur Organspende, nur zur aktiven Beschäftigung mit dem Thema. Und diese sollte eine
Regierung schließlich einfordern können, wenn sie einem gravierenden gesellschaftlichen Missstand
entgegentreten will – und auf die Anteilnahme in der Bevölkerung angewiesen ist.

Und schließlich spricht noch etwas für die Widerspruchslösung: Schon jetzt profitieren deutsche
Patientinnen und Patienten davon, dass diese Regelung in anderen europäischen Ländern Standard ist.
Schließlich arbeiten von Amsterdam bis Zagreb deutsche und ausländische Kliniken bei der Versorgung
mit gespendeten Organen zusammen. So konnten 3.264 Organe von verstorbenen Spenderinnen und
Spendern aus dem gesamten Eurotransplant-Raum in deutschen Kliniken transplantiert werden. Wer also

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die Widerspruchslösung befürwortet, ist nicht nur solidarisch mit seinen deutschen Mitbürgerinnen,
sondern auch mit den europäischen. Und das ist dieser Tage auch schon einiges wert.

Ralf Pauli ist Bildungsredakteur bei der taz und gerne bereit, sich nach dem Tod für das Wohl anderer
ausschlachten zu lassen. Solidarität stirbt nicht.

Sollten 16-Jährige wählen dürfen?


Unbedingt, fordert Pao Engelbrecht, nur so weckt man ihr politisches Interesse. Das schafft man auch
anders, ist Felix Riefer überzeugt. Zwei Autoren streiten

21.09.2017

PRO: Ja, politische Verantwortung muss früher erfahrbar sein

Wenn man unter 18-Jährigen das Gefühl gibt, dass sie die Wahlen nichts angehen, brauche man sich auch
nicht wundern, dass sie sich nicht für Politik interessieren, findet Pao Engelbrecht

Wer oder was soll das eigentlich sein, diese Volljährigkeit? Wenn man jede andere Altersgrenze für
willkürlich erklärt, muss man sich dann nicht auch fragen, ob die 18-Jahres-Grenze ebenso willkürlich
gezogen worden ist? Diese Grenze besteht zwar schon sehr lange, dennoch habe ich mich durch meinen
18. Geburtstag nicht plötzlich bereiter dazu gefühlt, Verantwortung zu übernehmen, als am Tag davor.
Schon klar, dass unser Rechtssystem eine solche Grenze erfordert. Es muss einen Stichtag geben. Aber
warum tun wir so, als ob die Volljährigkeit heilig wäre, und was hat sie mit dem Recht auf politische
Teilhabe zu tun? Jede Form der Grenzziehung ist willkürlich. Warum also nicht früher als bei 18 Jahren?

Als wären alle Erwachsenen vernünftig!

Begründungen, die man häufiger mal hört, lauten: Jugendliche seien weniger vernünftig, leicht
beeinflussbar und politisch desinteressiert. Außerdem könnten sie zu extremen Positionen neigen.
Abgesehen davon, dass ich diese Thesen fragwürdig finde: Seit wann sind dies Knock-out-Kriterien für ein
Grundrecht, nämlich das Recht zu wählen? Wenn dem so wäre, dann müsste man meiner Meinung nach
auch einem Donald Trump sein Wahlrecht entziehen, sein Amt natürlich erst recht. Aber dem ist nicht so:
Viele Menschen sind unvernünftig, beeinflussbar und so frustriert von der Politik, dass sie ihr Wahlrecht
gar nicht erst wahrnehmen. Trotzdem sind sie aus gutem Grund im Besitz dieses Rechts. Wie kann vor
diesem Hintergrund das angebliche Desinteresse vieler Jugendlicher ein Argument gegen ihre Teilnahme
an der Wahl sein?

Es könnte höchstens ein Argument dafür sein, ihnen das Wahlrecht endlich einzuräumen. Denn dann
würde politische Verantwortung für sie früher erfahrbar, sodass sie sich eher mit politischen Fragen
auseinandersetzen und ihre Möglichkeiten zur Teilhabe entdecken.

Auch, wenn manche Jugendliche vielleicht auf cool machen…

Bei meinen gelegentlichen Workshops zu politischer Bildung an Schulen ist mir aufgefallen, dass die
meisten Schülerinnen und Schüler mehr Interesse an politischen Themen haben, als es zunächst erscheint.
Anfängliche Coolness und scheinbares Desinteresse weichen häufig reger Teilnahme, sofern es gelingt,
einen Bezug zum Leben der Jugendlichen herzustellen. Wenn man aber unter 18-Jährigen das Gefühl gibt,
dass sie die Bundestagswahlen nichts angehen, wieso wundert man sich dann, dass sie sie nicht
interessieren?

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In einer alternden Gesellschaft, in der schon heute die über 65-Jährigen gut 21 Prozent der Bevölkerung
ausmachen, hat die Jugend immer weniger Einfluss auf politische Entscheidungen. Das ist fatal, da es bei
diesen Entscheidungen ja vor allem um die Zukunft eben jener jungen Menschen geht. Ältere Menschen
tendieren häufiger zu konservativen Positionen und stehen Wandel und Aufbruch kritischer gegenüber
als Jüngere. Wie sollen innovative, moderne Ideen eine Chance bekommen, wenn die Stimmen der Jungen
und Jugendlichen nur einen geringen Teil der Wahlberechtigten ausmachen? Hätte eine insgesamt jüngere
Wählerschaft auch für den Brexit gestimmt?

...lassen politische Diskussionen nur die allerwenigsten von ihnen kalt

Die Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl in Deutschland ist seit den 1970er-Jahren von 91,1 Prozent
auf zuletzt 71,5 Prozent gesunken. Wähler mobilisieren konnten in letzter Zeit vor allem Trump, die AfD
und Konsorten. Mag Macron bei der französischen Wählerschaft auch für genug Begeisterung gesorgt
haben, um die Präsidentschaft Le Pens zu verhindern – angesichts der weltweiten Tendenzen, sicher
geglaubte gesellschaftliche Errungenschaften (z.B. die EU, Obamacare oder Diskussionen auf Grundlage
von Fakten) infrage zu stellen, können wir uns nicht darauf verlassen, dass stets ein Macron zur Stelle sein
wird, um unsere Demokratie zu retten. Eine strukturelle Stärkung der Demokratie ist also essenziell.
Dafür ist es aus meiner Sicht eine gute Idee, Kindern und Jugendlichen früh den Zugang zur
demokratischen Gestaltung ihres Umfeldes zu eröffnen und ihnen zu zeigen, dass sie sowohl einen
Einfluss auf als auch eine Verantwortung für die Gesellschaft haben. Natürlich sind dazu auch andere
Veränderungen hilfreich. Wie wäre es zum Beispiel mit (mehr) direktem Mitspracherecht von
Schülerinnen und Schülern bei der Bildungspolitik? Ich sehe die frühe Konfrontation mit dem Recht zu
wählen als Ausdruck einer Haltung, die Jugendlichen Verantwortung zutraut und Einfluss zugesteht. Sie
ist nicht die Lösung aller Probleme unserer Demokratie, aber kann Teil einer positiven Entwicklung sein.

Schließlich geht es in den Entscheidungen oft unmittelbar um die eigene Zukunft

Die Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre als Teil eines gesamtgesellschaftlichen Prozesses, der
Minderjährige und Politik einander annähert, ist deshalb eine zeitgemäße Forderung, weil sowohl der
Gefahr von Politikverdrossenheit entgegengewirkt werden muss als auch der demografische Wandel eine
Stärkung der Positionen junger Menschen gegenüber denen der älteren erforderlich macht. Diese
Altersgrenze sollte jedoch keinen neuen, unumstößlichen Standard setzen, sondern eine Annäherung an
den Zeitpunkt in unserem Leben darstellen, zu dem wir politische Fragestellungen verstehen können.

(Illustration: Renke Brandt, Foto: privat)

Pao Engelbrecht studiert eigentlich Medizin und hat vor Kurzem sein Pflegepraktikum absolviert. Auch
darüber hat er hier schon geschrieben („Mein persönlicher Pflegenotstand“), weil er nämlich
studienbegleitend noch an einer zweiten Karriere als Journalist bastelt.

CONTRA: Nein – in dem Alter soll man sich in Ruhe ausprobieren

Und zwar ohne gleich weitreichende Konsequenzen nach sich zu ziehen, betont Felix
Riefer. Politische Beteiligungsformen für Jugendliche abseits von Wahlen gäbe es schließlich genug

Man kennt das aus den Hollywood-Streifen. Die Protagonisten in den Teeniefilmen sind nicht nur meist
nerdig und total verliebt in die Highschool-Schönheit, sie versuchen auch noch sich mit gefälschten
Ausweisen ein paar Bier zu besorgen. Für uns in Deutschland wirkt dieses angestrengte „Alk-Besorgen“
komisch – sind die nicht schon 16? Während einem sogleich in den Sinn kommt, dass in den meisten US-
amerikanischen Bundesstaaten der Konsum von Alkohol erst ab 21 erlaubt ist. Die Grenze wirkt
willkürlich und hoch. Und verleitete mich bereits im Teeniealter zu so mancher Diskussion ab wann es
denn sinnvoll sei, als volljährig zu gelten. Natürlich nicht ohne gewisse Schadenfreude gegenüber den
Highschool-Kids, denn Bier und Wein darf man bei uns schon ab einem Alter von 16 Jahren kaufen.

Ist diese sogenannte Volljährigkeit heilig? Was soll das überhaupt bedeuten? Und was hat das mit dem
Wahlalter zu tun?

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Selbstverständlich ist in einem demokratischen Rechtsstaat kaum ein Gesetz unverrückbar, unantastbar
und erst recht nicht heilig. Und tatsächlich wurde in der Bundesrepublik schon mal das
Volljährigkeitsalter gesenkt. Im März 1974 verabschiedete der Deutsche Bundestag mit großer Mehrheit
die Herabsetzung der Volljährigkeit von 21 auf 18 Jahre. Bereits 1970 schuf man mit der Absenkung der
Altersgrenze des aktiven Wahlrechts von 21 auf 18 Jahre hierfür die rechtliche Grundlage. Unter dem
damaligen Bundeskanzler Willy Brandt lief diese Politik unter dem Slogan „Wir wollen mehr Demokratie
wagen“.

Ist man mit 16 wirklich schon bereit für diese Verantwortung?

Ich hätte diesen Entschluss damals sicherlich unterstützt. Vieles war in der damaligen Bundesrepublik
verstaubt und insbesondere für junge Menschen einengend. Kein Wunder, dass sie rebellierten und die
Politik letztendlich reagieren musste. Heutzutage ist die Lebenswirklichkeit der meisten Jugendlichen in
Deutschland geprägt von immer verständnisvolleren Eltern. Auch der Staat versucht zunehmend
Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen sich jedes Individuum möglichst frei entfalten kann. Klassen-
und Konfessionsdenken sind flachen Hierarchien und Toleranz gewichen. Von einer Enge wie damals
kann heute kaum noch die Rede sein.

Es ist besser, sachte an das Thema Politik heranzuführen

So abgedroschen sich das Folgende auch anhören mag: Mit Rechten kommen Pflichten und somit
Verantwortung. Nicht zuletzt gibt es das aktive und das passive Wahlrecht. Aktiv bedeutet, dass ich am
Wahltag wahlberechtig bin und passiv, dass ich mich selbst zur Wahl aufstellen kann. Wie wäre es mit
einer/einem 16-jährigen Bundeskanzlerin oder Bundeskanzler? Während er oder sie noch die physischen
und psychischen Veränderungen der Endphase der Pubertät durchlebt, bestimmt er oder sie „die
Richtlinien der Politik“ unseres Landes. Spinnen wir noch ein wenig weiter. Es gibt schließlich auch
Forderungen nach einem Wahlrecht ab 14. Auf der anderen Seite können Beispiele von pubertärem
Verhalten in höchsten Staatsämtern freilich auch Erwachsene liefern.

Es hört sich zunächst überzeugend an, wenn Befürworter behaupten, dass man durch eine früher
erfahrbare politische Verantwortung, Jugendliche besser an Politik heranführen könne. Doch letztendlich
sollte es eben auch eine Heranführung sein. Eine Phase des Übergangs. Vom Jugendlichen zum
Erwachsenen. Dabei ist eine Auseinandersetzung mit politischen Fragen ohnehin auch dann schon
jederzeit möglich. Eine Vielzahl von Jugendorganisationen – nicht zuletzt der einzelnen politischen
Parteien – sucht immer nach engagierten Mitgliedern.

In Jugendbeiräten ist das eigene Handeln schneller erfahrbar als beim Urnengang

Im Übrigen gibt es bereits repräsentativ-parlamentarische Beteiligungsformen für Kinder und


Jugendliche. In sogenannten Jugendbeiräten oder Jugendgemeinderäten können sich – je nach Bundesland
– Kinder und Jugendliche von 12 bzw. 14 bis 21 Jahren kommunalpolitisch beteiligen, ihre Positionen
einbringen und eigene Projekte initiieren. Den Anfang machte Frankreich 1979. Seit den 1980er-Jahren
gibt es im ganzen Land Kinder- und Jugendparlamente, sogenannte: „conseils d’enfants et de jeunes“.
Belgien folgte 1987 mit dem Jugendparlament in Waremme. Seither setzte sich auch in der
Bundesrepublik sowie in weiteren europäischen Staaten wie Finnland oder Österreich diese Form der
Beteiligung von Jugendlichen und Kindern zunehmend durch. Je nach Bundesland existieren verschiedene
Konzepte der Jugendbeiräte. Nicht zuletzt ist etwa in diesen Jugendbeiräten oder in einer
Jugendorganisation der eigene Input schneller und sichtbarer erfahrbar als beim Gang zur Wahlurne.

Zwar finden progressive Projekte und Gedanken wie die europäische Integration besonders bei jungen
Menschen Anklang. Jedoch zeigt gerade das Brexit-Referendum, dass vor allem die jungen Menschen am
Abstimmungstag zu Hause geblieben sind. Erst nach der Abstimmung machte man seinem Ärger durch
Demonstrationen und in den sozialen Netzwerken Luft. Fakt bleibt auch, dass man sich in diesem
Übergangsalter schlicht ausprobieren möchte. Dabei macht man den einen oder anderen Fehler, der
durchaus auch juristische Konsequenzen haben kann. Vielleicht ist es gar nicht so verkehrt, wenn es eine
Zeit im Leben gibt, in der man zwar schon vieles überblickt, aber eben noch in der Entwicklung ist. Sich
mit politischen Themen auseinandersetzen kann man auch dann. Gerne auch nüchtern.

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Sollten wir Bargeld abschaffen?

Unbedingt, findet Bernhard Hiergeist – es nervt und erleichtert kriminelle Geschäfte. Theresa Hein
argumentiert dagegen: Bargeld ist unser letzter Freiraum im Kapitalismus

07.12.2017

Pro: Bargeld nervt und ist veraltet

Ökonomen können bestens über Bargeld streiten. Für die Verbraucher spielt das keine Rolle. Wir sollten uns
von der Bargeld-Romantik lösen

Mit Bargeld lässt sich einiges anstellen. Und was machen die Deutschen? Sie sparen! Bargeld! Carl-Ludwig
Thiele vom Vorstand der Deutschen Bundesbank sagte in einem Interview mit dem „Tagesspiegel“. Nur
etwa zehn Prozent des von der Bundesbank ausgegebenen Bargeldes werde zum Bezahlen genutzt. Der
Rest wird gehortet.

Menschen bunkern Bargeld, anstatt damit für Güter oder Services zu bezahlen. Und trotzdem existiert ein
dichtes Netz an Geldautomaten, eine Branche aus Sicherheitsdiensten und Unternehmen für
Geldtransporte kümmert sich darum, etwas von A nach B zu schaffen, das dann ungenutzt rumliegt.

Münzen und Scheine sind lästig

Wer braucht eigentlich noch Bargeld? Über Jahrtausende hat es Tauschgeschäfte einfacher gemacht.
Heute sind Münzen und Scheine oft nur noch lästig. Die Suche nach dem Geldautomaten, Horden von
Rotgeld im Geldbeutel – das ist unpraktisch und sollte verschwinden. Nicht von heute auf morgen, aber
schrittweise. Und wenn es weg ist, wird es niemand vermissen.

„Es steht außer Frage, dass Bargeld eine wesentliche Rolle bei einer großen Bandbreite krimineller
Aktivitäten spielt“, so argumentiert der US-amerikanische Ökonom Kenneth Rogoff in seinem Buch „Der
Fluch des Geldes“ (englisch: „The Curse of Cash“). Bei Drogenhandel, Menschenhandel oder Geldwäsche.
Unter die kriminellen Aktivitäten fällt aber auch, wenn jemand einen Babysitter oder eine Mechanikerin
schwarz bezahlt, um Steuern zu vermeiden. Vor allem große Scheine würden häufiger für illegale als für
legale Transaktionen verwendet, schreibt Rogoff. Die Europäische Zentralbank gibt deswegen ab Ende
2018 keine neuen 500-Euro-Scheine mehr aus.

„The War on Cash“

Über diese und andere Argumente aus dem Abschaffer-Lager streiten Ökonomen heftig. Die Bundesbank
etwa bekennt sich zum Bargeld, hält Veranstaltungen zum „War on Cash“ ab. Man beeinflusse die
Bevölkerung nicht dabei, wie sie bezahle, sagte ein Vertreter auf einer der Konferenzen. Die Angelegenheit
ist kompliziert, natürlich. Aber der technische Streit um Geldmengen und Zinsen kümmert Verbraucher
wenig. Wer eine Mahlzeit oder einen Schraubenzieher kauft, dekliniert vor dem Bezahlen nicht
geldpolitische Positionen durch und entscheidet dann, ob er Schein oder Kreditkarte aus dem Geldbeutel
nimmt. Maßgeblich beim Bezahlen ist, wie schnell es geht. Noch dauert das Zahlen mit EC-Karte in
Deutschland stellenweise recht lange. Irgendwann wird es das nicht mehr. Wieso sollte man dann am
Münzfach nesteln, wenn es mit der Karte in drei Sekunden klappt?

Verbraucher sind bequem. Das ist auch der Grund, warum die Digitalisierung vieles so schnell verändert
hat. Warum den Pizzalieferdienst anrufen, wenn er mit einem Klick viel schneller verständigt ist? Wegen
Netflix muss niemand das Haus mehr verlassen, um zur Videothek zu gehen. Und Spotify, Apple-Music und
Co. lassen einen simpel nach Musik suchen. All das hat gravierende Folgen, nicht nur gute. Aber was
praktisch ist, setzt sich eben durch.

16
Endlich keine Münzen mehr!

Warum sollte es beim Bargeld anders sein? Wohin zum nächsten Automaten, wohin mit all den Münzen?
Darüber müsste sich niemand mehr Gedanken machen. Und die nötige Infrastruktur für das bargeldlose
Bezahlen ist sogar schon da: Smartphones und Lesegeräte. Von letzteren müsste man noch ein paar
anschaffen, damit man, wie etwa in Skandinavien, auf dem Markt eine Zwiebel oder die Spende in der
Kirche mit Karte zahlen kann. Kleine und mittlere Beträge lassen sich über Apps von einem Smartphone
aufs nächste verschieben, auch auf das Handy eines Bettlers etwa. In Schweden nutzte einer Umfrage
zufolge schon vor zwei Jahren die Hälfte aller Menschen die App Swish, mit der genau das möglich
ist. Sorge um die eigene Privatsphäre ist da natürlich gerechtfertigt. Auch legale Absichten kann man ja
manchmal geheim zahlen wollen. Hier wären die Karten- und App-Anbieter gefragt, entsprechende
Möglichkeiten zu schaffen. Es spricht nichts dagegen, dass etwa Smartphones in Zukunft besser
verschlüsselt sind als heute.

Das stärkste Argument der Bargeld-Befürworter ist ein emotionales: die Bargeld-Romantik. Was war das
früher schön, die erste Mark fürs Rasenmähen in Händen zu halten und davon Eis zu kaufen. Nur mit
Barem lernten Kinder den Umgang mit Geld, heißt es, und sie würden erkennen, was Wert hat und was
nicht. Aber Erziehung lässt sich nicht nur mit Bargeld machen, die ist immer noch Sache der Eltern.

Erziehung geht auch ohne echte Scheine

Mit Geld umzugehen, das lernen Kinder auch ohne Bargeld. Sie haben ein Konto oder ein Guthaben in
einer App – damit können sie immer noch die Kugel Eis bezahlen. Und wenn sie das wollen, können sie ihr
Geld auch sparen. Oder es in Aktien, Wertpapieren oder einem Moped anlegen, falls sie Bedenken haben,
dass die Inflation die Ersparnisse auf dem Konto auffrisst. Den Umweg über das Bargeld braucht es dazu
nicht.

Bernhard Hiergeist ist freier Journalist aus München. Von allen Figuren seiner Kindheit war ihm Dagobert
Duck am fremdesten. Schließlich hat der mit dem Drang, Münzen in einem Geldspeicher zu horten,
Entenhausen wirtschaftlich ausbluten lassen. Davon liest man aber in den Lustigen Taschenbüchern nie
etwas.

Collagen: Renke Brandt

Contra: Wir brauchen unsere Scheine

Bargeld ist weit mehr als lästiges Papier. Es ist unsere einzige Möglichkeit, in einer digitalen Welt unsere
Privatsphäre zu wahren, meint Theresa Hein. Deswegen müssen wir es schützen

Als ich klein war, drückte mir mein Vater am Strand in Italien einen 2.000-Lire-Schein in die Hand. Mein
Bruder und ich waren fasziniert, dass man für 2.000 Lire gerade mal zwei Kugeln Eis bekam. Trotzdem
war es toll, Geld in der Hand zu haben und nach einer Entscheidung in etwas umzutauschen. Und auch als
der Euro kam und die Faszination für fremdes Geld verschwand, blieb doch der beeindruckende Moment,
ein Stück Papier gegen etwas – für uns damals – viel Besseres einzutauschen: den Geschmack von
Stracciatella, Pistazie oder Tiramisu.

Die Diskussion, in der es darum geht, Bargeld abzuschaffen, wird von den Bargeld-Liebhabern meist so
sentimental geführt, wie dieser Text begonnen hat. Der Deutsche sei eben ein Sparfuchs und genieße das
Gefühl, sofort zu wissen, was er für sein Geld bekommt. Genauso wie ich damals als Kind am Adriastrand.
Andersherum verwenden die Bargeld-Gegner häufig das Argument, es sei so altmodisch, sich an Bargeld
zu klammern. Dabei ist es alles andere als verstaubt und schon gar nicht sentimental: Wenn wir
weitsichtig und eigenverantwortlich in die Zukunft gehen wollen, müssen wir am Bargeld festhalten.

Von der Abschaffung profitieren die falschen

Von der Abschaffung des Bargeldes profitieren nicht nur Kreditinstitute, die mit jeder bargeldlosen
Zahlung Gebühren verdienen, sondern auch die großen Notenbanken, die keine Geldscheine und -münzen

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mehr ausgeben müssen und auch das Geld, das ich eben nicht mehr abheben kann, verzinsen können, wie
sie wollen. Aber mir bringt das nichts. Im Gegenteil: Ich will weiterhin mein Geld für die nächste große
Urlaubsreise sparen können und nicht gezwungen sein, es schnell auszugeben – das könnte nämlich
passieren, wenn das Bargeld verschwindet. Zumindest wenn wir nicht wollen, dass unser Geld auf dem
Konto nicht nur nicht mehr wird – sondern sogar weniger. Was sich noch abstrakt anhört, könnte die
Konsumenten schon bald ganz praktisch treffen. Jedes Kind lernt, dass man heute weniger Zinsen auf sein
Geld bekommt als früher und dass Sparen eigentlich „nichts bringt“. Unsere Großeltern und Eltern haben
ihr Geld besonders lange auf dem Konto aufgehoben, es hat sich sozusagen von selbst vermehrt. Aber
neben den Niedrigzinsen, wie wir sie heute kennen, könnte es auch Negativzinsen geben. Vielfach gibt es
die sogar schon, oft werden sie nur gut versteckt, zum Beispiel in Form von Kontoführungsgebühren.

Negativzinsen würden für mein Konto bedeuten, dass ich möglichst schnell mein Geld ausgeben sollte,
damit ich nicht draufzahle. Wir könnten unser Geld auch nicht mehr klassisch auf dem Sparbuch anlegen,
weil es da weniger würde – und abheben könnten wir es auch nicht mehr. Wer sein Geld sogar vermehren
will, müsste mehr Risiko eingehen und zum Beispiel Edelmetalle, Aktien oder Staatsanleihen kaufen. Ich
bin zwar keine misstrauische Eigenbrötlerin, die gerne einen Sparstrumpf zu Hause hat, weil sie den
Banken nicht vertraut und das Geld „zu Hause besser aufgehoben“ ist. Aber wie alle Menschen habe ich
gern in der Hand, wann ich mich entscheide, mein erspartes Geld auszugeben, und will das nicht
notgedrungen tun, weil die Wirtschaft mich dazu nötigt.

Überhaupt, der Zwang. Schon jetzt gibt es Discounter wie Netto, die Kunden, die bargeldlos zahlen, die
Möglichkeit bieten, automatisch Coupons einzulösen und damit Geld zu sparen. Wer von diesen
Angeboten profitiert, befördert eine Zweiklassengesellschaft: Vorteile hat nur, wer seine Daten
bereitwillig abgibt. Denn meistens erklärt man sich, wenn man nicht ablehnt, mit irgendeiner Form der
Datenspeicherung einverstanden. Händler erstellen Kundenprofile, ohne dass uns dies mitgeteilt wird.

Diesen Freiraum dürfen wir nicht aufgeben

Die Sammlung von Zahlungsdaten hat noch weitreichendere Folgen als die der Adresse oder des
Standorts. Und das sind selten positive Folgen: Es kann nicht gut sein, wenn unsere Versicherungen
wissen, wie viel Geld ich Freitagabend in einer Kneipe ausgebe und wie viel Bier ich vertrage; wie viele
Zigaretten mein Arbeitskollege raucht. Und es geht den zukünftigen Arbeitgeber nichts an, wer wann
verhütet und wann beschließt, ein Kind zu bekommen. Wir wissen nicht, was mit unseren Daten schon
jetzt oder in Zukunft gemacht wird. Was wir wissen, ist: Sie werden gesammelt. Jede Sammlung kann
weiterverkauft oder, noch schlimmer, gestohlen werden.

Mit dem Verzicht auf Bargeld geben wir nicht nur Standort und Kontaktdaten freiwillig an Unternehmen
ab, wie wir es jetzt schon häufig tun. Wir geben zusätzlich noch unser Wesen, unsere Persönlichkeit,
unsere privaten Entscheidungen preis. Und meist ist die Kartenzahlung doch nur – das fällt mir auch bei
mir selbst auf – eine Bequemlichkeit, weil wir vergessen haben, Geld abzuheben.

Bargeld ist der letzte Freiraum des Menschen im Kapitalismus, den wir einteilen, aus- und weitergeben
können, wann und für was wir möchten, den niemand überwacht. Zumindest nicht bei kleineren Beträgen.
Bei einer Barzahlung über 10.000 Euro muss man sich auch heute schon ausweisen. Alles darunter bleibt
aber anonym. Diesen Freiraum dürfen wir nicht aufgeben.

Theresa Hein hat Angst vor dem Tag, an dem irgendein Arzt zu ihr sagt: „Wir können Sie leider nicht
behandeln, Ihre Krankenkasse hat uns die Menge an Schokolade, die sie täglich verzehren, übermittelt. Sie
haben eh nur noch einen Tag zu leben.”

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Kann ein Gesetz gegen Hass im Netz helfen?
Seit Anfang des Jahres sind Facebook, Twitter & Co. gesetzlich dazu verpflichtet,
rechtswidrige Inhalte innerhalb kurzer Zeit zu löschen. Unsere Autorinnen streiten darüber,
ob das wirklich helfen wird
Julia Krüger und Theresa Martus
 18.01.2018

o Internet
 10 Min.

JA: Es ist richtig, dass die Plattform-Betreiber in die Pflicht genommen werden, findet Julia
Krüger

„Gemeinsam gegen Hass im Netz!“ – mit dieser Devise startete Bundesjustizminister Heiko Maas vor zwei
Jahren eine Initiative gegen Hate Speech in sozialen Netzwerken. Das war ein wichtiger und richtiger Schritt.
Die Politik wollte nicht länger zusehen, wie Menschen aufgrund ihrer Herkunft, Hautfarbe, ihres Geschlechts,
ihrer sexuellen Orientierung, körperlichen Einschränkungen oder Religion angegriffen werden. Ob in
Kommentaren, Bildern oder Videos – im Netz wimmelt es von Inhalten, die Diskriminierung fördern,
rechtfertigen oder dazu anstiften.

Hate Speech vergiftet nicht nur die Kommunikation im Netz

Seit 2015, als besonders viele Asylbewerber nach Deutschland kamen, hat der Hass im Netz stark zugenommen.
Verbaler Hass auf Facebook korreliert mit der Anzahl an körperlichen Angriffen auf Flüchtlinge, berichtete die
britische Zeitung „The Economist“ kürzlich. Verbaler Hass ist zum Teil strafbar, etwa im Falle von
Volksverhetzung, Bedrohung oder Beleidigung. Cybermobbing zerstört die Kommunikation im Netz, doch dabei
bleibt es oft nicht. Egal ob nun strafbar oder in der Grauzone der Meinungsfreiheit: Hate Speech kann laut
Forschung schlimme Folgen haben, psychisch und unter Umständen sogar physisch. Betroffene sollen etwa
unter Kopfschmerzen und erhöhtem Blutdruck leiden. Auch Aggressivität, Angstzustände und Suizid sind
möglich. Das Schlimmste daran ist: Hate Speech wird ganz gezielt als verbale Waffe eingesetzt. Etwa um
Aktivisten einzuschüchtern, um Gleichgesinnte zu finden oder schlichtweg, um Hass und Hetze in der
Gesellschaft zu verbreiten.

Kritiker sind Sturm gelaufen gegen dieses Gesetz

Die Initiative gegen Hass im Netz hat nun das sogenannte Netzwerkdurchsetzungsgesetz (kurz: NetzDG)
hervorgebracht. Es besagt, dass die großen sozialen Netzwerke – etwa Youtube, Facebook und Twitter –
strafbare Inhalte nach Meldung einzelner Nutzer prüfen und gegebenenfalls löschen müssen, offensichtlich
Rechtswidriges innerhalb von 24 Stunden, andere zweifelhafte Beiträge innerhalb einer Woche. Andernfalls
drohen hohe Geldstrafen. Kritiker sind Sturm gelaufen gegen dieses Gesetz. Sie haben Angst, dass die sozialen
Netzwerke nicht ordentlich prüfen und im Zweifel mehr löschen, als sie müssten. Oder dass rechtspopulistische
Akteure das Meldesystem missbrauchen, um legale Inhalte von politischen Gegnern löschen zu lassen. Sie
kritisieren auch, dass das Gesetz darauf ausgelegt ist, Hassbotschaften zu löschen, aber nicht darauf, die Täter
strafrechtlich zu verfolgen. Was ist also das Gute an der Sache?

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Die sozialen Netzwerke haben das Thema Hass im Netz lange ignoriert. Ordentliche Verfahren, um mit
Beschwerden umzugehen, gab es nicht, obwohl Twitter, Facebook und Google sich gegenüber der
Bundesregierung selbst dazu verpflichtet hatten. Deshalb überhaupt die staatliche Regelung. Mit dem
Gesetzgebungsverfahren hat ein Prozess begonnen, der zu einem Austausch zwischen den Plattformen,
Politikern und Betroffenen geführt hat. Der das Problem der Öffentlichkeit bekannt gemacht hat. Und: der
zahlreiche Initiativen ins Leben gerufen hat, die rechtspopulistischen Medienprovokationen Kreatives entgegnen.
Dazu gehören auch Netzwerke, in denen Menschen sich im Falle von Angriffen gegenseitig unterstützen: wie
zum Beispiel die Facebook-Gruppe #Ichbinhier.

Endlich haben Betroffene eine effektive Möglichkeit, sich zu beschweren

Das NetzDG ist sicherlich nicht die Lösung, aber immerhin ein Lösungsansatz, der verbessert werden kann. Der
Gesetzgeber muss den Rahmen vorgeben, um gegen Hate Speech vorzugehen. Betroffene haben nun eine
Adresse, an die sie sich bei Vorfällen wenden können. Denn bisher haben die Plattformbetreiber nur äußerst
zögerlich auf Meldungen und Beschwerden reagiert. In seiner jetzigen Fassung übersieht das NetzDG aber etwas
Wichtiges: Es sind nicht nur einzelne Nutzer, die Hass und Hetze im Internet verbreiten, sondern auch die
Algorithmen. Die Filtermechanismen der sozialen Netzwerke – der Newsfeed bei Facebook oder die
Empfehlungen bei Youtube – verstärken das, was die einzelnen Nutzer schon kennen und mögen. Die
sogenannte Filterblase führt dazu, dass Menschen sich gut informiert fühlen, egal wie unvollständig oder falsch
die Informationen sind. Und weil sie sich gut informiert fühlen, sind sie motivierter, ihren Überzeugungen
gemäß zu handeln. Die Filterblasen führen also zu einer Polarisierung und Radikalisierung der Gesellschaft zu
immer mehr Hass und Hetze, an denen das Löschen einzelner Tweets, Posts oder Comments im Zweifelsfall
wenig ausrichten kann. Und die den wenigsten bewusst ist. Hier gilt es, Transparenz einzufordern für die Art und
Weise, wie die sozialen Netzwerke gesellschaftliche Diskurse beeinflussen. Denn ansonsten droht den Menschen
tatsächlich Manipulation und Kontrolle. Sie wissen nur nicht, wer sie da manipuliert und warum.

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Julia Krüger ist Autorin bei netzpolitik.org und Fellow am Center for Internet & Human Rights (Europa-
Universität Viadrina, Frankfurt/ Oder). Sie beschäftigt sich mit rechtlichen, technischen und politischen
Aspekten der Digitalisierung. Wie können wir Netzinhalte und Algorithmen regulieren? Diese Frage stellt sie
sich im Moment besonders oft.
NEIN: Das NetzDG hat eine wichtige Aufgabe schlecht erledigt, entgegnet Theresa Martus

Man kann seine Filterblase noch so fein justiert haben, die Freundes-, Follow- und Blocklisten auf Facebook und
Twitter noch so genau austarieren – manchmal erreicht es einen doch. Dann schwappt der ganze Hass, der in
einigen Ecken des Internets zu finden ist, über Umwege in die eigene Online-Welt, und man möchte sich
schütteln. Weil da Leute jubeln, wenn Flüchtlingsboote untergehen, weil Menschen anderen, die sich für
Flüchtlinge einsetzen, für dieses Engagement Vergewaltigung und Tod an den Hals wünschen, weil da „Witze“
gerissen werden von einer Abgestumpftheit und Grausamkeit, dass es einem den Atem verschlägt. Man muss
kein Justizminister sein und auch nicht besonders zart besaitet, um sich zu wünschen, dass so etwas aus sozialen

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Netzwerken verschwindet. All dies ist ekelhaft und menschenverachtend. Einiges ist außerdem sicherlich
rechtswidrig.

Aber wo verläuft die Grenze? Was ist noch Meinung, was schon Straftat?

Diese Fragen sind zu wichtig: Sie dürfen nicht an Twitter, Facebook und Konsorten delegiert werden. Aber
genau das tut das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG). Laut dem Gesetz, das seit dem 1. Januar
vollumfänglich gilt, müssen soziale Netzwerke rechtswidrige Beiträge auf ihren Seiten innerhalb von sieben
Tagen löschen, nachdem sie ihnen gemeldet wurden. Es sei denn, die Beiträge sind „offensichtlich
rechtswidrig“, dann muss das sogar innerhalb von 24 Stunden geschehen. Was unterscheidet diese Kategorien?
Und wer trifft letztendlich die Entscheidung, was gelöscht wird und was nicht? Muss dieser Mensch juristisch
qualifiziert sein? Muss das überhaupt ein Mensch sein?

Das Gesetz legt sich da nicht fest. Nur „wirksam und transparent“ müsse das Verfahren sein, heißt es im Text.
Das ist nicht nur unpräzise, sondern legt auch sehr viel Verantwortung in die Hände von Unternehmen, die sich
bisher nicht gerade mit Transparenz einen Namen gemacht haben – oder damit, dass sie sich für konstruktive
politische Auseinandersetzung interessieren.

Zu viel zu löschen ist für die Plattformen besser als zu wenig zu löschen

Die Netzwerke werden deswegen auch kein Problem damit haben, im Zweifel lieber zu viel zu löschen als zu
wenig. Schließlich drohen ihnen hohe Geldbußen, wenn sie systematisch gegen das Gesetz verstoßen. Dass vor
diesem Hintergrund auch Beiträge verschwinden können, die offensichtlich Satire waren, wie vom „Titanic“-
Magazin oder von Komikerin Sophie Passmann, haben die ersten Tage unter dem NetzDG gezeigt.

Nun sind ein paar Witze, die auf Twitter nicht mehr zu lesen sind, noch nicht das Ende der Debattenkultur in
Deutschland. Aber die Fehlschläge in der Regulierung durch das NetzDG sind Wasser auf die Mühlen
derjenigen, die ohnehin nie wollten, dass Straftaten wie Volksverhetzung und Beleidigung online verfolgt
werden. Die AfD redet von Zensur, die sozialen Netzwerke freuen sich über eine breite Opposition gegen ein
Gesetz, das sie sowieso nie wollten. Und Bundesjustizminister Heiko Maas? Verteidigt sein Projekt und tut, als
gäbe es die Probleme nicht, die die Kritiker ansprechen, vom Deutschen Journalisten-Verband bis zum Digital-
Branchenverband Bitkom.

Ein Gesetz, das es de facto Konzernen überlässt, die Grenzen der Meinungsfreiheit zu definieren, ist ein
schlechtes Gesetz – egal wie gut es gemeint war. Dabei brauchen wir dringend eine Lösung gegen den Hass und
die Hetze, die sich online so viel schneller verbreiten als über klassische Medien. Doch mit dem NetzDG sind
wir davon weiter entfernt als zuvor: Jede Debatte, die in Zukunft darüber geführt wird, welche Regeln im Netz
für freie Rede gelten sollen, wird davon geprägt sein, wie unzulänglich dieser Versuch war. Dieser Schaden ist
schwer wiedergutzumachen.

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Wir können selber aktiv gegen Hass im Netz anschreiben

Und als wäre das alles nicht genug, sieht es aus, als würde das NetzDG nicht einmal seine ursprüngliche
Aufgabe erfüllen. Das legt jedenfalls ein Test des Bayerischen Rundfunks nahe. Von der Redaktion gemeldete
Kommentare wurden von Twitter gar nicht und von Facebook nur teilweise gelöscht, obwohl sie laut BR
gewaltverherrlichende Inhalte zeigen, die nach deutschem Recht womöglich strafbar sind.
Bis es eine sinnvolle, funktionierende gesetzliche Regelung für den Umgang mit Hasskommentaren gibt, müssen
Nutzer selbst aktiver werden. Denn dass Hasskommentare nicht verschwinden, nur weil man sich das wünscht,
heißt nicht, dass man sie einfach aushalten muss. Wir können dagegen mit eigenen Kommentaren anschreiben,
Menschenverachtung nicht einfach unwidersprochen stehen lassen und solidarisch sein mit Opfern von
Hetzkampagnen. Wir können klarmachen, dass Hass nicht erwünscht ist – ob nun gerade noch von der
Meinungsfreiheit gedeckt oder nicht.

Theresa Martus schreibt für die Zeitungen der Funke Mediengruppe über Politik. Sie findet gut, dass man auf
Twitter so viele unterschiedliche Meinungen lesen kann, aber noch besser findet sie lustige Gifs.

Sollen Öffis für alle kostenlos sein?


Die Bundesregierung will kostenlosen Nahverkehr testen. Die betroffenen Städte sind gar nicht begeistert
– und unsere Autorinnen sich uneinig. Ein Streit

06.03.2018

Nein: Das bringt der Luft eh nichts

Der Vorschlag ist verlogen und wird der Luftreinhaltung in den Städten kaum etwas bringen, glaubt Theresa
Hein

Die Idee eines kostenlosen öffentlichen Nahverkehrs erreichte mich in einer Münchner U-Bahn, nach
Feierabend, in Form einer Push-Nachricht auf meinem Smartphone. Ich rechnete mir gerade aus, wie viel
Geld ich mir im Jahr sparen würde, als ich von einem fremden Bauch an eine fremde Hüfte gepresst
wurde. Gleichzeitig schmiegte ich selbst ungewollt alle möglichen Körperteile an meine Mitfahrer und
schaltete routinemäßig, wie jeden Feierabend in der U-Bahn, mein Schambefinden aus.

Jede kleinste Verspätung eines Zuges sind in Großstädten jetzt schon eine mittelschwere
Katastrophe

Ziel der Idee eines kostenlosen Nahverkehrs ist, dass möglichst viele Menschen von ihren privaten PKWs
auf den öffentlichen Nahverkehr umsteigen. Das mag in Kleinstädten, wie Herrenberg in Baden-
Württemberg (einer Stadt, die als Modellstadt auserkoren wurde), ganz gut funktionieren. Da muss der
Nahverkehr aber auch nur etwa 33.000 Menschen transportieren und nicht über hundertmal so viele, wie
zum Beispiel in Berlin. Jeder U-Bahn-Ausfall wegen einer Stellwerkstörung, jede Oberleitungsstörung und
jede kleinste Verspätung eines Zuges sind in Großstädten jetzt schon eine mittelschwere Katastrophe.
Wenn man den öffentlichen Nahverkehr so umstrukturieren möchte, wie die Bundesregierung sich das
vorstellt, müsste er ausgebaut werden: mehr Fahrzeuge, dichtere Taktung der Züge, mehr Angestellte.

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Die meisten Autofahrer fahren lieber Auto, weil sie keine Lust auf Gedrängel haben

Aber der Massenwechsel auf öffentliche Verkehrsmittel wird ohnehin ausbleiben. Das Argument, es
würden genug Leute auf den öffentlichen Nahverkehr umsteigen, wenn der erst kostenlos wäre, hält der
Realität nicht stand. Es ist ja nicht so, als würden Autofahrer ausschließlich lieber Auto fahren, weil sie
sich kein Monatsticket leisten können.

Die meisten Autofahrer fahren lieber Auto, weil sie keine Lust auf Gedrängel haben, weil sie ihre Kinder
entspannt mitnehmen können, einfach weil es bequemer ist. Oder weil sie ohnehin schon Wartungskosten
und Steuern für ihr Auto bezahlen. In Städten, in denen die Stickoxidbelastung besonders hoch ist, wie in
München, Stuttgart oder Köln, wird die Luft nicht schlagartig besser werden, weil Einzelne vom Auto auf
die U-Bahn umsteigen. Die Bundesregierung gibt mit dem Vorschlag für kostenlose Öffis ihre
Verantwortung aus der Hand und an die Bürger ab: Anstatt Fahrverbote durchzusetzen, hofft sie, das
Problem der Luftverschmutzung in den Städten möge sich durch die Initiative des Bürgers lösen. Der ist
aber nicht gerade bekannt dafür, dass er gerne seine Gewohnheiten – besonders die bequemen – ändert.

Außerdem, was heißt schon kostenlos? Die Kosten für den öffentlichen Nahverkehr werden nur
umgelenkt. Noch gibt es keine Antwort darauf, wer die immensen Kosten für das Projekt tragen soll, wenn
die Ticketpreise wegfallen. Im Zweifelsfall wird sich der Vorstoß in Steuern niederschlagen – und Steuern
müssen alle zahlen. Auch die Bewohner von Städten, in denen es eben keinen kostenlosen öffentlichen
Nahverkehr gibt, oder von Dörfern, die schlecht an das öffentliche Verkehrsnetz angebunden sind.

Der Luftreinhaltung in den Städten wird das kaum etwas bringen

Das Timing dieses Vorschlags ist für Umweltschützer ein Hohn. In 70 Städten in Deutschland werden die
Stickoxidwerte überschritten, deswegen drohte die EU-Kommission in Brüssel im Januar mit einer Klage.
Im Februar folgte im Zuge der Koalitionsverhandlungen die Idee des kostenlosen Nahverkehrs – wie das
Kaninchen aus dem Hut. Der Luftreinhaltung in den Städten wird das kaum etwas bringen.

Das Geld sollte lieber in sinnvolle Umweltplaketten investiert werden, in Parkplätze für Carsharing-
Modelle, in subventionierte Fahrgemeinschaften, in bessere Radwege. Oder in mehr Fahrzeuge und
Angestellte für die Verkehrsbetriebe und eine stufenweise Verringerung der Ticketpreise. Man könnte
sich an anderen europäischen Städten orientieren, zum Beispiel an Wien: Dort kostet eine Jahreskarte 365
Euro. Das ist fair für die Bürger, und trotzdem nehmen die Verkehrsbetriebe noch Geld über Fahrgäste
ein.

Kostenloser Nahverkehr: nur eine weitere Verbeugung des Bundes vor der Automobilindustrie

Auf jeden Fall sollte die Bundesregierung eine langfristige Lösung im Blick haben und nicht das kurze
populistische Zufriedenheitsmoment. Alles in allem ist die Idee eines kostenlosen Nahverkehrs nur eine
weitere Verbeugung des Bundes vor der Automobilindustrie, die keine Restriktionen fürchten muss.

Theresa Hein kauft sich nur im Winter die teuren Monatskarten für den Nahverkehr. Im Sommer versucht sie,
möglichst viel mit dem Fahrrad zu fahren, um Geld zu sparen. Meistens funktioniert das. Andererseits hat sie
in diesem Jahr schon eine Monatskarte verloren und musste sie nachkaufen.

Collagen: Renke Brandt

Ja: Jeder hat ein Recht auf Mobilität

Auf jeden Fall, meint Ulrike Anna Bleier. Wo das Geld dafür herkommen soll? Na, von den Autofahrern

Die Bundesregierung überlegt, in Städten mit hoher Luftverschmutzung einen kostenlosen öffentlichen
Personennahverkehr einzuführen, und Deutschland flippt aus. Ich auch: Bus- und Bahnfahren als
Bürgerrecht! Mobilität für alle, ohne Wenn und Aber! Keine kaputten Fahrscheinautomaten mehr! Keine
komplizierten Tickettabellen mehr, die dir das Gefühl vermitteln, egal welchen Fahrschein du wählst, du
zahlst auf jeden Fall drauf! Partizipation und soziale Gerechtigkeit steigern, Feinstaubbelastung

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verringern. Je mehr Menschen Bus und Bahn nutzen, desto weniger Autos drängeln sich auf den Straßen,
verpesten die Luft und machen Radfahrern und Fußgängern die Straßen und Bürgersteige streitig.

Ausbauen und billiger werden sind keine Widersprüche

Schön wär’s, doch so einfach ist es nicht. Denn die ÖPNV-Netze stoßen bereits jetzt an ihre Grenzen: „Ein
kurzfristiger, sprunghafter Fahrgastanstieg würde die vorhandenen Systeme vollständig überlasten“,
erklärt Jürgen Fenske vom Verband Deutscher Verkehrsunternehmen. „Wenn nun zehn oder zwanzig
Prozent mehr Menschen den ÖPNV nutzen, werden viele diesem nach kurzer Zeit den Rücken zukehren
und wieder auf das Auto umsteigen“, befürchtet Ulrich Soénius von der IHK Köln.

Ein Modellprojekt im brandenburgischen Templin bestätigte das – zunächst. Die Einführung des
kostenlosen Nahverkehrs 1998 ließ die Fahrgastzahlen explodieren. Nach nur vier Jahren nutzten fast 15-
mal so viele Menschen den öffentlichen Personennahverkehr. Die Busse waren ständig voll. Also ließ die
Stadt den Takt erhöhen. Zwar konnte sich Templin den kostenlosen Bürgerservice irgendwann nicht mehr
leisten, doch heute kostet eine Busfahrkarte dort nur 44 Euro – im Jahr! Das kostenlose
Nahverkehrsmodell ist auf den ersten Blick gescheitert – der Nutzen des Experiments bleibt für die
Templiner trotzdem enorm, die Fahrgastzahlen waren 2015 immer noch fünfmal höher als vorher.

Ein zweites Beispiel: Als europäischer Pionier im kostenlosen ÖPNV gilt Tallinn, mit einer Einwohnerzahl
von rund 445.000 Einwohnern vergleichbar mit Duisburg. Wer in Estlands Hauptstadt wohnt, darf seit
2013 kostenlos Bus und Bahn fahren. Das Modell funktioniert: Zehn Prozent mehr Einwohner nutzen
heute diese Verkehrsmittel. Und: 30.000 Menschen mehr leben in der Stadt, seit die Öffis kostenlos sind.
Das beschert der Stadtkasse ein Plus von rund 30 Millionen Euro Steuern. Dieses Geld steckt Tallin in den
öffentlichen Nahverkehr und deckt damit die Mehrkosten.

Ausbauen und billiger werden sind also keine Widersprüche. Im Gegenteil. Und es muss ja nicht gleich
komplett kostenlos sein. Drittes Beispiel: In Wien kostet eine Jahreskarte 365 Euro im Jahr und kommt
damit dem kostenlosen Fahren immerhin sehr nahe. Laut einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung
werden 63 Prozent einer Fahrkarte ohnehin bereits im Normaltarif subventioniert. Noch stärker aber
wird der städtische Autoverkehr aus Steuergeldern finanziert, und zwar mitnichten nur aus der Kfz-
Steuer. Viele externe Kosten betreffen laut Verkehrsclub Deutschland teure Posten wie Feuerwehr,
Polizei, Straßenbeleuchtung, Grünflächen: „Schon heute finanziert jeder Bürger indirekt den städtischen
Autoverkehr mit durchschnittlich 150 Euro pro Jahr mit.“ Wenn davon auch nur die Hälfte für das
kostenlose Bürgerticket und den dann notwendigen Kapazitätsausbau ausgegeben wird, könnte die
milliardenteure Finanzierung des kostenlosen ÖPNV in Deutschland durchaus funktionieren. Doch wer
soll das Minus bezahlen, das dann dem Autoverkehr fehlt?

Autofahrer holt man eh nur von der Straße, wenn man sie zur Kasse bittet

Antwort: Na, die Autofahrer. Die holt man eh nur von der Straße, wenn man sie zur Kasse bittet, glaubt
auch der Ökonom Axel Ockenfels. In der „FAZ“ schlägt er vor, kostengerechte Preise für die
Straßennutzung einzuführen, sodass auch die Autofahrer ihren Beitrag zur Luftverschmutzung und zur
Staubildung beitrügen. Solche City-Maut-Modelle gibt es schon: in Mailand, London oder Stockholm, wo
die Zahl der Autos während der Rushhour um 20 Prozent gesunken ist. Das Modell würde zudem die
Straßen für Radfahrer attraktiver machen, was wiederum den Nahverkehr entlasten würde.

Die Frage nach dem kostenlosen Personennahverkehr entpuppt sich am Ende als Gretchenfrage: Soll
unsere Gesellschaft gerechter, sollen unsere Städte lebenswerter werden? Oder wollen wir, weil wir uns
etwas anderes angeblich nicht leisten können, immer mehr Bevölkerungsgruppen ihrem Schicksal
überlassen: Die Armen sollen zu Hause bleiben? Die Radfahrer besser aufpassen? Und wer die dicke Luft
in der Stadt nicht verträgt, soll halt aufs Land ziehen?

Ein Umdenken muss nicht in der Zukunft, sondern genau jetzt stattfinden. Dies ist der beste Zeitpunkt, um
in neue Modelle zu investieren. Mobilität zum Nulltarif sollte ein Bürgerrecht sein wie
Gesundheitsvorsorge und Bildung. Und genauso wie eine Gesellschaft von gesunden und klugen Bürgern

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profitiert, profitiert sie von Menschen, die kostenlos in den nächsten Bus einsteigen und zur Arbeit, ins
Theater, an den Strand oder auch nur zum nächsten Tellerrand fahren können.

Ulrike Anna Bleier arbeitet als freie Autorin und Schriftstellerin. In der Stadt fährt sie Fahrrad oder
Straßenbahn. Ihr Auto, das sie für längere Strecken nutzt, hat einen lustigen Namen. Sie glaubt: Eine Zukunft,
in der es allen besser geht, ist möglich.

Foto: Stepanka Stepankova

Prostitution in Deutschland verbieten?


Das schwedische Modell, Freier zu bestrafen, möchten viele auch hierzulande eingeführt sehen. Zu Recht?

10.04.2018

JA: Prostitution strotzt vor Missbrauch

Anreize zum Ausstieg aus der Prostitution sollte es nicht nur für Sexarbeitende geben, findet Christa Roth.
Auch eine ganze Gesellschaft könne und müsse sich gegen ein ausbeuterisches Gewerbe stellen

Selbstbestimmt, lustvoll und sicher – so sollte Sex sein. Egal ob im privaten Raum oder gewerblich
praktiziert. Bei Letzterem ist das jedoch in den seltensten Fällen gegeben, denn gewerblicher Sex findet in
der Regel auf dem Straßenstrich oder im Bordell statt. Teure Hostessendienste werden vergleichsweise
selten nachgefragt. Es gibt sie auch entsprechend nicht überall. Aber genau darum geht es: Angebot schafft
Nachfrage.

Die meisten Prostituierten liefern sich ihren Freiern aus schierer ökonomischer Not aus

Die Nachfrage nach käuflichem Sex wird keine Justiz der Welt kurzerhand komplett eindämmen können.
Doch die Umstände, unter denen das stattfindet, kann eine Gesellschaft durchaus mit Gesetzen und durch
ihr Verständnis von Moral und Kultur beeinflussen.

Wird das Kaufen von Sex wie in Schweden unter Strafe gestellt, ist das vor allem eines: ein Fingerzeig,
dass hier etwas Ungutes im Gange ist. Denn machen wir uns nichts vor, die meisten Prostituierten liefern
sich ihren Freiern aus schierer ökonomischer Not aus. Andere Jobs sind ihnen oft nicht zugänglich oder zu
schlecht bezahlt. Kaum jemand prostituiert sich über Jahre hinweg aus Vergnügen oder um schnell an
„leichtes“ Geld zu kommen. Wer diesem Märchen glauben will und zugleich den Slogan „Mein Körper
gehört mir“ hochhält, ignoriert das schmutzige Geschäft, auf dem Prostitution basiert. Auch wer meint, das
Problem mit „geregelter Sexarbeit“ zu lösen, verschließt die Augen vor missbräuchlichen
Machtstrukturen, die sich hinter den legalen Scheinwelten etablieren.

Anreize, diesem Gewerbe nachzugehen, das als Menschenhandel bezeichnet werden muss, sollten
gar nicht existieren

Zu oft ist käuflicher Sex verbunden mit vielfältigen Formen von Zwang und Unterdrückung. Zwang etwa
durch Zuhälter, die es immer geben wird und die in erster Linie am eigenen Profit interessiert sind und
erst danach an der Sicherheit „schutzbefohlener“ Sexarbeitender. Unterdrückung findet statt, wenn man
einen derart intimen Akt, der jenseits der reproduktiven Dimension schlicht eine positive Selbsterfahrung
und -bestätigung bieten soll, immer wieder in einen gänzlich anderen Kontext versetzen muss.
Befriedigung ist hier eine Einbahnstraße. Hingabe ein Fremdwort. Jeglicher Ekel muss überwunden oder
eben unterdrückt werden, sonst hat die Nummer wenig Aussicht auf Erfolg.

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So zu tun, als sei sich „freiwillig“ selbst verkaufen nur eine andere Form des Geldverdienens, ist eine
zynische, verächtliche Haltung. Anreize, diesem Gewerbe nachzugehen, das als Menschenhandel
bezeichnet werden muss, sollten am besten gar nicht existieren. Sie sind aber nun einmal da. Daher
müssen die Hürden, Sex zu kaufen, erhöht werden.

Insofern macht Schweden vieles richtig. Seit 1999 werden Freier (und nicht, wie sonst oft üblich,
Prostituierte) per Gesetz zu einer saftigen Geldstrafe oder gar Gefängnis verdonnert. Dieses
Damoklesschwert aus Anprangern, Verfolgen und Bestrafen hat immerhin die Straßenprostitution quasi
halbiert. Wichtiger als das ist allerdings, dass die Sicht der Schweden auf käuflichen Sex sich inzwischen
gewandelt hat. War die gesellschaftliche Stellung von Freiern noch nie eine angesehene, so gilt heute mehr
denn je: Wer für Sex bezahlen muss, ist im Grunde ein Loser. Und dazu auch noch kriminell.

Freiern in Erinnerung rufen, dass sie Teil eines verbrecherischen Systems sind

Mit dieser Botschaft wird Freiern in Erinnerung gerufen, dass sie – gewollt oder nicht – Teil eines weithin
verbrecherischen Systems sind. Arbeitslosen (und oft migrantischen) Prostituierten andererseits ist damit
insofern geholfen, als sie und ihre Probleme wieder sichtbarer werden, sodass es eine gesellschaftliche
Debatte geben kann.

Und wir hier? Prostitution ist seit 2002 in Deutschland nicht mehr sittenwidrig, Prostituierte selbst
werden aber weiterhin stigmatisiert. Deshalb weiß auch niemand so wirklich genau, wie viele Menschen
ihren Körper regelmäßig feilbieten. Zwischen 400.000 und einer Million (überwiegend Frauen), schätzen
die bundesdeutsche Hurenorganisation Hydra und andere Branchenkenner wie lokale Anlaufstationen.
Ob sich diese Wissenslücke bald schließt, ist fraglich, obwohl sich laut dem neuen deutschen
Prostituiertenschutzgesetz Sexarbeitende behördlich melden müssen. Dass mit den dadurch gewonnenen
Daten ebenso Missbrauch betrieben werden kann, dafür braucht es nicht viel Fantasie. Von wegen Schutz!

Das neue Gesetz soll den Prostituierten mehr Sicherheit geben: Kondompflicht, jährliche verpflichtende
Gesundheitsberatung (Prostituierte unter 21 Jahren: alle sechs Monate) und Mindeststandards für die
Bordellausstattung. Mit Regelungen dieser Art gaukeln wir uns aus einer falsch verstandenen liberalen
Gesinnung vor, wir könnten aus dem vermeintlich ältesten Gewerbe der Welt ein weniger ausbeuterisches
machen. Und falls nicht, tja, dann wird halt ein neues Gesetz zum Erfolg des alten beschlossen – auch wenn
sich nichts bessert. Warum gehen wir stattdessen nicht einfach wie die Schweden (oder Norweger oder
Isländer) den anderen, genauso denkbaren Weg und kümmern uns darum, dass in Zukunft weniger Leute
von ihrem Weg abkommen?

Ab 2006 wohnte Christa Roth ein Jahr lang in der Nähe vom Straßenstrich in der Berliner Kurfürstenstraße,
wo es leider gar nicht fürstlich zuging. Hier bestimmten aufdringliche Freier und elende Prostituierte das
Bild.

Collagen: Renke Brandt

NEIN: eine Illegalisierung wäre gefährlich

Ein Sex-Kauf-Verbot würde nur die unsichtbaren Formen der Prostitution zunehmen lassen, befürchtet Luka
Lara Charlotte Steffen. Aber selbstverständlich müsse die strukturelle männliche Gewalt thematisisert
werden – wie in jedem anderen Bereich der Gesellschaft

Sollten Sexarbeiter*innen nicht die gleichen Rechte haben wie alle anderen Bürger*innen?
Das schwedische Modell sieht das leider nicht so vor, es geht nämlich ganz schön gegen das
Selbstbestimmungsrecht. Hinter dem Postulat von Geschlechtergerechtigkeit versteckt sich ein
stereotypes Verständnis von Prostitution. Für Deutschland sollte diese Verschärfung keine Option sein.

Sexarbeiter*innen werden in einen Opferdiskurs gezwungen, wodurch ihnen das Recht auf
Selbstbestimmung aberkannt wird

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Das sogenannte Sex-Kauf-Verbot sanktioniert Kunden von sexuellen Diensten. Damit soll sich das Gesetz
gegen das System von Prostitution richten, nicht aber gegen die Prostituierten. Hintergrund für den
Entschluss ist die Annahme, Prostitution sei immer etwas Verletzendes und keine Person würde freiwillig
diese Tätigkeit ausüben.

Puuh, schwierig. Die Gesetzgebung differenziert nämlich nicht zwischen Zwangsprostitution und
Menschenhandel oder eben freiwilliger Sexarbeit, wodurch diese als Konsequenz in die Illegalität
verschoben wird. Alle Sexarbeiter*innen werden in einen Opferdiskurs gezwungen , wodurch ihnen das
Recht auf Autonomie und Selbstbestimmung aberkannt wird. Strukturelle männliche Gewalt innerhalb
der Prostitution zu thematisieren und zu sanktionieren ist unabdingbar, genauso wie in allen anderen
gesellschaftlichen Bereichen. Die gesamte Kundschaft zu kriminalisieren macht an dieser Stelle jedoch
wenig Sinn, da so die Gründe verkannt werden, warum Menschen überhaupt in diesem Gewerbe arbeiten.
Und da hilft es wenig, dass nur die Freier bestraft werden, denn die Konsequenzen tragen die
Sexarbeiter*innen.

Die eigene prekäre ökonomische Situation, mangelnde Alternativen oder Drogenabhängigkeit sind die
häufigsten Gründe, diese Arbeit zu verrichten. Ein Verbot bringt aber nicht auf magische Weise einen
besseren Zugang zum Arbeitsmarkt und somit einen besseren Job, noch bringt es den Aufenthaltstitel, der
für viele migrantische Sexarbeiter*innen absolut notwendig wäre. Stattdessen würde es Stress bedeuten.
Stress, weil die Freier Angst vor Sanktionierungen haben müssten. Stress, weil dann immer alles ganz
schnell gehen müsste: das heißt weniger Zeit, um zu entscheiden, ob der Freier möglicherweise gefährlich
ist oder nicht. Weniger Zeit, um über Geschlechtskrankheiten zu sprechen und Safe-Sex-Praktiken zu
verhandeln. Weniger Zeit bedeutet weniger Sicherheit.

Die gesetzliche Klassifizierung in eine „gute“ und eine „schlechte“ Sexualität hat bemerkenswert
erzieherische Züge

Das Verbot mag die sichtbarsten Formen von Prostitution verringern, lässt die unsichtbaren allerdings
vermutlich enorm zunehmen. Und unsichtbare Dienstleistungen in versteckten Gebieten sind natürlich
mit einem viel höheren Gewaltpotenzial verbunden. In Schweden gibt es knapp 20 Jahre nach der
Einführung des Gesetzes immer noch Prostitution; es hat eine Standortverlagerung von der Straße in
Hinterzimmer und das Internet stattgefunden.

Geht es hier also wirklich um das Wohlergehen von Sexarbeiter*innen oder um eine von oben diktierte
Moral? Die gesetzliche Klassifizierung in eine „gute“ und eine „schlechte“ Sexualität hat bemerkenswert
erzieherische Züge und eine verstärkte gesellschaftliche Stigmatisierung von Sexarbeiter*innen zur Folge.
Ihre Arbeit scheint durch die Gesetzgebung nämlich moralisch ziemlich verwerflich. Fest steht, dass es
durch die gesellschaftliche Ächtung schwerer fällt, sexualisierte Gewalt zur Anzeige zu bringen oder einen
HIV-Test zu machen. Das Gleiche gilt für den Zugang zu Sozialämtern und dem Justizsystem. Fällt Kunden
außerdem tatsächlich Gewalt auf – zum Beispiel zwischen Prostituierten und Freiern –, müssen sie sich
gut überlegen, ob sie eine Anzeige aufgeben sollen, da sie selbst mit Sanktionen zu rechnen haben.

Das Sex-Kauf-Verbot ist aber weder ein Mittel gegen Armut noch gegen Diskriminierung

Schon die Einführung des deutschen Prostitutionsschutzgesetzes im vorletzten Jahr wurde von
Sexarbeiter*innen scharf kritisiert. Die gesetzlich verpflichtende Anmeldung und Beratung schütze weder
Betroffene von Menschenhandel, noch unterstütze sie Sexarbeiter*innen. Stattdessen würden besonders
gefährdete Sexarbeiter*innen in die Illegalität gedrängt, wenn sie keine Meldeadresse, Zustellanschrift
oder Aufenthaltsgenehmigung vorlegen können. Ein Verbot wird diese Illegalisierung nur ausweiten und
lässt gefährliche Schlupflöcher entstehen. Außerdem bestärkt es gesellschaftliche Vorurteile und fällt
somit den Personen in den Rücken, deren Situation doch eigentlich verbessert werden sollte!

Sexarbeit ist für die meisten sicherlich keine Arbeit wie jede andere, und Ausstiegswünsche überschatten
emanzipatorische Formen. Das Sex-Kauf-Verbot ist aber weder ein Mittel gegen Armut noch gegen
Diskriminierung. Wie wäre es mit der Anerkennung von ausländischen Bildungsabschlüssen und einem
erleichterten Arbeitsmarktzugang für Geflüchtete und Migrant*innen? Und generell dem gleichen Lohn
für gleiche Arbeit? Der geschlechtsspezifische Entgeltunterschied liegt, unbereinigt, in Deutschland
nämlich immer noch bei 21 Prozent.

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Luka Lara Charlotte Steffen studiert Regie und arbeitet als freie Journalistin. Für mögliche Verhandlungen
eines neuen Gesetzes wünscht sie sich ein starkes Mitspracherecht für Sexarbeiter*innen.

Das (un)freiwillige soziale Jahr


Nach der Schule ein Jahr lang etwas für die Gemeinschaft tun: Sollte das verpflichtend sein? Unsere
Autoren streiten

20.10.2018

Pflicht! Ein Anti-Egoismus-Jahr tut jedem gut

Omis den Po abwischen? Rollstühle durch die Gegend schieben? Krötenwanderungen absichern?
Unfallstellen auf der Autobahn räumen?

Klang für mich mit 18 alles ziemlich lächerlich, auf jeden Fall nicht nach einer ernsthaften Perspektive
nach dem Abi. Stattdessen wollten meine Freunde und ich schnurstracks Karriere machen, am besten als
Manager. Den schwarzen Aktenkoffer trugen wir schon, die Krawatte und den Anzug auch. Unser
Soundtrack dazu waren Zynismus und der coole Synthesizersound der Achtziger. Um uns Bundeswehr
und Zivildienst zu sparen, gingen wir nach Westberlin und studierten BWL. Da galt das Besatzungsrecht
der Alliierten, und das sagte: Keine Waffe für Westberliner.

Junge Menschen vom Selbstverwirklichungs-Zwang befreien

Sonderlich stolz bin ich im Nachhinein nicht auf diese Zeit. Im Gegenteil: Mir hätte es ganz gut getan, mich
mal um andere zu kümmern. Stattdessen drehte sich mein damaliges Ich nur um sich selbst, dachte an
niemand anderes, am wenigsten an die, denen es schlechter ging als mir.

Ein bisschen ist es heute wieder so. Die Selbstverwirklichung junger Menschen ist nur subtiler geworden
und kommt nicht mehr so großkotzig wie damals daher. Aber auch heute basteln viele an optimierten
Lebensläufen, um sich für die Arbeitswelt hübsch zu machen: Abi, Auslandsjahr, Praktika, Bachelor,
Master, mit 24 scheinbar schon fix und fertig. Wenn ein soziales oder ökologisches Jahr gemacht wird,
dann gerne im Ausland, man will ja was sehen von der Welt, andere Kulturen kennenlernen, wie das so
schön heißt. Und schließlich gibt es doch so viele Länder, wo die Menschen nur darauf warten, dass ihnen
frischgebackene Abiturienten aus Deutschland endlich zu Hilfe eilen. Oder etwa nicht? Auch das ist eine
ziemlich bornierte Sicht auf die Welt, die mit den Bedürfnissen vor Ort oft wenig zu tun hat. Im Gegenteil:
Ein soziales Jahr im Ausland ist oft umgekehrte Entwicklungshilfe – nicht für das Land, sondern für die,
die in die Ferne reisen und sich dort entwickeln wollen. Die eigene Selbstverwirklichung wird als
Weltrettungsprojekt verbrämt.

Mehr Menschen würden ihre Fähigkeit zur Empathie entdecken

Es ist gut, wenn Menschen viel über soziale Ungleichheiten sprechen, über das, was wir mit unserem
Konsum in anderen Ländern anrichten, wer auf dieser Welt wen ausbeutet. Aber diese globale Perspektive
verstellt den Blick auf die hiesigen Verwerfungen und darauf, was man selbst tun kann, um die
Gesellschaft hier weiterzubringen.

Ein verpflichtendes soziales Jahr könnte das ändern. Es könnte in den fein säuberlich kuratierten
Lebensläufen die notwendige Disruption sein und dazu führen, dass mehr Menschen ihre Fähigkeit zur
Empathie entdecken, zum sozialen Handeln. Das bringt jedem Einzelnen etwas und der Gesellschaft als
Ganzes – besonders in einer Zeit, in der die Diskriminierung von Menschen zum Massenphänomen zu
werden droht. Es könnte zu mehr Verständigung zwischen den gesellschaftlichen Milieus führen, zu mehr
Demut gegenüber der eigenen Wohlstandsblase. Dafür muss man nicht nach Afrika. Und, ja, es könnte

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dazu beitragen, den Notstand im Pflegebereich zu lindern. Natürlich höre ich schon das Gegenargument,
dass man auf diese Weise den Staat aus der Verpflichtung entlässt, Pflegeberufe ordentlich zu bezahlen
und das System zu erneuern. Aber das ist ungefähr so, wie wenn man bettelnden Menschen kein Geld gibt,
weil doch bitte schön der Staat dafür sorgen soll, dass es gar keine Bettler gibt.

„Freiheitsberaubung“? Es gibt durchaus sinnvolle Zwänge

Die Einführung eines verpflichtenden Dienstjahres sollte von anderen staatlichen Maßnahmen zur
Verbesserung des Pflegenotstands begleitet werden. Nur für ein Land, das seinen Teil dazu beiträgt, die
Notlagen seiner Bürger zu beseitigen, arbeitet man gern.

Wer jetzt „Freiheitsberaubung“ schreit, sollte darüber nachdenken, dass es durchaus sinnvolle Zwänge
gibt. Die Schule ist auch einer. Forderungen, die Schulpflicht abzuschaffen, sind eher selten. Außerdem
setzen wir uns vielen Zwängen, die weitaus weniger nützlich für die Gesellschaft sind, freiwillig aus. Etwa
dem zwanghaften Glauben, dass man mit einem besonders stromlinienförmigen Lebenslauf die besten
Jobs bekommt. Dabei würden sich die meisten Unternehmen wünschen, wenn in der Biografie auch mal
stünde: ein Jahr Omas den Po abgewischt oder mit behinderten Menschen Rollstühle repariert.

Oliver Gehrs gibt das Dummy-Magazin heraus und leitet die fluter-Redaktion. Nach der Schule hat er
zwar kein soziales Jahr absolviert – soziale Dienste macht er heute trotzdem gern: kocht Kaffee für Kollegen,
reinigt das Abflussrohr oder repariert den Kickertisch nach Feierabend.

Collagen: Renke Brandt

Kür! Jeder soll dürfen, keiner müssen

Ich erinnere mich noch genau an den Brief, den ich im Schuljahr vor dem Abitur bekam. Der Bundesadler
prangte im Briefkopf, darunter dann die ersehnte Nachricht: Ich wurde von der Wehrpflicht und dem
Zivildienst befreit, weil meine beiden großen Brüder bereits Zivildienst geleistet hatten. Ich durfte nach
der Schule machen, was ich wollte, zum ersten Mal in meinem Leben.

Ich fand das fair. War ich deshalb ein Egoist? Wenn man die aktuelle Debatte verfolgt: offenbar schon.
Begeistert prophezeien die Befürworter, dass ein „Anti-Egoismus-Jahr“ den Zusammenhalt in der
Gesellschaft stärken würde.

Die Idee eines Pflichtjahres hat fragwürdige Vorbilder. Bereits unter den Nazis gab es den
„Reichsarbeitsdienst“, den alle Deutschen, ob Frau oder Mann, abzuleisten hatten. In diesem
Zusammenhang war es nicht weniger als ein historischer Erfolg, dass die Wehrpflicht und damit auch der
Zivildienst in Deutschland 2011 schließlich ausgesetzt wurde.

Arbeitskräfte für unattraktive Jobs

Manch ein Politiker will nun die Wehrpflicht durch die Hintertür wieder einführen. Ein Dienstjahr müsste
nicht unbedingt im sozialen, kulturellen oder ökologischen Bereich abgeleistet werden, auch der
Militärdienst stände zur Auswahl.

Die Bundeswehr findet seit dem Ende der Wehrpflicht nicht ausreichend Freiwillige. Sie ist als
Arbeitgeber zu unattraktiv. Klar, wer lässt sich schon gern freiwillig anschreien? Wer den jährlichen
Bericht des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestags liest, erkennt die tieferen Probleme der
Bundeswehr. Chauvinistische Sprache, gesundheitsgefährdende Mutproben und rechtsradikale Sprüche
kommen bei der Bundeswehr immer noch vor. Der Etat des Bundesverteidigungsministeriums macht den
zweitgrößten Posten im Bundeshaushalt aus. Es wäre also genug Geld vorhanden, um Bewerber
anzulocken.

Und noch ein praktisches Problem soll das Pflichtjahr lösen: In sozialen Berufen, vor allem in der
Kranken- und Altenpflege, fehlt Personal. Aber dieser Mangel hat ökonomische und politische Ursachen.
Sie lassen sich nicht mit einer moralischen Pflicht beheben. Es gibt einfache Wege, mehr Personal zu

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finden: Qualifikation von Geflüchteten, Arbeitsmigration, höhere Löhne und attraktive
Arbeitsbedingungen. Doch die sind politisch entweder nicht gewollt oder für den Arbeitgeber zu teuer.
Günstige Schulabgänger scheinen da ein einfacher Ausweg zu sein.

Ein Jahr Dienst an der Gemeinschaft muss ein Recht sein, keine Pflicht

Wer nach der Schule weiß, was er will, soll ohne Umwege in Ausbildung und Studium starten dürfen. Wer
noch keinen Plan hat, was er mit seinem Leben anfangen soll, für den ist ein Jahr in einer
Behindertenwerkstatt oder als Küchenhilfe in einer Einrichtung für Suchtkranke sicherlich ein besserer
Einblick in die Gesellschaft als sechs Monate Surfen in Australien. Aber diese Möglichkeiten gibt es jetzt
schon, sie heißen Bundesfreiwilligendienst, weltwärts oder Freiwilliges Soziales Jahr.

Das Problem dabei: Das Geld, das man dort bekommt, reicht oft nur, um die Miete zu zahlen. Wenn
überhaupt. Die meisten Freiwilligen können sich so ein Jahr nur leisten, wenn sie reiche Eltern haben. Die
bestehenden Programme müssen also mit mehr Geld ausgestattet werden. Dann bräuchte es keinen
Zwang zur gemeinnützigen Arbeit. Für eine ganze Generation würde es attraktiv werden, freiwillig der
Gesellschaft ihren Dienst zu erweisen.

Man sollte das Gymnasium abschaffen!

Wer jetzt ein „Anti-Egoismus-Jahr“ fordert, verschließt die Augen vor den eigentlichen Ursachen für die
Selbstoptimierung und den mangelnden Zusammenhalt in der Gesellschaft. Ein Jahr Pflichtdienst kann das
Leistungsdenken, das die Schule uns beibringt, nicht ausgleichen.

Was ändern zwölf Monate soziale Arbeit, wenn deutsche Schüler vorher viele Jahre lang ein
Bildungssystem durchlaufen, das so ungerecht ist und so sehr nach der sozialen Herkunft der Eltern
aussortiert wie in kaum einer anderen Industrienation? Wäre es da nicht besser, das Gymnasium
abzuschaffen und alle Schüler gemeinsam in einer Schule zu unterrichten? So würden sie zu „Anti-
Egoisten“ erzogen – ein echter Schritt zu mehr Zusammenhalt.

Kersten Augustin ist Redakteur der taz am wochenende. Er ist gegen eine Dienstpflicht, beneidet aber
manche seiner Freunde um ihre Fähigkeiten aus dem Zivildienst: schnell Kartoffeln schälen, ordentlich Betten
beziehen oder um 6 Uhr aufstehen.

Sollten Kitas gratis sein?


Berlin hat als erstes Bundesland die Kita-Gebühren komplett abgeschafft.
 Andere Bundesländer wollen
nun nachziehen. Ist das sinnvoll?

22.11.2018

Abschaffen! Nur so haben alle Kinder die gleichen Bildungschancen

Der Staat sollte mehr Geld in Kindertagesstätten stecken, findet Ralf Pauli – und dabei bitte nicht das
Personal vergessen

Für das Bildungsland Deutschland sollten kostenlose Krippen, Kindergärten, Schulen und Hochschulen
eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Sie ermöglichen jeder und jedem Einzelnen gesellschaftlichen
Aufstieg und eine freie Berufswahl – egal ob die Eltern reich oder arm, Professoren oder Leiharbeiter,
Bürger mit deutscher oder einer anderen Staatsbürgerschaft sind. Von dem hohen Bildungsgrad einer
Nation wiederum profitiert die gesamte Gesellschaft. Klingt unstrittig, ist es aber nicht.

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Als Berlin vor kurzem als erstes Bundesland die Kita-Beiträge komplett abschaffte, hagelte es von allen
Seiten Kritik: von Eltern, die beklagten, dass das Problem fehlender Kitaplätze dadurch nicht gelöst
würde. Von Bildungsforschern, die die Qualität der Einrichtungen bemängelten. Von Gewerkschaften, die
schon zuvor von Überlastung und Lohndumping bei Erziehern sprachen. Und von Politikern, die dem rot-
rot-grünen Senat vorwarfen, unnötige Geschenke an Besserverdiener zu verteilen. Der Tenor: Es sei
unverantwortlich, auf Einnahmen zu verzichten, wenn das Geld doch sowieso schon an allen Ecken und
Enden fehle.

Kita-Gebühren bundesweit abzuschaffen würde 15 Mrd. Euro kosten – die wären gut investiert

Zehn Bundesländer haben mittlerweile Entlastungen bei den Kita-Gebühren beschlossen. Auch die
Bundesregierung unterstützt das Ziel einer beitragsfreien Kita. Würden alle Bundesländer auf die
gegenwärtigen Einnahmen verzichten und außerdem der Qualitätsausbau in den Bereichen
Personalschlüssel, Leitungsausstattung und Mittagessen stattfinden, müsste der Staat einer Schätzung der
Bertelsmann-Stiftung zufolge pro Jahr dafür mehr als 15 Milliarden Euro aufbringen. Und die wären gut
investiert.

Der gewichtigste Grund dafür ist die Chancengerechtigkeit. Kitas kosten je nach Bundesland, Ort und
Träger unterschiedlich viel. Ganz schön unfair. Oder wie ist es zu rechtfertigen, dass Kita-Beiträge
zahlende Eltern in Schleswig-Holstein im Schnitt fast neun Prozent ihres Haushaltsnettoeinkommens für
die Betreuung berappen sollen, während es in Hamburg nur gut vier Prozent sind? In Mecklenburg-
Vorpommern zahlen manche Familien für die Kinderbetreuung über ein Fünftel ihres Einkommens. Zwar
sind die Gebühren in den meisten Fällen nach Einkommen gestaffelt – arme Familien werden durch die
Beiträge dennoch stärker belastet, wie die Studie der Bertelsmann-Stiftung belegt: Gemessen am
Einkommen müssen sie einen deutlich höheren Anteil für die Kinderbetreuung ausgeben als
Besserverdiener.

Für Kinder, die zu Hause wenig gefördert werden, ist die Kita besonders wichtig

Außerdem sind sich die meisten Bildungsexperten einig: Die frühkindliche Erziehung ist ein wirksames
Instrument gegen Bildungsungerechtigkeit. Noch immer schaffen es Kinder aus Akademikerfamilien eher
an eine Universität als Kinder mit Nichtakademiker-Eltern. Ähnliches gilt für Kinder mit und ohne
Migrationshintergrund. Eine kostenlose Kita verhindert, dass Kinder, die zu Hause eine geringere
Förderung oder Fürsorge erhalten, schon beim Schulstart abgehängt sind. Das hat drastische
Auswirkungen, schließlich werden schon in der Grundschule die Weichen für die spätere
„Bildungskarriere“ der Kinder gestellt.

Überhaupt hätte das Modell „Eine Kita für alle“ eine wichtige soziale Funktion. Wer seinem Sprössling
schon in jungen Jahren vorlebt, dass besondere Angebote – mehrsprachige Betreuung oder Babyyoga –
nur für diejenigen zugänglich sind, die es sich leisten können, erzieht Kinder in einem sehr
kapitalistischen Verständnis von Gesellschaft: Nicht das eigene Engagement öffnet Türen, sondern das
Geld der Eltern.

Es ist Aufgabe des Staates, allen Bürgern einen guten Start zu ermöglichen. Deswegen ist es richtig, dass es
seit fünf Jahren einen Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz gibt. Dass zwischen 2006 und 2017 allein für
Kleinkinder bis drei Jahre 475.000 neue Krippenplätze geschaffen wurden. Und dass dadurch inzwischen
61,9 Prozent aller Zweijährigen tagesbetreut werden. 2006 waren es gerade mal 26,6 Prozent. Wären alle
Kitas kostenfrei – der Anteil würde sicher weiter steigen. Und damit die Bildungschancen armer Kinder.

Niemand braucht sich wundern, dass Betreuungspersonal fehlt – bei den Gehältern!

Natürlich muss dafür die Qualität der Kitas stimmen. Und die genügt trotz deutlicher Verbesserungen
etwa bei der Betreuungsquote immer noch nicht überall den Ansprüchen. So kommen bei Kleinkindern
unter drei Jahren statt der empfohlenen drei im Schnitt auf jeden Erzieher immer noch 4,3 Kinder.

Ein anderes gravierendes Problem ist der Fachkräftemangel: Bis 2025 werden 300.000 Erzieherinnen
fehlen, warnen Bildungsforscher im Nationalen Bildungsbericht 2018. Da sollte sich die Gesellschaft

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fragen: Sind Erzieher vielleicht unterbezahlt? In Berlin werden gerade mal die 13 Prozent des Kita-
Personals in staatlicher Trägerschaft nach Tarif bezahlt, bei den weitaus mehr freien Trägern verdienen
die Angestellten oft weitaus weniger. Da muss sich niemand wundern, wenn Fachpersonal fehlt und viele
Eltern auf der Suche nach einem Kitaplatz verzweifeln.

Nur spricht keiner dieser Kritikpunkte gegen eine Beitragsbefreiung. Sondern dafür, dass der Staat noch
mehr Geld in Kindertagesstätten stecken sollte als die soeben geplanten 5,5 Milliarden Euro bis 2022. Das
Schöne daran? Er könnte es sogar: Gerade konnte der Fiskus für das erste Halbjahr einen
Rekordüberschuss von 48 Milliarden Euro vermelden. Dieses Geld in kostenlose Kitas und besser
bezahltes Personal zu stecken wäre eine Investition in die Zukunft.

Ralf Pauli ist Bildungsredakteur der taz. An seine eigene Kitazeit hat er keine Erinnerung. Aber daran, dass
seine türkischen Mitschüler früh von unserem Bildungssystem ausgesiebt wurden. Eine kostenlose Kita für
alle hätte das vielleicht verhindert.

Collagen: Renke Brandt

Behalten! Kostenlose Kitas sind bestenfalls harmlos, schlimmstenfalls schädlich

Birgitta vom Lehn fragt: Sollte man so viel Geld in Einrichtungen stecken, deren positive Wirkung noch
überhaupt nicht bewiesen ist?

Die beitragsfreie Kita appelliert an das Schnäppchen-Gen. Natürlich ist es richtig und gut, Familien mehr
Geld in der Tasche zu lassen. Das Problem ist: So einfach geht die Rechnung nicht auf.

Wenn ein Bundesland die beitragsfreie Betreuung beschließt, so wie es zum Beispiel im Sommer
Niedersachsen für Kinder ab drei Jahren gemacht hat, die Kommunen aber für die Mehrausgaben nicht
aufkommen können oder wollen, wenden letztere oft einen simplen Taschenspielertrick an: Sie streichen
zwar die Gebühren für Kindergarten-, erhöhen aber die für Krippenplätze. Folglich zahlen Familien mit
mehreren Kleinkindern in etlichen Kommunen jetzt nicht weniger, sondern genauso viel wie vorher, wenn
sie Krippe (U3) und Kindergarten (Ü3) in Anspruch nehmen.

Gratiskitas könnten die soziale Separierung noch verstärken

Kitas freier Träger, wie zum Beispiel Einrichtungen von Elterninitiativen oder Betriebskitas, sind von der
Beitragsfreiheit ausgenommen. Wer also hofft, mit der Gratiskultur der sozialen Separierung
vorzubeugen, freut sich zu früh. Das Gegenteil könnte der Fall sein: Niemand glaubt, dass mit der
Gebührenfreiheit automatisch die Qualität der Kitas steigen wird. Bildungsbeflissene Eltern,
beziehungsweise jene, die es sich eben leisten können, werden wohl künftig noch genauer auf das „Gute-
Kita-Gesetz“ achten und schauen, ob die Verpackung wirklich hält, was sie verspricht. Im Zweifel legt man
halt noch etwas mehr aus eigener Tasche drauf und zahlt den teuren Privatkindergarten selbst.

Dafür sollte man sie nicht verurteilen. Wer würde seine Kinder nicht auch lieber in individuellen
Kleingruppen mit verlässlichen, entspannten Erzieherinnen betreut wissen als in überfüllten, personell
chronisch unterbesetzten Kitas? Bindung und Beziehung, Nähe und Wärme, Liebe und Zuwendung sind
die wichtigsten Elemente für einen guten Start ins Leben und auch für die spätere Bildungskarriere.

Um alle Kitas kindgerecht zu gestalten, müsste man sehr viel Geld in die Hand nehmen

Man müsste die Gruppen verkleinern, die Erzieherinnen besser bezahlen und den hohen Lärmpegel durch
schlaue Bauweisen der Einrichtungen senken. Aber wie viel Geld müsste man dafür in die Einrichtungen
pumpen? Und, so unpopulär diese Frage auch sein mag: Sollte man so viel Geld in Einrichtungen stecken,
deren positive Wirkung noch überhaupt nicht bewiesen ist?

Wie Krippen und Kitas auf die Entwicklung von Kindern wirken, ist wissenschaftlich umstritten. Es ist
weder belegt, dass die Kostenloskultur sozial benachteiligten Kindern auf die Sprünge hilft, noch, dass ein

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früher und langer Krippen- oder Kita-Besuch förderlich ist. Günstige Effekte konnten bisher einzig für
Kinder mit Migrationshintergrund nachgewiesen werden.

Für alle anderen Kinder dominieren keine oder sogar negative Effekte: Bei der in Deutschland
durchgeführten „Nationalen Untersuchung zur Bildung, Betreuung und Erziehung in der frühen Kindheit“
zeigten zwei- bis vierjährige Kinder keine nennenswerten bildungs- und entwicklungsmäßigen
Unterschiede zwischen familiärer und außerfamiliärer Betreuung.

Dabei ist umstritten, wie Kitas überhaupt auf die Entwicklung von Kindern wirken

Ihr Bildungs- und Entwicklungsstand hinge stärker mit Merkmalen der Familie als mit der Betreuungsart
zusammen, betonten die Forscher. Damit fiele die Vorstellung, Krippen und Kitas könnten für mehr
Bildungsgerechtigkeit sorgen, wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Kinder, die schon im ersten
Lebensjahr außerfamiliär betreut wurden, zeigten außerdem häufiger Problemverhalten. Eine kanadische
Studie kam zu ähnlichen Ergebnissen: Bei den Kita-Kindern kam es zu mehr Hyperaktivität, Aggressivität,
Infektionen und Unaufmerksamkeit – bei den Müttern sogar zu größerer Beziehungsunzufriedenheit; die
Väter wurden in der Studie nicht erwähnt.

Eine von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Zehn-Jahres-Längsschnittstudie zeigt den


„überraschenden und deutlichen Effekt“, dass Kita-Betreuung im Vergleich zur elterlichen Betreuung
speziell bei Kindern Alleinerziehender im Jugendalter zu mehr Verhaltensauffälligkeiten führt. Je früher
die Kinder fremdbetreut wurden, desto eher waren sie psychisch auffällig, schreiben die Studienautoren
Wolfgang Schulz und Nele Wulfes im jüngst erschienenen Sammelband „Schadet die Kinderkrippe meinem
Kind?“. Derartige Warnungen von Experten gibt es inzwischen zuhauf, man will sie aber nicht hören.

Besser wäre es, Eltern finanziell stärker zu unterstützen und selbst entscheiden zu lassen

Krippen und Kitas mögen bequem für Eltern sein und lukrativ für den Staat: Je früher junge Eltern in den
Beruf zurückkehren, desto mehr Steuern zahlen sie schließlich. Für Kinder sind Kitas aber bestenfalls
harmlos, schlimmstenfalls schädlich. Deshalb sollte der Staat Krippen nicht mir nichts, dir nichts und ohne
Qualitätskontrolle kostenlos für alle anbieten. Denn dies signalisiert: Sie sind für die Kinder das Beste.
Wohlmeinender und vorausschauender wäre es, die Familien bei der Entscheidung finanziell zu
unterstützen, die sie für die Betreuung ihres Nachwuchses treffen. Etwa indem man Eltern die 1.000 Euro,
die ein Krippenplatz pro Monat allein an Betriebskosten verschlingt, direkt ausbezahlt. So können diese
frei entscheiden, wo und wie sie ihre Kinder am liebsten und besten betreut sehen: in der Krippe, im
Kindergarten oder zu Hause.

Birgitta vom Lehn arbeitet seit einem Vierteljahrhundert als freie Journalistin und Buchautorin. Quasi
nebenbei hat sie zusammen mit ihrem Mann drei Söhne großgezogen – und zwar krippenlos. Soziale oder
intellektuelle Defizite zeigen die drei bis heute keine.

Wie soll bezahlbarer Wohnraum entstehen?


Mehr Markt und Wettbewerb! Sagen die einen. Mehr staatliche Regulierung oder sogar Enteignung!
Meinen die anderen

28.02.2019

Der Markt soll es regeln, meint Immobilienexperte Michael Voigtländer

Der Refrain im heute oft gesungenen Lied der Mietproteste geht ungefähr so: Wohnen ist ein
Grundbedürfnis, und daher sollte man Wohnungen nicht dem Markt überlassen. Der Chor der
Demonstranten fordert dann einstimmig: mehr kommunale Wohnungen oder sogar die Enteignung von

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privaten Wohnungsgesellschaften, wie aktuell in Berlin. Die kommunalen Wohnungsgesellschaften sollen
bitte schön zu günstigeren Konditionen vermieten als die privaten, die ja, so der Vorwurf, nur ihren
Gewinn maximieren wollen.

Solche Ideen erfahren derzeit große Zustimmung, laut einer aktuellen Online-Umfrage des
„Tagesspiegel“ halten etwa 54,8 Prozent der Befragten eine Enteignung großer Wohnungsgesellschaften
für richtig. Dies ist überraschend, denn in anderen existenziellen Lebensbereichen, wie etwa
Lebensmitteln oder medizinischer Versorgung, vertrauen wir auch im Wesentlichen auf private Akteure.

Der Senat müsste viel entschiedener Bauland ausweisen

Dem privaten Wohnungsmarkt misstrauen die Menschen, weil die Mieten so stark gestiegen sind. In
Berlin explodierten sie vor allem aus zwei Gründen: Die Einwohnerzahl ist zwischen Ende 2011 und dem
ersten Halbjahr 2018 um fast 300.000 Menschen gewachsen, und die Bautätigkeit kommt nicht hinterher.
Dies liegt aber nicht am fehlenden Interesse der Unternehmer, in den Wohnungsbau zu investieren! Es
liegt am fehlenden Bauland. Der Senat müsste viel entschiedener Flächen ausweisen, auf denen neue
Stadtviertel gebaut werden können.

Märkte reagieren auf zunehmende Knappheiten mit steigenden Preisen. Für den einzelnen
Wohnungssuchenden ist dies ärgerlich, aber gesellschaftlich wichtig. Denn damit ist auch eine Lenkung
verbunden. Zur Wahrheit gehört nun mal, dass nicht alle in einer Toplage wohnen können. Durch höhere
Mieten werden Wohnungssuchende angehalten, weniger Wohnraum zu nutzen und sich in WGs
zusammenzufinden, wodurch mehr Menschen den Wohnraum nutzen können.

Wird das Wohnen in der Stadt subventioniert, zieht es noch mehr Menschen in die Stadt

Vor allem aber setzen die hohen Mieten Anreize, ins Umland zu ziehen. Tatsächlich ist es gesellschaftlich
ein Problem, wenn Menschen vermehrt in die Großstädte gehen, aus ländlichen Regionen oft trotz guter
Arbeitsmarktperspektiven junge Menschen abwandern. Wer im Umland lebt, kann preiswert wohnen.
Dafür sorgt der Markt. Wird dagegen das Wohnen in der Stadt subventioniert, zieht es in der Tendenz
noch mehr Menschen in die Stadt.

Selbstverständlich darf die Wohnungspolitik aber nicht ausschließlich dem Markt überlassen werden.
Was wir brauchen, ist eine Sozialpolitik, die bedürftige Mieter direkt unterstützt. Das funktioniert im
Moment nicht immer gut. In den Wohnungsbeständen der landeseigenen Berliner Gesellschaften leben zu
einem Drittel Menschen, die mit ihrem Einkommen über dem Durchschnitt der Berliner Bevölkerung
liegen.

Kauft der Staat nun Wohnungen und Häuser auf und senkt die Mieten, werden auch Mieter unterstützt,
die keiner Hilfe bedürfen. Oder soll man etwa die alten Mieter rausschmeißen und nur neue, bedürftige
Mieter mit Wohnberechtigungsschein einziehen lassen? Wir müssen den einzelnen Menschen
unterstützen, der in der Wohnung wohnt – und nicht die Wohnung an sich!

Die Politik muss sich auf die tatsächlich bedürftigen Haushalte konzentrieren

Auch für den Staat gilt die Binsenweisheit: Jeden Euro kann man nur einmal ausgeben. Wenn man Mieten
künstlich niedrig hält, steht weniger Geld für andere Aktivitäten zur Verfügung, etwa für
Schulsanierungen, Polizei oder andere Formen der Infrastruktur. Daher sollte sich die Politik auf die
tatsächlich bedürftigen Haushalte konzentrieren und zum Beispiel über eine Stärkung des Wohngelds
diese Haushalte gezielt unterstützen.

Damit es mehr Wohnraum in deutschen Städten gibt, muss der Staat sich auf die Rahmenbedingungen
konzentrieren und dafür sorgen, dass überhaupt neue Wohnungen gebaut werden können. Dann wird
sich ein privatwirtschaftlich organisierter Markt auch schnell wieder entspannen.

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Michael Voigtländer ist Immobilienexperte am Institut der deutschen Wirtschaft in Köln und lehrt an der
Hochschule Bonn-Rhein-Sieg. Schon als Student an der Universität Köln hat er sich Gedanken über den
Wohnungsmarkt gemacht – und zog lieber nach Leverkusen, um den hohen Mieten aus dem Weg zu gehen.

Collagen: Renke Brandt

Gefragt sind der Staat und wir alle, entgegnet die Publizistin Ines Schwerdtner

Mittlerweile können die meisten Menschen beim Umzug in eine andere oder innerhalb einer Stadt nicht
mehr danach entscheiden, welche Umgebung ihnen am besten gefällt oder wo ihre Freundinnen wohnen,
sondern wo die Mieten noch halbwegs bezahlbar sind. Das trifft Studenten, Familien, Rentnerinnen,
Singles – eigentlich fast alle. Noch schlimmer kommt es für diejenigen, die aus ihren Wohnungen
rausgeworfen werden, weil Sanierungen anstehen oder sie sich die Miete nicht mehr leisten können.

Das, was sich hinter dem Wort „Gentrifizierung“ dann verbirgt, ist im wahrsten Sinne des Wortes
Verdrängung. In Innenstädten kann nur noch leben, wer es sich leisten kann. In Städten wie Berlin haben
sich die Mieten innerhalb von zehn Jahren in einigen Bezirken verdoppelt. Für mein erstes WG-Zimmer
zahlte ich noch 230 Euro, zuletzt waren es 450.

Das Menschenrecht auf Wohnen wird systematisch verletzt

Gegen diesen rasanten Anstieg sollte die Mietpreisbremse helfen. Doch sie kann die Preise nur deckeln,
den Anstieg nicht verhindern. Zudem gibt es viele Wege, sie zu umgehen. Gerade für die großen
Unternehmen, die mehrere Tausend Wohnungen besitzen, ist es durch ihre ungeheure Marktmacht ein
Leichtes, die seichten politischen Regelungen zu umgehen oder an den Rand des Möglichen zu treiben.

Im Sozialpakt der Vereinten Nationen ist ein Recht auf Wohnen festgeschrieben. Mit anderen Worten: Der
Staat muss sich um genügend Wohnraum für seine Bürgerinnen und Bürger kümmern! Die
Bundesrepublik hat den Pakt 1973 ratifiziert, und trotzdem werden im „Sechsten Staatenbericht“ von
2018 der ungeregelte Wohnungsmarkt und die steigenden Mietpreise in Deutschland bemängelt. Genau
genommen verletzt die Regierung systematisch das Recht auf Wohnen – und damit ein Menschenrecht.

Selbst die UN raten deshalb, in den sozialen Wohnungsbau zu investieren und Mietspekulationen zu
verhindern. Das Irre am Geldverdienen mit Wohnungen sind ja nicht nur die hohen Mieten, sondern die
Tatsache, dass Wohnungen leer stehen oder nur ein paar Tage im Jahr genutzt werden: als
Ferienwohnungen der Oberschicht.

Rekommunalisierung ist nicht nur nötig, sie ist auch rechtens

Will man die Not wirklich bekämpfen, muss man an die Wurzel des Problems: das Geschäft mit dem Profit
durch Wohnungen. Erst wenn die Wohnungen wieder für die Menschen und nicht fürs Geld gebaut und
instand gehalten werden, können wir von einer humanen Wohnungspolitik sprechen.

Für mehr Wohnraum sorgt aber nicht unbedingt der Staat, sondern wir alle! Das bedeutet, alle rechtlichen
Möglichkeiten auszuschöpfen und Genossenschaften, kommunale Wohnungsbaugesellschaften oder
soziale Bauträger zu gründen. Erst wenn die Mieterinnen und Mieter selbst über ihren Wohnraum
mitbestimmen dürfen, werden sie Preise und die Wohnraumvergabe nach anderen Kriterien ausrichten
können als den des größten Profits.

Tatsächlich müssen dafür die bestehenden Wohnungen erst einmal enteignet werden. Ein Schritt, den die
Mehrheit der Berlinerinnen und Berliner befürwortet. Bei einem solchen Staatseingriff denken trotzdem
viele an ein staatssozialistisches Schreckgespenst. Zu sehr haben sich alle daran gewöhnt, dass „der
Markt“ die Dinge von allein und für alle zum Besten regelt.

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Das Recht auf Wohnen für alle wird erkämpft werden müssen

In Wahrheit sind Enteignungen eine Lösung, die durch das Grundgesetz abgesichert und angesichts der
prekären Lage auch absolut legitim ist. In Artikel 15 heißt es: „Grund und Boden, Naturschätze und
Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der
Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt
werden.“

Man wird sich dafür mit den Unternehmen und Vermietern anlegen müssen. Kurz: Das Recht auf Wohnen
für alle wird erkämpft werden müssen.

Ines Schwerdtner zieht gerade von Frankfurt (Main) nach Berlin und konnte eine Wohnung nur über
Bekannte finden. Sie schreibt für das sozialistische Jacobin Magazin und auch sonst gern über Enteignungen
und demokratischen Sozialismus.

Du oder der Staat


Was schützt das Klima besser: persönliche Maßnahmen oder staatliche Verordnungen? Unsere Autoren
streiten

16.03.2019

Der Staat alleine packt es nicht! Jede*r Einzelne ist gefragt

von Patrick Held

Ich bin jetzt Anfang 30 und Vater einer kleinen Tochter. Fast jede Woche frage ich mich, ob ich ihr eines
Tages, in einem Extremwetter-Schutzbunker sitzend, werde sagen können: „Ich habe alles mir Mögliche
getan, um den Klimawandel zu stoppen!“ Ein übertriebenes Szenario? Wenn man der nüchternen Analyse
eines Prof. Schellnhuber – immerhin Klimaexperte der Kanzlerin – zum Thema tipping points auf Youtube
lauscht, leider keineswegs.

Wenn ich darüber nachdenke, fallen mir viele Dinge ein, zu denen ich heute oder gerne bereits gestern
„Nein danke!“ gesagt hätte. Denn mal ehrlich: Niemand hat mich je dazu gezwungen, in ein Flugzeug zu
steigen.

Von Zeit zu Zeit gibt es politische Persönlichkeiten oder Gesetze, die es schaffen, Gesellschaft im Kern zu
wandeln. Die Einführung des BAföG 1971 öffnete einer ganzen Schicht die Tore zu den Universitäten. In
der Regel aber vermag Politik nur das umzusetzen, was in einer kritischen Masse von Köpfen und Herzen
schon angekommen ist. Das galt für den Atomausstieg wie für die Ehe für alle.

Was wirkt: sich die eigenen Klimaschulden vor Augen zu führen

Ich glaube: Nur wer einmal freiwillig und aufrichtig versucht hat, sein Leben klimagerecht umzugestalten,
wird auch Gesetze von Parteien akzeptieren, die unsere Gewohnheiten verändern wollen,
wird Postwachstumsökonomen wie Prof. Niko Paech zuhören oder sogar selbst Innovationen erdenken,
die ein Leben ohne Raubbau ermöglichen.

Zu glauben, man könne mit Steuern oder höheren Preisen ausreichend viel bewirken, ist dagegen
irrwitzig. Seit der Finanzkrise sind unsere Volkswirtschaften mit billigem Geld geflutet. So wird sich
immer jemand finden, der höhere Preise für fossile Rohstoffe bezahlt. Diese Rohstoffe müssen aber unter
der Erde bleiben, um das in Paris gesetzte Ziel von einer maximalen Erwärmung von zwei Grad zu
schaffen. Höhere Preise treffen hauptsächlich die Armen und befördern einen gesellschaftlichen Unmut,
wie auch die Gelbwesten-Bewegung zeigt. Auf reiche Klimasünder haben hohe Preise einen ähnlichen
Effekt wie Punkte in Flensburg auf Diplomaten: nämlich gar keinen!

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Um ins politische Umsetzen zu kommen, braucht es Menschen, die lösungsorientiert vorangehen und sich
der besinnungslosen Betriebsamkeit eines vermeintlichen Fortschritts entziehen. Menschen, die sich
trauen, sich ihre Klimaschulden vor Augen zu führen, indem sie zum Beispiel über ihren persönlich
verursachten CO₂-Ausstoß Buch führen. Apps und Seiten
wie changers.com, atmosfair.de oder klimaktiv.de können dabei helfen, so ein CO₂-Konto anzulegen. Bei
mir sind seit 1998 26 Flugstrecken verbucht – 33 Tonnen CO₂, für die ich mich in der Verantwortung
sehe.

Verzicht kann sich wie Befreiung anfühlen

Damit wir in Deutschland von knapp zehn Tonnen CO₂ auf die angestrebten unter zwei Tonnen pro Kopf
für das Pariser Klimaziel kommen, brauchen wir eine kulturelle Schubumkehr, die nur in jedem Einzelnen
beginnen kann. Ein guter Anfang ist, vermeintliche Alternativlosigkeit zu hinterfragen. Fliegen? Der Early
Adopter antwortet: „Nein danke! Ich habe den Nachtzug schon gebucht.“ Fleisch? „Nein danke! Es gibt
auch andere leckere Sachen.“ Pendeln? „Nein danke! Wozu gibt es Homeoffice oder Coworking-Spaces?“

Dieses „Nein danke!“ muss keine Spaßbremse sein. Man kann jede Menge klimaneutralen Spaß haben, der
in unserer von Öl beschleunigten Gesellschaft unter die Räder gekommen ist. So hatten die Menschen in
den 1970er- bis 1990er-Jahren zwar keine Selfies aus Schanghai und New York vorzuzeigen, dafür aber
deutlich mehr Sex und Sexpartner als wir heute – das ergab zumindest eine Studie der International
Academy of Sex Research für die USA. Auch vegetarische Grill- und Trinkabende mit Freunden sind nicht
gerade ein Grund, Trübsal zu blasen. Welchen Wert haben klimaschädliche Aktivitäten im Hier und Jetzt,
wenn es für die Menschheit kein Morgen mehr gibt?

Arbeitslose tun mehr für das Klima als Erwerbstätige

Unsere größte Herausforderung ist nicht mehr die Bewältigung eines Mangels, sondern der Gier des
Überflusses zu widerstehen. Mein Tipp: Setzt euch ein eigenes CO₂-Budget. Fangt mit sechs Tonnen pro
Jahr an und versucht, innerhalb dieses Budgets so viel Spaß zu haben wie eben geht. Wer an die Grenzen
seiner sechs Tonnen stößt, wird im Alltag viele Lösungen entdecken. Das eigene Denken verändert
sich: Plötzlich ist man bereit, anderen Geld zu geben, wenn sie für einen Treibhausgase einsparen. Und
man entdeckt vielleicht, dass manches, das wie Verzicht wirkte, sich tatsächlich wie eine Befreiung
anfühlt.

Ich habe gelernt, dass Zeitkompression – also mehr Dinge in immer weniger Zeit zu tun – der größte Feind
und Zeitwohlstand der größte Freund eines klimaneutralen Lebens ist. Dass mehr Einkommen mit mehr
Energieverbrauch einhergeht. Dass Menschen, die arbeitslos sind, im Moment wohl mehr für das Klima
tun als jene, die arbeiten gehen. Und dass Omas Hackenporsche – Einkaufstrolley – als Low-Tech-Solution
jedes E-Auto in der Klimabilanz schlägt. Solche Erkenntnisse mögen irritieren, aber da muss man durch.
Wenn man am Rande eines Abgrundes steht, ist es klug, am „Fortschritt“ zu zweifeln. Zumindest sollte
man vor dem Weitergehen die Richtung ändern. Wer den Mut dafür aufbringt, merkt schnell, dass einiges
anders werden muss. Aber auch: dass ein gutes klimaneutrales Leben möglich ist.

Patrick Held arbeitet für eine Ökobank. Er ist überzeugt, dass ein gutes klimaneutrales Leben möglich ist. Wie
er das macht? Einkäufe im Bioladen, Teilzeitleben im Tiny House, Ablehnung von Fleisch, Flügen,
Berufspendeln oder Vollzeitstellen.

Collagen: Renke Brandt

Wir brauchen strikte Regeln vom Staat, sonst kratzen wir nur an der Oberfläche

von Martin Thaler

„Reisen? Nur was für die Elite“, „Zurück ins Mittelalter“ und „Politiker wollen uns die Flügel stutzen!“ – So
stelle ich sie mir vor, die wütenden Überschriften in den deutschen Zeitungen, sollte die Bundesregierung
eine CO₂-Abgabe für den Luftverkehr einführen. 50 Euro pauschal auf jeden Flug – das dürfte für große

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öffentliche Entrüstung sorgen. Denn für viele scheint der 29-Euro-Wochenendtrip nach Mallorca oder
London ein Grundrecht zu sein, genauso schützenswert wie Meinungs- oder Berufsfreiheit.

Wir Deutschen sind zu einem Vielflieger-Volk geworden. Allein im ersten Halbjahr 2018 zählten die
großen Flughäfen im Land insgesamt 56,5 Millionen Passagiere. Über elf Millionen davon waren innerhalb
von Deutschland unterwegs – auf Strecken, die auch per Bahn innerhalb weniger Stunden zurückgelegt
werden könnten.

Wir brauchen Reglementierungen – auch da, wo es wehtut

Dass wir mit unserer Fliegerei der Umwelt vors Schienbein treten, ist kein Geheimnis. Trotzdem
entscheiden wir uns dafür. Warum? Weil es billig ist. Denn während die Airlines ihr Kerosin nicht
versteuern müssen, wird bei der Bahn eine Stromsteuer fällig.

Für jemanden mit Flugangst wie mich stellt es natürlich kein großes Opfer dar, eine CO₂-Steuer aufs
Fliegen zu fordern. Ich finde aber: Eine striktere Reglementierung klimaschädlichen Verhaltens ist auch
auf dem Boden notwendig. Da, wo es auch mir wehtut.

Als jemand, der in Niedersachen aufgewachsen ist, in Sicht- beziehungsweise Riechweite zum deutschen
Güllegürtel, greife ich gerne zu Schnitzel und Bratwurst. Damit bin ich nicht allein: Der
Durchschnittsdeutsche aß im Jahr 2016 insgesamt 59 Kilo Fleisch – Huhn, Schaf, Reh, Rind und Schwein
zusammengezählt. Und auch hier wissen wir längst: Gut für die Umwelt ist unsere Kalbshaxe sicher nicht.

Das billige Schnitzel geht auf die Kosten vieler

Laut Berechnungen der UN-Landwirtschaftsorganisation FAO stammen 14,5 Prozent der weltweit von
Menschen verursachten Treibhausgasemissionen aus der Haltung sowie Verarbeitung von Tieren.
Trotzdem lassen wir uns das Pfund Putenschnitzel für 2,99 Euro schmecken.

Dabei entstehen bei der Fleischproduktion oder dem Charterflug nach Mailand sehr wohl hohe Kosten.
Nur werden diese nicht auf den Kunden, sondern auf die Allgemeinheit umgelegt. Das billige Schnitzel
geht auf Kosten der Tiere, der schlecht bezahlten Arbeiter im Schlachthof sowie der Umwelt. Und auch
beim Charterflug nach Mailand werden Mensch und Natur zur Kasse gebeten: Flughäfen zerstören
Grünflächen, Fluglärm macht Anwohner krank, und die Abgase schaden dem Klima.

Gute Taten Einzelner reichen längst nicht, um das Klima zu retten

Ich fände es großartig, wenn wir aus eigenem Antrieb klima- und umweltfreundlichere Lösungen
entwickeln würden. Viele tun das auch, ersetzen den USA-Urlaub durch eine Fahrradtour durch den Harz,
reduzieren ihren Plastikverbrauch oder lassen das Auto am Wochenende einfach mal stehen.

Doch die guten Taten Einzelner reichen nicht, um das Klima zu retten. Bei weitem nicht. Und wo der
Einzelne an seine Grenze gelangt, muss die Gesellschaft in Aktion treten. Besser gesagt: der Staat.

Dieser hat die Aufgabe, Menschen vor gefährlichem Verhalten zu schützen. Das macht er bereits an
anderen Stellen, beispielsweise im Straßenverkehr: Nicht die Verkehrsteilnehmer entscheiden, welches
Fahrtempo einer Spielstraße angemessen ist, ob sie mit uralten Dieseln durch die Gegend fahren dürfen
oder auf dem Motorrad der Helm getragen wird. Der Staat setzt die Regeln fest, die ein notwendiges Maß
an Sicherheit garantieren.

Die CO₂-Emissionen in Deutschland pro Kopf? Doppelt so hoch wie der internationale Durchschnitt

Das gleiche Prinzip sollte auch beim Klimaschutz gelten. Notwendige Schritte im Tausch für mehr
Sicherheit. Auch wenn es dann für die Bürger teurer wird. Nur wenn sich die hohen Kosten, die wir mit
unserem Konsumverhalten verursachen, in unserem eigenen Portemonnaie bemerkbar machen, ist ein
konsequenter Verhaltenswandel denkbar. Die Uhr tickt: Wollen wir die Ziele des Pariser Klima-
Abkommens bis Ende des Jahrhunderts erreichen und damit den Klimawandel halbwegs unter Kontrolle

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halten, müssen die Pro-Kopf-Emissionen deutlich unter zwei Tonnen sinken. In Deutschland sind sie mit
rund 9,6 Tonnen derzeit ungefähr doppelt so hoch wie der internationale Durchschnitt.

Im Kampf um den Klimawandel brauchen wir keine lange Leine. Im Gegenteil: Hier ist ausnahmsweise mal
weniger Beinfreiheit gefragt.

Martin Thaler versucht, seinen ökologischen Fußabdruck zu verkleinern, scheitert dabei aber häufig an
seiner Bequemlichkeit. Statt nach London zu fliegen, fährt er dieses Jahr mit dem Zug nach Breslau. Da soll’s
ja auch schön sein

Ist die EU undemokratisch?


Kritiker*innen werfen der EU vor, undurchsichtig, bestechlich oder nicht repräsentativ zu sein. Was ist da
dran? Ein Streit

22.05.2019

Ja, es gibt zu viele Brüsseler Dunkelkammern

findet Nico Schmidt

Fast scheint es egal, wer in Europa an die Macht kommt. So sehr ähneln sich viele Parteien in diesen Tagen
in ihrem Für-Europa-Sein. Fast alle Spitzenkandidaten haben sich in einem blauen Europa-Pulli
fotografieren lassen, und ihre Parteien haben in den Städten längst auch den letzten Laternenpfahl
plakatiert mit Variationen des „Europa ist die Antwort“-Pathos. Auch Firmen wie die Deutsche Bahn oder
Fritz-Kola werben für den Staatenbund. Der Brausehersteller lässt über einen Instagram-Werbeclip
verbreiten, dass die EU Frieden, Freiheit und Demokratie sei, und fordert: „Tu etwas dafür, dass das so
bleibt“. Und das ist alles richtig und eben auch irgendwie nicht.

Anders als die Vereinten Nationen lassen die Unionsstaaten keine Diktaturen in ihren Klub. Die
Grundierung der EU ist also demokratisch – klar. Doch wer bei all der Europa- und
Demokratiebegeisterung nicht ganz so genau hinschaut, was in Brüssel eigentlich los ist, kann leicht
übersehen, dass in Europas Mitte einige Politiker längst damit begonnen haben, die europäische
Demokratie auseinanderzubauen. An ihrer Stelle errichten sie eine undemokratische Dunkelkammer, in
die nur wenige Zutritt haben.

Das Europaparlament hat selten wirklich etwas zu sagen

Auf einen Europaabgeordneten kommen etwa 33 Lobbyisten, schätzt die Organisation LobbyControl. Die
haben nur ein Ziel: ihre Interessen in Gesetzen und Richtlinien festschreiben zu lassen. Das ist ein
Problem. Denn in Brüssel sind nicht alle Gruppen gleich vertreten, zwei von drei Lobbyisten arbeiten für
Wirtschaftskonzerne. Umwelt- oder Verbraucherschutzverbände sind in der Unterzahl. Denn wer für
seine Interessen werben will, muss sich das leisten können. Da wären zum Beispiel die Kosten für das
Porto der Briefe und Kondome, mit denen eine Lobbyorganisation für Uploadfilter warb. Ihre Botschaft an
die Abgeordneten: „Wir lieben Tech-Giganten und wir lieben Schutz.“ Effektiver und teurer waren da
mutmaßlich die fast 800 Treffen von Lobbyisten mit Mitarbeitern der EU-Kommission, in denen sie über
Urheberrecht sprachen – und wohl auch Uploadfilter. Ende März reformierte dann das Europaparlament
das Urheberrecht und ermöglichte jene Uploadfilter.

Das Europaparlament hat selten wirklich etwas zu sagen. Und das gefährdet die europäische Demokratie
mehr als jede Lobbyistendelegation. Das EU-Parlament muss zwar Gesetze verabschieden, darf selber
aber keine vorschlagen. Wenn EU-Gesetze entworfen werden, geschieht das immer häufiger in Räumen,
die kein Bürger und kein Journalist betreten kann.

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Die EU braucht neue Regeln

Dort, in Europas Dunkelkammer, treffen sich Rat, Kommission und EU-Parlamentarier. Sie werden in
Brüssel „informeller Trilog“ genannt, sind aber nicht gesetzlich geregelt. Dabei werden inzwischen vier
von fünf Gesetzen auf diese Art erarbeitet. Das Ergebnis nicken anschließend die EU-Parlamentarier nur
noch ab. Wer zuvor für welche Interessen mit welchen Argumenten geworben hat? Lange wusste das
niemand. Erst im März 2018 forderte das Europäische Gericht, mehr Transparenz zu schaffen und
Dokumente offenzulegen. Doch häufig sagen die Trilog-Beteiligten, es gebe gar keine Dokumente oder
Protokolle. Bei diesen Treffen im kleinen Kreis gewinnen oft die Nationalregierungen und drücken ihre
eigenen Interessen durch. Die Bundesregierung versuchte so, bestimmte Abgastests zu verhindern oder
Mechanismen gegen Steuervermeidung. Das ist nicht gerade europäisch und nicht demokratisch.

Die Europa-Begeisterung ist ja auch gut, denn es ist wichtig, den Nationalisten etwas entgegenzustellen.
Doch wer sich nur vor die EU stellt, sieht nicht, was da mitunter schiefläuft. Die EU bietet nicht nur Anlass
zu feiern, und Europa ist nicht immer die Antwort. Es ist ein Konstrukt, das auch von innen bedroht wird
und neue Regeln braucht. Wie das geht, wurde Anfang des Jahres deutlich, als es EU-Parlamentariern trotz
des Widerstandes einiger Abgeordneter überraschend gelang, neue Transparenzregeln zu verabschieden.
Künftig müssen Ausschussvorsitzende und sogenannte Berichterstattende in Gesetzgebungsverfahren
offenlegen, wann sie welche Lobbyisten treffen. Ein Anfang.

Nico Schmidt ist Reporter für das europaweite Recherchenetzwerk Investigate Europe. Als er neulich zum
ersten Mal im Brüsseler EU-Viertel recherchierte, war er verblüfft, wie getrennt diese Welt vom Rest der Stadt
ist. Dort sah er in den Straßen und Bars vor allem Lobbyisten.

Collagen: Renke Brandt

entgegnet Jule Könneke

Flagge für Europa zu zeigen ist heute wieder angesagt. Besonders in einer Zeit, in der einige europäische
Parteien die EU am liebsten abschaffen wollen. Sie sei „undemokratisch“, lautet einer der beliebten
Vorwürfe. Das stimmt nicht!

Fangen wir bei der Grundarchitektur der EU an. Okay, klingt langweilig, aber erlaubt mir diesen Ausflug.
Die EU-Bürger*innen wählen ihre Abgeordneten in fairen, geheimen und freien Wahlen. Die EU-
Abgeordneten vertreten, wie in nationalen Parlamenten, also ihre Wähler*innen unmittelbar. Was soll
daran undemokratisch sein? Der Europäische Rat der EU setzt sich aus den – demokratisch gewählten –
Staats- und Regierungschefs der einzelnen Mitgliedstaaten zusammen. Die Europäische Kommission
schließlich wird zwar nicht gewählt, jedoch ist der Europäische Rat, der die Mitglieder der Kommission
vorschlägt, auf die Zustimmung des EU-Parlaments angewiesen. Die EU-Kommission ist damit dem
Parlament gegenüber nicht nur rechenschaftspflichtig. Das Europäische Parlament hat auch immensen
Einfluss auf die Zusammensetzung der Kommission.

Gesetze können im Europaparlament nicht einfach „durchgewunken“ werden

Apropos Parlament: Dort wird fast so lauthals debattiert wie im britischen Unterhaus, wenn es über
Brexit-Fragen streitet. Anders als im Deutschen Bundestag gibt es im EU-Parlament keine klare
Unterscheidung zwischen Regierung und Opposition. Da sich die EU-Kommission folglich nicht auf eine
feste Parlamentsmehrheit stützen kann, müssen für jede ihrer Gesetzesinitiativen aufs Neue Mehrheiten
und Kompromisse zwischen den Fraktionen gefunden werden. Das erfordert überzeugende Argumente,
erhöht die Transparenz und schafft eine vielfältige Debattenkultur! Ein einfaches „Durchwinken“ von
Gesetzesinitiativen gibt es in Brüssel nicht. Eine Mehrheit muss sich immer wieder neu finden und
überzeugen lassen.

Die EU ist in den vergangenen Jahren immer demokratischer geworden. Seit dem Lissabon-Vertrag von
2009 müssen die Parlamentarier*innen allen EU-Gesetzen zustimmen. Außerdem stellen die
europäischen Parteien mittlerweile eine Spitzenkandidatin oder einen Spitzenkandidaten für die
Kommissionspräsidentschaft auf. Das garantiert den EU-Bürger*innen ein weiteres Mitspracherecht.

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Denn die Ergebnisse der EU-Parlamentswahlen werden bei der Ernennung des Kandidaten oder der
Kandidatin für den Vorsitz der EU-Kommission berücksichtigt.

Man darf die EU nicht mit nationalstaatlichen Demokratien verwechseln

Viele Kritiker*innen verwechseln die Demokratie, die sie aus ihrem Nationalstaat kennen, mit der auf
europäischer Ebene. Sie sagen dann zum Beispiel: „Der Rat der EU ist nicht ausreichend legitimiert, weil er
nicht direkt von uns Bürger*innen gewählt wird.“ Das ist irreführend, denn die Europäische Gemeinschaft
ist kein Staat und zielt auch nicht darauf ab, einer zu werden. Die EU ist ein weltweit einzigartiges
politisches System. Es verbindet intergouvernementale (zwischenstaatliche) mit supranationalen
(überstaatlichen) Elementen. An Entscheidungsprozessen sind mit der regionalen, der nationalen und der
supranationalen mindestens drei Ebenen beteiligt. Jede dieser Ebenen hat ihre eigenen Verfahren und
Akteure. Nationalstaatliche Demokratiemaßstäbe werden dieser Komplexität des EU-Mehrebenensystems
nicht gerecht und sind daher gänzlich ungeeignet, die demokratische Qualität der EU zu messen.

In der EU geht es sogar direktdemokratisch zu: mit Europäischen Bürgerinitiativen (EBI) können die
Bürger*innen die EU-Kommission zu neuen Gesetzgebungsinitiativen auffordern. Auf Bundesebene gibt es
dafür in Deutschland kein Äquivalent. Die EBI stärken die partizipative Demokratie und lassen eine
europäische Öffentlichkeit entstehen. Länderübergreifend können EU-Bürger*innen sich für eine
gemeinsame Sache einsetzen.

Natürlich ist die europäische Demokratie noch nicht perfekt. Sie sollte, beispielsweise durch einen
weiteren Kompetenzausbau des Europäischen Parlaments, laufend weiterentwickelt werden. Aber: Als
Wertegemeinschaft mit einmaligen Formen grenzüberschreitender demokratischer Zusammenarbeit
sucht die EU in der Welt ihresgleichen. Demokratisch ist die EU auf jeden Fall.

Jule Könneke ist Politikwissenschaftlerin und engagiert sich ehrenamtlich als Vorstandsmitglied bei Polis180,
einem Grassroots-Thinktank für Europa- und Außenpolitik. Sie ist genervt vom ständigen EU-Bashing und
meint: Die perfekte Demokratie gibt es (noch) nicht. Es sei doch kein Problem, sie immer weiter zu
verbessern!

Sollten wir im Netz anonym sein?


Immer öfter hört man die Forderung, dass Plattformen unsere Klarnamen kennen müssen. Wäre es das
Ende von Hate Speech oder ein Angriff auf die Rückzugsräume des Netzes? Unsere Autoren sind uneins

29.05.2019

Anonymität tut weh. Aber wir müssen sie aushalten

findet Eike Kühl

Nun also Österreich. Die ohnehin gebeutelte Regierung unseres Nachbarn plant ein Gesetz, das die
Anonymität im Internet einschränkt. Plattformen mit mehr als 100.000 Nutzern oder mehr als 500.000
Euro Jahresumsatz, also etwa Facebook, Instagram oder YouTube, aber auch Nachrichtenseiten und
Foren, sollen die Identität ihrer Nutzer*innen überprüfen und deren Klarnamen und Anschrift speichern.
„Digitales Vermummungsverbot“ heißt das. 2011 kam Bundesinnenminister Friedrich auf die
Idee, kürzlich forderte auch Bundestagspräsident Schäuble die Klarnamenpflicht. Die Idee war damals wie
heute nicht gut.

Natürlich sind Hass und Hetze gerade in sozialen Netzwerken und Kommentarspalten ein Problem. Der
Ton im Netz überschreitet oft die Grenzen der Netiquette, manchmal auch die des Gesetzes. Auch ich habe

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schon anonyme Leserpost erhalten, die mir, um es dezent auszudrücken, nicht gerade Lebensfreude und
Gesundheit gewünscht hat. Trotzdem möchte ich künftig nicht meinen Ausweis vorlegen müssen, wenn
ich mich auf einer Website registriere. Eine Klarnamenpflicht ist kein Allheilmittel gegen Trolle, sie betrifft
vor allem Unschuldige.

Als würde man in der Kneipe den Perso abgeben – und erlauben, dass der Wirt alle Gespräche aufzeichnet

Anonymität und Pseudonymität sind ein Schutz. Auch wenn es manchmal wehtut: Eine demokratische
Gesellschaft muss das aushalten. Viele demokratische Prozesse laufen aus gutem Grund anonym ab. Wir
wählen geheim und können demonstrieren, ohne unsere Identität preiszugeben. Dasselbe gilt im Netz:
Nicht nur Whistleblower*innen und Dissidenten genießen den Schutz der Anonymität. Auch Menschen,
die sich in Foren über ihre Zweifel austauschen, über sexuelle Vorlieben, ihre Lieblingsband oder das
Weltgeschehen, können ihren Klarnamen für sich behalten.

Ohne diesen Schutz wären Diskussionen im Netz vermutlich deutlich ruhiger. Denn eine Klarnamenpflicht
im Internet wäre nichts anderes als die Pflicht, beim Betreten einer Kneipe dem Wirt seinen
Personalausweis und die Erlaubnis geben zu müssen, alle Gespräche am Tisch aufzunehmen, wie ein
Kollege mal beschrieb. Selbst wenn uns nur die Wirte und nicht die Gäste namentlich kennen: Wer diese
Vorstellung nicht unbehaglich findet, bestelle das erste Bier.

Datendiebstahl ist bei einer Klarnamenpflicht unumgänglich

Eine Klarnamenpflicht würde das Recht auf informelle Selbstbestimmung beschneiden. Sie widerspricht
den Vorgaben der DSGVO, nach denen die Plattformen weniger persönliche Daten erheben und speichern
sollen. Und sie schafft neue Anreize für Hacker: Wenn schon Facebook Nutzerdaten nicht richtig sichern
kann, wie sollen es kleine Anbieter können? Selbst wenn ein Klarnamenzwang vorerst nur große Dienste
und Plattformen beträfe: Erfahrungsgemäß werden Überwachungsgesetze mit der Zeit eher ausgeweitet
als entschärft.

Südkorea hatte ein vergleichbares Gesetz bereits. Aber nicht lange

Statt dem Internet die Anonymität auszutreiben, sollten sich Politik und Behörden lieber überlegen, wie
sie die gegebenen Möglichkeiten der Strafverfolgung verbessern können. Es gibt auch ohne Ausweispflicht
die Möglichkeit, Nutzer zu identifizieren, etwa über IP-Adressen. Die kann man natürlich verschleiern,
aber wer wirklich anonym bleiben möchte, wird das so oder so tun. Das Problem ist weniger die
Identifizierung der Täter als vielmehr mangelnde Bereitschaft und Mittel aufseiten der Strafverfolger,
Bedrohungen und strafbare Beleidigungen im Netz konsequent zu verfolgen. Man könne da nicht viel tun,
bekommen Opfer oft zu hören.

Ein Klarnamenzwang wird daran nichts ändern. Er wird auch nicht dafür sorgen, dass in den sozialen
Netzwerken plötzlich Friede herrscht. Das zeigt ein Beispiel aus Südkorea. 2007 gab es dort eine
Identifizierungspflicht für die Nutzer großer Plattformen. Im ersten Jahr ging die Anzahl der
Hasskommentare einer Studie zufolge trotzdem nur um 0,9 Prozent zurück, 2012 wurde das Gesetz vom
südkoreanischen Verfassungsgericht wieder gekippt. Zuvor waren allein in einem Angriff auf ein soziales
Netzwerk 35 Millionen Datensätze mit persönlichen Informationen gestohlen worden.

Die Südkoreaner zahlten einen hohen Preis für wenig Ertrag. Wir können uns das sparen.

Eike Kühl ist freier Journalist und schreibt seit zehn Jahren über Datenschutz. Er nutzt täglich Dutzende
Pseudonyme im Internet. Nur bei Facebook war er nie angemeldet – oder?

Diskussion braucht Verantwortung, keine Anonymität

entgegnet Daniel Mack

Mit dem jüngsten Rechtsruck haben sich soziale Netzwerke verändert. Es ist hart, was dort innerhalb von
Minuten an Hetze, Hass und Gewaltaufrufenzusammenkommen kann. Und es hat System: Schaut man sich

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die Profile von Dunja Hayali oder Cem Özdemir an, fallen vor allem anonymisierte User durch Hate Speech
auf.

Ich frage mich, was das für unsere Demokratie bedeutet. Was das mit denen macht, die sich für unsere
Gesellschaft engagieren. Egal ob sie das ehrenamtlich oder hauptberuflich tun.

Wird der Druck so groß, dass Menschen ihr Engagement beenden? Oder es aufgrund der Erfahrungen
anderer erst gar nicht aufnehmen?

Eine Debatte funktioniert nur mit Namen und Gesicht – ob im Bierzelt oder im Netz

Kommunikation lebt von persönlicher Verantwortung, das habe ich schon als Jugendlicher gelernt. Wer
veröffentlicht, sollte auf das Plakat oder die Zeitung mindestens einen Namen schreiben: Daniel Mack,
V.i.S.d.P. – Verantwortlich im Sinne des Presserechts.

Ich verhalte mich heute nicht anders, wenn ich persönlich kommuniziere. Ob Twitter oder offline: Ich
nenne meinen Namen und zeige mein Gesicht oder eben ein Bild, auf dem man mich klar erkennt.

Im Netz machen das viele Diskutanten anders. Ihre Profile firmieren unter Fantasienamen oder wirr
aneinandergereihten Zahlen und Buchstaben, ihre Profilbilder zeigen alles, Legofiguren, Schäferhunde,
Putin, nur nicht sie selbst. Dass manche sich verkleiden oder irgendwo austoben wollen, kann ich
nachvollziehen. Sie sollen aber bitte zum Karneval oder Sport gehen. Eine politische Debatte funktioniert
meines Erachtens nur mit Namen und Gesicht. Ob im Bierzelt oder im Netz.

Ob der Klarname sichtbar ist, soll jede*r für sich entscheiden dürfen

Wir müssen deshalb aufpassen, dass die digitale nicht über die analoge Welt bestimmt. Wenn die Anzahl
und die Intensität von Beleidigungen und Drohungen zunehmen, wenn sie nicht von Einzelnen stammen,
sondern von Gruppen geplant und gesteuert werden, können wir schlecht die Anonymität hochhalten. Bei
einem Vergehen in der echten Welt werden auch die Personalien aufgenommen. Argumente für das
anonyme Netz lese ich trotzdem seit Jahren. Überzeugend finde ich sie nicht.

Ob der Klarname im Profil sichtbar ist, sollte jeder Nutzer für sich selbst entscheiden können. Die
Betreiber der Plattform aber sollten ihn kennen. Das würde ich gesetzlich vorschreiben, denn es ist
schnell gemacht: per Postident-Verfahren oder mit einer Mehr-Faktor-Authentifizierung, die neben dem
Klarnamen auch eine E-Mail-Adresse oder Telefonnummer voraussetzt, an die dann ein Anmeldecode
geschickt wird. Airbnb setzt solche Maßnahmen bereits um.

Nur mit einem klaren Regelwerk können wir die Digitalisierung zur Stärkung unserer Demokratie nutzen

Klar ist auch, dass diese Identifizierungsdaten sicher und getrennt von sonstigen Nutzerdaten gespeichert
werden müssen. Hat eine Ermittlungsbehörde hinreichende Gründe für einen Gesetzesverstoß eines
Nutzers, kann die Plattform dessen Daten dann auf richterliche Anordnung herausgeben.

Das ist zum Besten aller: In einer offenen Gesellschaft sind wir am sichersten, wenn Polizei oder
Verfassungsschutz Informationen nahtlos austauschen können.

Nur mit einem klaren Regelwerk und Kontrollen können wir die Digitalisierung zur Stärkung unserer
Demokratie nutzen. Sonst tritt das Gegenteil ein.

Daniel Mack saß mal für die Grünen im Hessischen Landtag (unter echtem Namen) und berät heute
Unternehmen und Unternehmer*innen zu Kreativität, Digitalisierung und Politik.

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Provinz oder Großstadt?
Louisa will nach dem Abi in Wernigerode nur noch in die Großstadt. Freundin Sinja nicht. Kleine
Meinungsverschiedenheit.

19.10.2015

Pro Großstadt: Möglich ist alles

Wer am echten Großstadtleben mal geschnuppert hat, ...


(Foto: Christian Werner)

„Einmal willst du leben in Rom, einmal willst du nach Berlin, einmal willst du leben auf Hawaii, sterben
wirst du leider in Wien.“ So besingt die Wiener Band Wanda das urbane Nomadentum unserer Generation.
Zeilen, in denen ich mich wiederfinde. Meine Jugend war nämlich vor allem von einem geprägt: Sehnsucht
nach all den Möglichkeiten, die mir meine provinzielle Heimatstadt nicht bieten konnte.So brach ich nach
dem Abitur nicht etwa ins neuseeländische Hinterland auf, wie es einige meiner Mitschüler taten, sondern
flog für einige Wochen in die gefühlte Hauptstadt der Welt: New York.

Während den meisten Besuchern nach einigen Tagen das Leben in diesem Schmelztiegel zu viel wird,
kamen mir die Möglichkeiten dieser Stadt unendlich und unendlich spannend vor: bis spätabends im
Museum verweilen, unter der Woche nachts noch mit der Subway fahren oder mit den gelben Taxis über
die Brooklyn Bridge.

Ich sah Menschen in den ausgeflipptesten Outfits, und keiner nahm davon groß Notiz. Das war gelebte
Toleranz, hier konnte jeder sein, wie er will. Ein einziger Tag schien mir erlebnisreicher zu sein als Monate
in meiner biederen Heimatstadt Wernigerode.

Während meiner Jugend hat mich die einzige Disco der Stadt nie wirklich interessiert. Die Musik war mir
zu einfältig, die Besucher zu angepasst. Clubs gab es nicht, in den umliegenden Kleinstädten gab es auch
nur Großraumdiscos. Für Theater-, Konzert- oder Kinobesuche musste man die nächstgrößere Stadt
aufsuchen. Deshalb freue ich mich schon darauf, bald aussuchen zu können, zu welcher Musik ich gerade
tanzen will, ohne dabei eine weite Anreise einplanen zu müssen. Weder für Einkäufe noch für kulturelle
Veranstaltungen muss man in der Großstadt Sprit verschwenden – vieles geht zu Fuß, für alles andere gibt
es den öffentlichen Nahverkehr und das Fahrrad. Während für die Generation unserer Eltern der
Führerschein das Symbol der Freiheit war, hat er für einen großen Teil unserer Generation keine
Bedeutung mehr.

Auch die vermeintliche Anonymität in der Großstadt hält mich nicht von meinen Umzugsplänen ab. Denn
auch in der Großstadt gibt es keine vollständige Anonymität, sobald man Teil einer bestimmten Peergroup
wird. Und während es in meiner Heimatstadt etwas Alltägliches ist, dauernd Bekannte auf der Straße zu
treffen, wird ein zufälliges Treffen in der Großstadt zu einem besonders freudigen Ereignis.

Großstadt – kann man doch auch als Herausforderung sehen

Ich habe ja gar nichts gegen etwas ländliches Idyll und einen Ausflug ins Grüne. Am liebsten unternehme
ich den aber innerhalb der Stadt. Zum Beispiel in den New Yorker Central Park, der so angelegt ist, dass
man an manchen Stellen fast vergisst, in einer Megacity zu sein. So ein Park wird von den Menschen auch
rege genutzt – weshalb es für mich da spannender ist als irgendwo auf der Kuhwiese. Viele europäische
Großstädte könnten im Umgang mit ihren Grünflächen noch so einiges lernen von New York.

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Eines steht allerdings fest: Mit dem Umzug in die Großstadt wird das Leben nicht auf einen Schlag leichter
oder gar sorgenlos. Zuerst heißt es, sich durch den Dschungel des Wohnungsmarktes zu schlagen und ein
bezahlbares Zimmer zu finden. Aber das sollte doch zu schaffen sein. Auch in Ausbildung, Praktikum oder
Studium müssen wir ständig Höchstleistungen erbringen und nebenbei die alltäglichen Hürden des
Erwachsenwerdens bewältigen.

Doch auch wenn das Stadtleben auf den ersten Blick unbequemer und schwieriger erscheint als das Leben
im heimatlichen Dorf oder in der Kleinstadt, so können wir von den urbanen Herausforderungen nur
lernen. Meiner Meinung nach sollte jeder junge Mensch zumindest versuchen, einmal in einer größeren
Stadt zu leben – egal ob New York oder Essen. Später kann man ja immer noch in die Provinz
zurückziehen.

Nach New York und ihrem Wernigeröder Homeoffice zieht es Fluter-Autorin Louisa Zimmer im nächsten Jahr
gleich in drei Großstädte: Köln, Leipzig und Berlin.

Contra Großstadt: Jetzt komm mal runter

... hat auf Kompromisse vielleicht keine Lust mehr


(Foto: Christian Werner)

Nach dem Abi im vergangenen Sommer zog ein gefühltes Drittel meines Jahrgangs zum Studieren nach
Leipzig. Ein Freund erzählte mir auf einer Party schwärmerisch: „Leipzig ist wie Berlin, nur in klein. Du
kannst dort einfach du selbst sein, und niemand guckt dich blöd an. Deshalb wächst die Stadt zurzeit auch
so an jungen Menschen. Du würdest auch super dorthin passen, überleg dir das mal!“
 Ich überlegte –
und entschied mich gegen Leipzig, gegen jede andere Großstadt und stattdessen für die kleine Stadt
Lüneburg in Niedersachsen.

Dass es mit der Toleranz in Großstädten so viel weiter her sein soll als anderswo, scheint mir unschlüssig.
Wie soll echte Toleranz überhaupt entstehen in einem Umfeld, in dem durch die schiere Masse von
Menschen weitgehend Anonymität herrscht?

Zwar ist es keine graue, sondern eine bunte Masse in der Großstadt. Aber auch wenn dort viele Menschen
aus den verschiedensten Kulturkreisen und Subkulturen zusammenkommen, niemand muss sich dort
wirklich mit dem anderen und seiner Andersartigkeit auseinandersetzen – weil alle füreinander nur die
bunten, jedoch anonymen anderen sind.

Kurzum: Meines Erachtens machen es sich die Städter mit ihrer vermeintlichen Toleranz zu einfach. In der
Masse der Großstadt als bunter Vogel unterzutauchen ist zwar eine gut funktionierende Flucht vor
verletzender Konfrontation, gibt mir aber keinesfalls das Gefühl, irgendwo offen aufgenommen worden zu
sein. Ich werde ja nur in Ruhe gelassen, weil sich eigentlich keiner für mich interessiert. Indifferenz ist
noch lange keine Toleranz.

Natürlich kenne auch ich das Gefühl, anders zu sein, abzuweichen von der kleinstädtischen Norm und
deshalb prüfend gemustert zu werden. In meiner Internatszeit in Wernigerode habe ich das manchmal
erfahren – und stetig daran gearbeitet, meine Schultern aufzurichten und den Blicken zu trotzen, meine
Außenseiterposition erhobenen Hauptes zu vertreten. Und ich habe mit skeptischen Menschen über
meine abweichenden Ansichten und meinen etwas anderen Geschmack gesprochen.

Großstädter kommen doch nie zur Ruhe

Denn das ist in einer kleinen Stadt leichter und passiert jeden Tag: Man kommt miteinander ins Gespräch.
Klar: So spricht sich auch das Fremde und Abweichende schnell herum. Es wird nicht wenig gelästert in so
einer Kleinstadt. Aber wenn man dann mit den Leuten darüber redet, entpuppt sich die vermeintliche
Intoleranz oft einfach als Verwirrung oder Missverständnis. Ich erinnere mich an eine Busfahrt, während
der sich ein älterer Mitfahrer über die laute Musik eines dieser „frechen Bengel“ beschwerte, ohne diesen
dabei direkt anzusprechen. Ich ermutigte ihn, den jungen Mann doch einfach zu bitten, die Musik leiser zu

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stellen. Das tat er. Am Ende war ich überrascht, wie lebhaft sich der „grimmige alte Mann“ mit dem
„frechen Bengel“ unterhalten konnte. So kann echte Toleranz entstehen. Im Dialog. Aber wie soll ich den
bitte mit einer Millionenstadt führen? Das würde dann wohl in Stress ausarten. Dabei finde ich das
Großstadtleben ohnehin schon ziemlich hektisch.

Da führe ich lieber ein langsames Leben in einer ruhigeren Gegend. Entgegen manchen Vorurteilen muss
so eine kleine Stadt gar nicht langweiliger sein als die Großstadt. Denn je langsamer ich lebe, desto
intensiver lebe ich. Aufmerksam meine Umwelt wahrzunehmen und meinen Gedanken nachzuhängen, das
ist für mich die beste und schönste Art der Vorbeugung gegen geistiges Abstumpfen. In der Großstadt
fühle ich mich oft überfordert. Wie soll man diesen Überfluss an Reizen verarbeiten? Da muss man ständig
ausblenden, auf Durchzug stellen. Oder anders gesagt: Man muss abstumpfen. Und der Kopf kommt nie
zur Ruhe. Das beängstigt mich.

Ich habe schon oft Städter beobachtet, wenn sie am Wochenende in Naherholungsgebieten versuchen,
ihren „Akku“ wieder aufzuladen: In die wenigen Stunden „Erholung“ müssen zig verschiedene Tätigkeiten
hineingepresst werden. Der Hund braucht seinen Auslauf, dann muss gegrillt und Frisbee gespielt werden
und so weiter. Während ich als „vom Land“ Angereiste auch einfach mal zwei Stunden still daliegen und
der Welt zuhören kann.

Das Studium der Kulturwissenschaften in Lüneburg hält Autorin Sinja Schilling nicht davon ab, sich so oft wie
möglich ihrem Fernweh zu widmen, Dörfer und Metropolen ihrer Freunde zu bereisen und mindestens ein
Semester in Frankreich zu planen.

Schuluniformen: Ja oder Nein?


Wer jung ist, will sich ausprobieren, findet Louisa. Lia hingegen sieht große Vorteile im Schulalltag. Ein
Streit über die Notwendigkeit von Schuluniformen.

19.08.2015

Gleichheit schafft Freiheit

Schuluniformen sind bei vielen Schülern ein wunder Punkt. Kommt das Thema zur Sprache, fangen die
meisten an, panisch über die Einschränkung ihrer Individualität zu reden. Ich begrüße Schuluniformen im
Allgemeinen. Nicht nur wegen der vielen britischen Jugendfilme, die zeigen, wie gut so eine
Einheitskleidung aussehen kann, sondern weil ich denke, dass sie die Schule zu einem anderen Ort
machen würden.

Schafft Gemeinschaft: Schuluniformen fördern das Wir-Gefühl an einer Schule, findet Lia Friderichs
(Corinna von der Groeben)

Viele argumentieren gegen eine Einheitskleidung mit dem Selbstbestimmungsrecht, das besagt, jeder
habe ein Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit. Theoretisch darf man also überall anziehen,
was man will, da man so seine Persönlichkeit „entfaltet“. Es gibt in Deutschland zahlreiche Berufe und
Institutionen, die während des Dienstes oder des Aufenthalts dort eine Einheitskleidung erfordern – und
wo es eine Selbstverständlichkeit ist, diese zu tragen. Wer kann sich eine Polizistin im Minirock
vorstellen? Oder einen Rechtsanwalt in Baggyhose?

Auch in der Schule sollte man angemessen angezogen sein, es würde einem zum Beispiel viel unnötig
entblößte Haut im Sommer ersparen, die beim Lernen auch irritieren kann. Die uneingeschränkte
Entfaltung der Persönlichkeit ist immer noch nach dem Unterricht möglich, das Leben spielt sich bei den

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meisten ja hauptsächlich in der Freizeit ab.Natürlich wird ein Teil der Individualität eingeschränkt, wenn
alle die gleiche Kleidung tragen, aber ist das bis zu einem gewissen Grad nicht auch ganz gut in der Schule?

Es ist ja unter anderem auch der Sinn einer Schuluniform, dass durch die Kleidung alle gleich vor Schule
und Lehrern sind. Individualität entsteht nicht mehr durch Klamotten, sondern durch Charakter,
Leistungen und soziales Engagement. Man würde nicht nach dem Äußeren bewertet werden, und soziale
Schichten könnte man schwieriger am Kleidungsstil ablesen, was auch zu einer faireren Bewertung der
Lehrer führen würde.

Durch eine Schuluniform würde außerdem der Druck der Mitschüler, was Klamotten angeht, extrem
nachlassen. Die Pflicht, das „Richtige“ anzuhaben, gibt es in jeder Klassenstufe. Es ist vielen wichtig, die
richtigen Marken zu tragen, und dieser Zwang führt oft zur Ausgrenzung von Schülern, deren Eltern nicht
für Designerklamotten aufkommen können. Vielen wäre eine Last abgenommen, wenn sie sich keine
Gedanken mehr machen müssten, was andere über ihre Kleidung denken. Natürlich würde Mobbing nicht
verschwinden, aber viele Schüler würden selbstbewusster durch die Gänge laufen, wenn sie wüssten, dass
sowieso alle dasselbe tragen.

Warum nicht Schuluniformen selbst gestalten?

Ein weiterer Punkt ist das Gemeinschafts- und Zusammengehörigkeitsgefühl. Eine einheitliche Kleidung
macht einen zu einer Gruppe und stärkt den Elan bei gemeinsamen Aktivitäten. Ein gutes Beispiel sind
amerikanische Schulen, an denen die Schüler mit Stolz die Logos ihrer Sportmannschaften tragen und bei
Wettkämpfen die Zuschauer in den Schulfarben als Einheit ihr Team anfeuern. Eine Fußballmannschaft
trägt nicht umsonst einheitliche Trikots statt gleichfarbener T-Shirts, die Trikots sollen signalisieren „Wir
gehören zusammen, wir stehen zueinander und treten füreinander ein“. Als Schülerin einer staatlichen
Berliner Schule fehlt mir dieser Aspekt ziemlich oft im Schulleben. Als einheitliche Gruppe zur Schule zu
gehen würde die Lernmotivation stärken und vielleicht dazu anregen, auch außerhalb des Unterrichts an
schulischen Aktivitäten teilzunehmen.

Alles in allem würde eine Schuluniform an deutschen Schulen also niemandem schaden. Es ließe sich
bestimmt auch ein Kompromiss schließen mit absoluten Gegnern, zum Beispiel ein einheitliches Oberteil,
und der Rest kann frei entschieden werden oder, was bestimmt vielen Schülern gefallen würde, dass die
Kleidungsstücke selbst entworfen und dann alle paar Jahre erneuert werden können. Und obwohl die
Schuluniform so trotzdem gut aussehen könnte, würde sie einem morgens jede Menge Zeit vor dem
Kleiderschrank sparen.

Lia Friderichs, 15, geht auf ein Berliner Gymnasium und packt gerade ihre Koffer für ein Auslandsjahr in den
USA, bei dem sie sich besonders auf die Collegejacken in den Schulfarben freut.

Schaffner brauchen Uniformen, Schüler nicht

Immer wieder wird in Deutschland über Schuluniformen diskutiert. Viele Befürworter denken dabei
nostalgisch an Internatsfilme, Mannschaftssport und Kollektivismus. Diese Menschen waren vermutlich
nie jung. Schließlich ist die Adoleszenz eine Phase des Experimentierens, egal, ob das durch das Färben
von Haaren passiert, die Zugehörigkeit zu einer Subkultur – oder eben durch Kleidung.

Graue Masse: Wenn alle Schüler Schuluniformen tragen müssten, würde ein Stück Vielfalt verloren gehen,
findet Louisa Zimmer
(Corinna von der Groeben)

Wir Jugendlichen sind auf der Suche nach unserem persönlichen Stil und wollen unsere Unabhängigkeit
zeigen. Durch unsere Kleidung drücken wir bewusst oder unbewusst unsere Stimmung, unseren
Musikgeschmack und vieles mehr aus. Einheitliche Schuluniformen würden die Vielzahl an Individuen zu
einer grauen Masse verschmelzen.

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In der jüngeren deutschen Geschichte wurden Uniformen für Jugendliche, wie etwa das Blauhemd der
Freien Deutschen Jugend (FDJ), immer wieder dazu genutzt, den freien Willen zu unterdrücken und durch
Ideologien zu ersetzen. Im 21. Jahrhundert sollten wir uns nicht hinter einer Einheitskleidung verstecken
müssen. Dass einige Berufsgruppen auf eine Uniform angewiesen sind, ist dabei kein gutes Argument.
Schaffner, Feuerwehrleute oder Streifenpolizisten müssen schlichtweg für die Bevölkerung erkennbar
sein, weil sie Dienstleistungen oder Hilfestellungen bieten. Schüler nicht. Schuluniformen haben für die
Allgemeinheit keinen Nutzen. Zudem ist Schule keine selbstgewählte Berufung, sondern eine gesetzliche
Pflicht. Sie dient hierzulande primär zum Erwerb von Wissen und eines Schulabschlusses. Der gern
zitierte anglo-amerikanische „school spirit“ entsteht hingegen nicht durch das Tragen einer
Einheitskleidung, sondern beispielsweise durch die Teilnahme an Clubs, Jugendparlamenten oder
„extracurricular activities“ wie Sportveranstaltungen oder Tätigkeiten für die Gemeinde.

Wenn sich eine Gemeinschaft nur durch das Tragen bestimmter Kleidung identifiziert, ist die Forderung
nach einer Schuluniform im Grunde widersprüchlich. Die Uniform soll eigentlich das Entstehen von Peer
Groups vermeiden, könnte aber das Gegenteil bewirken: dass sich Schüler verschiedener Schulformen und
Bezirke voneinander abgrenzen.

Klassenkampf wird über das Smartphone ausgetragen, nicht über Jeans und Pullover

Das beliebteste Argument für eine Schuluniform aber ist die Aufhebung von sozialen Kontrasten: Niemand
würde mehr für alte Pullover gehänselt werden, niemand könnte sich durch Designerjeans profilieren.
Deshalb würden auch die Lehrer die Schüler gerechter beurteilen. Ich wage das zu bezweifeln. Im 21.
Jahrhundert wird der Klassenkampf doch nicht nur über die Kleidung ausgetragen. An die Stelle, wo vor
20 Jahren die Marke mit den drei Streifen stand, sind längst andere Dinge wie etwa das neueste
Smartphone gerückt. Die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht ließe sich also auch in Einheitskleidung
signalisieren bzw. lesen. Außerdem: Wenn alle das Gleiche tragen würden, könnten Charakteristika wie
Hautfarbe oder Geschlecht eine noch größere Angriffsfläche für Diskriminierung bieten. Darüber hinaus
verschleiert gerade das Argument der „Gleichheit vor dem Lehrer“ das eigentliche Problem: die
wachsende soziale Ungleichheit.

Statt sich um Äußerlichkeiten zu kümmern, sollten sich die Uniformfreunde um die tatsächlichen Wurzeln
der Ungerechtigkeit in Bildungsinstitutionen Gedanken machen. Statt einer Schuluniform, die
einkommensschwächere Familien zusätzlich belasten würde, braucht es endlich richtige Maßnahmen, um
sozial benachteiligte Schüler und solche mit Förderbedarf zu unterstützen!

Die Argumentation für eine Schuluniform stammt größtenteils aus dem Lager der Privilegierten.
Schließlich haben sozial benachteiligte Jugendliche häufig wesentlich drastischere Probleme als das
Fehlen einer Einheitskleidung. Schuluniformen mögen nach außen hin Egalität ausstrahlen, eine reale
Chancengleichheit bleibt aber auch mit ihnen bloß Utopie.

Louisa Zimmer, 18, hat als fluter-Reporterin von der diesjährigen Berlinale berichtet. Mit ihrem vor einigen
Wochen bestandenen Abitur genießt sie nun ihre temporäre Freiheit. Ganz oben auf der Playlist: „Nie mehr
Schule“ von Falco.

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