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Lernen durch Lehren: ein modernes Unterrichtskonzept Jean-Pol Martin

Jean-Pol Martin

Lernen durch Lehren: ein modernes Unterrichtskonzept

Im Zuge der Globalisierung und der Verschärfung des internationalen Wettbewerbes ist eine
bundesweite Bildungsoffensive eingeleitet worden, die deutliche Auswirkungen in den
Schulen zeigt. Diese werden von Seiten der Ministerien angehalten, stärker als bisher
Fähigkeiten zu vermitteln, die ihre Schüler im Berufsleben benötigen werden. Diese
Kompetenzen, „Schlüsselqualifikationen“ genannt, umfassen über das Fachwissen hinaus
und kognitive Fähigkeiten wie das Systemdenken oder das Vermögen, Wesentliches von
Unwesentlichem zu unterscheiden, auch soziale Kompetenzen wie die Teamfähigkeit, die
Kommunikationsfähigkeit und ein selbstbewusstes Auftreten. Nun lassen sich solche
Qualifikationen nicht mit den tradierten Unterrichtsmethoden vermitteln. Um die Lehrer auf
die neuen Anforderungen vorzubereiten, wurden in den meisten Bundesländern verpflichtend
pädagogische Tage eingeführt. Es sollen neue Methoden in den Schulen erprobt werden. In
der Novemberausgabe von „SchulVerwaltung BY“ hat Hans-Bernd Schmitz, Leiter des Kurt-
Huber-Gymnasiums in Gräfelfing die Aktivitäten geschildert, die zur Einführung neuer
Unterrichtsverfahren an seiner Schule entfaltet werden. Als neue Unterrichtsformen nennt er
die Freiarbeit, den Lernzirkel und Lernen durch Lehren (LdL). Nun ist die Methode LdL und
das mit ihr verbundene Kontaktnetz erst in jüngerer Zeit zu einer größeren Bekanntheit
gelangt. Im Folgenden wird das LdL-Projekt ausführlich geschildert.

1. Zur Geschichte des LdL-Projektes

Wenn Schüler einen Lernstoffabschnitt selbständig erschließen und ihren Mitschülern


vorstellen, wenn sie ferner prüfen, ob die Informationen wirklich angekommen sind und wenn
sie schließlich durch geeignete Übungen dafür sorgen, dass der neue Stoff verinnerlicht wird,
dann entspricht dies idealtypisch der Methode "Lernen durch Lehren". Diese Methode hat ihre
Wurzeln in der Reformpädagogik, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit dem Namen
Kerschensteiner für die Arbeitsschulbewegung und Dewey für den Projektunterricht
verbunden ist. Die Reformpädagogik stellte sich gegen das lehrerzentrierte

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Instruktionsmodell, bei dem der Lehrer den Lernstoff in wohlpräparierten Portionen den
Schülern weiterreicht, was sie zur Passivität zwingt. Aus reformpädagogischer Sicht gelingen
Lernprozesse am besten in selbstbestimmter, aktiver Auseinandersetzung mit dem
Lerngegenstand. Daher ist es günstig, wenn eine direkte, nicht didaktisch vermittelte
Begegnung zwischen dem Schüler und dem Stoff arrangiert wird. Diese Begegnung erfolgt
meist im Rahmen von größeren Projekten, wobei der Lehrer sich als Helfer betätigt und die
Schüler bei ihren Anstrengungen unterstützt. Im Laufe der Schulgeschichte waren die Grund-
und Hauptschulen, teilweise auch die Realschulen gegenüber reformpädagogischen
Vorstellungen offen, während im Gymnasium seit dessen Gründung im 19. Jahrhundert bis
zu unserer Zeit das Instruktionsmodell vorherrschend blieb. Zwar wurden auch am
Gymnasium immer wieder reformpädagogische Gedanken von einzelnen Lehrern
aufgegriffen und erprobt, aber die entsprechenden Methoden konnten im Schulsystem nie Fuß
fassen. Trotz ihrer Erfolge im Unterricht fanden die „Pioniere“ wenig Resonanz in ihrem
Umfeld; sie blieben Einzelkämpfer und gaben nach anfänglicher Begeisterung angesichts des
ausbleibenden Echos bald auf. Das war auch die Situation am Anfang der 80er Jahre, als die
Methode LdL entwickelt wurde.
Es war nicht in erster Linie die Rezeption der Reformpädagogik, die den Verfasser dieser
Zeile, Französischdidaktiker in Eichstätt, auf die Idee brachte, seine Schüler sich selbst
unterrichten zu lassen. Vielmehr entstand der Gedanke in der Folge der damals
vorherrschenden kommunikativen Didaktik und aus dem Wunsch heraus, den Sprechanteil
der Lerner zu erhöhen. Diese Maßnahme hatte grundlegende Auswirkungen auf die
Motivation der Schüler und auf das Arbeitsklima im Unterricht; der Autor erkannte, dass der
scheinbar harmlose didaktische Griff ungeahnte Potentiale freisetzte. Bestimmend für den
weiteren Verlauf des Projektes wirkte sich aus, dass er sehr bald die Unterstützung einzelner
Personen bekam, die an entscheidenden Stellen helfen konnten, wie Paul Meier, dem
damaligen Referent für Fremdsprachen an der Akademie für Lehrerfortbildung in Dillingen
und Wolf Theuring, Referent für Pädagogik am FWU. Ohne diese beiden Personen hätte das
Projekt nie die Dimensionen erreichen können, die es inzwischen gewonnen hat. Zwischen
1983 und 1987 wurde eine Videoreihe als Langzeitstudie im FWU gedreht und der Verfasser
wurde regelmäßig als Referent nach Dillingen eingeladen, um die Methode vorzustellen. Bald
kam das Bedürfnis auf, die in der Praxis festgestellten Optimierungen wissenschaftlich
aufzuarbeiten. Daraus entstanden eine Dissertation und eine Reihe von Aufsätzen, die
allerdings zur Überraschung des Verfassers in der Wissenschaft - selbst in der
Französischdidaktik - ohne nennenswerte Resonanz blieben. Da von Seiten der

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Schulbehörden ebenfalls keine Unterstützung kam, entschloss sich der Verfasser dazu, im
Rahmen von Fortbildungsveranstaltungen Kollegen anzusprechen, die bereit seien, diese
Methode in ihrem Unterricht zu erproben. Im Jahre 1987 bildete sich eine Gruppe von
anfänglich 12 Kollegen („Kerngruppe“), die sich vornahmen, die Methode zu testen und im
Erfolgsfall weiterzuentwickeln und zu verbreiten. Der Kontakt wurde durch regelmäßige
Treffen und zweimonatige Kontaktbriefe aus Eichstätt gepflegt. Da die ersten Versuche sehr
positiv verliefen, fassten die Kollegen Mut und fingen an, Fortbildungsveranstaltungen
selbständig zu organisieren, Erfahrungsberichte zu erstellen und zu veröffentlichen und für
die Methode und das Kontaktnetz zu werben. Inzwischen zählt das Kontaktnetz 500
Teilnehmer und die Mitglieder der Kerngruppe sind gesuchte Fortbildungsreferenten,
Verfasser von Zeitschriftenartikeln und Lehrwerkautoren geworden. Parallel zu diesen
Aktivitäten wurde das theoretische Fundament der Methode vertieft und ausgeweitet, so dass
LdL nun auf einer wissenschaftlich breiten, soliden Basis ruht. Auch wenn von Anfang an
überzeugende Erfolge erzielt wurden, das Projekt LdL erfreut sich einer größeren
Aufmerksamkeit erst seitdem im Zuge der Verschärfung des internationalen Wettbewerbs das
Unterrichtswesen einem spürbaren Veränderungsdruck ausgesetzt wird. In den Unternehmen
wird der Mensch als wichtigste Ressource wiederentdeckt und es stellt sich die Frage, wie die
zur Verfügung stehenden Humanressourcen besser gefördert und ausgeschöpft werden
können. Dadurch tritt das reformpädagogische Gedankengut zum ersten Mal in das Blickfeld
einer breiteren Öffentlichkeit. In diesem Kontext weist gerade LdL eine Reihe von
Merkmalen auf, die dieser Methode eine besondere Attraktivität verleihen.

2. Wie funktionert die Methode LdL konkret?

Am Beispiel des Fremdsprachenunterrichts werden die wesentlichen Merkmale der Methode


dargestellt. Mit einigen Modifikationen lässt sich das Konzept auf jedes Fach übertragen.

Das Verfahren
ƒ Die Schüler übernehmen Schritt für Schritt Funktionen des Lehrers
ƒ Der Lehrer verteilt die Arbeitsaufträge, er unterstützt die Schüler bei ihrer
Vorbereitung und korrigiert ihre schriftlichen Vorlagen
ƒ Zwei Schüler übernehmen zu Beginn jeder Stunde die Leitung des Stundenablaufs. Sie
leiten die Korrektur der Hausaufgaben, rufen die Arbeitsgruppen zur Darbietung des
neuen Stoffes auf und lenken die Übungsphase

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Die Wirkung
ƒ Der Lehrer redet weniger. Z.B. kommen im Fremdsprachenunterricht mit dieser
Methode bis zu 80% der Äußerungen von Schülern
ƒ Schwierige Stoffsequenzen werden aus Schülerperspektive beleuchtet; dadurch
gewinnt der Schüler einen seiner Art zu lernen entsprechenden Zugang
ƒ Da verschiedene Gruppen den Stoff vermitteln, setzen sich die Schüler intensiver und
vielseitiger mit ihm auseinander
ƒ Die Hemmschwelle von Schüler zu Schüler ist geringer. Es fällt den Schülern leichter,
ihrem Unverständnis Ausdruck zu verleihen und um Erklärung zu bitten
ƒ Der Lehrer erkennt Verständnislücken der Klasse oder einzelner Schüler schneller und
hat Zeit und Gelegenheit, gezielt und individuell darauf zu reagieren
ƒ Das soziale Lernen wird gefördert, da die Schüler neue Rollen einüben und sich
häufiger einander zuwenden

Wie soll ein Lehrer vorgehen, wenn er LdL in seinem Unterricht einführen will?
Zur Einführung wird Schülern eine einfache Lehraufgabe übertragen, wie z.B. die Korrektur
der Hausaufgaben oder das Vorlesen eines Diktates. Am Anfang muss der Lehrer ein
regelrechtes Training durchführen, indem er die Schüler daran gewöhnt, freundlich
miteinander umzugehen, sich zuzuhören, deutlich zu sprechen, auf die Qualität der Beiträge
zu achten usw.
Nach einer Eingewöhnungsphase von einer bis zwei Wochen werden die Schüler an
anspruchsvollere Aufgaben herangeführt, wie die Vorstellung eines neuen Textes oder eines
Grammatikkapitels. Die Vorbereitung auf die Präsentationen erfolgt in Teamarbeit, nicht zu
Hause sondern im Unterricht, in einer dafür vorgesehenen Phase (etwa 20 Minuten). Während
der anschließenden Schülerdarbietungen bleibt der Lehrer im Hintergrund und interveniert
nur, wenn die Kommunikation zwischen den Schülern nicht zufriedenstellend verläuft, wenn
Fehler auftreten oder wenn Ergänzungen notwendig sind.
Schrittweise werden immer umfangreichere Stoffmengen zur Präsentation und Einübung an
die Schüler abgegeben. Auch die Erstellung von Übungsblättern kann auf sie übertragen
werden.
Mit zunehmender Kompetenz bekommen die Lerner immer komplexere Aufgaben, wie die
Leitung von Diskussionen, die Durchführung von Textinterpretationen oder von
selbsterstellten thematischen Einheiten.
Parallel zum stoffbezogenen Unterricht findet eine kontinuierliche Prozessevaluation und

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Methodenreflexion statt.
Oft gestellte Fragen und die Antworten dazu:
Kann man jederzeit in LdL einsteigen, oder muss man die Klasse von Anfang an nach LdL
unterrichten?
Man kann jederzeit in LdL einsteigen. Am besten führt man die LdL-Techniken
allmählich ein, ohne zu erwähnen, dass es sich hier um eine "neue" Methode
handelt. Nach ungefähr einem Monat können die Schüler die wichtigsten
Lehrfunktionen ausüben und vermögen es (meist mit Hilfestellung des Lehrers),
einen neuen Stoff einzuführen und interessant darzubieten.

Verliert man denn bei der relativen Langsamkeit der Schüler nicht viel Zeit? Wie ist es mit
dem Lehrplan und der Stofffülle?
Am Anfang, also in den ersten Stunden, muss man natürlich etwas Zeit für die
Einführung und vor allem die Einübung der LdL-Technik aufwenden. Aber sehr
bald, wenn die Schüler etwas Routine gewonnen haben, kommt man schneller
voran als mit traditionellen Verfahren. Das liegt daran, dass die Schüler bei der
Stoffvermittlung oft effektiver sind als die Lehrer. Sie sind weniger redundant,
meinen nicht, dass sie jedes Detail dreimal wiederholen müssen und entwickeln
selbst bald die Kompetenz zum Lehren.

Stellt sich nach einiger Zeit, also wenn der Neuigkeitseffekt verpufft ist, nicht Langeweile ein?
Das ist nicht ausgeschlossen, denn die Präsentationstechniken der Schüler sind
naturgemäß begrenzt. Man kann dem entgegenwirken, wenn man den Schülern
ein methodisches Repertoire an die Hand gibt. Darüber hinaus kann der Lehrer
nach einer gewissen Zeit mit frischer Kraft selbst den Unterricht übernehmen, bis
die Schüler gerne wieder aktiv werden. Es ist ja ohnehin nicht so, dass bei LdL
nur die Schüler unterrichten, sondern es handelt sich eher um einen dialektischen
Prozess: zunächst die Schüler, dann der Lehrer, dann wieder die Schüler, usw.

Werden die Stunden, die von den Schülern gehalten werden, benotet?
Bei der Benotung von LdL-Stunden besteht die Gefahr, dass die Schüler wenig
spontan handeln und weniger sprechen, weil sie nur noch - mit Blick auf die Note
- Perfektes von sich geben wollen. Nun lebt der LdL-Unterricht sehr stark davon,
dass vieles sprachlich umgesetzt wird, also auch viele Fehler gemacht werden.

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Allerdings herrscht unter den LdL-Anwendern noch keine Einigkeit in Bezug auf
diese Frage.

Kann man LdL auch mit großen Klassen, z.B. 33 Schülern praktizieren?
Natürlich ist es leichter, LdL mit kleineren Klassen anzuwenden. Aber gerade mit
großen Klassen muss angesichts der Veränderungen in der Schülerpopulation
didaktische Phantasie entwickelt werden. Viele Kollegen haben mit LdL in großen
Klassen gute Erfahrungen insbesondere was die Verbesserung der Disziplin
betrifft.

Gibt es Stoffe, die besonders geeignet sind, um nach LdL unterricht zu werden?
Je einfacher der Stoff, desto LdL-geeigneter. Je höher die Klassenstufe, desto
stärker muss der Lehrer intervenieren, insbesondere, um Bezüge zwischen den
Stoffbereichen herzustellen und Zusammenhänge zu verdeutlichen.

3. Anthropologische Grundlagen und übergreifende Lernziele

Von Anfang an wurde bei der Entwicklung der Methode LdL Wert darauf gelegt, dass die
einzelnen didaktischen Maßnahmen, die im Rahmen dieser Methode im Unterricht getroffen
werden, wissenschaftlich ableitbar und begründbar seien. Als Bezugswissenschaften haben
sich die Bedürfnisforschung, die Motivationspsychologie, die Organisationspsychologie, die
Sozialpsychologie und die Problemlösepsychologie als besonders nützlich erwiesen. Aus
diesen Wissenschaften wurden einzelne Bausteine herausgelöst, die zum Aufbau eines
operationalisierbaren „anthropologischen Modells“ benutzt wurden. Die wesentlichen
Aspekte dieses Modells werden im Folgenden beschrieben:

Kontrollkompetenz, exploratives Verhalten und Problemlösekompetenz


In der Psychologie wird die Kontrolle als zentrale Dimension menschlichen Erlebens
betrachtet. Sie vermittelt der handelnden Person das Gefühl, dass sie das Handlungsfeld „im
Griff“ hat und auftretende Schwierigkeiten meistern kann. Damit die Schüler Geläufigkeit
beim Meistern unbekannter Situationen gewinnen, ist es günstig, wenn bei ihnen eine
explorative Haltung systematisch aufgebaut wird. Unter explorativer Haltung versteht man die
Bereitschaft von Menschen, sich in Situationen zu begeben, die ein hohes Maß an
Unbestimmtheiten enthalten. Nun besteht ein enger Zusammenhang zwischen dem
explorativen Verhalten eines Menschen und seiner Problemlösefähigkeit. Die logische Kette

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lässt sich folgendermaßen beschreiben: explorative Menschen suchen Felder auf, mit denen
sie nicht vertraut sind, und versuchen, sich in diesen Feldern problemlösend zu behaupten.
Jede auf diese Weise gewonnene Erfahrung wird zu einem abstrakten, kognitiven Schema
verarbeitet. Je mehr Erfahrungen, desto mehr Schemata, desto breiter die kognitive Landkarte.
Eine breite kognitive Landkarte sichert Kontrolle über mehr Bereiche, sie ermöglicht eine
schnellere Verarbeitung neuer Eindrücke und schützt vor emotionalen Einbrüchen. Sie
sichert, dass neue Situationen erfolgreich bewältigt werden. Das Gefühl der Kontrolle festigt
sich, das Selbstbewusstsein wächst und dadurch die Bereitschaft, unbekannte Bereiche
anzugehen, also sich erneut explorativ zu verhalten. Der Einsatz der Methode LdL begünstigt
diesen Prozess dadurch, dass die Schüler sich routinemäßig in die Unbestimmtheit und
Komplexität des neuen Stoffes begeben, um nach entsprechender Komplexitätsreduktion die
neuen Inhalte ihren Mitschülern zu vermitteln. Durch die Übernahme von Lehrfunktionen im
Unterricht wird die Kontrollkompetenz der Lerner von Anfang an aufgebaut. Sehr bald setzt
auch ein Metadiskurs ein, der die Selbstreflexion und die damit einhergehende Selbstkontrolle
erhöht.

Flow-Erlebnisse als Handlungsmotivation


Grundsätzlich lässt sich nur dann ein exploratives Verhalten aufbauen, wenn die damit
verbundenen Handlungen einen Belohnungswert besitzen. Was kann Schüler bewegen, ihre
Angst zu überwinden und neue Felder zu betreten, beispielsweise Vorträge vor der Klasse
oder vor einem unbekannten Publikum zu halten? In Untersuchungen über intrinsische
Motivation wurde ein Phänomen herausgearbeitet, der eine große Erklärungskraft besitzt. Es
handelt sich um den Flow-Effekt, wonach gewisse Aktivitäten ein hohes Potential an
intrinsischer Befriedigung enthalten. Das Erlebnis selbst wird als einheitliches Fließen
beschrieben, ein Fließen von einem Augenblick zum anderen, wobei eine Verschmelzung von
Handlung und Bewusstsein geschieht, ein völliges Aufgehen in der Aktivität bis zur
Selbstvergessenheit, ohne aber die Kontrolle über die Aktivität zu verlieren. Die
Bedingungen, die zum Hervorbringen solcher Gefühle erfüllt werden müssen, sind folgende:
ƒ die Nähe zu kreativem Entdecken und Explorieren: etwas Neues entwerfen oder
entdecken, einen unbekannten Ort oder Bereich erkunden
ƒ ein Problem lösen, Anforderungen bewältigen, Schwierigkeiten lösen
ƒ Erfahrungen machen, deren Ausgang offen ist und der vom Ausübenden bestimmt
werden kann
ƒ Hinausgehen über das Erreichte und Bekannte, ein Gefühl der Selbstentgrenzung

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erleben
ƒ ein Gefühl der Kontrolle über die Handlung und die Umwelt
ƒ das Ausschöpfen der Fähigkeiten, persönliches Können
ƒ klare Handlungsanforderungen und eindeutige Rückmeldungen über die Handlung.

Die Methode LdL ist ganz darauf abgestimmt, Flow-Erlebnisse auszulösen. Besonders
wichtig ist, dass der Ablauf der Präsentationen genau geplant wird, damit die Schüler die
Kontrolle über den Präsentationsablauf nie verlieren. Nur so kann Kontrollgefühl aufkommen
und das entsprechende Flow-Erlebnis auftreten.

LdL und die Vermittlung von Schlüsselqualifikationen


Über die fachspezifischen Vorteile der Methode LdL hinaus trifft LdL gegenwärtig deshalb
auf soviel Interesse, weil die Methode zum Aufbau von Schlüsselqualifikationen besonders
geeignet ist. Darunter versteht man:
ƒ die Fähigkeit, in komplexen Zusammenhängen zu denken;
ƒ die Teamfähigkeit und das Einfühlungsvermögen;
ƒ die Kommunikationsfähigkeit: Präsentationstechniken, Moderationstechniken;
ƒ das Selbstbewusstsein;
ƒ die Durchsetzungskraft und die Fähigkeit, andere Menschen einzubinden und für
gemeinsame Ziele zu begeistern.

LdL ist besonders geeignet, Schlüsselqualifikationen zu vermitteln:


ƒ Die Präsentation des neuen Stoffes verlangt von den Schülern, dass sie sich zunächst
einen Überblick verschaffen, Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden und die
relevanten Stoffteile auswählen; somit wird die Fähigkeit geübt, in komplexen
Zusammenhängen zu denken und die Stoffkomplexität im Hinblick auf die
Vermittlung zu reduzieren.
ƒ Bei der Vorbereitung auf die Präsentation in Partnerarbeit wird die Teamfähigkeit
gefördert, sowie das Einfühlungsvermögen.
ƒ Bei der Vorstellung des Stoffes werden Präsentationstechniken eingeübt, es wird die
Kommunikationsfähigkeit gefördert.
ƒ Schließlich wird das Selbstbewusstsein bei den zahlreichen Präsentationen vor der
Klasse gefördert, sowie die Fähigkeit, eine größere Gruppe zu motivieren.

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4. Was unterscheidet LdL von anderen „neuen“ Unterrichtsformen?

Die Anwender und Vertreter der LdL-Methode werden in jüngster Zeit verstärkt mit der Frage
befasst, was LdL von anderen neuen Unterrichtsformen unterscheide. Da die meisten
Kollegen LdL als eine Technik unter anderen einsetzen und kein Bedürfnis nach Abgrenzung
haben, wurde dieser Aspekt bisher in der LdL-Literatur noch nicht thematisiert. Als Promoter
des Ansatzes ist der Verfasser nun aufgefordert, sich dieser Frage zu stellen.

LdL als Gesamtkonzept


Während andere in der Tradition der Reformpädagogik stehende Unterrichtsformen wie
beispielsweise der Lernzirkel, die Freiarbeit und die Projekte zusätzlich zum regulären
Unterricht angeboten werden, verändert LdL den regulären Unterricht in seiner Gesamtheit.
Bei LdL werden alle Aktivitäten dem Ziel untergeordnet, dass Lerner ihren Mitschülern
vorgegebene oder selbsterstellte Inhalte vermitteln. Diese Absicht verleiht dem ganzen
Prozess Kohärenz: der Schüler muss den Stoff für sich selbst verstehen und aufnehmen, er
muss ihn im Hinblick auf eine spätere Vermittlung einer Komplexitätsreduktion unterziehen,
er muss ihn so strukturieren, dass eine künftige Präsentation gelingt, er muss sich eine
Präsentationsstrategie zurechtlegen, die dem Publikum angemessen ist, und er muss
schließlich den Lerngewinn der Klasse evaluieren. Diese Schwerpunktlegung lässt sich
anthropologische begründen und bereitet den Schüler auf die Bewältigung künftiger
beruflicher und privater Aufgaben vor. Inwiefern LdL diesem Anspruch in besonderem Maße
– zumindest von der Zielsetzung her – gerecht wird, ließe sich durch einen Vergleich
einzelner Dimensionen prüfen. Versuchsweise wird hier am Beispiel der Förderung der
Motivation im Arbeitsprozess (Flow-Erlebnisse) und der Vermittlung von
Schlüsselqualifikationen ein Instrument vorgeschlagen, mit dem Methodenvergleiche
durchgeführt werden können. Die Eintragung entsprechender Werte wird aus naheliegenden
Gründen nicht vom Verfasser vorgenommen sondern dem Leser überlassen.

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Werden die angezeigten Dimensionen sehr gefördert (+++), gefördert (++), eher gefördert (+),
verhält sich die Methode neutral zu diesen Dimensionen (o) oder werden sie vernachlässigt
(-), oder gar konterkariert (--) bzw. sehr konterkariert (---)?

Freiarbeit/
Flow-Effekt (Motivation) Lehrerzentriert Projekt LdL
Lernzirkel

Unbekannte Felder betreten, neues


entdecken;
Situationen mit offenem Ausgang für die man
die Verantwortung trägt
Problemlösen, hohe Anforderungen
bewältigen;
Ausschöpfen der eigenen Ressourcen
Gefühl der Selbstentgrenzung
Kontrolle über das eigene Handeln und das
Umfeld
Klare Anforderungen, Evaluation

Freiarbeit/
Schlüsselqualifikationen Lehrerzentriert Projekt LdL
Lernzirkel

Exploratives Verhalten
Fähigkeit, in komplexen Zusammenhängen
zu denken
Teamfähigkeit und Empathie
Selbstbewusstsein
Organisationstalent
Durchsetzungskraft und Fähigkeit, andere
Menschen einzubinden und für gemeinsame
Ziele zu begeistern
Kommunikationsfähigkeit: Präsentation,
Moderation

LdL: die Integration und Erweiterung reformpädagogischer Ansätze


In LdL sind per se die meisten Techniken integriert, die in anderen Unterrichtsformen
Anwendung finden. Dass Partnerarbeit, Gruppenarbeit aber auch Frontalphasen feste
Bestandteile des LdL-Unterrichts sind, ist selbstverständlich. Nicht nur dies, sondern die
Methode LdL gestaltet den gesamten Unterricht auch zum Projekt um, bei dem die Schüler als
Projektziel die Aufgabe bekommen, sich gegenseitig den Stoff zu vermitteln. Umgekehrt
lässt sich jede andere neue Unterrichtsform zu einem LdL-Unterricht erweitern.
Beispielsweise kann Freiarbeit zu LdL ausgedehnt werden, wenn die Ergebnisse der
einzelnen Arbeitsphasen von den Schülern didaktisiert und im Plenum präsentiert werden.
Auch Lernzirkel lassen sich mit LdL kombinieren, wenn die einzelnen Lernstationen von

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Schülern erstellt werden. Die Erweiterung neuer Unterrichtskonzepte durch die LdL-
Komponente hat den Vorteil, dass auf diese Weise der Leistungsaspekt einen stärkeren
Stellenwert bekommt. Es stellt in der Tat eine hohe Anforderung dar, wenn Schüler einen
unbekannten Stoff ihren Mitschülern vermitteln müssen, sei es mit herkömmlichen Verfahren,
sei es beispielsweise mit Hilfe eines von ihnen aufgebauten Lernzirkels. Besonders
leistungsförderlich ist die Tatsache, dass bei LdL alle Einzelaktivitäten zu einer
Veröffentlichung im Plenum führen und zu einer permanenten impliziten oder expliziten
Bewertung durch den Lehrer und die Mitschüler.

LdL qualifiziert für die Wissensgesellschaft


In der heute entstehenden Informations- und Wissensgesellschaft rückt die Fähigkeit in den
Vordergrund, Informationen zu beschaffen und durch Anwendung zu Wissen umzuformen.
Gerade diese Aktivität steht bei LdL im Mittelpunkt: Jeder Schüler hat die Aufgabe,
Informationen für die Klasse bereitzustellen und auf dieser Grundlage eine Kommunikation
zu initiieren, die so intensiv ist, dass diese Informationen zu Wissen umgeformt werden.
Damit tatsächlich intensive Kommunikation entsteht, werden die Schüler daran gewöhnt,
nach besonders relevanten, also motivierenden Inhalten Ausschau zu halten. Ein solcher
Prozess erfolgt beispielsweise, wenn in der Oberstufe eine Schülerin im Rahmen ihrer
Facharbeit Interviews in einem Pariser Museum durchführt, wenn sie die Ergebnisse ihrer
Erkundungen didaktisiert und zur intensiven Auseinandersetzung im Unterricht weitergibt.
Jeder Schüler stattet sich im Laufe der Zeit mit einem Repertoire an Inhalten aus, die sowohl
spezifisch für ihn als auch relevant für eine größere Gruppe sind. So verfügt beispielsweise
die Schülerin, die eine Facharbeit über ein Pariser Museum verfasst, über ein Wissen das
sowohl individuell spezifisch (sie weiss etwas, was andere nicht wissen) als auch allgemein
relevant ist (ihr Wissen interessiert potentiell viele Menschen). Schließlich wird durch den
kontinuierlichen Einsatz der Methode LdL dafür gesorgt, dass die Schüler ihr Wissen attraktiv
präsentieren können. Die Schüler des Verfassers werden regelmäßig zu
Fortbildungsveranstaltungen eingeladen und bekommen die Möglichkeit, die von ihnen
erstellten „Wissensprodukte“ vorzustellen. Sie treten ferner als LdL-Experten auf und
übernehmen Beraterfunktionen, wenn Kollegen neue Methoden in ihrem Unterricht einführen
wollen. So lernen die Schüler, angesichts der immer knapper werdenden
Aufmerksamkeitsressourcen, wie man die Aufmerksamkeit der Menschen weckt, wie man sie
anspricht und stimuliert. Durch die Einrichtung von Homepages im Internet, in denen sie ihr
fachspezifisches und fachübergreifendes Angebot präsentieren, erwerben sie auch

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Selbstdarstellungstechniken, ohne die man in der Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts nicht mehr
auskommen wird.

5. Das LdL-Kontaktnetz als Dienstleistungsorganisation

Als neue Methode erlebt LdL gegenwärtig deshalb eine positive Aufnahme, weil das Konzept
über das rein Technische hinaus auf einer modernen wissenschaftlichen Basis ruht. Lehrer,
die an neuen Methoden interessiert sind, finden mit dem zugrundeliegenden
anthropologischen Modell eine solide theoretische Grundlage zur Begründung der LdL-
inhärenten einzelnen didaktischen Maßnahmen. Rein technisch verlangt LdL zwar eine
Veränderung der Lehrperspektive, aber die Methode lässt sich ohne große Umstellung sofort
einführen, denn es werden weder besondere Materialien, noch besondere Räume benötigt.
LdL bietet also eine relativ radikale methodische Umorientierung eingebettet in vertrauten
Strukturen an. Dennoch ist die Einführung eines neuen Konzeptes, vor allem am Anfang für
den Lehrer immer mit Unsicherheiten verbunden. Ohne externe Unterstützung sind
Rückschläge zu erwarten. Um dem zu begegnen, bietet das Kontaktsystem Hilfen
unterschiedlicher Art. Innerhalb der letzten 20 Jahren ist im Rahmen des Kontaktnetzes eine
sehr umfangreiche LdL-Literatur bestehend aus Erfahrungsberichten, wissenschaftlichen
Abhandlungen und Aufsätzen, Referendararbeiten und Videodokumentationen entstanden.
Diese Materialien können als Grundlage für die Einführung der Methode im Unterricht
benutzt werden. Bei 500 Mitgliedern besteht ferner die Möglichkeit, Kollegen zu
kontaktieren, wenn eine direkte Unterstützung erwünscht wird. Mit der Einrichtung einer
Homepage (www.ldl.de) im Internet ist schließlich eine ideale Infrastruktur entstanden, mit
der sowohl Materialien als auch Kontaktadressen und Termine einer breiten Öffentlichkeit
zugänglich gemacht werden. Der große Zuspruch, den die Homepage seit ihrer Einrichtung
gefunden hat - gegenwärtig wird die Seite monatlich von ca. 5000 Besuchern angewählt -
zeigt, dass die so gewährte Unterstützung angenommen wird.

Fortbildungsveranstaltungen und Pädagogische Tage


Die im Kontaktsystem aktiven Lehrer organisieren einmal im Jahr ein Bundestreffen, auf dem
die Methode einem breiten Publikum vorgestellt und zur Diskussion angeboten wird. Zum
jüngsten Treffen in Berlin kamen 200 Kollegen. Zwischen Februar und Mai werden darüber
hinaus in den einzelnen Bundesländern Regionaltreffen gestaltet. Ferner treten die im
Kontaktnetz organisierten Lehrer als Referenten in Fortbildungsveranstaltungen auf. Da LdL

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über ein anspruchsvolles theoretisches Fundament verfügt und dessen pädagogische


Konsequenzen eine besonders ausführliche Erörterung verdienen, ist eine möglichst
gründliche und breite Auseinandersetzung mit dem Gesamtkonzept geboten. Daher empfiehlt
es sich aus Sicht des Verfassers, LdL nicht zusammen mit anderen neuen Unterrichtsformen
vorzustellen, sondern zum alleinigen Thema einer Veranstaltung zu machen. Als Programm
für pädagogische Tage hat sich bewährt, eine Unterrichtsdemonstration durchzuführen und zu
besprechen und im Anschluss das theoretische Fundament des Konzeptes zu erörtern.

Prof. Dr. Jean-Pol Martin


Didaktik der französischen Sprache und Literatur
Universitätsallee, Zi.240
85071 Eichstätt
Email: Jean-Pol.Martin@t-online.de
URL: www.ldl.de

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