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THEMA Gordon Kampe

Gordon Kampe
Instrumentationslehren im 20. und 21. Jahrhundert:
Ein Überblick

»I n keiner Epoche der Musikgeschichte


ist soviel von ›Instrumentation‹ die Rede
»In keiner Epoche der Musikgeschichte«, so
ließe sich Berlioz’ Statement womöglich auf die

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gewesen, als heutzutage.«1 Überträgt man dieses vergangenen Dekaden projizieren, »sind so viele In-
berühmte Eingangsstatement aus Hector Berlioz’ strumentations-Lehrbücher erschienen als heutzu-
Instrumentationslehre auf die abendländische Avant- tage.« So zeigt denn auch die Zunahme zahlreicher
garde-Kunstmusik des 20. und 21. Jahrhunderts, so Einzeldarstellungen, in denen jeweils ein Instrument
verdeutlicht sich schlagartig die Entwicklung, die beziehungsweise eine Instrumentengruppe und ihre
der Begriff der Instrumentation in den vergangenen jeweiligen instrumentalen Möglichkeiten insbeson-
etwa 150 Jahren genommen hat: Die Bedeutung dere auf dem Feld der erweiterten Spieltechniken
der Instrumentation – und mit ihr einhergehend im Zentrum stehen, dass Instrumentation bis ins

O
auch die Idee einer Emanzipation der Klangfarbe kleinste Detail, von der detaillierten Auflistung ver-
als einem eigenständigen kompositorischen schieden schwer ansprechender Multiphonics beim
Parameter neben Harmonie-, Kontrapunkt- oder Sopran-Saxophon3 bis hin zu Notationsvorschlägen
Melodielehre – muss längst nicht mehr gerechtfer- für diverse Registerknopf-Geräuschaktionen4 beim
tigt werden, da sie von einem zunächst eher hand- Akkordeon, erkundet zu sein scheint, wodurch das
PR
werklichen Vorgang über Richard Wagner, Claude Interesse an weiteren Erkundungen insbesondere
Debussy, Arnold Schönberg, Edgard Varèse, im Bereich der Spieltechniken – jahrzehntelang
György Ligeti bis hin zu Helmut Lachenmanns Mu- ging dies mit dem Begriff des »Materialfortschritts«
sique concrète instrumentale oder auch der sogenannten einher – mittlerweile deutliche Ermüdungserschei-
Musique spectrale einiger überwiegend französischer nungen im aktuellen Komponieren zeitigt: Um
Komponisten um Gérard Grisey oder Tristan neue Spieltechniken im Bereich des traditionellen
Murail – um nur sehr wenige paradigmatische Instrumentariums scheint es in jüngerer Zeit kaum
Beispiele zu benennen – oftmals zum Kernthema mehr zu gehen. Bedenkt man etwa die verschie-
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kompositorischer Arbeit im 20. Jahrhundert densten Ausprägungen und Möglichkeiten des


überhaupt geworden ist. Da das Denken und Komponierens mit elektronischen Medien, in der
Arbeiten im Klang somit eher zur Verdrängung das Komponieren für Instrumente nur mehr eine
der anderen musikalischen Parameter geführt hat, von vielen anderen Möglichkeiten darstellt, so kann
ist die verhältnismäßig große Anzahl einschlägiger der Begriff der Instrumentation weiter gedacht
Publikationen in Form von Instrumentations- bzw. werden und nicht nur elektronische Instrumente
Orchestrationslehr- und -handbüchern2 eine logi- einbeziehen, sondern auch die Mikrophonierung
sche Konsequenz daraus. und unterschiedlichste Formen von Live-Elektronik
LE

umfassen, ist dieses doch längst nicht mehr bloße


1 Hector Berlioz: Instrumentationslehre, ergänzt und revidiert
Zutat, sondern wesentlicher Teil des zeitgenössi-
von Richard Strauss, Frankfurt a. M. [u. a.] 1904, Reprint schen Instrumentariums.5
1986, S. 1.
2 Zur Ausdifferenzierung der Begrifflichkeiten »Instrumen-
3 Marcus Weiss, Giorgio Netti: Die Spieltechnik des Saxophons,
tation« und »Orchestration«, eine Diskussion, die hier
Kassel [u. a.] 2010.
nicht verfolgt werden kann, vgl. u. a. Katja Meßwarb:
Instrumentationslehren des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 4 Bettina Buchmann: Die Spieltechnik des Akkordeons, Kassel
[u. a.] 1997; Peter Jost: Instrumentation. Geschichte und Wandel [u. a.] 2010.
des Orchesterklanges, Kassel 2004; Ertuğrul Sevsay: Handbuch 5 Vgl. z. B. Patricia und Allen Strange: The contemporary Violin,
der Instrumentationspraxis, Kassel 2005. Berkeley 2001.

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Außereuropäische Instrumente in der neuen Musik THEMA

Emmanouil Vlitakis
Außereuropäische Instrumente in der neuen Musik

D ie Entwicklungen des Instrumentariums


der europäischen Kunstmusik waren am
Ende des 19. Jahrhunderts im Wesentlichen
der Kommunikationslosigkeit) zwischen den ver-
wendeten Elementen werden »komponiert«? Der
Beitrag behandelt manche Aspekte der Problematik

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abgeschlossen; zwar wird immer noch heute an anhand von theoretischen Überlegungen und
dem einen oder anderen Konstruktionsdetail Beispielen aus der kompositorischen Praxis. Dabei
›gefeilt‹, und manche Ergänzungen fördern auch geht es keinesfalls um eine enzyklopädische Voll-
spezifische Komponierweisen und den Umgang ständigkeit der Darstellung einer sehr komplexen,
mit unterschiedlichen Stimmungen, erweiterten geradezu »wuchernden« Entwicklung, sondern um
Spieltechniken usw. Im Grundsatz ist aber für eine Diskussion unterschiedlicher Möglichkeiten
das tradierte europäische Instrumentarium mit der kompositorischen Betätigung auf diesem Feld.
der Vervollkommnung der Ventilinstrumente und

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der Erweiterung der Blechbläsergruppe um tiefe
Mitglieder, mit der zuverlässigen Chromatisierung I – »Anklänge« / Übertragungen
des Grundtonbereiches und den Stimmungsverbes-
serungen bei den Holzbläsern, mit der Pedalpauke, Musikinstrumente tragen ihre eigene Tradition
der Doppelpedal-Harfe und dem mit der Mechanik mit und werden von ihr geprägt; diese Tradition
PR
der doppelten Auslösung ausgestatteten Klavier besteht aus einer (Spiel-)Technik und einem be-
ein Entwicklungskreis zu Ende gegangen (Streich- stimmten Repertoire, die sich gegenseitig bedingen:
instrumente hatten ihre Konstruktionsentwicklung Bestimmte Konstruktionsmerkmale ermöglichen
längst abgeschlossen). bzw. regen ein bestimmtes Repertoire an, dieses
Es folgte im 20. Jahrhundert zunächst eine Repertoire wiederum bewirkt immer wieder eine
rasante Erweiterung des Schlagzeug-Instrumen- Erweiterung der Spieltechnik. Dieses Wechselspiel
tariums, indem zahlreiche Instrumente aus un- setzt eine Erneuerung der Tradition eines jeden
terschiedlichsten Kulturen bei der Komposition Instrumentes in Gang und verändert seine Phy-
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zeitgenössischer Musik verwendet wurden; in der siognomie, die wiederum in einem Spannungsfeld
zweiten Jahrhunderthälfte ging diese Entwicklung zwischen Trägheit und Flexibilität steht. Durch die
weiter, indem viele außereuropäische Instrumente technischen und kompositorischen Entwicklungen
mit bestimmter Tonhöhe und dadurch mit noch entstehen multiple Identitäten, die die Vorstellun-
stärkerem Eigenkontext und noch weniger »uni- gen über die einzelnen Instrumente beträchtlich
versaler«‚ Einsetzbarkeit als die Schlaginstrumente erweitern: So ist das Naturhorn des Barock und
immer wieder (und immer öfter) sowohl im Allein- der klassischen Zeit ein anderes Instrument als
spiel als auch im Zusammenspiel mit europäischen das Ventilhorn der Hoch- und Spätromantik,
LE

Instrumenten verwendet wurden. wobei wiederum Igor Strawinsky im Sacre du


Die Komplexität dieser Entwicklungen lässt printemps (1910–1913) und György Ligeti in seinem
unwillkürlich verschiedene Fragestellungen Horntrio (1982) und im Hamburgischen Konzert
entstehen: Was reizt Komponisten daran, solche (1998–1999, revidiert 2002) neue Facetten des
Instrumente zu verwenden? Wie werden sie Instruments abgewinnen; das jüngst konstruierte
eingebunden, und inwieweit gehen mit dieser Horn mit doppelter Stürze1 bietet wiederum so
Einbindung veränderte Satztechniken ein? Wie
1 Vgl. mit dem von Christine Chapman (Ensemble
wird mit den damit verknüpften kulturellen Kon- Musikfabrik) in Auftrag gegebenen und von Gottfried
notationen umgegangen? Welche Verhältnisse Büchel konstruierten Instrument (www.youtube.com/
beziehungsweise Arten der Kommunikation (oder watch?v=jAq_hpzk3IU, letzter Zugriff im Juni 2015).

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THEMA Stefan Drees

Stefan Drees
»… mit ungewohnten Klängen …«
Bedingungen und Motivationen der kompositorischen
Aneignung historischer Musikinstrumente

I n einem Versuch zur Beantwortung der Frage hat, lässt sich anhand vielfältiger Entwicklungen

BE
»Was ist Alte Musik?« formulierte Ludwig der vergangenen Jahrzehnte bis hin zur Gründung
Finscher 1995 zwei kritische Einwände gegen die gemischter Ensembles nachzeichnen. Allerdings
Alte-Musik-Szene. Einerseits handele es sich bei bedarf der komponierende Bezug auf historische
dieser um eine »Sonderkultur […], die sich aus dem Instrumente, wenn er mehr sein möchte als eine
Wechselspiel einer entwickelten Produktionssphäre Aneignung gleichsam exotischer Klangfarben
(vulgo Industrie) und eines entwickelten Marktes jenseits des gängigen Instrumentariums, fundierter
mit starken ideologischen Vorgaben« konstituiere; Überlegungen und Begründungen; fehlen diese,
andererseits aber sei sie auch in Bezug auf Interpre- erschließt sich – etwa bei publikumswirksam

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ten, Konzertformen und Publikum »von derjenigen inszenierten Events wie dem Zusammentreffen
des traditionellen Musiklebens wie von der Neuen von Ensembles für alte und neue Musik bei den
Musik fast ganz getrennt«.1 Selbst wenn man Fin- Donaueschinger Musiktagen 2006 – oftmals nicht
scher im Hinblick auf die Rolle des Musikmarkts die ästhetische Notwendigkeit entsprechender Un-
Recht geben mag und sich entsprechende Ten- ternehmungen. Ausgehend von dieser Problematik
PR
denzen um das vermeintlich »Authentische« neuer werden – ohne Anspruch auf Vollständigkeit und
Aufnahmen in den vergangenen zwei Jahrzehnten zugleich auf eine überschaubare Anzahl von Bei-
eher noch verschärft haben, belegt sein Hinweis auf spielen beschränkt – im Folgenden unterschiedliche
die Trennung der Einfluss-, Produktions- und Re- Ansätze untersucht, die von den Motivationen der
zeptionssphären doch eine für die Entstehungszeit kompositorischen Auseinandersetzung mit histori-
des Aufsatzes schwer nachvollziehbare Ignoranz schen Instrumenten während der vergangenen rund
gegenüber aktuellen Entwicklungen des Kulturle- 100 Jahre künden.2
bens. Mitte der 1990er Jahre war nämlich längst un-
SE

übersehbar, dass sowohl die historisch informierte


Aufführungspraxis wie auch die Aufführungspraxis I – Reaktivierung historischer Musikinstrumente
zeitgenössischer Musik als klingender Ausdruck am Beispiel der Viola d’amore
der Gegenwart begriffen werden müssen: als von
analogen ästhetischen Positionen bestimmte und »Ich habe einen neuen Sport: ich spiele Viola
sich gegenseitig beeinflussende Haltungen, die d’amour, ein ganz herrliches Instrument, das
wesentlich vom Bedürfnis geprägt sind, sich auf ganz verschollen ist und für das nur eine ganz
jeweils individuelle Art mit ungewohnten Klängen
LE

und Möglichkeiten der Klangdifferenzierung 2 Zwar existiert bis heute keine einheitliche Definition für die
auseinanderzusetzen. häufig synonym benutzten Termini »alte« und »historische«
Instrumente, doch implizieren beide Bezeichnungen
Dass diese Ausgangslage von Seiten der
bestimmte instrumentenbauliche Merkmale, aus denen
Komponisten eine teils sehr fruchtbare Auseinan- sowohl charakteristische klangliche Kennzeichen wie
dersetzung mit historischen Instrumenten angeregt auch spezifische Musizierweisen resultieren. Zu dieser
Problematik vgl. Winfried Schrammek: Alte und neue
1 Ludwig Finscher: Was ist Alte Musik?, in: Alte Musik Musikinstrumente, in: Beiträge zur Musikwissenschaft 7 (1965),
im 20. Jahrhundert: Wandlungen und Formen ihrer Rezeption S. 209–217, sowie vor allem die terminologische Diskussion
(= Frankfurter Studien: Veröffentlichungen des Paul-Hin- bei Kerstin Neubarth: Historische Musikinstrumente im
demith-Instituts Frankfurt 5), hg. von Giselher Schubert, 20. Jahrhundert. Begriff – Verständnis – kompositorische Rezeption,
Frankfurt a. M. 1995, S. 9–18, hier S. 16. Köln 2005, S. 9–30.

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Die Thereminvox THEMA

Matthias Sauer
Die Thereminvox –
eine Neuentdeckung frühester elektronischer
Musikinstrumente

M it einer bereits optisch auffälligen Klang-

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steuerung zählt die Thereminvox zu den
originellsten Musikinstrumenten.1 Reizvoll ist vor
allem ihre hohe spieltechnisch-klangliche Sensibi-
lität, die man generell von keinem elektronischen
Instrument erwartet. Der russische Physiker Leon
Theremin (1896–1993) erfand das Instrument
um 1920 eher zufällig bei der Entwicklung eines
militärischen Alarmsystems. Mit Hilfe zweier

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Antennen werden bei diesem berührungslos
gespielten Klangerzeuger die Grundparameter
Tonhöhe und Lautstärke gesteuert. Seit etwa
Mitte der 1990er Jahre ist die Thereminvox für
Musiker und Komponisten in größerer Zahl
PR
verfügbar; vor allem Robert Moog reproduzierte
das nach Leon Theremin benannte Instrument Leon Theremin spielt die Thereminvox, um 1925
erfolgreich. Dieser Beitrag zeigt eine Auswahl an Quelle: ru.wikipedia.org
jüngeren Originalwerken, die für Thereminvox
geschrieben wurden. räumlich oder anderweitig begrenzt werden. Sie
Bereits während der 1980er Jahre sind vermehrt beruht vielmehr auf einer Heterogenität an Stilen,
in Russland Originalwerke von zumeist Moskauer Instrumentationen durch viele Genres des 20. bzw.
Komponisten der jüngeren Generation komponiert frühen 21. Jahrhunderts. In der Mehrheit liegen
SE

worden. Diese Werke zeigen in ihrer Gesamtheit die Partituren als ungedruckte Quellen vorwiegend
die gegenwärtig starken polystilistischen Ten- im Besitz der Komponisten und Interpreten vor,
denzen in der Musik sowie in anderen Künsten die Zahl an Studioaufnahmen von Werken für
auf. Sie reflektieren die Vielgestaltigkeit der beziehungsweise mit Thereminvox ist während der
zeitgenössischen elektronischen Musik, die Kom- letzten Jahre beträchtlich gestiegen.
positionen für Theremin solo, kammermusikalische Zahlreiche neuere Stücke für Thereminvox
Stücke und Orchesterwerke, improvisatorische sind im Unterschied zu den vor 1950 entstandenen
Live-Elektronik, Tonband-Collagen oder auch traditionellen Werken nicht auf eine klangliche
LE

Klanginstallationen umfasst. Eine »klassische The- Ebene fixiert, sondern implizieren häufig visuelle
reminmusik«, die allgemein bis etwa zu Beginn der Aktionen. Hauptsächlich seit den zeitgenössischen
1990er Jahre mit den von Clara Rockmore bekann- Werken um 1960 wird die musikalische Körper-
ten Bearbeitungen für Thereminvox und Klavier sprache zu einem neuen Ausdrucksmittel, während
assoziiert worden war, kann heute nicht zeitlich, bereits um 1930 zwar allgemein eine Analogie zum
Dirigenten, der mit bewussten Hand- und Armbe-
1 Der Aufsatz basiert auf Material, das der Autor in seiner wegungen einen Klangkörper steuert, erkannt und
Dissertation präsentiert hat, vgl. Matthias Sauer: Die
Thereminvox: Konstruktion, Geschichte, Werke (= Osnabrücker
in Form von Karikaturen und verbalen Polemiken
Beiträge zur systematischen Musikwissenschaft 13), reflektiert; kompositorisch ist sie aber noch nicht
Osnabrück 2008. erschlossen worden.

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THEMA Wolfgang Gratzer

Wolfgang Gratzer
»Criminally under-appreciated«
Über Hans Reichels Daxophon

D er folgende Text umfasst vier Gedan-


kenschritte: Einleitenden Hinweisen auf
Shane Mack einen Nachruf, der am 13. November
2011 in den Tiny Mix Tapes Veröffentlichung fand,

BE
die Rezeption Hans Reichels (Teil 1) folgen einem auf zeitgenössische Musik spezialisierten,
Erläuterungen zu dessen biographischer und dabei spartenübergreifend ausholenden Online-
künstlerischer Entwicklung (Teil 2). Letztere Medium. Mack meinte abschließend, »Reichel’s
sollen seinen Innovationen im Gitarrenspiel und contributions to the avant-garde« seien »consi-
im Instrumentenbau verstehen helfen (Teil 3). derable« und würden von Interessierten an einer
Diese Innovationen, so die abschließende These, »forward-thinking music« in Zukunft vermisst
haben beträchtliches Potential sowohl für eine werden. Dies argumentierend verwies der Autor
künstlerische wie für eine musikwissenschaftliche unter anderem auf Reichels innovative Gitarren-

O
Auseinandersetzung (Teil 4). Spieltechniken und dessen Daxophon-Erfindung.
Anders als solche – recht verstreut anzutreffende
»Ich verstehe mich als Werkzeugmacher. – Einschätzungen vermuten lassen könnte, war der
So wie jemand einen Hammer oder Nägel Name Reichels zu dessen Lebzeiten ausgerechnet
herstellt, ohne zu wissen, was später damit in den umfassendsten Druckausgaben gängiger
PR
gehämmert und genagelt wird.« Musiklexika vergeblich zu suchen, darunter in der
[Hans Reichel]1 27 Bände umfassenden sogenannten Neuen MGG
(1994–2008) und in der 29-bändigen, zweiten
Druck-Ausgabe des New Grove Dictionary (2001).
I – Einleitung Gleichwohl blieb Macks Einschätzung kein
Einzelfall, wobei anders als in diesem und in ei-
»Hans Reichel – the criminally under-appreciated nigen weiteren Nachrufen3 ein Free-Jazz-Kontext
German experimental guitarist – passed away in hergestellt wurde: so beispielsweise in den kurzen
SE

his hometown.«2 Mit diesen Worten eröffnete Einträgen in Reclams Jazzlexikon (2003) 4 oder
im New Grove Dictionary of Jazz (2002)5. Könnte
1 Hans Reichel, zit. nach [Interview, geführt von Konrad so der erste Eindruck eines stilistischen Grenz-
Lischka] Schriftenmacher Hans Reichel. Deutsche Schriften für gängers entstehen, so spräche hierfür, dass der
die Welt, in: Der Spiegel (29. Mai 2007), hier zit. nach www.
ebenfalls schwer zuordenbare, bislang deutlich
spiegel.de/netzwelt/web/schriftenmacher-hans-reichel-
deutsche-schriften-fuer-die-welt-a-484882.html (letzter mehr beachtete, verschiedentlich ausgezeichnete
Zugriff: 12. Mai 2015). Dieses Interview gehört neben
einigen Aufsätzen (s. u.) in Booklets oder auf der 3 Vgl. u. a. Wolfgang Rosenbaum: [Nachruf] Hans Reichel,
LE

Homepage www.daxo.de (letzter Zugriff: 10. Mai 2015) www.aufbruch-am-arrenberg.de/index.php/de/arrenberg/


zu den wenigen verlässlichen Dokumenten seines menschen/111-hans-reichel.html (letzter Zugriff: 12. Mai
Selbstverständnisses. Etliche Kurzzitate in journalisti- 2015); oder Valeska von Dolega: [Nachruf] Hans Reichel
schen Textsorten sind heute nicht mehr als autorisiert im Alter von 62 Jahren gestorben, in: Westdeutsche Zeitung
nachzuweisen. (23. November 2011). Ich danke Wolfgang Rosenbaum für
verschiedene Hinweise (Mail an den Verfasser, 12. Mai 2015).
2 Shane Mack: RIP: Hans Reichel, avant-garde guitarist and
inventor, in: www.tinymixtapes.com/news/rip-hans- 4 Eric Zwang Eriksson: Art. Hans Reichel, in: Reclams
reichel-avant-garde-guitarist-and-inventor (letzter Jazzlexikon. Personenlexikon hg. von Wolf Kampmann,
Zugriff: 12. Mai 2011), zit. auch in Meredith Yananos: Sachlexikon hg. von Ekkehard Jost, Stuttgart 2003, S. 432.
RIP Hans Reichel, in: Online-Journal Coihaus (http:// 5 Simon Adams: Art. Hans Reichel, in: The New Grove Dictionary
coilhouse.net/2011/11/rip-hans-reichel/, letzter Zugriff: of Jazz. Second Edition, hg. von Barry Kernfeld, London
12. Mai 2015). [u. a.] 2002, Bd. 2, S. 394.

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»Ausgraben und Erinnern« – Ein Interview THEMA

»Ausgraben und Erinnern«


Johannes Schöllhorn im Gespräch mit Stefan Drees
über den gegenwärtigen Umgang mit Klangerzeugern

Herr Schöllhorn, Dank der Möglichkeiten des Internets Können Sie den zuletzt genannten Aspekt näher ausführen?
haben wir heute Zugriff auf eine nahezu unüberschaubare

BE
Vielzahl von Klangerzeugern und damit zusammenhängen- Es lässt sich eigentlich sehr einfach erfahren, was
der Einsatzmöglichkeiten. Darin inbegriffen sind nicht nur ich damit meine: Ich empfehle beispielsweise
die traditionellen europäischen Musikinstrumente und die an meinen Studenten, wenn sie Schlagzeugstücke
ihnen ansetzenden spieltechnisch-klanglichen Erweiterungen schreiben, das Schlagzeug auch einmal zu tragen
der vergangenen Jahrzehnte, sondern auch viele andere aku- oder eine Marimba aufzubauen und wieder
stische und elektronische Arten der Klangerzeugung. Mich auseinanderzunehmen. Wenn man nämlich
interessiert zunächst einmal die Frage, wie man dieser Un- ein Tamtam oder einen Gong aus Indonesien
überschaubarkeit in der Praxis des Kompositionsunterrichts getragen hat, dann muss man – behaupte ich

O
begegnen und ihr Rechnung tragen kann. – das Instrument fast gar nicht anschlagen, um
herauszufinden, wie es klingt, weil man es in der
Natürlich gibt es im Unterricht an Musikhoch- Hand hatte. Allein schon der Körper des Instru-
schulen bestimmte Fächer, mit denen man ments erzählt sehr viel vom Klang. Eine Gefahr
diesen Bereich abzudecken versucht. So haben beim Komponieren ist, dass man etwas abstrakt
PR
wir in Köln beispielsweise Instrumentationsun- hinschreibt, ohne sich dieses Wissen anzueignen.
terricht und Instrumentenkunde, was eigentlich Deshalb halte ich auch den direkten Kontakt mit
an jeder Hochschule selbstverständlich sein Spielern und Instrumenten für außerordentlich
sollte – und zwar nicht nur für Komponisten, bedeutsam. Über diese Möglichkeiten hinaus sind
sondern auch für ausübende Musiker. Dieser wir heute in einer luxuriösen Situation, weil – Sie
Unterricht läuft bei uns jedoch nicht nach erwähnten es bereits in Ihrer Eingangsfrage – das
dem klassischen Berlioz/Strauss-Schema ab, Internet und die Literatur inzwischen zahlreiche
sondern er ist sehr stark auf neuere und neueste Informationen bieten, sodass viele Studenten be-
SE

Musik fokussiert. Die Studierenden bekommen reits viele Dinge wissen, bevor sie überhaupt mit
zahlreiche Literaturbeispiele, und es wird ihnen ihrem Studium beginnen. Sie können sich über
gezeigt, worin die Besonderheiten der einzelnen bestimmte instrumentatorische Besonderheiten
Instrumente und der Instrumentation jeweils informieren und auch sehen, wie andere Kom-
liegen. Darüber hinaus machen wir aber auch ponisten sie in ihren Partituren notieren. Darüber
praktische Instrumentationslehre dadurch, dass hinaus gibt es eine ganze Reihe hilfreicher Publi-
wir Musiker einladen und uns vieles direkt an kationen, beispielsweise das Buch von Marcus
den Instrumenten und damit in der Spielpraxis Weiss über das Saxophon, in dem gleich ein paar
LE

zeigen lassen. So veranstalten wir beispielsweise hundert Multiphonics aufgelistet sind, die sich
immer wieder Workshops mit Musikern des zudem im Internet anhören lassen.1 Mit anderen
Ensembles Musikfabrik, in denen, wie aktuell Worten: Es ist heute sehr leicht, die Grundinfor-
etwa von der Flötistin Helen Bledsoe, die ein- mationen zu bekommen. Mit ihnen dann sinnvoll
zelnen Instrumente und deren Möglichkeiten umzugehen, ist schon ein ganz anderes Problem.
präsentiert werden und auch neue Stücke für
das Instrument entstehen. Dieser Aspekt unter- 1 Marcus Weiss, Georgio Netti: Die Spieltechnik des Saxophons,
Kassel [u. a.] 2010; die Audiobeispiele zu Mehrklängen
streicht, dass nicht nur das theoretische Wissen, und Spieltechniken sind allgemein zugänglich unter www.
sondern auch die physische Präsenz des Musi- baerenreiter.com/materialien/weiss_netti/saxophon/seite1.
kers und des Musikinstruments wichtig ist. html (letzter Aufruf: 10. Mai 2015).

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ESSAY Jürgen Schaarwächter

Jürgen Schaarwächter
Paul Arons Konzertreihen Neuer Musik
in Dresden 1920–1933 1

P aul Arons Konzertreihen Neuer Musik in Dres-


den sind typisch für Umsetzung und praktische
1920 kehrte Paul Aron in seine Geburtsstadt
Dresden zurück. Hier war er am 9. Januar 1886

BE
Integrierung der Bemühungen um die zeitgenös- als Kaufmannssohn geboren worden. Nach dem
sische Musik in das lokale Konzertleben. Durch Besuch des Wettiner Gymnasiums hatte er zu-
ihre spezielle Programmstruktur waren Arons nächst zwei Jahre lang Jura in München studiert,
Konzerte ein wesentlicher Faktor im Dresdner wo er ab Oktober 1905 auch privaten Klavierun-
Musikleben, auch wenn die »Elite des Bürgertums, terricht bei Max Reger erhielt. Schon kurze Zeit
die Jahre zuvor noch im ›Musiksalon Bertrand Roth‹ später entschied sich Aron auf Regers Empfehlung
anzutreffen gewesen war, […] den Aron-Abenden hin für die Musikerlaufbahn. Er vertiefte sein
fern[blieb]«.2 Die Gründe sind leicht zu erahnen, Studium, neben dem Unterricht bei Reger beim

O
in einem Schreiben an Aron schreibt Erwin Schul- bedeutenden Münchner Klavierpädagogen August
hoff 1924: »Ich weiß es noch sehr gut aus eigener Schmid-Lindner (1870–1959), ab April 1907 am
Erfahrung, daß man in Dresden mit zeitgenössi- königlichen Konservatorium der Musik in Leipzig;
scher Musik einen sehr schweren Stand hat, doch auch hier blieb er Regers Schüler (nunmehr in
scheint es Ihnen doch nun gelungen zu sein, aus der Kompositionsklasse), sein Hauptfachlehrer
PR
dem dortigen Spießbürgertum etwas zu machen.«3 für Klavier war Robert Teichmüller (1863–1939).
Und Eugen Schmitz fasst in der Musik lapidar Beim Studienabschluss vom Konservatorium
zusammen: »Gespielt und gesungen wird fast nur bezeichnete ihn Teichmüller als »recht musika-
Bekanntes. Das Unternehmen des einheimischen lisch« (bei der Ausführung eines Liszt-Konzerts)5,
Pianisten Paul Aron, der einen Kammermusikzyklus weswegen sich Reger wohl genötigt sah, gleich
mit modernsten Sachen angekündigt hat und neu- darauf ein sehr viel wohlwollenderes Empfeh-
lich mit einem hochinteressanten, gehaltvollen Trio lungsschreiben auszufertigen: »Herr Paul Aron
von Cyrill Scott durchschlagenden Erfolg erzielte, war mehrere Jahre mein Schüler in Theorie u.
SE

steht ganz vereinzelt.«4 Klavierspiel, u. hat derselbe bei sehr großen An-
lagen zur Musik u. insbesondere fürs Klavierspiel
*** unter ebensolch großem Fleiße als Klavierspieler
schönste Erfolge schon aufzuweisen; Herr Aron
1 Überarbeitete Schriftfassung eines Vortrags im Rahmen des wird zweifellos einer unserer besten Pianisten
Symposiums Arnold Schönberg, Max Reger und der Verein für werden; das ›Zeug dazu‹ besitzt er in vollstem
musikalische Privataufführungen im Schönberg Center Wien am
Maße. Besonders ist er als Kammermusikspieler
11.–13. Oktober 2012.
nur aufs Allerwärmste zu empfehlen. Kurzum: ich
LE

2 Martin Thrun: Neue Musik im deutschen Musikleben bis 1933,


Bonn 1995, S. 670, zit. nach Hanns-Werner Heister: Zur
war mit seinen pianistischen Leistungen so zufrie-
Struktur der Musikkultur in Dresden am Anfang des 20. Jahr- den, daß ich mit ihm verschiedentlich (Magdeburg,
hunderts. Musiksoziologische Überlegungen in historiographischer Leipzig, Hamburg, München, Altenburg, Plauen,
Absicht, in: Dresden und die avancierte Musik im 20. Jahrhundert. Dresden) die Schwierigsten meiner Werke für
Teil I: 1900–1933 (= Musik in Dresden 4), hgg. von
2 Klaviere in Concerten vortrug, u. er sich dabei
Matthias Herrmann und Hanns-Werner Heister, Laaber
1999, S. 117–140, hier S. 136f.
3 Brief Erwin Schulhoffs an Paul Aron, 2. Oktober 1924, 5 Lehrer-Zeugnis des Königlichen Konservatoriums
Max-Reger-Institut, Ep. Ms. 636. der Musik zu Leipzig vom 3. April 1909, Inscriptions-
4 Eugen Schmitz: Musikleben, in: Die Musik 15 (1923), Heft 3 Nummer 9863, Hochschule für Musik und Theater Felix
(Dezember 1922), S. 225. Mendelssohn Bartholdy Leipzig, Archiv.

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