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Felix Henke

Die Jagd nach der Sternfrucht


Fünf lange Stunden, gut, theoretisch dauert eine Stunde ausnahmslos 60 Minuten, aber diese
fünf dauerten doppelt so lang! Da war ich mir auch sicher, denn wir fuhren jetzt schon ewig.
Die Zeit zog sich wie mein Erdbeer-Kaugummi, das mittlerweile nur noch nach Reifen
schmeckte, in die Länge. Schon lange hatte ich nicht mehr aus dem Fenster geblickt, warum
auch, es war sowieso immer das gleiche Schema: Berg, mal mit, mal ohne Schnee, Fluss, mal
mit, mal ohne Schiff, und Straße, mit Autos, durchgehend. Es war sehr monoton. Diese
Eintönigkeit wurde höchstens von den Worten meines Vaters unterbrochen: „Schau mal, was
ein toller Fluß.”, oder: „Irre, wie hoch der Berg ist.” Wir fuhren also durch dieses
Niemandsland, während unser Wohnwagen fröhlich hinter uns herzuckelte.
Die Straße wurde schließlich schlechter und auch die Autos wurden weniger. Bei jedem Stein
hörte man ein leichtes Ächzen des Wohnwagens, als würde er sich gleich verabschieden und
hier, mitten auf der Schotterpiste, den Rest seiner Tage verbringen.
Mir kam in den Sinn, dass wir einfach am Rand kampieren könnten. Mittlerweile war es auch
Nacht und die schwachen Scheinwerfer unserer Ente tauchten die Straße in ein mattes Gelb.
Plötzlich riss mich ein lautes „Mist”, meines Vaters unsanft aus meinen Gedanken.
Anscheinend waren wir falsch abgebogen und konnten, aufgrund der an beiden Seiten
stehenden Tannen und des Häuschens auf Rädern hinter uns, nicht wenden. Es wurde noch
holpriger und noch steiniger, als wir auf etwas fuhren, dass alles sein konnte, nur keine
Straße. Und, wie aus dem nichts, war auf einmal ein uralter, steinerner Tunnel vor uns
aufgetaucht. Er war so überraschend erschienen, dass das Auto eine Vollbremsung hinlegte,
die mich fast aus meinen Sitz geschleudert hätte.
Nun starrten mein Vater und ich das unscheinbare Gebilde an. Es sah aus, als stamme es aus
einer anderen Zeit.
Die dunklen Steine, welche sich in die Höhe zu einem Torbogen wandten. Wäre nicht der
massive Fels an den Seiten gewesen, so hätte man meinen können, jener Torbogen sei das
mächtige Eingangsportal zu einer mittelalterlichen Ritterburg. Nur die großen Eichentüren an
beiden Seiten und das schmiedeeiserne Gitter fehlten.
Das Starten des Motors kündete die Weiterfahrt an und mein Vater schien überglücklich über
die Zufalls-Abkürzung. Also fuhren wir in die tiefschwarze Masse am Tunneleingang. Im
Inneren war die Durchfahrt einspurig und so malte ich mir aus, was wohl passieren würde,
wenn uns, in dem eh schlecht beleuchteten Tunnel, ein Lastwagen entgegenkommen würde.
Der Tunnel schien kein Ende zu nehmen und die grob behauenen Wände wirkten erdrückend.
Mich überkam eine Müdigkeit, wie ich sie noch nie verspürt hatte. Als ich kurz darauf in
einen tiefen Schlaf sackte, verstummte das Motorengeräusch langsam, aber sicher.

Blendendes Sonnenlicht kitzelte an meinen Augen und der Geruch des Meeres umfing mich,
als ich aufwachte, aber... Moment! War es vorhin nicht noch Nacht?
Und, wo in Gottes Namen, war unser Auto. Für einen kurzen Moment dachte ich schon, dass
ich im Himmel war und uns vielleicht doch ein LKW erwischt hatte. Nach kurzem Überlegen
verwarf ich jenen Gedanken aber schnell wieder. Zu unwahrscheinlich. „Ruhig bleiben, bloß
keine Panik!”, sagte ich panisch zu mir selbst. Ich versuchte meine Lage zu begreifen und
schaute mich um. Ich stand auf einer kleinen Sandstein Klippe mitten über einem türkis-
blauen Meer, in welchem die Sonne glitzerte. Hinter mir, wo eigentlich der Tunnel hätte sein
müssen, war eine schroffe Felswand. Langsam überkam mich ein Gefühl der Einsamkeit und
Hilflosigkeit. Kurz, ich bekam Angst, große Angst. Möglicherweise musste ich den Rest
meines Lebens hierbleiben! Auf einem kleinen Felsen mitten im Nirgendwo.
Nach einer gefühlten Ewigkeit beschloss ich, mich vorsichtig, ganz vorsichtig, von meinen
Felsen Richtung Meer zu begeben. Die Klippe hatte ich jetzt schon etliche Male umwandelt
und die Felswand wütend angestarrt, als würde ich sie fragen: „Warum hast du keinen Tunnel,
warum?” Alles natürlich erfolglos, aber das Verlassen der Klippe war, erfreulicherweise,
erstaunlich einfach. Es war am Anfang sehr steil und ich hatte die Furcht, abzurutschen und
eine unfreiwillige Talfahrt ins Meer zu bekommen, aber dann wurde der Weg gut begehbar
und das Abenteuerfieber hatte mich gepackt. So rannte ich nun fast den Kieselweg entlang,
um zu sehen, was sich hinter der nächsten Kurve befand. Urplötzlich stolperte ich mit einem
Mann zusammen. Er sah wirklich ulkig aus. Ich schätzte ihn auf 70 Jahre. Er hatte einen
langen, buschigen Rauschebart und ebenso buschige Augenbrauen. Am erstaunlichsten waren
aber seine Klamotten, lange dunkle Robe und Schuhe, wie man sie nur in Museen fand.
„Pass doch auf, Junge!”, fuhr er mich barsch an. Schnell entschuldigte ich mich: „Sorry, tut
mir voll leid!” Der Alte Mann blickte mich, recht verdutzt, an. Die Art, wie er schaute,
erinnerte mich an gaffende Menschen im Zoo. Erst sah es so aus, als wenn er etwas sagen
wollte, doch dann besann er sich eines Besseren und ging forschen Schrittes seinen Weg.
Seinem Beispiel folgend, ging auch ich die Schotterstrecke, bloß in die entgegengesetzte
Richtung, entlang.
Der Weg wurde immer breiter und es kamen mir immer mehr Menschen entgegen, alle trugen
seltsame Klamotten, wie in einem Piratenfilm. Ohne es zu merken, betrat ich eine kleine
Stadt. Die Häuser waren anscheinend noch aus dem Mittelalter, kleine unscheinbare
Fachwerkhäuser, mit grobem Putz versehen. Mit meinem Vater war ich auch in einem alten
Dorf, das war sehr ähnlich, und es gab einen kleinen Eisladen, wo ich eine große Kugel
Schokoladeneis bekommen hatte. Beim Gedanken an meinen Papa bekam ich Heimweh.
Mittlerweile war ich am Hafen angekommen, ein kleiner Hafen, in dem erstaunlich große
Schiffe lagen. Diese Boote waren, mindestens, Dreimaster. Mit Gold und Stuck versehen,
strahlten sie unglaublichen Reichtum aus. Ich stellte mir vor, wie ich als Kapitän am großen
Steuerrad stand und das Schiff durch die raue See manövrierte. Käpt'n klang gut!

„Hey, wer bist du denn?”, riss mich eine Stimme aus den Gedanken und überrumpelt
antwortete ich schnell: „Nick!” Nun ergab sich mir die Möglichkeit den Besitzer der Stimme
genauer zu betrachten. Es war ein Mädchen, ungefähr mein Alter, und sie starrte mich mit
großen Augen an. Wieder machte sie den Mund auf, mit Blick auf meine Klamotten: „Und
woher kommst du, von hier bist du jedenfalls nicht.” Kurz musterte ich mich, eigentlich sah
ich ganz normal aus, blaue Jeans, blauen Pulli und Sneakers. Alles war zwar ein wenig
dreckig, aber sonst okay. Also sagte ich: „Wieso, dass trägt doch jeder!” Ihre Antwort kam
prompt:„Schau dich doch mal um - Kein Mensch trägt sowas. Schließlich haben wir das Jahr
1642.” Wie vom Blitz getroffen wiederholte ich ungläubig: „1642?” Aber sie war schon
wieder bei der Kleidung: „Heute trägt das”,sie machte eine Handbewegung über ihre
Klamotten, „jeder!”
Da hatte sie Recht, auch ihre Sachen bestanden aus einer dunkelroten Tunika und braunen
Ledersandalen. Sie wiederholte ihre Frage neugierig: „Also, wo ist dein Zuhause?” Ich war
tief traurig und fühlte mich verloren und musste mich zusammenreißen nicht zu weinen, als
sie mich auf Zuhause ansprach. Ich trug die falsche Kleidung und, was noch viel schlimmer
war, befand ich mich anscheinend im Jahr 1642. Leicht schluchzend stellte ich außerdem fest:
„Ich weiß nicht wie ich nach Hause komme. Ich weiß nicht mal, wo Zuhause ist!”
Anscheinend bemerkte das Mädchen meine Niedergeschlagenheit, deswegen sagte sie: „Ich
kann dir vielleicht helfen, aber dafür musst du mir auch einen Gefallen tun.” Ohne weiter
darüber nachzudenken, willigte ich ein.
Gemeinsam begaben wir uns zum wahrscheinlich größten und prächtigsten Schiff von allen.
Hier herrschte ein Betrieb wie in einem Bienenstock. Tagelöhner gingen die Laderampe hoch
und kamen mit schweren Holzkisten zurück, welche sie auf den Steg wieder abluden.
Interessiert beobachtete ich das bunte Treiben eine zeitlang. Jetzt flüsterte sie leise zu mir,
nachdem wir hinter anderen Kisten Deckung genommen hatten:„Siehst du den Stapel mit
Kisten?”, ich nickte, „Auch den bulligen Typen, der sie bewacht?”, erneutes Nicken, „Also,
hier ist mein Plan: Du lenkst dieses Tier von Mensch ab, während ich uns ein paar
Sternfrüchte hole.” „Du willst etwas klauen?”, fragte ich entgeistert. „Nein, nur auf
unbestimmte Zeit ausleihen.”, war Ihre prompte und gleichgültige Antwort. „Außerdem”,
fügte sie hinzu, „sind es nur Sternfrüchte. Nicht sehr wertvoll, aber super lecker!” Da ich
wirklich hungrig war, willigte ich ein. Trotzdem hatte ich ein flaues Gefühl im Magen. Vor
meinen inneren Auge liefen Bilder ab, wie mich dieser Typ packte und ins Meer warf.
Als ich ihr mitteilen wollte, dass ich es mir anders überlegt hatte, da sah ich sie schon
Richtung Sternen Früchte schleichen. Jetzt war es, leider, Zeit für meinen Einsatz. Langsam
richtete ich mich auf und wankte zum Wächter hinüber. Mein Plan: Ihn in ein Gespräch zu
verwickeln.
Gesagt getan, nachdem ich meine Worte sorgfältig ausgewählt hatte, der Satz
zusammengesetzt war und ich ihn innerlich noch einmal aufsagte, öffnete ich den Mund, um
die geplante Konversation zu starten: „Entschuldigung ich, Ähhhmm”, als dieser Typ mich
mir zuwandte, verschlug es mir die Sprache und es drang jeglich ein ersticktes Gurgeln aus
mir.
„Was bissen du für'n komischer Vogel” ,fragte mich der Mann unfreundlich und eine starke
Alkohol Fahne drang zu mir. Plötzlich war ich ganz gelassen und meine Antwort kam prompt.
Ich war selber erstaunt, wie flüssig ich auf einmal sprach: „Ich bin der große Zauberer…”, als
mir kein Name einfiel schaute ich mich rasch um. Mein Blick blieb an einer unscheinbaren
Holzkiste haften, wo ein Sticker, der auch schon bessere Tage gesehen hatte, klebte, mit dem
Empfangsland. Jetzt konnte ich ihm meinen Namen sagen: „… der große Zauberer
Madagaskar und ich lasse dich teilhaben an. Ähh, meinen Tricks.” Müde hob mein Gegenüber
eine Augenbraue und forderte unbeeindruckt auf: „Na, dann lass ma sehn!” Ich führte einen
sehr alten und sehr langweiligen Trick auf. Indem ich so tat, als ob, mein Daumen von Rest
der Hand getrennt war und ich ihn hin und her schob. Ich hielt in für nicht so schlau und
glaubte, dass dieser Trick reichen würde.
Das Resultat war eine Verärgerung des Typs: „Junge willst du mich für dumm verkaufen?
Verschwinde!”, währenddessen führte er einen leichten Schlag gegen meinen Oberarm aus,
nicht doll, aber einen blauen Fleck würde es geben. Kurz schrie ich auf, ehe ich wieder in
meiner Rolle als Magier versank. Jetzt rief ich, wie in einen schlechten Fantasy Film: „Du
glaubst nicht an meine Magische Kraft?” Hätte ich einen Zauberstab, so hätte ich mit diesen
jetzt laut auf den Boden geschlagen. Hatte ich aber nicht und so sprach ich weiter: „Das Licht
der Wahrheit soll dich blenden!” In diesem Fall war mein "Licht der Wahrheit" eine kleine
LED, welche ich mitten ins Gesicht des Wächters leuchtete. Papa hatte mir die Taschenlampe
mal geschenkt. Der große Mann Schrie laut auf, gepeinigt vom Licht, und Leute in unserer
Nähe schauten sich um. Höchste Zeit, dass ich mich davonmachte.

Am vereinbarten Treffpunkt, ein kleiner Platz in einer engen Häusergasse, waren viele
streunende Katzen, aber kein Mädchen. Traurig schüttelte ich den Kopf und verfluchte meine
eigene Dummheit, dem Mädchen zu trauen. Plötzlich traf mich aus heiterem Himmel, im
wahrsten Sinne des Wortes, etwas Gelbes, dass ich aus Reflex noch rechtzeitig vorm Ende des
Fallens fangen konnte. Es war eine Frucht in der Form eines Sternes. Als ich nach oben
blickte, sah ich einen Kopf, der schelmisch grinste und sogleich zusammen mit dem Rest des
Körpers zu mir herunter geklettert kam. Es war das Mädchen! Mit übervollem Mund sprach
sie: „'Anke ür eine Ilfe.” „Wie bitte?”, fragte ich nach. Sie schluckte noch einen Bissen
herunter und sagte dann: „Danke für deine Hilfe und jetzt probier endlich die Frucht.”
Zögernd biss ich hinein und ein Feuerwerk aus Geschmäckern explodierte in meinem Mund.
Es war süß, sauer, salzig... Und auf einmal umfing mich eine stechende Müdigkeit. Meine
Augenlieder wurden schwer, bis sie mir schließlich zufielen, und langsam verstummten alle
Geräusche um mich herum.

Zuerst hörte ich das Brummen und Surren des Autos, dann durchbrach eine Stimme das
Konzert des Wagens: „Na, da hat ja jemand lange geschlafen und geträumt, du hast dich ganz
schön hin und her gewendet. Ach, übrigens sind wir gleich da. Dann gibt's erst mal ein großes
Eis.” Unverkennbar war es mein Vater und unser Auto.
Die Freude, auf das bevorstehende Eis und die vertraute Umgebung war groß und so bemerkte
ich nicht den neuen, blauen Fleck an meinem Oberarm.

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