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Peter Wust
G ESA M M ELT E W ERKE
MITARBEITER:
VERLAG REGENSBERG
MÜNSTER
Peter W ust
I I I 12
VERLAG R EG EN SB ER G M ÜNSTER
x9^4
,
Zeichnung von Johanna Vernekohl Münster 1959
Einführung
X
deutsame Tatsache, die in unseren Tagen eines gesteiger
ten Alexandrinismus der sogenannte Historismus beinahe
als ein Schicksal betrachtet.
Nun fragt es sich aber, ob nicht die Natur beide Ten
denzen in irgendeiner Form zu hemmen bestrebt ist.
Gewiß kann z. B. die Gedächtnisaufhäufung nicht rück
gängig gemacht werden, weil die Zeit irreversibel ist2.
Aber die steigende Bewußtheit kann trotz alledem bis
zu einem gewissen Grade unschädlich gemacht werden.
Man muß nur in Betracht ziehen, daß gerade dasjenige,
was die Aufklärung so gerne als Fortschritt, und zwar
als grenzenlosen Fortschritt des Wissens anpries, schon
eine Rückbildung des Wissens ist. Und hier ist der Punkt,
wo man der metaphysischen Anthropologie b ed arf.---- .
Die Welt bezeichnet nämlich sehr gern das als Wissen, ja als
Höhepunkt des Wissens, was der Menschengeist in seiner
Isolierung von seiner göttlichen Basis als rein autonom
erfahren zu können glaubt. Nun ist es klar, daß Wesen,
die nur zu ihren irdischen Daseinszwecken einen Schatten
des Bewußtseins haben, wie die Tiere, auch mit einem
rein biologischen Wissen (- wenn man bei solchen Wesen
einmal davon sprechen darf -) auskommen können und
müssen. Sie haben nur eine Bewußtheit auf eine knappe
Wegstrecke hin, für den Augenblick. Da auch der Mensch,
soweit sein Wesen an diesem bloß Biologischen Anteil hat,
solche biologischen Ziele verfolgen muß, so mag auch für
ihn ein derartiges Wissen eben zu diesen Zwecken ge
nügen. Aber damit ist schon von vornherein der Begriff
vom Wesen des Menschen verstümmelt. Offenbar ist der
Mensch, was aus seinem ganz besonderen Kundgeben in
besonderen Zeichen aller A rt ersichtlich ist, nicht bloß
Individuum, sondern auch Person und sogar gerichtet
auf das noch höhere Ziel der Persönlichkeit. Das noetische
Zentrum (vovg) seiner Natur hat eben den Sinn, die
Relativität seiner aus dem biologischen Zentrum resul
tierenden reinen Lebenserfahrung in die Absolutheit
einer Geisteserfahrung zu verwandeln. So gibt es also
für den Menschen niemals bloß das eine oder das andere,
sondern immer beides in allerengster Verbindung. Die
Noesis erhebt seine Sinnlichkeit, oder aber die Sinnlich
keit erniedrigt die Noesis.
Und darin eben, in dieser Polarität von Sinnlichkeit und
Noesis, sehe ich das Wesen der historischen Entwicklung
oder der Dialektik der Geschichte. Entweder der Mensch
steigt auch in seiner Gesamtheit zu Gott aufwärts, oder
aber er sinkt zur Natur abwärts - mit dem Zusatze
freilich, daß er weder zur Natur werden, noch zu Gott
werden kann. Die klassische Linie seines Seins kann nur
in dem Mittleren bestehen, ganz das Seine zu sein und
zu tun. So daß also nirgends wahre Freiheit im Sein der
Kreatur besteht als im Sein des Menschen. Der Verstand
aber ist das besondere Organ, das ihn befähigt, zwischen
den zwei Sphären seines Seins die Brücken zu schlagen.
Der Verstand aber steht zwischen den beiden nur dem
Menschen eigenen Instinkten, zwischen Gottesinstinkt
und Naturinstinkt. Von da aus gibt es vier Möglich
keiten: Will der Verstand losgelöst von beiden Instinkten
das Dasein erfassen, dann haben wir den reinen und
io
frevelhaften, speziell luziferischen Rationalismus. Das
Natürliche wie das Göttliche im Menschen regen und
rächen sich gleichzeitig. Die zweite Möglichkeit ist die
bloße Annäherung des Verstandes an den Naturinstinkt.
Dann rächt sich das Ewige in ihm für die einseitige Wer
tung des Zeitlichen. Oder aber der Verstand hält sich
rein zum Gottesinstinkt: dann haben wir die reine Ver-
jenseitigung des Menschen vor u n s-----sie wird von der
Rache des Leibes getroffen. Die klassische Humanität
aber besteht darin, daß der Mensch seinen Verstand,
dieses Vermittlungsorgan - man könnte sagen diesen
Dolmetscher zwischen Natur und Gott, zwischen den
beiden Instinkten - in der Mitte bleibt: und wenn er so
wirklich moderate lebt, dann bildet er sich aus den zwei
Naturen, in deren Wirkungsbereich er gestellt ist, gleich
sam eine Resultante, in der sich gleichsam eine noch
tiefereNatur als Einheit für ihn offenbart: d.h. er erfüllt
dann sein spezifisches Weltgesetz frei, so wie das Tier das
Seine, durch Instinkt gebundene, erfüllt. Er folgt aus der
Freiheit seiner Welt = ävdyvr).
Indessen setzen nun hier all die besonderen Schwierig
keiten ein, die den historischen Entwicklungsbegriff in
seiner ganzen konkreten Differenzierung zeigen. Sie
liegen in den naturgegebenen einseitigen Wertdispositio
nen sowohl des Einzelmenschen wie auch der Menschheit
bestimmter Nationen oder Rassen oder Epochen. Diese
Dispositionen bestimmen als Schicksalsmomente der
historischen Entwicklung den einzelnen Gang der inne
ren Geschehnisse mit, sie bilden die Materie des formen
den und suchenden Willens. Und als solche bestimmen
sie denn auch die ungeheuere Mannigfaltigkeit des ge
schichtlichen Schauspiels der corsi und recorsi mit. An
und für sich könnte es ja gleichgültig sein, von welchem
Wert aus der Weg zu Gott hin angetreten wird (oder
auch die Abwendung von ihm erfolgt). Aber die Werte
haben - (das hat Scheler am besten herausgehoben) -
eine bestimmte Rangstufenordnung, und so kann es
schon zum Teil mitfolgend in den Wertdispositionen
liegen, ob eben der Weg aufwärts oder abwärts be
schritten wird, ob der Mensch sich der reinen Selbstheit
oder der reinen Liebe zuwendet. Warum das so ist? . . .
Letzten Endes heißt hier die Frage nach dem »Warum?«
stellen: die Neugier vor die Ehrfurcht des Sichbescheidens
setzen. Denn beim Problem der Besonderung beginnt für
alle Philosophie, für die Natur- wie für die Geschichts
philosophie, das Irrationale; übrigens ist das auch der
beste Beweis dafür, daß alles Sein in jeglicher Form seiner
Besonderung das Resultat eines personhaften Urwillens
ist, den wir ebensowenig durchschauen können, wie die
allerletzten Motive irgendeiner endlichen Person. Aber
das Vertrauen in denUrsinn dieses Personwillens steigert
sich mit der Betrachtung des ungeheuren Ernstes und der
ungeheuren Tiefe, die schon jeder einzelne von unserem
endlichen Wissen gleichsam zufällig ergriffene Fetzen der
Sinnäußerungen dieser Urperson erkennen lä ß t---- «3.
Der Leser wird unschwer erkennen, wie sich diese Gedanken
durch das ganze Werk in immer wieder neuen Aspekten
und Ansätzen hindurchziehen. In einer weit ausholenden
Spirale der Gedankenführung konzentriert sich nun in dem
hier folgenden Zweiten Teil (»Drittes Buch«) alles auf
»Das Phänomen der Kollektivbewegung des Geistes in der
Menschheitsgeschichte«. Die Metaphysik der Individual
person weitet sich zur Metaphysik der Geschichte, der
Menschheitsgeschichte. Die veränderte Fragestellung stellt
keinen Wechsel der Betrachtungsebenen dar. Es handelt
sich vielmehr um eine fast selbstverständliche und unmittel
bar einleuchtende Ausweitung der Erkenntnisse über die
ontische Anlage und Natur des Menschen auf den Men
schen als historisches und gesellschaftliches Wesen. Es bedarf
daher wohl keiner ausdrücklichen Beweisführung, daß der
Ausdruck »Kollektiv-Bewegung« in seiner vom Wort her
gegebenen, ursprünglichen Bedeutung, also ohne die ihm
heute anhaftende ideologische Fracht zu verstehen ist. Die
Tatsache, daß Wust im Ersten Kapitel dann noch einmal
das Bild vom » fto v to q d tQ v y s to g « , vom ruhelos auf- und
abwogenden Ozean, aufgreift, macht deutlich, daß hier
»Die Dialektik des Geistes«, wie sie in der ontischen Lage
der menschlichen Person als Selbst gegeben ist, in der
menschlichen Universalgeschichte und in der menschlichen
Gesellschaft weiterwirkt. Nur der Mensch hat Geschichte,
die zwischen den unübersteigbaren Abgründen der Natur
einerseits und Gottes andererseits verläuft. Es handelt sich
hier also um ein in sich geschlossenes und vom Thema her
selbständiges Buch, das dennoch nur einen anderen Aspekt
der im Grunde gleichen Fragestellung und vom gleichen
Ausgangspunkt her entwickelt: Die Scheidelinie zwischen
den Regionen von Natur und Geist wird weiter ausgezo
gen, die Menschheitsgeschichte kommt als Geschichte des
menschlichen Geistes zur Darstellung. In immer neuen G e
fechten wendet sich Wust gegen das schier unübersehbare
und schwer durchschaubare Dickicht der pessimistischen
oder optimistischen Kultur- und Geschichtsphilosophen,
gegen Gnosis und Manichäismus, gegen soziologistische
Weltinterpretation und was immer in den zwanziger Ja h
ren im Schwange war und auch heute keineswegs als über
wunden gelten kann. Die Lösung, die Wust in seinem Werk
anbietet, kann nicht einfach übernommen werden. Er selber
würde das nicht verstehen, wenn man mit diesen schwie
rigen Fragen so leichtfertig verfahren würde. A u f dem
Kam pffelde der Dialektik des Geistes wird es keine Ruhe
geben, weil das Menschenherz diese Ruhe nicht eher findet,
bis es sich in jene Vorstellung schickt, mit der Wust sein
Werk beschließt, daß nämlich die Gegensätze »die Ord
nung der Welt zieren, wie man ein Gedicht mit Antithesen
schmückt« (Augustinus, De civitate Dei, lib. X I, cap. 18).
II. T E I L B A N D
DR ITTES BUCH
3S
liehen Selbst begrifflich die Grenzlinie so fein und so scharf
ziehen will, daß dabei weder der allgemeine und der be
sondere göttliche Konkursus aufgehoben noch auch dem
Pantheismus irgendwelche Zugeständnisse gemacht werden,
die den Begriff des absoluten Geistes verunreinigen
würden.
Aber die Schwierigkeiten der metaphysischen Grenzbestim
mung des menschlichen Selbst setzen keineswegs erst auf
diesam engeren Gebiet der spekulativen Theologie ein. Sie
kommen schon auf dem noch um eine wesentliche Stufe
tiefer gelegenen Niveau der natürlichen Erkenntnis in aller
möglichen Schärfe zum Vorschein. Sie entstehen bei der
Frage nach der Möglichkeit der Einheit und Allgemein
gültigkeit menschlicher Erkenntnisse.
Wenn nämlich, was nun einmal nach einem tieferen Ein
blick in das Wesen des Geistes und der Personalität als un
abweisbare Tatsache zu gelten hat, die Einzelpersönlich
keiten als streng individualisierte, in sich selbst konzen
trierte metaphysische Seins- und Wirkenseinheiten aufzu
fassen sind, die um diese ihre Einheit wissen und auf
Grund dieses Wissens um sich selbst auch sich selbst ge
hören, dann ist es so ohne weiteres nicht möglich, eine E r
klärung dafür zu finden, daß bei einer derartigen meta
physischen Geschiedenheit der Geister voneinander trotz
dem eine bis zu einem gewissen Grade einheitliche, allge
meingültige und notwendige Wahrheitserkenntnis möglich
und auch wirklich vorhanden ist. Wie kommt es, so muß
man sich fragen, daß, obwohl doch keine materiell-sub-
stantiale Verbundenheit, im Sinne des pantheistischen
Averroismus, zwischen den Einzelgeistern untereinander
und ferner zwischen den Einzelgeistern und dem göttlichen
Geiste angenommen werden darf (denn eine solche pan-
theistische Annahme zerstört den Begriff vom Wesen der
Person nach seinem endlichen wie nach seinem unendlichen
Sinn), wie kommt es, daß trotzdem gewisse Wahrheiten,
diejenigen nämlich von streng axiomatischer Evidenz, bei
allen Menschen die gleiche allgemeingültige und notwendige
Geltung beanspruchen und auch von allen Geistern über
haupt zugebilligt erhalten?
Eben im Anschluß an diese Frage erheben sich unendliche
Schwierigkeiten, die, wie wir sehen werden, den averroisti-
schen Irrtum als eine willkommene Theorie erscheinen las
sen, um einen Ausweg aus diesem Dilemma der Metaphysik
des Erkennens zu finden. Schon in der platonischen E r
kenntnislehre hebt sich, wenn man genauer zusieht, im Hin
blick auf diese besondere Frage ein gewisser Widerspruch
heraus, mit dem man kaum fertig zu werden weiß. Wenn
nämlich Platon einerseits das Erkennen auf eine meta
physische Teilhabe der erkennenden Seele am absoluten
Sein der Ideenwelt zurückführt, anderseits dann aber
auch wieder die wenn freilich auch in eine mythische Form
eingekleidete Lehre von der Wiedererinnerung als der Folge
einer präexistenten Ideenschau der Seele für die Erklärung
des Erkenntnisphänomens zu H ilfe ruft, dann klafft eben
hier jener Widerspruch auf, den wir im Auge haben. Der
Teilhabegedanke steht zwar bei Platon allbeherrschend im
Mittelpunkte seiner Untersuchungen. Aber er erhält durch
die Wiedererinnerungslehre, wenn man sie aus ihrer mythi-
sehen Umhüllung herauslöst und auf ihren letzten Sinn hin
betrachtet, einen zwiespältigen Charakter. Wie ist der Teil-
habegedanke zu verstehen? H at er einen substantiellen oder
hat er einen funktionalen Sinn? Im ersteren Falle wäre
Platon Pantheist. Im letzteren Falle wäre er bis zu einem
gewissen Grade Apriorist: die Teilhabe-Idee wäre in etwa
reduziert auf den Gedanken einer Strukturanalogie zwi
schen der Seele und Gott, und die Gleichheit der Erkennt
nis entstände durch die überall gleiche Funktion der seeli
schen Uranlage.
Aber weder die rein substantiale noch die rein funktionale
Fassung des Teilhabegedankens führt zu einem uns allseitig
befriedigenden Ergebnis in der Frage nach der Möglich
keit einer gewissen Einheit der Erkenntnis. Denn die sub
stantiale Fassung muß, wenn man sie wirklich streng durch
führt, auf den Pantheismus hinauslaufen. Die funktionale
Fassung jedoch, die den Teilhabegedanken in der Form
einer analogischen Struktur aller endlichen Geister im Ver
hältnis zum absoluten Geist hinnimmt, muß, wenn man
das Moment der A ktivität der Seele, d. h. der verinnerlich
ten Besitzergreifung ihrer selbst übermäßig betont, ent
weder auf die Ideen des Leibniz (Fensterlosigkeit der Mo
nade und prästabilierte Harmonie, Leugnung des realen
Kontakts der Seele mit ihrer Umwelt) hinausführen, oder
auf den vollen Apriorismus Kants, der den Gegenpol bildet
zum platonischen Idealismus. Nun widerspricht aber beides
den Tatsachen. Denn der platonische Teilhabegedanke
widerstreitet, sobald man ihn streng faßt in der pantheisti-
schen Form des averroistischen Pantheismus, zu offenkun
dig der Tatsache des metaphysischen Selbstandes der Ein
zelpersönlichkeit. Der übersteigerte funktionalistische
Apriorismus Kants aber führt, wie man ihn auch drehen
und wenden mag, von der einen Seite her zu einer voll
kommenen Abschnürung des Einzelgeistes vom Sein, in
dem er nun doch einmal mitten darinsteht, von der anderen
Seite her aber auf eine absolut innenschöpferische Erkennt
nis, und das widerstreitet wieder zu deutlich der Tatsache,
daß alle endliche Erkenntnis einen über sich selbst hinaus
zielenden Intentionalcharakter aufweist.
Liegt nun hier die Lösung des Problems in der Mitte? Und
erklärt es sich vielleicht von daher, daß in dem meta
physisch sicherlich sehr tiefen Teilhabegedanken Platons ein
solcher Widerspruch sichtbar wird? Nein, wird man sagen
müssen, nicht die Lösung liegt in der Mitte, sondern viel
mehr das Mysterium der Erkenntnis selbst bleibt für alle
Zeiten als ein für unser Begreifen nicht restlos auflösbares
Phänomen in der Mitte stehen. Und zwar deshalb, weil
dieses Mysterium nur ein Ausdruck ist für das noch tiefer
liegende Geheimnis des endlichen Geistes selbst. Die bei
den Tatsachen im Wesen des endlichen Geistes, nämlich
einerseits die sticengelnsichselbstgeschlossenheit seines Seins
prinzips als einer geistigen Einheit, anderseits aber auch
seine passive wie aktive A u f geschlossenheit gegenüber allem
anderen Sein, in das er als endliches Prinzip eingebettet ist,
sind unabweisbare Gegebenheiten der Erfahrung wie des
spekulativen Denkens. Die innere Verbundenheit dieser
beiden scheinbar einander widerstreitenden Momente je
doch ist eine ewige Aporie für unser unvollkommenes E r
fassen und als solche niemals ohne Rest für unser endliches
Denken streng rational deutbar.
Eben im Anschluß nun an die damit berührten Schwierig-
keiten letzter Fragen der Erkenntnismetaphysik hat sich
mit der Zeit der averroistische Irrtum von einem »allge
meinen Geiste« herausgebildet. Aristoteles wollte, wie man
weiß, das mystische Element in der Metaphysik Platons
zurückdrängen und dem nüchterner denkenden Verstände
eine stärkere Bedeutung verschaffen. Aber es ist bezeichnend
für die Tiefe des Erkenntnisproblems, daß es auch A ri
stoteles schließlich nicht ganz gelingen sollte, dieses
mystische Element zu beseitigen. Auch in seiner Theorie
bricht es wieder hervor, und zwar in der Lehre vom »vovg
jtoirjtixög«, der »von außen h.er«('duVQa'd'ev) in die Seele ein-
treten soll. Ohne Zweifel deutet damit Aristoteles auf alles
das hin, was die Kompliziertheit der Korrelation von A k
tivität und Passivität in der Tiefendimension des Geistes,
in der Wurzel unseres Selbst, betrifft. Aber die Unklarheit
dieser Theorie vom »tätigen Verstände«, die auch bei A ri
stoteles bestehen bleibt, und zwar deshalb, weil sie mit der
Dunkelheit des Erkenntnisproblems selbst irgendwie in Zu
sammenhang steht, mußte gewissermaßen die Geister, die
sich hinterher mit der Interpretation dieses aristotelischen
Begriffs befaßten, untereinander entzweien. Und so ent
wickelte sich denn in dem Streit um das Wesen des
»tätigen Verstandes« unter anderem auch die Lehre des
Averroes von einer substantialen Allgemeinvernunft, an
der die Einzelgeister nur partizipieren sollten. Wie lange
aber dieser mittelalterliche Streit um den »tätigen Ver
stand« und insbesondere um die averroistische Fassung
dieses Begriffs noch in der neuzeitlichen Philosophie
nachzitterte, das geht schon deutlich aus der Tatsache her
vor, daß sogar noch Leibniz sich veranlaßt sah, in einer
besonderen Abhandlung gegen den averroistischen Irrtum
Protest zu erheben. Trotzdem ist es auch Leibniz nicht ge
lungen, mit Erfolg diese pantheistische Theorie des Geistes
abzuwehren. Im Gegenteil, man kann sogar sagen, daß ge
rade in der neueren Philosophie diese Theorie allmählich
immer weiter um sich gegriffen hat, namentlich, nachdem
Spinoza ihr mit seiner Lehre von der einen Allsubstanz
einen günstigen Boden bereitet hatte. Schließlich aber ge
wann dieser Pantheismus eine solche Bedeutung und Aus
dehnung in der modernen Philosophie, daß man ohne alle
Einschränkung sagen kann, ihm sei am Ende die ganze so
wunderbar aufgebaute Geistesmetaphysik der mittelalter
lichen Philosophie zum Opfer gefallen. Gewiß schien es
eine Zeitlang so, als sollte mit der Synthesisidee in der Phi
losophie Kants eine neue Epoche für die Metaphysik des
Geistes anbrechen. In Wirklichkeit aber ist es anders ge
kommen. Denn K ant sowohl wie Fichte entbehrten der
Klarheit, die hier notwendig gewesen wäre, um den wah
ren Sieg des Geistes gegen diesen Pantheismus zu erringen.
Und so wurden sie denn nur die Vorläufer für das System
Hegels, in dem der averroistische Pantheismus sich geradezu
seine klassische moderne Form schaffen sollte, die dann hin
terher die gesamte Denkungsweise des 19. Jahrhunderts von
Ranke bis zu Dilthey fast ausschließlich beherrscht hat.
In zweifachem Sinne ist Hegel Averroist. E r ist es zunächst
hinsichtlich seiner Lehre von der absoluten Idee, diesem im
personalen Seinsganzen, das sich in sich selbst dialektisch
zersetzt und an dem, wie Hegel sich ausdrückt, »kein Glied
nicht trunken ist«, obwohl es als Ganzes doch zugleich auch
in ewiger Ruhe beharrt. Des weiteren ist dann Hegel Aver-
roist in seiner Lehre von den Volksgeistern, die freilich in
Herder und den Romantikern schon ihre Begründer gefun
den hatte. Bei Hegel verbindet sie sich in sehr tiefsinniger
Weise mit seiner Lehre von der absoluten Idee: die Volks
geister umstehen gleichsam wartend den verhüllten Thron
dieser impersonalen Gottheit Hegels und werden nachein
ander zum Tempeldienst in das Innere des Heiligtums ge
rufen. In dieser mystischen Dunkelheit scheint sich zwar
bei Hegel so etwas wie eine Spur von Personalismus anzu
kündigen. Aber das Ganze dieser Lehre ist doch nur ein
sehr unklares Gemisch von Naturalismus und Personalis
mus, von antiker Schicksalsidee und christlichem Theismus,
wobei übrigens in dem sonderbaren Begriff von »der List
der Vernunft« sich schon der düstere Seinspessimismus an
meldet, der später in der Metaphysik Schellings, Schopen
hauers und Eduard v. Hartmanns sich zu einer der Grund
lehren des 19. Jahrhunderts ausbilden sollte.
Der gewaltige Einfluß von Hegels System hat den pan-
theistischen Averroismus in der Lehre vom Geiste dem ge
samten 19. Jahrhundert als eine verhängnisvolle Erbschaft
auf gedrängt. Im Wesentlichen hat sich die Philosophie des
Geistes fortan in den Bahnen Hegels weiter bewegt.
Die positivistische Milieutheorie brachte dann noch eine
dritte Form der averroistischen Geistestheorie auf, die Lehre
nämlich vom Zeitgeist. Später wurde dieser Begriff beson
ders von Dilthey und Troeltsch fortgebildet. Namentlich
bei Troeltsch gewinnt der Begriff von gewissen Zeitganz
heiten wie Renaissance, Reformation, moderner Geist usw.
zusehends personalen Charakter. Auch in den Schicksals
begriff Spenglers spielt diese pseudo-personalistische Zeit
geistlehre noch dunkel hinein.
Im einzelnen zwar mochten diese Spielarten des pantheisti-
schen Averroismus der Neuzeit immer noch tiefe meta
physische Gedanken enthalten. Aber das will nichts be
deuten neben der verhängnisvollen Unklarheit, die sie in
den Begriff des Geistes brachten. Im ganzen verfehlten sie
alle miteinander so vollkommen wie nur eben möglich das
Wesen des Geistes, weil sie den metaphysischen Selbstand
der Einzelpersönlichkeit nicht einmal mehr anerkannten.
So sehr war die metaphysische Psychologie im Schutt pan-
theistischer und agnostischer Theorien begraben worden.
Und doch hätte wenigstens das im historischen Prozeß so
deutlich sich ankündigende Umbruchs phänomen, die immer
neue epochale Gliederung des Laufes der Geschichte, dar
auf hinweisen müssen, daß im averroistischen Pantheismus
die Rechnung nicht stimmte. Man hatte zwar im Begriff der
Dialektik des Geistes seit Hegel die Aufmerksamkeit auf
dieses Umbruchsphänomen gerichtet. Aber man half sich,
da man den personalen Faktor ausgeschaltet hatte, mit
einer konstruktiven Methode aus, die an dem Haupt
phänomen, an der Eigenständigkeit der Einzelperson und
an ihrer neue Bewegungsanstöße gebenden Freiheitskraft,
vorbeiphilosophierte.
Daß freilich die geschichtliche Entwicklung sich vom
Naturprozeß durch die Kategorie des Einmaligen und
Neuen wesenhaft unterscheide, das sah Ernst Troeltsch
immer deutlicher und betonte es auch immer stärker. Und
auch Spengler deutete mit seinem Schicksalsbegriff darauf
hin. Aber keiner dieser Denker hatte, mit Ausnahme höch
stens von M ax Scheler, den Mut, das Übel an der Wurzel
anzupacken und gegen den allmächtig gewordenen Hege
lianismus des Zeitalters Front zu machen. Und so ergab
sich denn das eigenartige Schauspiel, daß die Philosophie
ein ganzes Jahrhundert lang mit immer stärkerer Intensität
auf die Metaphysik des Geistes hindrängte, während sie
sich gleichzeitig immer weiter vom wahren Begriff des
Geistes entfernte.
Die physisch-metaphysische Ergänzungsbedürftigkeit
der menschlichen Einzelperson
Wenn man nun auch, von der Absicht geleitet, sich den Be
griff des Geistes nicht durch einen impersonalen Substan-
tialismus trüben zu lassen, gezwungen ist, sich mit aller
möglichen Bestimmtheit gegen den in der Metaphysik der
Geschichte so tief eingewurzelten averroistischen Irrtum
zu sichern, so darf man darüber doch nicht verkennen, daß
dieser Irrtum seine Kehrseite hat, auf der eine freilich über
und über entstellte Wahrheitsspur sichtbar wird. Aller
dings, wäre der menschliche Geist nicht das, was er in W irk
lichkeit ist, wäre er nicht eine bloß relativ freie, seinem
Wesen nach ab alio gesetzte Persongestalt, sondern viel
mehr Geist und Person im lautersten Sinne der ewigen
Wesenheit »Geist« so wie nur Gott wahrhaft Geist ist,
dann freilich brauchte man sich um die averroistische Gei
stestheorie überhaupt nicht zu kümmern. Denn in diesem
Falle enthielte sie, in welcher Form auch immer sie auf-
treten mag, nur Irrtum und nicht einmal die leiseste Wahr
heitsspur. So aber rückt in der Tat diese Lehre, mag sie an
und für sich auch noch so ungeistig und naturalistisch sein,
am Wesen des endlichen Geistes ein besonderes Moment ins
Licht, das, unbeschadet des metaphysischen Selbstandes
seiner Persongestalt, sehr wohl beachtet werden muß, wenn
man sich die universale Kooperation der Menschheit im
Kollektivprozeß der Kulturentwicklung und vor allem die
universale Kooperationsnotwendigkeit und Kooperations-
schicksalhaftigkeit im Gesamtphänomen der Dialektik des
Geistes aus letzter metaphysischer Tiefe heraus verständ
lich machen will.
Gewiß, es ist richtig, daß der Geist als Geist im eigentlichen
Sinne niemals ohne die innere Einheit des Selbst gedacht
werden kann, mit anderen Worten, daß sich diese innere
Einheit des Geistes als Einheit des Selbst immer als eine
im strengsten Sinne konkrete Einheit darstellen muß. Denn
der Geist weset einzig und allein in dieser Einheit seines
Suppositum und wirkt aus ihr heraus, und seine eigentliche
Natur- und Wirkensgrundlage kann daher niemals in einer
bloß allgemeinen, substantial ausgegossenen Einheit gesucht
werden. Aber es bleibt zu bedenken, daß der metaphy
sische Höchstfall der Wesenheit Geist, der Höchstfall näm
lich der absoluten Beisichselbstheit, auf Grund ontologi
scher Wesensgesetzlichkeiten nur ein einziges Mal »rein«
möglich ist und daß daher bei allen bloß im sekundären
Sinne geistigen Wesen die allerletzte metaphysische Ein
heit, jene Einheit also, die eine volle Wesensautarkie ge
währt, niemals vorhanden sein kann.
Wohl eignet den endlichen Geistern die Einheit als das ihr
Wesen fundierende Geistprinzip, das ihnen bis zu einem
gewissen Grade wenigstens den geistigen Selbstbesitz oder
die geistige Eigengehörigkeit zusichert. Aber dieses Prinzip
hat nicht die Kraft, ganz und gar durch alles Sein hindurch
zugreifen. Es ist selbst in das Sein eingebettet, und so findet
es außerhalb dessen, was ihm selbst gehört, Andersheit.
Dieser Zustand des Hineingebettetseins in Andersheit hebt
die volle Eigengehörigkeit seines Wesens auf oder vermischt
sie mit einer gewissen Fremdhörigkeit: sie bedeutet das
Hinhorchenmüssen des Ich auf das Wesen der Andersheit*
des Mitgesetzten und Zuvorgesetzten. Deshalb aber muß
dasjenige, was den endlichen Geistes wesen zwar nicht for
mal, aber doch in materialer Hinsicht an Einheit gebricht,,
auf dem Umwege über eine Mitseins- und Mitwirkens ein-
heit aller Geister überhaupt erst vermittelt werden.
Freilich sind bei diesem Gedanken zunächst gewisse Ein
schränkungen notwendig, die drohende pantheistische Irr-
tümer abwehren sollen. So ist z. B. keineswegs daran zu
denken, als entstehe allererst durch diese universale Seins
und Wirkungsergänzung der Einzelgeister das Wesen des
Geistes, so etwa, wie der Geist in der pantheistischen Meta
physik Hegels erst stufenmäßig sich nicht bloß vervoll
kommnet, sondern geradezu sich konstituiert. Ein solcher
Gedanke kann nicht einmal für das Wesen des endlichen
Geistes gelten, da die universale Ergänzungsaktion der
Geister untereinander, von der hier die Rede ist, niemals
das individuelle Selbstandprinzip des Einzelgeiste sy die
formal-metaphysische Einheit der Wurzel des Selbst also,
schaffen oder konstituieren kann. Diese Ergänzungsaktion
des Mitwirkens setzt vielmehr das Sein und das Mitsein
der formalen Einheitsprinzipien vieler Selbst, aller Selbst,
schon als metaphysische Grundlage voraus.
Aber noch bei weitem mehr setzt sie voraus. Denn diese
universale Kooperation der Geister hat zugleich mit der
Koessenz aller dieser Bruderwesen die volle Realität des
Geistes als einer absolut konkreten Einheit zur unumgäng
lichen metaphysischen Voraussetzung. Die Idee Hegels von
der Selbstkonstituierung des Geistes im unendlichen Werde
prozeß kann also erst recht nicht für den absoluten Geist in
Frage kommen. Die Einheit nämlich, die der endliche Geist
in materialer Hinsicht, mit anderen Geistern zur Gemein
schaft verbunden, durch Mitsein und M itwirken (Koes-
senz und Kooperation) auf der Grundlage seiner formal
individuellen Personeinheit herausbildet, kommt ja doch
niemals der formalen und materialen Ureinheit des abso
luten Geistes gleich. Sie ist gar nicht imstande, weder for-
mal-analogisch noch material-identisch diese Ureinheit auch
nur annähernd zu erreichen. Als eine durch bloße Integra
tion entstandene materiale Einheit kann sie weder als ein
absolut gleiches Gegenstück der absoluten Ureinheit, etwa
als ein Abbildgegenstück der ersten Realität, noch als ein
Ersatz dieser ersten Realität in Frage kommen, in dem
Sinne etwa, als entstände jene erste Realität erst durch eine
solche Integrierungsaktion.
Das eben ist ja doch die besondere Bedeutung der absoluten
Welt- und Wesenstranszendenz des göttlichen Urgeistes,
daß in ihm formal wie material alle endliche Wirklichkeit
schlechthin in höchster Vollendung unvordenklich als erste
Realität schon vorweggenommen erscheint, ohne daß damit
gesagt wäre, Gott sei nun auch nur irgendetwas von dieser
zweiten Realität. Alles, was formal und material in der
zweiten Realität abgeleiteter oder gesetzter Weise in der
Form des Neben- und Nacheinander oder der endlosen
Ausgegossenheit ist, das ist die erste Realität in absoluter
Vollkommenheit in einmalig-ursprünglicher Weise. Und so
ist also die erste Realität, trotzdem die zweite Realität als
diffuse Abbildeinheit zu ihr in einem besonderen Analogie
verhältnis steht, streng genommen doch das »ganz Andere«
nach Form und nach Wirkkraft, und sie ist dieses »ganz
Andere« als ein»totum absolute concretum«, als die reinste
Urgestalt geistiger Einheit und Einzigkeit, die ihrem letzten
metaphysischen Wesen nach von unserem endlichen Fas
sungsvermögen aus immer nur annäherungsweise, in pro
gressiver Perspektive, geistig erfaßt werden kann.
Daher ist denn auch jeder Gedanke, der dahin zielt, diese
Ureinheit des »totum absolute concretum« des »reinen«
Geistes mit jenem durch Integration entstandenen »Gan
zen« der endlichen Geistesgemeinschaft, mit der Koessenz-
und Kooperationseinheit der Menschheit also, identisch zu
setzen, ein von vornherein verfehlter, ja, ein geradezu un
glaublich waghalsiger Versuch, Unendliches aus Endlichem
zusammenstücken zu wollen.
N ur ganz von fern kann man einen solchen Versuch mit
dem Gedanken vergleichen, als könne man das Kontinuum
etwa einer Linie aus der bloßen infinitesimalen Integration
des Diskretums einer auf dieser Linie gedachten Punkt
reihe entstehen lassen. Wie das Kontinuum absolut jenseits
des Diskretums liegt, von diesem aus niemals erreichbar, so
steht erst recht die erste Realität absolut jenseits aller
zweiten Realität, und zwar so sehr das Sein und Wesen
dieser zweiten Realität vorausnehmend, daß, von der Ab
solutregion her betrachtet, die Sekundärregion überhaupt
nichts wirklich Neues darstellt oder zu bedeuten hat. Sie
ist nur etwas »Anderes,« ein von der Absolutregion abbild
lich Verschiedenes, das allein durch höchste Willenssetzung
neben diesem Ersten auftreten konnte, ohne durch sein Her
vortreten aus dem Nichtsein ins Sein der Absolutheit der
ersten Realität auch nur im geringsten etwas abzudingen.
Das endliche Sein überhaupt (und nicht bloß das Sein der
endlichen Geisterwelt) ist demnach also, so sehr es auch in
abgeleitetem Sinne wirklich ist, doch nicht im vollsten
Sinne Wirklichkeit. Es fehlt ihm ja die unendliche W irk
lichkeitsbasis der absoluten Konkretion, und selbstver
ständlich fehlt ihm deshalb auch die absolute Wirkensmög
lichkeit, d. h. jene Wirkensmöglichkeit oder jene absolute
Kraft des reinen aus sich selbst Wirkens, die nicht an das
Gegenüber des »Anderen« gebunden ist, weil sie eben dieses
»Andere« als »reines« Subjekt in sich selbst, in ihrem eige
nen ewigen Wirkensgrunde, schon vorfindet. Alles endliche
Sein ist dementsprechend, wenn auch »wirklich«, so doch
bloß abgeleiteterweise »wirklich«; es ist bloß zugelassene,
geduldete Wirklichkeit, es ist bloß Offenbarungswirklich
keit neben der absolut originären, immer bei sich selbst ver
bleibenden, immer sich selbst schlechthin genügsamen Ur-
wirklichkeit der ersten Realität, die freiwillig und aus
Liebe sich offenbart, indem sie »Anderes« neben sich setzt.
Als eine solche sekundäre Offenbarungswirklichkeit aber
nimmt das endliche Sein nur in einer sehr unvollkommenen
Form, diffuse oder ausgebreiteterweise, wie man sagen
muß, an der absoluten Einheit der ersten Realität teil. Und
das will besagen: das endliche Sein tritt notwendig neben
dieser Ureinheit der ersten und eigentlichen Realität in der
besonderen Einheitsform der unendlichen Kontrarietät in
die Erscheinung, so ähnlich etwa, wie das unendliche Dis-
kretum nur der schwache Schatten der Einheit des Kon
tinuums ist. Mit anderen Worten: das endliche Sein hat
zwar Wirklichkeit, aber es hat nur eine wie im Spiegel er
scheinende Wirklichkeit und Einheit, sobald man seinen
Wirklichkeits- und seinen Einheitsmodus an demjenigen zu
messen beginnt, der allein der ersten Realität und ihrer
Einheit zukommt.
Selbstverständlich hat auch das endliche Sein Realitäts
charakter. Aber seine Realität ist, metaphysisch betrachtet,
nur eine A rt Widerschein der ersten Realität. Und als eine
solche unendlich ausgebreitete Reflexrealität spiegelt nun
auch das endliche Sein die absolute Einheit der ersten Reali
tät überall anders wider. Als eine bloß diffuse Einheit alles
endlicherweise Seienden bildet so das endliche Sein nur ein
»totum integrum varietatis«, ein integriertes Ganzes der
Mannigfaltigkeit. Deshalb kann sich aber auch diese bloße
Spiegelungseinheit alles endlicherweise Seienden niemals
als eine der Ureinheit gleichwertige Einheit an die Stelle
der ersten Realität setzen lassen. Das ist unmöglich wegen
ihres Kontrarietätscharakters, mag sie auch im unendlichen
Progreß ihrer Spiegelungsaktion noch so viele Dimensionen
nach Raum-, Zeit- und Gestaltunendlichkeit durchlaufen.
In der unendlichen Erstreckung ihrer Spiegelungsnatur
durch alle diese Dimensionen räumlicher, zeitlicher oder ge-
stalthafter Mannigfaltigkeit offenbart zwar diese diffuse
Einheit ihr unendliches Streben nach der Ureinheit. Aber
dieses ihr unendliches Streben nach der Ureinheit offenbart
dann auch zugleich die unaufhebbare Schicksalhaftigkeit
ihres Kontrarietätscharakters. Das ohnmächtige, wenn auch
an und für sich grandiose Suchen alles Endlichen nach der
Ureinheit oder das Streben nach der Aufhebung der Kon-
trarietät enthüllt nur um so deutlicher die Ohnmacht, die
ihm durch sein Kontrarietätsverhängnis anhaftet. Es würde
nicht nach der Ergänzung durch das »Andere« suchen und
streben, wenn es in sich selbst schon zur Ureinheit gereift
oder vervollkommnet wäre. Und ferner bedeutet dann
auch der Spiegelungscharakter des Endlichen, der sich in
seiner Wendung nach innen, nach immer wesenhafterer
Tiefe, erkennen läßt, etwas Endliches, das nicht aufgehoben
werden kann. Ebensowenig also wie das Diskretum jemals
im infinitesimalen Fortschreiten der Diskretionsvielheit die
jenseits seiner gelegene Einheit des Kontinuums erreichen
kann, vermag auch das endliche Sein durch den unend
lichen Progreß seiner Spiegelungsaktion, in der es auf das ab
solute Sein hindeutet, den Wesensdurchbruch in die absolute
Seinsregion des »ens absolute concretum« zu erzwingen.
Alles bisher Gesagte gilt vom endlichen Sein überhaupt. Es
bedeutet also nichts weiter als eine besondere Explikation
dieser ontologischen Urbedingungen, wenn wir jetzt hinzu
fügen, daß auch das Universalreich aller endlichen Geister
mit seiner sich ins Unendliche erstreckenden Koessenz- und
Kooperationseinheit nur als eine abgeleitete, als eine Off en-
barungs- und Spiegelungseinheit des absoluten Geistes be
trachtet werden kann. Jeder endliche Geist bildet gleichsam
als das besondere, einmalige Wesen, das gerade er ist, in
seiner Eigentümlichkeit und Eigengehörigkeit nur einen
ganz spezifischen Partialabdruck des absoluten Geistes.
Auch als geschaffener Geist ist er zwar noch Geist nach
dem allgemeinen Seins-Modus der Geistigkeit überhaupt.
Aber er ist nur geistiges Abbild des reinen geistigen U r
bildes. Oder besser gesagt, da vielleicht auch noch die Rede
weise vom »Urbild« des reinen Geistes etwas Verfängliches
an sich hat und eine irrtümliche Vorstellung von dem emi
nenten Wirklichkeitscharakter der ersten Realität erzeu
gen könnte: der endliche Geist ist immer bloß Nachbild
der reinen geistigen Urgestalt, die deshalb allein im tiefsten
Sinne wirkliches Sein genannt werden kann, weil sie nichts
ihr Voraufgehendes mehr abbildet, wohl aber alles ihr
nachfolgende Sein schon durch ihr Urwesen in unendlicher
Weise vorbildet. In dem Charakter unseres Seins als bloßer
Abbildlichkeit oder Nachbildlichkeit ist also eben die Ein
buße an Sein markiert, durch die unser besonderes Wesen
und seine ganze ontische Stellung zum Sein und zur Ent
wicklung im Sein bestimmt wird. Der bloße Spiegelungs
charakter unseres endlichen Geistseins, das ist bereits die
besondere Partikularität unseres Seinsmodus, dasjenige also,
wodurch wir gezwungen sind, auf Schritt und Tritt mit
unserer Verhaftetheit an das »Andere«, mit unserer nie
aufhörenden Ergänzungsbedürftigkeit zu rechnen. Weil
wir in uns selbst kein wahrhaftes »esse completum« sind,
eben deshalb weist unsere geistige Natur einen universalen
Komplementärcharakter auf, der uns mit allen uns gleich
gearteten Geistwesen nach dem auf die Suche gehen heißt,
was uns in uns selbst an unserer geistigen Einheit in mate
rialer Hinsicht noch fehlt.
So folgt also ganz von selbst aus der Partialität unseres
geistigen Seins alles das, was sowohl die Solidarität der
Menschheit unter sich selbst als auch die Solidarität der
menschlichen Gemeinschaft mit dem göttlichen Geiste be
trifft.
Was die letztere angeht, so ist sie ja schon in dem unauf
hebbaren Spannungsverhältnis zwischen Urbildlichkeit und
Abbildlichkeit, zwischen erster und zweiter Realität deut
lich zum Ausdruck gebracht. Aber auch für die Solidarität
der menschlichen Gemeinschaft lassen sich aus dem bisher
Gesagten noch genauere Bestimmungen ableiten. Eben in
folge ihres bloßen Abbildlichkeitscharakters stehen auch die
endlichen Geister untereinander in dem metaphysischen Be
zug einer nie und nirgends abreißenden Wechselergän-
zungsbedürftigkeit und Wechselergänzungsnotwendigkeit.
Vom einen Geist zum anderen hinüber spannt sich das
Wechselverhältnis einer universalen Abbildlichkeitsfunk-
tion. Denn die endlichen Geister sind nicht bloß einzeln und
an sich betrachtet Spiegelbilder der ersten Realität, sondern
werden sich auch gegenseitig zu solchen einander ergänzen
den Spiegelbildern, die erst alle miteinander sich zu einem
Gesamtbilde integrieren, das mit ständig wachsender Deut
lichkeit das unendliche Wesen der Urgestalt in der Form
einer fortschreitenden Offenbarung nachbildlich hervor
treten läßt. Und so ist denn jeder endliche Geist im Inter
esse dieser ins Unendliche fortschreitenden Offenbarungs
aktion der Geschichte an die Gesamtheit der geistig Mit
geborenen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ver
wiesen, um seine eigene Abbildrealität im unendlichen
Fortschreiten der geistigen Spiegelungsaktion der Geschichte
vervollkommnen zu können, und um ferner auch seinerseits
wieder das nur ihm eigene Wesen, den nur ihm eigenen
Partialabdruck der göttlichen Urgestalt, als unentbehrliches
Komplement in den unendlichen Vervollkommnungspro
zeß der Menschheit hineinzugeben. Denn das ist ja der
Sinn der Geschichte nach der einen Seite wenigstens, daß im
geistigen Selbstgestaltungsprozeß der Menschheit durch die
Geschichte hindurch immer schöner, immer reiner das Wesen
der ewigen Urgestalt des Geistes im Spiegel der Humanität
zur Offenbarung gelange.
Nun erstreckt sich aber diese unendliche Offenbarungs
mission, der alles endliche Sein überhaupt und der dann die
Gemeinschaft der endlichen Geister in ganz besonderer
Weise dient, nicht nur ontisch auf das bloße Dasein und
Sosein der geistigen Naturen nach ihrer primären Gegeben
heit. Denn das wäre ja nur eine naturhaft-objektive Selbst
offenbarung des Schöpfers dieser geistigen Wesenheiten, bei
der wir ohne unser eigenes Zutun und daher auch ohne
jedes eigene Verdienst eine rein passive Rolle zu spielen
hätten. Und so vollendet sich denn erst in unserem sub
jektiven Mitwirken, das sich bei der strengen Solidarität
der Gesamtmenschheit als ein universales Miteinanderwir-
ken aller erweist, jene spezifisch geistige Offenbarung des
Göttlichen in der Geschichte, die ein Verdienst unserer
freien Taten genannt werden kann.
Im Hinblick auf diese kooperative Solidarität der Mensch
heit läßt sich nun aber erst recht die überaus tiefe meta
physische Verwurzelung des Einzelnen in der Gesamtheit,
der Gesamtheit im Einzelnen erkennen, die streng wech
selseitige Korrelation des schöpferischen »Ich« im ergän
zenden »Wir« und umgekehrt, die alle unsere Taten
schlechthin in ein einziges großes historisches Gesamt
schicksal verwandelt, das sowohl Gesamtverdienst als auch
Gesamtschuld in engster Verbindung sichtbar werden läßt.
So ist das »Ich« mit dem »Du«, und so sind beide wieder
mit dem »Wir« der Gemeinschaft so innig in räumlicher
wie zeitlicher Kontinuität ineinander verwachsen, daß ge
radezu der Eindruck einer organismusartigen Wirsuhstanz
einheit und Wirsubstanzgeschlossenheit von dieser Seite der
Betrachtung her entstehen kann.
Daß diese Wireinheit in der Tat vorhanden ist und daß
sie sich als ein metaphysisches Ergebnis der Komplementär
funktion des endlichen Geistes einstellen muß, kann denn
auch wohl kaum bestritten werden. Aber hier ist auch der
Punkt, an dem die averroistische Gefahr droht, die Gefahr,
daß man die auf der Grundlage der streng differenten Per
soneinheiten neu entstehende Kollektiveinheit des »Wir«
zu einem mystischen Wesen hypostasiert, das man sogar
mit einem eigenen personalen Aktzentrum versehen glaubt,
obwohl doch innerhalb dieser Wireinheit nirgends ein sol
ches Aktzentrum außerhalb der individuellen Personakt-
zentren entdeckt werden kann, es sei denn der göttliche A b
solutwille. Ins letzte Extrem steigert sich aber dieser natura
listische Organismusgedanke hinsichtlich der menschlichen
Solidarität, wenn nicht bloß die endlichen Einzelpersön
lichkeiten im Mutterschoß dieser impersonalen Wirsubstanz
verschwinden, sondern wenn nun auch diese universale
Koessenz- und Kooperationseinheit des »Wir« der Mensch
heit, wie es in der Geistesmetaphysik Hegels der Fall ist,
die metaphysische Rolle des absoluten Geistes zugedacht
erhält.
Selbstverständlich ist einzuräumen, daß auch der absolute
göttliche Geist, nachdem einmal die Wirgemeinschaft end
licher Geister durch seinen Willen gesetzt ist, in die Koes
senz- und Kooperationseinheit dieses sich ins Unendliche
fortzeugenden »Wir« mithineingehört, und zwar sogar als
der metaphysische Zentralpol dieses »Wir«, um den die ge
samte Willensbewegung der endlichen Geister dauernd
rotiert. Und in der Tat könnte man vielleicht von diesem
Aspekt her die gesamte Gemeinschaft der Geister als ein
»corpus mysticum« besonderer A rt betrachten, in dem der
göttliche Urwille als absolutes Aktzentrum zu gelten hätte.
Nichts steht einer solchen Auffassung im Wege, wenn man
dabei nur nicht die relative Eigenständigkeit der endlich
personalen Aktzentren in mystischer Übersteigerung aufge
hoben denkt. Und wenn man vor allem nicht vergißt, daß
diese Einbezogenheit des göttlichen Aktzentrums in die
Wireinheit der endlichen Geistesgemeinschaft nur als eine
Notwendigkeit a parte hominis, niemals aber als eine solche
a parte Dei zu betrachten ist. Der Urgeist ist infolge seiner
Autarkie niemals auf das Dasein endlicher Geister ange
wiesen. Wohl aber bedürfen die endlichen Geister wegen
ihres ergänzungsbedürftigen Wesens dieses ewigen Zentral-
pols, da ohne seine einheitstiftende Kraft der ganze end
liche Geisterstaat in eine ohnmächtige und haltlose Vielheit
auseinanderbrechen und zerstäuben müßte.
So maßlos nun aber auch alle pantheistisch-radikalen Kon
sequenzen gewesen sein mögen, die man von Etappe zu
Etappe aus der Tatsache der universalen Wirgebundenheit
des endlichen Geistes gezogen hat, insofern man immer
wieder dazu neigte, diese Wireinheit in eine naturhafte
Wirsuhstanz zu verwandeln, zu leugnen ist immerhin nicht,
daß erst durch die metaphysische Einbettung des relativ
eigenständigen »Ich« in das »Wir« der Gemeinschaft das
Grundphänomen der Geschichte entsteht, jene ewige Dialek
tik des Geistes nämlich, die wir als das spezifische Bewe
gungsschema des menschlichen Kollektivwillens anzuspre
chen haben. Und zwar handelt es sich dabei keineswegs,
wie man zuweilen gemeint hat, um ein reines Naturschau
spiel, um eine bloß physische Ergänzungsaktion der Mensch
heit. Käme nur eine solche in Frage, dann ließe sich ja doch
der ganz besondere Unendlichkeitscharakter der geschicht
lichen Dynamik nicht erklären. Oder vielmehr, dieser Un
endlichkeitscharakter aller historischen Selbsttranszendie-
rung käme überhaupt nicht zum Vorschein. Und das heißt,
die Kategorie des historisch Neuen 3 die doch wahrhaftig die
Geschichte so auffällig aus dem gesamten Werdeprozeß des
Seins heraushebt, träte niemals hervor. Zw ar entstände
auch aus einer bloß physisch-vitalen Ergänzungsbedürftig
keit des Menschen der Prozeß einer solidarischen Bewegung,
derjenigen nämlich, die wir überall in der Natur beobachten,
ln diesem Falle würde sich also die Menschheit in keiner
Weise von der Natur unterscheiden. Sie hätte keine Ge
schichte im strengen Sinne des Wortes. Eine solche rein
vitale Ergänzungsaktion wäre ja nichts anderes als das ewig
gleiche Spiel der Natur; es entstände so nur der absolut ge
schichtslose Naturkreislaufy die ewig in sich selbst zurück
kehrende Bewegung streng periodisch abrollender N atur
gezeiten. Daß dieser Kreislaufcharakter der historischen
Dynamik auch noch überall anhaftet, daß er geheimnisvoll
auf ihrem Grunde verborgen liegt und so auch noch das
Reich der freien Tat in gewissem Sinne mit ewiger N ot
wendigkeit umrahmt, wem sollte es einfallen, diese Tat
sache abzustreiten? Aber ebensowenig darf man verkennen
wollen, daß die menschliche Geschichte noch etwas offen
bart, was sie in diesen naturhaften Kreislaufrhythmus nicht
ganz einordnen läßt. Sie enthüllt auch das Phänomen der
»corsi« und »ricorsi«, um mit Giambattista Vico zu spre
chen, das aus der stetigen Selbsttranszendierungstendenz
des historischen Prozesses an jedem einzelnen Punkte seiner
Gesamtbewegung stammt.
So berechtigt es also auch auf den ersten Blick erscheinen
könnte, aus den bloßen Vitalfaktoren von Hunger und
Liebe das gesamte Spiel und Widerspiel des menschlichen
Lebens als eine rein immanente Ergänzungsbewegung zu
erklären, so ist doch zu bedenken, daß erst die metaphy
sische Ausweitung dieser physischen Faktoren den auffal
lenden Selbsttranszendierungsdrang alles historischen Le
bens begreiflich zu machen vermag. Weil die Einzelperson
auf einem Lebensgrunde aufruht, der sie in eine unendliche
Persontiefe hinabweist und hinabzwingt, deshalb erhalten
auch diese elementaren Urtriebe beim Menschen einen bei
weitem über alles bloß Natürliche hinausschwingenden Un-
cndlichkeitscharakter, der jede noch so unbedeutende Tat
in eine ganz neue Dimension hineinstellt. »Nicht vom Brote
allein lebt der Mensch, sondern von jedem Wort, das aus
dem Munde Gottes kommt.« Diese in eine so schlichte Form
gekleidete Wahrheit der Bibel erhält hier von der philoso
phischen Spekulation her ihre Bestätigung.
Genauer gesprochen: die sich unablässig fortzeugende Wir
einheit der objektiven Kultur als jahrhunderte- und jahr
tausendealte Tradition entstände gar nicht als diese über und
über mit dialektischer Dynamik erfüllte große Koopera
tionseinheit der Geschichte, wenn nicht der Mensch zunächst
als Einzelwesen in sich selbst den gewaltigen metaphysi
schen Drang nach seiner eigenen Wesenstiefe und nach der
dauernden Überhöhung seines jeweiligen empirischen Ich
durch die Kräfte seines Wesensgrundes verspürte. So ent
steht schon tief im Menschen selbst aus der Entzweiung
seines zeitlichen Wesens mit seinem überzeitlichen Wesens
grund so etwas wie eine Wechselgemeinschaft zwischen dem
»Ich« und dem »Du«. Schon der Wesensgrund in ihm selbst
spricht als das tiefere »Ich« fortwährend den Menschen an
als das »Du«, das ihm hinabfolgen soll in die zeitlose Tiefe,
wo das eigentliche unzerstörbare Selbst zu Gericht sitzt über
das im empirischen Wechsel auf- und abschwankende phä
nomenale Selbst. Diese primäre Wechselgemeinschaft des
phänomenalen »Du« mit dem »Ich« unseres personalen
Tiefengrundes ist schon so etwas wie die noetische Urzelle
aller wirklichen Wechselgemeinschaft der Wireinheit, in die
wir mit H ilfe unserer Ausdrucksmittel eintreten und aus
der heraus wir durch die Gabe des Verstehens fortdauernd
Spannungs- und Wachstumskräfte für unsere personale
Vollendung gewinnen. Das »Wir« um uns ist also eine Fort
setzung der Wechselgemeinschaft des »Wir« in uns selbst,
das sich aus der metaphysischen Nahstellung unseres Men
schentums zum zeitlosen Grunde alles Daseins in unserer
seelischen Tiefe herleitet1. Wir selbst bringen schon eine ab
solut unverjährbare Tradition aus unserer eigenen Ew ig
keitstiefe in den rollenden Strom des phänomenalen ge
schichtlichen Lebens mit herauf, und einen Teil dieser über
historischen Tradition gibt so jedes einzelne Selbst beim
Eintritt in die allgemeinmenschliche Wirverbundenheit mit
hinein. Und nur deshalb sind w ir dann auch auf die Ehr
furcht vor der Tradition dieses zeitlichen »Wir« um uns
angewiesen, weil wir für uns allein infolge der Ergänzungs
bedürftigkeit unserer Anlage gar nicht imstande sind, den
ganzen Gehalt der uns potentiell immanenten überhistori
schen Ewigkeitstradition in gebührender Weise zu fassen
und in der allen Umständen entsprechenden Form in die
Zeit hinein zu verleiblichen.
Dieser ewige Konflikt aber, der schon in unserer eigenen
Brust entsteht zwischen dem unverjährbaren Rechtsan
spruch des zeitlosen Grundes mit dem willkürlichen Rechts
anspruch des phänomenalen Ich, das sich in einem bestimm
ten Augenblick herrisch festsetzen möchte, dieser gleiche
Konflikt ist es auch, der das ewig sich fortzeugende »Wir«
der menschlichen Gemeinschaft ohne Unterlaß in Wider
spruch mit sich selbst bringt und auf diese Weise die durch
die Zeit hindurch auf- und abwogende Kollektivdynamik
des historischen Gesamtwillens der Geister erzeugt. Die
physisch-metaphysische Ergänzungsbedürftigkeit des per
sonalen Einzelwesens weist ja doch das Ich nicht bloß nach
rückwärts in die Vergangenheit. Sie treibt es nicht bloß an
zur pietätvollen Bewahrung des Gewesenen und Geworde
nen, des vom Menschenwillen einmal Gesetzten. Sie weist es
auch nach vorwärts, in die Zukunft hinein, in die Dimen
sion des Neuen, des noch nicht offenbar Gewordenen, des
noch nicht Gesetzten und zur Gestalt Aufgerufenen. Und
gerade in diesem nie zu Ende kommenden Konflikt des
»Wir« mit sich selbst, des »Wir« der Vergangenheit mit dem
sich erst erzeugenden »Wir« der Zukunft, enthüllt sich uns
dann erst ganz deutlich der Unendlichkeitscharakter aller
Kollektivbewegung des historischen Lebens.
Die Natur ehrt züchtig immer nur das alte Gesetz. Aber
warum kann sie es? Und warum muß sie es? Doch wohl
nur deshalb, weil sie keine eigene schöpferische Tiefe be
sitzt, die sich ihr im Fortgang ihres Werdeprozesses ent
hüllen könnte, und also überhaupt nicht in die Lage kommt,
das uralte Gesetz ihres Seins, das stets in gleicher Weise
ihre ewigen Bahnen bestimmt, auch nur an irgendeinem
Punkte subjektiv zu durchbrechen. Ihre Ungeistigkeit be
wahrt sie vor jedem Zwiespalt mit sich selbst wie auch vor
der Notwendigkeit des schöpferischen Neuen. Der Mensch
aber, der als geistiges Wesen die Aufgabe hat, das Mensch
liche auch immer neu offenbar werden zu lassen, weil es
sich schon aus seinem eigenen Grunde hervor in immer neuer
Eigentümlichkeit objektiv offenbart, hat infolge seiner be
sonderen Nähe zum »ewigen Du« des absoluten Geistes
auch die Bestimmung, je und je wieder das übermächtig
gewordene »Wir« der zeitlichen Gemeinschaft zu durch
brechen; er hat unter Umständen die Pflicht, das hemmende
»Wir« der Vergangenheit zu negieren, um dem aufsteigen
den »Wir« der Zukunft zu seinem Recht zu verhelfen und
damit den in die Unendlichkeit gerichteten Kurs des Geistes
an keinem Punkte in dem vergänglichen Zustande eines
momentanen »Jetzt« erstarren zu lassen.
So ruft also die physisch-metaphysische Ergänzungsbedürf
tigkeit des endlichen Einzelgeistes ganz von selbst die ruck
hafte Vorwärts- und Rückwärtsbewegung des geschicht
lichen Gesamtprozesses hervor. Das »Wir« der Gemein
schaft ist die metaphysische Folge des ergänzungsbedürfti
gen »Ich«. Das »Ich« aber ruht auch wieder eingebettet
im »Wir« der ewigen Tradition des Geistes. Und abermals
kehrt dann das »Wir« zurück zu den ewigen Kraftquellen
des »Ich«, um seine Tradition mit neuen Gehalten zu spei
sen, die den Strom seines Wirkens in die Zukunft hinein
lenken.
Diese unaufhebbare und begrifflich kaum faßbare Korrela
tion zwischen dem »Ich« und dem »Wir« einerseits, zwi
schen dem »Wir« und dem »Ich« anderseits, ist selbst wie
der nur eine Folge jener metaphysischen Korrelation des
endlichen »Ich« mit dem »ewigen Du« des absoluten Gei
stes, die in den Tiefen unseres Seins mit jeder neuen E r
greifung des ewigen Sinnes alles Seins neu aktualisiert wird.
Das »Ich« und das »Wir« können sich nur dadurch gegen
seitig supplementieren und zur Unendlichkeit emporstei
gern, daß sie stets von neuem die Urkorrelation in sich er
leben, die als absolut unverjährbare Tradition, als wahr
hafte Dauer, ihr zeitliches Sein mit jener Ewigkeit verbindet,
die jenseits aller Zeit liegt. Und so wechselt denn die Ge
schichte bloß deshalb in ewiger Dialektik, weil sie ständig
ihre phänomenale Existenz wieder hineinziehen muß in
jene ruhende Tiefe, die nicht mitbebt im allgemeinen Beben
von Zeit und Vergänglichkeit.
DRITTES KAPITEL
Der Widerstreit
zwischen der Wissens- und der Glaubcnshaltung
II. TEILBAND
DRITTES BUCH
Das Phänomen der Kollektivbewegung des Geistes
in der Menschheitsgeschichte
ERSTER TEIL
Der Solidaritätscharakter der Menschheit in der historischen Bewegung
ERSTES KAPITEL
Abweisung der averroistischen Theorie von einem
allgemeinen G e is te .......................................................................25
ZWEITES KAPITEL
Die physisch-metaphysische Ergänzungsbedürftigkeit der
menschlichen E in ze lp e r s o n .........................................................45
DRITTES KAPITEL
Bindungsfaktoren und Bindungsformen des G e iste s ................... 65
VIERTES KAPITEL
Bindungsmedien des G eistes .........................................................87
FÜNFTES KAPITEL
Positive und negative Bedeutung des objektiven Geistes für das
Wesen der historischen E n tw icklu n g .......................................... 113
SECHSTES KAPITEL
Die relative Unsterblichkeit des objektiven G e is te s ................... 129
SIEBENTES KAPITEL
Die Vollendung der geistigen Solidarität in der Einheit
des »nexus animarum* .................................................................. 147
ZWEITER TEIL
Weitere Gesetzlichkeiten der artikulierenden Solidarität
ERSTER ABSCHNITT
Gesetzlichkeiten auf der Grundlage der sachlichen Wesens- und
der personalen Anlagemannigfaltigkeit
ERSTES KAPITEL
Die Differenzierung der L ebensform en ...................................... 169
ZWEITES KAPITEL
Die Objektivierung der subjektiven Lebensformen und ihre
Rückwirkung auf das S u b je k t .................................................... 187
DRITTES KAPITEL
Der Widerstreit zwischen den subjektiven Naturanlagen
und den objektiven Berufsformen ................................................203
ZWEITER ABSCHNITT
Besonderungsgesetzlichkeiten auf der Grundlage der
innerseelischen Strukturmannigfaltigkeit
ERSTES KAPITEL
Gegensätzlichkeiten des historischen Lebens infolge der
Doppelzentriertheit der menschlichen N a t u r .............................219
ZWEITES KAPITEL
Tätige und beschauliche, verstandesmäßige und intuitive Naturen 233
DRITTES KAPITEL
Der Widerstreit zwischen der Wissens- und der Glaubenshaltung . 249
VIERTES KAPITEL
Die Kompensierung der geistigen Besonderungen in der Einheit
des historischen Lebens .................................................................. 26 5
1>M• I I I K TEIL
Die Aus.iihit>tn%Nn%\it‘rttr »les Eidos der Humanität und das
H a r t d e r Geschichte
ERSTES KAPITI'I.
Die Achsen der %euhnhtlnheti liew eg u n g ................................. 283
ZWEITES K A I*im
Die AusschwmRunüvivntv des Eidos der H um anität ................... 305
DRITTES KAIMTIM
Die menschlidtr ftt <u'n als der geheime Regulator aller
Exzessivbewe^uu^ des G e is te s .................................................... 321
VIERTES KAIM I I I
Der positive Weit der l.x/.cssivbewegung des menschlichen
Geistes und die historische »änoxa'udo'caocg Jtdvzcov« . . . . 337
FÜNFTES KAIMTEI.
Der besondere Charakter des historischen Bewegungsschemas . . 351
SECHSTES KAPITEL
Der historische Gesamtzusammenhang im Längsschnitt
der U niversalgeschichte ..............................................................U>9
SCHLUSS
Die Dialektik der historischen Erkenntnis ................................. 389
ANMERKUNGEN ZUR E IN F Ü H R U N G ..........................................................................401
ANMERKUNGEN ZUR »DIALEKTIK DES G EISTES«................................................... 4 0 2
N A M E N V E R Z E IC H N IS ..............................................................................................................4°*>
Lizenzausgabe innerhalb der »Gesammelten Werke« von Peter Wust
nach der Originalausgabe des 1928 im Dr.-Benno-Filser-VerlagGmbH.
in Augsburg erschienenen Werkes
»Die Dialektik des Geistes«
Printed in Germany