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Nancy Ortberg

Glaube ist kein Kochrezept


Überraschende Begegnungen mit Gott
in ganz alltäglichen Momenten
Über die Autorin
Nancy Ortberg war acht Jahre lang Pastorin in
der Willow Creek-Gemeinde in der Nähe von
Chicago. In dieser Zeit war sie im Leitungsteam
der Dienstbereiche „D.I.E.N.S.T“ und „Axis“.
Nancy ist ebenfalls als Rednerin tätig und hilft
Christen dabei, ihren Glauben mit ihrem Alltag
zu verbinden.
Sie lebt mit ihrem Ehemann John in der Nähe
von San Francisco und hat drei Kinder.
Nancy Ortberg

Glaube ist
kein Kochrezept
Überraschende Begegnungen mit Gott
in ganz alltäglichen Momenten

Aus dem Englischen übersetzt von Maike Grabowski


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Die amerikanische Originalausgabe erschien im Verlag


Tyndale House Publishers, Inc., Carol Stream, Ill., 60188, USA,
unter dem Titel „Looking for God“.
 2008 by Nancy Ortberg
 2009 der deutschen Ausgabe by Gerth Medien GmbH, Asslar,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Die Bibelzitate wurden folgender Bibelübersetzung entnommen:
Gute Nachricht Bibel, revidierte Fassung, durchgesehene Ausgabe in neuer
Rechtschreibung, © 2000 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart

1. Auflage 2009
Bestell-Nr. 816 361
ISBN 978-3-86591-361-6

Umschlaggestaltung: Hanni Plato


Lektorat und Satz: Nicole Schol
Druck und Verarbeitung: CPI Moravia
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Inhalt

Anmerkung der Autorin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7


Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

1. Das Dilemma mit der „Stillen Zeit“ . . . . . . . . 13


2. Das auch noch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
3. Wackelpudding . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
4. Pronomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
5. Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
6. Gewöhnlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
7. Das B-Wort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
8. Schuhe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92
9. Können wir bitte
mit diesem Gerede aufhören? . . . . . . . . . . . . . 109
10. Jesus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
11. „Hätte ich doch nur …“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
12. Vergiss nicht, dich zu erinnern . . . . . . . . . . . . 134
13. Vorbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
14. Helden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148
15. Offen oder geschlossen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160
16. Sehnsucht, Kummer und Schmerz . . . . . . . . . 172
17. Alles, was ich brauche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186
18. Heilig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192
19. Real . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
20. Anfang und Ende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204
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Anmerkung der Autorin

Jede Lebensgeschichte steht in einem bestimmten


Kontext und meine bildet da keine Ausnahme. In
diesem Buch wird beispielsweise hin und wieder
eine Gruppe namens Axis erwähnt.
Von 1998 bis 2003 leitete ich diesen Dienstbereich
in der Willow Creek Community Church in Barrington,
im amerikanischen Illinois, und habe es als ein be-
sonderes Privileg empfunden. Diese Arbeit war auf
die „Generation der Achtzehn- bis Zwanzigplusjäh-
rigen“ ausgerichtet. Und die Zeit im Leitungsteam
mit Steve, Heather, Daniel, Doug, Matt und Jarrett
gehört zu den prägendsten Abschnitten meines Le-
bens.

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Vorwort

Ich glaube, ich habe mein gesamtes bisheriges Leben


damit verbracht, immer wieder neu zu begreifen,
wer Gott wirklich ist. Oft habe ich ein falsches Bild
von ihm. Wie sollte es auch anders sein, wo Gott
doch so gewaltig und noch vieles mehr ist? Vielleicht
brauchen wir dazu die Ewigkeit; ein normales Men-
schenleben reicht einfach nicht aus. Wahrscheinlich
brauchen wir sogar eine Ewigkeit, um das Ausmaß
unseres Gottes zu verstehen.
Ich denke nicht, dass ich etwas Besonderes bin, na
ja, schon, aber nicht in dieser Hinsicht. Unabhängig
davon, ob wir tolle Eltern haben oder intensiv grü-
beln oder fühlen, unabhängig davon, wie viel wir le-
sen oder hören, wir werden es einfach nicht richtig
erfassen. Wie sollte uns das auch gelingen?
Er ist schließlich Gott, nicht ich. Deshalb wird das
Erforschen und Entdecken auch kein Ende nehmen.
Aber es ist auch spannend gewesen. Zu meiner gro-
ßen Überraschung ist Gott nämlich viel guter, als ich
dachte. Ja, ja, ich weiß, die Rechtschreibkontrolle mei-
nes Computers markiert sofort das Wort guter als un-

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korrekten Sprachgebrauch, aber ich will das bewusst
so sagen. In meiner Vorstellung galt Gott lange Zeit
als griesgrämig, verärgert, distanziert, einer, der uns
nichts gönnt. Aber da er nun mal Gott ist, entschied
ich mich, es mit Fassung zu tragen. Und welch eine
Freude war es, dann festzustellen: Ich lag falsch!
In erinnere mich an einen Film aus den 1970ern:
„Jahr 2022 … die überleben wollen“. Der amerika-
nische Schauspieler Charlton Heston spielte eine
der Hauptrollen in diesem bedrohlichen Science-Fic-
tion-Streifen. Der Film beschreibt in einem Zukunfts-
szenario, wie das Leben nach Jahrzehnten der Über-
bevölkerung und Umweltverschmutzung auf der
Erde aussieht. Die Menschen leben eingeengt in he-
runtergekommenen Hochhäusern und ernähren sich
von einem künstlich hergestellten Nahrungsmittel
namens Soylent Green. Ackerbau wird schon lange
nicht mehr betrieben. Für die dramatische Wendung
am Ende hätte Heston eigentlich eine Oscar-Nomi-
nierung verdient; mich allerdings begeistert immer
eine ganz besondere Szene kurz vor dem Ende.
Edward G. Robinson spielt in dem Film Sol Roth,
einen alten Mann, der seine winzige Wohnung mit
Robert Thorn, der von Heston dargestellten Figur,
teilt. Sol Roth ist ein belesener Literat und seine Bü-
chersammlung ist seine einzige Erinnerung an eine
bessere, freundlichere Welt.
Um der gefährlichen und fortschreitenden Über-
bevölkerung des Planeten entgegenzutreten, bietet

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die Regierung älteren Menschen einen besonderen
Anreiz, damit diese sich freiwillig einschläfern las-
sen – ein ganz besonderes Abschlusserlebnis! Bevor
ihnen die tödliche Injektion verabreicht wird, werden
sie auf eine Krankentrage gelegt und in einen Raum
mit einer großen Bühne gebracht. Im Austausch für
ihr Leben dürfen sie visuelle und klangtechnische Er-
innerungen von früher noch einmal erleben.
Als Robert Thorn erfährt, dass Sol seinem Leben
auf diese Weise ein Ende setzen will, rast er zu dem
Regierungsgebäude, in dem Sol dieses letzte Erleb-
nis ermöglicht wird. Robert stürmt genau in dem
Augenblick in den Raum, als auf den Leinwänden
herrliche Sequenzen einer harmonischen, friedli-
chen Welt erscheinen. Robert kannte bisher nur
die graue Welt, ohne jegliche Schönheit. Gemein-
sam mit Sol schaut er verzückt, wie Blumen auf ei-
ner saftig grünen Wiese ihre Farbenpracht entfalten
und Wild im Wald aus einem Bach trinkt. Er sieht
schneebedeckte Berge und Meereswogen, die sich
an der Küste brechen, alles untermalt von Vivaldis
„Vier Jahreszeiten“. Beiden Männern laufen Tränen
übers Gesicht. Robert Thorn schüttelt ungläubig sei-
nen Kopf. Ihm wird bewusst, dass er keine Ahnung
hatte. Woher hätte er es auch wissen sollen?
Ich liebe dieses Staunen in seiner Stimme. So
möchte ich auch reagieren, wenn ich über Gott nach-
denke. Ich glaubte immer, eine ausgedehnte Stille
Zeit würde mir dabei helfen. Hat sie aber nicht.

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Ich habe hart gekämpft, um diesen Glauben zu
bekommen, nach dem ich mich so sehnte, und die-
sen Gott zu entdecken, wie ich ihn in meiner Fanta-
sie sah. Dabei habe ich ihn an völlig unerwarteten
Orten erlebt. Diese Überraschungen haben mir mehr
und mehr verdeutlicht, wer Gott ist. Ich fand heraus,
dass der Gott der Bibel sich mir eigentlich erst ge-
zeigt hat, als ich begann, das Gängige, das immerzu
Gepredigte, zu hinterfragen. Mit meinem zunehmen-
den Verständnis von Gott wuchs auch mein Glaube –
und manchmal beeinträchtigte das meinen geliebten
Alltag.
Nervig, ja – aber auch wunderbar.
Vor Kurzem traf ich mich mit einem Mann aus un-
serer Gemeinde zum Mittagessen. Er war mit seiner
Frau gerade aus Großbritannien in die USA gezo-
gen, um eine Organisation zu gründen, die Gemein-
den mit Produkten aus der Dritten Welt vertraut
macht. Damit wollen sie den Teufelskreis der Ar-
mut durchbrechen. Ich fragte ihn nach seinen bishe-
rigen Glaubenserfahrungen, und er berichtete, dass
er zwar in einem christlichen Umfeld aufwuchs, in
seiner Jugend aber zunehmend frustriert war. Dann
leuchtete sein Gesicht vor Begeisterung, und er be-
schrieb, wie er den Weg zurück fand. Er berichtete
von seiner Entdeckung dieses tollen, guten Gottes,
der ihm vorher irgendwie entgangen war. Er nannte
dies seine „neue Erkenntnis“.
Ich wusste genau, was er meinte.

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Das Dilemma mit der „Stillen Zeit“

Als ich jünger war, betonten die Menschen immer


wieder, wie wichtig die tägliche sogenannte „Stille
Zeit“ sei.
Diese sei die Basis des christlichen Glaubens und
es ginge dabei darum, am Morgen intensiv Zeit mit
Gott zu verbringen und sich ausgiebig mit einem Bi-
belabschnitt auseinanderzusetzen (30 Minuten wa-
ren dabei das Mindestmaß!). Ebenfalls hinzu kam
noch eine Zeit des Gebets und möglichst das No-
tieren der Eindrücke und Gedanken in ein Gebets-
tagebuch.
Hat man diese Stille Zeit gehabt – die Leute sagen
das genau so: Sie „hatten“ ihre Stille Zeit –, erwähnt
man dies beiläufig in einem Gespräch. Bescheiden,
aber doch wertend, lässt man fallen, wie intensiv
diese Stille Zeit mit Gott gewesen sei, was er sagte,
welche Erkenntnisse über einen bestimmten Bibel-
text man ganz neu gewonnen hat und welche wich-
tigen Inhalte detailliert notiert wurden.
Man konnte auch sicher sein, dass andere Chris-
ten fast kontrollierend nachfragen würden: „Wie ist

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es um deine Stille Zeit bestellt? Hat er durch sein
Wort zu dir gesprochen?“
Die Stille Zeit war immer eine Messlatte der per-
sönlichen Hingabe und geistlichen Reife, fast so, als
hinge die Beziehung zu Gott allein von dieser mor-
gendlichen Erfahrung ab.
Aus diesem Grund hielt ich viele Jahre treu meine
Stille Zeit. Nicht unbedingt jeden Tag, aber zumin-
dest fast. Und immer, wenn ich sie mal einen Tag
nicht hielt, war ich frustriert und bekam ein schlech-
tes Gewissen. Während meiner Stillen Zeit erwar-
tete ich jeden Tag, dass etwas Tiefgreifendes gesche-
hen würde, allerdings war dem meist nicht so. Und
wenn ich mich mit anderen über ihre Stille Zeit aus-
tauschte, entsprach meine Erfahrung nie der ihren.
Dann änderte sich mein Leben, und es folgten
Jahre, in denen es keinen Raum für diese „Stille
Zeit“ gab. Sie heißen diese letzte Aussage vielleicht
nicht gut, aber das hier ist schließlich mein Buch,
und ich muss eben ehrlich zugeben, dass ich wäh-
rend dieser besagten Jahre meine Stille Zeit nicht
einmal hätte machen können, wenn mir jemand eine
Pistole auf die Brust gesetzt hätte.
Meine Tochter Laura war drei Jahre und Mal-
lory gerade mal 18 Monate alt, als ich mit Johnny
schwanger war. An stille Zeiten war nicht im Ent-
ferntesten zu denken! Schon der Gang alleine zur
Toilette war eine Herausforderung, und wenn ich
es tatsächlich mal dorthin geschafft hatte, dann zap-

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pelten die Kinder vor der Tür, hämmerten dagegen
und bettelten lautstark:
„Mami, können wir reinkommen?“
„Nein.“
„Mami, wann kommst du wieder raus?“
„In einer Minute.“
„Mami, wann ist eine Minute vorbei?“
Bis zu diesem Zeitpunkt war mir auch nicht be-
wusst gewesen, was es heißt, gerädert aufzuwa-
chen. Ständig wurde die Nachtruhe unterbrochen,
weil die Kinder zahnten oder ihre Ohren wehtaten.
Die Nächte bestanden aus kurzen Schlafintervallen
– an Durchschlafen war nicht einmal zu denken. Im-
mer wieder wurde ich durch das Weinen der Kinder
geweckt, entweder weil sie vor Hunger jammerten
oder weil sie irgendwelche Dummheiten planten,
die mit Toilettenpapier und unserer Katze zu tun
hatten.
Tage und Wochen vergingen.
Ich hatte weder Zeit für mich noch dafür, mich
mit meiner Bibel zurückzuziehen. Wenn es tat-
sächlich mal einen Moment zum Durchatmen gab,
konnte ich mich nicht auf einen Gedanken konzen-
trieren oder ich schlief einfach ein! Da nur mit einer
entsprechenden Stillen Zeit eine tiefe Beziehung zu
Gott möglich ist – so hatte man es mir ja immer ein-
geimpft –, geriet ich in Panik. Ich war in dieser Zeit
als junge Mutter dringend auf Gott angewiesen,
aber der Zugang zu Gott war mir wohl verwehrt, da

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ich diese Art der Verbindung nicht so praktizieren
konnte, wie sie angeblich gefordert wurde.
Für mich stand fest, dass ich meine Gottesbezie-
hung wahrscheinlich erst wieder in sechs Jahren
aufbauen konnte, wenn alle drei Kinder in der
Schule waren. Oder ich musste eine andere Möglich-
keit finden, mit ihm in Kontakt zu bleiben. Leider
fiel mir keine ein.
Aber Gott hatte einen Plan.
Ich stand gerade in unserer Küche und plante un-
entschlossen das Abendessen. Laura und Mallory
spielten auf dem Fußboden, wurden aber zum Ende
des langen Tages zunehmend knatschiger und auf-
gedrehter. Meine fortgeschrittene Schwangerschaft
machte mir ebenfalls zu schaffen und ich war total
erschöpft.
Da kam mir eine Idee: Bis zum Abendessen blieb
noch etwas Zeit. Also setzte ich die Mädchen im
Auto in ihre Kindersitze und fuhr mit ihnen zum
Park. Dort konnten die beiden sich vor dem Abend-
essen noch ein wenig austoben. (Außerdem erhoffte
ich mir etwas Zeit für mich, in der ich darüber nach-
denken konnte, was ich später überhaupt kochen
würde.)
Ich setzte mich also auf eine Parkbank, während
die Mädchen spielten. Mittlerweile war ich bereits
so rund und behäbig, dass ich mich fragte, ob ich
wohl schnell genug aufspringen könnte, wenn eines
von ihnen in Not war. Ich hatte ursprünglich einfach

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nur eine halbe Stunde Spielen eingeplant, aber Gott
hatte einen anderen Plan.
Er zeigte mir ein Fenster.
Ich beobachtete, wie meine Mädchen im Sand
spielten, ausgelassen herumhüpften und versuch-
ten, Enten zu fangen. Die Sonne ging bereits langsam
unter, sodass ich nur die Silhouetten meiner kleinen
rothaarigen Töchter wahrnehmen konnte. Ich saß da
und genoss dieses Bild. Plötzlich spürte ich, wie ich
im tiefsten Inneren berührt wurde. Mir wurde be-
wusst, wie sehr ich doch meine Kinder liebte. Doch
ich hatte nicht nur diese Erkenntnis, sondern erlebte
auch eine ganz tiefgehende Reaktion. Hatte ich bis
zu diesem Zeitpunkt eher angespannt auf der Bank
gesessen, meinen Mädchen beim Spielen zugeschaut
und wie sie vergnüglich rumalberten, hatte ich plötz-
lich das Gefühl, mein Herz müsste zerbersten, weil
es dermaßen von Liebe für diese beiden Mädchen er-
füllt wurde! Ich kämpfte mit den Tränen und hatte
einen dicken Kloß im Hals. Es war ein überwältigen-
des Gefühl von inniger Liebe für meine Kinder.
Als meine Emotionen mich so übermannten, san-
dte Gott einen Impuls, der mich völlig unvorbereitet
traf, wie ein Schlag aus heiterem Himmel. Er machte
mir deutlich: „Das, was du jetzt fühlst, ist nur ein
Bruchteil der Liebe, die ich für dich empfinde.“
Die meisten Menschen wären bestimmt sehr
dankbar, jemals eine solche Erfahrung machen zu
dürfen. Dessen bin ich mir bewusst. Und sie würden

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sicherlich entsprechend darauf reagieren. Aber aus
irgendeinem Grund war in meinem Herzen wohl
nicht genug Raum, um das Ausmaß dessen aufzu-
nehmen, was Gott mir zeigen wollte. Es überstieg
meinen Verstand. Diese Aussage beinhaltete mehr
Güte und Gnade, als ich aufzunehmen vermochte.
Es war mir einfach zu gewaltig.
Laut rief ich: „Halt!“
Ich bin mir sicher, dass sich vorübergehende Spa-
ziergänger über die hochschwangere Frau wunder-
ten, die im Park Selbstgespräche führte. Jetzt konnte
ich auch meine Tränen nicht länger zurückhalten. Ich
rief die Mädchen, verfrachtete sie ins Auto und fuhr
wieder heim. Ich wusste immer noch nicht, was ich
zum Abendbrot kochen würde, geschweige denn,
wie ich das Erlebnis mit Gott einordnen sollte.
In seinem Brief an die Gemeinde in Ephesus
schreibt Paulus, dass er für sie betet, damit sie be-
greifen lernen, wie unermesslich die Länge und
die Breite, die Höhe und die Tiefe des geschenkten
Heils und Gottes Liebe ist (Epheser 3,18). Ich finde
es faszinierend, dass er nicht nur dafür betet, dass
sie die Unermesslichkeit von Gottes Liebe verstehen
würden, sondern auch dafür, dass Gott ihnen die er-
forderliche Kraft gibt, es zu verstehen.
In den darauffolgenden Tagen beschäftigte mich
immer wieder dieser Moment auf der Parkbank und
meine Gedanken kreisten um das Erlebte. Mit der
Zeit wurde mir bewusst, dass sich ein Teil meines

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Herzens wohl eine Teflon-Beschichtung zugelegt
hatte. Damit schützte es sich vor Verletzungen. Aber
mit der Zeit wurde es damit auch unempfindlich für
das, was es wirklich brauchte! Gott hatte einen Au-
genblick, in dem ich völlig offen war, dazu genutzt,
diese Schutzschicht zu durchbrechen und meinem
Herzen das zu geben, wonach es verlangte. Gott
wusste, dass ich ein tiefgehendes Verständnis und
Bewusstsein seiner Liebe für mich brauchte. Aber
für mich war das alles so ungewohnt, überraschend
und fremd, dass meine spontane Reaktion aus ei-
nem lauten „Halt!“ bestand. Ist es nicht absurd, dass
wir oftmals genau das ablehnen, wonach wir uns
am meisten sehnen?
Ich war innerhalb der Mauern meines eigenen be-
grenzten Verständnisses von Liebe regelrecht gefan-
gen. Aber Gott durchbrach diese Mauern – er schuf
ein Fenster – und gewährte mir einen kurzen Ein-
druck seiner überwältigenden Liebe. Dann machte
er mir deutlich, dass es genau das war: ein kurzer
Eindruck, der nur einen klitzekleinen Bruchteil sei-
ner Liebe zeigte. Mich überforderte jedoch schon
allein dieser kurze Blick, zumindest am Anfang.
Manchmal ist es bei Fenstern eben so – wir schauen
auf Dinge, die wir nicht wahrhaben wollen, wenden
schnell unseren Blick wieder ab, um dann später
doch noch mal hinzusehen.
Ich wusste, dass ich nicht wirklich in der Lage
war, das Ausmaß dessen, was Gott mir an die-

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sem Tag offenbart hatte, vollständig zu erfassen.
Aber noch etwas anderes wurde mir bewusst: Es
war schon sehr lange her, dass ich diese enge Ver-
bundenheit mit Gott gespürt hatte. Es gab Wochen
und Monate, in denen ich treu meine Stille Zeit ein-
hielt und niemals eine so tiefe Gotteserfahrung er-
lebte. Ich hatte in der Bibel gelesen, meine Gedan-
ken dazu niedergeschrieben und sogar mit anderen
Menschen über diese Bibelstellen geredet, aber nie-
mals hatte ich die Gegenwart Gottes derart intensiv
erfahren. Diese kurze Begegnung mit Gott im Park
überstieg alles, was ich jemals zuvor in meiner Stil-
len Zeit erlebt hatte.
Gott öffnete mir die Augen. Ich begriff, dass es
sehr wohl viele andere Möglichkeiten gibt, meine Be-
ziehung zu ihm zu intensivieren, so viele verschie-
dene Möglichkeiten, ihn zu erfahren. Und eine Park-
bank zählt genauso viel wie die morgendliche Stille
Zeit. Diese Erkenntnis war für mich revolutionär.
Mir wurde allmählich klar, dass ich Gott all die
Jahre aus einer völlig eingeschränkten Perspektive
gesehen hatte. Ich hatte unsere Beziehung auf die
30-minütigen Begegnungen am Morgen reduziert.
In Wahrheit hatte er jedoch gewartet, bis ich ver-
stand, dass er in allen Phasen meines Tages präsent
ist – ich muss nur aufmerksamer sein.
Von nun an begann ich, überall „Stille Zeiten“ zu
pflegen.
Kurz darauf besuchte ich mit meinem Mann John

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das Musical „Les Misérables“. Gegen Ende des Stü-
ckes, der Held Jean Valjean ist dem Tode nahe, singt
er seiner Adoptivtochter Cosette etwas vor: „… to
love another person is to see the face of God“ – die
Liebe zu einem anderen Menschen lässt uns in das
Antlitz Gottes schauen.
Diese Szene rührte mich zu Tränen. Da ich eigent-
lich keine Heulsuse bin, erkundigte sich John sofort
nach dem Grund. „Das ist einer der wahrsten und
schönsten Sätze, die ich je gehört habe. Eigentlich
gehört er in die Bibel. Schade, dass Gott ihn nicht in
seinem Wort aufgeschrieben hat.“
Ein paar Wochen später kam John zu mir, schlug
die Bibel auf und las mir 1. Mose 33, Vers 10 vor. Es
waren die Worte Jakobs, der nach langer Zeit in der
Fremde wieder auf seinen Bruder Esau traf: „Als ich
dir ins Gesicht schaute, war es, als würde ich Gott
selbst sehen, so freundlich bist du zu mir“ (Hfa).
Ich war überglücklich zu sehen, dass Gott mei-
nen Vorschlag, diesen Vers in die Bibel aufzuneh-
men, schon im Vorfeld aufgegriffen hatte.
Wenn ich jetzt gute Freunde traf, dachte ich oft,
dass ich damit auch in Gottes Antlitz sah.
Auch eine Form der Stillen Zeit.
Wann immer ich in den Genuss eines guten Es-
sens kam, insbesondere wenn ich es nicht selbst zu-
bereiten musste, war ich beeindruckt von der Genia-
lität und Großzügigkeit Gottes: von all den Farben,
unterschiedlichen Geschmacksrichtungen, der Kon-

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sistenz von Avocado, roter Paprika oder Barsch. Al-
les von Gott erschaffen. Er hätte die Lebensmittel
einfach nur nahrhaft machen können. Für das Funk-
tionieren unseres Körpers wäre es durchaus ausrei-
chend gewesen, wenn alles, was wir essen, nur den
Geschmack von Brot und Milch gehabt hätte. Es
gibt wirklich keine Notwendigkeit für diese unter-
schiedlichsten Geschmacksrichtungen und -empfin-
dungen, die wir beim Essen genießen. Und dennoch
hat Gott sich das so ausgedacht. Steve Evans, ein
berühmter christlicher Philosoph, sagt, dass mög-
licherweise Bananentorte der beste Beweis für die
Existenz Gottes sei. Da kann ich Steve nicht wider-
sprechen!
So wie ich Gott in meinen Freunden und Kindern
entdeckte, stellte ich fest, dass auch eine Mahlzeit
eine Stille Zeit werden kann. Durch mein geschärf-
tes Bewusstsein und diese neue Dankbarkeit für
Haferbrei mit braunem Zucker, Feigen und Oran-
gen, einen gemischten grünen Salat mit Pilzen oder
Meerrettichsoße auf einer hauchdünn geschnitte-
nen Scheibe Lachs dachte ich intensiv über das We-
sen Gottes nach. Dadurch verstand ich, was Psalm
34, Vers 8 bedeutet, wo wir aufgefordert werden, zu
„schmecken und zu sehen“, dass der Herr gütig ist.
Ich denke, dass wir uns in unserem Glaubensle-
ben oft selbst unter Druck setzen. Wir bestimmen,
wie die Stille Zeit für alle auszusehen hat, legen gro-
ßen Wert auf die exakte Einhaltung der Regeln und

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prahlen anschließend damit. Wir machen strikte Vor-
schriften: mindestens dreißig Minuten am Morgen,
Gebet, Lobpreis, Sündenbekenntnis, Danksagung
und Fürbitte inklusive. Und das halten wir dann
anschließend natürlich auch alles schön schriftlich
in unserem Büchlein fest.
Ich kann mich noch lebhaft daran erinnern, wie
es war, als mir bewusst wurde, dass Jesus niemals
ein solches Buch führte: Ich war im Auto unterwegs,
und als mir dieser Gedanke durch den Kopf schoss,
hinterfragte ich ihn sofort. Das kann doch nicht sein.
Als ich es schließlich einsah – Jesus führte kein Ge-
betstagebuch –, fuhr ich rechts an den Straßenrand
und wusste nicht, ob ich laut lachen oder weinen
sollte.
Ich glaube nicht, dass es falsch ist, sich Notizen
zu machen. Ich meine nur, es ist nicht gut, wenn
wir daraus eine geistliche Pflichtübung machen.
Mein Mann schreibt konsequent alle seine Gedan-
ken auf. Für ihn und seine Beziehung zu Gott ist das
sehr hilfreich und diese Gewohnheit stärkt ihn. Bei
mir ist das anders. Mir persönlich fällt das Schrei-
ben schwer. Für mich ist es lästig – wie eine ner-
vige Hausaufgabe, die ich machen muss, um ja kei-
nen Eintrag zu bekommen. Außerdem rasen meine
Gedanken regelrecht; meine Hand würde beim Auf-
schreiben hinterherhinken.
Ich glaube auch nicht, dass es verkehrt ist, eine
Stille Zeit zu halten. Ganz im Gegenteil! Meine Stille

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Zeit sorgt dafür, dass meine Beziehung zu Gott in-
tensiver ist und sie verändert meinen Charakter.
Aber wenn sie einengt, zwanghaft durchgeführt
und nur zur reinen Routine wird, kann die Stille Zeit
auch eher eine Blockade als eine Hilfe sein.
In der Bibel werden viele Vergleiche zwischen
dem geistlichen Leben eines Christen und dem Trai-
ning eines Profi-Sportlers angeführt. Als Nachfolger
Jesu sollten wir in mehreren Disziplinen trainiert und
fit sein. Leichtathleten trainieren auch nicht nur eine
bestimmte Körperregion, sondern müssen im Gan-
zen eine Topform aufweisen. Wenn wir unsere geist-
liche Routine aufgeben und es wagen, Abwechslung
zuzulassen, werden wir ein viel umfassenderes Ver-
ständnis unseres großartigen Gottes gewinnen. Ist
der Gedanke nicht toll, dass wir von dem Augenblick
an, wenn wir morgens aufwachen, über den Tag hi-
naus und bis zum Abend, wenn wir uns wieder ins
Bett kuscheln, unzählige Möglichkeiten haben, unse-
rem außergewöhnlichen Gott zu begegnen?
Vor nicht allzu langer Zeit waren wir zum Yo-
semite-Nationalpark in Kalifornien unterwegs.
Nachdem wir durch den Wawona-Tunnel gefahren
waren, erreichten wir eine Haltebucht mit einem be-
sonders schönen Aussichtspunkt. Es parkten bereits
unzählige Autos dort, und viele Menschen nutzten
die Gelegenheit, um Fotos zu machen.
Auch wir stiegen aus und ich war von diesem
prächtigen Ausblick überwältigt. Das Yosemite Val-

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ley erstreckte sich unter uns. Linker Hand, atembe-
raubend und erhaben, die Steilwand El Capitan aus
Granit und zur Rechten der Half Dome und die Bri-
dal Veil-Wasserfälle. Kein Schild ermahnte die Besu-
cher dazu, ruhig zu sein, dennoch herrschte eine er-
griffene Stille. Es schien, als wären wir alle gebannt
vor Bewunderung für das, was Gott hier erschaffen
hatte.
Als ich ins Tal blickte, wurde mir erneut bewusst,
dass hier ein genialer Schöpfer am Werk war, der
sich fortwährend um das Universum kümmert, wäh-
rend ich nur mit meinem kleinen, einfachen Leben
beschäftigt bin. Die von ihm erschaffene Schönheit
ist absolut überwältigend und doch eigentlich wie-
der nur eine klitzekleine Impression seiner Größe
und Vollkommenheit.
Und für mich war das Stille Zeit
Und das zählt.

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