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‫תשעה באב‬
09. Aw

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Aw befreit, es sei denn sie legen Wert
darauf wie alle anderen ebenso zu
Religiöse Begriffe aus der Welt des Judentums fasten, wenn ihr gesundheitlicher
Im Zentrum des Monats Aw angesehen werden, auch wenn Zustand es zulässt.
steht der Fastentag Tischa wir sie in dem Moment der
beAw (9. Aw), der uns an Schwere nicht akzeptieren wol-
die Zerstörung des Ersten len oder verstehen können.
und Zweiten Tempels in Diese Auffassung hat das Volk
Jerusalem erinnert. Israel bewahrt, auch in all sei-
Gleichzeitig besteht in nen schweren Zeiten, die es
diesem Monat aber auch erleben musste.
ein Übergang zur Hoffnung In der Parascha Waetchanan
auf eine gute Zukunft. steht ein Teil des Schma Jisrael:
Maimonides, der Rambam von »Höre Israel, der Ewige, unserer
(1138–1204), schreibt in Rabbiner Yaacov Zinvirt G’tt, der Ewige ist einzig« (5.
seinen Hilchot Tefilla: »Es Buch Mose 5,4). Diesen Satz
ist ein Brauch, am Schabbat nach sagte Rabbi Akiwa, einer der bedeu-
Tischa beAw die Parascha Waetchanan tendsten Rabbiner, kurz vor seinem
zu lesen« (12,2). Der Rambam gibt uns Tod, als die Römer ihn hinrichte-
dafür aber keine Begründung. In ten. Er hat diesem Satz in dem Mo-
welchem Zusammenhang steht diese ment eine extrem tiefe Bedeutung
Parascha mit Tischa beAw? Wir sind gegeben.
gefragt, dafür eine Erklärung zu Alles Schreckliche und Unverständliche
finden. Worin besteht die tiefe und Dinge, die uns sehr wehtun, sind
Bedeutung der Übergangsphase Teil eines globalen g’ttlichen Plans. Es
zwischen der Trauer (Tischa beAw) sind nur Stationen, die letztendlich
und der Hoffnung (Lesung der dahin führen, dass wir uns G’tt
Parascha nach Tischa beAw)? Um uns annähern. Wir können nicht nur einen
für die Hoffnung zu öffnen, müssen wir Teil betrachten und daraus bereits
erst einmal die Trauer verarbeiten. Schlussfolgerungen ziehen, sondern es
TROST Unsere Weisen haben müssen alle Puzzleteile zu einem
angeordnet, an den sieben Schabbatot Ganzen zusammenfügt werden, um
nach Tischa beAw jeweils Haftarot mit das Gesamtbild zu verstehen.
tröstendem Inhalt zu lesen. Tischa TEMPEL Der Talmud (Makkot 24b)
beAw und andere tragische Ereignisse erzählt, wie Rabbi Akiwa einmal mit
des jüdischen Volkes zeigen uns, dass ein paar befreundeten Rabbinern nach
G’tt sich von uns zurückzog, sich Jerusalem ging. Als sie zu dem
entfernte und uns damit strafen zerstörten Tempel kamen, sahen sie
wollte. Seine Liebe zu uns ist zwar einen Fuchs, der aus dem heiligsten
unendlich, aber er wartet darauf, dass Bereich kam. Da begannen die
wir uns annähern. Rabbiner zu weinen, Rabbi Akiwa aber
Alles, was von G’tt gemacht wird, ist lächelte. Sie fragten ihn, warum er
geplant, und das Ziel ist, das Verhältnis lächele. Er fragte sie daraufhin, warum
zwischen G’tt und dem Menschen zu sie so weinten. Sie sagten: »Wenn der
vervollkommnen. Hier haben auch heiligste Platz der Welt von einem
Strafen ihren Sinn und müssen als be- Fuchs betreten wird, sollen wir dann
rechtigt und als Zwischenstationen nicht weinen?« Da sagte er, dass er
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anderen (z.B. das Verbot des leichte, keine ernsthafte Migräne): genau deshalb lächele, denn in Micha schweren Zeit nicht nur den jetzigen
Waschens oder das Verbot des Was kleine Kinder betrifft, legt der 3,12 steht: »Und Jeruschalajim wird Moment. Anders als seine Freunde
Leder-Schuh-Tragens). “Magen Avraham“ fest: Ab dem 9. ein Trümmerhaufen« und in Secharja war er sich sicher, dass bessere Zeiten
Und dennoch: Trotz seiner Strenge Lebensjahr neigen wir dazu, Kinder 8,4: »So spricht der Ewige der Heer- folgen werden.
befreit die Halacha einen jüdischen einige wenige Stunden fasten zu scharen; noch werden Greise und Die Ereignisse, die im Monat Aw
Menschen, welcher krank ist, vom lassen, jedoch nicht mehr, um sie im Greisinnen auf den Plätzen Jeruschala- passiert sind, sollten uns also nicht die
Fasten am 9. Av. Der RamBaN und Sinne der Mizvot und des Fastens zu jims sitzen, jeder seinen Stab in der Hoffnung rauben. Nehmen wir uns ein
ebenso andere Rischonim legen fest, erziehen. Das Essen, welches die Kin- Hand vor Fülle an Jahren.« Beispiel an der positiven Einstellung
dass das Fasten am 9. Av, trotz der der dann am 9. Av zu sich nehmen, Genauso, sagte Rabbi Akiwa, wie sich Rabbi Akiwas, denn wie bei Secharja
Wichtigkeit und hohen Trauer dieses sollte einfaches, nicht übertriebenes die Prophezeiung des Micha bewahr- geschrieben steht, werden bessere
Tages (Tempelzerstörung), einem Essen sein. Bis zum Bar-/ Bat-Mitzva- heitete, bin ich sicher, dass sich auch Zeiten auf uns zukommen.
Kranken nicht auferlegt werden darf. Alter hat ein Kind jedoch nicht die des Secharja bewahrheiten wird.
Und genau hierin unterscheidet sich durchgehend zu fasten. (siehe hierzu Rabbi Akiwa sah gerade in dieser Aus: Allgemeine Jüdische Wochenzeitung - 16.07.2015

der 9. Av von Jom Kipur. Denn an Jom in Mischna Brura, ‫סימן תק"נ סק"ה‬.).
Kipur ist nur derjenige vom Fasten Was schwangere und stillende Frauen
befreit, der in Lebensgefahr schwebt betrifft, so finden wir eine interessan-
9. Aw
oder dessen Leben direkt / oder te Auseinandersetzung: Nach dem An diesem ersten Tag in der jüdischen Gelobte Land zu bringen. „Da schrie
potentiell vom Fasten gefährdet Schulchan Aruch (siehe Stelle oben), Geschichte wurde sowohl der Erste als die ganze Gemeinde laut auf und das
werden könnte. Am 9. Av dagegen gilt: sind diese Frauen ebenso verpflichtet auch der Zweite Tempel zerstört. Es ist Volk weinte in derselben
Ein kranker Mensch, auch ohne in am 9. Av zu fasten „ebenso wie an Jom ein Tag der nationalen Trauer, denn er Nacht.“ (Numeri 14,1).
Lebensgefahr zu sein, kann sich vom Kipur“. Hier macht der Schulchan ist Ausdruck der Zerstörung des Bet Diese Nacht war der neunte Aw und
Fasten befreien. Aruch also keinen Unterschied. Der Hamikdasch, des Verlustes der natio- G’tt reagierte auf ihr Weinen und
Und Folgendes schreibt der Schulchan Grund dafür: In früheren Zeiten ver- nalen Unabhängigkeit und des Beginns bestimmte, dass sie in der Wüste
Aruch: “Ein Kranker, der essen muss, stand man schwangere Frauen nicht einer langen und bitteren Zeit der sterben sollten: „Ihr weintet ohne
wird (am 9.Av) sofort gefüttert, denn als Menschen, die in einem Diaspora und des Leidens des Grund. Ich werde dafür sorgen, dass
für Kranke legten die Gelehrten die körperlichen wirklich schwachen jüdischen Volkes im Exil, zweitausend Ihr Grund haben werdet, an genau
Verbindlichkeit der Fasttage nicht Zustand waren, daher galt für sie die Jahre lang. All dies begann an diesem diesem Tag in allen Generationen zu
fest.“ (Schulchan Aruch, Hilchot Tischa Pflicht auch am 9. Av zu fasten. Die tragischen, sorgenvollen Kalendertag weinen.“
BeAv, ‫ סימן תקנד ס"ו‬.) Und hierzu Poskim unserer Zeit sind jedoch Das erste Bet Hamikdasch wurde 586
schreibt der “Mischna Brura“ in mehrheitlich der Meinung, dass der vor der üblichen Zeitrechnung von den
Welche Tragödien geschahen
seinem Ergänzungskommentar auf kräftemäßige Zustand der Frauen Babyloniern zerstört. Die Armeen des
den Schulchan Aruch: Ein Kranker in unserer Generationen schwächer ist am Tischa Be’Aw?
Nebukadnezar brannten den Tempel
diesem Sinne ist wer „körperlich als in früheren Zeiten. Wir folgen also Es wurde bestimmt, dass unsere
am Abend des neunten Aw bis auf die
geschwächt ist und Beschwerden hat, in diesem Punkt dem Schulchan Aruch Vorfahren in der Wüste sterben
Grundmauern nieder, und das Feuer
auch wenn er nicht in Gefahr nicht ganz (!) Rav Schlomo Salman sollten und zwar wegen der Sünden
brannte bis zum Nachmittag des
schwebt“. Auerbach legte z.B. fest (ebenso auch der Kundschafter, die Moses in das
zehnten Aw weiter. Der Trauertag
Wir sehen also: Wer körperlich andere), dass die “Frauen von heute“ Land Israel entsandt hatte (Numeri 13,
wurde auf den Tag festgelegt, an dem
wirklich geschwächt oder krank ist, anfälliger für Schwächeanfälle und 14). Die Israeliten hörten bei der
der Brand begann.
oder aufgrund seiner Schwäche durch Beschwerden sind, wenn sie fasten, Rückkehr der Kundschafter auf deren
Am neunten Aw des Jahres 70 der
das Fasten tatsächlich krank werden daher dürfen sie halachisch erleichtern Worte. Diese verleumdeten das Land
gewöhnlichen Zeitrechnung wurde der
könnte, ist an sich vom Fasten am 9. und nur dann fasten, wenn Israel und fassten ihre Mission
Zweite Tempel vom römischen
Av befreit. Menschen in normaler sichergestellt ist, dass sie es zusammen, in dem sie sagten, das Volk
General Titus niedergebrannt.
körperlicher Verfassung sind, problemlos vertragen. (siehe Halichot Israel sei nicht in der Lage, das Land zu
Während des Bar Kochbar-Aufstandes
allgemein gesprochen, vom Fasten Schlomo / Band: Moadim, Kap. 16). erobern. Sie drückten dadurch ihre
gegen die Römer wurde die Festung
nicht befreit. (auch wenn sie nur Generell sind aber schwangere Frauen Zweifel aus, ob G’tt, der sie durch alle
Betar am Tischa Be’Aw erobert. Betar
leichte Beschwerden haben wie z.B. heutzutage vom Fasten am 9. Av Versuchungen der Wüste geleitet
war das Zentrum der Revolte und
hatte, in der Lage wäre, sie in das
Tausende von Männern, Frauen und
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Kindern hatten sich vor der römischen 9. Aw wurden mehr als 300 Juden der Was ist an Tischa beAw wegen wie bei einer Schiwa, d.h. auf dem
Armee hierher geflüchtet. Als die Fes- Gemeinde von Tarrega niedergemet- Inui (Fasten) verboten? Boden oder auf einem niedrigen
tung zerstört wurde, kamen sie alle zelt, die Überlebenden wurden von Alle Inuim (die aufgrund von Inui Gegenstand.
ums Leben und das letzte Boll- Hab und Gut beraubt. Von Spanien verbotenen Dinge) gelten von  Abends wird die Megilat Ejcha (das
werk jüdischen Widerstandes im Land, wurde die Verleumdung nach Savoyen Sonnenuntergang am Vorabend des 9. Klagelied der Bibel) gelesen – am
nach der Zerstörung des Zweiten Bet und bald darauf in die Schweiz Aw bis zum Eintritt der Nacht am Ende Tag werden Kinoth (Trauergedichte)
Hamikdasch, fiel zusammen. verbreitet. Dann griff mit der Seuche des 9. Aw. gesagt.
Während der Unterdrückung, die auf die Beschuldigung nach Deutschland  Essen und Trinken.  Man vermindere so viel wie nur
den Bar Kochbar-Aufstand folgte, über. Durch grausame Marter wurden möglich seinen Genuss.
 Gehen mit Lederschuhen.
taten die römischen Herrscher alles, Vergiftungs-„Geständnisse“ erpresst.
 Sich waschen. Sogar das Gesicht
um jede Erinnerung an Jerusalem und Überall in Savoyen, der Schweiz
darf man morgens nicht waschen.
die jüdische Oberhoheit dort auszulö- (Aargau, Bern, Zürich, Basel) und
Nach dem WC soll man nur seine Am Tischa be’Aw muss man
schen. Sie pflügten die ganze Stadt um Deutschland wurden Juden ermordet
Finger waschen. fühlen, bedauern, sich bewusst
und änderten ihren Namen in „Aelia und geplündert, zum Scheiterhaufen
 Sich cremen oder salben. sein dessen, was einem fehlt, was
Capitolina“. oder aufs Schafott gebracht.
 Der eheliche Verkehr (sogar am
In Deutschland wurden mehr als 300 Am Jisrael fehlt, was der Welt
Schabbat, wenn der 9. Aw auf
9. Aw 4855 (20.07.1095): Gemeinden völlig zerstört! fehlt. Trauern um das, was sein
Schabbat fällt).
Papst Urban II. deklarierte den Ersten Neben den Kreuzzügen und dem 3. könnte und nicht ist!
Kreuzzug 1095. 10.000 Juden wurden Reich waren diese Verfolgungen die
im ersten Monat des Kreuzzugs schwersten, die die Juden Europas Was ist am Tischa beAw wegen Wer ist vom Fasten
getötet, Mainz, Speyer, Köln. Der befielen. Awelut (Trauer) verboten? am 9. Av befreit ?
Kreuzzug brachte Tausenden von  Tora oder Talmud lernen – nur
Außer dem Fasten an Jom Kippur gibt
Juden Tod und Zerstörung, totale 9. Aw 5252 (02.08.1492): Ejcha, Ijow (Hiob) und die traurigen
es noch weitere Fasttage, vor allem die
Auslöschung vieler Gemeinden im Vertreibung der Juden aus Stellen in Jirmijahu sind erlaubt.
sog. 4 Fasttage, welche unsere
Rheinland und Frankreich. In Vom Talmud sind nur die Stellen
Spanien Gelehrten als Pflicht eines jüdischen
Jerusalem um 1099. über die Zerstörung des Tempels
Seit der Zerstörung des Tempels Menschen festgelegt haben. Und diese
und Trauervorschriften erlaubt.
lebten Juden auf der Iberischen sind im jüdischen Kalender: der 9. Av,
9. Aw 5050 (25.07.1290):  Das Grüßen (wird man von jeman- der 17. Tamus, der 3. Tischrei und der
Halbinsel. Am 31. März 1492
Ausweisung von Juden aus England, dem gegrüßt, so antwortet man
veröffentlichte Ferdinand das Juden- 10. Tevet (Talmud Rosch Haschana,
begleitet durch Pogrome und mit gedämpfter Stimme).
vertreibungsedikt – alle Juden Spani- Blatt 18). Tatsächlich basieren diese
Beschlagnahme von Büchern und  Frische Kleider anziehen. hinzugefügten Fast- und Trauertage in
ens hätten sich innerhalb 3 Monaten
Besitz.  Das Spazieren gehen oder sonstige ihrer ersten Quelle auf Worte des
zu taufen oder das Land zu verlassen.
Nur wenige sind der Versuchung der Ablenkung vom Inhalt des Tages. Propheten, in welchen wir eine
9. Aw 5144 (06.07.1384): Taufe erlegen. Die Juden waren ge-  Das Arbeiten – bis zur Mitte des Ta- Chronologie von Trauertagen finden,
zwungen, ihren Besitz zu verschleu- ges (Sonnenaufgang bis Untergang) aus welcher dann später die
Gemetzel von Tarrega, ist verboten. Nachmittags ist das
Katalonien dern; was sie zurückließen, verschiedenen Fasttage von den
behielt der Staat. Das Schicksal der Arbeiten erlaubt. Gelehrten Israels hinzugefügt worden
Auftakt zur Brunnenvergiftung – Vertriebenen (Hungersnot und Krank-  Zu Schacharit legt man nicht Tefillin sind. (siehe Secharja, Kap. 8).
Verleumdung heit, Seeräuber und Mörder, Asylver- an – dagegen legt man sie dann zu Der wohl wichtigste und halachisch
Zwischen den Jahren 1347 und 1350 weigerung in vielen Ländern) war Mincha. strengste dieser 4 rabbinischen
wütete eine Seuche, die „schwarze vorauszusehen. Die Geschichten ge-  Manche schlafen auf dem Boden Fasttage ist zweifellos der 9. Av, da er
Pest“, in Europa und raffte viele hörten zu den schlimmsten Erlebnis- mit einem Stein als Kissen, andere 1. von Abend bis zum nächsten Abend
Menschen dahin. Eine ungeheure sen des sephardischen Juden- mit weniger Kissen wie gewohnt. dauert (also 24 Std.)
Verleumdung, dass die Juden die tums.  Tischa beAw abends und am Tag bis und
Brunnen vergiftet hätten, breitete sich Am Tischa beAw gingen sie auf Boote zur Mitte des Tages sitzt man tief 2. weil an ihm mehr Verbote und
in Katalonien (Nordspanien) aus. Am und über die Grenze nach Portugal auf Vorschriften gelten als an den 3
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Welches sind die Gesetze und während der Kreuzzüge. Ein weiteres der ersten Etappe ihres Martyriums. europäischen Judentums, die Shoa)
Thema der Kinot ist „Jerusalem in Die Rabbanim befahlen, dass man waren direkte Folgen und Fortsetzung
Bräuche zu Tischa Be’Aw? seiner Zerstörung“, darunter das trotz Tischa beAw Marschmusik spiele des Unheils des Krieges.
berühmte Klagelied von Rabbi Jehuda – zu Ehren ihres Messirut Nefesch
Das Fasten des Tischa Be’Aw beginnt
Halevi „Zion halo tisch’ali lischlom (Aufopferungsbereitschaft). 9. Aw 5702 (23.07.1942):
am Abend (dies ist der einzige Fasttag
assiraich“ (Zion, wirst du nicht nach Deportationen vom Warschauer
außer Jom Kippur der volle 24 Stunden
dem Wohl deiner Exilierten fragen?) 9. Aw 5674 (01.08.1914): Ghetto in das Vernichtungslager
dauert). Am Tischa Be’Aw lassen wir
Nach den Kinot werden noch einmal Treblinka begannen .
alle „Unannehmlichkeiten“ über uns Deutschlands Mobilmachung
die Klagelieder gelesen. Bis zum
ergehen, die auch am Jom Kippur
Nachmittag wird keine Arbeit getan. In und Kriegserklärung
erfolgen – weder essen noch trinken an Russland 9. Aw 5754 (17.07.1994):
Trauer um die Zerstörung des Tempels
wir, tragen keine Lederschuhe, baden Bombenattentat auf das Gebäude der
legen wir uns den Tallit (Gebetsschal) Ausbruch des 1. Weltkrieges! AMIA (das Jüdische Gemeindezentrum
nicht etc.
nicht um, noch legen wir während des Der Nationalsozialismus in
Bei der letzten Mahlzeit vor dem in Buenos Aires, Argentinien), das 86
Morgengebetes die Tefillin Deutschland und der Kommunismus in
Fasten ist es Brauch, ein hartgekochtes Menschen tötete und mehr als 300
(Gebetsriemen) an. Russland, die zwei Autoren des
Ei zu essen (das allgemein als Speise verletzte.
In einigen Gemeinden kommen noch Churban Europa (der Zerstörung des
der Trauernden gilt). Es wird leicht in
einige andere Trauerbräuche hinzu. In
Asche getaucht, um uns an die Asche
zu erinnern, die nach dem Brand der
den sephardischen Synagogen Tröstender Besuch
Jerusalems werden die Lichter
beiden Tempel übrig blieb. In der
gelöscht und der Synagogendiener
Streit beenden, sich stärken lassen: Warum der Trauertag auch heute
Synagoge wird der Vorhang vom eine große Bedeutung hat
verliest die Zahl der Jahre, die seit der
Toraschrein entfernt. Nach dem
Zerstörung Jerusalems vergangen sind. Es gibt nur zwei Tage im gan-
Abendgebet sitzt jeder auf dem die laut unserer Tradition vom
Viele Jerusalemer versammeln sich, zen Jahr, an denen wir 25
Boden oder auf niedrigen Bänken, wie Propheten Jermijahu verfasst
um die Kinot am Kotel Hama’arawi, Stunden lang, von Sonnenun-
es Trauernden geziemt. Bei Kerzenlicht wurde, wird Tischa beAw
dem Überbleibsel des Bet Hamikdasch tergang bis zum Aufgang der
werden mit einer besonders traurigen »Moed« genannt. Und das ist
zu lesen, oder um die Stadtmauern zu Sterne am nächsten Tag, fas-
Melodie die Klagelieder rezitiert, die verwunderlich, denn eigent-
ziehen, während sie diese lesen. Im ten. Das sind Jom Kippur und
dem Prophet Jeremia zugeschrieben lich werden mit dem Wort
Jemen war es üblich, die Tora-Rollen Tischa beAw, der 9. Aw. In
werden. Die Klagelieder (Eicha) »Moed« nur die Feiertage
in schwarzes Tuch zu hüllen. diesem Jahr beginnt das Fas-
beschreiben die Trauer und Schre- bezeichnet.
Es gibt keinen jüdischen Trauerbrauch ten von Tischa beAw am
cken der Zerstörung des ersten Bet Unsere Weisen sagen, dass
ohne die Erleichterung und den Trost von
Hamikdasch. Danach werden sowohl Samstagabend, den 21. Juli, diese Bezeichnung darauf
der Erlösung, keine Zerstörung ohne Rabbiner
am Abend als auch am nächsten und endet am Sonntagabend, hindeutet, dass in der Zukunft,
die Hoffnung auf nachfolgende Elisha Portnoy
Morgen Trauergedichte (Kinot) den 22. Juli. wenn die messianische Ära
Wiederbelebung. Der jüdischen Diese Fastentage sind auch
gelesen. eintritt, der Fastentag am 9.
Überlieferung nach wird der Messias die einzigen Tage im Jahr, an denen es
Ein weiterer Aspekt der Trauer Aw zu einem Feiertag wird. Und dann
am Tischa Be’Aw geboren werden. uns verboten ist, Lederschuhe zu tra-
besteht darin, dass wir einander nicht soll es kein gewöhnlicher Jom Tow
Aus diesem Grund sind die gen. Man könnte meinen, dass damit
mit „Schalom“ begrüßen. sein, sondern wohl der wichtigste und
Trauerbräuche am Nachmittag ge- die Gemeinsamkeiten beendet sind.
Am Morgen des Tischa Be’Aw der bedeutendste aller Feiertage.
lockert- während der Nachmittagsge- Schließlich ist Jom Kippur der höchste
werden Kinot gelesen. Das Buch der Laut dem Kabbalisten Arizal (Rabbi
bete legen wir den Tallit an und die jüdische Feiertag und Tischa beAw der
Kinot wurde im Mittelalter geschrie- Yitzhak Ben Shlomo Luria Ashkenazi)
Teffilin um und kehren auf unsere traurigste Tag, an dem wir um den
ben und spiegelt nicht nur die Zerstö- gibt es in unserer Zeit schon neun Fes-
üblichen Plätze in der Synagoge zurück Ersten und den Zweiten Tempel in
rung in alten Zeiten wieder, sondern te: Pessach, Lag BaOmer, Schawuot,
auch die Leiden des Volkes Israel im Jerusalem weinen – der Tiefpunkt des Jom Kippur, Rosch Haschana, Sukkot,
Exil, vor allem die Zerstörung vieler jüdischen Jahres. Schemini Azeret, Chanukka und Purim.
jüdischer Gemeinden in Deutschland EICHA Jedoch stimmt das nicht ganz. Deshalb wird der 9. Aw in Zukunft der
In der »Megillat Ejcha« (Klagelieder), zehnte und letzte Feiertag sein.

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Sefirot Bekanntlich hat die Zahl 10 in tun haben? Unsere Weisen geben uns einem Tag bestimmt, an dem das Un- hauses erinnern, dass unser Leben
der Kabbala eine besondere Bedeu- einen sehr ungewöhnlichen Einblick in glück das jüdische Volk treffen würde. unvollkommen bleibt, solange der
tung: G’tt führt diese Welt durch zehn dieses Thema: Auch dieser Moed ist Die Mischna nennt fünf weitere Ereig- Tempel nicht wiedererrichtet worden
Sefirot (spirituelle Kanäle), die Voll- ein Treffen mit G’tt, jedoch diesmal nisse, die sich am 9. Aw zugetragen ist. Bei Hochzeiten gibt es den Brauch,
kommenheit und Vollendung symboli- kommen nicht wir zu G’tt, sondern G’tt haben. So wurde dem Volk Israel in als Gedenken an die Zerstörung des
sieren. Auch deshalb soll Tischa beAw kommt zu uns, um uns zu trösten und der Wüste angekündigt, dass seine Tempels Asche auf den Kopf des Bräu-
in Zukunft das freudigste aller Feste zu stärken. Wanderung vierzig Jahre lang dauern tigams zu streuen und am Ende der
sein. Ein solches Treffen mit G’tt ist natür- würde. Der Erste Tempel und das Kö- Hochzeitszeremonie ein Glas zu zer-
Jedoch ist die Bezeichnung »Moed« lich nicht ideal. Wir sollen uns mit die- nigreich Juda wurden am gleichen Da- brechen.
für diesen Tag nicht nur eine schöne ser Art von »Besuch« nicht zufrieden- tum von den Babyloniern unter König Dieser Tag soll aber auch der Anfang
theologische Idee für die ferne Zu- geben und uns die Verwandlung die- Nebuchadnezzar zerstört. Die Juden für unsere Erlösung werden. So sagen
kunft. Diese Eigenschaft hat auch in ses Trauertages in ein Fest wünschen. wurden gefangen genommen und unsere Weisen, dass der Messias am
unseren Zeiten eine praktische Aus- Jedoch reicht reines Wünschen sicher- nach Babylon verbannt. Damit begann 9. Aw geboren werden soll. Ein weite-
wirkung: Obwohl wir fasten, trauern lich nicht. Wir müssen uns Mühe ge- das babylonische Exil. Auch der Zweite res Zeichen könnte sein, dass der 9.
und auf dem Boden sitzen, sagen wir ben, etwas zu ändern und uns die Tempel wurde am 9. Aw zerstört. An- Aw und der erste Tag von Pessach, der
an diesem Tag trotzdem kein messianische Zeit zu verdienen. schließend wurden die Juden durch ebenfalls unsere Erlösung symboli-
»Tachanun«-Gebet, das an freudigen KAMZA Bekanntlich wurde der Zweite die römische Macht in alle Welt zer- siert, auf den gleichen Wochentag
Anlässen ausgelassen wird. Warum Tempel in Jerusalem wegen grundlo- streut. Unter den Folgen dieses Exils fallen. Mit den anderen Worten wird
das, wenn doch dieser Trauertag zur- sen Hasses (»Sinat Chinam«) zerstört. leiden wir bis heute. Ein weiteres Er- unsere Erlösung aus derselben Wurzel
zeit noch gar kein Feiertag ist? Der Talmud bringt im Traktat Gitin eignis, das mit dem 9. Aw zusammen- wie unser Leid erwachsen. Diese Idee
TERMIN Das Wort »Moed« wird in eine bekannte Geschichte als Beispiel hängt, ist die Niederschlagung des wird im Talmud, Traktat Makkot, deut-
der Megillat Echa für Tischa beAw dafür. Ein reicher und nobler Jerusale- gegen Rom gerichteten Aufstands von lich. Nach der talmudischen Erzählung
natürlich nicht zufällig benutzt, son- mer Bürger hielt einst eine große und Bar Kochba durch die römischen Be- machten sich einige Weisen eines Ta-
dern weist auf eine wichtige Eigen- prunkvolle Mahlzeit ab. Unter ande- satzer und die Tötung Bar Kochbas. ges auf den Weg nach Jerusalem. Als
schaft dieses Tages hin. Eigentlich gibt rem hatte er auch seinen Freund Schließlich fällt die Zerstörung Jerusa- sie die Stelle erreichten, an der einst
es auch andere Bezeichnungen für Kamza eingeladen. Jedoch verwechsel- lems ebenfalls an diesen Tag. Auch der Tempel gestanden hatte, sahen sie
einen Feiertag in der heiligen Sprache te der Bote den Namen und lud statt über die Auflistung der Mischna hin- einen aus den Ruinen des Allerheiligs-
außer »Moed«, nämlich »Chag«, »Jom Kamza einen Bar Kamza ein, der un- aus sind zu Tisch’a be-Aw zahlreiche ten heraus kriechenden Fuchs. Die
Tow« oder auch »Mikra Kodesch«. glücklicherweise mit dem Veranstalter unglückliche Ereignisse zu verzeich- Weisen brachen in Tränen aus, doch
Jedoch hat »Moed« eine besondere verfeindet war. nen, darunter die Verkündung des fing Rabbi Akiwa an zu lachen. Als sie
Bedeutung – man könnte diesen Be- Als der zufällig eingeladene Bar Kamza ersten Kreuzzuges, der Tausende von ihn fragten, warum er lache, erwiderte
griff auch als »Verabredung« und zur Mahlzeit eintraf, sah ihn der Gast- Juden das Leben kostete und zur Aus- er, seinerseits nicht verstehen zu kön-
»Termin« übersetzen. In Bezug auf die geber und wurde wütend. Er verlang- löschung vieler jüdischer Gemeinden nen, warum die anderen weinten. Als
Feiertage kann man ihn so verstehen: te, dass Bar Kamza sein Haus sofort führte. Die Vertreibung der Juden aus Rabbi Akiwa den Fuchs sah, begriff er
G’tt hat uns einen »Termin« gegeben, verlassen sollte. Für Bar Kamza war England sowie aus Spanien gehört nämlich, dass sich damit die Weissa-
um zu Ihm zu kommen und Ihn zu das sehr beschämend, weil viele pro- ebenfalls dazu. gung des Propheten Uria erfüllte.
treffen, zu einer ganz bestimmten Zeit. minente Gäste bei der Mahlzeit anwe- Unsere Weisen schärften uns ein, uns Wenn dem aber so sei, würden sich
Deshalb besteht während unserer send waren. Er bat den Gastgeber um jederzeit insbesondere an die Zerstö- gewiss auch die Worte des Propheten
Feste die Möglichkeit, ultimative Nähe die Erlaubnis zu bleiben und bot an, rung der beiden Tempel zu erinnern. Secharja bewahrheiten, der unsere
zu G’tt zu erreichen. die Hälfte der Kosten für diese Mahl- Daher gibt es einige Bräuche, die uns Erlösung weissagte. Darauf sprachen
Doch Tischa beAw scheint in dieser zeit zu übernehmen. Jedoch bestand sogar bei freudigen Anlässen an die die Weisen: “Akiwa, du hast uns ge-
Hinsicht ein totaler Gegensatz zu die- der Gastgeber weiterhin darauf, dass Zerstörung des Heiligtums erinnern tröstet, Akiwa du hast uns getröstet“.
sem »Termin« zu sein, denn an die- sein Feind sofort weggehe. Daraufhin sollen. So soll beim Streichen eines Mögen auch wir in seinen Worten
sem Tag erreichen unsere Trauer und schlug der verzweifelte Bar Kamza vor, Wohnsitzes eine gegenüber dem Ein- Trost finden und die baldige Erlösung
unser Leiden einen absoluten Tief- die Kosten für die ganze Mahlzeit zu gang liegende Stelle unbemalt bleiben, erleben.
punkt. Was kann das mit »Moed« zu übernehmen, um nur nicht gedemü- damit wir uns beim Betreten des Zu-

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betete er für den Knaben. Der Vater der Ewige die Zerstreuten durch tigt zu werden. Jedoch blieb der Gast- beschäftigen soll: Pflegen vielleicht
lag auf der Erde und ließ sich von den Weinen und Flehen zurück nach Zion geber hart und vertrieb Bar Kamza aus auch wir Feindschaften, die seit Jahren
Ältesten seines Hauses nicht trösten. bringen wird. seinem Haus. schwelen und keinen Sinn mehr ma-
Als sein Kind nach sieben Tagen starb, Daraus folgt, dass die Rückkehr der Rav M. Gitik (Jerusalem) bemerkt in chen? Wäre es nicht an der Zeit, diese
stand König David auf, wusch sich, Zerstreuten und der Wiederaufbau dieser Geschichte ein Detail, das das Konflikte zu beenden? Denn die Strei-
salbte sich und wechselte seine Jerusalems und seines Tempels der ganze Ausmaß der Verkommenheit tereien, die es leider auch heutzutage
Kleider. Später verlangte er nach Zweck sind und das Weinen und dieser Gesellschaft aufdeckt: Wenn unter Juden gibt, schwächen uns mehr
Essen. Die Knechte des Königs waren Flehen die Mittel dazu. Nicht umsonst der Gastgeber einfach nur verärgert als alle unsere Feinde zusammen.
geschockt. Als David merkte, dass sagt der Talmud Ta’anit 30b: »Wer über Bar Kamza war, hätte er mit sei- Aber solche Gedanken können wir uns
seine Knechte ihn mit fragenden über Jerusalem trauert, dem ist es nem Angebot, diese prachtvolle und nur dann ernsthaft machen, wenn wir
Gesichtern ansahen, erklärte er sein beschieden, auch die Freude (der teure Veranstaltung zu bezahlen, an diesem nach wie vor traurigen Tag
Verhalten: »Als das Kind noch lebte, Stadt) zu sehen.« hochzufrieden sein können. Denn je fasten und auf dem Boden sitzen. Erst
fastete ich und weinte; denn ich Als Rabbi Akiva sah, dass die Weisen mehr die Gäste gegessen und getrun- dann können wir verstehen, dass uns
dachte: Wer weiß, ob mir der Herr weinten, verstand er, dass es noch ken hätten, desto höher wäre die etwas fehlt, dass solche Feindschaften
nicht gnädig wird und das Kind am Hoffnung gab, denn gerade durch Rechnung. Jedoch war sein Hass so uns Kraft und Freude nehmen. Und
Leben bleibt. Nun es aber tot ist, was Weinen und Flehen kommen wir abgrundtief, dass für ihn die Beschä- wenn wir diesen Tag richtig nutzen,
soll ich fasten? (...) Ich werde wohl zu unserem Ziel näher. Diese Tatsache mung des Feindes wichtiger war als wird G’tt uns gern besuchen, trösten
ihm fahren, es kommt aber nicht hat Rabbi Akiva Freude bereitet, und eventuelle materielle Verluste. und Mut zur Versöhnung spenden.
wieder zu mir zurück« (2. Samuel 12, er lächelte. FEINDSCHAFTEN Das ist genau das
22–23). Mehrere Generationen später Thema, das uns beim Fasten am 9. Aw Aus: Allgemeine Jüdische Wochenzeitung - 19.07.2018

PROPHEZEIUNG Genau wie König verweilen auch wir – genau wie König
David würden die Weisen, die mit David und die Weisen – in Trauer, FASTEN
Rabbi Akiva nach Jerusalem pilgerten, Klagen, Flehen und Fasten. Dadurch Nicht übertreiben
bestimmt nicht wegen einer völlig zeigen wir, dass wir unsere Hoffnung
An den vorgeschriebenen Tagen sollen Juden dem Essen und Trinken
hoffnungslosen Sache weinen. Sie nicht aufgegeben haben. Wir weinen
weinten, weil sie wussten, dass die und trauern heute – damit wir schon entsagen – darüber hinaus ist Selbstkasteiung eher unnötig
Prophezeiung aus Jeremia 31,8 (»Mit morgen wieder lachen und uns freuen Die Alternativmedizin weist Gesundheitstipp ist, nicht so
Weinen kommen sie und unter Flehen können. auf den Nutzen des Fastens lange zu essen, bis man papp-
bring ich sie herbei …«) verheißt, dass Aus: Allgemeine Jüdische Wochenzeitung – 23.07.2015
hin: Giftstoffe, die über die satt ist. Sorgen Sie stattdessen
Nahrung oder das Einatmen immer dafür, dass Sie nur zu
Trauer und Hoffnung von verunreinigter Luft in den drei Vierteln satt werden!
Am 9. Aw befielen zahlreiche Tragödien das jüdische Volk, doch bleibt Körper gelangen, werden JOM KIPPUR Die Tora kennt
die Erwartung baldiger Erlösung auch an diesem Tag ungebrochen hauptsächlich in den Fett- ausschließlich das allgemeine
schichten gespeichert. Fasten Fasten an Jom Kippur, das je-
Der 9. Aw ist als ein Tag der hatten. Mit seiner Weige- reinigt daher den Körper und der Jude zu beachten hat. Dar-
Trauer in die jüdische Ge- rung ignorierte das Volk von
entfernt Giftstoffe. über hinaus gibt es weitere
schichte eingegangen. Die Ur- Israel ein Versprechen G- Rabbiner
In den alten jüdischen Quellen Fastentage in der rabbinischen
sprünge von Tisch’a be-Aw, wie ttes , das Land in seine Hand Raphael Evers
hingegen wird die positive Literatur, die jeder berücksich-
der Tag auf Hebräisch heißt, zu geben. Wegen dieses Wirkung des Fastens auf den tigen sollte. Dies sind haupt-
liegen schon in der Tora. Da- Vergehens erklärte G-tt, das Körper nicht beschrieben. Laut Mai- sächlich Tage, die zum Gedenken an
mals hatte sich das jüdische Volk Israel hätte diesmal monides, dem berühmten Arzt und die Zerstörung des Tempels eingeführt
Volk geweigert, in das Heilige von ohne Grund geweint, doch Philosophen aus dem Mittelalter, wer- und nach dem Wiederaufbau des
Land einzuziehen. Grund dafür Rabbiner Avraham werde Er ihm in späteren den die meisten Krankheiten durch Zweiten Tempels nicht mehr beachtet
waren die Angst einflößenden Yitzchak Radbil Generationen an diesem Tag übermäßiges Essen verursacht. Des- wurden.
Berichte von zehn der zwölf wirkliche Gründe zum Weh- halb rät er, nur dann zu essen, wenn Doch nach der Zerstörung des Zweiten
Spione, die das Kanaan erkundet klagen geben. So wurde der 9. Aw zu man wirklich hungrig ist. Ein weiterer Tempels durch die Römer im Jahre 70
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n.d.Z. wurden diese »alten« Fastenta- dient, nicht eintritt oder ein (gutes) fasten. Als Zeichen der Trauer wer- Wenn die Prophezeiung über die
ge wieder eingesetzt. Es sind Tischa Ende nimmt. In der Vision der Tora den keine Lederschuhe getragen. Zerstörung in Erfüllung ging, würde
beAw (der 9. Aw), Schiwa Asar beTa- geschehen Katastrophen niemals Man grüßt einander nicht, besonders sich umso sicherer auch das
mus (der 17. Tamus), Asara beTewet »einfach so«; sie sind das Ergebnis des nicht mit »Schalom« – denn seit der Versprechen G’ttes von der Rückkehr
(der 10. Tewet), und Zom Gedalja (am Verhaltens der Menschheit. Wenn ein Zerstörung des Tempels gibt es keinen der Zerstreuten und dem
3. Tischri). Volk sündigt, kann das körperliche wirklichen Frieden für das Volk Israel. Wiederaufbau des Heiligtums und der
Darüber hinaus dient Fasten verschie- Folgen haben: Krieg, Krankheit oder VERBANNUNG Hier geht es nicht nur Stadt Jerusalem erfüllen.
denen Zwecken: Zum Beispiel versucht Dürre. Durch Buße werden diese Fol- darum, dass die Schechina – die Ge- Obwohl die Weisen Rabbi Akiva ihr
man dadurch, von G’tt Vergebung und gen beseitigt. genwart G’ttes – uns verlassen hat, Verhalten erklärten, lässt sich doch
Mitgefühl zu erlangen. Häufig ge- Der Prophet Jeschajahu kritisierte sondern um die Verbannung des jüdi- fragen, wie rational es ist, wegen
schieht dies, nachdem eine Person Menschen, die besonders auf das äu- schen Volkes aus seiner Heimat und etwas zu weinen und zu klagen, was
eine Übertretung begangen hat und ßere Erscheinungsbild ihres Fastens dessen Zerstreuung über die halbe bereits geschehen ist. Denn wie schon
eine Bestrafung befürchtet oder be- achteten: »Sie sind schief wie Schilf Welt, um das Leid und das Elend, die das Sprichwort sagt: »Über verschütte-
reits teilweise erfahren hat. Fasten ist und verstecken sich in ihren Taschen uns seit fast 2000 Jahren heimsu- te Milch weint man nicht.« Zu Rabbi
oft Teil eines Gesamtregimes, in dem und der Asche.« Doch einem hungri- chen – in Form unzähliger Pogro- Akivas Reaktion wiederum lässt sich
der Körper »geläutert« wird: Man gen Menschen Brot zu geben und ver- me, blutrünstiger Kreuzzüge, furchtba- fragen: Wenn der Anblick von Füchsen
schläft auf dem Boden, wechselt seine armte nackte Menschen zu bekleiden, rer Inquisitionen, grauenvoller Verfol- auf dem Tempelberg ihm Freude
Kleidung nicht und wäscht sich auch führt dem Propheten zufolge zu einem gungen, Diskriminierung und Antisemi- bereitet hat, warum hat er dann nicht
nicht. echten Fasten. tismus, brutalen Terrors, ungerechter sofort gelächelt, sondern erst,
SACK UND ASCHE Der Ausdruck SINAI Zudem scheint Fasten ein Mittel Boykotte und der Schoa. nachdem die Weisen geweint hatten?
»Sitzen auf Sack und Asche« stammt zu sein, mit der geistigen Welt in Kon- Die Zerstörung des Tempels kam INTERPRETATION Meschech Chochma
ursprünglich aus der Tora und bezieht takt zu kommen. Mosche erzählt uns, keineswegs überraschend. Schon lan- – Rabbiner Meir Simcha Hakohen
sich auf Menschen, die nicht nur faste- dass er 40 Tage auf dem Berg Sinai ge davor hatten die Propheten Uria (1843–1926) – interpretiert in einem
ten, sondern auch Lumpen anzogen ohne Wasser und Brot verbrachte. Am und Jeremia dies prophezeit und zur Werk zum Klagelied Eicha die Verse 3,
und in Asche saßen, als Zeichen von Ende dieser 40 Tage gab G’tt ihm die Umkehr aufgerufen, jedoch ohne 20–21 des biblischen Buches (»Du
Trauer, Bedauern oder Demut. Indem Steintafeln, die von Ihm selbst mit den Erfolg. Die Menschen besserten sich wirst ja daran gedenken, denn meine
man sich auf diese Weise herabließ, Zehn Geboten beschrieben wurden. nicht, und so ging die Prophezeiung in Seele sagt mir’s. Dies nehme ich zu
hoffte man auf Vergebung der Sünden. Zur Zeit des Zweiten Tempels legten Erfüllung. Zion wurde zum Feld Herzen, darum hoffe ich noch«) wie
Aber auch ein ganzes Volk konnte fas- verschiedene jüdische Gruppen gro- umgepflügt, Jerusalem wurde zum folgt: Es ist eigentlich sehr unklug,
ten, zum Beispiel zur Vorbereitung auf ßen Wert auf das Fasten als asketi- Trümmerhaufen und der Tempelberg wegen einer verlorenen Sache zu
einen Krieg oder zur Abwendung eines sches Ideal. Der Talmud lehnt dies zum Waldesdickicht (Micha 3,12). weinen und zu trauern. Ein vernünfti-
Krieges. Auch landwirtschaftliche Kata- tendenziell ab; einige Gelehrte glau- FUCHS Der Talmudtraktat Makot 24a– ger Mensch wird versuchen, diese
strophen wie Ernteausfälle konnten ben sogar, dass eine Person, die die- b erzählt uns von Rabbi Akiva und den Sache schnell aus seinem Herzen zu
ein Grund für Fastentage sein. sem Ideal nacheifert, ein Sünder sei. Weisen, die einst nach Jerusalem verdrängen, um früher darüber
Und schließlich konnte auch der Tod Denn ein Mensch sollte genügend spi- pilgerten. Als sie am Tempelberg hinwegzukommen.
eines Königs, Propheten oder anderer rituelle Inspiration in den Geboten und ankamen, sahen sie einen Fuchs aus Doch an etwas, das noch nicht als
großer Führungspersönlichkeiten ei- Verboten der Tora finden. Sich noch dem Allerheiligsten herauskommen. aufgegeben gilt, halten wir tief in
nen Grund zum Fasten darstellen. weiter zu verleugnen, wird als Bei diesem Anblick weinten die unseren Herzen fest. Überall, wo
Wichtig ist: Fasten soll niemals Selbst- »sündig« angesehen. Außerdem ist Weisen, Rabbi Akiva aber lächelte. Hoffnung besteht, gehört es sich
zweck sein. Ziel ist es, eine gestörte das Studium der Tora wichtiger als »Weshalb lächelst du?«, fragten die daher, zu weinen und zu klagen. Um
Beziehung zu G’tt wiederherzustellen. Fasten. Aus diesem Grund wäre es Weisen Rabbi Akiva. Er entgegnete das noch verständlicher zu machen,
Das Fasten dient der Buße; nur, wenn besser, wenn ein Talmudgelehrter ihnen: »Weshalb weint ihr?« bringt Meschech Chochma ein Beispiel
man die Übertretung wirklich bereut, nicht fastet – außer an den Fastenta- Die Weisen weinten, weil die aus dem Buch 2. Samuel, Kapitel 12.
ist man bereit für die Vergebung. G’tt gen, die für alle obligatorisch sind. Prophezeiung über die Zerstörung des KÖNIG DAVID Hier wird über König
sorgt dafür, dass eine Katastrophe, die Denn durch das Fasten wäre er so ge- Tempels in Erfüllung ging. Rabbi Akiva Davids Verhalten berichtet: Als sein
nach Ansicht der Tora oft als Warnung schwächt, dass er die Tora nicht mehr aber lächelte, denn ihm war klar: Kind schwer krank wurde, fastete und

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Das müssen und können wir auch Bedrohung, spielen auch den Kindern richtig studieren kann.
selbst verhindern. Wir müssen zusam- – ab einem gewissen Alter – keine Aus: Allgemeine Jüdische Wochenzeitung—19.07.2018
menstehen, beieinander bleiben. So heile Welt vor. Eltern und andere
wie die Münchner, die am Bezugspersonen thematisieren das Napolenon und der Tempel
Freitagabend Unterschlupf anboten Phänomen des Terrors. Das sollten wir
Das jüdische Volk hat ein langes Gedächtnis – das kann auch in Zukunft
und sich gegenseitig Mut zusprachen. auch tun, und das, was wir den Klei-
Unterstützen wir einander! Und nen klarmachen, uns auch selbst im- helfen, schwere Zeiten zu bewältigen
schließen wir dabei auch Muslime mit mer wieder vor Augen führen: Wir Eine Anekdote berichtet von beAw, nennt man »Tischat ha
ein. Hüten wir uns vor sind die Mehrheit, die Terroristen in einer Begegnung zwischen Jamim«. Sie sind eine Vorbe-
Generalverdacht. Und stehen wir der Minderheit. Wir bleiben stark, Napoleon und einer Gruppe reitungsphase für den 9. Aw.
denen bei, die sich gegen die aus ihrer die anderen sind schwach. Wir haben von Landjuden. Als der Feld- In diesen Tagen gibt es bereits
Mitte kommende Gewalt wehren. die richtigen Werte, die anderen das herr einmal in ein Dorf kam, verschiedene Einschränkun-
Und führen wir unser Leben fort! Unrecht. Und nicht zuletzt: Wir haben sah er eine kleine Synagoge, gen: Man verzichtet auf
Zweifellos sollten wir dabei Vorsicht unsere Gebete, die uns stark machen die so alt aussah, als würde den Verzehr von Fleisch,
walten lassen, nicht naiv und ohne und die uns versichern, dass Gott das Gebäude gleich macht keine Musik und ra-
Sicherheitsvorkehrungen dem immer mit uns ist. zusammenfallen. Darin saßen siert sich nicht. Die Woche, in
Phänomen begegnen. Dabei können In Notsituationen erlebt man in Israel Juden auf dem Boden und die Tischa beAw fällt, kann
wir von den Erfahrungen der Israelis immer wieder, dass Menschen – seien von
weinten. Napoleon fragte man als verstärkte Trauerpha-
lernen, die schon seit Jahrzehnten mit sie im normalen Leben noch so Rabbiner Yaacov Zinvirt
sie, was geschehen sei. se bezeichnen, und Tischa
islamistischem Terror umgehen unterschiedlich – zusammenstehen. Die Juden antworteten, sie beAw ist dann der Höhepunkt
müssen. Sie wissen, dass es sehr gute Heute. Damals im belagerten trauerten um den zerstörten Tempel. der Trauer.
Schutzmaßnahmen, aber keine 100- Jerusalem war es nicht so. Dort Der Franzose wollte wissen, wann der Das Fasten an Tischa beAw dauert
prozentige Sicherheit gibt. Und sie stürzten sie sich in noch mehr Hass Tempel denn zerstört worden sei. Sie einen Tag, von Sonnenuntergang bis
wissen auch, dass sie den und Gewalt. Dessen erinnern wir uns sagten: vor ungefähr 2000 Jahren. zum nächsten Sonnenuntergang. Vor
Gewalttätern nicht den Gefallen tun in diesen Tagen. Und die auch für Napoleon schaute ungläubig – und dem Fasten nimmt man die Seuda
dürfen, ihr Leben aus Angst zu heute aktuelle Lehre lautet: fragte: Wie kann es sein, dass ihr Mafseket, das Abschlussmahl, zu sich.
verändern, Einkaufszentren, Gemeinsam können wir der heute wegen eines Ereignisses trauert, Man isst bevorzugt hart gekochte Eier,
Gaststätten oder Kinos, Konzerte und Belagerung standhalten und die das vor fast 2000 Jahren geschah? ein Symbol der Trauer, aber auch des
andere Events zu meiden. Gegner besiegen. Doch dann dachte er nach und fügte Lebenskreises. Vereinzelt werden die
TERROR Sie fliehen nicht vor der Aus: Allgemeine Jüdische Wochenzeitung – 28.07.2016
hinzu, dass nur ein Volk, das nach so Eier vor dem Verzehr in Asche
langer Zeit in dieser Form über die getaucht, zur Erinnerung an die
Weinen und Klagen Vergangenheit trauern könne, auch in Tempelzerstörung. Bei dieser Mahlzeit
Warum wir noch heute wegen der Zerstörung des Tempels Zukunft in der Lage sei, schwere wird auf Gourmetkost natürlich
Zeiten durchzustehen. verzichtet.
in Jerusalem trauern
GENERATION Unsere heutige BEQUEMLICHKEIT Verboten an Tischa
Vom Beginn des Monats Aw heute versammeln sich Juden Generation ist eigentlich nicht mehr in beAw sind außer Essen und Trinken
an vermindert man die auf der ganzen Welt in Bet- der Lage, so zu trauern, als hätten wir auch der Geschlechtsverkehr und das
Freude« – so sagt die Mischna und Lehrhäusern, um in die Tempelzerstörung selbst miterlebt. Tragen von Schuhen mit Ledersohlen,
im Traktat Ta’anit 4,6. Denn tiefer Trauer über den Ver- Unsere Weisen jedoch gaben uns denn solche Schuhe konnten sich
am 9. Aw wurden der Erste lust des Tempels und den Fall durch Verpflichtungen, Regeln und früher nur Wohlhabende leisten, und
und der Zweite Tempel Jerusalems zu klagen. Symbole einen angemessenen am Trauertag muss jede Art von
zerstört und die Stadt Jerusa- In fast dunklen Synagogen Rahmen, um sich Jahr für Jahr von Bequemlichkeit unterbunden werden.
lem umgepflügt. Die rezitiert man weinend und Neuem mit dieser Trauer auseinan- Man erneuert an diesem Tag nichts,
Zerstörung des Zweiten von auf dem Boden sitzend die dersetzen zu können. man trägt auch keine neue Kleidung,
Tempels liegt nun fast 2000 Rabbiner Baruch Verse der Klagelieder. Es ist Die neun Tage von Beginn des Mo- geschweige denn kauft sie. An diesem
Jahre zurück. Doch auch Babaev vorgeschrieben, am 9. Aw zu nats Aw bis zum 9. Aw, also Tischa Tag wird auch keine Tora gelernt,
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denn Toralernen erfreut die Menschen Ziel muss es sein, dem grundlosen Zeit aktueller denn je. Gesellschaft spalten, um sie
und erhellt Herz und Seele – deshalb Hass nicht noch einmal zu verfallen. Gemeint ist die Belagerung zu vernichten.
ist es am Trauertag untersagt. RICHTUNG Auf der gesamten Welt Jerusalems. Am vergangenen Bedrohung führt zu verschie-
In der Synagoge wird die Rolle Ejcha, richten sich Juden zum Gebet nach Schabbat war der 17. Tamus, denen Phänomenen, erst
die vom Propheten Jeremias Israel aus. In Israel wiederum gen am Tag danach haben wir ge- einmal zu Unsicherheit und
geschrieben wurde, gelesen. Er war Jerusalem und in Jerusalem selbst in fastet. Damit begann eine Angst. »Wir müssen realisie-
ein Zeitgenosse der ersten Tempelzer- Richtung des Tempels. Heute ist die dreiwöchige Zeit der Trauer, ren, dass es absolute Sicher-
störung und ging danach mit in die Kotel unser Fixpunkt. Nicht nur wir die jedes Jahr wiederkehrt heit nicht mehr gibt«, sagte
erste Diaspora. Es werden auch die Menschen richten uns so aus, sondern und die am 9. Aw ihren Höhe- Münchens Oberbürgermeis-
Kinot, also Klagelieder, gelesen – auch unsere Synagogen folgen der punkt findet. Am 17. Tamus ter Dieter Reiter. Dieses Ge-
von
üblicherweise, während man auf dem Regel. Eine Synagoge heißt auch gedenken wir, neben anderer fühl beschleicht uns wohl
Rabbiner
Boden sitzt. »Mikdasch meat« – ein wenig Tempel. Tragödien der jüdischen Ge- alle. Seit Wochen folgt eine
Avichai Apel
Alle diese uns auferlegten Regeln Bemerkenswert ist, dass alle Gebete, schichte, des Durchbruchs der Schreckensmeldung der an-
sollen uns dazu bringen, zu die den Menschen mit G’tt verbinden, Stadtmauer von Jerusalem. Die Römer deren: In Kiriat Arba wird ein 13-
verinnerlichen, was damals passierte. über eine gedankliche Verknüpfung hatten die Stadt angegriffen; die Bela- jähriges Mädchen im Schlaf erstochen,
Können wir die Trauer aber wirklich mit dem Tempel verlaufen. gerung Judäas dauerte ganze drei Jah- in Orlando erschießt ein Terrorist Dut-
emotional nachvollziehen? Im Buch Ha Der Unterschied zwischen der re, sie führte schließlich zur Eroberung zende Besucher eines Nachtclubs, in
Todaa(»Das Bewusstsein«), von Rabbi Diaspora und Israel ist, dass dort der Stadt und zur Zerstörung des Tem- Nizza rast ein Attentäter mit einem
Elijahu Kitov steht, dass der Mensch Geschichte physisch spürbar ist. In pels. Das war im Jahr 70 der modernen LKW in eine Menschenmenge. Dazu
Sinn und Ziel dieses Tages verfehlt hat, Israel ist es Brauch, an Tischa Zeitrechnung. die Bilder aus Syrien, Irak oder Mali.
wenn er nur fastet, aber nicht in der beAw zur Kotel zu gehen. Eine TEMPEL Aber schon zuvor spielten sich Lange dachten wir: Das ist weit weg.
Lage ist, seelische Bilanz zu ziehen. Das besondere Atmosphäre ist dort am grausame Szenen in der Stadt ab: Dann kam Würzburg, jetzt Ansbach. Ja,
Fasten an sich steht nur an zweiter Fastentag spürbar. Tausende Zwischen verschiedenen Bevölke- der islamistische Terror ist nun auch
Stelle – es soll uns aufrütteln und Menschen sitzen klagend, weinend rungsgruppen eskalierten die Konflik- bei uns angekommen. Nirgendwo
sensibilisieren. und betend im Kerzenlicht auf dem te, selbst im Tempel wurde ein bluti- scheint man mehr sicher: nicht einmal
Im Talmud steht geschrieben, dass die Vorplatz der Kotel und betrauern den ger Streit angezettelt, Extremisten mehr in einer Regionalbahn in Unter-
Tempelzerstörungen nur deshalb Verlust des Tempels. Der französische verbreiteten Angst und Schrecken, es oder auf einem Musikfestival in Mittel-
geschehen konnten, weil unter den Feldherr Napoleon hat es begriffen: gab Tote und Verletzte. Und das alles franken.
Juden selbst »Sinat chinam« herrschte, Ein Volk, das die Vergangenheit in der Zeit der äußeren Bedrohung. TRAUMA Was können wir tun? Ich
was übersetzt »grundloser Hass« dermaßen intensiv beklagen und ihren Warum ich davon erzähle? Weil es habe kein Patentrezept, bin kein
bedeutet. Auch heute hat unsere Verlust nachvollziehen kann, ist auch auch heute eine äußere Bedrohung Terrorexperte, sondern Rabbiner. Aber
Geschichte an Aktualität nichts in der Lage, den Herausforderungen gibt, hier bei uns in Europa: die des klar ist: Wir müssen das Problem
verloren. Wir müssen uns mit ihr der Zukunft ins Auge zu sehen – und islamistischen Terrors. Und weil ich erkennen und benennen. Ob die Täter
auseinandersetzen, aus ihr lernen und mögen sie noch so unerfreulich sein. auch heute befürchte, dass unsere traumatisiert zu uns kamen oder sich
nach dem Warum fragen. Denn unser Aus: Allgemeine Jüdische Wochenzeitung – 31.07.2014 Gesellschaft gespalten werden könnte, selbst radikalisiert haben, ist dabei
Extremisten und Populisten Zulauf nachranging. Sie bringen den islamisti-
Tage des Schreckens gewinnen, das Trennende betont wird schen Terror zu uns, und der muss
und das Gemeinsame verloren gehen bekämpft werden. Das ist Aufgabe der
Besonders in Zeiten der Bedrohung sollten wir zusammenstehen. Ein
könnte. Ich weiß: Geschichte wieder- Sicherheitskräfte, die übrigens in den
Blick in die jüdische Geschichte zeigt, warum holt sich nicht eins zu eins. Der Islami- vergangenen Tagen eine
sche Staat ist nicht Rom, München hervorragende Arbeit geleistet haben.
Bayern erlebte Tage des Schreckens«, gesamte westliche Welt und selbstver-
nicht Jerusalem. Dennoch: Es gibt eine Die Politik muss jetzt handeln, sie
sagte Ministerpräsident Horst Seehof- ständlich auch für uns Juden, die wir Bedrohung von außen, die sich gegen muss uns die Sicherheit wieder
er nach den Bluttaten des Wochen- hier leben. Und ausgerechnet in die-
uns und unsere Werte richtet. Heute zurückgeben, muss mäßigend wirken,
endes. Wirklich, es sind Tage des sen Tagen erinnern wir an eine Perio-
wie damals. Sie will uns ihre »Kultur« nicht vereinfachen, verallgemeinern
Schreckens, nicht nur für Bayern, son- de des Schreckens, die 1946 Jahre zu-
aufzwingen, sie will unsere und womöglich aufstacheln.
dern für ganz Deutschland, für die rückliegt. Doch ist die Lehre aus dieser
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