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Antike Naturwissenschaft und ihre Rezeption.

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Trier : WVT Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2013
ISSN 0942-0398; ISBN 978-3-86821-471-0
Band 23 (2013)

Gedruckt mit Unterstützung der


Karl und Gertrud Abel-Stiftung

Titel Vignette: Sich in den Schwanz beißende Schlange aus dem


Codex Marcianus Graecus 299 (= 584), fol. 188v;
Bibliotheca Marciana, Venedig

© WVT Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2013


ISBN 978-3-86821-471-0
ISSN 0942-0398

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Für Georg Wöhrle zum 60. Geburtstag
Stefan Schnieders (Freiburg i. Br.)

Fabulöses und Mirabilien bei Aristoteles,


besonders in Historia animalium IX’

Im biologischen Werk des Aristoteles finden sich immer wieder Auseinander­


setzungen mit verschiedensten Quellen, die Aristoteles zusätzlich zu seinen For­
schungen heranzieht, und zwar mündlichen wie literarischen, fachmännischen
wie solchen, die dem Volksglauben nahe stehen. Im Umgang mit diesen zeigt
sich Aristoteles in der Regel kritisch. Gut bekannt sind seine Korrekturbemü­
hungen gegenüber exotischen Tieren, von denen er über Herodot für Ägypten
und Ktesias für Indien Kunde hatte.1
Zu seinen „Quellen“ gehören teilweise auch fabulöse und mirabilienhafte
Berichte. Deren gehäufte Aufnahme im IX. Buch der Historia animalium1 hat
immer wieder zur Aberkennung der Authentizität geführt. So hat Dittmeyer* 123 in
einem Artikel von 1887 die Echtheit des IX. Buches in einem ausführlichen
Durchgang vehement bestritten, da der Autor des IX. Buches solche Berichte in
unkritischer Weise übernehme.
Seitdem Balme sich für die Echtheit des IX. Buches ausgesprochen hat,
dürften die Zweifel geringer geworden sein;4 doch die Häufung dieser seltsamen

* Für Rat bei der Abfassung dieses Aufsatzes und sachliche Anregungen möchte ich
Herrn Professor Wolfgang Kulimann herzlich danken.
1 Siehe z.B. P. Louis, Les animaux fabuleux chez Aristote, Revue des Etudes Grecques,
LXXX, 1967, 242-246, Franck Patinaud, L’Inde d’Aristote, in: Tozai Nr. 6, 2001, 73-
102, W. Kulimann, Die Beschreibung des Krokodils in Aristoteles’ Zoologie, in: J. Alt-
hoff-'B. Herzhoff/G. Wöhrle (Hgg.), Antike Naturwissenschaft und ihre Rezeption, Bd.
X Trier 2000, 83-96.
2 Ich folge der traditionellen, durch Theodoras Gaza hergestellten Buchreihenfolge, wie
sie auch in der Ausgabe von Bekker erscheint. Gute Grunde gegen die der handschriftli­
chen Überlieferung folgende Zählung in der Ausgabe von D.M. Balme, Aristotle.
Historia animalium vol. I Books I-X: Text. Prepared for publication by Allan Gotthelf
(Cambridge Classical Texts and Commentaries 38), Cambridge/Mass. 2002 liefert W.
Kullmann, Aristoteles. Über die Teile der Lebewesen, übersetzt und erläutert, in: Aris­
toteles. Werke in deutscher Übersetzung, firsg. v. H. Flashar, Bd. 17 Teil I, Berlin 2007,
192f„ Anm. 159.
3 L, Dittmeyer, Die Unechtheit des IX. Buches der Aristotelischen Tiergeschichte, Blätter
für das Bayer. Gymnasialschulwesen, Dreiundzwanzigster Band, 10. Heft, München
1887, 16ff.; 64ff.; 145ff.
4 D.M. Balme, Aristotle. History of Animais Books VII-X. Edited and translated by D.M.
Balme. Prepared for publication by Allan Gotthelf (Loeb Classical Library), Cambridge,
12 Stefan Schnieders

Geschichten harrt noch immer einer Erklärung. Vor allem den Vorwurf der un­
kritischen Übernahme wollen wir im folgenden eingehender prüfen.
Der Aufsatz von Dittmeyer ist prinzipiell durchaus zu loben: Er macht en
detail und scharfsinnig auf die meisten inhaltlichen Widersprüche und Schwie­
rigkeiten aufmerksam, mit denen wir konfrontiert werden. Andererseits ist es
ihm zu Gute zu halten, daß er den Inhalt des IX. Buches an der wissenschaftli­
chen Qualität des Naturwissenschaftlers und Forschers Aristoteles mißt, womit
er ein durchaus zutreffendes Bild vom Stagiriten zeichnet. Die Frage ist aber, ob
das Vorgehen des Aristoteles in der Anatomie mit demjenigen in seinen verhal­
tensbiologischen Studien, wie sie im IX. Buch vorliegen, vergleichbar ist. Die
Verhaltensforschung, d.h. die Beschäftigung mit den ,Charakteren1 der Tiere
(p0r|), wird programmatisch schon in Hist. an. 1 1, 487 a 1 lff. angekündigt (vgl.
den Rückbezug in VIII 1, 588 a 17f. und die Parallele bei Theophrast, Hist,
plant. I 1, l*5), die Einlösung dieses Programms im VIII. und IX. Buch scheint
aber oftmals den Vorstellungen der modernen Gelehrten nicht zu entsprechen.
Dabei ist jedoch die historische ForschungsSituation des Aristoteles zu berück­
sichtigen. Das Denken der Menschen ist zu seiner Zeit noch sehr stark von einer
anthropomorphen Sicht der Tierwelt bestimmt, wie die zeitgenössischen physio-
gnomischen Schriften zeigen.6 Außerdem fehlen Aristoteles für den Bereich der
Ethologie in höherem Maße die Möglichkeiten zu genauen Beobachtungen. Die
hohe Exaktheit der Ergebnisse, an die wir von seinen anatomischen Studien her
gewöhnt sind, kann in seiner Tierpsychologie nicht erwartet werden. Ferner
bringt es der Charakter des IX. Buches mit sich, daß Aristoteles sich häufiger
auf Informationen Dritter verlassen muß, da die Möglichkeit zu direkten Be­
obachtungen oder zur Überprüfung seiner Informationen oftmals fehlt. Häufig
sind diese Informationen für uns auf den ersten Blick von zweifelhaftem Wert.
Wir wollen nun aus dem IX. Buch nur einige Beispiele herausgreifen.

Mass./London 1991, 9f. Vgl. auch W. Kulimann, Aristoteles und die moderne Wissen­
schaft (Philosophie der Antike Bd. 5), Stuttgart 1998, 373, Anm. 167 (mit weiterer Litera­
tur) und ders., Aristoteles. Über die Teile der Lebewesen (wie Anm. 2), 193, Anm. 160.
5 Vgl. G. Wöhrle, Theophrasts Methode in seinen botanischen Schriften (Studien zur an­
tiken Philosophie Bd. 13), Amsterdam 1985, 5; 98.
6 Vgl. z.B. die Tiervergleiche in Ps.-Arist., Physiog. 3, 808 b 34ff. (Pferd, Esel, Schwein,
Hund); 5, 809 b 33ff. (Löwe); 6, 810 a 20ff. (Raubvögel und Sumpfvögel mit
Schwimmfußen) und die Arbeiten von A. Degkwitz, Die pseudoaristotelischen ‘Physio-
gnomica’ Traktat A. Übersetzung und Kommentar, Diss. Freiburg 1988 und S. Vogt,
Aristoteles, Physiognomica, übersetzt und kommentiert von S. V., in: Aristoteles. W’er-
ke in deutscher Übersetzung, hrsg. v. H. Flashar, Bd. 18 Teil VI, Berlin 1999. (Hinweis
von W. Kulimann).
Fabulöses und Mirabilien bei Aristoteles 13

I. Feindschaften und Freundschaften der Tiere


Das Thema „Feindschaft und Freundschaft zwischen Tieren“ erinnert stark an
die Konstellationen der Fabel. Aristoteles nimmt durchaus auf diese Bezug. In
Hist. an. IX 1, 608 b 19ff. setzt sich Aristoteles in besonderem Maße mit ihr
auseinander. Dabei geht er wohl grundsätzlich davon aus, daß diese einen wah­
ren Kem haben. Einen solchen scheint er auch vorauszusetzen, wenn er Infor­
mationen aus dem Bereich der Mantik und auch von Dichtem heranzieht.
In Anlehnung an den Kommentar von Aubert/Wimmer fällt Dittmeyer über
das Kapitel zu Feindschaft und Freundschaft bei Tieren ein vernichtendes Ur­
teil. In diesem werden vor allem feindschaftliche Verhältnisse - an die 40 -
zwischen bestimmten Tieren aufgelistet, die sich aufgrund eines gemeinsamen
Beuteschemas und Habitats in Konkurrenz zueinander befinden und von daher
ein aggressives Verhalten an den Tag legen. Ich zitiere Dittmeyer:
In erster Linie wird die Unechtheit des (seil. IX.) Buches durch die vielen Absurditäten
erwiesen, die sich darin finden. Absurd ist der ganze Abschnitt über die Feindschaften
der Tiere 609a4 bis 610b19. Er ist, wie A.-W. mit Recht sagen, „ein ungeordneter und
gedankenloser Wust vereinzelter Angaben, in welchem auch keine Spur von Zusam­
menhang zu finden ist.“'

Doch kann von Gedankenlosigkeit nicht die Rede sein, sondern es ergibt sich
durchaus eine innere Ordnung: Dem entspricht auch, daß Aristoteles eine Typo­
logie von Aggressionen gibt, die der modernen Verhaltensforschung nahekom­
men: So lassen sich a) interspezifische Aggression, b) intraspezifische Aggres­
sion, und c) artspezifische Aggression unterscheiden.78
Daß bestimmte Tiere aneinander geraten, ist dabei nicht im Sinne des
menschlichen Krieges und der menschlichen Freundschaft gemeint. Zunächst
(IX 1, 609 a 4-610 a 14) geht Aristoteles hauptsächlich auf Feindschaften bei
den Vögeln ein. Im einleitenden Abschnitt gibt er einen Hinweis, wogegen sich
seine Bemühungen in diesem Abschnitt richten {Hist. an. IX 1, 608 b 27ff.):

7 Dittmeyer (wie Anm. 3), 68. Vgl. D’A.W. Thompson, Historia animalium, in: J.A.
Smith, W.D. Ross (ed.), The Works of Aristotle. Translated into English, vol. IV Ox­
ford 1910 zu 609 a 2ff.: „What follows is largely fabulous, partly mystical, and appar-
ently from another hand.“
8 Vgl. Kullmann, Aristoteles und die moderne Wissenschaft (wie Anm. 4), 442f. m. Anm.
357 u. 358 (mit weiterer Literatur).
14 Stefan Schnieders

ö0ev Kat Tag SisSpeiag Kai rag Guvcöpciag ot pavtstg Zaußävona!. SisSpa psv rä
troXepia ri0£vreg, avvsSpa 8s rä stpr)vevovra zrpöc äü.rp.a.
Von daher erklären die Seher das Auseinandersitzen und Zusammensitzen (seil, der Vö­
gel), indem sie die auseinandersitzenden als verfeindet bestimmen, die zusammensit­
zenden als friedlich zueinander.

Aristoteles entlarvt also die Vogelschau als auf naturwissenschaftlich erklär­


baren Phänomenen beruhend. Es ist nach Aristoteles nicht göttliches Wirken für
das Verhalten der Tiere verantwortlich, sondern hinter dem friedlichen oder ag­
gressiven Verhalten der Tiere müsse man die Dynamiken berücksichtigen, die
sich innerhalb eines Habitats aufgrund einer bestimmten Nahrungssituation er­
geben. Die Seher9 schließen somit unzulässigerweise auf übernatürliche Ein­
flüsse. An der Parallelstelle E.E. VII 2, 1236 b 5ff. wird zudem deutlich, daß die
ausführliche Behandlung von Aggressionen im Tierreich sich auch gegen einen
gewissen Anthropomorphismus richtet:
aüir| psv ouv ev äv0pd>7totg pövov rmäpxst rpi/.ia (pövov yäp aiaOdvcrat jtpoatpsaewg)'
ai 8’ &XXai Kai ev rorg Uppioic, Kai tö ypf|aipiov sni iiiKpöv rt (paiverat Evwtapxov Kai
jrpög avöpüMiov Tote r]U>:potg Kai rrpög d/.z.t]/.«. otov töv rpo/tZov tprjoiv 'HpoSorog rtö
KpOKOÖEikq), Kai o'jc oi pävrstg rag avveSpsiag Kai SisSpeiag /.Ä’/ouaiv.
Diese Freundschaft nun gibt es nur unter Menschen, denn nur er kann das Wollen (des
anderen) wahmehmen. Die übrigen Freundschaften dagegen gibt es auch bei den Tie­
ren, und zwar gibt es offenbar, in bescheidenem Ausmaß, Nützlichkeit sowohl im Ver­
hältnis der zahmen Tiere zum Menschen als auch der Tiere untereinander, wie zum Bei­
spiel Herodot vom Trochilus und Krokodil1011 berichtet und wie die Zeichendeuter das
Zusammensitzen und Auseinandersitzen (der Vögel) erklären. (Übers, v. F. Dirlmeier)

An einigen Stellen wird nun eine Auseinandersetzung mit antiken Fabeln von
Aristoteles ganz explizit gemacht; ich will zwei Beispiele herausgreifen:
Das erste Beispiel betrifft Hist. an. IX 1, 609 b 11 ff. Dort wird berichtet,
daß Trochilos (rpoxiz.oq) und Sitte (oirrr]) Feinde des Adlers sind. Der Trochilos
(der mit dem ägyptischen in der oben genannten E.E.-Stelle nicht identisch ist)
wird gewöhnlich als Zaunkönig (Troglodytes troglodytes) identifiziert,1 die

9 Thompson, Historia animalium (wie Anm. 7) zu IX 1, 609 a 4ff. glaubt an die Auswer­
tung eines Wahrsagerkatalogs, anders Balme, History of animals (wie Anm. 4), 221,
Anm. a.
10 Vgl. Hist. an. IX 6, 612 a 20ff. Zur zutreffenden Beobachtung der Symbiose von Kro­
kodil und der Regenpfeiferart (Krokodilwächter, Pluvianus aegyptius L.) vgl. Kull-
mann, Beschreibung des Krokodils (wie Anm. 1), 87f.
11 Vgl. D’A.W. Thompson, A Glossary of Greek Birds, London-Oxford 1936 (Nachdruck
1966), 287f. s.v. TPOXI'AOE, a, W.G. Amott, Birds in the Ancient World from A to Z,
London/New York 2007, 247 s.v. Trochilos (1).
Fabulöses und Mirabilien bei Aristoteles 15

Sitte als Kleiber (mit den Unterarten Sitta europaea, S. neumayer, S. krueperi)u
Im folgenden gibt Aristoteles nur noch hinsichtlich des Kleibers den Grund für
diese Feindschaft an: der Kleiber zerbricht dessen Eier,1213 außerdem sei der Ad­
ler als Raubvogel allen feindlich. An späterer Stelle, außerhalb des Kapitels
über Aggressionen, wird deutlich, daß Aristoteles vermutlich auf Fabeln von der
Feindschaft zwischen Adler und Zaunkönig reagiert, denen er das verhaltensbio­
logische Phänomen der Aggression entgegenstellt: Hist. an. IX 11, 615 a 17ff.
zeigt deutlich, daß Aristoteles an eine Äsop-Fabel denkt, auf die auch bei Plu-
tarch, Praecepta gerendae reipublicae 806 Ef. und Plinius, Hist. nat. X 74, 203
angespielt wird. In dieser Äsop-Fabel vom Adler und Zaunkönig ging es wohl
um den Wettstreit, daß derjenige König der Vögel werde, wer höher fliegen
kann. Da der Zaunkönig eine List anwendet, erhält dieser den Namen des Kö­
nigs. Hervorzuheben ist, daß Aristoteles beim Zaunkönig im Gegensatz zur Pra­
xis der Fabel nicht die List und Schläue betont.
Jedoch läßt sich dieses feindschaftliche Verhältnis zwischen Adler und
Zaunkönig, von dem Aristoteles spricht, nicht verifizieren. Für den europäi­
schen Zaunkönig ist dieses Verhalten nicht belegt, für die amerikanischen Arten
von Zaunkönigen aber ist bekannt, daß sie zumindest die Eier anderer Arten be­
schädigen.14
Ein weiteres Beispiel, das einen direkten Bezug zur Fabel erkennen läßt,
findet sich in Hist. an. IX 1, 609 a 13ff.: hier wird ein Verhalten beschrieben,
das Aristoteles als fiawr'Veiv („bewundern“) kennt. Hinter diesem beschönigen­
den Ausdruck verbirgt sich, wie Aristoteles weiß, ein aggressives Verhalten von
Sperlingsvögeln gegenüber dem Steinkauz, der von diesen umschwärmt und mit
Federzupfen belästigt werde. Die moderne Verhaltensforschung kennt dieses
Phänomen als Mobbing (dt. „Hassen“).15 Aristoteles beschreibt dieses Verhalten

12 Vgl. Thompson, Glossary of Greek Birds (wie Anm. 11), 260 s.v. XTTTH. Amott (wie
Anm. 11), 215f. s.v. Sitte.
13 Hist. an. IX 1, 609 a 12f. erscheint aber der Zaunkönig unter dem Namen öp/i/.oc
durchaus als Eierfresser (des Steinkauzes).
14 Vgl. J. Picman/J.-C. Belles-Isles, Intraspecific egg destruction in marsh wrens, Anim.
Behav. 35, 1987, 236-246, hier 245. Insofern ist zumindest Dittmeyers (wie Anm. 3), 68
grundsätzliche Kritik, daß Insektenfresser keine Eier fressen, abzumildem.
15 Vgl. E. Bezzel/R. Prinziger, Ornithologie, 2. Aufl., Stuttgart 1990, 257: „Relativ weit
verbreitet ist auch außerhalb der Brutpflege das Hassen (mobbing) auf potentielle Fein­
de. Kleinvögel (meist Angehörige mehrerer Arten) scharen sich z.B. um eine sitzende
Eule im Tagesversteck oder auch um einen Würger mit auffälligen Bewegungen und
häufig situationsspezifischen Rufen. Die Bedeutung ist nicht ganz klar; möglicherweise
handelt es sich um Weitergabe von Informationen an unerfahrene Artgenossen; auch
16 Stefan Schnieders

richtig als Folge der von der Eule ausgehenden Feindschaft, die dazu fuhrt, daß
ihre (potentiellen) Beutevögel die Eule mobben.16
Aristoteles hat diese Einsichten im Austausch mit Jägern gewonnen, von
denen er berichtet, daß sie sich dieses Verhalten zunutze machen, um Sperlings­
vögel mit einem Steinkauz als Lockvogel zu fangen. Vasenbilder zeigen diese
Jagdmethode.17 Es ist aber sicherlich Aristoteles’ Verdienst, dieses Verhalten
richtig als aggressives Verhalten beschrieben zu haben. In der antiken Literatur
findet sich aber auch eine andere Erklärung für das Verhalten der Sperlingsvö­
gel.
Eine bei Dion Chrysostomos, or. 12, 13-16 (vgl. auch or. 12, 1 und 6-8)
überlieferte Äsop-Fabel erzählt die Geschichte von der weisen Eule, die Rat­
schläge gibt. Diese Fabel soll das Aition dafür geben, warum die kleinen Vögel
ihr folgen und sie für ihre Weisheit bewundern (aGompa^ov): Nachdem diese
nämlich den Rat der Eule nicht beachtet hatten, nicht auf die gerade heranwach­
sende, erste Eiche zu ziehen, um nicht Opfer der auf dieser wachsenden Mistel
zu werden, aus der die Menschen den Vogelleim gewinnen, lernten sie aus den
Folgen und erkannten ihre Weisheit. Die Eule habe aber seitdem nicht mehr ge­
sprochen.
Diese Fabel dürfte auch dem Aristoteles bekannt gewesen sein. Er kritisiert
die Fabel zwar nicht direkt, sondern gibt sofort die richtige Erklärung, daß hin­
ter dem auch in der Jägersprache verwendeten Ausdruck des Bewunderns ein
aggressives Verhalten der Sperlingsvögel gegenüber ihrem (potentiellen) Feind
steckt, jedoch ist anzunehmen, daß der aristotelischen Angabe eine Auseinan­
dersetzung mit dem fabulösem Stoff vorausging, wobei die Erklärung der Fabel

könnte der Feind verwirrt werden. Schwerfällig fliegende größere Greifvögel werden
von gewandteren kleineren Arten (z.B. Rabenvögeln, großen Regenpfeifern, Schnep­
fenvögeln, Möwen usw.) oft auch außerhalb der Fortpflanzungszeit und der Kolonie
oder Nestumgebung angegriffen und verfolgt und sogar oft mit Erfolg vertrieben. Die­
ses gemeinsame Feindverhalten fiihrt zu inter- und intraspezifischen Ansammlungen.“
Aristoteles kennt das Phänomen des Mobbings zudem nicht nur speziell für den Stein­
kauz, sondern erwähnt auch in bezug auf andere Arten ähnliches, vgl. Hist. an. IX 29,
618 a 29f. und 32, 619 a lff.
16 Vgl. C. Berger, Owls, Mechanicsburg, PA 2005, 1: „Songbirds seem to instinctively
recognize an owl-like shape - and to know that it represents danger. Researchers who
tested this idea found that if they set a chunky, rounded, mottled-brown form out on a
perch, the little birds went nuts. This behavior - reacting to anything even vaguely owl-
like - is an adaptive response, as owls often catch and eat small songbirds.“
17 Vgl. E. Böhr, Vogelfang mit Leim und Kauz, Archäologischer Anzeiger 4, 1992, 573-
583 mit mehreren Abbildungen, J. Boardman (Hg.), The Oxford History of Classical
Art, 1993, 71f.
Fabulöses und Mirabilien bei Aristoteles 17

für dieses Verhalten keine Rolle mehr spielt. Beachtenswert ist nämlich, daß
Aristoteles die Weisheit der Eule in der Fabel nicht thematisiert, obwohl es zum
Thema des IX. Buches, der Behandlung der Klugheit von Tieren, vordergründig
gut passen würde.
Auch eine Auseinandersetzung mit Tiervergleichen bei Homer ist im Ag­
gressionskapitel zu beobachten, die für Aristoteles auch sonst nicht ungewöhn­
Hist. an. IX 1, 610 a 13f. berichtet z.B. von der Feindschaft zwischen
lich ist.1819
Löwe und Thos (vgl. 44, 630 a 9ff., dort auch von Feindschaft mit Hunden).
Aufgrund anderer Passagen hat man den Thos als Schakal oder als Indische
Zibetkatze (Viverra zibetha) identifiziert, doch eine Konkurrenz zum Löwen
ist bei beiden Arten in der Realität nicht gegeben.20 Wahrscheinlich liegt aber
hier eine Auswertung von Homer zugrunde. Man vergleiche Hom., Ilias XI,
479ff.:21
iliLiCKpavot giv 9we; ev oupsot SapSärtrovoiv
ev vspei OKigpro’ siri te Liv ijvayE Salpxov
atvTT|V' Oojec p;~v te i’iiK ipsoav. uiitup ö öütttei.
So zerfleischen ihn (seil, den Hirschen) die rohfressenden Schakale in den Bergen
In einem schattigen Waldstück. Doch herbei führt einen Löwen der Dämon,
Einen reißenden, da fliehen die Schakale auseinander, der aber frißt.
(Übers, v. W. Schadewaldt)

Wir haben gesehen, daß Aristoteles bemüht ist, fabulösen Stoff rational zu un­
tersuchen und auf einen naturwissenschaftlich haltbaren Kem zu reduzieren.
Dabei fällt vor allem jegliche Form von Anthropomorphismus fort.
Daß die Fakten nicht immer korrekt sind, ist dabei zwar problematisch;
dieser Umstand darf aber nicht das Kriterium für die Echtheit oder Unechtheit
des IX. Buches bilden. Es bleibt uns in den meisten Fällen verborgen, wie Aris­
toteles im einzelnen zu seinen Ergebnissen gelangt ist und welche Zusatzinfor­

18 Vgl. B. Herzhoff, Homers Vogel Kymindis, Hermes 128, 2000, 275-294, hier: 288 m.
Anm. 52 (mit weiterer Literatur).
19 So H. Aubert/F. Wimmer, Aristoteles, Thierkunde. Kritisch berichtigter Text mit deut­
scher Übersetzung, sachlicher und sprachlicher Erklärung und vollständigem Index,
Leipzig 1868, I 69 Nr. 20, die aufgrund der aristotelischen Größenangaben den Schakal
ausschließen.
20 Herr Professor Ragnar Kinzelbach hat mich unter Bezugnahme auf das Nilmosaik von
Praeneste (vgl. seinen Beitrag in diesem Band) darauf aufmerksam gemacht, daß unter
dem Thos eine Hyäne zu verstehen sein könnte, die mit dem Löwen in starker Beute­
konkurrenz lebe. Dies scheint jedoch eine spätere Identifizierung zu sein, wie sich aus
der Beschreibung der kurzen Beine des Thos bei Aristoteles (Hist. an. VI 35, 580 a 30)
ergibt, was eher nicht auf die Hyäne paßt.
21 Vgl. auch Ilias XIII, lOlff.
18 Stefan Schnieders

mationen (z.B. von Jägern etc.) ihm jeweils zur Verfügung standen (ganz deut­
lich z.B. im genannten Fall des Steinkauzes und der Sperlingsvögel). Sicherlich
sind die fabulösen Erzählungen selbst nicht die erste Quelle. Eher scheint Ari­
stoteles zu interessieren, wie bzw. auf Grundlage welchen realen Kems be­
stimmte Vorstellungen in Fabeln, bei Dichtem oder im Volksglauben zustande
gekommen sind. Die vielen Beispiele für Aggressionen, die aufgrund von Kon­
kurrenzsituationen in der Tierwelt zu beobachten sind, werden der Grand dafür
gewesen sein, dieses Phänomen auch hinter Erzählungen zu vermuten, die er
nicht weiter überprüfen konnte.

II. Selbstmedikation bei Tieren


Ein weiteres Beispiel dafür, wie Aristoteles ein grundlegendes Phänomen er­
kennt und auch bei anderen Tieren für möglich hält, findet sich in Hist. an. IX 3,
610 b 20-6, 612 b 17, wo es um die intelligenten Maßnahmen zum Selbstschutz
und zur Selbsthilfe der Tiere geht. Aristoteles entdeckt hier u.a. das Phänomen,
daß Tiere sich bei Beschwerden, Krankheiten oder Verletzungen selbst zu hel­
fen wissen.
Daß Tiere ihre eigenen Krankheiten heilen können, scheint auf den ersten
Blick verwunderlich. Doch ist uns allen zumindest das Beispiel der Katzen ver­
traut, die Gras fressen. Aristoteles kennt das Beispiel der Hunde (6, 612 a 5ff.),
die bei Beschwerden ebenfalls Gras fressen. Dieses Beispiel führt er auch schon
im VIII. Buch an: dort spricht er davon, daß der Wolf als einziges Raubtier von
seiner camivoren Ernährungsweise darin abweiche, daß er - nach Meinung ei­
niger- eine Art von Erde fresse, wenn er größeren Hunger habe.22 Die Aufnah­
me von Gras wertet Aristoteles dagegen nicht als Nahrung, sondern als Selbst­
medikation wie beim verwandten Hund. Er wird allerdings, wie die Stelle nahe­

22 Hist. an. VIII 5, 594 a 25ff.: rwv öe TETpattööcov Kai (cooroKouvrojv xa. psv aypra Kai
Kap/apoSovra 7tävra aapKotpdya’ nÄpv toijc Vukoh; cpaaiv orav 7tetvröatv eoöistv rtva
yfjv, povov 5f] roüro r<öv Lnmw iroat; 8’ ajj.oTt psv ov% änTOvrai, örav 8e Käpvcoot,
KaÜÜTtEp Kai al küvsc örav Kaiivoot EOÖiovaai ävepoCoi Kai KaSaipovrai. („Bei den
Vierfüßern und Lebendgebärenden sind die wilden, mit Sägezähnen versehenen alle­
samt Fleischfresser bis auf die Wölfe, von denen man sagt, daß sie, wenn sie Hunger
haben, eine bestimmte Sorte Erde fressen, dieses ist aber das einzige Tier aus dieser
Gruppe. Ansonsten rühren sie Gras nur an, wenn sie krank sind, wie auch die Hunde,
wenn sie krank sind, es erst essen und dann wieder erbrechen und sich dabei reini­
gen.“). Vgl. auch in Hist. an. VIII 26, 605 a 25ff. eine weitere Beobachtung von Geo-
phagie beim Elefanten, dem das Fressen von Erde schade, wenn es nicht regelmäßig
geschehe.
Fabulöses und Mirabilien bei Aristoteles 19

legt, durchaus darüber nachgedacht haben, ob auch die Geophagie als Selbstme­
dikation angesehen werden kann oder ob sie tatsächlich ausschließlich der Nah­
rungsaufnahme (bei großem Hunger) dient. Ich zitiere aus einem modernen
Werk ähnliche Vermutungen:
Auch bei den nordamerikanischen Wölfen „scheint der Kot oft zu einem großen Teil
aus Erde zu bestehen“ und obwohl Geophagie bei Wölfen bislang nicht beobachtet wer­
den konnte, ist sicher, dass ihre domestizierten Verwandten häufig Dreck, Erde, Sand
und Steine fressen.23

Vermutlich ausgehend von den richtigen und alltäglichen Beobachtungen beim


Hund zählt Aristoteles weitere Beispiele für Selbstmedikation im Tierreich auf,
die für uns eher weniger Glaubwürdigkeit besitzen. Hierfür scheint Aristoteles
eine größere Menge uns mirakulös erscheinender Berichte nicht zuzuordnender
Provenienz durchgesehen bzw. überhaupt erst gesammelt zu haben.24 In der Tat
sind einige davon auch in die Mirabilienliteratur eingegangen. Zum Beispiel
nehme der Hirsch nach dem Fressen der Nachgeburt (vermutlich zur Reinigung
nach Aclian, Varia historia XIII 35: KCtOapcreax; ÖEopEvqv) das Kraut Seselis
(Tordylium officinale L. oder Malabaila aurea [Sibth. & Sm.] Boiss nach
Amigues, Index S. 331 s.v. oeoeXi)25; zu sich (5, 611 a 18f.), außerdem fresse er
nach Spinnenbiß Flußkrebse (KapKtvoug26) (5, 611 b 20ff). Vom Bär nimmt
Aristoteles den Bericht auf, daß er eine bestimmte Pflanze, den Aronstab (italie­
nischer Aronstab, Arum italicum Miller nach Amigues, Index, S. 272 s.v. 2
dpov), frißt, um den nach der Winterruhe leeren und zusammengeschrumpften
Darm zu weiten (6, 611 b 34f., vgl. VIII 17, 600 b 9ff.).27 Ferner fressen die
Ziegen in Kreta das dort heimische Gewächs Diktamon (Diptam-Dost oder Kre­
tischer Diptam oder Diktam, Origanum dictamnus L. nach Amigues, Index, S.

23 C. Engel, Wild Health. Gesundheit aus der Wildnis. Wie Tiere sich selbst gesund erhal­
ten und was wir von ihnen lernen können. Übersetzung ins Deutsche: Martina Scholz,
Bernau 2004, 86.
24 Eine ähnliche Sammlung von Berichten, die auch zu einem großen Teil in die
Mirabilienliteratur übernommen wurden, liefert das Kapitel 28 im VIII. Buch der Hist,
an. über tiergeographische Unterschiede.
25 S. Amigues, Index des noms de plantes, in: Dies., Theophraste, Recherches sur les
plantes Tome V. Livre IX. Texte etabli et traduit par S. A., Paris 2006.
26 Da der Hirsch zu den Wiederkäuern (fiuminantia) zählt, konjiziert Louis b 21 opryavow;
statt des überlieferten KapKivov;, Thompson SiKiapov.
27 Da Aronstab jedoch zu den Giftpflanzen zählt, ist es unwahrscheinlich, daß der Bericht
über die Aufnahme durch den Bären, zutreffend ist (Hinweis von R. Kinzelbach).
20 Stefan Schnieders

278 s.v. 1 StKiapov), wenn sie von Pfeilen getroffen werden (6, 612 a 3ff.),28
der Leopard (7t«pöaZic) fresse Menschenkot gegen eine TOpöaMcr/'/jk2930genann­
te Giftpflanze (6, 612 a 7ff.),j0 gegen Schlangenbisse schütze sich der ägypti­
sche Ichneumon (Herpestes Ichneumon nach Liddell/Scott/Jones, A Greek-
English Lexicon, Oxford 1983 [LSJ]) durch einen Lehmüberzug (6, 612 a 15ff.),
die Schildkröte fresse Origanon, nachdem sie eine Schlange gefressen hat (6,
612 a 24ff.),31 das Wiesel fresse das wohl zur Gattung der Rauten gehörende
Peganon (Raute [Ruta L. spp.], z.T. Weinraute [/?. graveolens L. (kultiviert)],
Gefranste Raute [/?. chalepensis L. (wild)] nach Amigues, Index S. 324 s.v.
mpyavov) zum Schutz vor Schlangen (6, 612 a 28ff.),32 weil die Schlange den
Geruch nicht vertragen könne,33 die Schlangenart Drakon entnehme der Pikris

28 Vgl. Ps.-Arist., Mir. 4 und Antigonos, Mir. 30. Für Aristoteles ergibt sich vielleicht eine
gewisse Wahrscheinlichkeit dadurch, daß das Diktamnon, das in Kreta nur an bestimm­
ten Plätzen wachse, nach Theophrast, Hist, plant. IX 16, 1 für seine erstaunliche Wir­
kung (Oavpaoröv 5e rfj Svväpei Kai ttpo; Ä/.ciw xpijotjiov) berühmt war, v.a. bei Gebur­
ten (vgl. Corp. Hipp., De mnlierum affectibus 46; 71; 77; 78; 233; De exsectione foetus
4), womit dieser Bericht zumindest die Aufnahme in diese Liste verdient hat. Aristoteles
stellt jedoch deutlich heraus, daß er hier Meinungen wiedergibt (cpaoi, öokei). was
Dittmeyer (wie Anm. 3), 70 nicht berücksichtigt. Auch Theophrast a.a.O. bezieht sich
auf denselben Bericht. Die Quelle hat wohl nachdrücklich die Wahrheit der Aussage be­
tont: AkpOsc 8s cpaoiv stvat Kai rö rrspi rcöv ßekrav ön tpayouaag örav toceijOmoi
SKßriZZciv. Tb jiev onv biKtapvov toioütöv ts Kai roiaurac c/p. räc <Gvain:ic. („Man
versichert auch, daß wirklich die Ziegen, wenn sie geschossen sind, und dies Kraut fres­
sen, die Pfeile ausstoßen. So verhält es sich mit dem Diktamon und seinen Arzneikräf­
ten. “ [Übers, v. K. Sprengel]). Vgl. auch Hist. an. VIII 26, 605 b 3f. über die Verabrei­
chung von Öl bei Verwundung eines Elefanten mit einem Eisenteil: k&v ru'/.i] möppiov
tt ev t® Gcopatt evov, tö elatov EKßäXz.Et örav 7na>aiv, ä>c tpam.
29 Laut LSJ = aKÖvvrov = Eisenhut oder Wolfswurz (Aconitum), nach Amigues, Index, S.
266 s.v. ciKovttov Bilsenkraut. Die Wurzel ist nach Hist, plant. IX 16, 4f. giftig, ein ei­
gentliches Gegengift gebe es nicht.
30 Es besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit für Aristoteles, da Menschenkot für Jagd­
zwecke eingesetzt wurde. Der im Anschluß berichtete Trick des Leoparden, Tieren auf­
zulauem, indem er sich verstecke, weil er wisse (Karavevor|Kutav), daß die anderen Tie­
re seinen Duft besonders anlockend finden, wird von Aristoteles im Gegensatz zu der
Menschenkot-Geschichte deutlich als Hörensagen bezeichnet, worauf sich auch Theo­
phrast, De caus. plant. VI 5, 2 mit Skepsis bezieht.
31 Vgl. Ps.-Arist., Mir. 11, Antigonos, Mir. 34.
32 Vgl. Antigonos, Mir. 35,1.
33 Peganon besitzt nach Theophrast ähnlich wie Origanon eine besondere Schärfe, vgl.
Hist, plant. VII 6, 1 (Sptgurspa Kai ia/upbrepa), De caus. plant. II 5, 3f.; III 19, 2; VI
14, 12. Nach De sudore 5 (fr. 9, 5, 14ff. Wimmer = 5, 31 ff. Fortenbaugh) produzieren
Kräuter wie Peganon einen schlechten Schweißgeruch und zusammen mit einer schon
Fabulöses und Mirabilien bei Aristoteles 21

(Bitterkraut \Helminthia sepioides] nach LSJ, Bitterer Chicoree [Crepis


zacintha (L.) Babcock] nach Amigues, Index, S. 324 s.v. TtiKpic). den Saft, wenn
sie Früchte ißt (6, 612 a 30f.), Hunde essen bei Wurmbefall Getreideähren (rö
z.fftov) (6, 612 a 31 f.) und Störche und andere Vögel, die im Kampf verwundet
werden, legten Origanon auf ihre Wunden (6, 612 a 32ff.).
Aristoteles’ Liste bedeutet nicht unbedingt, daß er von all diesen Beispie­
len überzeugt ist. An einigen Stellen zeigt er deutlich an, daß er sich auf Hö­
rensagen und Augenzeugenberichte bezieht (vgl. z.B. cpacri, 612 a 3; Kat toöto
dmrat, 612 a 25). Er wird diese Berichte aber aufgelistet haben, da er sie nicht
überprüfen kann und eine Restwahrscheinlichkeit besteht, daß sie einen wah­
ren Kem besitzen. Aristoteles wird auf jeden Fall zu jedem Bericht überlegt
haben, wie wahrscheinlich er ist. Grundsätzlich macht man es sich zu einfach,
wenn man sich über diese Erwägung des Aristoteles abschätzig äußert, zumal
es auch heutzutage eine junge wissenschaftliche Disziplin gibt, die Zoo­
pharmakognosie heißt:34 Untersuchungsobjekt sind z.B. grasfressende Katzen
ebenso wie Aras, die Tonerde zur Deaktivierung pflanzlicher Toxine einneh­
men, und Igel, die sich z.B. gegen Insektenstiche mit scharf riechenden Sub­
stanzen einreiben.
Eine Parallele im botanischen Werk Theophrasts bestätigt grundsätzlich die
von Aristoteles getroffenen Aussagen zur Selbstmedikation bei Tieren. Als Fazit
seiner Erörterung, ob es hinsichtlich des Geschmacks zwei Klassen von Pflan­
zen gebe, solche, die von Natur aus Geschmack haben, und solche, die insofern
unnatürlich sind, als daß gegenüber der ersten Klasse ein Mangel (oTEppotq)
vorliege, kommt Theophrast zu dem Schluß, daß der Geschmack von den jewei­
ligen Lebewesen abhängig ist, die eine bestimmte Pflanze zu sich nehmen. Was
für den Menschen nahrhaft (rpöcptpov) sei, müsse nicht auch für andere Lebe­
wesen nahrhaft sein. Es gebe für jedes Lebewesen die seinem Bauplan entspre­
chende Nahrung, womit auch die jeweilige Bevorzugung der einen oder anderen
Nahrung Zusammenhänge. Auch die Auffindung von Gegenmitteln innerhalb
der Natur hänge damit zusammen (£>e caus. plant. VI 4, 7 [gr. Text nach der
Loeb-Ausgabe von Einarson-Link]):

geringen Funktionsfähigkeit der Verdauung (&ter|/ia) intensivieren sie unangenehme


Schweißbildung.
34 Vgl. Engel. Wild Health (wie Anm. 23).
22 Stefan Schnieders

65 yäp av cd iiyotoiv Kam rag Kpdnc.tc. oütcjc Kai ai rpotpai Kaö’ skcottov äppö-
aouatv, opoico; öe Kai ai r|8oval Kai ai X-vitat Kai ai ßotj0Etai rrpöc m rä9r] Kai täc,
StaOeastc, o Kai tpavspä 7totoijVTa noz.z.ä t&v iweiv sativ, ou zrpö; ra oupßaivovTa 7tä0r]
iiövov auropäraic, i/z.z.d Kai Kar’ aiitap rä; sScoSäq, öiav dzj.ü (päycooiv, erspov ert-
«jOiovra (KaOaTOp oi s/sig tö irrfzavov, örav rö aKöpSov).
Denn wie die Naturen (d.h. Baupläne der Lebewesen) sich gemäß ihrer Mischungen
verhalten, so paßt auch immer die jeweilige Nahrung (seil, zu den Mischungen des je­
weiligen Lebewesens, das die Nahrung aufnimmt); auf ähnliche Weise (seil, steht es)
auch mit Lust und Unlust und den Maßnahmen gegen krankhafte Zustände, was man
bei vielen Tieren gut beobachten kann, und zwar nicht nur gegen Leiden, die plötzlich
auftreten, sondern auch bei der regulären Nahrungsaufnahme: Sie essen dann nämlich
etwas und etwas anderes hinzu (wie die Vipern das Peganon, wenn sie Knoblauch35 es­
sen).

Die Theophrast-Parallele ordnet damit die Selbstmedikation in einen größeren


theoretischen Zusammenhang ein, der auf Aristoteles zurückgeht. Zu Beginn
des VIII. Buches der Hist. an. stellt Aristoteles seinen in Buch VIII und IX zu
behandelnden Studien zur Lebensweise und Psychologie der Lebewesen eine
wichtige Überlegung voran, indem er auf die Entsprechung von (stofflichem)
Bauplan der Lebewesen und ihrer Ernährung hinweist (Hist. an. VIII 1, 589 a
5ff.):
ÄÜaar 8e rporpai Siatpepoucn udz.icra Kara njv iiz.riv iL o'iag auvecnf|Ka<Tiv. r] yäp
au^paic iKÜGTOtc yivsrai Kara cpücnv ek rüg aürfjg. tö 8e Kara (püatv f|öir öuhKct 8e
7tavra Tijv Kara tpuatv f]8ovf|v.
Ihre jeweilige Nahrung unterscheidet sich vor allem nach der materiellen Beschaffen­
heit, aus der sie bestehen. Denn das Wachstum geht bei allen naturgemäß aus derselben
hervor, und das Naturgemäße ist lustvoll: alle Lebewesen folgen der naturgemäßen
Lust.36

Daraus wird ersichtlich, daß die Überlegungen zur Selbstmedikation ganz im


Sinne des Themas des VIII. und IX. Buches aufzufassen sind.

35 G.R. Thompson konjiziert rbv CKop7riov nach Hist. an. VIII 29, 607 a 27ff. statt des
überlieferten rö OKÖpSov (~ aKÖpoSov). Dies ist jedoch unwahrscheinlich. Besser paßt
die Parallele Hist. an. IX 6, 612 a 30f. zur Schlangenart Drakon, die den Saft der Pikris
bei Früchteverzehr (hinzu)ißt (siehe oben).
36 Vgl. auch Hist. an. VIII 2, 590 a 8ff.

J
Fabulöses und Mirabilien bei Aristoteles 23

III. Hirsch mit Efeu


Daß Aristoteles bezüglich der von ihm aufgenommenen Berichte Überlegungen
zur Wahrscheinlichkeit angestellt haben dürfte, will ich kurz an folgendem Bei­
spiel demonstrieren. Angesichts der Behandlung der Klugheit des Hirsches
(Hist. an. IX 5, 611 a 16: cppövtpov), die im Zusammenhang mit seiner scheuen
und vorsichtigen Natur steht, und den instinkthaflen Schutzmaßnahmen, die er
trifft, erwähnt Aristoteles ganz beiläufig (Hist. an. IX 5, 611 b 17ff.):
ijör] 8’ ;:'iz.pnrai d/divp; ekacpog snt t6v Kepärcov e%cov kittöv ttoz.ijv jtkoukotu //.wpöv.
d>5 am/l.Gv övtcov rGv Kspätcov epxpvvra Gansp ev yAjpA
Es ist schon einmal ein achainischer37 Hirsch gefangen worden, auf dessen Geweih viel
grüner Efeu gewachsen war; wie wenn38 dieser wie auf grünem Holz entstanden wäre,
als das Geweih noch ganz jung war.
Dieser Bericht ist in die Mirabilienliteratur eingegangen,39 und ihm sind auch
Philologen häufig mit Unverständnis begegnet. Dennoch muß die Merkwürdig­
keit einer solchen Erwähnung nicht dagegen sprechen, daß diese Nachricht das
Interesse des Aristoteles geweckt hat. Vor allem läßt sich nicht sagen, daß Aris­
toteles wahllos und ohne kritisches Bewußtsein solchen Berichten gegenüber­
stand.40 Dies wird schon dadurch deutlich, daß er immerhin auf Hörensagen
hinweist (f|8r| §’ £iZtj7ttai). Es läßt sich aber noch mehr über seine Einstellung
zu diesem Bericht gewinnen.
An einer wenig beachteten Parallele in Theophrasts De causis plantarum
können wir erkennen, daß das Thema „Hirsch mit Efeu“ in den Kontext einer
größeren Debatte um Wunderzeichen bei beiden Forschem eingeordnet werden
muß.
Als besonders verwunderlich kennzeichnet Theophrast, daß Gewächse wie
Misteln nicht in der Erde wachsen können (De caus. plant. II 17, 1). Eher ge­
wöhnlich sei dagegen das Wachsen von Efeu, das einige aber für göttliche

37 Vgl. Hist. an. II 15, 506 a 23f., wo vom „sogenannten achainischen Hirsch1' die Rede
ist. Worauf sich „achainisch“ bezieht, ist umstritten, es könnte aber tatsächlich ein Hin­
weis auf die Gegend sein, aus der diese Information stammt. Vgl. ähnlich TIpaK/.:;-
(DTtKoi KapKtvot (Hist. an. IV 2, 525 b 5; 3. 527 b 12, in De pari. an. IV 8, 684 a 7f. mit
KaXovgevoi).
38 Das 6g mit dem Partizip fpoijvrr/ zeigt eine gewisse Distanz zum Berichteten an (Hin­
weis von Frau Dr. Manuela Bufalo).
39 Vgl. Aristophanes von Byzanz, Epit. II 489; Ps.-Arist., Mir. 5; Antigonos, Mir. 29, 2;
Plinius VIII 32, 117.
40 Dittmeyer (wie Anm. 3), 70 meint hingegen, daß „hier auch das Abgeschmackteste oh­
ne jeden Zweifel vorgebracht wird.“
24 Stefan Schnieders

Wunderzeichen (repara) halten. Und auch der Bericht vom Efeu auf dem
Hirschgeweih liefere keinen Grund zur Wundergläubigkeit (De caus. plant. II
17, 4f. [gr. Text nach der Loeb-Ausgabe von Einarson-Link]):
räsi tö ys Egcpusaßai Kai ev Sevöpoi; Kai ev cpuroic erepot; tö Kai ev rfj yfj (puöpsvov
oÜK aTO7tov, <jj7m Kai yrvöpevov, (Sartep ö kittoc ev 7roW,otg. (eil yäp tovto napa-
SoSÖTEpov, ort Kai <sv> E/.<i<pou KEpaaiv WTtrar Kai q TsppivÖoc 8s ev räaia, Kai tö
noZiijtööiov Kxii.oiiiir.vov rät rtat ösvopoi:, Kai öaa öf| a7tavtd)TEpa Kai TEpaTmSsaTspa
ipaiverat, KaöänEp r] 8ä<pvr| jiote ev Äardvcö Kai ev Sput, Kai ra <’V/.a öaa d>c repara
ttpooaivouaiv. örav yäp sig yewöEC ysyevripsvov 8iä ctfßyiv ejittsot] tö aireppa, öisß/.d-
OTT]asv, stia Ö) rpv rpocpfjv rpv sk toö öivöpou Aapßävov, ö Kai räi toü kittoC tov Jiepi
Ta KEpara ß/.aGTOÜVTo: - s’räsp rjv - oiik akoyov.) ur.l.d tö ev erepco uovov ouEaOai.
yuuai 8s ptj. tobt' äroirov.
Denn daß das, was auch in der Erde wächst, auf Bäumen und anderen Pflanzen wächst,
ist nicht sonderbar, sondern kommt wie beim Efeu auf vielen (Gewächsen) vor. (Denn
dies ist noch unglaublicher, daß er [seil, der Efeu] sogar auf dem Geweih eines Hirsches
gesehen wurde und die Terpentin-Pistazie [nach Amigues, Index S. 339 s.v. repptvßoc /
repeßiv0o<;] auf dem Ölbaum und der sogenannte kleine Oktopus [nach Amigues, Index
S. 325 s.v. noZiradötov Polypodium vulgare L. ~ gewöhnlicher Tüpfelfarn] auf be­
stimmten Bäumen und was eher selten und wunderartig daherkommt, wie der Gewürz­
lorbeer [Laurus nobilis L. nach Amigues, Index S. 277 s.v. 1 8ä<pvr|], der schon einmal
auf einer Orientalischen Platane [Platanus orientalis L. nach Amigues, Index S. 325 s.v.
7t/.aTavoc] und auf einer Eiche vorkam, und alles andere, was man als Wunderzeichen
ausgibt. Denn wenn der Samen auf etwas, das durch einen Fäulnisprozeß erdartig ge­
worden ist, fällt, beginnt er zu sprießen und infolgedessen hält er sich am Leben, indem
er Nahrung vom Baum nimmt; dies ist auch im Falle des Efeus, der auf dem Geweih
sprießt, wenn dem denn so ist, nicht unvernünftig anzunehmen.) Im Gegensatz dazu
seltsam ist, daß etwas ausschließlich auf etwas anderem wächst und nicht auf dem Bo­
den.

Theophrast ist also bemüht, das Übernatürliche, das einige zur Erklärung des
Efeus auf dem Hirschgeweih heranziehen, innerhalb der Grenzen der Natur (vgl.
dazu auch Arist., De gen. an. IV 4, 770 b 9ff.) rational zu erklären, und erkennt
damit zu unserer Überraschung diesem Bericht, der vermutlich im Kontext des
Dionysos-Kultes41 von Bedeutung war, den Status einer „Mirabilie“ ab.
An der Theophrast-Parallele sehen wir, daß die Geschichte vom Hirsch
nicht ohne Vorbehalt von Aristoteles angeführt sein dürfte. Die Formulierung
„wenn dem denn so ist“ (eutep pv)42 läßt vermuten, daß auch Aristoteles schon
über den Wahrheitsgehalt nachdachte. Theophrast räumt dieser Geschichte so­
gar explizit eine gewisse Wahrscheinlichkeit ein (oök dÄoyov). indem er sich ei­

41 Vgl. Thompson, Komm, (wie Anm. 7) zu Hist. an. 611 b 17ff.: „probably a stag or fawn
with the Dionysiac plant about its homs would be looked on as something portentous.“
42 Eine Reflexion über den Wahrheitsgehalt kommt bei Theophrast häufiger vor, vgl. z.B.
De caus. plant. II 5, 5; III 24, 1; IV 6, 1; 12, 7; 12, 12; VI 8,4.

J
Fabulöses und Mirabilien bei Aristoteles 25

nen Fäulnisprozeß als Grund vorstellen kann.43 Wir wissen natürlich nicht si­
cher, ob Aristoteles ebenso dachte. Doch legt der Kontext,44 in dem diese Äuße­
rung getroffen wird, nahe, daß dieser Bericht unter ihnen auch diskutiert wurde.
Wir können aus dem Fehlen einer ausführlichen Diskussion dieser Information
bei Aristoteles nicht schließen, daß Aristoteles darüber nicht kritisch nachge­
dacht hat.

43 Theophrast scheint sich wohl vorzustellen, daß das junge Geweih über einen Fäulnis­
prozeß trockener wird (örav yctp eig yew8e<; yeyevrpievov öiü ofp./iv to cnrsppa),
wobei zunächst auch ein Nährboden mit entsteht. Vgl. dazu Arist., Meteor. IV 1, 379 a
16ff. Dabei geht er davon aus, daß der Efeu nach der Entstehung unter besagten Um­
ständen am Geweih wie am Stamm eines Baumes weiterlebt. Dieser Gedanke basiert
auf der falschen Annahme, daß Efeu eine Schmarotzerpflanze ist, die ihre Wurzeln in
den Baum treibt, deren Funktion als Haftwurzeln Theophrast somit verkennt (vgl. Hist.
plant. III 18, 9, wonach Efeu allen Bäumen schädlich sei, indem er ihnen Nahrung ent­
ziehe).
44 Es ist wichtig, das von Theophrast angeführte Beispiel des Hirsches mit Efeu im Kon­
text einer größeren Debatte über Wunderzeichen und Mißbildungen zu sehen, die wohl
breiten Raum innerhalb der Zusammenarbeit zwischen Theophrast und Aristoteles ein­
nahm. Das theophrastische Kapitel über die Mistel ist eine Beschäftigung mit dem Phä­
nomen der Mißbildungen (teperta) aus der botanischen Perspektive, wie es schon bei
Aristoteles in Phys. II 8, 199 a 33ff. angelegt ist, wo auch Mißbildungen bei Tieren be­
sprochen werden. Kapitel 3f. des IV. Buches der Schrift De generatione animalium of­
fenbart einen zu Theophrast, De caus. plant. II 17 parallel gebrauchten Begriff von
rspara. Genetische Mißbildungen an Tieren entsprechen dabei dem Auftreten von
bestimmten Pflanzen, die sich auf anderen Pflanzen bilden und dadurch die Vorstellung
eines göttlichen Vorzeichens bewirken. Es war offenbar ein gemeinsames Anliegen von
Aristoteles und Theophrast, gegen Aber- und Wunderglauben anzugehen, indem sie die­
se Mißbildungen, die auf den ersten Blick wider- bzw. übernatürlich scheinen, als na­
turgemäß zu erklären versuchen. Vgl. Wöhrle, Theophrasts Methode (wie Anm. 5), 77f.
und G. Wöhrle, Aristoteles als Botaniker, in: W. Kullmann/S. Föllinger (Hgg.), Aristo­
telische Biologie: Intentionen, Methoden, Ergebnisse; Akten des Symposions über Aris­
toteles’ Biologie vom 24.-28. Juli 1995 in der Wemer-Reimers-Stiftung in Bad Hom­
burg, Stuttgart 1997, 387-396, hier: 395. Dieses Anliegen ist an mehreren Stellen noch
nachvollziehbar, in bezug auf Geburten (Hist. an. V 14, 544 b 19ff; VI 21, 575 b 13f.;
22, 575 b 33ff.), weinende Kultstatuen (De caus. plant. V 4, 3f.), Opfertiere mit Mißbil­
dungen (De part. an. IV 2, 676 b 36ff.; Hist. an. I 17, 496 b 17ff.; b 24ff.; II 17, 507 a
19ff.), vgl. auch Hist. an. VI2, 559 b 16ff.
26 Stefan Schnieders

IV. Umgang mit Berichten Dritter: Beispiel Bienen


Abschließend möchte ich am Beispiel der aristotelischen Behandlung der Bie­
nen den Umgang mit schwer überprüfbaren Fremdinformationen, denen etwas
Fabulöses bzw. Mirabiliöses anhaftet, noch weiter vertiefen.
Von grundlegender Bedeutung ist dabei die Unterscheidung der drei Bie­
nenwesen: Königin (ßaotXeug, qyelicöv) - Arbeiterbiene (peXtrra) - Drohne (kt|-
tpfjv). Über die Entstehung bzw. Zeugung dieser drei Wesen hatte Aristoteles in
Hist. an. V 21, 553 a 17ff. und De gen. an. III 10, 759 a 8ff. ausführlich gespro­
chen. Es ist der erschwerten Beobachtungssituation geschuldet, daß viele ver­
schiedene Meinungen bei den antiken Fachleuten45 über die Frage der Entste­
hung und der Geschlechtsbestimmung existierten. Es gab zwar schon die Theo­
rie von einer Begattung,46 doch fehlen Aristoteles dazu Beobachtungen, weswe­
gen er diese Möglichkeit ablehnt47 (im Gegensatz zu Hornissen und Wespen, wo
Beobachtungen zur Kopulation vorlagen48). Aristoteles listet also zunächst ein­
mal katalogartig alle bestehenden Meinungen sowohl in der Hist. an. als auch in
De gen. an. auf, nur in der aitiologischen Schrift De gen. an. unterzieht er sie
auch einer Prüfung (vgl. 10, 759 a 8: 'H 3e rwv uc/jitöv ycvEotc e%et koz./j)v
fotopiav).
Seine Vorgehens weise anhand eines Schlußverfahrens aus den die Bienen
betreffenden Beobachtungen hat Sabine Föllinger genauer untersucht:49 Dem­
nach spielen bei der Abwägung aller Theorien zur Entstehungsfrage Analogien
zu anderen Tieren50 eine wichtige Rolle und ebenso die Berücksichtigung
gewisser Regeln in der Natur, die Aristoteles aufgrund seiner großen Erfahrung
im Erforschen der Tierwelt erkannt hat.

45 Zur schwierigen Identifizierung dieser Fachleute vgl. S. Föllinger, Die aristotelische


Forschung zur Fortpflanzung der Bienen, in: W. Kullmann/S. Föllinger (Hgg.), Aristo­
telische Biologie (wie Anm. 44), 375-385, hier 376 m. Anm. 7.
46 Vgl. Hist. an. V 21, 553 a 32f., De gen. an. III 10, 759 a 13f.: ij yewav nur«.;' i) röv ucv
tpepstv röv 8e yewäv.
47 Vgl. De gen. an. III 10, 759 b 20ff.
48 Vgl. De gen. an. III 10, 761 a 8: (Smat yäp nro/.ZaKic 6 OTvSvaapöq aurihv.
49 Föllinger (wie Anm. 45).
50 Dieses Verfahren gibt Aristoteles selbst in De gen. an. III 10, 759 a 24ff. an (rd 8’ ek
T<nv Koivotspwv toi; (iZz.oi; wcöoic). Vgl. auch F. Roscalla, Le api tra mito e scienza, in:
O. Longo/A. Minelli (edd.), Entomata. Gli insetti nella scienza e nella cultura dall’anti-
chitä ai giomi nostri (Memorie. Classi di scienze fisiche, mathematiche e naturali Vol.
XXXIX), Venezia 2002, 131-149, hier 142.
Fabulöses und Mirabilien bei Aristoteles 27

Aristoteles kommt zu folgendem Ergebnis: Die drei Bienenwesen sind


hermaphroditisch,51 ihre Zeugung erfolgt ohne Kopulation: Die Königin zeugt
sich (in Spontanentstehung) und die Arbeiterbienen, die Arbeiterbienen wiede­
rum die Drohnen, die Drohnen zeugen nicht mehr (De gen. an. III 10, 760 a
27ff.). Von vornherein ist dabei an die Analogie zu den Fischen gedacht, bei
denen manche geschlechtslos seien und ohne vorherige Kopulation zeugen
Diese Analogie stärkt - bei aller Zurückhaltung, die Aristoteles an­
könnten:5253
gesichts der nicht ganz geklärten Sachverhalte übt5j - von vornherein die These,
daß Bienen geschlechtslos sind und trotzdem zeugen. Hinzu kommen andere
Erwägungen.54 Bei den Bienen ist nun die Besonderheit, daß diese kopulations­
lose Zeugung eine andere Art hervorbringt, die jedoch verwandt ist (De gen. an.
III 10, 760 all: ctAA’ e<; erepov pev mxyyevoüc 5e yevou^). Dieser erstaunlichen
Besonderheit bei den Bienen verleiht Aristoteles sogar das Prädikat „göttlich“.55
Für unseren Kontext ist interessant, daß Aristoteles immer auf Nachvoll­
ziehbarkeit bzw. Möglichkeit der jeweiligen Berichte achtet.56 Wir haben hier
den umkehrten Fall vorliegen, wie bisher beschrieben: Aristoteles gibt deutlich
zu erkennen, wie er zu bestimmten, uns vielleicht eigenartig erscheinenden Be­

51 Vgl. Föllinger (wie Anm. 45), 376; 381.


52 Vgl. De gen. an. III 10, 759 a 8ff.; 759 b 27f. Zu den gemeinten Fischen siehe Föllinger
(wie Anm. 45), 379, Anm. 26. Für die Begründung der geringen Anzahl der Königinnen
bemüht Aristoteles sogar eine Analogie mit den Löwen (De gen. an. III 10, 760 b 21 ff.
Vgl. Hist. an. VI 31, 579 b 8ff.). Diese Analogie beruht auf Berichten aus Syrien.
53 Vgl. Föllinger (wie Anm. 45), 379 m. Anm. 26.
54 Wie z.B. daß Waffenbesitz (Stachel) sonst im Tierreich im allgemeinen ein Zeichen für
Männlichkeit ist und Brutfursorge ein Zeichen für Weiblichkeit. Vgl. De gen. an. III 10,
759 b 2ff.; 759 b 29ff. und/fe^am V 21, 553 b 4ff. und 22, 553 b lOff.
55 Aristoteles kennzeichnet von vornherein die Bienen und ihre Entstehung als erstaunlich
und eigentümlich (De gen. an. III 10, 760 a 4ff.). Das Göttliche (Oetov, 10, 761 a 5)
sieht Aristoteles in der Tatsache, daß eine Art eine von ihr verschiedene (wenn auch
noch verwandte) Art hervorbringen kann. Mit dem Göttlichen im eigentlichen Sinne hat
diese Auffassung nichts mehr zu tun. Die Lesart bei Vergil, Georg. IV 220f., daß die
Bienen Anteil am göttlichen Geist haben (partem divinae mentis et haustus | aetherios),
ist bei Aristoteles nicht gemeint. Aristoteles hat offenbar traditionelle, dem religiösen
Bereich verhaftete Vorstellungen von der Biene stark reduziert. Zum traditionellen Bild
der Biene siehe F. Olck, Biene, in: Pauly/Wissowa (Hgg.), RE Band III, 1, 1897, Sp.
431-450, hier: Sp. 449, M. Davies/J. Kathirithamby, Greek Insects, London 1986, 69f.
56 Aristoteles reagiert in diesem Katalog von Meinungen auf seines Erachtens falsche mit
oi)K etikoyov (De gen. an. III 10, 759 b lf.; 5; 14, vgl. auch 760 b 2. Siehe Föllinger
[wie Anm. 45], 377).
28 Stefan Schnieders

richten steht:57 1.) sind diese Berichte durchaus potentielle Quellen für den Fall,
daß keine befriedigenden Beobachtungen vorliegen, ein Umstand, mit dem er
häufiger konfrontiert ist,58 2.) nimmt er solche Berichte ernst. Als Beispiel dafür
lassen sich die mannigfachen Berichte anfügen, die die These vertreten, daß die
Bienen ihre Brut von außerhalb herbeiholen. Es gibt verschiedene Berichte, daß
die Bienen die Brut von diversen Pflanzenblüten holen (vom KdXAuvrpov59, vom
Schilf [Kct/.aLtoc], vom Ölbaum [äZata]), und auch verschiedene Meinungen zu
der Entstehung der Brut auf diesen Blüten, nämlich entweder durch Urzeugung
oder durch ein anderes, von der Biene verschiedenes Lebewesen.60 All diese
Berichte werden von Aristoteles gleichermaßen berücksichtigt.
Dies läßt sich auch aus Aristoteles’ resümierender Überlegung zu den Bie­
nen schließen. Am Ende des Passus über die Entstehung der Bienen in De
generatione animalium formuliert er (III 10, 760 b 27ff.):

57 Besonders in bezug auf das Paarungsverhalten findet sich bei Aristoteles häufiger expli­
zite Kritik an der Wahrscheinlichkeit von bestimmten Berichten, vgl. De gen. an. I 15,
720 b 32ff. (vgl. Hist. an. V 6, 541 b 8ff.; 12, 544 a llff.); III 5, 755 b 7ff.; 6, 756 b
13ff.; b 15ff.; b 33ff.; 757 a 2ff.
58 Auf das Fehlen von Beobachtungen weist Aristoteles durchaus häufiger hin, vgl. z.B.
De gen. an. I 16, 721 a 14ff.; II 5, 741 a 32ff.; III 11, 762 a 27ff.; V 8, 788 b 9ff.; Hist. ’
an. V 18, 550 a 20ff.; 32, 557 b 24f.; VI 35, 580 a 19f.; IX 37, 622 b 15ff.; 41, 628 b
7ff.; 628 b 14ff.; 42, 629 a 14ff.; 50, 632 b 2ff.
59 Vgl. LSJ s.v. KäXlwrpov II.: „an unknown shrub“.
60 Vgl. Hist. an. V 21, 553 a 18ff.; De gen. an. III 10, 759 a llff. Vgl. die aristotelische
Widerlegung in De gen. an. III 10, 759 a 27ff. u.a. mit der Begründung, daß es nicht
einleuchtend sei, daß eine fremde Spezies die Bienenbrut hervorbringe.
Aristoteles kennt auch Beispiele für Tiere, die artfremden Spezies zumindest die Auf­
zucht (nicht die Entstehung) verdanken, vgl. z.B. die verschiedenen Wirtsvögel des Ku­
ckucks (Hist. an. IX 29, 618 a 8ff., vgl. Ps.-Arist., Mir. 3, Antig., Mir. 100) und den
(mirabiliösen) Bericht von der Adlerart Phene (tprjvr]), die die Kinder des Adlers (as-
rög), die dieser aus dem Nest geworfen hat (Hist. an. VI 6, 563 a 26f.; IX 34, 619 b
24ff., vgl. Antig., Mir. 46, 2) aufnimmt. Auch Theophrast erwähnt das Beispiel des Ku­
ckucks und der Biene, die von anderen Lebewesen hervorgebracht werden soll, in De
caus. plant. II 17, 9. Obwohl Theophrast Aristoteles’ Ausführungen kennt und deutlich
kennzeichnet, daß er sich auf Berichte anderer bezieht, nimmt er diese durchaus noch
als Stütze für die Theorie auf, daß es auch bei den Misteln der Fall sein kann, daß sie ih­
re Entstehung der Hilfe anderer Lebewesen verdanken (und zwar bei der Mistel der Hil­
fe der Vögel). Man kann daraus ersehen, wie ernst derartige Berichte genommen wur­
den.
Fabulöses und Mirabilien bei Aristoteles 29

’Ek lu;v ouv toü Xöyou m irepi tt]v Yevegiv to>v lic/.ittwv toi'itov e/eiv (paiverai töv
TpÖ7tov Kai c.K reiv ougßaivstv öokoüvtojv .Tcpl a.DTfic' 01'1 utp1 cfZi]n™i vc iä aupßai-
vovra iKavojc, ä/j..' säv äote Xr|(p0f| tote rij aio0f|cst pä/./.ov töv Xöycov 7tiotsvteov,
Kal Tok /.övoic sctv öuo/.ovoijnr.va Seikviicoöi tol: <paivo|isvotc.
So verhält es sich nun mit der Entstehung der Bienen nach Gründen und nach den darü­
ber bekannten Erfahrungen. Jedoch hat man darüber nicht ausreichende Beobachtungen,
aber sollten diese gemacht werden, so muß man der Beobachtung mehr Glauben schen­
ken, als der Theorie, und dieser nur, wenn sie zu dem gleichen Resultat führt wie die
Erscheinungen. (Übers, v. Aubert-Wimmer)

Hier bringt Aristoteles klar zum Ausdruck, daß die Beobachtungssituation bei
den Bienen nicht befriedigend ist; er gibt den Beobachtungen den Vorrang vor
logischen Schlußfolgerungen und behält sich die Fehlerhaftigkeit seiner Überle­
gungen vor. Aus dieser für die Methodik des Aristoteles wichtigen61 Aussage
läßt sich also etwas für sein Vorgehen bei mangelnder Informationslage bzw.
beim Vorliegen unsicherer Nachrichten gewinnen, nämlich, daß er oftmals
Wahrscheinlichkeitsüberlegungen angestellt haben dürfte und daß diese dem
Aristoteles auch dort erst einmal zu unterstellen sind, wo er sich nicht explizit
zu etwas äußert, sondern in der Historia animalium zunächst nur auflistet (und
eben nicht aitiologisch erklärt).

Zusammenfassung
Zusammenfassend ist zu sagen, daß Aristoteles für die Verhaltensforschung (d.
h. seine Untersuchung des Ethos der Tiere) viel stärker als sonst auch nicht di­
rekt überprüfbare Berichte einbezieht.
Wir werden in der Historia animalium als einer Faktensammlung62 nicht
erwarten können, daß Aristoteles die gegebenen Fakten weiter erörtert oder ab­
wägt. In unserem speziellen Fall des IX. Buches verwundert es daher nicht, daß
Aristoteles Informationen aus zweiter Hand oder in Auseinandersetzung mit Fa­
beln, Dichtung oder Volksglauben auflistet und nicht weiter dazu Stellung be­
zieht. Dennoch dürfen wir ihm nicht unterstellen, daß er sich über die Proble­
matik seiner Quellen nicht im klaren war. Vielmehr entsteht der Eindruck, daß
Aristoteles neben korrekten Beobachtungen auch Informationen festhält, die

61 Vgl. A.L. Peck, Aristotle, Generation of Animais. With an English Translation, Lon-
don-Cambridge/Mass. 1942, 346, Anm. a, und Föllinger (wie Anm. 45), 378, Anm. 21
mit weiterer Literatur.
62 Zum Verhältnis der Historia animalium als einer Faktensammlung zu den aitiologischen
Schriften des Aristoteles vgl. Kullmann, Aristoteles. Über die Teile der Lebewesen (wie
Anm. 2), 194 und 3 61 f. zu De part. an. II 1, 646 a 11 f.
30 Stefan Schnieders

grundsätzlich für ihn im Bereich des Möglichen liegen und die seiner großen
These von intelligenten Erscheinungen im Tierreich zuzuordnen sind. Auch die­
se sammelt er. Eine andere Frage ist, ob und wie er dieses Material dann ausge­
wertet hat.
Martin F. Meyer (Koblenz)

Aristoteles’ Theorie der Atmung in De Respiratione

Aristoteles behandelt das Thema der Atmung an verschiedenen Stellen seines


Werkes. Eine zusammenhängende Erklärung liefert der bei August Immanuel
Bekker unter dem Titel De respiratione (IlEpi äva7rvof]<;) überlieferte Text. Der
Kem dieser Ausführungen läßt sich auf die Formel bringen, daß die Atmung der
Kühlung dient und deshalb nur Tiere atmen, die einer solchen Kühlung bedür­
fen. De respiratione ist keine eigenständige Pragmatie, sondern ein in De
iuventute et senectute et de vita et morte eingebundener Exkurs. De iuventute
und De respiratione sind in einem Zuge konzipiert und bilden eine thematische
Einheit (so auch King 2001; ders. 2011, 102). Im ersten Satz von De iuventute
kündigt Aristoteles an, er wolle nun über Jugend, Alter, Tod und Leben spre­
chen. Auch sei es nötig, die Ursachen der Atmung zu behandeln (476 b 10-12).
Jugend und Alter kommen dann aber gar nicht zur Sprache. Erst De respiratione
17-21 nimmt die Frage von Lebenserhaltung und Tod wieder auf. Daß De
iuventute und De respiratione von Aristoteles als einheitliche Pragmatie aufge­
faßt und dies in der Antike auch so verstanden wurde, bestätigt ein Blick in das
veritable sog. Ptolemaios-Schriftenverzeichnis (Ms. Ayasofya 4833). In der von
Paul Moraux angefertigten griechischen Rückübersetzung der (in arabischer
Sprache überlieferten) Liste werden beide Texte unter dem Titel PlEpi Ccopg Kai
Oavärou als zusammenhängendes Buch geführt.1

1 Vgl. P. Moraux 1951, 297. Der Pinax ist überliefert als Teil des Ptolemaios-al-gharlb.
Über die Identität dieses Ptolemaios herrschte in der Forschung lange Unklarheit. Heute
wird angenommen, daß es sich hier um einen Zeitgenossen des Jamblichos im 4. Jh. n.
Chr. (vermutlich den Verfasser einer Aristoteles-Vita) handelt. Das Verzeichnis enthält
insg. 88 Titel des Aristoteles. Der ,erste Teil' der Liste (Moraux 1951, 295f.) enthält 28
Titel exoterischer Schriften (u.a. Dialoge, Platon-Epitomen), die fast vollständig verlo­
ren sind. Der .mittlere Teil' der Liste beinhaltet 28 Titel der logischen, ethisch­
politischen und naturwissenschaftlichen Schriften (plus 13 Büchern der hier sog. Meta­
physik). Die Anordnung deckt sich erstaunlich genau mit aktuellen Forschungen zum
szientifischen Programm des Aristoteles. Dies gilt v.a. für das erkennbare System der
(sich an die Abhandlungen über die unbelebte Natur anschließenden) biologischen
Schriften, beginnend mit Ilepi \|rt>xfjs; (3 Bücher) und endend bei ITepi cpvrwv (2 Bü­
cher).

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