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Trier : WVT Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2013
ISSN 0942-0398; ISBN 978-3-86821-471-0
Band 23 (2013)
* Für Rat bei der Abfassung dieses Aufsatzes und sachliche Anregungen möchte ich
Herrn Professor Wolfgang Kulimann herzlich danken.
1 Siehe z.B. P. Louis, Les animaux fabuleux chez Aristote, Revue des Etudes Grecques,
LXXX, 1967, 242-246, Franck Patinaud, L’Inde d’Aristote, in: Tozai Nr. 6, 2001, 73-
102, W. Kulimann, Die Beschreibung des Krokodils in Aristoteles’ Zoologie, in: J. Alt-
hoff-'B. Herzhoff/G. Wöhrle (Hgg.), Antike Naturwissenschaft und ihre Rezeption, Bd.
X Trier 2000, 83-96.
2 Ich folge der traditionellen, durch Theodoras Gaza hergestellten Buchreihenfolge, wie
sie auch in der Ausgabe von Bekker erscheint. Gute Grunde gegen die der handschriftli
chen Überlieferung folgende Zählung in der Ausgabe von D.M. Balme, Aristotle.
Historia animalium vol. I Books I-X: Text. Prepared for publication by Allan Gotthelf
(Cambridge Classical Texts and Commentaries 38), Cambridge/Mass. 2002 liefert W.
Kullmann, Aristoteles. Über die Teile der Lebewesen, übersetzt und erläutert, in: Aris
toteles. Werke in deutscher Übersetzung, firsg. v. H. Flashar, Bd. 17 Teil I, Berlin 2007,
192f„ Anm. 159.
3 L, Dittmeyer, Die Unechtheit des IX. Buches der Aristotelischen Tiergeschichte, Blätter
für das Bayer. Gymnasialschulwesen, Dreiundzwanzigster Band, 10. Heft, München
1887, 16ff.; 64ff.; 145ff.
4 D.M. Balme, Aristotle. History of Animais Books VII-X. Edited and translated by D.M.
Balme. Prepared for publication by Allan Gotthelf (Loeb Classical Library), Cambridge,
12 Stefan Schnieders
Geschichten harrt noch immer einer Erklärung. Vor allem den Vorwurf der un
kritischen Übernahme wollen wir im folgenden eingehender prüfen.
Der Aufsatz von Dittmeyer ist prinzipiell durchaus zu loben: Er macht en
detail und scharfsinnig auf die meisten inhaltlichen Widersprüche und Schwie
rigkeiten aufmerksam, mit denen wir konfrontiert werden. Andererseits ist es
ihm zu Gute zu halten, daß er den Inhalt des IX. Buches an der wissenschaftli
chen Qualität des Naturwissenschaftlers und Forschers Aristoteles mißt, womit
er ein durchaus zutreffendes Bild vom Stagiriten zeichnet. Die Frage ist aber, ob
das Vorgehen des Aristoteles in der Anatomie mit demjenigen in seinen verhal
tensbiologischen Studien, wie sie im IX. Buch vorliegen, vergleichbar ist. Die
Verhaltensforschung, d.h. die Beschäftigung mit den ,Charakteren1 der Tiere
(p0r|), wird programmatisch schon in Hist. an. 1 1, 487 a 1 lff. angekündigt (vgl.
den Rückbezug in VIII 1, 588 a 17f. und die Parallele bei Theophrast, Hist,
plant. I 1, l*5), die Einlösung dieses Programms im VIII. und IX. Buch scheint
aber oftmals den Vorstellungen der modernen Gelehrten nicht zu entsprechen.
Dabei ist jedoch die historische ForschungsSituation des Aristoteles zu berück
sichtigen. Das Denken der Menschen ist zu seiner Zeit noch sehr stark von einer
anthropomorphen Sicht der Tierwelt bestimmt, wie die zeitgenössischen physio-
gnomischen Schriften zeigen.6 Außerdem fehlen Aristoteles für den Bereich der
Ethologie in höherem Maße die Möglichkeiten zu genauen Beobachtungen. Die
hohe Exaktheit der Ergebnisse, an die wir von seinen anatomischen Studien her
gewöhnt sind, kann in seiner Tierpsychologie nicht erwartet werden. Ferner
bringt es der Charakter des IX. Buches mit sich, daß Aristoteles sich häufiger
auf Informationen Dritter verlassen muß, da die Möglichkeit zu direkten Be
obachtungen oder zur Überprüfung seiner Informationen oftmals fehlt. Häufig
sind diese Informationen für uns auf den ersten Blick von zweifelhaftem Wert.
Wir wollen nun aus dem IX. Buch nur einige Beispiele herausgreifen.
Mass./London 1991, 9f. Vgl. auch W. Kulimann, Aristoteles und die moderne Wissen
schaft (Philosophie der Antike Bd. 5), Stuttgart 1998, 373, Anm. 167 (mit weiterer Litera
tur) und ders., Aristoteles. Über die Teile der Lebewesen (wie Anm. 2), 193, Anm. 160.
5 Vgl. G. Wöhrle, Theophrasts Methode in seinen botanischen Schriften (Studien zur an
tiken Philosophie Bd. 13), Amsterdam 1985, 5; 98.
6 Vgl. z.B. die Tiervergleiche in Ps.-Arist., Physiog. 3, 808 b 34ff. (Pferd, Esel, Schwein,
Hund); 5, 809 b 33ff. (Löwe); 6, 810 a 20ff. (Raubvögel und Sumpfvögel mit
Schwimmfußen) und die Arbeiten von A. Degkwitz, Die pseudoaristotelischen ‘Physio-
gnomica’ Traktat A. Übersetzung und Kommentar, Diss. Freiburg 1988 und S. Vogt,
Aristoteles, Physiognomica, übersetzt und kommentiert von S. V., in: Aristoteles. W’er-
ke in deutscher Übersetzung, hrsg. v. H. Flashar, Bd. 18 Teil VI, Berlin 1999. (Hinweis
von W. Kulimann).
Fabulöses und Mirabilien bei Aristoteles 13
Doch kann von Gedankenlosigkeit nicht die Rede sein, sondern es ergibt sich
durchaus eine innere Ordnung: Dem entspricht auch, daß Aristoteles eine Typo
logie von Aggressionen gibt, die der modernen Verhaltensforschung nahekom
men: So lassen sich a) interspezifische Aggression, b) intraspezifische Aggres
sion, und c) artspezifische Aggression unterscheiden.78
Daß bestimmte Tiere aneinander geraten, ist dabei nicht im Sinne des
menschlichen Krieges und der menschlichen Freundschaft gemeint. Zunächst
(IX 1, 609 a 4-610 a 14) geht Aristoteles hauptsächlich auf Feindschaften bei
den Vögeln ein. Im einleitenden Abschnitt gibt er einen Hinweis, wogegen sich
seine Bemühungen in diesem Abschnitt richten {Hist. an. IX 1, 608 b 27ff.):
7 Dittmeyer (wie Anm. 3), 68. Vgl. D’A.W. Thompson, Historia animalium, in: J.A.
Smith, W.D. Ross (ed.), The Works of Aristotle. Translated into English, vol. IV Ox
ford 1910 zu 609 a 2ff.: „What follows is largely fabulous, partly mystical, and appar-
ently from another hand.“
8 Vgl. Kullmann, Aristoteles und die moderne Wissenschaft (wie Anm. 4), 442f. m. Anm.
357 u. 358 (mit weiterer Literatur).
14 Stefan Schnieders
ö0ev Kat Tag SisSpeiag Kai rag Guvcöpciag ot pavtstg Zaußävona!. SisSpa psv rä
troXepia ri0£vreg, avvsSpa 8s rä stpr)vevovra zrpöc äü.rp.a.
Von daher erklären die Seher das Auseinandersitzen und Zusammensitzen (seil, der Vö
gel), indem sie die auseinandersitzenden als verfeindet bestimmen, die zusammensit
zenden als friedlich zueinander.
An einigen Stellen wird nun eine Auseinandersetzung mit antiken Fabeln von
Aristoteles ganz explizit gemacht; ich will zwei Beispiele herausgreifen:
Das erste Beispiel betrifft Hist. an. IX 1, 609 b 11 ff. Dort wird berichtet,
daß Trochilos (rpoxiz.oq) und Sitte (oirrr]) Feinde des Adlers sind. Der Trochilos
(der mit dem ägyptischen in der oben genannten E.E.-Stelle nicht identisch ist)
wird gewöhnlich als Zaunkönig (Troglodytes troglodytes) identifiziert,1 die
9 Thompson, Historia animalium (wie Anm. 7) zu IX 1, 609 a 4ff. glaubt an die Auswer
tung eines Wahrsagerkatalogs, anders Balme, History of animals (wie Anm. 4), 221,
Anm. a.
10 Vgl. Hist. an. IX 6, 612 a 20ff. Zur zutreffenden Beobachtung der Symbiose von Kro
kodil und der Regenpfeiferart (Krokodilwächter, Pluvianus aegyptius L.) vgl. Kull-
mann, Beschreibung des Krokodils (wie Anm. 1), 87f.
11 Vgl. D’A.W. Thompson, A Glossary of Greek Birds, London-Oxford 1936 (Nachdruck
1966), 287f. s.v. TPOXI'AOE, a, W.G. Amott, Birds in the Ancient World from A to Z,
London/New York 2007, 247 s.v. Trochilos (1).
Fabulöses und Mirabilien bei Aristoteles 15
Sitte als Kleiber (mit den Unterarten Sitta europaea, S. neumayer, S. krueperi)u
Im folgenden gibt Aristoteles nur noch hinsichtlich des Kleibers den Grund für
diese Feindschaft an: der Kleiber zerbricht dessen Eier,1213 außerdem sei der Ad
ler als Raubvogel allen feindlich. An späterer Stelle, außerhalb des Kapitels
über Aggressionen, wird deutlich, daß Aristoteles vermutlich auf Fabeln von der
Feindschaft zwischen Adler und Zaunkönig reagiert, denen er das verhaltensbio
logische Phänomen der Aggression entgegenstellt: Hist. an. IX 11, 615 a 17ff.
zeigt deutlich, daß Aristoteles an eine Äsop-Fabel denkt, auf die auch bei Plu-
tarch, Praecepta gerendae reipublicae 806 Ef. und Plinius, Hist. nat. X 74, 203
angespielt wird. In dieser Äsop-Fabel vom Adler und Zaunkönig ging es wohl
um den Wettstreit, daß derjenige König der Vögel werde, wer höher fliegen
kann. Da der Zaunkönig eine List anwendet, erhält dieser den Namen des Kö
nigs. Hervorzuheben ist, daß Aristoteles beim Zaunkönig im Gegensatz zur Pra
xis der Fabel nicht die List und Schläue betont.
Jedoch läßt sich dieses feindschaftliche Verhältnis zwischen Adler und
Zaunkönig, von dem Aristoteles spricht, nicht verifizieren. Für den europäi
schen Zaunkönig ist dieses Verhalten nicht belegt, für die amerikanischen Arten
von Zaunkönigen aber ist bekannt, daß sie zumindest die Eier anderer Arten be
schädigen.14
Ein weiteres Beispiel, das einen direkten Bezug zur Fabel erkennen läßt,
findet sich in Hist. an. IX 1, 609 a 13ff.: hier wird ein Verhalten beschrieben,
das Aristoteles als fiawr'Veiv („bewundern“) kennt. Hinter diesem beschönigen
den Ausdruck verbirgt sich, wie Aristoteles weiß, ein aggressives Verhalten von
Sperlingsvögeln gegenüber dem Steinkauz, der von diesen umschwärmt und mit
Federzupfen belästigt werde. Die moderne Verhaltensforschung kennt dieses
Phänomen als Mobbing (dt. „Hassen“).15 Aristoteles beschreibt dieses Verhalten
12 Vgl. Thompson, Glossary of Greek Birds (wie Anm. 11), 260 s.v. XTTTH. Amott (wie
Anm. 11), 215f. s.v. Sitte.
13 Hist. an. IX 1, 609 a 12f. erscheint aber der Zaunkönig unter dem Namen öp/i/.oc
durchaus als Eierfresser (des Steinkauzes).
14 Vgl. J. Picman/J.-C. Belles-Isles, Intraspecific egg destruction in marsh wrens, Anim.
Behav. 35, 1987, 236-246, hier 245. Insofern ist zumindest Dittmeyers (wie Anm. 3), 68
grundsätzliche Kritik, daß Insektenfresser keine Eier fressen, abzumildem.
15 Vgl. E. Bezzel/R. Prinziger, Ornithologie, 2. Aufl., Stuttgart 1990, 257: „Relativ weit
verbreitet ist auch außerhalb der Brutpflege das Hassen (mobbing) auf potentielle Fein
de. Kleinvögel (meist Angehörige mehrerer Arten) scharen sich z.B. um eine sitzende
Eule im Tagesversteck oder auch um einen Würger mit auffälligen Bewegungen und
häufig situationsspezifischen Rufen. Die Bedeutung ist nicht ganz klar; möglicherweise
handelt es sich um Weitergabe von Informationen an unerfahrene Artgenossen; auch
16 Stefan Schnieders
richtig als Folge der von der Eule ausgehenden Feindschaft, die dazu fuhrt, daß
ihre (potentiellen) Beutevögel die Eule mobben.16
Aristoteles hat diese Einsichten im Austausch mit Jägern gewonnen, von
denen er berichtet, daß sie sich dieses Verhalten zunutze machen, um Sperlings
vögel mit einem Steinkauz als Lockvogel zu fangen. Vasenbilder zeigen diese
Jagdmethode.17 Es ist aber sicherlich Aristoteles’ Verdienst, dieses Verhalten
richtig als aggressives Verhalten beschrieben zu haben. In der antiken Literatur
findet sich aber auch eine andere Erklärung für das Verhalten der Sperlingsvö
gel.
Eine bei Dion Chrysostomos, or. 12, 13-16 (vgl. auch or. 12, 1 und 6-8)
überlieferte Äsop-Fabel erzählt die Geschichte von der weisen Eule, die Rat
schläge gibt. Diese Fabel soll das Aition dafür geben, warum die kleinen Vögel
ihr folgen und sie für ihre Weisheit bewundern (aGompa^ov): Nachdem diese
nämlich den Rat der Eule nicht beachtet hatten, nicht auf die gerade heranwach
sende, erste Eiche zu ziehen, um nicht Opfer der auf dieser wachsenden Mistel
zu werden, aus der die Menschen den Vogelleim gewinnen, lernten sie aus den
Folgen und erkannten ihre Weisheit. Die Eule habe aber seitdem nicht mehr ge
sprochen.
Diese Fabel dürfte auch dem Aristoteles bekannt gewesen sein. Er kritisiert
die Fabel zwar nicht direkt, sondern gibt sofort die richtige Erklärung, daß hin
ter dem auch in der Jägersprache verwendeten Ausdruck des Bewunderns ein
aggressives Verhalten der Sperlingsvögel gegenüber ihrem (potentiellen) Feind
steckt, jedoch ist anzunehmen, daß der aristotelischen Angabe eine Auseinan
dersetzung mit dem fabulösem Stoff vorausging, wobei die Erklärung der Fabel
könnte der Feind verwirrt werden. Schwerfällig fliegende größere Greifvögel werden
von gewandteren kleineren Arten (z.B. Rabenvögeln, großen Regenpfeifern, Schnep
fenvögeln, Möwen usw.) oft auch außerhalb der Fortpflanzungszeit und der Kolonie
oder Nestumgebung angegriffen und verfolgt und sogar oft mit Erfolg vertrieben. Die
ses gemeinsame Feindverhalten fiihrt zu inter- und intraspezifischen Ansammlungen.“
Aristoteles kennt das Phänomen des Mobbings zudem nicht nur speziell für den Stein
kauz, sondern erwähnt auch in bezug auf andere Arten ähnliches, vgl. Hist. an. IX 29,
618 a 29f. und 32, 619 a lff.
16 Vgl. C. Berger, Owls, Mechanicsburg, PA 2005, 1: „Songbirds seem to instinctively
recognize an owl-like shape - and to know that it represents danger. Researchers who
tested this idea found that if they set a chunky, rounded, mottled-brown form out on a
perch, the little birds went nuts. This behavior - reacting to anything even vaguely owl-
like - is an adaptive response, as owls often catch and eat small songbirds.“
17 Vgl. E. Böhr, Vogelfang mit Leim und Kauz, Archäologischer Anzeiger 4, 1992, 573-
583 mit mehreren Abbildungen, J. Boardman (Hg.), The Oxford History of Classical
Art, 1993, 71f.
Fabulöses und Mirabilien bei Aristoteles 17
für dieses Verhalten keine Rolle mehr spielt. Beachtenswert ist nämlich, daß
Aristoteles die Weisheit der Eule in der Fabel nicht thematisiert, obwohl es zum
Thema des IX. Buches, der Behandlung der Klugheit von Tieren, vordergründig
gut passen würde.
Auch eine Auseinandersetzung mit Tiervergleichen bei Homer ist im Ag
gressionskapitel zu beobachten, die für Aristoteles auch sonst nicht ungewöhn
Hist. an. IX 1, 610 a 13f. berichtet z.B. von der Feindschaft zwischen
lich ist.1819
Löwe und Thos (vgl. 44, 630 a 9ff., dort auch von Feindschaft mit Hunden).
Aufgrund anderer Passagen hat man den Thos als Schakal oder als Indische
Zibetkatze (Viverra zibetha) identifiziert, doch eine Konkurrenz zum Löwen
ist bei beiden Arten in der Realität nicht gegeben.20 Wahrscheinlich liegt aber
hier eine Auswertung von Homer zugrunde. Man vergleiche Hom., Ilias XI,
479ff.:21
iliLiCKpavot giv 9we; ev oupsot SapSärtrovoiv
ev vspei OKigpro’ siri te Liv ijvayE Salpxov
atvTT|V' Oojec p;~v te i’iiK ipsoav. uiitup ö öütttei.
So zerfleischen ihn (seil, den Hirschen) die rohfressenden Schakale in den Bergen
In einem schattigen Waldstück. Doch herbei führt einen Löwen der Dämon,
Einen reißenden, da fliehen die Schakale auseinander, der aber frißt.
(Übers, v. W. Schadewaldt)
Wir haben gesehen, daß Aristoteles bemüht ist, fabulösen Stoff rational zu un
tersuchen und auf einen naturwissenschaftlich haltbaren Kem zu reduzieren.
Dabei fällt vor allem jegliche Form von Anthropomorphismus fort.
Daß die Fakten nicht immer korrekt sind, ist dabei zwar problematisch;
dieser Umstand darf aber nicht das Kriterium für die Echtheit oder Unechtheit
des IX. Buches bilden. Es bleibt uns in den meisten Fällen verborgen, wie Aris
toteles im einzelnen zu seinen Ergebnissen gelangt ist und welche Zusatzinfor
18 Vgl. B. Herzhoff, Homers Vogel Kymindis, Hermes 128, 2000, 275-294, hier: 288 m.
Anm. 52 (mit weiterer Literatur).
19 So H. Aubert/F. Wimmer, Aristoteles, Thierkunde. Kritisch berichtigter Text mit deut
scher Übersetzung, sachlicher und sprachlicher Erklärung und vollständigem Index,
Leipzig 1868, I 69 Nr. 20, die aufgrund der aristotelischen Größenangaben den Schakal
ausschließen.
20 Herr Professor Ragnar Kinzelbach hat mich unter Bezugnahme auf das Nilmosaik von
Praeneste (vgl. seinen Beitrag in diesem Band) darauf aufmerksam gemacht, daß unter
dem Thos eine Hyäne zu verstehen sein könnte, die mit dem Löwen in starker Beute
konkurrenz lebe. Dies scheint jedoch eine spätere Identifizierung zu sein, wie sich aus
der Beschreibung der kurzen Beine des Thos bei Aristoteles (Hist. an. VI 35, 580 a 30)
ergibt, was eher nicht auf die Hyäne paßt.
21 Vgl. auch Ilias XIII, lOlff.
18 Stefan Schnieders
mationen (z.B. von Jägern etc.) ihm jeweils zur Verfügung standen (ganz deut
lich z.B. im genannten Fall des Steinkauzes und der Sperlingsvögel). Sicherlich
sind die fabulösen Erzählungen selbst nicht die erste Quelle. Eher scheint Ari
stoteles zu interessieren, wie bzw. auf Grundlage welchen realen Kems be
stimmte Vorstellungen in Fabeln, bei Dichtem oder im Volksglauben zustande
gekommen sind. Die vielen Beispiele für Aggressionen, die aufgrund von Kon
kurrenzsituationen in der Tierwelt zu beobachten sind, werden der Grand dafür
gewesen sein, dieses Phänomen auch hinter Erzählungen zu vermuten, die er
nicht weiter überprüfen konnte.
22 Hist. an. VIII 5, 594 a 25ff.: rwv öe TETpattööcov Kai (cooroKouvrojv xa. psv aypra Kai
Kap/apoSovra 7tävra aapKotpdya’ nÄpv toijc Vukoh; cpaaiv orav 7tetvröatv eoöistv rtva
yfjv, povov 5f] roüro r<öv Lnmw iroat; 8’ ajj.oTt psv ov% änTOvrai, örav 8e Käpvcoot,
KaÜÜTtEp Kai al küvsc örav Kaiivoot EOÖiovaai ävepoCoi Kai KaSaipovrai. („Bei den
Vierfüßern und Lebendgebärenden sind die wilden, mit Sägezähnen versehenen alle
samt Fleischfresser bis auf die Wölfe, von denen man sagt, daß sie, wenn sie Hunger
haben, eine bestimmte Sorte Erde fressen, dieses ist aber das einzige Tier aus dieser
Gruppe. Ansonsten rühren sie Gras nur an, wenn sie krank sind, wie auch die Hunde,
wenn sie krank sind, es erst essen und dann wieder erbrechen und sich dabei reini
gen.“). Vgl. auch in Hist. an. VIII 26, 605 a 25ff. eine weitere Beobachtung von Geo-
phagie beim Elefanten, dem das Fressen von Erde schade, wenn es nicht regelmäßig
geschehe.
Fabulöses und Mirabilien bei Aristoteles 19
legt, durchaus darüber nachgedacht haben, ob auch die Geophagie als Selbstme
dikation angesehen werden kann oder ob sie tatsächlich ausschließlich der Nah
rungsaufnahme (bei großem Hunger) dient. Ich zitiere aus einem modernen
Werk ähnliche Vermutungen:
Auch bei den nordamerikanischen Wölfen „scheint der Kot oft zu einem großen Teil
aus Erde zu bestehen“ und obwohl Geophagie bei Wölfen bislang nicht beobachtet wer
den konnte, ist sicher, dass ihre domestizierten Verwandten häufig Dreck, Erde, Sand
und Steine fressen.23
23 C. Engel, Wild Health. Gesundheit aus der Wildnis. Wie Tiere sich selbst gesund erhal
ten und was wir von ihnen lernen können. Übersetzung ins Deutsche: Martina Scholz,
Bernau 2004, 86.
24 Eine ähnliche Sammlung von Berichten, die auch zu einem großen Teil in die
Mirabilienliteratur übernommen wurden, liefert das Kapitel 28 im VIII. Buch der Hist,
an. über tiergeographische Unterschiede.
25 S. Amigues, Index des noms de plantes, in: Dies., Theophraste, Recherches sur les
plantes Tome V. Livre IX. Texte etabli et traduit par S. A., Paris 2006.
26 Da der Hirsch zu den Wiederkäuern (fiuminantia) zählt, konjiziert Louis b 21 opryavow;
statt des überlieferten KapKivov;, Thompson SiKiapov.
27 Da Aronstab jedoch zu den Giftpflanzen zählt, ist es unwahrscheinlich, daß der Bericht
über die Aufnahme durch den Bären, zutreffend ist (Hinweis von R. Kinzelbach).
20 Stefan Schnieders
278 s.v. 1 StKiapov), wenn sie von Pfeilen getroffen werden (6, 612 a 3ff.),28
der Leopard (7t«pöaZic) fresse Menschenkot gegen eine TOpöaMcr/'/jk2930genann
te Giftpflanze (6, 612 a 7ff.),j0 gegen Schlangenbisse schütze sich der ägypti
sche Ichneumon (Herpestes Ichneumon nach Liddell/Scott/Jones, A Greek-
English Lexicon, Oxford 1983 [LSJ]) durch einen Lehmüberzug (6, 612 a 15ff.),
die Schildkröte fresse Origanon, nachdem sie eine Schlange gefressen hat (6,
612 a 24ff.),31 das Wiesel fresse das wohl zur Gattung der Rauten gehörende
Peganon (Raute [Ruta L. spp.], z.T. Weinraute [/?. graveolens L. (kultiviert)],
Gefranste Raute [/?. chalepensis L. (wild)] nach Amigues, Index S. 324 s.v.
mpyavov) zum Schutz vor Schlangen (6, 612 a 28ff.),32 weil die Schlange den
Geruch nicht vertragen könne,33 die Schlangenart Drakon entnehme der Pikris
28 Vgl. Ps.-Arist., Mir. 4 und Antigonos, Mir. 30. Für Aristoteles ergibt sich vielleicht eine
gewisse Wahrscheinlichkeit dadurch, daß das Diktamnon, das in Kreta nur an bestimm
ten Plätzen wachse, nach Theophrast, Hist, plant. IX 16, 1 für seine erstaunliche Wir
kung (Oavpaoröv 5e rfj Svväpei Kai ttpo; Ä/.ciw xpijotjiov) berühmt war, v.a. bei Gebur
ten (vgl. Corp. Hipp., De mnlierum affectibus 46; 71; 77; 78; 233; De exsectione foetus
4), womit dieser Bericht zumindest die Aufnahme in diese Liste verdient hat. Aristoteles
stellt jedoch deutlich heraus, daß er hier Meinungen wiedergibt (cpaoi, öokei). was
Dittmeyer (wie Anm. 3), 70 nicht berücksichtigt. Auch Theophrast a.a.O. bezieht sich
auf denselben Bericht. Die Quelle hat wohl nachdrücklich die Wahrheit der Aussage be
tont: AkpOsc 8s cpaoiv stvat Kai rö rrspi rcöv ßekrav ön tpayouaag örav toceijOmoi
SKßriZZciv. Tb jiev onv biKtapvov toioütöv ts Kai roiaurac c/p. räc <Gvain:ic. („Man
versichert auch, daß wirklich die Ziegen, wenn sie geschossen sind, und dies Kraut fres
sen, die Pfeile ausstoßen. So verhält es sich mit dem Diktamon und seinen Arzneikräf
ten. “ [Übers, v. K. Sprengel]). Vgl. auch Hist. an. VIII 26, 605 b 3f. über die Verabrei
chung von Öl bei Verwundung eines Elefanten mit einem Eisenteil: k&v ru'/.i] möppiov
tt ev t® Gcopatt evov, tö elatov EKßäXz.Et örav 7na>aiv, ä>c tpam.
29 Laut LSJ = aKÖvvrov = Eisenhut oder Wolfswurz (Aconitum), nach Amigues, Index, S.
266 s.v. ciKovttov Bilsenkraut. Die Wurzel ist nach Hist, plant. IX 16, 4f. giftig, ein ei
gentliches Gegengift gebe es nicht.
30 Es besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit für Aristoteles, da Menschenkot für Jagd
zwecke eingesetzt wurde. Der im Anschluß berichtete Trick des Leoparden, Tieren auf
zulauem, indem er sich verstecke, weil er wisse (Karavevor|Kutav), daß die anderen Tie
re seinen Duft besonders anlockend finden, wird von Aristoteles im Gegensatz zu der
Menschenkot-Geschichte deutlich als Hörensagen bezeichnet, worauf sich auch Theo
phrast, De caus. plant. VI 5, 2 mit Skepsis bezieht.
31 Vgl. Ps.-Arist., Mir. 11, Antigonos, Mir. 34.
32 Vgl. Antigonos, Mir. 35,1.
33 Peganon besitzt nach Theophrast ähnlich wie Origanon eine besondere Schärfe, vgl.
Hist, plant. VII 6, 1 (Sptgurspa Kai ia/upbrepa), De caus. plant. II 5, 3f.; III 19, 2; VI
14, 12. Nach De sudore 5 (fr. 9, 5, 14ff. Wimmer = 5, 31 ff. Fortenbaugh) produzieren
Kräuter wie Peganon einen schlechten Schweißgeruch und zusammen mit einer schon
Fabulöses und Mirabilien bei Aristoteles 21
65 yäp av cd iiyotoiv Kam rag Kpdnc.tc. oütcjc Kai ai rpotpai Kaö’ skcottov äppö-
aouatv, opoico; öe Kai ai r|8oval Kai ai X-vitat Kai ai ßotj0Etai rrpöc m rä9r] Kai täc,
StaOeastc, o Kai tpavspä 7totoijVTa noz.z.ä t&v iweiv sativ, ou zrpö; ra oupßaivovTa 7tä0r]
iiövov auropäraic, i/z.z.d Kai Kar’ aiitap rä; sScoSäq, öiav dzj.ü (päycooiv, erspov ert-
«jOiovra (KaOaTOp oi s/sig tö irrfzavov, örav rö aKöpSov).
Denn wie die Naturen (d.h. Baupläne der Lebewesen) sich gemäß ihrer Mischungen
verhalten, so paßt auch immer die jeweilige Nahrung (seil, zu den Mischungen des je
weiligen Lebewesens, das die Nahrung aufnimmt); auf ähnliche Weise (seil, steht es)
auch mit Lust und Unlust und den Maßnahmen gegen krankhafte Zustände, was man
bei vielen Tieren gut beobachten kann, und zwar nicht nur gegen Leiden, die plötzlich
auftreten, sondern auch bei der regulären Nahrungsaufnahme: Sie essen dann nämlich
etwas und etwas anderes hinzu (wie die Vipern das Peganon, wenn sie Knoblauch35 es
sen).
35 G.R. Thompson konjiziert rbv CKop7riov nach Hist. an. VIII 29, 607 a 27ff. statt des
überlieferten rö OKÖpSov (~ aKÖpoSov). Dies ist jedoch unwahrscheinlich. Besser paßt
die Parallele Hist. an. IX 6, 612 a 30f. zur Schlangenart Drakon, die den Saft der Pikris
bei Früchteverzehr (hinzu)ißt (siehe oben).
36 Vgl. auch Hist. an. VIII 2, 590 a 8ff.
J
Fabulöses und Mirabilien bei Aristoteles 23
37 Vgl. Hist. an. II 15, 506 a 23f., wo vom „sogenannten achainischen Hirsch1' die Rede
ist. Worauf sich „achainisch“ bezieht, ist umstritten, es könnte aber tatsächlich ein Hin
weis auf die Gegend sein, aus der diese Information stammt. Vgl. ähnlich TIpaK/.:;-
(DTtKoi KapKtvot (Hist. an. IV 2, 525 b 5; 3. 527 b 12, in De pari. an. IV 8, 684 a 7f. mit
KaXovgevoi).
38 Das 6g mit dem Partizip fpoijvrr/ zeigt eine gewisse Distanz zum Berichteten an (Hin
weis von Frau Dr. Manuela Bufalo).
39 Vgl. Aristophanes von Byzanz, Epit. II 489; Ps.-Arist., Mir. 5; Antigonos, Mir. 29, 2;
Plinius VIII 32, 117.
40 Dittmeyer (wie Anm. 3), 70 meint hingegen, daß „hier auch das Abgeschmackteste oh
ne jeden Zweifel vorgebracht wird.“
24 Stefan Schnieders
Wunderzeichen (repara) halten. Und auch der Bericht vom Efeu auf dem
Hirschgeweih liefere keinen Grund zur Wundergläubigkeit (De caus. plant. II
17, 4f. [gr. Text nach der Loeb-Ausgabe von Einarson-Link]):
räsi tö ys Egcpusaßai Kai ev Sevöpoi; Kai ev cpuroic erepot; tö Kai ev rfj yfj (puöpsvov
oÜK aTO7tov, <jj7m Kai yrvöpevov, (Sartep ö kittoc ev 7roW,otg. (eil yäp tovto napa-
SoSÖTEpov, ort Kai <sv> E/.<i<pou KEpaaiv WTtrar Kai q TsppivÖoc 8s ev räaia, Kai tö
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Denn daß das, was auch in der Erde wächst, auf Bäumen und anderen Pflanzen wächst,
ist nicht sonderbar, sondern kommt wie beim Efeu auf vielen (Gewächsen) vor. (Denn
dies ist noch unglaublicher, daß er [seil, der Efeu] sogar auf dem Geweih eines Hirsches
gesehen wurde und die Terpentin-Pistazie [nach Amigues, Index S. 339 s.v. repptvßoc /
repeßiv0o<;] auf dem Ölbaum und der sogenannte kleine Oktopus [nach Amigues, Index
S. 325 s.v. noZiradötov Polypodium vulgare L. ~ gewöhnlicher Tüpfelfarn] auf be
stimmten Bäumen und was eher selten und wunderartig daherkommt, wie der Gewürz
lorbeer [Laurus nobilis L. nach Amigues, Index S. 277 s.v. 1 8ä<pvr|], der schon einmal
auf einer Orientalischen Platane [Platanus orientalis L. nach Amigues, Index S. 325 s.v.
7t/.aTavoc] und auf einer Eiche vorkam, und alles andere, was man als Wunderzeichen
ausgibt. Denn wenn der Samen auf etwas, das durch einen Fäulnisprozeß erdartig ge
worden ist, fällt, beginnt er zu sprießen und infolgedessen hält er sich am Leben, indem
er Nahrung vom Baum nimmt; dies ist auch im Falle des Efeus, der auf dem Geweih
sprießt, wenn dem denn so ist, nicht unvernünftig anzunehmen.) Im Gegensatz dazu
seltsam ist, daß etwas ausschließlich auf etwas anderem wächst und nicht auf dem Bo
den.
Theophrast ist also bemüht, das Übernatürliche, das einige zur Erklärung des
Efeus auf dem Hirschgeweih heranziehen, innerhalb der Grenzen der Natur (vgl.
dazu auch Arist., De gen. an. IV 4, 770 b 9ff.) rational zu erklären, und erkennt
damit zu unserer Überraschung diesem Bericht, der vermutlich im Kontext des
Dionysos-Kultes41 von Bedeutung war, den Status einer „Mirabilie“ ab.
An der Theophrast-Parallele sehen wir, daß die Geschichte vom Hirsch
nicht ohne Vorbehalt von Aristoteles angeführt sein dürfte. Die Formulierung
„wenn dem denn so ist“ (eutep pv)42 läßt vermuten, daß auch Aristoteles schon
über den Wahrheitsgehalt nachdachte. Theophrast räumt dieser Geschichte so
gar explizit eine gewisse Wahrscheinlichkeit ein (oök dÄoyov). indem er sich ei
41 Vgl. Thompson, Komm, (wie Anm. 7) zu Hist. an. 611 b 17ff.: „probably a stag or fawn
with the Dionysiac plant about its homs would be looked on as something portentous.“
42 Eine Reflexion über den Wahrheitsgehalt kommt bei Theophrast häufiger vor, vgl. z.B.
De caus. plant. II 5, 5; III 24, 1; IV 6, 1; 12, 7; 12, 12; VI 8,4.
J
Fabulöses und Mirabilien bei Aristoteles 25
nen Fäulnisprozeß als Grund vorstellen kann.43 Wir wissen natürlich nicht si
cher, ob Aristoteles ebenso dachte. Doch legt der Kontext,44 in dem diese Äuße
rung getroffen wird, nahe, daß dieser Bericht unter ihnen auch diskutiert wurde.
Wir können aus dem Fehlen einer ausführlichen Diskussion dieser Information
bei Aristoteles nicht schließen, daß Aristoteles darüber nicht kritisch nachge
dacht hat.
43 Theophrast scheint sich wohl vorzustellen, daß das junge Geweih über einen Fäulnis
prozeß trockener wird (örav yctp eig yew8e<; yeyevrpievov öiü ofp./iv to cnrsppa),
wobei zunächst auch ein Nährboden mit entsteht. Vgl. dazu Arist., Meteor. IV 1, 379 a
16ff. Dabei geht er davon aus, daß der Efeu nach der Entstehung unter besagten Um
ständen am Geweih wie am Stamm eines Baumes weiterlebt. Dieser Gedanke basiert
auf der falschen Annahme, daß Efeu eine Schmarotzerpflanze ist, die ihre Wurzeln in
den Baum treibt, deren Funktion als Haftwurzeln Theophrast somit verkennt (vgl. Hist.
plant. III 18, 9, wonach Efeu allen Bäumen schädlich sei, indem er ihnen Nahrung ent
ziehe).
44 Es ist wichtig, das von Theophrast angeführte Beispiel des Hirsches mit Efeu im Kon
text einer größeren Debatte über Wunderzeichen und Mißbildungen zu sehen, die wohl
breiten Raum innerhalb der Zusammenarbeit zwischen Theophrast und Aristoteles ein
nahm. Das theophrastische Kapitel über die Mistel ist eine Beschäftigung mit dem Phä
nomen der Mißbildungen (teperta) aus der botanischen Perspektive, wie es schon bei
Aristoteles in Phys. II 8, 199 a 33ff. angelegt ist, wo auch Mißbildungen bei Tieren be
sprochen werden. Kapitel 3f. des IV. Buches der Schrift De generatione animalium of
fenbart einen zu Theophrast, De caus. plant. II 17 parallel gebrauchten Begriff von
rspara. Genetische Mißbildungen an Tieren entsprechen dabei dem Auftreten von
bestimmten Pflanzen, die sich auf anderen Pflanzen bilden und dadurch die Vorstellung
eines göttlichen Vorzeichens bewirken. Es war offenbar ein gemeinsames Anliegen von
Aristoteles und Theophrast, gegen Aber- und Wunderglauben anzugehen, indem sie die
se Mißbildungen, die auf den ersten Blick wider- bzw. übernatürlich scheinen, als na
turgemäß zu erklären versuchen. Vgl. Wöhrle, Theophrasts Methode (wie Anm. 5), 77f.
und G. Wöhrle, Aristoteles als Botaniker, in: W. Kullmann/S. Föllinger (Hgg.), Aristo
telische Biologie: Intentionen, Methoden, Ergebnisse; Akten des Symposions über Aris
toteles’ Biologie vom 24.-28. Juli 1995 in der Wemer-Reimers-Stiftung in Bad Hom
burg, Stuttgart 1997, 387-396, hier: 395. Dieses Anliegen ist an mehreren Stellen noch
nachvollziehbar, in bezug auf Geburten (Hist. an. V 14, 544 b 19ff; VI 21, 575 b 13f.;
22, 575 b 33ff.), weinende Kultstatuen (De caus. plant. V 4, 3f.), Opfertiere mit Mißbil
dungen (De part. an. IV 2, 676 b 36ff.; Hist. an. I 17, 496 b 17ff.; b 24ff.; II 17, 507 a
19ff.), vgl. auch Hist. an. VI2, 559 b 16ff.
26 Stefan Schnieders
richten steht:57 1.) sind diese Berichte durchaus potentielle Quellen für den Fall,
daß keine befriedigenden Beobachtungen vorliegen, ein Umstand, mit dem er
häufiger konfrontiert ist,58 2.) nimmt er solche Berichte ernst. Als Beispiel dafür
lassen sich die mannigfachen Berichte anfügen, die die These vertreten, daß die
Bienen ihre Brut von außerhalb herbeiholen. Es gibt verschiedene Berichte, daß
die Bienen die Brut von diversen Pflanzenblüten holen (vom KdXAuvrpov59, vom
Schilf [Kct/.aLtoc], vom Ölbaum [äZata]), und auch verschiedene Meinungen zu
der Entstehung der Brut auf diesen Blüten, nämlich entweder durch Urzeugung
oder durch ein anderes, von der Biene verschiedenes Lebewesen.60 All diese
Berichte werden von Aristoteles gleichermaßen berücksichtigt.
Dies läßt sich auch aus Aristoteles’ resümierender Überlegung zu den Bie
nen schließen. Am Ende des Passus über die Entstehung der Bienen in De
generatione animalium formuliert er (III 10, 760 b 27ff.):
57 Besonders in bezug auf das Paarungsverhalten findet sich bei Aristoteles häufiger expli
zite Kritik an der Wahrscheinlichkeit von bestimmten Berichten, vgl. De gen. an. I 15,
720 b 32ff. (vgl. Hist. an. V 6, 541 b 8ff.; 12, 544 a llff.); III 5, 755 b 7ff.; 6, 756 b
13ff.; b 15ff.; b 33ff.; 757 a 2ff.
58 Auf das Fehlen von Beobachtungen weist Aristoteles durchaus häufiger hin, vgl. z.B.
De gen. an. I 16, 721 a 14ff.; II 5, 741 a 32ff.; III 11, 762 a 27ff.; V 8, 788 b 9ff.; Hist. ’
an. V 18, 550 a 20ff.; 32, 557 b 24f.; VI 35, 580 a 19f.; IX 37, 622 b 15ff.; 41, 628 b
7ff.; 628 b 14ff.; 42, 629 a 14ff.; 50, 632 b 2ff.
59 Vgl. LSJ s.v. KäXlwrpov II.: „an unknown shrub“.
60 Vgl. Hist. an. V 21, 553 a 18ff.; De gen. an. III 10, 759 a llff. Vgl. die aristotelische
Widerlegung in De gen. an. III 10, 759 a 27ff. u.a. mit der Begründung, daß es nicht
einleuchtend sei, daß eine fremde Spezies die Bienenbrut hervorbringe.
Aristoteles kennt auch Beispiele für Tiere, die artfremden Spezies zumindest die Auf
zucht (nicht die Entstehung) verdanken, vgl. z.B. die verschiedenen Wirtsvögel des Ku
ckucks (Hist. an. IX 29, 618 a 8ff., vgl. Ps.-Arist., Mir. 3, Antig., Mir. 100) und den
(mirabiliösen) Bericht von der Adlerart Phene (tprjvr]), die die Kinder des Adlers (as-
rög), die dieser aus dem Nest geworfen hat (Hist. an. VI 6, 563 a 26f.; IX 34, 619 b
24ff., vgl. Antig., Mir. 46, 2) aufnimmt. Auch Theophrast erwähnt das Beispiel des Ku
ckucks und der Biene, die von anderen Lebewesen hervorgebracht werden soll, in De
caus. plant. II 17, 9. Obwohl Theophrast Aristoteles’ Ausführungen kennt und deutlich
kennzeichnet, daß er sich auf Berichte anderer bezieht, nimmt er diese durchaus noch
als Stütze für die Theorie auf, daß es auch bei den Misteln der Fall sein kann, daß sie ih
re Entstehung der Hilfe anderer Lebewesen verdanken (und zwar bei der Mistel der Hil
fe der Vögel). Man kann daraus ersehen, wie ernst derartige Berichte genommen wur
den.
Fabulöses und Mirabilien bei Aristoteles 29
’Ek lu;v ouv toü Xöyou m irepi tt]v Yevegiv to>v lic/.ittwv toi'itov e/eiv (paiverai töv
TpÖ7tov Kai c.K reiv ougßaivstv öokoüvtojv .Tcpl a.DTfic' 01'1 utp1 cfZi]n™i vc iä aupßai-
vovra iKavojc, ä/j..' säv äote Xr|(p0f| tote rij aio0f|cst pä/./.ov töv Xöycov 7tiotsvteov,
Kal Tok /.övoic sctv öuo/.ovoijnr.va Seikviicoöi tol: <paivo|isvotc.
So verhält es sich nun mit der Entstehung der Bienen nach Gründen und nach den darü
ber bekannten Erfahrungen. Jedoch hat man darüber nicht ausreichende Beobachtungen,
aber sollten diese gemacht werden, so muß man der Beobachtung mehr Glauben schen
ken, als der Theorie, und dieser nur, wenn sie zu dem gleichen Resultat führt wie die
Erscheinungen. (Übers, v. Aubert-Wimmer)
Hier bringt Aristoteles klar zum Ausdruck, daß die Beobachtungssituation bei
den Bienen nicht befriedigend ist; er gibt den Beobachtungen den Vorrang vor
logischen Schlußfolgerungen und behält sich die Fehlerhaftigkeit seiner Überle
gungen vor. Aus dieser für die Methodik des Aristoteles wichtigen61 Aussage
läßt sich also etwas für sein Vorgehen bei mangelnder Informationslage bzw.
beim Vorliegen unsicherer Nachrichten gewinnen, nämlich, daß er oftmals
Wahrscheinlichkeitsüberlegungen angestellt haben dürfte und daß diese dem
Aristoteles auch dort erst einmal zu unterstellen sind, wo er sich nicht explizit
zu etwas äußert, sondern in der Historia animalium zunächst nur auflistet (und
eben nicht aitiologisch erklärt).
Zusammenfassung
Zusammenfassend ist zu sagen, daß Aristoteles für die Verhaltensforschung (d.
h. seine Untersuchung des Ethos der Tiere) viel stärker als sonst auch nicht di
rekt überprüfbare Berichte einbezieht.
Wir werden in der Historia animalium als einer Faktensammlung62 nicht
erwarten können, daß Aristoteles die gegebenen Fakten weiter erörtert oder ab
wägt. In unserem speziellen Fall des IX. Buches verwundert es daher nicht, daß
Aristoteles Informationen aus zweiter Hand oder in Auseinandersetzung mit Fa
beln, Dichtung oder Volksglauben auflistet und nicht weiter dazu Stellung be
zieht. Dennoch dürfen wir ihm nicht unterstellen, daß er sich über die Proble
matik seiner Quellen nicht im klaren war. Vielmehr entsteht der Eindruck, daß
Aristoteles neben korrekten Beobachtungen auch Informationen festhält, die
61 Vgl. A.L. Peck, Aristotle, Generation of Animais. With an English Translation, Lon-
don-Cambridge/Mass. 1942, 346, Anm. a, und Föllinger (wie Anm. 45), 378, Anm. 21
mit weiterer Literatur.
62 Zum Verhältnis der Historia animalium als einer Faktensammlung zu den aitiologischen
Schriften des Aristoteles vgl. Kullmann, Aristoteles. Über die Teile der Lebewesen (wie
Anm. 2), 194 und 3 61 f. zu De part. an. II 1, 646 a 11 f.
30 Stefan Schnieders
grundsätzlich für ihn im Bereich des Möglichen liegen und die seiner großen
These von intelligenten Erscheinungen im Tierreich zuzuordnen sind. Auch die
se sammelt er. Eine andere Frage ist, ob und wie er dieses Material dann ausge
wertet hat.
Martin F. Meyer (Koblenz)
1 Vgl. P. Moraux 1951, 297. Der Pinax ist überliefert als Teil des Ptolemaios-al-gharlb.
Über die Identität dieses Ptolemaios herrschte in der Forschung lange Unklarheit. Heute
wird angenommen, daß es sich hier um einen Zeitgenossen des Jamblichos im 4. Jh. n.
Chr. (vermutlich den Verfasser einer Aristoteles-Vita) handelt. Das Verzeichnis enthält
insg. 88 Titel des Aristoteles. Der ,erste Teil' der Liste (Moraux 1951, 295f.) enthält 28
Titel exoterischer Schriften (u.a. Dialoge, Platon-Epitomen), die fast vollständig verlo
ren sind. Der .mittlere Teil' der Liste beinhaltet 28 Titel der logischen, ethisch
politischen und naturwissenschaftlichen Schriften (plus 13 Büchern der hier sog. Meta
physik). Die Anordnung deckt sich erstaunlich genau mit aktuellen Forschungen zum
szientifischen Programm des Aristoteles. Dies gilt v.a. für das erkennbare System der
(sich an die Abhandlungen über die unbelebte Natur anschließenden) biologischen
Schriften, beginnend mit Ilepi \|rt>xfjs; (3 Bücher) und endend bei ITepi cpvrwv (2 Bü
cher).