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DER SPIEGEL
Geschichte
Das Christentum
Hausmitteilung Dezember 2017
GESCHICHTE
SPIEGEL GESCHICHTE 5 / 2 0 17 3
Inhalt
30 44
Die Urgemeinde um die Apostel Petrus und Paulus Bis in die Gegenwart sind Klöster Orte spiritueller Kraft,
trat das Erbe des Jesus von Nazareth an. ein Modell christlichen Lebens. Ihre Geschichte begann
Doch die Anfangszeit war geprägt von Konflikten. mit asketischen Aussteigern in der Wüste Ägyptens.
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100 130
Dass religiöse Inbrunst und Pragmatismus durchaus In fast allen westlichen Ländern ist das Christentum heute
zusammenpassen, zeigte Teresa von Avila (1515 bis 1582). im Niedergang – auch in den USA, obwohl evangelikale Mega-
Als erste Frau erhob der Papst sie zur Kirchenlehrerin. churches dort den Glauben für viele wieder attraktiv machen.
Gemälde „Sainte Thérèse“ von François Gérard, 1827 (Ausschnitt) Die „Shadow Hills Church“ in Las Vegas
78 Gott, logisch erklärt 100 Zuflucht der Seele 124 Dem Rad
Scholastiker wie Thomas Die mystische Innerlichkeit in die Speichen fallen
von Aquin näherten sich dem der Teresa von Avila Mit der „Bekennenden Kirche“
Glauben wissenschaftlich. widersetzte sich Dietrich
102 Giftige Schlange, Bonhoeffer dem Naziregime.
82 Im Verfolgungswahn schwaches Licht
Die Inquisition fahndete nach
In China warben Missionare 126 Adler und Huhn
Ketzern und Häretikern. Befreiungstheologen in Latein-
friedlich für den Glauben. Einer
Die Folgen spürt man bis heute. amerika wollten Sozialismus
wurde gar Berater des Kaisers.
86 „Verblüffende und Religion verbinden.
Doppelgesichtigkeit“ 106 Große Dinge geschehen 130 Klub für Aufsteiger
Wie veränderte sich das Die Pietisten bekämpften pro- Welche Zukunft hat das
Verhältnis zwischen weltlicher testantische Prinzipienreiterei. Christentum? Fragen an den
und kirchlicher Macht im Laufe Soziologen Detlef Pollack.
der Zeit? Der Kirchenhistoriker 112 „Sinn und Gefühl
Volker Leppin im Gespräch. für das Unendliche“
3 Hausmitteilung; 137 Buchtipps,
Der Berliner Theologe Friedrich
Kapitel III Impressum; 138 Vorschau, Bildcredits
Schleiermacher brachte Religion
Von Reformern und und Rationalität zusammen.
Missionaren
94 Auf Teufel komm raus 114 Stille Nacht
Nach der Reformation rangen So entstand das bürgerliche
die Konfessionen um die Weihnachtsfest.
Vormachtstellung. Durfte
man die „wahre Religion“
Kapitel IV
mit Gewalt durchsetzen?
Mit Gott oder ohne?
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Bildessay Sakralarchitektur
Die Grabeskirche in
Jerusalem zählt zu den
heiligen Orten des Christen-
tums. Sie steht an der Stelle,
an der die Überlieferung
das Grab Jesu verortet.
Die erste Basilika gab Kaiser
Konstantin in Auftrag, sie
wurde 335 geweiht und
nach der Zerstörung durch
Muslime im 12. Jahrhundert
wieder aufgebaut. Die
Grabkapelle in der Mitte der
Rotunde wurde 1810 in
ihrer heutigen Form errich-
tet. Die Kirche wird von
sechs christlichen Konfes-
sionen genutzt.
6
Gottes Häuser
Kirchen sind steingewordene Zeugnisse des christlichen Glaubens. Sie sind weit
mehr als nur Versammlungsorte: Ihre Aura, mal mystisch, mal machtvoll,
versetzt nicht nur Gläubige ins Staunen – und lässt die Idee des Göttlichen ahnen.
7
Bildessay Sakralarchitektur
St Paul’s Cathedral in London zählt zu den größten Kirchen für Zeremonien wie Begräbnisse (Lord Nelson) oder Hoch-
der Welt. Von 1666 an wurde sie im Auftrag der anglikanischen zeiten (Charles und Diana); oben sieht man die Queen (unter
Kirche im klassizistischen Barock errichtet. Die Kuppel wölbt dem türkisfarbenen Hut) im Mai 2017 beim Gottesdienst zu
sich 65 Meter über dem Kirchenboden, der Maler Sir James den Jubiläumsfeierlichkeiten für den britischen Verdienstorden
Thornhill schmückte sie mit acht Szenen aus dem Leben des „Order of the British Empire“, der vor 100 Jahren von König
Apostels Paulus. Die englischen Könige nutzen die Kirche Georg V. gestiftet wurde.
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Bildessay Sakralarchitektur
Die Hagia Sophia in Istanbul, einst Konstantinopel, war das manen 1453 wurde die Kirche in eine Moschee umgewandelt.
wichtigste Gotteshaus des Byzantinischen Reiches und der by- Heute ist sie ein Museum, die wenigen noch erhaltenen Mosai-
zantinischen Kirche: Hier wurden Kaiser gekrönt, und hier ken mit christlichen Motiven wurden wieder freigelegt. Die
hatte der Patriarch seinen Sitz. Im 6. Jahrhundert im Auftrag Hagia Sophia umwehen viele verschiedene Sagen und Legen-
Kaiser Justinians errichtet, ist ihre Kuppel bis heute mit 32 Me- den, unter anderem jene von der „Wunschsäule“, nach der
ter Spannweite die größte jemals auf nur vier Tragpunkten jeder einen Wunsch frei hat, der seine Hand um ein Loch in
erbaute. Nach der Eroberung Konstantinopels durch die Os- der Säule kreisen lässt (o.).
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Bildessay Sakralarchitektur
Der Petersdom in Rom, dessen Grundstein 1506 gelegt wurde, Unterstützt wird der Eindruck noch durch die vielen unter-
ist der Inbegriff sakraler Machtarchitektur. In der einschüch- schiedlichen Zeremonien, in deren Zentrum der Papst steht,
ternd riesigen Kirche – es ist die größte der Welt –, mit ihren etwa die Liturgie am Karfreitag, dem Tag, der an Jesu Kreuzi-
prächtig verzierten, goldglänzenden Gewölben und der gen gung erinnert: Papst Franziskus liegt dabei auf dem Boden,
Himmel strebenden Kuppel fühlt sich der Mensch winzig klein. ein Zeichen der Demut vor Gott.
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Auftakt Erfolgsfaktoren
HELDEN DER
TRANSZENDENZ
Von Johannes Saltzwedel
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In seiner „Göttlichen Komödie“
Da ist der völlige Umschwung im Weltverständ- wartung der nahen Wiederkunft schilderte der italienische
nis überhaupt: Zuvor hatten nur ein paar verspreng- Christi, dazu die Prophetenweis- Dichter Dante 1321 seine
te Sektierer das Leben als leidvolle Prüfung vor heit des aus dem Judentum über- Jenseitsreise, die bis ins
Paradies führt. Sandro Botti-
dem befreienden Übertritt ins Jenseits betrachtet; nommenen Alten Testaments. Hei- celli malte um 1495 einzelne
nun aber war die Lehre von der letztlich sündhaft- lige Schriften bürgten nun dafür, Szenen; hier ist Dante im
verfallenen irdischen Welt öffentliches Credo, das wie Göttliches und Menschliches obersten Himmel angekom-
Gebet an den Erlöser amtlicher Ritus. zusammenhing. Man opferte keine men, wo er zwischen Engeln
Da ist die tiefe Umgestaltung des Soziallebens: Tiere mehr, aber Altäre samt Ge- Gott als Lichtpunkt schaut.
Am Anfang der Kaiserzeit, inmitten einer faszinie- betshandlungen gab es weiterhin.
renden Glaubensvielfalt, galten Christen als bearg- Nach und nach wurde es gute Sitte, als Sünder Beich-
wöhnte Sekte mit anarchischen Neigungen, die man te abzulegen und Buße zu tun. Den Platz antiker
bändigen, ja bekämpfen musste. Seit dem römischen Kraftgestalten wie Herakles, die als göttlich verehrt
Kaiser Konstantin dem Großen wurde aus den einst worden waren, übernahmen Apostel, Märtyrer und
Verfolgten die neue Führungsschicht; im Zerfall des andere Vorbilder. Wo zuvor Göttinnen überirdische
Reiches übernahmen Bischöfe oft sogar die weltliche Macht ausgeübt hatten, wandte man sich jetzt an
Herrschaft ihrer Region. Maria und weibliche Heilige.
Die bunte Bilder- und Sagenwelt der polytheis-
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Auftakt Erfolgsfaktoren
dem wahrer, nützlicher und trostreicher als die in sich auserwählt fühlte – buchstäblich als Elite –,
langen Schultraditionen ausgefeilte, meist auch für man rückte zunehmend auch sozial auf die Gewin-
Lebenskunst zuständige Philosophie. nerseite. Stolz verzeichneten christliche Annalen,
Christliche Intellektuelle, zum Beispiel der wohl wie „heidnische“ Herrscher sich taufen ließen und
in der Gelehrtenmetropole Athen geborene Cle- damit ihrem Volk ein Beispiel gaben. Region um
mens von Alexandria (um 150 bis um 215), bemüh- Region schwenkte die Kultur auf christliche Maß-
ten sich zwar um Vermittlung – so wurde Jesus bei stäbe ein; das war der eigentliche Durchbruch.
Clemens, wie schon im Johannesevangelium, reich-
lich abstrakt zum „Logos“ (Sinn) der Welt. Dennoch
klang der „sermo humilis“, die niedere Sprachform
der christlichen Texte, in den Ohren hellenistisch
kultivierter Menschen noch lange barbarisch simpel.
M öglich wurde er allerdings nur, weil Ri-
tus und Glaubensleben gut organisiert
waren und die Glaubensoberen weder
Bündnisse mit weltlichen Herrschern
Anhänger fand die Heilslehre in besseren Kreisen scheuten noch sich selbst allein auf den geistlichen
eher, weil sie die Werte des Lebens neu sortierte. Bereich beschränkten. Noch heute erinnert das Ge-
An die Stelle des Glücks im Hier und Jetzt trat das füge vor allem der katholischen Kirche in vielem
Versprechen künftiger Seligkeit, die man nur durch an die Würde des römischen Kaisertums. Nicht ein-
geistliche Sorge um sich selbst, Reinigung von Sün- mal die protestantische Ablehnung des Papstregi-
den und klares Bekenntnis erlangen konnte. War ments in der Reformationszeit hat etwas daran än-
bislang die Zukunft weitgehend ungewiss, so lief dern können, dass Gottes Bodenpersonal, wie Spöt-
die Geschichte nun – vor allem in der maßgeblichen ter den Klerus nennen, als weltliche Institution im
Sicht des Apostels Paulus – auf ein Finale zu, bei Konzert der Mächte eifrig mitspielt.
dem jeder seine moralische Bilanz empfing. Das Heilsaussicht und Machtfrage sind im Christen-
wirkungsvolle Buch des Kirchenvaters Augustinus tum enger aneinandergekoppelt als in den meisten
über den „Gottesstaat“ machte daraus sogar eine anderen Religionen. Auch wenn stets Wege zur
strikte Zwei-Reiche-Lehre. Weltflucht offenstanden, behielt das Denken in
Sobald dieser Rigorismus, von eifrigen Predigern Hierarchien und weltlichen Ord-
propagiert, nach über drei Jahrhunderten des Miss- nungen die Oberhand. Schon das Auf dieser Zeichnung,
wie alle in dieser Serie sehr
trauens und der Unterdrückung auch offiziell als griechische Wort für Gemeinde blass, trifft Dante im Fix-
Weltsicht anerkannt war, trat man durch das christ- und dann Kirche überhaupt, Ek- sternhimmel – der zweit-
liche Bekenntnis nicht nur in einen Kreis ein, der klesia, meinte ursprünglich die obersten Paradiesebene –
den Evangelisten Johannes.
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städtische Volksversammlung. Und in der gewalti- der Schweizer Religionssoziologe Jörg Stolz. „Seit
gen Jenseitsreise von Dantes „Göttlicher Komödie“ rund 200 Jahren ist jede Generation weniger religiös
(1321) stellt sich nach den immer schrecklicheren als die vorherige.“ Er nimmt an, dass sich diese
Kreisen des Höllentrichters und den nicht minder „Auskühlung“ in Richtung Atheismus zunächst fort-
penibel definierten Sühne-Plateaus des Läuterungs- setzen wird.
berges heraus, dass auch das Himmelreich in Sphä- Global hingegen sieht die Sache anders aus. „In
ren wachsender Heiligkeit gestaffelt ist. den nächsten Jahrzehnten wird die Welt nicht sä-
Straffe Hierarchien und klares Machtbewusstsein kularer, sondern religiöser“, so Stolz, „weil ärmere
sind wichtige Gründe für die Engstirnigkeit der Kir- Länder religiöser sind als reiche und eine höhere
che im 16. Jahrhundert. Ihr fiel ein Giordano Bruno Geburtenrate aufweisen.“ Zwar macht der Islam
zum Opfer, und sie hatte zuvor schon Martin Luthers mit seinen 1,8 Milliarden Anhängern momentan die
Widerspruch ausgelöst, was nach 1517 zur Kirchen- meisten Schlagzeilen, leider vorwiegend dank laut-
spaltung führte. Dennoch: Lange schien diese von starker Fundamentalisten und mörderischer Gottes-
der Aura alter Ideologie umwobene Ordnung, die krieger. Aber das Christentum mit weltweit knapp
sich auch auf protestantischer Seite schnell mit welt- 2,5 Milliarden Anhängern legt ebenso zu.
lichen Mächten verbündete, sich selbst zu tragen. Gerade in Entwicklungs- und Schwellenländern
Aber welche Bindekraft haben die christlichen wachsen evangelikale Freikirchen seit Jahrzehnten,
Denkmuster noch angesichts der heute weitgehend die sich von überlieferten Traditionen abkehren und
vollzogenen Trennung von Kirche und Staat und neue, eigene Formen der Spiritualität auf christ-
vor allem der fast vollständig individualisierten Spi- licher Grundlage zelebrieren. Auch für Europa trifft
ritualität? Wie steht das Christentum mit seiner Heils- das in gemäßigterer Form zu – und fordert die eta-
botschaft und seinem Gebot der Feindesliebe da in blierten Kirchen heraus. Auf Kirchentagen oder in
einer Welt, die den „Kampf der Kulturen“ (Samuel Jugendgruppen öffnet sich ein Markt religiöser Mög-
Huntington) immer schwerer im Zaum halten kann? lichkeiten, von denen viele Spontaneität, Gemein-
Pessimisten innerhalb der Kirchen wie Kritiker schaftsgeist und kreativen Enthusiasmus jüngerer
außerhalb leiten aus dem konstant hohen Saldo von Christen eher ansprechen als das Althergebrachte.
Kirchenaustritten, dem Rückgang an Taufen oder Eines ist so gut wie sicher: Der
Beatrice, die Dante durch die
Trauungen und weiteren Indikatoren ab, dass es bis zum letzten Mausklick ver-
Paradieswelten führt, erklärt
bald mit dem Christentum vorbei sein könnte. „Eu- schalteten Gegenwart, naturwis- dem Dichter kurz vor dem
ropa wird in der Tat immer säkularer“, beobachtet senschaftlich durchleuchtet, mo- Ende seiner Reise die Erschaf-
fung und das Wesen der Engel.
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Auftakt Erfolgsfaktoren
dellhaft funktional, einschüchternd hektisch, dabei mystischen Funken der Verbindung von Gott und
weitgehend zu Optionen und Sachzwängen ernüch- Mensch besser als frühere Theologen zu erfassen
tert –, dieser Welt fehlt den meisten Menschen so versucht hatte, kirchenamtlich als dubios. Erst viel
offenkundig höhere Sinn-Wärme, dass Religiöses später wurde seine mutige Sprachkunst angemessen
gefragt bleibt. gewürdigt.
Auf christlicher Seite erzwingt das vor allem Eckhart inspirierte in den folgenden Jahrhunder-
einen Wandel im Selbstverständnis von Pfarrern, ten immer wieder Visionäre. Unter ihnen war auch
Bischöfen und ihresgleichen. Weniger Donnerwort ein weitblickender Kirchenrechtler von der Mosel,
und Zeigefinger, mehr Lebenshilfe; weniger Dog- der es bis zum Kardinal brachte. Nikolaus Cryfftz
menstrenge, mehr individuell seelsorgerische Ge- oder Krebs, nach seinem Geburtsort Kues meist Cu-
sprächskunst – so ließe sich in erster sanus genannt, erklärte, dass der Mensch die Rea-
Nach Näherung beschreiben, was von Glau- lität nur über „Konjekturen“ – postmodern gespro-
benshütern heute oft verlangt wird. Aller- chen: in Form gedanklicher Konstruktionen – be-
grausamen dings haben auch strenge, charismatische greift; den Grund des göttlichen Seins nannte er
Konfessions- Gurus Zulauf. versuchsweise das „Nicht-Andere“.
kämpfen hoff- Was also mag aus dem Christentum Cusanus beließ es nicht bei Theorien, die sich
werden? Angesichts der globalen Ge- bis zum Paradox vorwagten. Auf dem Basler Konzil
ten fromme mengelage ist es ratsam, sich bewusst zu seit 1431 diskutierte er eifrig mit den angeblich ket-
Geister auf machen, welch individualistische Kräfte zerischen Hussiten; als Kuriendiplomat begleitete
Erleuchtung in der alten Religion stecken; welch be- er den byzantinischen Kaiser 1438 zum Konzil nach
achtliche Freiräume den Gläubigen trotz Ferrara. Stets auf Verbesserung aus, entwickelte
aus der aller Dogmen und Traditionen innerhalb er 1459 den Plan einer „reformatio generalis“ der
Tradition. der christlichen Religion bleiben. In jeder römischen Kirche. Im Alter schrieb er eine „Durch-
Epoche hat die Suche nach dem persön- musterung des Korans“, die den Propheten der
lichen religiösen Erlebnis, das Bedürfnis Muslime nicht rundweg verteufelte, sondern respekt-
nach eigener, unmittelbarer Frömmigkeit die kirch- voll der „Unwissenheit“ zieh.
lichen Normen überschritten, oft sogar ausgehebelt. Nicht immer blickten Glaubenserneuerer nach
Martin Luther und die anderen Reformatoren vorn: Nach den grausamen Konfessionskämpfen des
sind nur besonders prominente Beispiele dieser Dy- 16. Jahrhunderts hofften viele fromme Geister auf
namik des Suchens und Hinterfragens. Selbst der Erleuchtung aus der Tradition. So sammelte der
Umgang mit Zweifeln gehört zur langen Geschichte Schlesier Christian Knorr von Rosenroth, ein hoch-
fortwährenden Erneuerungsdrangs. Am anschau- gebildeter Pfarrerssohn, wichtige Texte der jüdi-
lichsten wird das gewaltige Spektrum zwischen Mys- schen Mystik und brachte sie von 1677 an unter
tik und Aufklärertum, Kabbalistik und Existenzia- dem Titel „Kabbala denudata“ (Enthüllte Kabbala)
lismus an ein paar Beispielen. heraus. Knorr, der sich auch in Alchemie und Medi-
zin auskannte, wollte in den alten Geheimlehren
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In der siebten der neun
Preußens König Friedrich dem Großen kam die „Gott ist tot“ wäre ohne Feuerbach Himmelssphären sieht Dante
neue Sicht gelegen; er machte Spalding 1764 demon- kaum denkbar. die Jakobsleiter und das Licht
strativ zum Berliner Konsistorialrat. Der religiös Inmitten des anbrechenden In- der Seligen.
liberale Monarch sah in Predigern keine Stellver- dustriezeitalters wirkte der alte Er-
treter Christi mehr, sondern schlicht Moralapostel; lösungsglaube tatsächlich immer öfter wie ein
genau das dachte und schrieb auch Spalding. Saurier aus der Spätantike, der im Licht von Ver-
Die naheliegende Konsequenz zog der Aufklärer nunft und wissenschaftlichem Fortschritt ruhig aus-
freilich nicht. Sie blieb einem Mann vorbehalten, der sterben konnte. Eine verfrühte Diagnose: Anfang
in Spaldings Todesjahr 1804 erst geboren wurde. Seit des 20. Jahrhunderts wurde klar, dass das mensch-
1839 verfocht Ludwig Feuerbach vehement die Über- liche Wissen nicht aus sich selbst garantiert werden
zeugung, Religion sei bloß „der Traum des mensch- kann. Gegen den marxistischen Materialismus ge-
lichen Geistes“. Genauer: „Die Religion hat ihren wendet, ließ sich das auch so verstehen: Wo Gott
Ursprung, ihre wahre Stellung und Bedeutung nur fehlt, bleibt eine triste Leerstelle, „Transzendentale
in der Kindheitsperiode der Menschheit, aber die Pe- Obdachlosigkeit“ (Georg Lukács).
riode der Kindheit ist auch die Periode der Unwis- Wieder gingen religiös Kundige daran, die christ-
senheit, Unerfahrenheit, Unbildung und Unkultur.“ liche Botschaft zu erneuern. Im Alleingang tat dies
Vor allem auf das etablierte Christentum hatte der reformierte Theologe Karl Barth aus Basel. Er
der selbst ernannte „geistige Naturforscher“ es ab- nannte 1922 mit existenzialistischem Pathos Gott
gesehen. Jesu Leiden, die Trinität, Sammlung im den „ganz Anderen“; dennoch oder gerade deshalb
Gebet oder die Verehrung der Mutter Gottes: Für schrieb er den Rest seines Lebens an einer riesigen
Feuerbach waren das Spiegelungen innerer Bedürf- „Kirchlichen Dogmatik“. Wahres Christentum, so
nisse des Menschen, Folgen eines letztlich infantilen Barth, sei „tätige Erkenntnis“.
„Abhängigkeitsgefühls“. Sein Fazit: „Die Gottheit Inzwischen gilt Barth schon als etwas angegrauter
des Menschen ist der Endzweck der Religion.“ Aber Klassiker. Jede Generation stellt die Glaubensfragen
wozu den Menschen vergöttlichen? Mitleid und neu, und bis heute eröffnet jede Bewegung auf dem
Nächstenliebe seien auch ohne christliche Grundie- bunten Markt der Spiritualität auch dem Christen-
rung machbar. tum – oder was eben dafür gehalten wird – die
Feuerbach betrieb die Entzauberung mit geradezu Chance einer kleinen Renaissance.
prophetischem Ernst und Eifer. Das ließ ihn seltsam Hartnäckige Verfechter der Vernunft mag das
vernunftfromm erscheinen – wie noch heute ähnlich stören; „religiös unmusikalische“ (Max Weber) Zeit-
missionarische Religionsgegner aus der Naturwis- genossen wird es kaltlassen. Aber wer dem Men-
senschaft, etwa Richard Dawkins („Der Gottes- schen auch nur irgendein Verlangen nach höherem
wahn“). Aber die Botschaft drang durch. Karl Marx Sinn zubilligen mag – und das ist global gesehen
und seine Adepten beriefen sich auf sie, weitere die große Mehrheit –, wird wohl auch in Zukunft
Christentumskritiker wie David Friedrich Strauß damit rechnen dürfen, dass das Christentum sich
schlossen sich an, und selbst Nietzsches Fanal-Satz immer wieder neu erfinden, ja entdecken lässt.
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Glaubenswelt
Innerhalb des Christentums gibt es vier Hauptrichtungen:
die römisch-katholische Kirche, die orthodoxen, die
protestantischen und die anglikanischen Kirchen.
Mit fast 2,5 Milliarden Anhängern ist das Christentum
vor dem Islam mit etwa 1,8 Milliarden Gläubigen die
derzeit am weitesten verbreitete Religion.
um 600
Christen
Die Ausbreitung
des Christentums
Gebiete mit christlicher
Bevölkerung
um 750
Christen
um 1450
Christen
orthodoxe
Christen
NORDAMERIKA
230
Mio.
2017
um 1650 LATEINAMERIKA
Katholiken
Protestanten
Orthodoxe
591 Mio.
2017
um 1900
Quellen: Ernst Pulsfort,
Katholiken „Herders neuer Atlas der Religionen“, 2010;
Protestanten World Christian Database
Orthodoxe
20002000 in Milliarden
in Milliarden 20252025 20002000 in Prozent
in Prozent 20252025
33,633,6
2,732,7332,432,4 Christen
Christen
Religionen
Religionen
weltweit
weltweit
Prognose
Prognose
20002000
bis 2025
bis 2025
Quelle:Quelle:
World Christian
World Christian
Database
Database
Christen
Christen 25,125,1
2,042,04 Muslime
Muslime
1,991,99
Muslime
Muslime 21,021,0
Anteil
Anteil
derder
Christen
Christen
in den
in den
einzelnen
einzelnen
Ländern
Ländern 1,291,29 Hindus
Hindus
13,413,4 13,613,6
20082008
in Prozent
in Prozent Hindus
Hindus 1,111,1112,912,9
nichtnicht
religiös
religiös
90 und
90 mehr
und mehr nichtnicht
religiös
religiös 10,610,6
0,820,82 0,840,84 10,310,3
80 bis
80unter
bis unter
90 90
0,790,79 8,4 8,4
70 bis70unter
bis unter
80 80 0,650,65 0,690,69 Volksreligionen
Volksreligionen
Volksreligionen
Volksreligionen 7,3 7,3 7,0 7,0
50 bis
50unter
bis unter
70 70 0,570,57 Buddhisten
Buddhisten
30 bis
30unter
bis unter
50 50 0,450,45 Buddhisten
Buddhisten
10 bis10unter
bis unter
30 30
5 bis5unter
bis unter
10 10 andere
andere andere
andere
unterunter
5 5 0,080,08 0,090,09 1,3 1,3 1,2 1,2
0,0140,014 0,0150,0150,2 0,2 0,2 0,2
JudenJuden JudenJuden
AUSTRALIEN
AUSTRALIEN
UND UND
OZEANIEN
OZEANIEN
25 Mio.
25 Mio.
2017 2017
ASIENASIEN
EUROPA
EUROPA
UND UND 389389
Mio.Mio.
RUSSLAND
RUSSLAND 2017 2017
AFRIKA
AFRIKA
554554
Mio.Mio.
2017 2017
582582
Mio.Mio.
2017 2017
22 SPIEGEL GESCHICHTE 6 / 2 0 17
K a p i te l
I
Vo n d e r S e k te
z u m Re i c h s k u l t
SPIEGEL GESCHICHTE 6 / 2 0 17 23
Von der Sekte zum Reichskult Die ersten Anhänger
Der christliche Glaube gilt meist als westliches Phänomen. Doch anfangs breitete
sich die Lehre Jesu vor allem im Osten aus, sagt der Oxforder Historiker Peter Frankopan.
Sogar im heutigen Afghanistan gab es Bischöfe.
„Das Christentum
war subversiv und gefährlich“
SPIEGEL: Professor Frankopan, selten Es ist wahr, dass die Quellen oft ein gelang eben erstaunlich oft. Übrigens,
gab es so viel religiöse Vielfalt im einseitiges Bild zeichnen. So breitete rund um das Mittelmeer scheint sich das
Nahen Osten wie in der Antike: Grie- sich das Christentum am Mittelmeer kei- Christentum vornehmlich durch Frauen
chisch-römische Götterwelt, Ägyptische neswegs sehr rasch aus. Im Osten, in verbreitet zu haben, speziell Frauen von
Kulte, Judentum und vieles mehr. Dann Asien dagegen hatte es schneller Erfolg, hohem gesellschaftlichem Status. Sie
aber stieg von Palästina aus das Chris- bis nach Indien. Um das Jahr 600 findet fanden damit offenbar eine Stimme, ge-
tentum auf. Eine konsequente Entwick- man von Mesopotamien, zum Beispiel sellschaftlich wie spirituell. Im Mittleren
lung – oder staunt da auch der Fach- in Basra, bis ins heutige Afghanistan Osten spielte ein anderer Faktor mit:
mann? und in Kaschgar eine Menge Erzbischö- Hier war der Blick weiter, man handelte
Frankopan: Natürlich ist der Vorgang fe, also schon sehr gefestigte Strukturen. mit Kulturen in aller Welt, war neugie-
erstaunlich, aus mindestens zwei Grün- rig auf kluge Weltanschauung.
den: Das Christentum war weit bestän- So etwas wird in westlichen Kirchenge-
diger als andere Glaubensrichtungen, schichten kaum erwähnt. Warum ging Wollen Sie andeuten, es wurde auf
und es erstreckte sich bald auf ein ver- es im Osten schneller? einmal modisch, Christ zu sein?
blüffend großes Gebiet, vor allem nach Wir können fast nur spekulieren. Das ginge zu weit – schließlich ris-
Osten, sodass es schließlich eine Welt- Offenbar bildete sich gerade die richtige kierte man in den frühen Jahrhunderten
religion werden konnte. Mischung von Motivationen heraus, die einiges. Christen waren Verfolgungen
geeignete Atmosphäre für Bekehrungen. ausgesetzt, nicht nur im römischen Kai-
Aber wie ist das zu erklären? Erlösungs- Warum bin ich Historiker geworden? serreich, auch unter den Sassaniden, die
prediger gab es zur Zeit Jesu in Mengen, Aus Interesse, aber auch weil ich damit in Persien den Zarathustra-Glauben
das haben ja schon die britischen Film- Geld verdiene, weil Zufall und Glück recht gewaltsam durchsetzten. Aber tat-
satiriker der „Monty Python“-Truppe in mitgespielt haben, weil mir sinnvoll und sächlich machten „Heilige“, die ihren
ihrer frechen Evangelienparodie „Das nachhaltig erscheint, was ich tue, und so Glauben – auch und gerade als Askese –
Leben des Brian“ gezeigt. Ein Argument weiter. lebten, weithin Eindruck. Strenge und
klingt sogar plausibel: Jesus gewann Vor- Disziplin, gerade solche antiindividualis-
sprung gerade dadurch, dass man ihn Was heißt das, auf das Christentum tischen Merkmale genossen Achtung.
kreuzigte; so jemand meinte es offenbar übertragen? Ähnliches ist heute interessanterweise
ernst. Religionen, die ewiges Leben ver- am radikalen Islam zu beobachten.
Eine reichlich zynische Betrachtungs- sprachen, waren offenbar recht attraktiv.
weise. Ebenso wichtig scheint mir, dass Der christliche Lebensstil mit seiner Nun verlangte nicht nur das Christen-
sich sehr früh im Christentum Struk- Grundansicht, dass Tugenden belohnt tum Selbstzucht, auch Juden, Zoroas-
turen bildeten. Das geschieht normaler- werden, erschien plausibel. Nicht zu trier, Buddhisten und andere taten das.
weise nicht bei gesellschaftlichen stehlen, dem Nachbarn nichts anzutun Mag sein, aber von wem? Das Chris-
Außenseitern. Also: Jesus löste mit sei- und dergleichen war kein bloßer Rechts- tentum trat ausdrücklich als nicht-elitär
ner Botschaft echten Widerhall aus; die satz mehr, auch nicht an Belohnung auf. Dadurch stand es über den sozialen
Menschen, die ihm und seiner Lehre oder Profit geknüpft, sondern wurde Schranken, ja jenseits von ihnen. Es war
folgten, fühlten sich wirklich verwan- zur persönlichen Überzeugung aufge- subversiv und intern gemeinschaftsbil-
delt, und das beeindruckte immer mehr wertet. Christen, die es ernst meinten, dend zugleich, deshalb erschien es den
Menschen. erschienen als bessere Menschen, als
Menschen mit einem echten Lebens- Wie Religionen sich gegenseitig beeinflussen,
Gab es nicht anfangs eher kleine, ver- zweck. Natürlich ist auch Gruppen- zeigt der Heiligenschein. Nicht nur Christen
nutzen das Symbol seit der Antike, sondern
streute Gemeinden, wie das in den Brie- druck dabei, natürlich braucht es eine auch andere Glaubensrichtungen, etwa
fen des Paulus um das Jahr 55 steht, mit kritische Masse, um die Mehrheit der der Hinduismus beim Elefantengott Ganesha
oft verschiedenen Lehrschwerpunkten? Bevölkerung zu überzeugen. Aber das (Indien, 11. Jahrhundert).
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Kaisern ja als so gefährlich. Und ge-
wandt im Anpassen war es auch – zum
Beispiel kennen wir ein Dokument,
worin der Heilige Geist mit der Heilig-
keit eines Buddha parallelisiert wird.
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Von der Sekte zum Reichskult Die ersten Anhänger
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SPIEGEL GESCHICHTE 6 /2 0 17 27
Von der Sekte zum Reichskult Die ersten Anhänger
28 SPIEGEL GESCHICHTE 6 /2 0 17
Wie Jesus wurde der römische Sol invictus Aber wie schafften sie es, dass schließ-
mit Strahlenkranz gezeigt; wer das Symbol lich sogar der Kaiser von China im Jahr
erfand, ist unklar (Italien, 3. Jahrhundert).
635 seine Abgrenzung aufgab und den
christlichen Glauben als gleichberech-
tigt anerkannte?
Hartnäckigkeit, Zielbewusstheit? Ge-
Mag sein, aber in erster Linie rang nau weiß man es nicht. Aufseiten des
man tatsächlich um die richtigen Ant- Kaisers spielt vermutlich die Einsicht
worten. Nun weiß jeder, der mal in mit, dass es seine Stellung nicht schmä- Peter Frankopan
einem Komitee saß, dass da Kompro- lerte, sondern ihr zugutekam, wenn ist Professor für Welt-
misse nötig werden. Oft aber ver- Handelspartner aus dem fernen Westen geschichte in Oxford
und leitet dort das
heddert man sich auch in bizarren sich respektiert sahen. Zentrum für Byzanz-
Sonderfällen. Die Bischöfe haben die forschung. 2016 er-
Herausforderung insgesamt erstaunlich Schon früh ist das weit nach Osten schien sein Buch
gut bewältigt. Schon bald nach dem vorgedrungene Christentum von „Licht aus dem Osten.
Eine neue Geschichte
Jahr 300 war der Klerus so einflussreich, den theologischen Debatten im
der Welt“ (Verlag Ro-
dass man auf seine Beschlüsse achtete. Westen abgekoppelt: Am Konzil von wohlt Berlin).
Ketzerverfolgung wird ein wichtiger Nicäa 325 nehmen die persischen
Weg, Autorität zu behaupten. Das Christen nicht mehr teil. In vielen
zeigt sich noch Jahrhunderte später in Kirchengeschichten wird der Osten
den diversen Kirchenspaltungen, vom nicht mehr erwähnt. Was geschah
Großen Schisma 1054 bis zur Reforma- mit diesen Gemeinden? wieder Unterdrückung, aber nicht un-
tion und weiter. entwegt und überall. Weit im Osten,
etwa im zentralasiatischen Samarkand,
Ein entscheidender Schritt war die Aus- schauen Muslime interessiert auf den Er-
breitung des Christentums jenseits der „Bis etwa 1300 gab es folg des christlichen Glaubens. In Tatar-
dicht bevölkerten Zone von Gibraltar in Asien mehr Christen stan huldigt man nach der Eroberung
bis zum Ganges, etwa nach Norden. äußerlich dem Islam, aber wenn die
Steppenvölker, slawische Stämme, ger-
als in Europa.“ neuen Herren wegschauen, betet man
manische Stämme, selbst Nomaden wieder zum altvertrauten Sonnengott.
wurden missioniert. Warum gelang das Sie blühten weiter, und zwar erstaun- Solche Mischungen, solche Durchlässig-
den Christen besser als anderen Reli- lich lange. Als Ende des 15. Jahrhun- keit wird es vielfach gegeben haben.
gionen? derts die Portugiesen nach Indien vor-
Stadtbewohner neigen seit je dazu, drangen und etwas über Jesus und das Als Historiker scheinen Sie mehr an
auf Landbewohner herabzublicken, sie Christentum erzählen wollten, bekamen Ähnlichkeiten und Kulturbeziehungen
als dumme Bauern und wilde Barbaren sie zur Antwort: Hier steht doch unsere als am Schicksal einer Gruppe interes-
zu verachten. Auch vom Christentum Kirche. Bis etwa 1300 gab es in Asien siert zu sein.
gab es eine Metropolen-Version für In- mehr Christen als in Europa. Noch der Gewiss – alles andere wäre einseitig
tellektuelle, aber letztlich richtete sich frühe Islam ließ die Christen oft unbe- und führte zu falschen Schlüssen. Da-
seine Botschaft an alle Menschen. „Ge- helligt; der Kalif hat Synagogen und rum ist mir die Sache mit dem Heiligen-
het hin und lehret alle Völker“, hatte christliche Kirchen wiederherstellen, schein wichtig.
Jesus gesagt. Das trieb die Missionare teilweise sogar bauen lassen.
an – samt der Aussicht, ein heiliges Was meinen Sie?
Werk zu verrichten, die eigene Seele Weshalb? Wenige wissen, dass der Heiligen-
zu retten und schlimmstenfalls als Mär- Natürlich um der politischen Stabi- schein als Bildsymbol in erstaunlich vie-
tyrer zu enden. Um 550 ist sogar auf lität willen. Aber die sogenannten len Religionen existiert: im Hinduismus,
der Insel Ceylon, dem heutigen Sri Schriftreligionen werden im Koran – Buddhismus, Zoroastrismus und natür-
Lanka, eine christliche Gemeinde be- mit seinem komplizierten, oft in sich lich im Christentum. Da müssen gegen-
zeugt. widersprüchlichen Text – eben auch be- seitige Einflüsse am Werk sein. Genau
sonders behandelt. Den Glauben durch wird sich das nicht mehr aufklären las-
Aber war die christliche Lehre mit der Furcht zu verbreiten, erschien unweise; sen. Aber der Sachverhalt genügt ei-
Dreieinigkeit und anderen Formeln Jerusalem und Alexandria ließen sich gentlich. Wer so etwas weiß, dem wird
nicht schwieriger vermittelbar als etwa nicht einfach islamisch machen. klar, dass Religionen sich unentwegt
der Zarathustra-Glaube? gegenseitig anregen und die spirituelle
Im Prinzip ja. Dennoch hatten die Das klingt jetzt aber milde. Wurde Suche des Menschen immer neue For-
Missionare viel Erfolg. Es waren wohl der Glaube des Propheten nicht in men findet.
gute Prediger – eine bessere Erklärung raschen, brutalen Eroberungszügen ver-
habe ich auch nicht. Bisweilen pass- breitet? Professor Frankopan, wir danken Ihnen
ten sie ihre Lehre den örtlichen Be- Aus christlicher Sicht erschien das für dieses Gespräch.
dingungen an, griffen buddhistische sicher so, und muslimische Historiker
oder germanische Jenseitsvorstellun- erzählen verständlicherweise vom Tri- Das Gespräch führte der Redakteur Johannes
gen auf. umph des Islam. Natürlich gab es immer Saltzwedel.
29
Von der Sekte zum Reichskult Grundsatzfragen
Klarer Schnitt?
Von Markus Deggerich
D
ie beiden Apostel Petrus und einig. Ihr Streit blieb kaum hinter alttes- ob der neue Glaube riskierte, als jüdische
Paulus werden oft in einem tamentlichen Zwisten wie jenen zwi- Sekte zu versanden, oder ob er seine Ei-
Atemzug genannt; noch heute schen Mose und Aaron, Kain und Abel genständigkeit betonen und damit seinen
feiert die katholische Kirche ih- oder Josef und seinen Brüdern zurück. Siegeszug antreten konnte.
ren Namenstag am selben Datum. Im Kern ging es um die richtige Aus- Auf der einen Seite des Konflikts stan-
Die beiden Männer gelten als die legung der Lehre Jesu. Genauer gesagt den Petrus und Jakobus, der leseunkun-
entscheidenden Figuren des frühen Chris- um die Frage, ob man nur Christ werden dige Menschenfischer und der Bruder
tentums nach Jesus: Petrus soll der erste könne, wenn man zuvor Jude – also als Jesu. Sie führten die christliche Urge-
Bischof von Rom gewesen sein; auf ihn Mann beschnitten – war oder ob es auch meinde in Jerusalem.
hat die Kirche später das Papsttum zu- ohne die Beschneidung gehe. Diese ersten Jesus-Gläubigen lehnten
rückgeführt. Paulus wirkte als erfolg- Für die weitere Entwicklung des Chris- sich noch stark an die jüdischen Riten an;
reicher Missionar, seine „Paulusbriefe“ tentums war dieses Problem elementar, sie missionierten nur unter Juden, pfleg-
an die entstehenden Gemeinden am wie man heute weiß: Hier entschied sich, ten das Abendmahl nur mit Gleichgesinn-
Mittelmeer wurden im Neuen Testament ten, hielten die Speisevorschriften des Al-
kanonisiert. ten Testaments ein – und pochten bei
Doch die historischen Figuren – Bibel- 360°-Foto: den Männern eben auf Beschneidung als
historiker sind inzwischen sicher, dass Pe- Die Grabeskirche Voraussetzung für die Taufe. Jesus war
trus und Paulus tatsächlich lebten – wa- spiegel.de/sg062017grabeskirche in ihren Augen nicht so sehr Begründer
ren sich in vielen Fragen alles andere als oder in der App DER SPIEGEL einer neuen Religion, sondern eigentlich
ca. 7 v. Chr. bis 30 n. Chr. 325 590 bis 604 etwa 730 bis 843
Christentum
bis 1500
In Byzanz mit seiner eigenen
Kirchentradition streiten
Schlüsselereignisse und Theologen um Verehrung
-gestalten aus der Der jüdische Prediger Jesus Das Konzil von Nicäa, ein- Mit seinen Bibelkommenta- von Ikonen. Lange behaup-
Geschichte des Glaubens von Nazaret versammelt bestellt von Konstantin dem ren, aber auch dank seines ten sich die Bilderstürmer.
Jünger und wird gekreuzigt. Großen, nennt Christus „ei- weisen Stadtregiments in
Die Urgemeinde verehrt ihn nes Wesens“ mit Gottvater, Rom stärkt Gregor der Große
als „Messias“ (Christus). also trinitarisch gleichrangig. nachhaltig das Papsttum.
300 v. Chr. bis 400 n. Chr. 27 v. Chr. bis 395 n. Chr. seit 622 800
Weltgeschichte
bis 1500
Einige politische und soziale
Koordinaten der Im kulturellen Schmelztiegel Von Kaisern regiert, sichert Auf der Arabischen Halbinsel Mit seiner Kaiserkrönung in
vormodernen Epoche der hellenistischen Welt das Römische Reich ver- begründet der Prophet Mo- Rom gibt Karl der Große
blühen neben Philosophie schiedensten Völkern rund hammed den Islam, der sich allen Nachfolgern ein Leitbild
zahlreiche Religionen, darun- um das Mittelmeer Verwal- bald nach Norden und Wes- des Zusammenspiels von
ter auch das Judentum. tungs- und Rechtsstandards. ten kriegerisch verbreitet. Kirche und weltlicher Macht.
30 SPIEGEL GESCHICHTE 6 /2 0 17
nur ein attraktiver Deuter der Tradition. in der Reformation ihre volle Wirkung Resümee des Chefmissionars: „Sie er-
Das Ende der Welt war ihrer Ansicht entfaltete. kannten die Gnade, die mir gegeben
nach nah, aber sie als Elite Jesu waren Damals schickten die Fundamentalis- war.“
dabei gewiss auf der sicheren Seite. ten aus Jerusalem eine Abmahnung nach Seinen Gegnern aber reichte das nicht,
Das Lager der Beschneidungsgegner Antiochia: „Wenn ihr euch nicht beschnei- also musste Paulus inhaltlich nachbes-
führte Paulus von Tarsus an: hochgebil- den lasst nach der Ordnung des Mose“, sern. Seine Vorstellung vom Christentum
det und alles andere als bescheiden, wie zitiert die Apostelgeschichte, „dann könnt skizzierte er später in den Missionsbrie-
in seinen schriftlichen Selbstbeschreibun- ihr nicht selig werden.“ Paulus hingegen, fen als eine Abwendung von starren Re-
gen deutlich wird. Er wollte seine Sache wie so häufig nicht zimperlich, lästerte geln hin zu den Menschen, so wie Jesus
nach dem Seitenwechsel vom Christen- über die „falschen Brüder“, die „die Frei- es vorgelebt hatte. Nicht die Umsetzung
verfolger zum Missionar besonders gut heit, die wir in Jesus Christus haben, des jüdischen Gesetzes mache die Chris-
machen; so, wie es bis heute häufig bei auskundschaften und uns zu Knechten ten gerecht, sondern der Glaube an die
Konvertiten zu beobachten ist: Auf einer machen“. frohe Botschaft von Jesus Christus – das
Reise nach Damaskus, so erzählte er es Gleichwohl willigte er diplomatisch in Gebot der Liebe. Seine Theologie fasste
selbst, habe ihn Jesus persönlich bekehrt, eine Art runden Tisch ein und kehrte im Paulus in dem schönen Satz zusammen:
er änderte seinen Namen von Saulus zu Jahr 48 oder 49 nach Jerusalem zurück, „Denn der Buchstabe tötet, der Geist
Paulus. Nach diesem Erlebnis kannte er um bei einem Konvent der Apostel unter aber macht lebendig.“ Ob das reichte,
keine Grenzen mehr. Die Welt war nicht den Fundamentalisten für seine Refor- um die jüdischen Traditionen nicht mehr
genug, und dafür galt es, sich von alten men zu werben. Als Anschauungsmate- zur Bedingung zu machen für einen
Gewohnheiten zu trennen. rial nahm er sogar einen unbeschnittenen Übertritt ins Christentum?
Neuchristen mit. In der Apostelgeschichte ist die Sache
Zentrum der christlichen Gemeinde um Die ersten Christen pflegten zu dieser anders dargestellt als bei Paulus. Dort
Paulus war Antiochia am Orontes, wo so- Zeit noch ein basisdemokratisches Ritual: kommt Petrus besser weg: Als beim Gip-
genannte Heidenchristen wohnten. An- Männer und Frauen, Arme und Reiche feltreffen in Jerusalem „ein heftiger Streit
ders als die aramäisch geprägten Juden- trafen ihre Entscheidungen mehrheitlich entstand“, habe der vermittelt: Wenn
christen waren sie von der hellenistischen oder bestimmten Verhandlungsführer. Gott doch keinen Unterschied mache
Kultur geprägt und sprachen griechisch. Wie genau das frühkirchliche, relativ hier- zwischen Juden- und Heidenchristen –
Sie waren weniger dem Wort der alten archiefreie Konzil ablief, ist nur dünn be- warum sollten es dann die Menschen tun,
Schriften treu als den Bedürfnissen der legt, aber aus dem Ergebnis und den spä- so seine listige Frage. Eine Formulierung,
Menschen zugewandt. teren Berichten lässt sich einiges ablesen. die alles offenließ, sodass jeder nach sei-
Manche Forscher sehen in diesem Paulus behauptete, allein eine Rede ner Fasson selig werden konnte: In der
Zwiespalt unter den Urchristen die ers- aus seinem Mund habe gereicht, um alle Urgemeinde behielten die Judenchristen
ten Anzeichen jener Wegscheide von Zweifler zum Verstummen zu bringen. ihren Toraglauben und die bekehrten Hei-
Schrift- und Tatglauben, die viel später Denn, so das wie üblich selbstbewusste denchristen ihre Vorhaut.
Der deutsche König Heinrich Kaiser Heinrich V. und Papst In seiner Bulle Unam Die politisch motivierte Wahl Die Verbrennung des refor-
IV. unterwirft sich im ober- Calixt II. legen im Wormser Sanctam beansprucht Papst von Gegenpäpsten löst das matorischen Predigers
italienischen Canossa dem Konkordat den Inves- Bonifaz VIII. die unum- Abendländische Schisma Jan Hus auf dem Konstan-
Papst Gregor VII. – ein titurstreit bei, zumindest schränkte Weltherrschaft der aus: Teilweise regieren zer Konzil wird zum Fanal
Triumph der Kirchenmacht. auf dem Pergament. katholischen Kirche. drei Päpste nebeneinander. erzwungener Kircheneinheit.
1096 bis 1270 1212 bis 1250 12. und 13. Jh. 1347 bis 1353 1453
SPIEGEL GESCHICHTE 6 /2 0 17 31
Von der Sekte zum Reichskult Grundsatzfragen
Weil auch damals schon Religion nicht Nächstenhilfe und Menschlichkeit äu- Urchristentum flammte immer wieder auf:
losgelöst von Politik und Geschäft exis- ßerst attraktiv für die Masse. etwa wenn Petrus, erneut wankelmütig,
tierte, wurden die Jerusalemer für ihre Paulus missionierte nach hellenisti- sich bei einem Besuch in Antiochia wei-
Kompromissbereitschaft entschädigt. Die scher Manier, ohne die Neuchristen noch gerte, mit sogenannten Unreinen an
jüdisch geprägte Urgemeinde bekam das auf das strenge jüdische Gesetz der Tora einem Tisch zu essen. Paulus heizte sol-
Versprechen von Paulus, dass die Missio- einzuschwören. Unterwegs sammelte er che Vorbehalte eher noch an; er kehrte
nare Geld sammeln wollten für die be- auch den Mediziner Lukas ein, der für Antiochia und Petrus den Rücken und
drängten Brüder in der Heimat. Paulus dann mit den ihm zugeschriebe- zog gen Westen, gründete erste europäi-
So einigte man sich auf eine Art fried- nen Schriften über das Leben Jesu und sche Ableger in Philippi und Thessaloniki
licher Koexistenz und Arbeitsteilung: In der Apostel zur Deutungshoheit beige- und feierte seine Heldentaten reichlich in
Jerusalem durfte weiter gefrömmelt wer- tragen haben soll. Missionsbriefen.
den; die Arbeit der Missionare um Paulus Fünfmal habe er die „vierzig Geißel-
aber sollte nicht unnötig durch Auflagen Weil die Exilgemeinden schneller wuch- hiebe weniger einen“ erhalten, die höchs-
erschwert werden. Jakobus, der die Füh- sen als die fundamentalistischen Grup- te Körperstrafe unter Juden; „dreimal
rung der Judenchristen von Petrus über- pen der Jerusalemer Urgemeinde – dort wurde ich mit Stöcken geschlagen, ein-
nommen hatte, fasste zusammen: „Darum konnte man ja praktisch nur unter Juden mal gesteinigt, dreimal habe ich Schiff-
meine ich, dass man die Heiden, die sich missionieren –, entfernte sich das Chris- bruch erlitten, eine Nacht und einen Tag
zu Gott bekehren, nicht beschweren soll.“ tentum immer stärker von seinen jüdi- trieb ich auf dem tiefen Meer“, schrieb
Paulus hatte nun freie Hand. Er mach- schen Wurzeln. Für das Jahr 40 schätzen er der christlichen Gemeinde in Korinth.
te davon auf seinen ausgedehnten Mis- Fachleute die Zahl der Christen noch auf Aufhalten konnte es ihn nicht. Seine Idee
sionsreisen reichlich Gebrauch – hatte er rund tausend. Erst nach dem Konvent ging um die Welt.
doch gewissermaßen an der Börse des und der offiziellen Erlaubnis, auch Nicht- So gegensätzlich die Ansichten von
Glaubens das Portfolio erweitert. Sein juden zu bekehren, begann das schnelle Petrus und Paulus zu Lebzeiten waren,
Christentum wurde zu einer Art Volks- Wachstum. so ähnlich scheint dann doch ihr Ende
aktie, ohne Zugangsbeschränkung und Doch der Konflikt zwischen jüdischen gewesen zu sein: Sie starben der Legende
durch die starke Betonung von Liebe, und hellenistischen Strömungen im nach beide in Rom als Märtyrer.
32 SPIEGEL GESCHICHTE 6 / 2 0 17
Dokument
„ W ü s t e r, m a ß l o s e r
Aberglaube“
Ein Briefwechsel aus der Zeit der
Christenverfolgungen zeigt, wie römische Beamte mit
Anhängern der verbotenen Religion umgingen.
SPIEGEL GESCHICHTE 6 /2 0 17 33
Von der Sekte zum Reichskult Antike Religionsvielfalt
Seelenfänger
Über Markion ist nur wenig bekannt; In einer Krypta in Neapel hing dieses Mithras- Die persischen Großkönige – hier Bahram I.
ein historisches Bild von ihm existiert nicht. Kultbild. Den Stier soll Mithras zur Erneue- (273 bis 276), wie ihn Zarathustra krönt –
rung der Welt geopfert haben (4. Jh.). machten den Zoroastrismus zur Staatsreligion.
34 SPIEGEL GESCHICHTE 6 /2 0 17
Der Manichäismus verbreitete sich über Die Anhänger Mazdaks wurden unterdrückt; Plotin lehrte in Rom; seine Ideen fanden
die Seidenstraße (Handschrift aus Gaochang, diese persische Miniatur zeigt die in der römischen Führungsschicht
China, 8./9. Jh.). Hinrichtung des Propheten (um 1630). viel Anklang (angebliches Porträt, 3. Jh.).
Johannes Saltzwedel
SPIEGEL GESCHICHTE 6 /2 0 17 35
Von der Sekte zum Reichskult Ein Lehrgebäude entsteht
Augustinus war einer der einflussreichsten Theologen und Philosophen der Spätantike:
Seine Werke prägten das abendländische Denken und gaben einen entscheidenden Anstoß
für die Reformation. Sein Lebensweg aber war alles andere als geradlinig.
B
itte, lieber Gott, hilf mir, dass ich in der torikstudium ermöglichen zu können. Es war der
Schule keine Schläge bekomme!“ So be- Schlüssel zum sozialen Aufstieg, vor allem wenn
tete der Abc-Schütze Augustinus vor dem man in Karthago an der angesehensten Universität
Schlafen. Doch Gott half dem Faulpelz Nordafrikas studiert hatte.
nicht, der lieber herumtollte, als seine Hausaufgaben Nach dem Abschluss der Schule nabelte sich Au-
zu machen. Wütend musste er erfahren, dass ihn gustinus erstmals von den Eltern ab. Er zog in das
die Eltern auslachten, sooft er nach einer Tracht benachbarte Madauros, heute Madaourouch, um
Prügel weinend nach Hause kam. Vorlesungen zu besuchen. Nicht immer sah man
Den Erwachsenen war es ja nicht anders ergan- ihn im Hörsaal. Er hatte eine neue Liebe entdeckt,
gen: Schläge gehörten in der Antike zum Schulalltag. das Theater, in dem reisende Schauspielertruppen
Erst als der Grammatiklehrer mit den Schülern Ver- klassische Tragödien und Komödien als Pantomi-
gils „Aeneis“ las, platzte bei Augustinus der Knoten. men aufführten. Doch nach wenigen Monaten kam
Begeistert lernte er Szenen des Gedichts über die Augustinus ins Elternhaus zurück, um den Vater
Vorgeschichte Roms auswendig und durfte bei Klas- nicht zu arg zu schröpfen.
senfesten die klangvollen Hexameter deklamieren. Es dauerte noch eine Weile, bis Patricius das Geld
Es war der Zündfunke für die Karriere eines der für Karthago beisammen hatte. Für den Sohn war es
größten lateinischen Schriftsteller, der ein riesiges die Gelegenheit, in den Tag hinein zu leben, mit Sport
literarisches Werk schuf. Auf 5,2 Millionen Wörter am Nachmittag und Unfug wie dem Birnendiebstahl
hat man allein den überlieferten Teil seiner philoso- in der Nacht. Wer ihn auf dem Sportplatz erlebte,
phischen und theologischen Schriften, seiner Briefe dem fiel auf, dass er stets der Erste und Beste sein
und Predigten berechnet. Mit seinen Kommentaren wollte, schmutzige Tricks nicht scheute, aber lauthals
zu Schriften des Alten und Neuen Testaments fes- meckerte, wenn er selbst gefoult wurde. Wenn Au-
tigte er die Autorität der Bibel. In mehreren Mam- gustinus mit seinen Kameraden zusammenstand und
mutwerken begründete er ein christliches Ge- alle mit ihren tatsächlichen oder erfundenen eroti-
schichtsverständnis und vertiefte die katholische schen Erfahrungen prahlten, war er derjenige, der die
Trinitätslehre. pikantesten Abenteuer erlebt haben wollte.
Seine Schriften wurden fortan so wichtig für das Mit 17 Jahren ging Augustinus endlich nach Kar-
Selbstverständnis des Christentums, dass Augustinus thago. Die Großstadt mit ihren Schauspielen und
als einer der vier großen lateinischen Kirchenväter den Vergnügungen am Hafen überwältigte den jun-
gilt. Doch seine Entwicklung war alles andere als gen Mann aus der Provinz, der noch nie das Meer
geradlinig; seine anrührenden Worte „Unruhig ist gesehen hatte. Auch die Sexualität machte ihm zu
unser Herz, bis es Ruhe findet in dir“ entspringen schaffen. Bald fand er eine Frau, mit der er in aner-
unmittelbar eigener Lebenserfahrung. kannter formloser Verbindung, dem Konkubinat,
In seinem berühmtesten Buch, den „Bekenntnis- zusammenlebte. Nach einem Jahr gebar sie ihm den
sen“, erzählt er freimütig von seiner Jugend, etwa Sohn Adeodatus, den „von Gott Geschenkten“.
wie er eines Nachts mit Kameraden einen Birnbaum Den Namen gab ihm gewiss die fromme Konku-
plünderte und, satt geworden, die meisten Früchte bine. Denn Augustinus war alles andere als ein
den Schweinen vorwarf. glücklicher Vater. Wie die Frau hieß, hat er nie ver-
Geboren wurde Augustinus am 13. November raten; seine Freizeit verbrachte er statt mit der Fa-
354 im nordafrikanischen Städtchen Thagaste, dem milie lieber im Theater oder mit seinen neuen Freun-
heutigen Souk Ahras in Algerien. Der Vater Patri- den. Das Studium der Philosophie und Rhetorik ver-
cius gehörte zur städtischen Oberschicht, wenn auch nachlässigte er freilich nicht, und rasch bewies er
nicht zu ihren reichsten Mitgliedern. Er war Heide, seine Begabung auf beiden Feldern.
die Mutter Monnica Christin. Die Eltern mussten Zu seiner Lieblingslektüre wurde Ciceros „Hor-
sparen, um dem Ältesten von drei Kindern das Rhe- tensius“, ein Dialog über Jenseits und Ewigkeit.
36 SPIEGEL GESCHICHTE 6 /2 0 17
Seine erwachenden religiösen Bedürfnisse befrie- Ein Freund der Familie bot ihm Szenen aus dem
digte er im Manichäismus, der schärfsten Konkur- Unterschlupf. Die ersten Schüler sam- Leben des Augustinus
zeigen die Fresken in
renz des Christentums. Seit der aus dem Irak stam- melten sich um ihn, unter ihnen Aly- der Kirche Sant’Agosti-
mende Stifter Mani im 3. Jahrhundert die Lehre pius, mit dem den Älteren bald eine le- no im toskanischen
von Licht und Finsternis als den beiden Grundprin- benslange Freundschaft verband. Für San Gimignano; oben
zipien des Weltalls verkündet hatte, verbreitete sich das geistige Leben Thagastes wäre Au- seine Anfänge als
Lehrer für Philosophie
seine Lehre schnell bis nach Indien, Persien und gustinus ein Gewinn geworden. Doch
in Rom.
Nordafrika. der Tod eines befreundeten und Christ
Augustinus blieb allerdings ein kritischer Mani- gewordenen Altersgenossen erschütter-
chäer. Ihm stieß auf, dass die vegetarische Lebens- te ihn so stark, dass er nach Karthago zurückkehrte,
weise der sogenannten Auserwählten oft ebenso wo er eine Professur für Rhetorik erhielt.
vorgetäuscht war wie ihre Keuschheit. Sie verrieten Sechs Jahre lehrte er, immer mehr verärgert über
sich, wenn sie ihre Jünger über die unfruchtbaren die Rüpel in seinen Vorlesungen. Ob er seine Mutter
Tage der Frau aufklärten. freudig begrüßte, die ihn eines Tages überraschte
Sobald er das vierjährige Studium beendet hatte, und sich bei ihm einquartierte? Zweifel sind ange-
kehrte Augustinus 374 nach Thagaste zurück, um bracht. Sollte er nicht noch einmal etwas Neues pro-
eine Schule zu eröffnen. Als die Mutter, inzwischen bieren? Er beschloss, sein Glück in Rom zu versu-
Witwe geworden, erfuhr, er huldige dem Mani, ver- chen. An einem Sommerabend 382 bestieg er ein
bot die strenge Katholikin ihm ihr Haus. Schiff nach Italien.
SPIEGEL GESCHICHTE 6 /2 0 17 37
Von der Sekte zum Reichskult Ein Lehrgebäude entsteht
Z
uvor beging er eine Sünde, die ihm später als ihrem Sohn, den mehr der glänzende Kanzel-
besonders naheging: Mit einer Notlüge redner interessierte. Auch ein Professor könne noch
schüttelte er seine Mutter ab, die gern mit- dazulernen, sagte er sich und ging in die Gottes-
gekommen wäre, um ihn nicht nur aus der dienste des Bischofs, um seine rhetorische Technik
Ferne mit Gebeten zu beschützen. In Rom musste zu studieren. Zunächst versuchte er, den Inhalt der
sich der Neuling als Privatlehrer durchschlagen, Predigten zu überhören. Doch bald begann er, sich
unterstützt nur von einem reichen Manichäer. Stu- mit den Themen des Predigers zu beschäftigen. Er
denten vergällten ihm auch hier das Leben: Sie prell- folgte Ambrosius’ Rat und vertiefte sich in die Bibel,
ten ihn um das Hörergeld, indem sie kurz vor Ab- über deren simplen Stil er früher
schluss des Schuljahres zu einem anderen Lehrer wie so mancher Intellektuelle die „Nimm und lies“,
überliefen. Die Misere endete nach einem Jahr. Au- Nase gerümpft hatte.
gustinus gewann die Konkurrenz um einen staat- Dabei entdeckte er zwischen befahl ihm eine
lichen Lehrstuhl für Rhetorik in Mailand, der Resi- Christentum und Philosophie man- Kinderstimme –
denz des weströmischen Herrschers. che Gemeinsamkeiten. Zur gleichen war das nicht
Nun war er wohlbestallter Professor in der kai- Zeit erfuhr er von mehreren promi-
serlichen Metropole mit Familie und großem Haus, nenten Konversionen, die ihn tief be- ein göttlicher
in dem sich bald Monnica und weitere Verwandte wegten. Um selbst diesen Schritt zu Wink?
und Freunde aus der Heimat einfanden. Augustinus wagen, bedurfte es nur noch eines
hätte also mit dem neuen Leben und der Lehrtätig- kleinen Anstoßes, denn vom Manichäismus hatte er
keit zufrieden sein können. Zudem wuchs sein öf- sich innerlich schon seit längerer Zeit verabschiedet.
fentliches Ansehen, seit er eine Geburtstagsrede auf Der Moment kam eines Tages im Garten seines
den minderjährigen Kaiser Valentinian II. gehalten Hauses, wo er in der Nachbarschaft eine Kinder-
und die Hofgesellschaft samt den hohen Beamten stimme hörte: „Nimm und lies, nimm und lies!“
mit seinem Können beeindruckt hatte. War das nicht ein göttlicher Wink? Er griff zur Bibel,
Doch zwei Herausforderungen trieben ihn um: die auf einem Gartentisch lag, schlug zufällig den
die neuplatonische Philosophie und der Bischof Am- Römerbrief des Paulus auf und las mitten in den
brosius. Der aus dem Hochadel stammende Inhaber Mahnungen des Apostels im 13. Kapitel: „… nicht
des Mailänder Bischofsstuhls war Stadtgespräch. Er in Schwelgerei und Trunkenheit, nicht im Bett und
mischte sich in die hohe Politik ein und war die ka- in Unzucht, nicht in Streit und Eifersucht, sondern
tholische Speerspitze gegen die Arianer und ihre zieht an den Herrn Jesus Christus, und macht euch
Gesinnungsgenossen in der kaiserlichen Familie. Für keine Sorgen um die Lüste des Fleisches!“
diese Häretiker war Jesus zwar Gottes Sohn, aber Der Würfel war gefallen – er würde ein christli-
nicht „gleichen Wesens mit dem Vater“, wie das ches Leben beginnen. Der Bekehrte zeigte die Stelle
Glaubensbekenntnis lehrte, das 325 auf dem Konzil dem anwesenden Alypius, der weiterlas bis zu den
von Nicäa verabschiedet worden war. Worten: „Den Schwachen aber im Glauben nehmt
An Ambrosius’ Sieg in diesem Konflikt war des- an!“ Der Befehl musste sich auf ihn selbst beziehen,
sen begeisterter Anhängerin Monnica mehr gelegen und auch der Freund bekehrte sich.
38 SPIEGEL GESCHICHTE 6 /2 0 17
1465 stellte der
Renaissance-Maler
Benozzo Gozzoli die
insgesamt 17 Fresken
fertig, darunter
die Reise des Heiligen
von Rom nach Mailand.
auf dem Ölberg ein Kloster für 60 Theologenstreit zwischen Rufinus und Sohn verschloss sich der Mission –
Frauen, das sie bis zu ihrem Tod dem Kirchenvater Hieronymus, der in- wie auch die Mehrheit der Standesge-
leitete. zwischen in Betlehem lebte. Er hatte nossen: „Wegen ihres Verhaltens hatte
Unterstützt wurde die Liebhaberin dort zusammen mit seiner geistlichen sie gegen alle Senatoren und ihre Gat-
theologischer Schriften von ihrem Freundin Paula ein Doppelkloster ge- tinnen einen Kampf wie gegen wilde
geistlichen Wegbegleiter, dem Kirchen- gründet. Wie Melania stammte auch Tiere zu kämpfen“, stellte Palladius
schriftsteller Rufinus von Aquileia. Ihr diese Asketin aus der römischen später diplomatisch fest, „versuchten
Bewunderer Palladius, Mönch und Bi- Hocharistokratie. diese doch ihr Bemühen zu durchkreu-
schof von Helenopolis (dem heutigen Wenige Jahre vor ihrem Tod erfuhr zen, dass weitere Familien der Welt
Hersek nahe Istanbul) in Kleinasien, Melania, ihre gleichnamige Enkelin entsagten.“
setzte ihr in seiner „Historia Lausiaca“ wolle ihr nacheifern, doch behindere Die Greisin ließ sich nicht ein-
ein literarisches Denkmal: „Denn in die römische Familie den Plan. Die schüchtern. „Was verweilt ihr so gern
den 37 Jahren, da sie als Fremde in Großmutter reiste nach Rom. Auf dem bei den Eitelkeiten dieses Lebens?“,
der Welt lebte, half sie aus eigenen Weg traf sie ihren Verwandten Pauli- wetterte sie. „Könnten doch die Tage
Mitteln Kirchen, Klöstern, Fremden nus. Der künftige Bischof von Nola des Antichrists euch treffen, und ihr
und Gefängnissen, wobei ihre Ver- war von ihrer Ausstrahlung so beein- wärt nicht mehr in der Lage, euren
wandten, ihr Sohn und die Verwalter druckt, dass er ihre Tugenden mit de- Reichtum und die von den Vorfahren
das Geld beschafften.“ nen des heiligen Mönchsbischofs stammenden Güter zu genießen.“ Die
Einen düsteren Umstand, der das Martin von Tours verglich. Prophetin sollte recht behalten: 410
ideale Bild hätte trüben können, ver- In Rom bekehrte Melania fast ihre ließ der Westgotenherrscher Alarich
schwieg der Biograf: den erbitterten gesamte Familie zur Askese. Nur ihr Rom plündern. Judith Rosen
SPIEGEL GESCHICHTE 6 /2 0 17 39
Von der Sekte zum Reichskult Ein Lehrgebäude entsteht
rer Lactantius überliefert hat: Der Kai- von den Worten „In diesem Zeichen
Gebete für ser gab den Christen ihre konfiszierten siege“ umrahmt wurde.
den Kaiser Gotteshäuser zurück, und ihre Ge-
meinden erhielten wie andere religiö-
Der Sieger näherte sich daraufhin
persönlich dem Christentum. Als
se und berufliche Vereine einen recht- selbst ernannter „Bischof des Äuße-
Im 4. Jahrhundert gelang dem
lichen Status. Als Gegenleistung ver- ren“ lud er die Bischöfe in dieser Ei-
Christentum ein entscheidender
langte Galerius, die Christen sollten genschaft zu einem Konzil in Nicäa
Schritt: Aus der Untergrund-
„in Zukunft zu ihrem Gott für unser ein, das die Lehre des Arius als irrig
Religion wurde der offizielle Kult
Heil beten, für das Heil des Staates verurteilte. Im „Nicaenischen Glau-
des römischen Imperiums.
und für ihr eigenes Heil, damit der bensbekenntnis“ betete die Kirche fort-
Staat nach allen Seiten gewahrt bleibt an, Jesus Christus sei „gleichen We-
Der 1. April 311 war in der Geschichte und sie an ihren Wohnsitzen sicher sens“ mit Gottvater und dem Heiligen
des Christentums ein tiefer Einschnitt: leben können“. Geist, während Arius ihm nur ein „ähn-
Kaiser Galerius musste erkennen, dass Kaiser Konstantin der Große fuhr liches Wesen“ zubilligte. Mit mehreren
die schwere Verfolgung der Christen ge- hier fort, nachdem er am 28. Oktober Gesetzen wie dem zur Sonntagsheili-
scheitert war, die sein Vorgänger Diokle- 312 in der Schlacht an der Milvischen gung stärkte Konstantin die Stellung
tian 303 eröffnet hatte. Allen blutigen Brücke vor Rom die Herrschaft über die der katholischen Kirche, konnte aber
und unblutigen Maßnahmen zum Trotz Westhälfte des Römischen Reiches ge- den Graben zwischen ihr und den Aria-
wuchs die junge Religion immer weiter. wonnen hatte. Seinen Sieg schrieben nern nicht überwinden.
An jenem Tag erließ Galerius daher er und die Christen der Erscheinung ei- Sein Sohn Constantius II. (337 bis
ein Toleranzedikt, das der Kirchenleh- nes Kreuzes am Mittagshimmel zu, das 361) wurde sogar Arianer und billigte
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Die neue Klosterfamilie, zu der Alypius gehörte, Auch die Manichäer hatten in Hippo viele An-
lebte unter ihrem Leiter Augustinus von dem Besitz, hänger. Gegen deren renommierten Vorsteher trat
den jedes Mitglied einbrachte. Gemeinsames Gebet Augustinus zu einem öffentlichen religionspoliti-
und gemeinsame Mahlzeiten gehörten zum regel- schen Schlagabtausch in den Ring und blieb Sieger.
mäßigen Tagesablauf. Solange die Gemeinschaft klein Sein scharfer philosophischer und theologischer Ver-
war, brauchte es keine schriftlichen Festlegungen. Die stand sprach sich herum, und als 395 der amtierende
sogenannte Augustinusregel entstand erst später. Bischof von Hippo starb, musste man den Nachfol-
War es 391 Zufall oder ein weiterer Wink Gottes, ger nicht lange suchen.
dass er bei einem Besuch in Hippo Regius den Schon vorher hatte Augustinus mit Bischof Au-
dortigen Christen auffiel, weil er in der relius von Karthago, dem Metropoliten der nord-
Stadt ein zweites Kloster gründen woll- afrikanischen Diözesen, Freundschaft geschlossen.
Was hatte te? Sie suchten nämlich einen Helfer für Künftig kämpften die beiden gemeinsam gegen die
ihn nur ihren Bischof, einen Griechen, dessen inneren und äußeren Feinde der Kirche. Unermüd-
angetrieben? mühselige lateinische Predigten ihren lich schuf Augustinus dazu die theologischen Grund-
Ohren wehtaten. Belehrungen und mo- lagen. Oft schrieb er die Nächte durch und setzte
Hatte der ralische Ermahnungen wirkten schließ- bei Sonnenaufgang auf dem letzten ihm verbliebe-
Mensch eine lich besser, wenn man dem Redner mit nen Papyrusblatt noch den regen Briefwechsel fort,
angeborene Genuss zuhörte. Daher empfahlen sie den er mit christlichen Freunden und heidnischen
dem Bischof den ehemaligen Rhetorik- Gegnern führte.
Neigung professor. Zwischen 397 und 401 verfasste er die „Bekennt-
zum Bösen? Der zierte sich erst ein wenig, gab nisse“, seine Lebensbeichte in 13 Büchern. Eine sol-
dann aber nach und ließ sich vom Bischof che Autobiografie, die das Seelenleben ihres Ver-
zum Priester weihen. Während seiner fassers offenlegte, hatte es bisher nicht gegeben.
Mönchsgemeinschaft in Thagaste fortan Alypius vor- Reumütig erinnerte sich Augustinus im zweiten
stand, verwirklichte er seinen Plan und gründete Buch, wie er die Kameraden angestiftet hatte, den
neben der Bischofskirche ein neues Kloster. Birnbaum leer zu plündern, statt sich lediglich satt
Die Hafenstadt Hippo Regius, das heutige Anna- zu essen. Was trieb ihn damals an? Hat der Mensch
ba in Algerien, war allerdings ein hartes Pflaster. nicht neben seinen guten Eigenschaften eine Nei-
Neben Katholiken, Arianern und Heiden gab es gung zum Bösen?
E
dort auch eine blühende Gemeinde von Donatisten.
Deren Vorfahren hatten sich mit der katholischen s muss eine Erbsünde geben, seit Adam
Kirche überworfen, weil sie ihnen in der letzten gro- und Eva im Garten Eden vom Baum der
ßen Christenverfolgung von 303 bis 311 nicht stand- Erkenntnis gegessen hatten und aus dem
haft genug geblieben war. Seitdem hatten sich vor Paradies vertrieben worden waren, erkann-
allem in Nordafrika die Fronten verhärtet, und do- te Augustinus: Allein göttliche Gnade konnte die ei-
natistische Schlägerbanden, die Circumcellionen, gentlich von Geburt an verlorenen Menschen retten.
prügelten manchen katholischen Bischof blutig. Darüber führte er später mit dem Mönch Pelagius
die Verfolgung katholischer Wortfüh- Erst Theodosius I. (379 bis 395) traf
rer. Konstantins Neffe Julian, 361 Al- die entscheidenden Maßnahmen ge-
leinherrscher des Reiches geworden, gen Heiden und Häretiker und ver-
wollte dann die Anerkennung des schaffte so der katholischen Kirche
Christentums rückgängig machen. endgültig den Vorrang, den sie nie
Das verhinderte aber der frühe Tod mehr verlieren sollte.
des „Abtrünnigen“, der 363 auf Doch der Aufstieg des Christentums
einem Feldzug gegen Persien fiel. zur Staatsreligion war nicht unumstrit-
Heidnische Kaiser gab es fortan ten: Schon seit Konstantin mahnten
nicht mehr. Der Katholik Valentinian I., manche, die Verbindung zwischen Kir-
Kaiser im Westen des Reiches che und Staat, zwischen Herrschern
(364 bis 375), war tolerant und befür- und Bischöfen führe ins Verhängnis.
wortete ein friedliches Nebeneinander „Hofbischöfe“ beeinflussten die Kaiser
zwischen den christlichen Konfes- und fanden zu viel Geschmack an den
sionen und den Verehrern der alten Verlockungen der Residenzstädte. Die
Götter. Nur wenn es zu Konflikten Kritiker plädierten für eine Rückkehr
kam, griff er ein. Valens dagegen, zum Urchristentum – eine Forderung,
sein Bruder und Herrscher im Osten die durch die Jahrhunderte hindurch
(364 bis 378), war Arianer und ging immer wieder aufkam. Doch das Rad
gegen missliebige Anhänger des der Geschichte ließ sich nicht mehr
Nicaenums vor. Konstantin der Große (Statue, 4. Jh., Replik) zurückdrehen. Klaus Rosen
SPIEGEL GESCHICHTE 6 /2 0 17 41
Von der Sekte zum Reichskult Ein Lehrgebäude entsteht
Ambrosius, Bischof
von Mailand,
taufte Augustinus
im Jahr 387.
42 SPIEGEL GESCHICHTE 6 /2 0 17
Im Chor der Kirche von San Gimignano ist
zu sehen, wie Augustinus seinen Mitbrüdern
die erste Klosterregel vorliest.
ein Bischof und früheres Klostermitglied, der vor Christi und der Kirche teil, die ihm Gott geschenkt
den Barbaren geflohen war. Er schrieb wenige Jahre hat, auch ohne Ablassbrief.“
später die Biografie seines Freundes. Als sich die Gut 100 Orden lebten im Lauf der Jahrhunderte
Vandalen 431 vor einem römischen Entsatzheer zu- nach Augustinus’ Klosterregel. Derzeit gibt es
rückzogen, waren Hippos Christen überzeugt, Au- 5 Männer- und 13 Frauenorden, die sich nach ihm
gustinus habe im Himmel ein gutes Wort für sie ein- benennen. 13 Augustinus-Institute beschäftigen sich
gelegt und Gott habe seine Bitte erhört. mit seinem Werk und publizieren ihre Erkenntnisse
434 wurde Hippo doch Opfer der Vandalen. in ebenso vielen Zeitschriften, die seinen Namen
Die flüchtenden Christen überführten den Sarg mit im Titel führen. Eine neue zweisprachige Ausgabe
ihrem berühmtesten Mitbürger nach Sardinien. seiner Schriften soll am Ende 130 Bände umfassen.
Auch seine Bibliothek nahmen sie mit. Die letzte Und nicht zu zählen sind die Kirchen, deren Patron
Ruhestätte fand der Tote im 8. Jahrhundert in er ist. Keine andere Persönlichkeit der Antike,
Pavia. weder Alexander der Große noch Caesar, weder
Bis heute hält die Wirkung seiner Schriften an. Augustus noch Konstantin der Große, ist so lebendig
Nie war sie folgenreicher als im Jahr 1517, nachdem geblieben wie Augustinus. I
der Apostel Paulus und dessen Interpret Augustinus
den Augustinermönch Martin Luther endgültig von
Gottes unverdienter Gnadenfülle überzeugt hatten. Klaus Rosen war bis zu seiner Emeritierung Professor für
In der 37. These seines Klosterbruders Martinus hät- Alte Geschichte an der Universität Bonn. 2015 veröffentlichte
te sich Augustinus wohl wiedererkannt: „Jeder wah- er die Biografie „Augustinus. Genie und Heiliger“ (2. Auflage
re Christ, ob lebendig oder tot, hat an allen Gütern 2017, Zabern Verlag).
SPIEGEL GESCHICHTE 6 /2 0 17 43
Von der Sekte zum Reichskult Klöster
Als frommes Außenseitertum begann es – doch rasch entwickelte sich das Mönchtum
zu einem der Grundmodelle christlichen Lebens im Abendland. Mit vorbildhaftem Leben,
Mission und Bildung warben die Ordensleute für ihren Glauben.
Z
wölf Kilometer vor der Südwest- ten, Gott am besten fern menschlicher das ewige Leben zu gewinnen hofften.
küste Irlands ragen zwei Felsen Gesellschaft dienen zu können. In der Einsamkeit (griechisch: eremía)
aus dem Atlantik. Der größere Das nach dem Erzengel Michael be- versuchten sie, dem Vorbild Jesu zu fol-
der beiden, Skellig Michael nannte winzige Eiland vereinte für einige gen, indem sie die Askese als Lebensform
(„Michaels Felsen“), ist knapp 220 Meter Hundert Jahre – bis die Insel zu Beginn wählten.
hoch. An klaren Tagen hat man von hier des 13. Jahrhunderts verlassen wurde – Das aus dem Griechischen abgeleitete
einen wunderbaren Blick auf die Weite die beiden Arten des Mönchslebens: al- Wort Askese bedeutet Übung oder Ein-
des Atlantiks und auf die Felsformatio- lein und in Gemeinschaft. Das kleine übung und war ursprünglich nur auf
nen der irischen Küste. Kloster und die Einsiedelei auf der Insel handwerkliche Fertigkeiten oder auch auf
Wenn aber aus Nordwesten tagelang sind nur ein Beispiel für die zahlreichen sportliche Leistungen bezogen; philoso-
schwere Stürme heranrasen und sich Formen mönchischen Lebens, die seit der phische Schulen der Antike hatten den
nicht einmal die Seevögel in die Luft wa- Spätantike entstanden sind. Mönche wur- Begriff jedoch auch benutzt, um das Ideal
gen, kann man sich nicht vorstellen, dass den zu einem Beispiel für besonders vor- eines vollkommenen Menschen zu um-
hier einmal Menschen gelebt haben. bildhaftes christliches Leben. Und im schreiben: geprägt durch Verzicht und
Doch so war es. Ein paar bienenkorbför- Mittelalter entwickelten sich die Klöster durch bestimmte geistige und körperliche
mige Hütten aus Stein unterhalb des zu den wichtigsten Keimzellen für Bil- Übungen.
Nordgipfels der Insel sind der Beweis, ge- dung und Kultur und trugen damit ent- Aus einer dieser Schulen stammt der
nau wie sechshundert zum Teil in den scheidend zur Verbreitung christlichen Satz: „Der Leib ist das Grab der Seele.“
Fels gehauene Stufen, die hinab zu einer Denkens bei. Auch der griechische Philosoph Platon
kleinen Bucht führen. Als die frommen Männer auf Skellig spricht vom Gefängnis des Leibes, in dem
Es sollen zwölf Mönche gewesen sein, Michael ihre Behausungen errichteten, die Seele eingesperrt sei. Durch Platons
entsprechend der Zahl der Jünger Jesu, blickte das Mönchtum bereits auf meh- Lehre zieht sich ein Dualismus zwischen
und ihr Abt, die sich hier, an einem der rere Jahrhunderte Geschichte zurück. der vergänglichen materiellen Welt, in
menschenfeindlichsten Orte Westeuro- Seine Anfänge liegen dort, wo auch das welcher der menschliche Leib seinen
pas, im 6. oder 7. Jahrhundert ansiedel- Christentum entstand: im Vorderen Platz hat, und der unvergänglichen Welt
ten. Die aus unbehauenen Steinen zu- Orient. Hier, etwa in den Wüsten und der Ideen, in der die Seele ihre Heimat
sammengefügten Hütten dienten den Einöden Ägyptens, lebten im 3. nach- findet.
Männern als Schlafzellen; ein verwitter- christlichen Jahrhundert Männer, die Auch in der Philosophie der Stoa wie
tes steinernes Kreuz ragt auf, es gibt eine ganz bewusst von ihren Familien und in der kynischen Philosophie spielte die
Kapelle, einen kleinen Friedhof mit überhaupt vor allen Bindungen und Askese eine wichtige Rolle. Die Stoiker
schiefen Grabkreuzen darauf und eine menschlichen Gemeinschaften in die Ein- wollten ihre Triebe beherrschen, sogar
Zisterne. samkeit geflohen waren. frei von ihnen werden – um ihre innere
Und als wäre das Leben in der kleinen Nicht aus Menschenfeindlichkeit oder
Klosteranlage nicht schon entbehrungs- weil es ihnen in den Städten zu un-
reich genug gewesen, lag am schwer zu ruhig war, zogen diese ersten Mönche, Wie Mönche heute leben, fotografierte Kiên
erreichenden Südgipfel von Skellig die man Anachoreten nannte – griechisch Hoàng Lê 2013 in deutschen Klöstern. Die
Michael, dort, wo die Insel am höchsten „anachoreín“ bedeutet „sich zurückzie- Benediktinerabtei Münsterschwarzach ist
schon äußerlich ein Inbegriff der Tradition –
ist, auch noch eine kleine Einsiedelei, die hen“ –, in die Unwirtlichkeit der Sand- und ein Zentrum der alten gregorianischen
wohl seit dem 9. Jahrhundert von Eremi- und Steinwüsten, sondern weil sie durch Gesangskunst. Vor dem Mittagessen im
ten bewohnt wurde – Männern, die glaub- Verzicht und Enthaltsamkeit das wahre, Refektorium beten die Brüder gemeinsam.
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SPIEGEL GESCHICHTE 6 /2 0 17 45
Von der Sekte zum Reichskult Klöster
Freiheit zu finden. Ihre asketischen For- Christentums, vielmehr konkurrierten sie Das Vorbild aller Einsiedler der fol-
derungen gingen weit: wenig Essen, Be- und befruchteten einander in der Spät- genden Jahrhunderte war der aus Ägyp-
dürfnislosigkeit bei Kleidung, Wohnung antike. Die Christen sahen ihre Religion ten stammende Antonius, später der
und Besitz, Ertragen von Kälte und Hitze, als einzig wahre und wollten hinter den heilige Antonius. Er gilt als Vater der
Hinnahme des Beschwerlichen, Verzicht Askeseforderungen der Heiden nicht zu- Mönche, sein Leben diente Generatio-
auf die Ehe. rückstehen. Minucius Felix, ein kirch- nen von Nachfolgern als Modell mönchi-
Der römische Philosoph Seneca, eine licher Schriftsteller des 3. Jahrhunderts, schen Daseins. Das lag vor allem an der
Hauptfigur stoischen Denkens, schrieb schrieb spöttisch: „Man könnte meinen, Lebensbeschreibung, die der Patriarch
anerkennend: „Einige haben es fertigge- die Christen seien die Philosophen von von Alexandria, Bischof Athanasius, ver-
bracht, dass sie überhaupt nicht lachen; heute, oder die Philosophen seien schon fasst hatte; sie machte Antonius zu ei-
andere haben sich des Weines, andere damals Christen gewesen.“ nem Mythos der Spätantike.
der geschlechtlichen Liebe, andere des Antonius war ein Aussteiger, der ver-
Trinkens ganz enthalten; ein anderer hat Einer der ersten, die die christliche As- schenkte, was ihn an die Gesellschaft
sich mit kurzem Schlaf begnügt und sich kese theoretisch begründeten, war Ori- band – vor allem seinen Grundbesitz –,
unermüdlich gemacht.“ genes, ein Christ aus Alexandrien, der seine Familie verließ und in eine Gegen-
Auch die Kyniker strebten das Ideal selbst asketisch lebte und als einer der welt übersiedelte: erst in eine Grabkam-
der Bedürfnislosigkeit an. Mühe und Pla- Vorläufer des Mönchtums gilt. Das Wort mer nahe seinem Heimatdorf, dann für
ge zeichneten ein gelingendes Leben aus, Mönch kommt wieder aus dem Griechi- zwei Jahrzehnte in ein verlassenes Kas-
konventionellen Lebensformen begegne- schen: monachós ist der allein, der „ein- tell am Rande der Wüste, später dann
ten die Kyniker mit Gleichgültigkeit, fast zigartig“ Lebende. Origenes, der um das ganz in die Einöde. In der Abgeschieden-
überheblich. Großes Vorbild im Kynis- Jahr 254 starb, setzte sich mit dem „ein- heit beschäftigte er sich mit Beten, Lesen
mus, der im 2. Jahrhundert nach Christus zigartig“ Leben, dem „Zurückziehen“ in in heiligen Schriften und mit körperlicher
wieder in Mode war, war der in einem die Einsamkeit in seinen Schriften aus- Arbeit wie Korbflechterei – der Eremit
Fass lebende Diogenes von Sinope. einander; selbst tat er den Schritt nicht. musste von seiner Hände Arbeit leben.
Weder die Stoa noch der Kynismus Aber es dauerte nur wenige Jahre, bis Von Menschen blieb der Mönch in sei-
verschwanden mit dem Aufkommen des die ersten Mönche in die Wüste zogen. ner Zurückgezogenheit weitgehend ver-
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schont; dafür peinigten ihn, sicht kümmerliches Leben.
wie Athanasius berichtet, der So waren die Pachomius-
Teufel und Scharen von Dä- Klöster – schon bald folgten
monen. Aber der Einsiedler dem ersten weitere – auch ein
widerstand ihnen, so sein Bio- Schutzraum für Asketen, in
graf, durch Wachen, Fasten dem diese zwar getrennt von
und allerlei Listen. Als Anto- der Welt, aber nicht mehr auf
nius nach zwei Jahrzehnten sich allein gestellt ihren Ge-
das Kastell verließ, trat er, beten und Übungen nach-
schreibt Athanasius, „wie aus gehen konnten.
einem Heiligtum hervor, ein- Oft lebten mehrere Hun-
geweiht in tiefe Geheimnisse dert Mönche in den Klöstern,
und als ein von Gott Erfüllter“. die den Regeln des Pacho-
Athanasius verfasste die mius folgten; diese schrift-
Vita des Antonius kurz nach lichen Gebote legten nun ge-
dessen Tod im Jahr 356, der nau fest, wie das Leben der
ihn im sagenhaften Alter von Mönche auszusehen hatte: Pa-
105 Jahren ereilte. Das Buch chomius ordnete einen genau
wurde zu einem Bestseller der begrenzten Wohnraum der
Antike, der aus dem Griechi- Mönche an; eine einheitliche
schen rasch ins Lateinische Lebensweise bezogen auf Er-
übersetzt wurde, bald auch in nährung, Kleidung und Ar-
andere Sprachen des Mittel- beit; gemeinsamen Gottes-
meerraumes wie Koptisch und dienst selbstverständlich und
Syrisch und noch weit darüber nicht zuletzt die Unterord-
hinaus. Der Bischof wollte mit nung unter die Autorität
seiner Lebensbeschreibung eines Abtes, des Klosterobe-
des großen Mannes zur Nach- ren. Letztlich ging es jedoch
ahmung anregen, was ihm immer darum, christlich, das
auch gelang. Die Begeisterung heißt dem Evangelium gemäß
für das Mönchsleben in der zu leben. Die Bibel war die
Wüsteneinsamkeit verbreitete Norm, nach der sich die Mön-
sich rasch aus dem Orient bis che richten sollten.
in den lateinischen Westen des Dieses Modell war so an-
Römischen Reiches. In der Garderobe von Münsterschwarzach
ziehend, dass scharenweise
Auch in der Kunstgeschich- hängen unter den liturgischen Büchern die Novizen in die Klöster ström-
te taucht der Heilige immer Winterkutten bereit. ten. Nicht nur Männer. Auch
wieder auf, eine der berühm- Frauen lebten in – natürlich
testen Darstellungen findet sich auf Für die Menschen in der Umgebung eigenen – Gemeinschaften, die sich zum
einem der Flügel des Isenheimer Altars gab es einen erkennbaren Unterschied Ideal der Besitz- und Ehelosigkeit, zu Ge-
aus dem frühen 16. Jahrhundert. Hinter zwischen dem Leben in der Mönchs- bet, Schweigen, Demut und Gehorsam
Antonius lauert dort, halb verdeckt durch gemeinschaft und dem der Einsiedler- gegenüber einer Oberen bekannten.
ein Butzenfenster, ein teufelsartiges Un- mönche: Die Koinobiten waren durch Doch die Klöster des Pachomius wur-
geheuer: einer der legendären Dämonen. eine Mauer von der Außenwelt getrennt, den in ihrer Gesamtheit reich und mäch-
Fast gleichzeitig mit Antonius und den Zugang gab es nur durch eine Pforte. tig, was der ursprünglichen Idee, in Ar-
anderen christlichen Einsiedlern in Ägyp- Und anders als die Eremiten lebten die mut nach dem Evangelium zu leben,
ten entwickelte sich dort eine weitere Mitbrüder des Pachomius in Häusern. Sie nicht gut bekam. Beides, Reichtum und
Spielart des Mönchtums; sie sollte die bis arbeiteten – wie spätere Mönche auch – Macht, waren, wie ein Historiker es for-
heute folgenreichste werden. Pachomius, als Gärtner, Bäcker oder Weber; was sie muliert hat, die „unheimlichsten Toten-
ebenfalls ein Eremit, sammelte um das herstellten, verkauften sie, um das Klos- gräber“ des christlichen Mönchtums;
Jahr 325 Gleichgesinnte um sich, denen ter erhalten zu können. Oder sie gaben auch später würde noch mancher Orden
mehr Gemeinsamkeit wichtig war, und die Einnahmen als Almosen weiter. diese Entwicklung durchlaufen. Zum
schwor sie auf eine asketische Lebens- Das gemeinsame Wirtschaften wie Ende des 4. Jahrhunderts war die kurze
form unter seiner Führung ein. überhaupt die Gemeinschaft entsprach Blütezeit der Klöster ihres Gründervaters
dem Ideal der Jerusalemer Urgemeinde, Pachomius schon wieder zu Ende.
„Gemeinsames Leben“ (koinós bíos) lau- die Pachomius vor Augen hatte: Die Währenddessen blühte das Mönchtum
tete die Devise dieser Männer, die man Mönche sollten ein Herz und eine Seele in anderen Regionen rund um das Mittel-
daher Koinobiten (latinisiert: Zönobiten) sein, das Wenige, was sie brauchten, mit- meer und in unterschiedlichen Formen
nannte. Einen Ort für das gemeinsame einander teilen. Nicht zuletzt war dem auf; im 4. Jahrhundert war das Christen-
Leben fand Pachomius in dem verlasse- Klostergründer auch klar, dass nicht je- tum im Römischen Reich zur privilegier-
nen ägyptischen Dorf Tabennese; dort der sich zum Eremiten eignete; vielfach ten, schließlich zur Staatsreligion gewor-
gründete er das erste christliche Kloster. führten die Einsiedler ein in jeder Hin- den. Einmal selbst einem Eremiten be-
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Von der Sekte zum Reichskult Klöster
gegnet zu sein, gehörte nun zum festen Berichtet wird von einem Mönch in Viel wichtiger wurden auch in Byzanz
Bestandteil der frühchristlichen Frömmig- Palästina, dem als Behausung eine kleine die Klöster. Die ersten entstanden in
keit; Damen der römischen Aristokratie Hütte diente, die aus Schutt, Töpferscher- Kleinasien, wo Bischof Basilius von Cae-
pilgerten in die ägyptische Wüste, um ben und ein paar Ziegeln errichtet war, sarea mit seinen Mönchsregeln prägend
fromme Einsiedler selbst in Augenschein und zwar so, dass er nur gebückt darin wurde; später dann, Anfang des 9. Jahr-
nehmen zu können. stehen konnte. Im Liegen musste er die hunderts, bildeten sich Gemeinschaften
Ungefähr zur selben Zeit wie in Ägyp- Füße anziehen. Barsauma, ein anderer auf dem vom Meer umgebenen Berg
ten entfalteten sich mönchische Lebens- Mönch, trieb den Kult der Askese noch Athos im nördlichen Griechenland und
formen in Palästina und in Syrien und weiter, indem er eine eiserne Tunika trug, darüber hinaus, die bis zum heutigen Tag
drangen bis nach Mesopotamien vor. In die ihn im Winter frieren ließ, im Som- bestehen.
Palästina entstand die Form der „Laura“ mer hingegen röstete. Wie der Historiker In der orthodoxen Kirche wurde Basi-
(griechisch für „enge Gasse, Hohlweg“) als Manfred Clauss schildert, aß Barsauma lius, der den Beinamen „der Große“ er-
ein besonderer Typus des Klosters. Auch nach alttestamentlichen Vorbildern nur hielt, zum Gründervater des Mönchtums.
hier stand ein Abt (das Wort stammt vom Früchte, die ohne menschliches Zutun Für die lateinisch geprägte Kirche des
aramäischen „abba“, „Vater“, ab) einer wuchsen. Er soll nie gesessen und im Ste- Abendlandes übernahm diese Rolle im
Gruppe von Mönchen vor, die als Anacho- hen geschlafen haben. 6. Jahrhundert Benedikt von Nursia mit
reten jeweils für sich an den Hängen eines Besonders streng war die Askese der seiner Regel. Er baute auf verschiedenen
engen Tales in Zellen und Höhlen lebten. Mönche in Syrien. Dort herrschte gera- Grundlagen auf, vor allem aber auf den
dezu eine religiöse Leistungssucht. So Traditionen von Augustinus von Hippo
Immer sonntags trafen sich die Mönche verbrachten „Styliten“ (Säulensteher) ihr und Johannes Cassianus.
und ihr Abt zum gemeinsamen Gebet Leben auf einer Säule, ohne Schutz Wind Augustinus (siehe Seite 36) gründete
und zur Eucharistiefeier. Der Abt einer und Wetter ausgesetzt, stehend oder auf zunächst an seinem nordafrikanischen
solchen Gemeinschaft war mehr als der den Knien betend. Der erste und berühm- Geburtsort Thagaste ein Kloster, später
Organisator eines mehr oder weniger teste war Symeon Stylites, der 30 Jahre wurde er Priester, dann Bischof; als sol-
losen Zusammenlebens; er war der geist- lang auf einer 20 Meter hohen Säule ver- cher gründete er ein weiteres Kloster –
liche Vater der Mönche, derjenige, der harrt haben soll, bestaunt von unzähligen und zwar für Kleriker. Auch als Bischof
ihre Seelen hütete und sie durch ihr spi- Pilgern, zu denen er zweimal am Tag pre- der Stadt Hippo Regius wollte er nämlich
rituelles Leben lotste. digte. Nicht wenige seiner Zuhörer soll sein mönchisches Leben fortsetzen und
Askese war auch in solchen Klöstern er erst zum Christentum bekehrt haben. sammelte andere Geistliche um sich, die
selbstverständlich; auch von Außen- Diese extravagante Art der Askese mit ihm in Askese hinter Klostermauern
stehenden wurden die Verzichts- und blieb allerdings fast ausschließlich auf die leben wollten.
Demutsleistungen der Mönche beifällig östlichen Kirchen und das Oströmische, Damit war neben dem Asketentum
aufgenommen, als handele es sich um das Byzantinische Reich beschränkt. Es und dem Klosterleben eine dritte Form
sportliche Höchstleistungen. war jedoch eher eine Randerscheinung. des Mönchtums entstanden. Nun wurde
auch von Priestern das mön-
chische Ideal eingefordert: un-
verheiratet, arm und gehor-
sam gegenüber ihrem Oberen.
Weitere Männer-, aber auch
Frauenklöster folgten bald.
In der Westkirche führte
Augustinus als erster Regeln
für das Leben der Mönche
ein. Durch seine Lebensbeich-
te, die „Confessiones“, för-
derte Augustinus die Wert-
schätzung des Mönchtums im
Abendland maßgeblich.
In Georg Schwaigers Le-
xikon der Mönchsgeschichte
finden sich Details: Nördlich
des Mittelmeers gewann das
Mönchtum im 5. Jahrhundert
an Boden; in Italien etwa för-
derte die römische Aristokra-
tie Klosterneugründungen.
Allerdings waren es hier eher
Nonnen und Mönche aus dem
Volk, die in die Klöster gin-
Das Kapuzinerkloster Stühlingen im Südschwarz-
gen und so Zugang zu einem
wald wirkt in Abendstunden geradezu idyllisch: gehobeneren sozialen Milieu
ein spiritueller Rückzugsort. gewannen.
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Altes Handwerk und modernste Technik
sind im Kloster Stühlingen kein Widerspruch.
Einen gewissen Schutz boten Klöster Jüngerer sollte das Bett eines älteren begründete: das Morgen- und Abendge-
in dieser Zeit der Völkerwanderung auch. Mönches stehen, so sah es später die Be- bet, bei dem ein Lektor je zwölf Psalmen
Besonders im Südosten Galliens blühte nediktsregel vor. las; nach jedem Psalm beteten die Mön-
das Mönchtum regelrecht auf. Von dem che still für sich.
Kloster auf der Insel Lerinum (Lérins) Weitere Vorbilder für das abendländische In den beiden folgenden Jahrhunder-
vor Cannes gingen zahlreiche Neugrün- Mönchtum lieferte Marseille, wo um das ten nahm das westliche Mönchtum dann
dungen aus; viele spätere Bischöfe übten Jahr 415 der Mönch und Priester Johan- die Gestalt an, welche weit über das frü-
sich dort zunächst als Eremiten. Für etwa nes Cassianus ein Kloster für Männer und he Mittelalter hinaus bis in die Neuzeit
hundert Jahre war das Inselkloster be- eines für Frauen gegründet hatte. Er be- bestimmend sein sollte. Ein Ire und ein
sonders beliebt bei Angehörigen der gal- gleitete sein Werk mit einer detaillierten Italiener waren dafür maßgeblich.
lischen Oberschicht. Schrift „Über die Einrichtung der Klöster Irland, als eines der ersten Länder
Lerinum wie überhaupt das ganze wei- und die acht hauptsächlichen Fehler“, die nördlich der Alpen bereits im 5. Jahr-
ter westlich entstehende Mönchtum an große Vorbildwirkung hatte. „So soll das hundert christianisiert, hatte ein stark
der Rhône waren wichtig für die weitere Kleid des Mönches sein“, heißt es da durch Mönche und Klöster geprägtes
Organisation des Klosterlebens, zum Bei- etwa. „Es soll den Körper nur bedecken, Kirchenwesen entwickelt. Die irischen
spiel für das Prinzip der „stabilitas loci“, beschämende Nacktheit verhindern und Mönche, die ihre Klöster bald auch in
der Ortsgebundenheit, also der dauerhaf- grimmige Kälte abhalten. Die Keime der Schottland und England errichteten, wa-
ten Bindung einer Nonne oder eines Eitelkeit und Überheblichkeit soll es ren besonders asketisch, ihr Tageslauf
Mönchs an ein Kloster, die auch Teil der nicht nähren.“ war streng durch Gebete eingeteilt, ihr
benediktinischen Regel werden sollte. In seinen „Unterredungen mit den Vä- Drang nach religiöser Leistung hätte
In den sogenannten Juraklöstern im tern“ gab Cassian die Prinzipien und orientalische Mitbrüder beeindrucken
Königreich Burgund nördlich des Genfer Weisheiten von Gestalten wie Antonius können. Aber ihre Klöster waren zu-
Sees wurde im 5. Jahrhundert eine für und Pachomius weiter, deren Wirkung gleich Zentren des geistigen Lebens, in
das Klosterleben wichtige Neuerung ein- er in Ägypten persönlich kennengelernt denen vom 6. bis zum 12. Jahrhundert
geführt: ein gemeinsamer Schlafraum, hatte. Von dort kam auch die Tradition Gelehrsamkeit und Künste gepflegt wur-
das Dormitorium anstelle einzelner Zel- des Stundengebets, die Cassianus für die den und wo kostbare Handschriften wie
len für die Mönche. Zwischen den Betten Ordensgemeinschaften des Abendlandes das legendäre „Book of Kells“ entstan-
SPIEGEL GESCHICHTE 6 /2 0 17 49
Von der Sekte zum Reichskult Klöster
50 SPIEGEL GESCHICHTE 6 /2 0 17
Dokument
„Wir glauben an den einen Gott, / den Vater, den All- Selbst diese Fassung ist aber nicht durchgängig akzep-
mächtigen, / der alles geschaffen hat, Himmel und Erde, tiert. Ostkirchen, Orthodoxe und Altkatholiken lassen
/ die sichtbare und die unsichtbare Welt. den Heiligen Geist nur aus dem Vater hervorgehen; Pro-
testanten sprechen nicht von der „katholischen“, sondern
Und an den einen Herrn Jesus Christus, / Gottes ein- der „allgemeinen“ Kirche. So spiegeln die Formeln bis
geborenen Sohn, / aus dem Vater geboren vor aller Zeit: / heute den Abgrenzungsdrang der Konfessionen.
Gott von Gott, / Licht vom Licht, / wahrer Gott vom wah- Johannes Saltzwedel
SPIEGEL GESCHICHTE 6 /2 0 17 51
52 SPIEGEL GESCHICHTE 6 / 2 0 17
K a p i te l
II
Zwischen Glaube
und Macht
SPIEGEL GESCHICHTE 6 / 2 0 17 53
Zwischen Glaube und Macht Das Heilige Römische Reich
E
s war ein „denkwürdiger Tri- so sehr verehrt wie er, niemand entwarf Otto und ehrgeizige Berater wie Bi-
umphzug“, notierte Thangmar, so visionäre Pläne für die Ewige Stadt, schof Leo von Vercelli aber wollten die
Priester und Notar aus Hildes- die er erneuern und zum Zentrum eines zerfallende Stadt wieder aufwerten. Noch
heim, beeindruckt. „Alle ange- christlichen Weltreichs machen wollte. kurz vor der Rebellion der Römer hatten
sehenen Bürger“ Tivolis seien „nur mit Otto, kulturell hochgebildet, war nicht sie in einer außergewöhnlichen Urkunde
einem Lendenschurz bekleidet“ zum Pa- wie viele andere Könige nur zum Papst Rom als „Haupt der Welt“ und „Mutter
last Ottos III. gepilgert, um sich dem Kai- gepilgert, um sich rasch zum Kaiser sal- aller Kirchen“ gepriesen: als geistliches
ser zu unterwerfen, ja ihm „das nackte ben und krönen zu lassen – und dann und weltliches Zentrum Europas.
Leben“ anzubieten. Otto, Herrscher über wieder gen Norden verschwunden. Er Großspurig kündeten auch Ottos Sie-
das ostfränkisch-sächsische Reich, das hatte in der Stadt die erste Kaiserpfalz gel von einer „Erneuerung des Römi-
man bald „deutsch“ nennen würde, hatte errichten lassen. Es gab Gerüchte, Otto schen Reiches“. Damit war sicher nicht
einen Aufstand in der Stadt in der Nähe plane gar, dauerhaft in Rom zu leben. gemeint, das antike Imperium in seiner
Roms siegreich beendet. Und wie es sich Das hatte keiner seiner Vorgänger ge- riesigen Ausdehnung auferstehen zu las-
für einen christlichen Herrscher im Mittel- wagt. Aus Angst vor den Ränkespielen sen; vielmehr ging es wohl um eine reli-
alter ziemte, demonstrierte er Milde. der machtbewussten römischen Adelsfa- giöse Erneuerung des Reiches – gerade
Das aber provozierte in Rom gleich milien. Aber auch, weil Rom als exklusi- jetzt, am Ende des ersten Millenniums:
die nächste Verschwörung – und die traf ver Machtbereich des Papstes galt: Keine Die Menschen erwarteten voller Angst
Otto Ende Januar 1001 völlig unvorberei- irdische Macht sollte über die Heilige die prophezeite Ankunft des Antichrists.
tet. „Nun aber verschlossen die Römer, Stadt herrschen dürfen. Otto aber stellte Zum Schutz galt es, das Christentum
unwillig, dass der Kaiser sich mit den Ein- Grundsätzliches infrage. Er wollte sich zu stärken. Fromm nannte Otto sich
wohnern Tivolis versöhnt hatte, die Tore wieder mit dem blühenden Byzanz mes- „Knecht Jesu Christi“, zusammen mit
ihrer Stadt“, schrieb Thangmar weiter, sen können, dem Rom des Ostens und dem Papst wollte er die Geschicke des
der seine Chronik für Bischof Bernward Erben des Imperium Romanum. Residier- Abendlands lenken. Wie „zwei Himmels-
von Hildesheim verfasste, einen treuen ten die byzantinischen Kaiser nicht auch lichter“, so Leo von Vercelli in einem
Wegbegleiter und einstigen Lehrer Ottos. in Byzanz, das Rom längst kulturell und Lobgesang, würden Papst und Kaiser
Demnach seien sogar Freunde des Kai- machtpolitisch überflügelt hatte? Rom und das Reich in neuem Glanz er-
sers „schmählich ermordet“ worden. Ein Rom nämlich befand sich in einem strahlen lassen: „Unter dem Schutz des
anderer Bericht weiß von einem „gehei- jämmerlichen Zustand: In der einstigen Kaisers läutert nun der Papst die Welt!“
men Hinterhalt“, dem Otto „gerade noch Millionenstadt lebten zu Ottos Zeiten Allein der Refrain glich einem Grund-
durch ein Tor entkommen“ konnte. Da- wohl nur ein paar Zehntausend Men- satzprogramm: „Christus, erhöre unsere
nach aber war er auf dem Palatin-Hügel schen. Von den Palästen der Patrizierfa- Bitten, blicke herab auf Dein Rom, er-
umzingelt: Der Kaiser saß in der Falle. milien abgesehen, hausten viele Römer neuere gütig die Römer, wecke die Kräfte
Der Aufstand kränkte Otto zutiefst: in einfachen, strohgedeckten Hütten.
Ausgerechnet die Bürger Roms wendeten Ehemals prächtige Säulen waren längst Otto III. als Weltherrscher – Buchmalerei
ihre Waffen gegen ihn! Dabei hatte kein zerbrochen, verlassene Tempel dienten aus einem Pracht-Evangeliar, das um 1000
anderer König jenseits der Alpen Rom als Steinbrüche. auf der Insel Reichenau entstand
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Zwischen Glaube und Macht Das Heilige Römische Reich
Bis ans halten sind – von der aber nie ein wirk-
liches Original existierte: Silvester „und Der
Ende der Welt alle seine Nachfolger, die den Stuhl des
seligen Petrus bis ans Ende des Zeitalters
Kirchen- Patrimonium
staat Bologna Petri vor 756
Die Konstantinische Schenkung gab innehaben werden“, sowie „die heilige Pippinische
den Päpsten auch politische Macht, Römische Kirche“ wurden in diesem Do-
um 1000 Schenkung 756
es erhob sie zu weltlichen Herrschern kument, das als Konstantinische Schen- Florenz
im Kirchenstaat. Das Dokument kung berühmt wurde, umfassend be-
war eine der folgenreichsten Fälschun- dacht und geehrt. Zudem – und das war Assisi
gen der Weltgeschichte. das Entscheidende – setzte Konstantin
den Papst „für immer“ zum weltlichen Erwerbungen
757/774
D
er Dank des Regenten hätte Machthaber ein über „alle Teile der Stadt 781
kaum großzügiger ausfallen Rom und ganz Italiens, auch der Gebiete 787/817
Rom
962
können. In Rom war Kaiser im Westen, Provinzen, Städte und Ort-
Konstantin wundersam vom schaften“. All dies sollte „bis ans Ende Grenze des päpstlichen
Aussatz geheilt worden, angeblich unter der Welt unangefochten gelten“. Interessengebiets 754 und 774
Mitwirkung des damaligen Bischofs der Auf den ersten Blick enthielt die Ur-
Stadt, Silvester. Daraufhin trat der Impe- kunde alles, was ein amtliches Dokument Schon der gelehrte Kardinal Nikolaus
rator zum Christentum über – und soll brauchte. Das Datum jedoch war nicht von Kues (1401 bis 1464) hielt die Konstan-
zugunsten Silvesters folgenschwere Ver- klar, der 30. März konnte sich auf das tinische Schenkung für gefälscht; sein
fügungen getroffen haben. Jahr 315 oder 317 beziehen. Und je gründ- Zeitgenosse, der Humanist Lorenzo Valla
So jedenfalls steht es in einer Urkun- licher Fachleute den Text untersuchten, (um 1407 bis 1457), zeigte in einer eige-
de, von der mehr als 300 Abschriften er- desto mehr Bedenken tauchten auf. nen Studie, dass etliche der im Text ver-
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Die vier Provinzen huldigen Kaiser Otto III. –
ße etwa hatte das Reich stabilisiert, in- an angesehenen Gelehrten: Philosophen,
eine weitere Illustration aus dem kostbaren dem er kirchliche Würdenträger zu Pfei- Mathematikern, Juristen, Poeten. Einige
Reichenauer Evangeliar lern seiner Politik machte: Er verlieh Bi- von Ottos Lehrern waren Griechen. Das
schöfen und Äbten vermehrt weltliche blieb nicht ohne Wirkung: Später, als
ben Ottos Gegner ihm diese Worte nur Macht, gab ihnen Land und Privilegien. mündiger Herrscher, wollte Otto schnell
in den Mund gelegt? Wer also war dieser Dafür erwartete er während seiner Rei- seine „sächsische Rohheit“ ablegen zu-
Herrscher? Ein „Wunder der Welt“, wie sen Unterkunft und in Krisenzeiten poli- gunsten der „feinsinnigen Gelehrsamkeit
es bald nach seinem frühen Tod heißen tische und militärische Hilfe. der Griechen“.
sollte, weil er trotz seines jungen Alters Doch selbst die klügste Machtpolitik Sein wichtigster Ratgeber wurde der
so wagemutig, so kultiviert, so religiös geriet ins Wanken, wenn die königliche rhetorisch brillante Theologe Gerbert
war? Oder ein jugendlicher Fantast, zu Erbfolge nicht gesichert war. Otto III. von Aurillac. Der Erzbischof von Reims,
dem ihn die deutschnationale Geschichts- wurde Weihnachten 983 deshalb schon dem Otto später zur Papstwürde verhalf,
schreibung im 19. Jahrhundert machte? im Alter von drei Jahren zum Mitkönig war der wohl größte Universalgelehrte
Der „reichbegabte Fürst“, wetterten His- geweiht. In diesem feierlichen Moment seiner Zeit. Wie der Sachsenkönig war
toriker dieser Epoche, sei ein Unglück ahnte keiner der Gäste, dass sein Vater auch er ein Byzanz-Bewunderer und be-
gewesen, weil er sich „mehr als Grieche schon 18 Tage zuvor in Italien gestorben fürwortete die Erneuerung des Reiches.
und Römer denn als Deutscher fühlte“. war. „Gleich nach Beendigung des Hoch- Oft diskutierten die beiden Männer näch-
Unbestritten regierte der Jüngling auf amts“, so ein Chronist, „traf der Bote telang. Euphorisch forderte Gerbert 997:
dem Kaiserthron äußerst unorthodox. mit der Trauerkunde ein und machte „Unser, unser ist das Römische Reich!“
Seine Herrschaft wirft zugleich Schlag- dem Freudenfest ein Ende.“ Gut drei Jahre zuvor hatte Otto be-
lichter auf zentrale Probleme des Mittel- Nun stand ein unmündiger Herrscher gonnen, diesen Traum umzusetzen. 994,
alters: Otto regierte von der Nordsee an der Spitze des Reiches. In dieser Not mit 14 Jahren, übernahm er die Regie-
über das Mittelmeer. Die Alpen trennten retteten zwei Frauen das Reich vor dem rung. Schon bald brach er mit 700 Rittern
die deutschen und die italienischen Ge- Chaos: Ottos Mutter Theophanu und sei- Richtung Rom auf. Sofort spürte er haut-
biete geografisch, kulturell, sprachlich. ne Großmutter Adelheid regierten klug nah, wie schwierig diese Stadt zu beherr-
Welcher Kitt aber hielt dieses Reich für den nur formal herrschenden Kind- schen war: Gerade erst hatte Crescentius
dann zusammen? Die Religion, die Fa- könig. Nomentanus, Oberhaupt einer mächti-
milienverbände, die Kaiserwürde? Wa- Besonders Kaiserin Theophanu dürfte gen Patrizierfamilie, Papst Johannes XV.
ren Papst und Kaiser Konkurrenten oder Ottos Bildung und seine Visionen von ei- aus der Stadt gejagt. Johannes bat Otto
Partner? nem christlichen Großreich gefördert ha- um Hilfe, starb aber, bevor der König ein-
Otto wuchs in eine unsichere Welt hi- ben. Gelobt für ihr „auserlesenes Auftre- greifen konnte.
nein, in der sich dieses komplizierte ten“, lehrte Theophanu ihren Sohn die In dieser Krise wagte Otto eine erste,
Machtgefüge zwischen geistlicher und antiken Wurzeln ihrer Kultur. Sie umgab sehr ungewöhnliche Entscheidung: Er be-
weltlicher Herrschaft unentwegt verschob. sich, wie sie es vom Hof in ihrer Heimat stimmte seinen nicht einmal 25-jährigen
Sein berühmter Großvater Otto der Gro- Byzanz kannte, mit einem großen Stab Cousin Brun von Kärnten zum neuen
wendeten Formeln zu Konstantins Zeit Wer sie einst ausgeheckt hat, ist nicht
gar nicht gebräuchlich waren. restlos geklärt, aber alle wesentlichen
Das Patrimonium Petri in Mittelitalien Spuren führen in die Zeit der Karolinger.
gab es da aber längst. Der Kirchenstaat Das neue Kaisertum Karls des Großen
war entstanden aus bischöflich-römi- gab seit 800 in Westeuropa der Lehre
schen Besitzungen und Erwerbungen so- vom Zusammenspiel des weltlichen und
wie etlichen fürstlichen Landschenkun- geistlichen Regiments neuen Rang. In
gen seit dem 4. Jahrhundert, darunter diesem Zusammenhang scheint das Do-
eine von Pippin III., dem Vater Karls des kument in Umlauf gebracht worden zu
Großen. Der Heilige Vater übte in die- sein; im langen, erbitterten Ringen zwi-
sem Gebiet neben dem geistlichen ein schen Päpsten und Kaisern war es ein
weltliches Regiment aus, er kassierte Faustpfand der Kurie.
Abgaben wie andere Landesfürsten, ja Wer die Urkunde heute als bloßes
er ließ sogar bisweilen Söldner für sich Kuriosum abtun wollte, muss sich nur
kämpfen. Dieser weltliche Herrschafts- an die noch immer existente Staatlich-
anspruch wurde jahrhundertelang mit keit des Vatikans samt Flagge, Wappen,
der gefälschten Urkunde legitimiert. Grenzkontrollen und eigener Post er-
Erst kurz bevor italienische Truppen innern. All diese sehr weltlichen Ho-
dem Kirchenstaat 1870 ein Ende setzten, heitsmerkmale gehen auf eines der
beugte sich der Vatikan der geballten Kri- erstaunlichsten Täuschungsmanöver in
tik von Philologen und Historikern und In seiner „Declamatio“ deckte der Humanist
der Rechts- und Kirchengeschichte
erkannte an, dass es die Konstantinische Lorenzo Valla 1440 die Fälschung philologisch zurück.
Schenkung nie gegeben hatte. auf (Manuskript, Vatikanische Bibliothek). Johannes Saltzwedel
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Zwischen Glaube und Macht Das Heilige Römische Reich
58 SPIEGEL GESCHICHTE 6 / 2 0 17
So erinnert Otto im prächti-
gen Evangeliar des Bamberger
Domschatzes frappierend an
Christus. Kein Kaiser zuvor hatte
so große Analogien zwischen
sich und Gottes Sohn gezogen:
Wie die Heiligen Drei Könige
huldigen Otto vier Frauengestal-
ten, die reiche Gaben bringen.
Das Evangeliar verdeutlicht, wie
sehr sich das Idealbild des Kai-
sers im 10. Jahrhundert wandelte:
Zwar hatten die Kaiser von jeher
ihre Herrschaft mit einem gött-
lichen Auftrag legitimiert, denn
sie schützten den Papst, der sie
dafür mit dem höchsten welt-
lichen Titel aufwertete. Doch
Otto orientierte sich sehr intensiv
an den Reformbewegungen der
Kirche: Die erwartete Apokalyp-
se zur Jahrtausendwende hatte
Mönche, Eremiten und Asketen
zu Vorbildern und einflussrei-
chen Persönlichkeiten gemacht.
Nur ihre aufrichtige Religiosität,
so glaubte man, könne das Un-
heil vielleicht noch abwenden.
Dennoch war es ungewöhn-
lich, dass ein Kaiser barfüßig zu
Wallfahrten aufbrach, exzessiv
fastete und unter seinem Kaiser-
mantel oft das raue Hemd des
Büßers trug. Mit „innigen Gebe-
ten“ und „Strömen von Tränen“
habe Otto versucht, seine Sün-
den zu sühnen, hieß es. Sein Ge-
müt habe sich mitunter „von
Weltverachtung erfüllt“, lobte
auch Missionar Brun von Quer-
furt. Im Kaiser habe mehr „Got-
tesliebe“ gelebt als in einem
Mönch.
Der Kaiser selbst verehrte be-
sonders einen Heiligen: Adalbert,
den Bischof von Prag. 997 war
Adalbert als Missionar in Prußen
den Märtyrertod gestorben; der
Kaiser hatte ihn zu dieser gefähr-
lichen Reise ermuntert. „De-
mütig barfuß“ sei Otto zu Adal-
berts Grabstätte nach Gnesen bei
Posen gepilgert, wo er „unter
Tränen“ die Gnade Gottes erbat.
Der Kaiser erhob Gnesen eigen-
mächtig zum ersten Erzbistum
des gerade christianisierten Polen.
Von dort brachte er Reliquien
Adalberts mit, die er überall ver-
teilen ließ. Ein kirchenpolitisch
kluger Zug: Der Kult um Adal-
bert wirkte „wie eine neue reli-
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Zwischen Glaube und Macht Das Heilige Römische Reich
60 SPIEGEL GESCHICHTE 6 / 2 0 17
Zwischen Glaube und Macht Orthodoxie
Die byzantinische Ostkirche brach mit dem Papst und trug ihre Religion nach Russland.
Dort wurde das orthodoxe Christentum zum prägenden Glauben eines Imperiums.
D
ie Machtfrage war rasch ge- der später das Russische Reich hervorge- phia Palaiologa. Er verwendete nun den
klärt. Im September 787 hatte hen sollte. Um 861 entsandte der byzan- Titel „Zar“ und nannte sich „Bewahrer
die byzantinische Kaiserin Ire- tinische Kaiser Michael III. die beiden des byzantinischen Throns“.
ne kirchliche Würdenträger Brüder Konstantin und Michael als Mis- Die Verbindung zur griechisch-byzan-
zum Zweiten Konzil von Nicäa geladen. sionare in die noch heidnische Gegend tinischen Kirchentradition hatten rus-
Protest kam vom Frankenkönig Karl dem zwischen Wolga und Dnjepr. Die beiden sische Mönche schon seit 1169 im Klos-
Großen, der sich im Westen Europas als Priester und Gelehrten brachten dem ter Athos auf dem Ostzipfel der griechi-
Schützer der Christenheit sah. Er mahnte, werdenden Russland das kyrillische Al- schen Halbinsel Chalkidiki gepflegt. Die
Kaiserin Irene solle sich als Frau in Glau- phabet und das orthodoxe Christentum; Mönchsgemeinde behielt selbst unter
bensfragen zurückhalten. Doch Irene noch heute verehrt die russisch-ortho- der Herrschaft des Osmanischen Reiches
setzte sich durch. Das Konzil fand statt doxe Kirche die beiden Sendboten von ihre Autonomie, die noch heute unter
und fasste folgenreiche Beschlüsse, ganz Byzanz als die Gründerheiligen Kyrill griechischer Souveränität fortbesteht.
im Sinne der Regentin. und Method. Auch von ihr kam die Anregung, Russ-
Die Kirchenversammlung in Nicäa, Großfürst Wladimir, Führer der Kie- land zum Erben der oströmischen Reichs-
südlich von Konstantinopel – heute das wer Rus, ließ sich laut Legende im Jahr idee zu erklären. Um 1510 brachte der
türkische Iznik –, erlaubte die Verehrung, 988 auf der Krim taufen. Seine Heirat Mönch Filofej aus einem Kloster bei
aber keine Anbetung von Ikonen. Sie ver- mit Anna, der Schwester des oströmi- Pskow im Nordwesten Russlands die by-
urteilte die Geldgier und die luxuriöse schen Kaisers Basileios II., knüpfte einen zantinische Tradition auf die Formel:
Lebensführung von Klerikern und die da- Bund zwischen Byzanz und den Russen, „Denn zwei Rom sind gefallen, das dritte
mals verbreitete Gemeinschaft weiblicher der sich noch festigte, nachdem das Mor- aber steht, und ein viertes wird es nicht
und männlicher Ordensleute. genländische Schisma 1054 West- und geben.“
Die Beschlüsse vertieften die längst Ostkirche dauerhaft voneinander ge- Als Wahrer der oströmischen Reichs-
fühlbare Spaltung zwischen römischer trennt hatte. Zwar schwächte die Abspal- idee präsentierte sich demonstrativ Iwan
Papstkirche und byzantinischer Ostkir- tung Byzanz, schuf aber zugleich die IV., „der Gestrenge“, im Westen „der
che. Es ging dabei aber nicht nur um fun- Grundlagen dafür, dass die orthodoxe Schreckliche“ genannt. Im Januar 1547
damentale theologische Fragen, etwa die, Kirche später eine zentrale Stütze des setzte ihm Metropolit Makarj in der Us-
ob Christus eher Opfer waren, wie es heranwachsenden Russischen Reiches penski-Kathedrale im Moskauer Kreml
Rom sah, oder Sieger, wie es Byzanz dar- werden konnte. Sie half der kommenden die mit Fell umkränzte Zarenkrone auf.
stellte. Es ging auch um weltliche Einfluss- Großmacht, sich vom katholischen und Von Byzanz übernahmen die Russen das
sphären. protestantischen Westen abzugrenzen. pompöse Krönungszeremoniell und den
In Rom gab es nur den Papst, der es Zunächst blieb die russische Kirche Doppeladler als Staatssymbol. So schuf
auf weltlicher Seite mit eher schwachen, unter dem Patriarchat Konstantinopels. der Zar in der Tradition der römischen
miteinander rivalisierenden Lokalfürsten Doch 1448 erklärten sich die Russisch- Reichsidee einen Vielvölkerstaat und sti-
zu tun hatte. Im Osten hingegen entwi- Orthodoxen für eigenständig. Fünf Jahre lisierte sich zugleich als Schutzherr der
ckelte sich das Verhältnis von Kirche und später stürmten die Truppen des Sultans orthodoxen Christenheit.
Staat völlig anders. Nachdem die Haupt- Mehmed II. Konstantinopel, machten aus Die orthodoxe Kirche wurde in Russ-
stadt des Römischen Reiches im Jahr 330 der prächtigen Hagia Sophia eine Mo- land „das Zentrum zur Bewahrung des
nach Konstantinopel verlegt worden war, schee und ließen das Reich von Byzanz nationalen Selbstbewusstseins“, so die
festigte sich die Instanz des Kaisers als untergehen. russische Historikerin Tatjana Schwez.
Machtzentrum. Die Kirche dort hatte Das russische Fürstentum hingegen Dazu trug auch bei, dass die russische or-
mehrere Patriarchen, die sich bemühten, blieb die einzige christlich-orthodoxe thodoxe Kirche 1589 den Moskauer Me-
mit dem Kaiser nicht in Konflikt zu gera- Großmacht, die sich nicht den islami- tropoliten zum Patriarchen erklärte. Er
ten, und sich unterordneten. schen Eroberern unterwarf. Um sich als
Besonders eng wurde die Bindung Erbe von Byzanz zu präsentieren, heira- Ikonen, meist auf Holz gemalte und geweihte
zwischen orthodoxer Kirche und welt- tete der Großfürst Iwan III. 1472 die Nich- Kultbilder, wurden typisch für die orthodoxen
licher Herrschaft in der Kiewer Rus, aus te des letzten byzantinischen Kaisers, So- Kirchen (Russische Ikone, 18. Jh.).
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Zwischen Glaube und Macht Orthodoxie
unterstand nun keiner kirchlichen Auto- „Heiligster Dirigierender Synod“ hieß, Peters Reform war folgenreich, denn
rität außerhalb Russlands mehr. geführt von einem Oberprokuror, er- sie führte zu einer Quasi-Verstaatlichung
Doch der innere Zustand der Kirche nannt vom Zaren. Die Mitglieder dieses der Kirche. Diese hatte bis zum Ende der
wurde bald zum Problem. Die äußere Gremiums schworen, „ihrer Majestät ein Zarenzeit Bestand. Oberprokuror Kon-
Abgrenzung der Russisch-Orthodoxen guter, gehorsamer Knecht zu sein“. stantin Pobedonoszew stellte Ende des
zum als feindlich wahrgenommenen Der Oberprokuror war zugleich Auf- 19. Jahrhunderts die orthodoxe Religion
Westen führte zu geistiger Stagnation. seher und Zensor der Kirche. Auch das sogar als Schutzschild des Staates dar.
Zar Peter I. (1672 bis 1725), der Russland Leben in den Klöstern ordnete der Zar In einem 1896 veröffentlichten Buch do-
näher an das frühaufklärerische Europa neu. Er verpflichtete die Männer- und zierte er: „Der Staat ist umso stärker, je
heranführen wollte, sah die Kirche als Frauenklöster zu nutzbringender Arbeit klarer er Repräsentant des Geistigen ist.“
Modernisierungshindernis. Den „Bärti- wie Krankenpflege und Waisenerziehung. Das „Vertrauen der Masse des Volkes
gen“, dem Klerus und orthodoxen Alt- Was der Zar vom Klosterwesen hielt, zu den Regierenden“, so Pobedonoszew,
vordern, sagte er den Kampf an. Er zeigt seine Verordnung des „Geistlichen gründe sich „auf die einfache Gewissheit,
ließ Bärte zwangsweise abschneiden. Reglements“ von 1721. Darin heißt es dass die Regierung einen Glauben hat
Und er griff tief in die Machtstruktur der über die Mönche: „Viele Nichtsnutze, die und dem Glauben entsprechend han-
Kirche ein. vollständig gesund sind, sammeln aus delt“.
Peter ersetzte das Patriarchat durch Faulheit Almosen und gehen schamlos In der ihm unterstellten Kirche beob-
ein „Geistliches Kollegium“, das bald betteln.“ achtete der Oberprokuror jedoch „be-
„Heilige Pflicht“ zuschmieden“. Russland ist nach Arti- lichen ein wichtiger Faktor der Gesell-
kel 14 seiner Verfassung zwar ein welt- schaft. In jüngster Zeit bringen Russ-
Russland blieb trotz des Kommunis- licher Staat, der keine Religion ver- lands Orthodoxe bei Prozessionen wie
mus immer mehrheitlich christlich. ordnet. Dennoch zeigt sich der Kreml etwa am 12. September 2017 in Sankt
Die orthodoxe Kirche steht heute der russisch-orthodoxen Kirche be- Petersburg schon mal Zehntausende
treu an der Seite Wladimir Putins. sonders verbunden. Sie sei, so Putin Menschen zusammen. Dort wurden
Sie liefert den theologischen „die geistige Stütze unseres Volkes neben Ikonen und Bildern des letzten
Überbau für seine Abgrenzung und unserer Staatlichkeit“. Zaren auch Transparente gezeigt, die
gegenüber dem Westen. 75 Prozent der russischen Bürger ins Weltliche weisen: „Ehre des Herr-
bekennen sich zum russisch-orthodo- schers – Ehre des Volkes“.
Die Nähe der russisch-orthodoxen Kir- xen Glauben. Zwar gehen nur etwa Die Autorität der Kirche ist noch
che erlebte der neue Staatschef schon 10 Prozent regelmäßig in die Kirche. gewachsen, seit sich die nach der
zu Beginn seiner ersten Amtszeit. Nach Die meisten orthodoxen Russen pfle- Revolution entstandene orthodoxe
der Wahl Wladimir Putins zum Präsi- gen, so der Moskauer Historiker Wenia- Auslandskirche 2007 mit den Inlands-
denten ließ der Patriarch Alexij II. bei min Simonow, ein „individualistisches brüdern vereinte. Den Einigungsvertrag
der Amtseinführung am 7. Mai 2000 in Modell der persönlichen Religiosität“, unterzeichneten beide Kirchen in der
einer Kirche auf dem Kreml-Gelände mit Ikonen in fast jeder Wohnung. Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau –
für den Staatschef beten. Der hatte sich Zudem ist die russisch-orthodoxe im Beisein Putins. Er sah in der
zuvor zu seiner „heiligen Pflicht“ be- Kirche mit ihren mehr als 33 000 Gottes- „Wiedergeburt der kirchlichen Einheit“
kannt, „das Volk Russlands zusammen- häusern und mehr als 30 000 Geist- eine „äußerst wichtige Bedingung für
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trübliche Erscheinungen“ wie „Trunk- umfassen.“ Der Romancier Fjodor Dos- Zwar hielten die Orthodoxen Ende
sucht, Streitsucht, Feindseligkeit, Zank tojewski fantasierte im Juni 1876 vor Be- Oktober/Anfang November 1917 in Mos-
und Konflikte“. Es kriselte in den Kirchen ginn des Russisch-Osmanischen Krieges: kau noch ein Konzil ab, während bewaff-
und Klöstern. Und es rumorte bei den „Konstantinopel soll früher oder später nete Bolschewiki auf Moskau vorrückten.
einflusslosen Gemeindemitgliedern. Der wieder unser werden“, als „Zargrad“, die Und die siegreichen Revolutionäre gestat-
Schriftsteller Nikolai Leskow, der in sei- Stadt der Zaren. Dies sei notwendig „für teten noch im November 1917 die Wahl
nen Werken den Niedergang des Klerus die gesamte östliche Christenheit und für des Metropoliten Tichon zum Patriar-
karikierte, brachte die Misere auf die For- das Schicksal der künftigen Orthodoxie chen. Der aber konnte nicht verhindern,
mel, Russland sei „getauft, aber nicht auf- auf der Welt“. dass rabiate Bolschewiki im beginnenden
geklärt“. Doch als die imperialen Träume des Bürgerkrieg zu Tausenden Priester er-
Manche russisch-orthodoxe Intellek- Zarenreiches im Ersten Weltkrieg platz- schossen und Kirchen plünderten.
tuelle des 19. Jahrhunderts stellten der ten, hatte die Symbiose von Staatsgewalt Zum Jahrestag der bolschewistischen
Krise der Kirche byzantinische All- und Geistlichkeit fatale Folgen. Als der Revolution schrieb Tichon der sowjeti-
machtsfantasien entgegen. So schrieb der Staat 1917 mit dem Sturz des Zaren seine schen Regierung Ende Oktober 1918
Dichter und Diplomat Fjodor Tjuttschew Autorität verlor, wurde auch das Amt einen Brief, in dem er „das in Strömen
im Jahr 1850: „Und die alten Gewölbe des Oberprokurors abgeschafft. Die Kir- vergossene Blut unserer Brüder“ beklag-
der Hagia Sophia / und das erneuerte By- che stand plötzlich ohne entscheidenden te. Doch der Terror des sowjetischen
zanz / werden erneut den Altar Christi Einfluss da. Regimes gegen orthodoxe Priester und
SPIEGEL GESCHICHTE 6 /2 0 17 65
Zwischen Glaube und Macht Orthodoxie
Das Wort Ikone stammt vom griechischen Wort „Eikon“ – Bild – ab. 787 gestattete
das Zweite Konzil von Nicäa die Verehrung, nicht jedoch die Anbetung von Bildern
(Wurzel Jesse und Himmelfahrt Christi, Russland, 17. Jh.).
Laien ging weiter. Eine militante „Gott- die Aufsicht des sowjetischen Geheim- Sowjetregierung hingegen würdigte er als
losenbewegung“ wurde mobilisiert. Al- dienstes. „die gerechteste in der langen und verwor-
lein von August bis November 1937 ver- Auch die Byzanzkunde ließ Stalin auf- renen Geschichte ihres Landes“.
haftete die sowjetische Geheimpolizei leben, in der sowjetischen Akademie der Als 1991 mit dem Zerfall der Sowjet-
31 359 Gläubige und Geistliche. In diesen Wissenschaften. Noch während die Rote union Russland einmal mehr in Wirren
vier Monaten verurteilte das Regime Armee Anfang Mai 1944 die deutsche driftete, reagierte die Kirche in byzanti-
4629 Priester und 934 Mönche zum Tode. Wehrmacht vom Taufort des Heiligen nischer Tradition. Hatten Kirchenobere
Zu Beginn der Vierzigerjahre war die Wladimir auf der Krim vertrieb, tagten schon in der späten Sowjetzeit vom Staat
russisch-orthodoxe Kirche nahezu ver- russische Historiker an der Akademie mit Limousinen gegen Loyalität erhalten, de-
nichtet. Das Regime hatte Kirchen in La- wegweisenden Vorträgen wie „Byzanz monstrierte die Kirche dem ersten russi-
gerhallen und Kuhställe verwandelt. Von und der Westen“. Und im September schen Präsidenten Boris Jelzin noch die
den 80 000 Gemeinden des Jahres 1917 1946 intonierte die Zeitschrift des Mos- Treue, als dessen Popularität schon dra-
bestanden 1941 noch etwa 3000. kauer Patriarchats den weltanschaulichen matisch sank.
Ausgerechnet der Krieg gegen Hitlers Gleichklang von Kreml- und Kirchenglo- Jelzin wies der Kirche einen „beson-
Deutschland brachte eine Wende. Um cken mit der alten These: „Moskau ist deren Platz“ in der Gesellschaft zu. Er
den Kampf zu gewinnen, brauchte der das dritte Rom.“ bestand auch darin, dass der Präsident
Sowjetstaat auch die Unterstützung von Wie wirkungsvoll die staatliche Kon- der Kirche Zollprivilegien für den einträg-
Nichtkommunisten und Christen. Die trolle über die Kirche war und wie die lichen Handel mit Zigaretten gewährte.
Kirchenpolitik änderte sich grundlegend. Synthese aus Bolschewismus und Byzan- Weniger umstritten war der Wieder-
Der frühere orthodoxe Seminarschüler tinismus funktionierte, zeigte sich zu Be- aufbau der 1931 von den Kommunisten
Josef Stalin empfing im September 1943 ginn des Kalten Krieges. gesprengten Christ-Erlöser-Kathedrale
drei Metropoliten im Kreml und lobte Da verdammte der Metropolit Nikolai im Zentrum Moskaus. Dabei wandten
die „patriotische Tätigkeit der Kirche“. im August 1949 auf einer „Friedenskonfe- sich die Kirche und Staatsführung an rei-
Die Kirchenoberen hatten, wirkungsvoll renz“ in Moskau die „gierigen Fangarme che Sünder aus den Reihen dubioser „Bis-
eingefädelt, in den Gemeinden Geld für des transatlantischen Ungeheuers“ und nesmen“.
eine Panzerkolonne gesammelt. Nur das kapitalistische Amerika, „diese rasen- Die konnten durch großzügige Spen-
wenige Tage später ließ Stalin die Kir- de Hure eines neuen Babylon“. Den Papst den bis zur Fertigstellung des Baus 1999
chenoberen wieder einen Patriarchen bezeichnete der Metropolit als „Agenten ein gottgefälliges und staatsfrommes
wählen, stellte die Kirche jedoch unter des amerikanischen Imperialismus“, die Werk tun – steuerlich absetzbar. I
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Zwischen Glaube und Macht Die Kirchen des Orients
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Vertreibung
aus dem Paradies
SPIEGEL GESCHICHTE 6 /2 0 17 69
Zwischen Glaube und Macht Die Kirchen des Orients
A
ls der Krieg die Ninive-Ebene erreicht, in Maroniten überlässt den chaldäischen Flüchtlingen
der die Christen leben, im August 2014, ihre Gebetsstätte nach dem eigenen Gottesdienst.
schlafen viele der Menschen unterm Ster- Der Libanon ist für sie zum Wartesaal geworden,
nenhimmel, auf den Dächern ihrer Häuser. wie für so viele Verzweifelte aus ganz Nahost. In
Die Mörder verwandeln den Himmel nordöstlich dem Ministaat, gerade einmal halb so groß wie Hes-
von Mossul in eine Hölle aus roten und orangen sen, machen Flüchtlinge – unter ihnen die Christen
Feuerbällen, Raketen und Bomben. aus dem Irak – rund ein Viertel der Bevölkerung aus.
Wer kann, springt auf, rennt zum Auto, im Schlaf- Die Messe beginnt. Und wenn es tatsächlich ei-
anzug, ein Baby im Arm. Das Leben gerettet, sonst nen Gott gibt, dann ist er in diesem Moment ganz
nichts – so fliehen die Bewohner Richtung Irakisch- sicher anwesend, so warm, so ergreifend ist die Stim-
Kurdistan. Wie eine Sense mäht der Terror des „Is- me, die jetzt die Kuppel der St. Josefskirche erfüllt.
lamischen Staats“ (IS) durch die grüne Ninive-Ebe- Farah, 21, hüftlange Locken, die Augen geschlossen
ne, Tag um Tag, Dorf um Dorf. Bis er schließlich und zum Himmel gerichtet, singt: „Jesus, allmäch-
die Ortschaft Batnaja, das Haus von Nafea Mayoma tiger Gott, Oase meines Lebens, wir versuchen auf-
erreicht. zustehen, aber wir können nicht, hilf uns.“ Auch
Jetzt steht der studierte Bauingenieur Farah ist vor zwei Jahren hierher geflüch-
Mayoma tausend Kilometer weiter west- Droht das tet, wie Hunderte irakische Christen
lich, vor der St. Josefskirche in Beirut. Er wohnt die Sängerin in Sad al-Buschria,
ist 53, hat grüne Augen, breite Wangen- Ende des in einer der kleinen Seitenstraßen um die
knochen, Bürstenschnitt; man sieht sei- christlichen St. Josefskirche.
nem Körper an, dass er früher viel trai- Lebens in Hier lebte auch Mayoma, der im Ge-
niert hat. Doch nun hängen die Schultern bet Trost findet. Doch auf Gott allein hat
schlaff herab, der Blick ist fahrig. „Es ist dem Land, er sich nie verlassen, er ist ein Pragmati-
ein langsamer Tod, wir atmen nur noch“, in dem der ker. Bis vor Kurzem hat er ein Haus be-
sagt Mayoma. Er sagt das ruhig, doch in Garten Eden sessen, ein Auto, ein gut gehendes Ge-
seiner Stimme ist die Bitterkeit zu spüren. schäft, er hatte eine glückliche Familie.
Die Glocken von St. Josef läuten. Weih- gelegen Heute arbeiten seine Söhne als Kisten-
rauch wabert aus dem offenen Kirchen- haben soll? schlepper in einer Fabrik. Zusammen ver-
portal. Männer und Frauen stehen in Trau- dienen sie 700 Dollar im Monat. Mayoma
ben zusammen, viele junge Menschen, in Jeans und nutzt jede Chance, sich irgendwie in dieser Misere
farbigem T-Shirt; die Mädchen haben die Lippen ge- zu behaupten, und sei es, dass er den Reportern
schminkt. Es sind Gestrandete, wie Mayoma. eine Lektion in Geschichte erteilt.
Sie sagen: Lieber hier in Beirut unter der Brücke Als die „Koalition der Willigen“ 2003 in sein
schlafen als zurück in die Hölle, in den Irak. Dort Land einmarschiert sei, um den Diktator Saddam
warteten die Halsabschneider. Und sie erzählen, Hussein zu stürzen, habe keine der westlichen Na-
dass auf einer Wand der Kirche von Batnaja jetzt tionen daran gedacht, in diesem Krieg auch die
gekritzelt steht: „Ihr scheiss Kreuzsklaven, wir Töten Christen zu schützen, klagt er. Damals hätten die
euch alle. Dieses Land ist Islamische land, Ihr Christen noch etwa fünf Prozent der Bevölkerung
Schmuzigen, Ihr gehört nicht da hier.“ Es gibt ein ausgemacht, heute seien sie weniger als ein Prozent
Foto davon. Die Zeilen, in falschem Deutsch ge- – von rund 1,5 Millionen sank ihre Zahl auf weniger
schrieben, wurden verfasst von einem IS-Kämpfer, als 300 000. „Wir verschwinden!“, sagt Mayoma.
der wohl auszog aus der Bundesrepublik in den Die Christen im Irak würden gejagt, entführt,
Dschihad. ihre Dörfer und Städte dem Erdboden gleichge-
Für Mayoma gibt es kein Zurück. Aber es geht macht. Wer von ihnen dem IS in die Hände falle,
auch nicht weiter. Die Wege in den Westen sind ab- könne konvertieren, vielleicht bezahlen, sonst wer-
geriegelt, für die allermeisten hier. Sie stecken fest de ihm der Kopf abgeschnitten. „Schreiben Sie das!“,
in Beirut. Selbst die Kirche hier sei geliehen, sagt fleht Mayoma. „Wenn uns der Westen schon nicht
der Bauingenieur. Die Gemeinde der libanesischen helfen kann, in unserer Heimat, im Irak zu bleiben,
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Auch in Karakosch in der Ninive- dann soll er uns wenigstens hel- christliche Glaubensgemeinschaft im Irak, berühren
Ebene wurde die Kirche von fen, dass wir von dort fliehen durch die hingebungsvolle Musik ihrer Messen. Die
IS-Kämpfern zerstört. Die Reste
können.“ Rum-Orthodoxen, eine weitere der zahlreichen
wirken wie ein Mahnmal.
Im Juli 2017 wurde die Ninive- christlichen Strömungen im Irak, zelebrieren ihren
Ebene vollständig vom IS befreit. Gottesdienst wie eine therapeutische Erlösungsfeier,
Doch die Christen aus Batnaja fühlen sich verraten in der die Teilnehmer eingehüllt werden in orienta-
von ihrer Regierung, weil die Armee sie im Stich ge- lischen Prunk aus rotem Samt und goldenen Ikonen,
lassen habe. Nicht nur ihre Schulen wurden zerstört heilsamen Düften und Chorgesängen. Gott diene
und das Teehaus, in dem sich die Männer jeden Sonn- hier dem Menschen, nicht andersherum, sagt einer
tag nach dem Gottesdienst trafen, nicht nur die Kir- ihrer Priester.
che und die große Marienstatue, deren Kopf brutal Mayoma erinnert sich genau an den Tag, an dem
abgeschlagen wurde. Zerbrochen ist auch das Ver- sein altes Leben vorbei war. Es war ein Donnerstag-
trauen, dass ein friedliches Zusammenleben von Mus- nachmittag im Juni 2004, erzählt er. ‚Zahle 20 000
limen und Christen im Irak möglich ist. Dollar, oder dein Geschäft geht in die Luft‘, habe
Droht das Ende des christlichen Lebens im Zwei- ein Mann am anderen Ende des Telefons zu Mayoma
stromland? In dem Land also, in dem sich nach einer gesagt. Weil Mayoma Alkohol verkaufe, werde er,
Lesart des Alten Testaments das Paradies befand ein „Mudschahid“, ihn im Namen Gottes strafen.
und in dem die Sippe Abrahams siedelte? Mayoma lebte damals in Bagdad. Sein
Vor über 1400 Jahren bildeten die Chris- Vater war schon in den Sechzigerjahren
ten die Mehrheit rund um Euphrat und Mit der Dikta- aus Batnaja in die Hauptstadt gekommen.
Tigris. Damals prägten sie das Zusammen- tur von Sad- Dort studierte Mayoma Bauingenieur-
leben und die Kultur. Viele der Traditio- dam Hussein wesen, er heiratete das schönste Mäd-
nen, die bis heute von den Kirchen des chen seiner Clique, besaß einen Spiri-
Orients gepflegt werden, haben ihren Ur- endete auch tuosenladen.
sprung in dieser Zeit – es sind teils uralte der schein-
Riten in alten Sprachen, die trotz Wirren bare Frieden Mayomas Stammkunden waren fast alle
und Anfeindungen über die Jahrhunderte Muslime, so erinnert er sich. Am liebsten
lebendig geblieben sind (siehe Kasten). zwischen den kauften sie Whisky, Marke Johnnie Wal-
Mit der Expansion des Islam ab dem Religionen. ker, Tuborg-Bier und Ouzo 7, den Anis-
7. Jahrhundert begann der Niedergang schnaps. Ausgewiesene Christenviertel
der christlichen Vorherrschaft im Orient. gab es nicht in Bagdad. Unter der Dikta-
Zwar blieben die Jesusanhänger vielerorts geduldet, tur Saddam Husseins konnten Christen und andere
durften ihren Glauben leben. Doch immer wieder Minderheiten meist friedlich leben. Das änderte sich
kam es auch zu dramatischen Verfolgungen. Als der mit dem Krieg und dem Sturz des Regimes, Mayoma
mächtige Perserkönig Nadir Schah die Ninive-Ebene bekam es zu spüren.
einnahm, vor 274 Jahren, ließ er die Christen er- Mayoma hatte Angst. Aber er wollte dem Erpres-
morden und zahlreiche Dörfer zerstören. Tief sitzt ser auch kein Schutzgeld bezahlen. Nur was, wenn
auch das Trauma der Christenpogrome während des der Mann ihn erneut erpresste und dann mit dem
Ersten Weltkriegs. Die chaldäisch-katholische Kir- Tod bedrohte? Mayoma verließ Bagdad gleich am
che, die auch in Syrien und der Türkei Anhänger folgenden Tag, so erzählt er es. Er packte die Familie
hat, verlor unzählige Gläubige. Die Christen in der ins Auto, sechs Kinder und seine Frau, und floh ins
Ninive-Ebene zählen zu den wenigen, die noch Ara- rund 400 Kilometer nördlich gelegene Batnaja, ein
mäisch sprechen, die Sprache Jesu. 6000-Seelen-Nest. Dort stand noch das alte Haus
Mit dem irakischen Christentum verschwanden des Vaters. Vier Wochen später explodierte sein Spi-
nicht nur die jahrhundertealten Traditionen, son- rituosengeschäft in Bagdad.
dern auch die reiche Vielfalt der gelebten orienta- Der Diktator Saddam Hussein war vermutlich
lischen Spiritualität. Die Chaldäer, denen auch der grausamste Herrscher seiner Zeit, ein Sadist,
Nafae Mayoma aus Batnaja angehört, die größte ein Machtmensch. Er folterte und tötete jeden, der
Das östliche Christentum nach dem Konzil von Chalkedon 451. und dem Libanon dem byzantinischen
Anhänger des heiligen Maron, der um Ritus verpflichtet. In der Nachfolge der
Neben der griechisch-orthodoxen Kir- 500 lehrte, sonderten sich im 7. Jahr- Apostel sieht sich die armenische
che, der Erbin des byzantinischen hundert in der maronitischen Kirche ab, gregorianische Kirche, die auch in der
Reichskultes, finden sich im Nahen und die ebenfalls dem syrischen Ritus folgt heutigen Türkei und Nachbarregionen
Mittleren Osten etliche christliche und ihre Gottesdienste auf Altsyrisch verbreitet ist. Mehrere Millionen Kopten,
Kirchen hohen Alters. Die ostsyrischen, oder Arabisch abhält, aber seit 1182 die meist in Ägypten ansässig sind,
darunter chaldäische und assyrische den römischen Papst anerkennt. Dage- folgen einem sehr ähnlichen Ritus wie
Kirche, spalteten sich 424 und 431 gen sind die orthodoxe Kirche von die syrisch-orthodoxe Kirche, aber in
nach dem Konzil von Ephesus ab, eben- Antiochien und die seit 1724 von ihr ab- ihrer eigenen Sprache und unter einem
so die Nestorianer; die westsyrischen gespaltene melkitische Kirche in Syrien eigenen Papst.
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Zwischen Glaube und Macht Die Kirchen des Orients
sich ihm entgegenstellte. Aber der Muslim Hussein pen befohlen habe, sofort aus der Ghanem Hermez Georgis lebte
hatte nichts gegen Alkohol, im Gegenteil, und auch Ninive-Ebene abzuziehen, aus al- als chaldäischer Christ im Irak.
nichts gegen Christen. Wer mitspielte nach seinen len zwölf Christendörfern. „Nicht Eine maronitisch-katholische
Gemeinde in Beirut gewährt den
Regeln, dem ging es vergleichsweise gut. eine Patrone haben sie verschos- Vertriebenen Zuflucht.
Es gab christliche Ärzte, Architekten, Offiziere. sen zu unserer Verteidigung“,
Der Präsident gewährte den Christen zwar keinen sagt Georgis, und sein dunkles Für Dalia (2. v. r.) sind die Proben
besonderen Schutz, doch sie muckten nicht auf, und Brummen lässt ahnen, dass dies im Kirchenchor die freudigsten
Momente der Woche.
Saddam Hussein ließ sie leben. nur das erste Detail einer Kette
Die politischen Arrangements zwischen den von Schicksalsschlägen ist.
Glaubensgruppen und Ethnien im Nahen Osten sind
bisweilen schwer verständlich. Nicht selten scheint Die IS-Kämpfer kamen in den Ort, riefen „Allahu
nur die Wahl zwischen Pest und Cholera offenzu- akbar“, Gott ist groß, schalteten den Strom ab, kapp-
stehen. So wie etwa auch in Syrien, wo Christen ten die Wasserleitungen, riegelten die Siedlung ab.
unter Assad relativ sicher leben konnten, aber durch 40 Menschen waren zurückgeblieben in Batnaja,
den IS akut bedroht wurden. Wer die Vertriebenen Witwen, Alleinstehende, Behinderte und Georgis
aus dem Irak heute fragt, im Libanon, in Jordanien, mit seiner Frau Messoun und den drei Kindern.
im Norden Syriens, erhält stets die gleiche Antwort: Einmal wagte sich Georgis hinaus. Er sah, wie
Sie sahen keine Alternative, als unter Saddam gute die schwarze Fahne des IS auf dem Glockenturm
Miene zum bösen Spiel zu machen. der Kirche wehte. Zwei junge IS-Milizionäre stopp-
Doch das meist friedliche Zusammenleben der ten ihn, sie trugen Gewehre in der Hand, Pistolen
Religionen hatte mit der Zerschlagung des iraki- in den Brustholstern. ‚Werde Muslim, oder wir töten
schen Regimes ein Ende: Nun töteten Sunniten Schi- dich‘, habe der eine gesagt, so erinnert sich Georgis.
iten und umgekehrt, und Muslime gingen auf Jesi- Er habe tief durchgeatmet, dann habe er zu sich
den und Christen los. Anders als die Schi- selbst gesagt, dass er als Christ geboren
iten oder die Sunniten des IS formten die sei und die Religion nicht wechseln wer-
Christen im Irak nie eine wirklich schlag- Im Libanon de, „innerlich erfüllt vom Heiligen Geist“,
kräftige Miliz. „Die Christen blieben leben die die Männer ließen ihn laufen.
friedlich, und sie werden dafür geschlach- Doch damit war es noch nicht vorbei:
tet wie die Schafe“, sagt Mayoma.
christlichen Ein alter Bekannter, nun ebenfalls mit
Er wollte sich nicht schlachten lassen. Flüchtlinge dem langen Bart der IS-Anhänger, zwang
In Batnaja fühlte er sich anfangs sicher. inoffiziell. die Familie ins Auto nach Mossul, erzählt
Mayomas Kinder genossen das Land- Georgis. Beim Versuch, von dort nach
leben, die Weiten der Felder und Wiesen.
Viele von Irakisch-Kurdistan weiterzufliehen, wur-
Sie fanden neue Freunde in der Kirchen- ihnen wollen de er in ein IS-Gefängnis verschleppt,
gemeinde. Das Gotteshaus war, neben in den Westen. wieder versuchte man, ihn zur Konver-
dem kleinen Hospital, der Stolz der Ge- sion zu drängen. Geld, Schmuck, persön-
meinde, gebaut vor 60 Jahren. Mayoma liche Gegenstände wurden den Flüchten-
allerdings vermisste das quirlige Leben von Bagdad, den abgenommen. Irgendwie schafften sie es am
die Cafés und Restaurants, den Esprit der Großstadt. Ende doch alle nach Kirkuk. Geblieben war ihnen
Er schlug sich durch mit Gelegenheitsarbeiten als die Kleidung am Leib und die Adresse der einzigen
Buchhalter. Doch all das nahm er in Kauf für die Kirche im Ort. Ein Neffe in Australien schickte etwas
Sicherheit der Familie. Geld. So gelangten sie schließlich in den Libanon.
Zehn Jahre lang ging es gut. Bis zum August 2014. Georgis und seine Familie sind Menschen, die
Die Gerüchte verbreiteten sich schnell, als die Män- keiner will, ebenso wie Mayoma aus Batnaja. Offi-
ner mit den langen Bärten und den Kalaschnikows ziell gibt es sie auch gar nicht in Beirut, denn der
die Ninive-Ebene erreichten. Wieder packte Mayo- Libanon kennt juristisch gesehen keine Flüchtlinge.
ma das Auto, rettete die Kinder, seine Frau, ein paar Offizielle Flüchtlingslager für Iraker oder Syrer gibt
Fotos. Andere hatten weniger Glück. es nicht, sie bewegen sich in einer rechtlichen Grau-
Einer von ihnen ist Ghanem Hermez Georgis, zone und können jederzeit des Landes verwiesen
ein großer Mann mit quadratischem Gesicht und werden.
buschigen Brauen, 62. Seine Hände sind fleischig, Die Erklärung dafür liegt in der Geschichte des
die Stimme ist tief. Er war Fahrer der christlichen Landes. Libanon war immer schon Drehkreuz für
Gemeinde in Batnaja. Selbst jedoch besaß Georgis die Gestrandeten der Kriege in Nahost. Früher ka-
nie ein Auto. Deshalb blieb er mit der Familie men die Palästinenser, jetzt die Syrer und die Iraker.
zurück. Eine Bürde für ein so kleines Land. Wohl auch des-
‚Warum haut ihr ab? Warum lasst ihr uns allein?‘, halb hat der Libanon die Genfer Flüchtlingskonven-
rief Georgis den eigentlich zu ihrem Schutz abge- tion bisher nicht unterzeichnet.
stellten Kämpfern der kurdischen Peschmerga zu in Für die christlichen Flüchtlinge aus dem Irak ist
der Nacht des 6. August, so erzählt er es heute in die Kirche der einzige Zufluchtsort. Im Gemeinde-
Beirut; doch erst seien die Wachen und dann auch haus der Chaldäer werden medizinische Untersu-
die Soldaten abgezogen. Später erfuhr er, dass der chungen gemacht, Neuankömmlinge beraten, Kon-
zuständige Peschmerga-Kommandeur seinen Trup- takte vermittelt. Aber mehr kann die Kirche für die
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Zwischen Glaube und Macht Die Kirchen des Orients
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Die rum-orthodoxe Kirche ist Menschen nicht tun. Wer von auch unter Muslimen. Der IS, sagt Dekan Georgi,
eine der vielen orientalischen hier fortwill, muss sich mithilfe sei „keine authentische Form des Islam“, er werde
christlichen Konfessionen, die
von Schleppern auf den Weg vergehen. Der Plan sei deshalb „hierzubleiben, in
in Beirut Gottesdienste feiert.
nach Europa machen oder sich diesem Teil der Welt“.
Im Libanon können auch die ge- beim Flüchtlingshilfswerk der Der Plan von Dalia al-Kashanna war, das Abitur
flohenen Christen ihre Rituale Vereinten Nationen bewerben. zu machen, Ärztin zu werden. Da ging sie noch zur
zelebrieren: Kreuze, Kerzen und Die Mitarbeiter versuchen, die Schule, in die 9. Klasse, und lebte im Dorf Tal Kaif,
Heiligenbilder sieht man oft.
Verzweifelten in andere Länder in der Ninive-Ebene. Jetzt arbeitet Dalia als Ver-
zu vermitteln. käuferin in einem Bekleidungsgeschäft in Beirut,
Aber die Chancen sind nicht besonders groß, die sie verkauft Pyjamas und Sportsachen, seit vier Jah-
Kontingente der offiziellen Aufnahmeprogramme ren. Mit der Familie kam sie, wie so viele aus der
sind begrenzt. Viele der christlichen Flüchtlinge wol- Ninive-Ebene, in Sad al-Buschria unter, in einer
len ohnehin nach Kanada, Australien oder in die kleinen Zweizimmerwohnung.
USA, weil sie schon ein bisschen Englisch sprechen
oder ein entfernter Verwandter dort lebt. Dalia ist 21, sehr schmal und blass, Jeans, pinkes
Georgis Frau Messoun sagt, sie weine jeden Poloshirt, pinke Fingernägel, das dunkle Haar hält
Abend, weil alles verloren ist. Es sei kein Leben sie am Hinterkopf mit einer pinken Spange zusam-
hier, sagt sie und zeigt auf die beiden abgeschabten men. Wenn Dalia spricht, bilden sich hübsche Grüb-
Sofas und das Plastiktischchen, auf dem sie Limo- chen in den Wangen. Aber ihr Lachen ist verzagt
nade serviert. Die 13-jährige Tochter hilft jetzt in geworden. Sie sagt, sie lebe jetzt von Tag zu Tag,
einem Kosmetiksalon, der 16-jährige Sohn schleppt warte darauf, hier rauszukommen. Als die Mitar-
Kisten bei einem Obstgeschäft. Die Flüchtlinge ar- beiterin des Uno-Flüchtlingshilfswerks fragte, wohin
beiten erheblich länger als die Libanesen, für viel sie auswandern wolle, antwortete Dalia: „Irgend-
weniger Geld. wohin wäre toll.“
Was die Asylsuchenden nicht wissen, Dalia betet nach dem Aufstehen, vor
ist, dass ausgerechnet ihre Kirchenoberen dem Essen, bevor sie schläft. Wenn sie
verhindern wollen, was sie so sehnlichst
Kirchen- singt, glaubt Dalia, ihrem Gott am näch-
wünschen: ihre Weiterreise in den West- politiker sten zu sein. Die zwei Chorproben für
en. Christliche Führer der orientalischen wollen die den Gottesdienst in der St. Josefskirche,
Kirchen wollten den Trend unbedingt donnerstags und sonntags, sind die freu-
stoppen, dass „das Heilige Land von
Christen digsten Momente ihrer Woche.
Christen geleert“ wird, sagt Porphyrios in der Region Auf dem Weg zur Kirche passiert man
Georgi, Dekan an der griechisch-ortho- halten. Sie in den schmalen Straßen von Sad al-Bu-
doxen Balamand-Universität im Nord- schria gleich mehrere Ikonen. Sie sind
westen Libanons. Deshalb forderten sie
hoffen auf dekorativ in Glaskästen eingerahmt, mit
Staat- und Regierungschefs in Europa bessere Zeiten. Lichtern geschmückt. Dargestellt sind
und Übersee auf, keine Visa an Christen meist der maronitische Heilige Scharbel
auszustellen, sagt der Dekan. Machluf und die Muttergottes. Die Chris-
Darf man das – den Beraubten, Gedemütigten ten hier tragen Kreuze um den Hals und am Schlüs-
auch noch den Weg verstellen in eine womöglich selbund, in ihren bescheidenen Wohnstuben sind
bessere Zukunft? Ist es Menschen wirklich zuzumu- Engel und Heiligenbilder häufig die einzige Deko-
ten, mit jenen leben zu müssen, die den Islamisten ration. Das Bekenntnis ist im Alltag überall präsent.
bei den Vertreibungen halfen? Dekan Georgi sitzt Im Libanon, wo im Parlament und in der Regierung
im Empfangsraum des Balamand-Klosters. Er ist ein strenger Proporz zwischen den Glaubensrich-
umgeben von prächtigen Ikonen. Die Fenster geben tungen gilt, können auch die irakischen Christen
den Blick frei über den Berg aufs Mittelmeer. Georgi ihre Überzeugungen wieder offen zeigen.
ist Ende fünfzig, schwarze Soutane, grauer Vollbart. Nafae Mayoma sitzt in seiner Wohnung im achten
Er vertritt hier den Patriarchen von Antiochien, der Stock auf dem Sofa. Er geht durch eine Reihe von
im syrischen Damaskus residiert und dessen Bruder, Fotos, die sein verlorenes Leben zeigen, auf einer
Erzbischof von Aleppo, vom IS verschleppt wurde. Party, in seinem Spirituosenladen in Bagdad, in Bat-
Georgi sagt, dass die Wunden der Bürgerkriege naja, dem Dorf seines Vaters. Dreimal sei er nun
tief sind, dass sie nie wirklich heilen und leicht wie- geflohen in den letzten 13 Jahren, sagt er, zuletzt
der aufreißen. Aber wie bei einem Kind, das aus Irakisch-Kurdistan in den Libanon, weil es dort
Schmerz erlebt habe und dem die Eltern wieder auf kein geordnetes Leben gab für ihn und die Familie.
die Füße helfen, sollten die Kirchenführer auch den Mayoma sagt, er wolle nicht mehr weglaufen. Er
Gläubigen erklären, „zweimal zu denken“, bevor will endlich wieder irgendwo ankommen.
sie dem Orient den Rücken kehren.
Über die Jahrhunderte hatten die Ostkirchen eine
besondere Stellung innerhalb der muslimischen Video:
Mehrheitsgesellschaft. Ihre Schulen und Universitä- Christentum im Libanon
ten sind herausragend. Die Christen waren in dieser
spiegel.de/sg062017ostkirchen
explosiven Region der Welt gefragt als Vermittler oder in der App DER SPIEGEL
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Zwischen Glaube und Macht Theologie
Passen Vernunft und Religion zusammen? Diese Frage tauchte massiv im Mittelalter auf.
Die großen Denker der Scholastik gingen dem Problem wissenschaftlich auf den Grund.
S
o eine katholische Heiligspre- schaftlichen Weltbild des Mittelalters ar- ren. Er kommt aus einer hochadeligen
chung ist eine komplizierte Sa- beiteten. reichen Familie. Da Thomas noch etliche
che, sie kann Jahrhunderte Die Fachtheologen trafen sich an den ältere Brüder hat, die eine militärische
nach dem Ableben des Kandi- neu entstehenden Domschulen. Sie lasen oder weltliche Laufbahn einschlagen,
daten in Anspruch nehmen. Doch als Bibeltexte, Heiligengeschichten, die Wer- wird er bereits als Fünfjähriger in die Ob-
Thomas von Aquin am 18. Juli 1323 das ke der Kirchenväter und die dogmati- hut des Klosters Monte Cassino gegeben.
Prädikat „heilig“ verliehen wurde, war schen Handbücher. Und sie lasen auch Er erweist sich als gelehriger Schüler und
der „doctor angelicus“, der „engelsglei- die seit Kurzem wieder auf Latein zu- darf mit 14 Jahren an die Universität Nea-
che Doktor“, gerade einmal 50 Jahre ver- gänglichen griechischen Philosophen, al- pel wechseln, wo er ein Studium generale
blichen. len voran Aristoteles. Wer mitdiskutieren absolviert.
Und noch etwas war ungewöhnlich: wollte, musste strikten Regeln folgen. In der Stadt am Fuß des Vesuv ent-
Der Hochschullehrer und Denker Tho- „Die Scholastik entwand das Denken des deckt er seine Berufung: Thomas möchte
mas von Aquin wurde zu Lebzeiten nicht Mittelalters den Fesseln des magischen den Dominikanern, einem 1215 gegrün-
vom Volke verehrt, sondern war nur und symbolischen Weltbildes“, schreibt deten Bettelorden, beitreten. Seine Fa-
wenigen lateinkundigen Gebildeten be- der Historiker Johannes Fried. milie ist entsetzt und schickt die Brüder,
kannt. Anders als sonst von Heiligen ver- Doch diese neue Form des Denkens die den Abspenstigen festsetzen. Die al-
langt, sind von dem Gelehrten aus Mittel- barg auch große Gefahren, vor allem für lem weltlichen Besitz entsagenden Mön-
italien keine Wunder überliefert. Nicht die Stellung von Kirche und Klerus, konn- che sind damals eine Herausforderung
einmal mit einem Märtyrertod konnte te doch der Einzug der Rationalität in für die Kirchenhierarchie und den eng
Thomas aufwarten. Johannes XXII. fand den Glauben diesen auch demontieren. mit ihr verflochtenen Adel. Denn sie stel-
dennoch Gründe für die Heiligsprechung: Thomas von Aquin wird 1225 auf len Prunk und Macht infrage.
Thomas habe so viele Wunder vollbracht, Schloss Roccasecca in Oberitalien gebo-
wie er Quaestiones gelöst habe, entschied Ohnehin sind die Zeiten unruhig. Die
der Papst in Avignon. Mongolenstürme haben gezeigt, dass das
„Quaestiones“, Fragestellungen, wa- Christentum verletzlich ist. Und die
ren so etwas wie die intellektuelle Wäh- Kreuzzüge brachten Europa mit der isla-
rung des Hochmittelalters. Und Thomas mischen Hochkultur in Berührung – bis
war in dieser Hinsicht unbeschreiblich dahin waren es vor allem muslimische
reich. Wie keiner vor ihm wusste er Ant- Gelehrte, die die griechischen Denker
worten auf die zentrale theologische Fra- übersetzt und kommentiert hatten.
ge seiner Epoche: Wie ließen sich die Überall in Europa wachsen um die gro-
Worte der Bibel und die Lehren der Kir- ßen Kathedralen und Marktplätze herum
chenklassiker mit der Logik, dem ratio- Städte. Handwerker spezialisieren sich,
nalen Erkenntnisanspruch der antiken Baumeister suchen nach naturwissen-
Denker vereinbaren? schaftlich begründeten Regeln für Statik
Kürzer gesagt: Wie passten Augusti- und Architektur. Und den gelehrten
nus und Aristoteles zusammen? Blieb der Geistlichen zeigt sich immer klarer, dass
Glaube nur Glaube, oder ließ er sich wis- Wissen präziser wird, wenn man nicht
senschaftlich untermauern? nur Überlieferung ex cathedra vermittelt,
Thomas war nicht der Erste und nicht sondern Diskussionen zulässt. Argumen-
der Einzige, der sich diesen Fragen wid- te zählen plötzlich mehr als bloße Auto-
mete. Doch Thomas von Aquin war der rität.
Die dreiteilige „Summa theologica“
prominenteste unter diesen später Scho- des Thomas von Aquin gilt als Thomas spürt den Aufbruch. Selbst
lastiker genannten Experten, die wie eines der Hauptwerke der Scholastik der Arrest im Elternhaus lässt ihn nicht
Domsteinmetze am theologisch-wissen- (Manuskript, 15. Jh.). schwanken: Er will Dominikaner sein
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Thomas von Aquin, hier in einer
Initiale porträtiert, galt als Meister
scholastischen Denkens.
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Zwischen Glaube und Macht Theologie
mit Vernunftmitteln anging. Logik und „Indem wir nämlich zweifeln, gelan- Wissen ein Höchstmaß an begrifflicher
Metaphysik des Aristoteles trugen dazu gen wir zur Untersuchung, und durch die- Präzision und Sicherheit gewährleiste.
erheblich bei. Zwar gab es mehrfach Ver- se erfassen wir die Wahrheit“, heißt es Um 1248 gibt der gebürtige Schwabe
suche, Aristoteles als gotteslästerlich zu im Prolog zu „Sic et non“. Albert, schon zu Lebzeiten Albertus Mag-
untersagen, doch die Fachtheologen ließen Spätestens nach Abaelard bildete sich nus genannt, in dem international ver-
sich die Lektüre nicht mehr verbieten. Im an Domschulen und Universitäten eine netzten Grüppchen hochgebildeter Män-
Wettstreit von Beweis und Gegenbeweis feste Methode heraus, Probleme abzu- ner den Ton an. Sein Werk umfasst heute
schien man mehr an Wahrheit zu entde- handeln: Obenan steht die „Quaestio“, mehr als 22 000 Druckseiten zu fast allen
cken als im Nachbeten von Lehrsätzen. die Frage. Es folgen die sogenannten intellektuellen Fragen, von der Biologie
Obiectiones, Einwände. Der erste Ein- bis zum Bibelkommentar.
„Sic et non“ („Ja und Nein“) – dieser wand beginnt formelhaft mit der Wen- Ausführlich befasst er sich auch mit
Buchtitel war schon für Petrus Abaelar- dung „videtur“ – „es scheint“, dann wer- den Schriften anderer Religionen – den
dus, eine Generation jünger als Anselm, den die Argumente für diese Sicht auf- jüdischen Talmud etwa hält der Domini-
zum Programm geworden. Der streitbare gelistet. Nun folgt das „Sed contra“ – kaner für gotteslästerlich und will ihn
Pariser Theologe eckte nicht nur wegen „aber andererseits“, also das, was dage- deshalb verbrennen lassen.
der Liebesaffäre mit seiner Schülerin He- gen spricht. In der abschließenden Ant- Albert ist es, der entscheidend mitwirkt
loisa bei der konservativen Kirchen- wort werden alle Argumente gegenein- am Durchbruch des aristotelischen Den-
hierarchie an. In „Ja und Nein“ listete er ander abgewogen, teils auch begründet kens. In zahlreichen Kommentaren, aber
in 158 Abschnitten Widersprüche in den widerlegt. auch mit seiner schieren Autorität in der
Schriften der alten Kirchenlehrer und in Die Gelehrten waren zutiefst davon Kirchenhierarchie fördert er den griechi-
der Bibel auf – und wies gleichzeitig überzeugt, dass nach diesem Verfahren, schen Denker. 1255 werden die Schriften
Wege, wie sie mit den Mitteln der ver- durch methodisch saubere Anwendung des Aristoteles zur Pflichtlektüre der Stu-
nünftigen Erörterung auszuräumen seien. von Logik und Dialektik, hergeleitetes denten an der Sorbonne in Paris.
Es ist dann sein Schüler Thomas von
Aquin, der Aristoteles und die christliche
Überlieferung theologisch verschmilzt –
mit ungeheurer Nachwirkung: Noch 1879
erklärt Papst Leo XIII. das Denken des
Thomas per Enzyklika zur offiziellen
Philosophie der katholischen Kirche.
Um seine vielen Schriften überhaupt
zu Papier bringen zu können, soll Tho-
mas bis zu vier Sekretären gleichzeitig
diktiert haben. „Summa theologica“
heißt sein Hauptwerk, es umfasst drei
riesige Teile und wurde noch nicht einmal
vollendet.
Im ersten Teil geht es – Quaestio für
Quaestio, Unterfrage um Unterfrage –
darum, wie Gott und seine Schöpfung
durch Vernunft und Glauben erkannt
werden. Der zweite handelt von sitt-
lichen und ethischen Geboten, die dem
Menschen ein gottgefälliges Leben er-
möglichen sollen. Die „pars tertia“ ist un-
ter anderem der Kirche und ihren Sakra-
menten gewidmet.
Den Menschen sieht der Kirchenlehrer
als ein Wesen, das in der Schöpfung zwi-
schen den Engeln und Tieren angesiedelt
ist. Er ist ein Vernunftwesen, dessen See-
le auch nach dem Tod weiterbesteht.
Ethisch habe sich der Mensch an die gött-
liche und die vernunftmäßige Ordnung
zu halten, er möge sich in Mäßigung und
Tapferkeit üben. Er soll an Gott glauben,
auf Gott hoffen und Liebe zu Gott hegen.
Politisch plädiert Thomas für die Mo-
narchie als beste Regierungsform. Der
Albertus Magnus war Universalgelehrter.
König soll Vertreter Gottes im Staate,
In seiner „Summa theologiae“ breitete er seine aber den Priestern in Glaubensfragen
Theologie aus (Französisches Manuskript, 15. Jh.). untergeordnet sein. Ein Staat, der Reli-
80 SPIEGEL GESCHICHTE 6 /2 0 17
lem als Ausdruck der Bewunderung ver-
standen werden: So groß war die geistige
Kraft, so gewaltig seine Ausstrahlung,
dass sogar Fürsten ihn fürchteten.
Auch in Theologenkreisen wurde Tho-
mas nicht nur bewundert; sein geballter
Intellekt stieß auf Widerstand von unter-
schiedlichen Seiten. Da gab es konserva-
tive Geistliche wie den wortgewaltigen
Bernhard von Clairvaux, die generell da-
gegen waren, sich Glaubensdingen mit
rationalem Handwerkszeug zu nähern.
Der Mensch sei zu gering, um Gottes Ord-
nung disputieren zu können. Die Anwen-
dung weltlicher Rationalität werde früher
oder später in Ketzerei münden.
Gelehrte wie Roger Bacon kritisierten
hingegen schon im 13. Jahrhundert, die
Scholastik sei theorielastig und neige dazu,
sich in absurden Gedankenwelten zu ver-
irren. Gerade in den Naturwissenschaften
sei Fortschritt nicht allein gedanklich zu
erreichen. Man müsse vielmehr Wissen
aus Experimenten, Erfahrungen und Be-
obachtungen mit einbeziehen.
Daneben meldeten sich Radikale, de-
nen Thomas in seiner Anwendung des
Aristoteles nicht weit genug ging. Wil-
helm von Ockham etwa, ein englischer
Theologe, kam beim Studium des Aris-
toteles zu der Erkenntnis, dass Vernunft-
wissenschaft, also Philosophie, und Of-
fenbarung eben nicht vereinbar seien.
Gottes Dasein könne nicht bewiesen, son-
dern bestenfalls durch Analogieschlüsse
plausibel gemacht werden. Argumente
wie dieses brachten Ockham in scharfen
Gegensatz zur Amtskirche.
Der Franziskaner gilt übrigens als das
historische Vorbild für Wilhelm von Bas-
kerville aus dem Roman „Der Name der
Rose“. Dort ist er ein tiefgläubiger Mann,
der sich nicht von hergebrachten Dog-
men und Autoritäten einschüchtern lässt.
Der Franziskanermönch Wilhelm
Leidenschaftlich diskutiert er die Frage,
von Ockham kritisierte Thomas von Aquin, ob Christus die Kleider, die er am Leib
weil ihm dessen Denken nicht trug, auch besaß. Solche sehr abseitig an-
radikal genug erschien (Manuskript, 14. Jh.). mutenden Fragestellungen waren es, wo-
für die Scholastiker später ausgelacht
gion und weltliche Herrschaft trennt, also Dominique Chenu; es sei geprägt von wurden.
auf rein säkularen Machtmitteln ruht, ist einem „Kraftstrom evangelischer Spiri- Der echte Wilhelm von Ockham be-
für den Universaltheologen wie für fast tualität“. zog im Streit darum, ob Mönche Besitz
alle Denker seiner Zeit unvorstellbar. haben dürfen, ebenfalls eine radikale
Und ebenfalls zeittypisch befürwortet der 1274 stirbt Thomas von Aquin auf der Position. Bis zu seinem Tod 1347 musste
Aquinat, wie man ihn später auch nannte, Reise zum Zweiten Konzil von Lyon, er er in München bei Ludwig dem Bayern
die Todesstrafe für verstockte Ketzer. ist nicht einmal 50 Jahre alt geworden. Schutz suchen – weil der Papst ihn wegen
Bei aller Anregung durch Aristoteles Es war wohl eine Krankheit, kein unge- unzähliger angeblich häretischer Lehr-
ist das Werk des Thomas schon in seinem wöhnlich früher Tod in der damaligen sätze hatte exkommunizieren lassen. Die
Aufbau zutiefst religiös inspiriert. Jedes Zeit. Dennoch raunen Chronisten, der höchste Kirchenstrafe kam von Johannes
Element seines Denkens sei „innerlich König oder einer seiner Gefolgsleute XXII., demselben Pontifex, der den Ober-
auf Gott und auf das Wort Gottes bezo- habe den Denker mit Gift beseitigen las- scholastiker Thomas von Aquin 1323
gen“, schreibt der Thomas-Biograf Marie- sen. Diese Gerüchte dürfen wohl vor al- heiliggesprochen hatte.
SPIEGEL GESCHICHTE 6 /2 0 17 81
Zwischen Glaube und Macht Ketzerprozesse
Im Verfolgungswahn
82 SPIEGEL GESCHICHTE 6 /2 0 17
Von Nils Klawitter
D
er Lehrer Cayetano Ripoll war
46 Jahre alt, als sie ihn verhaf-
teten. Zwei Jahre lang saß er
Die spanische Inquisition war
besonders grausam. Bei öffentlichen in einem Gefängnis in Valen-
„Autodafés“ (Glaubensgerichten) cia, am 31. Juli 1826 hängten sie ihn und
wurden Ketzer vor Publikum hingerich- verbrannten seine Leiche öffentlich.
tet (Gemälde von Francisco Rizi, 1683). Ripoll, so hält seine Todesakte fest,
sei warmherzig gewesen, ein Vorbild an
Bescheidenheit. Doch er schien auch
bedrohlich: Seine Schüler erzog er un-
dogmatisch. Weder mussten sie vor dem
Altar niederknien noch sich vor jedem
heiligen Symbol bekreuzigen.
Bald galt Ripoll als Freidenker und
Protestant. Im Spanien des 19. Jahrhun-
derts war das lebensgefährlich. Nachbarn
denunzierten ihn bei der Glaubenskon-
gregation der Stadt. Als er nicht wider-
rufen wollte, kam der Henker.
Cayetano Ripoll war der letzte Tote der
Inquisition. Das letzte Opfer eines christ-
lichen Gesinnungsterrors, der fast 600 Jah-
re lang eine Blutspur durch Europa zog.
Es ist die Angst vor Abweichlern in
den eigenen Reihen, die Papst und Bi-
schöfe Mitte des 13. Jahrhunderts eine
Hatz auf sogenannte Häretiker einläuten
ließ, auf Menschen also, die verdächtig
waren, nicht dem von Rom vorgegebe-
nen Glaubenskurs zu folgen. Die Kirchen-
oberen hätten die „Gleichmäßigkeit im
Glauben zu erzwingen“ versucht, schrieb
bereits der amerikanische Historiker Hen-
ry Charles Lea in seinem bahnbrechen-
den Werk über die Inquisition des Mittel-
alters, das 1887 erschien.
Über 100 000 Menschen wurden gefol-
tert oder als Ketzer oder Hexen ver-
brannt. Allein in Spanien gab es zwischen
1480 und 1530 bis zu 12 000 Todesopfer.
Jedem, vom Kaiser bis zum niederen
Bauern, legte die Kirche „die Pflicht zur
Verfolgung auf“, so Lea. Sogar Kinder
wurden Verhören unterzogen. Der Tra-
ditionskern der Spitzelei für KGB, Gesta-
po oder Stasi – für viele Historiker liegt
er in dieser jahrhundertelangen Erzie-
hung zur Denunziation.
Dabei war die Dialektik der Kirche
beachtlich: Man schärfte allen Christen
ein, die höchste Pflicht sei es, Ketzer aus-
zurotten – beharrte aber spitzfindig dar-
auf, sich selbst nicht die Hände blutig ge-
macht zu haben: Die Scheiterhaufen
anzuzünden, das überließ man den welt-
lichen Handlangern. Mehr noch: Kurz
vor den Zündeleien setzte man sich sogar
als Trostspender der Opfer in Szene.
Im Fadenkreuz der Glaubenswächter
standen Abweichler in den eigenen Rei-
SPIEGEL GESCHICHTE 6 /2 0 17 83
Zwischen Glaube und Macht Ketzerprozesse
hen, denn nur Christen konnten abtrün- ten kooperierte und von der Bevölkerung beim Papst. Obwohl Minneke schon rela-
nig werden. Oft traf es die besonders unterstützt wurde. tiv früh im Kerker landete und später ver-
Eifrigen, Fundamentalisten wie die Wal- Regional war die Glaubensüberwa- brannt wurde, deutete sich – so absurd es
denser etwa, die Laien predigen ließen chung deshalb sehr unterschiedlich aus- wirken mag – eine gewisse formale Fair-
und in Askese lebten. Die mächtigste Hä- geprägt. Viele Teile Europas blieben von ness des Verfahrens an: Mehrfach wurde
retikerbewegung in Westeuropa war die der päpstlichen Inquisition verschont wie Minneke angehört, das Prozedere dauerte
der Katharer (griech. katharos bedeutet England, obgleich dort die Lollarden die Jahre und ging durch mehrere Instanzen.
„rein“), aus deren Namen der Sammel- Kirchenhierarchie infrage stellten. Knapp 200 Jahre später erlebten die
begriff Ketzer entstand. Sie selbst sahen Und während die katholische Kirche Menschen von Konstanz dann freilich
sich als besitzlose „Arme Christi“, ver- in Norditalien trotz heftiger Widerstände eine der hinterlistigsten Hinrichtungen
folgten eine radikale Bußethik und hin- sogar Ketzerverbrennungen in Arenen überhaupt: Während des dortigen Kon-
gen einer dualistischen Weltordnung an, wie der von Verona durchsetzen konnte, zils wurde der böhmische Reformator Jan
in der Gott und Satan in ständiger Kon-
kurrenz stehen. Albigenser wurde die Be-
wegung auch genannt, nach ihrer Hoch-
burg Albi im Süden Frankreichs.
Weltlichen und kirchlichen Herrschern
waren diese Überfrommen ein Dorn im
Auge. 1209 rief Papst Innozenz III. den
französischen König und die Bischöfe
zum Kreuzzug gegen die Albigenser auf.
Allein in Béziers massakrierten Kreuzrit-
ter 20 000 Männer, Frauen und Kinder,
praktisch die gesamte Bevölkerung. Auf
die Frage der Ritter, wie denn die Ketzer
zu erkennen seien, soll ihnen der päpst-
liche Gesandte geantwortet haben: „Tö-
tet sie! Gott kennt die Seinen schon.“
Im Jahr 1224 segnete Kaiser Friedrich
II. die Brutalität mit den ersten welt-
lichen Ketzergesetzen ab: Vom Bischof
verurteilte Ketzer sollten an die lokalen
Gewalten überstellt und mit kaiserlicher
Autorität verbrannt werden. Es war die
Blaupause für eine jahrhundertelange
Terrorkooperation zwischen Staat und
Kirche, die rasch institutionalisiert wurde:
1231 richtete Papst Gregor IX. die Inqui-
sition als päpstliche Behörde ein; 1252 ge-
stattete Innozenz IV. die Folter.
In jedem Ort sollten nun Suchtrupps
aus Priestern und Laien nach Ketzern
fahnden. Päpstliche Legaten schwirrten
bald durch halb Europa. Eine besondere
Rolle fiel den Dominikanern zu: Die 1498 wurde der Dominikaner Girolamo Savonarola in Florenz auf dem Scheiterhaufen
Mönche wurden zu Organisatoren der hingerichtet – er trat als Bußprediger auf und kritisierte den Lebenswandel des Klerus
flächendeckenden Schnüffelei, zu Ermitt- (Italienisches Gemälde, anonym, 16. Jh.).
lern und Sonderrichtern in einem.
Als „Versuchslabor der Inquisition“, spielte die Inquisition im deutschsprachi- Hus verbrannt. Das freie Geleit, das ihm
so nennt es der Historiker Gerd Schwer- gen Teil des Heiligen Römischen Reiches König Sigismund zunächst zugesichert
hoff, diente das vermeintliche Ketzer- nördlich der Alpen kaum eine Rolle. hatte, ignorierten die für den Schuld-
dreieck Albi, Carcassonne, Toulouse. Das lag auch an der territorialen Zer- spruch zuständigen Bischöfe und auch
Hier machten sich Dominikaner sogar splitterung des Reiches und der unter- der König selbst.
daran, angebliche Häretiker zu exhumie- schiedlich ausgeprägten Kirchenhörigkeit. Derartige Willkür blieb im Reich aller-
ren, um die Leichen rituell zu bestrafen. Wie zäh eine Verfolgung werden konnte, dings eine Ausnahme. Im Jahr 1509 ging
Doch nicht überall war die kirchliche zeigte sich bereits 1221. Damals versuchte der Kölner Inquisitor Jacob von Hoch-
Macht so erfolgreich. Gerade in der Früh- Bischof Konrad von Hildesheim, den straten zwar noch gegen den Humanisten
zeit der Inquisition trafen die Glaubens- schon länger häresieverdächtigen Gosla- Johannes Reuchlin vor. Der Bischof von
wächter in vielen Orten auf Widerstand, rer Probst Heinrich Minneke der Ketzerei Speyer sprach Reuchlin allerdings frei
mitunter wurden Emissäre verprügelt zu überführen. Der Angeschuldigte wehr- und legte dem Inquisitor die Kosten des
oder getötet. Erfolg hatte die Kirche nur te sich jedoch und erhob sogar, wie da- Verfahrens auf. Im Schatten des aufstre-
dort, wo sie mit den weltlichen Obrigkei- malige Chroniken festhalten, Einspruch benden Luthertums erreichten die Domi-
84 SPIEGEL GESCHICHTE 6 /2 0 17
nikaner später zwar noch eine Verurtei- auch hier die Dominikaner als geistliche
lung, die aber wirkungslos blieb. Sturmabteilung der Inquisition.
Auch wegen der bald immer stärker Trotz zaghafter Widerstände aus Rom
formalisierten „Ketzerprozesse“ halten erlebt Spanien eine rasche Radikalierung.
einige Historiker wie Gerd Schwerhoff die Im Jahr 1488 wurde ein Generalinquisitor
Inquisition für ein mittelalterliches „Mo- für ganz Spanien zuständig. Er stand un-
dernisierungsphänomen“. Während zuvor ter Kontrolle der spanischen Könige, die
meist nur mündlich gesprochenes Recht auch die Inquisitoren ernannten.
galt, etablierten sich nun strafprozessuale Zum ersten öffentlichen „Autodafé“
Instrumente, die sich bis heute gehalten (Glaubensgericht) war es in Sevilla be-
haben: Die Untersuchung wurde ver- reits drei Jahre zuvor gekommen. Um
schriftlicht, es gab Zeugen und die – wenn möglichst große disziplinarische Wirkung
auch kleine – Chance des Freispruchs. zu erzielen, wurden solche Hinrichtun-
Es waren die von Martin Luther ange- gen öffentlich inszeniert. Bisweilen ka-
stoßene Reformation und ihre – dank des men mehrere Zehntausend Zuschauer, in
Buchdrucks – raschen Erfolge, die Papst Valladolid sollen es im Jahr 1559 sogar
Paul III. zum Umdenken zwangen: Nun 200 000 gewesen sein. Viele Hundert Ab-
war es kaum noch möglich, allen Abweich- weichler wurden in den Folgejahren Op-
lern den Prozess zu machen. Der Papst zen- fer dieser Schmähungsschauen.
„Index der verbotenen Bücher“ der
tralisierte die Inquisitionsbehörde ab 1542 Spanischen Inquisition, im Auftrag des Doch es gibt den Verdacht, dass es bei
in Rom. Statt auf Scheiterhaufen setzten Kardinals von Toledo, 1583. der Menschenjagd nicht allein um Glau-
die Glaubenswächter fortan auf Kommuni- bensfragen ging. Könnte es sein, dass die
kationskontrolle: Im Jahr 1559 veröffent- tes Gesetz, dass die Zauberinnen getötet Inquisition sich durch Strafgelder selbst
lichten sie den „Index der verbotenen Bü- werden“, fand etwa Martin Luther. Noch alimentierte und deshalb ein starkes Ver-
cher“, also jener Schriften, deren Besitz 1775 wurde Anna Maria Schwegelin, eine folgungsinteresse besaß? Unter Historikern
Katholiken untersagt war. Bis ins 20. Jahr- Dienstmagd, in Kempten wegen Hexerei ist dieser Punkt strittig; der Inquisitions-
hundert wurde er regelmäßig aktualisiert. zum Tode verurteilt. spezialist Schwerhoff hält den Eindruck
Doch nicht nur die Reformation setzte Ein Sonderfall war Spanien, dort, wo zumindest für plausibel. Dafür spreche,
der römischen Kirche zu. Auch die auf- noch im 19. Jahrhundert das letzte Opfer dass es die Häscher oft auf reiche Familien
keimenden Naturwissenschaften ließen zu verzeichnen war. Hier zeigten sich die abgesehen hatten. Allerdings ging auch ein
ihre Autorität wanken; sie setzten dem Inquisitoren seit dem ausgehenden schwer zu bestimmender Anteil der Beute
Glauben eigene, wissenschaftliche Wahr- 15. Jahrhundert besonders grausam – und an das Königshaus.
heiten entgegen. Anfangs versuchte die die Spanische Inquisition blieb unabhän- Auch der lange andauernde Verfol-
Kirche noch, den Wandel abzuwehren: So gig von Rom. Ins Visier gerieten hier aller- gungswahn in Spanien stützt die These
musste der Astronom Galileo Galilei (1564 dings nicht Hexen oder Katharer, son- vom finanziellen Interesse. „Irgendwann
bis 1642) seine Feststellung widerrufen, dern einheimische Juden und Muslime, ging der Inquisition dann die Kundschaft
dass sich die Erde um die Sonne dreht. die zum Christentum konvertiert waren. aus“, sagt der Historiker Holzem, so
1633 wurde er unter Arrest gestellt. Auf ihnen lag der Verdacht, weiter der recht habe sich aber niemand durchrin-
Auch Todesurteile gegen Ketzer wurden alten Lehre anzuhängen. gen können, sie abzuschaffen.
nach der Reformation noch verhängt: Im So zynisch es klingt: Auch in Spanien Im Jahr 1813 hob das Parlament zwar
Februar 1600 wurde auf dem Campo de’ spielte die Inquisition eine Rolle im mo- die Inquisitionstribunale auf, doch bereits
Fiori in Rom Giordano Bruno verbrannt, dernen Staatsbildungsprozess. 1469 ver- ein Jahr später setzte König Ferdinand
der am christlichen Trinitätsglauben ge- einigte die Heirat Ferdinands von Aragón VII. sie wieder ein. Bis Papst Pius VIII.
zweifelt haben soll. Selbst auf dem Schei- mit Isabella von Kastilien die beiden bis- die unabhängige spanische Inquisition
terhaufen schien der Denker den Inquisi- her unabhängigen Königreiche Aragón 1829 beendete, bestand sie mancherorts
toren offenbar noch so gefährlich, dass ihm und Kastilien. „Die Religion fungierte da- als eine Art Sittenpolizei weiter. Jeder
die Zunge festgebunden worden sein soll, bei sowohl als ideologische Klammer des konnte seinen Nachbarn anschwärzen. Im
damit er nicht zum Volk sprechen konnte. katholischen Königtums als auch als Fall des Lehrers Cayetano Ripoll endete
Eine Grausamkeit ließen die von Rom Instrument zur brutalen Ausgrenzung“, das Petzen tödlich. Heute erinnert in Va-
aus agierenden Inquisitoren aus: Die He- sagt Andreas Holzem, Kirchenhistoriker lencia ein schmuckloser Platz zwischen
xenverfolgung. Vielerorts in Europa aller- an der Universität Tübingen. Nirgendwo Hochhäusern und einem Carrefour-Markt
dings wütete der Wahn: Etwa 50 000 Men- gab es mehr Gesinnungsterror und Glau- an ihn.
schen, die Hälfte davon in Deutschland, bensopfer als in Spanien. Es hat lange gedauert, bis sich die ka-
fielen in der Zeit zwischen dem 15. und Im Hintergrund stand ein Elitenstreit: tholische Kirche der brutalen Epoche der
18. Jahrhundert den Verfolgungen zum Am Königshof hatte sich eine neue Schicht Inquisition gestellt hat. Im Jahr 2000 legte
Opfer. Kirche und Glaubenswächter fand aus ehemals jüdischen und muslimischen Papst Johannes Paul II. ein öffentliches
man zwar oft an vorderster Front der Beamten etabliert, die die alten Eliten um Schuldbekenntnis ab für die von Kirchen-
Hetzer; weltliche Gerichte oder Fürsten Einfluss fürchten ließ. Wie in früheren vertretern verübte Gewalt.
kleiner Territorien jedoch waren es, die Pogromzeiten wurden die Neuen verleum- Spanien hingegen bleibt ein Sonder-
die Todesurteile sprachen. det: Wieder sollte die Reinheit des Blutes fall. Bis heute ist dort Andersgläubigen
Auch Protestanten wurden zu eifrigen entscheiden, wer ein wahrer Christ war. der „Respekt vor der katholischen Re-
Hexenjägern. Es sei ein „überaus gerech- Zentrale Rolle bei der Verfolgung spielen ligion“ gesetzlich vorgeschrieben. I
SPIEGEL GESCHICHTE 6 /2 0 17 85
Zwischen Glaube und Macht Herrschaftsansprüche
Anfangs waren die Anhänger Jesu Staatsfeinde, später mischten die Päpste persönlich in
der Politik mit: Der Tübinger Kirchenhistoriker Volker Leppin erklärt, wie sich das Verhältnis
zwischen Christentum und weltlicher Obrigkeit über die Jahrhunderte hinweg veränderte.
„Verblüffende
Doppelgesichtigkeit“
SPIEGEL: Professor Leppin, wie mächtig rer fassbar. In Europa sehe ich frei- In jedem Vaterunser erklingt die
sind Christentum und Kirche heute? lich auch dort einen klaren Rückgang. Bitte: „Dein Reich komme“ – also kann
Leppin: Das ist weltweit sehr verschie- Zum Beispiel haben konfessionelle es nicht von dieser Welt sein. Es ist
den. In Europa haben katholische wie Bindungen praktisch keinen Einfluss immer gut, sich daran zu erinnern. Die
protestantische Kirche rapide an Einfluss mehr auf Wahlentscheidungen wie ersten Christen standen in doppelter
verloren. Anderswo, etwa in Lateinameri- kürzlich die Bundestagswahl. Und Weise den Eliten fern: sowohl den römi-
ka, wirkt die katholische Kirche nach wie auch die Kirchen selbst haben sich schen Machthabern wie den jüdischen
vor sehr bestimmend. Und das öffent- stark verändert. Eine „Ehe für alle“ Hohepriestern am Tempel. Insofern hielt
liche Leben in den USA ist stark christ- hätte in den Sechzigerjahren sicher sich die „Jesus-Bewegung“, wie der
lich-religiös geprägt – allerdings konfes- auch die evangelische Kirche ein- Neutestamentler Gerd Theißen sie nennt,
sionell erheblich bunter als hierzulande. deutig abgelehnt; die katholische zunächst abseits der Macht. Aber schon
sowieso.
360°-Foto:
Jesus erklärt: „Mein Reich ist nicht von Im Petersdom
Ja, von der institutionellen Macht. dieser Welt.“ Hat der Machtverlust der spiegel.de/sg062017petersdom
Der spirituell-mentale ist sicher schwe- Kirchen vielleicht sogar etwas Gutes? oder in der App DER SPIEGEL
86 SPIEGEL GESCHICHTE 6 /2 0 17
bald gab es – durchaus notwendige – Hat sich mit Paulus das Verhältnis des philosophische Lehren aufgenommen,
erste Arrangements. Christentums zur Macht entscheidend das setzte das Christentum fort. Und
verändert? Oder justierte er nur Wei- dann bemühte man sich zu erklären,
Wo? chen auf einem Kurs, der feststand? warum man über das Judentum hinaus-
Es ist ein Indiz, wenn der Apostel Weder noch. Von der Denkweise, gehen musste, wie man schon an Lukas,
Paulus fordert, jeder solle sich der dass Paulus das Christentum quasi neu dem Autor der Apostelgeschichte, se-
Obrigkeit fügen. Die Ausbreitung des begründet haben soll, sind wir abge- hen kann. Er will zeigen, dass der Jude
Christentums rund um das Mittelmeer kommen. Er war nur einer von etlichen Paulus, weil er in der Synagoge unge-
wäre ohne die Infrastruktur des Römi- Repräsentanten des frühen Christen- hört blieb, weitergehen musste, also
schen Reiches nicht denkbar. tums – der, über den wir am meisten griechisch Gebildete zu bekehren ver-
wissen. In Korinth gab es offenbar auch suchte. Unter denen konnte das Chris-
Blieben die Christen nicht trotzdem Anhänger eines Apollos, von dem dann tentum dann gerade wegen seiner Nähe
Dissidenten? später keiner mehr sprach. Es gab tat- zum Judentum sehr erfolgreich missio-
Natürlich. Das Kernereignis ihres sächlich vielerlei Missionsströme. So nieren, weil diesen Gebildeten die über-
Glaubens war eine Hinrichtung durch kennen wir neuerdings aus Papyrusfun- kommene Vielgötterei oft schon selbst
die Obrigkeit. Sicher, es gibt auch die den ägyptische Christen, die häufig suspekt war.
Geschichte, wie Jesus ein Steuergro- gnostischer dachten als Paulus: Sie er-
schen gezeigt wird, und er sagt: „Gebt warteten kein baldiges Weltende, son- So zerstreut die Gemeinden waren:
dem Kaiser, was des Kaisers ist.“ Sie dern stellten ganz die individuelle Erlö- Es entstanden Netzwerke, die sich all-
zeigt, dass er nicht politischer Revolu- sung jetzt und hier in den Mittelpunkt. mählich zur Kirche formierten. War
tionär, sondern mehr sein wollte. Ein Die meisten Christengruppen verbindet, es diese Strukturierung, die dem Chris-
„Reich nicht von dieser Welt“ war dass sie ihren Frieden mit der Obrigkeit tentum zu überleben half?
aber ohnehin schon eminent politisch: durch den Rückzug ins Private machten. Es dauerte recht lange, bis sich ein
Christen lehnten es ab, den Kaiser an- überregionales Zusammengehörigkeits-
zubeten. Knüpften die Apostel an vorhandene gefühl bildete. Schon vor Ort war das
jüdische Glaubenstraditionen an? nicht einfach. Man muss es sich vorstel-
Die Grundlagen des Christentums la- len wie den Übergang von einer locke-
Auf der einen Seite die Päpste – auf der gen im Judentum – die Vorstellung ei- ren Interessengruppe oder Bürgerinitia-
anderen Seite die Kaiser und Könige; das
Zusammenspiel der beiden Machtblöcke, mal
nes Messias, eines Christus, war ohne tive zum Verein: Jemand beginnt die
verbündet, mal verfeindet, prägte die west- das Judentum ja gar nicht denkbar. Akten zu führen, jemand schreibt die
liche Kirchengeschichte über Jahrhunderte. Schon im Judentum wurden gängige wichtigen Briefe und so weiter. Am
SPIEGEL GESCHICHTE 6 /2 0 17 87
Zwischen Glaube und Macht Herrschaftsansprüche
Ende des Römerbriefs zählt Paulus haupten ohne und gegen das Christen- Wurden antike Götter und Christus
in einer langen Liste sein Netzwerk auf. tum. Die Kirche hatte durchgehalten. auch parallel verehrt?
Bischöfe konnte es erst auf einer Die tiefere christliche Durchdringung Der Synkretismus ist Normalfall des
einigermaßen entwickelten Basis geben, des Reiches brauchte dann natürlich Christentums.
mächtige Bischöfe noch später. noch sehr lange.
Der Normalfall? Meinen Sie das ernst?
Entstand die kirchliche Hierarchie Gab es eine Wende, von der an es be- Allerdings, auch später. Als Kirchen-
parallel zum Staat? quemer, klüger und ehrenvoller war, historiker versuche ich doch, frühere
Eher im Konflikt mit ihm. Bischöfe Christ zu werden? Realitäten zu verstehen. Und es gibt
werden mächtig zur Zeit der Christen- Ein Datum ist nicht anzugeben. Die kein Christentum ohne Zeitkontext.
verfolgungen: Ihnen folgt man, sie Bedingungen wandelten sich sehr lang- Immer sucht man in der Bibel nach Hil-
gewähren Schutz – oft können sie das sam; nach und nach wurde es immer fe für die jeweilige Gegenwart, immer
deswegen, weil sie aus vermögenden selbstverständlicher, Christ zu sein. manifestiert sich im Christentum nur
Kreisen kommen. Manche brauchen zur ein Ausschnitt des spirituellen Lebens.
Gemeindeleitung gar nicht anwesend Aber wie traf man seine Entscheidung?
zu sein: Cyprian von Karthago etwa Wir haben ja die berühmten „Be- Hat die Kirche sich der Struktur des
lenkte 250/51 während der Verfolgung kenntnisse“ des Augustinus: Man staunt, Römischen Reiches angepasst?
die Gemeinde von seinem Landgut aus. was dieser hochgebildete Römer aus Sie hat sich parallel zu ihr entwickelt;
Nordafrika alles ausprobiert hat, bis er das kam ihr dann in der sogenannten
Die römische Obrigkeit sah das wohl beim Christentum seine Ruhe findet. Völkerwanderungszeit zugute. Als der
als ferngesteuerten Landesverrat? Selbst unter christlichen Vorzeichen Staat zerfiel, wurden manche Bischöfe
Der Vorwurf lautete fast immer: durchläuft er dann noch mehrere Denk- zu Garanten der Ordnung. Spannend
Leugnung der offiziellen Götter. Chris- stadien. Für Menschen seiner Stellung wird das außerhalb der Reichsgrenzen.
ten waren Widerständler. war die religiöse Haltung also wohl oft Ansgar, der im 9. Jahrhundert als Mis-
etwas sehr Individuelles. sionserzbischof im Norden auftrat und
Im 4. Jahrhundert aber kippte dieses zeitweise in der Hammaburg saß, be-
Urteil. Erst wurde das Christentum Und Ärmere, weniger Gebildete? fand sich ziemlich allein im dünn besie-
anerkannt, dann sogar Staatsreligion. Auf den Landgütern überlagerte und delten Land. Seine Lage war völlig an-
Was war da los? Knickte Rom ein? verdrängte das Christentum nach und ders als die eines Bischofs in Kleinasien
Zumindest merkte das mächtige Kai- nach den Kult der Hausgötter – darauf oder Mittelitalien, wo nach römischem
serreich: Wir können uns nicht mehr be- deuten jedenfalls archäologische Funde. Vorbild jede Stadt ihr Oberhaupt hatte.
88 SPIEGEL GESCHICHTE 6 /2 0 17
Bischöfe wurden zu regionalen Kirchen- mer auch als Widerhaken. Klöster Man könnte die Geschichte des
fürsten vor allem durch die Ausdehnung schützen gerade in Zeiten schwacher Mönchtums als permanente Kritik am
des Christentums über das Imperium Zentralmächte die Kultur – zum Bei- Mönchtum darstellen. Neue Orden ent-
hinaus. spiel im Merowingerreich des 7. Jahr- stehen ja vor allem, weil der Gründer
hunderts. Im Mönchtum – das muss mit den bisherigen unzufrieden ist. Clu-
Wie gingen die bischöflichen Missionare auch ich als evangelischer Theologe ny im 10. Jahrhundert, die Zisterzienser
vor? feststellen – beweist das Christentum im 11. und 12., Franz von Assisi und sein
Sie reisten mit einem Team an – oft immer wieder, wie unabhängig von neuer Bettelorden Anfang des 13. Jahr-
sollen es zwölf Getreue gewesen sein, einer weltlichen Obrigkeit es existieren hunderts: Jedes Mal protestiert man ge-
aber das sind natürlich Konstruktionen kann. gen die Verweltlichung der Kirche.
nach dem biblischen Vorbild der Jünger.
Sie wandten sich dann meist an die füh- Klösterliche Inseln des Glaubens in bar- Auch gegen den Staat?
renden Figuren vor Ort, lokale Fürsten barisch wilder Umwelt?
oder Machthaber. So wird es gern dargestellt. Bene-
dikts Ordensregel zählt erst einmal die
Etliche der mittelalterlichen Missionare schlimmen Zustände der Welt ringsum
kommen aus dem Mönchtum; es sind auf, ja. Aber im Frühmittelalter und
Klosterbrüder im Auftrag der Römi- noch lange später gab es eben weit we-
schen Kirche. Aber war das Mönchtum niger Kontrolle als heute. Wo niemand
nicht als asketische Reformbewegung herrschte, war Anarchie im wahrsten
gegen den allzu hierarchisierten Klerus Sinne des Wortes – als Herrschaftsfrei-
entstanden? heit, nicht unbedingt als Chaos –
Das Mönchtum zeigt sich tatsächlich der Normalfall. Klöster schufen also zivi-
zwischen der engen Bindung von poli- lisatorische Ordnung, ähnlich wie
tischer Macht und Kirchenmacht im- Landgüter. Und als dann später Orden Zu dieser Zeit, um 1200, fanden die
entstanden, schlugen diese Bindungen ersten großen Ketzerverfolgungen statt.
überregionale Brücken. Militärische Gewalt gegen Andersden-
1431 entstand im Rhein-Main-Gebiet kende – maßte sich die Kirche da welt-
der „Papst-Kaiser-Rotulus“, eine insgesamt
6,67 Meter lange Pergamentrolle, auf der
Bis sich schließlich regelrechte Ordens- liche Eingriffsrechte an?
alle Päpste und alle Kaiser und Könige auf- staaten bildeten – eine natürliche Ent- Ketzer zu verfolgen oder nicht ist
gezählt sind (Staatsbibliothek Berlin). wicklung? am Ende eine Machtentscheidung. Aber
SPIEGEL GESCHICHTE 6 /2 0 17 89
Zwischen Glaube und Macht Herrschaftsansprüche
die mittelalterliche Kirche hat sich im geschah aber sicher auch aus Überzeu- Dass auch mit dem Augsburger Reli-
Einzelfall auch große Mühe gegeben gung. gionsfrieden noch keineswegs Ruhe ein-
herauszufinden, ob das Denken des Be- kehrte, zeigt sich dann ja drastisch im
schuldigten wirklich häretisch war – Wann beginnt denn für Sie die Frühe Dreißigjährigen Krieg von 1618 bis 1648,
zum Beispiel im Verfahren gegen den Neuzeit? in dem Protestanten gegen Katholiken
Theologen und Philosophen William Wenn ich es festlegen sollte: im Jahr kämpfen und umgekehrt. War das ein
von Ockham im 14. Jahrhundert. 1555. Religionskrieg – oder doch nicht?
Er war es auch – das ist die knappste
Dennoch: Ketzerverfolgung wurde im- So spät, gegen Ende der Reformations- Antwort. Natürlich wird ein Krieg der
mer systematischer und fand zuneh- zeit, mit dem Augsburger Religions- Großmächte daraus, aber die Frage, wel-
mend auch im staatlichen Interesse frieden? Zählt Luther noch zum Mittel- ches Territorium welcher Konfession an-
statt, bis hin zur Reformation und wei- alter? hängt, geht nie ganz verloren. Die zu-
ter. Woran liegt das? Na ja, 1555 ist natürlich ein Symbol- vor oft zerstrittenen Protestanten finden
Es zeigt den Wandel von mittelalter- datum. Niemand schläft im Mittelalter zusammen gegen den Kaiser und seine
licher zu frühneuzeitlicher Umgangs- ein und wacht in der Neuzeit auf – ge- katholische Allianz; Schwedens König
weise. Im Mittelalter gab es große Frei- meint ist: Schon das späte Mittelalter Gustav Adolf wird in der Publizistik,
räume; Verfolgung fand nur statt, wenn weist eine Fülle von Spannungen auf, aber auch von der Kanzel bisweilen wie
es irgendwie zu Störungen oder Konflik- etwa zwischen innerlicher und äußer- ein Messias gefeiert.
ten gekommen war. Der Stauferkaiser licher Frömmigkeit oder zwischen zen-
Friedrich II. galt selbst zeitweise als Ket- tralen, am Papst orientierten Modellen Welche Konfession steht dem Staat am
zer, hat aber auch in seinem Liber der Kirchenleitung und sehr viel dezen- nächsten?
Augustalis klare Vorschriften zur Ketzer- traleren, oder zwischen Laien und Das lässt sich so glatt nicht beantwor-
verfolgung gegeben. Klerikern. Luther kam aus der inner- ten, sondern sieht von Land zu Land
lichen Frömmigkeit und stärkte die unterschiedlich aus. So zeigt sich in
Was änderte sich dann? laikalen Kräfte ebenso wie die dezentra- Frankreich ein Modell hoher katho-
Wir finden später ein viel höheres len. Erst der Augsburger Religions- lischer Staatsnähe. Hier leiteten die Kar-
Maß an Verdichtung, auch an öffent- frieden hat 1555 daraus die rechtlichen dinäle Richelieu und Mazarin die Staats-
licher Kontrolle. Die Konfessionen und institutionellen Konsequenzen geschäfte. In Spanien ist der Katho-
schließen den eigenen Raum ab und be- gezogen, dass unterschiedliche Kirchen- lizismus bis zu General Franco erschre-
ginnen, Gesinnungen zu kontrollieren. strukturen im Reich nebeneinander ckend staatsnah. In England steht
Das stabilisierte die politische Macht, akzeptiert wurden. spätestens nach den schweren Bürger-
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kriegen die Church of England selbstver- sprechen manche hier sogar von der ten skeptisch blieb oder auf Eigenorga-
ständlich loyal hinter ihrem Oberhaupt, „preußischen Staatsreligion“. nisation drang; ähnlich in den Nieder-
dem König. Im Wilhelminischen Kaiser- landen, die sich um 1600 auch aus zäher
reich zeigt aus preußischem Erbe das Man könnte die Perspektive auch ein- Glaubensgewissheit von Spanien lösten.
Luthertum große Staatsnähe, während mal umdrehen und fragen: Hat es Mo-
man den Katholiken vorwirft, sie seien mente gegeben, wo das Christentum in Trotz solcher weltlichen Erfolge scheint
„ultramontan“, also romtreu und damit bloßes Staatsmachtdenken überging? das Christentum immer einen Über-
insgeheim nationalstaatskritisch. Wir haben da das üble Beispiel der schuss an Utopie zu behalten, der in
Deutschen Christen im Dritten Reich. Macht und Staatlichkeit nie ganz
Wenn wir auf die andere Seite blicken: Dort wurden, so denke ich, um der aufgegangen ist.
Waren die spätmittelalterlichen Mysti- Staatsnähe willen entscheidende Grund- Als Theologe kann ich nur sagen: Das
ker und deren geistige Erben, die Pietis- lagen des Christentums aufgegeben. ist auch gut so. Komplett seinen Frieden
ten und andere Erweckte im 18. und Paulus sagte: Nicht Heide oder Jude – mit dem Diesseits kann ein Christ eigent-
19. Jahrhundert, eher staatskritisch ein- die Botschaft Jesu richtet sich an alle. lich nicht machen. Ohne Widerständig-
gestellt? Das wurde dort verleugnet. keit zum Pragmatismus der Welt, ohne
Zumindest eint ihre Urheber weitge- „Dein Reich komme“ wäre das Christen-
hend der Gedanke des Rückzugs aus Bisweilen hat man sogar versucht, tum nicht, was es sein sollte.
der politischen Arena. Aber Vorsicht: christliche Gottesstaaten zu errichten.
Ausgerechnet der Hallesche Pietismus Savonarolas Regiment in Florenz ist Professor Leppin, wir danken Ihnen
mit seiner erfolgreichen Lehrdisziplin ein berüchtigtes Beispiel. Welches Expe- für dieses Gespräch.
lieferte dann Preußens König Friedrich riment ist am wenigsten gescheitert?
Wilhelm I. am Anfang des 18. Jahrhun- Calvins Verfassung für Genf. Zugege- Das Gespräch führte der Redakteur Johannes
derts viele fähige Militärs und Ideale für ben, sie kann einem brutal gleichmache- Saltzwedel.
die Disziplin- und Leistungssteigerung risch und kontrollsüchtig erscheinen,
seines Beamtenstaates allgemein. Daher aber in ihrer Wirkung ist sie doch unge- Volker Leppin lehrt
heuer erfolgreich. Und sie hat weithin Kirchengeschichte an der
Der deutsche Text auf dem Rotulus ausgestrahlt, nach Frankreich und auf Universität Tübingen. Er
erläutert jeweils Name und Regierungszeit die Auswanderer nach Nordamerika. erforscht vor allem das Mittel-
der Herrscher. In der digitalen Sammlung alter und die Reformationszeit,
der Staatsbibliothek Berlin ist
Bis heute ist die Mentalität dort von ei- 2016 erschien „Die fremde
der Rotulus im Detail zu betrachten ner reformierten Frömmigkeit geprägt, Reformation. Luthers mysti-
(digital.staatsbibliothek-berlin.de). die oft gerade gegen weltliche Obrigkei- sche Wurzeln“ (C.H. Beck).
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K a p i te l
III
Vo n Re fo r m e r n
u n d M i s s i o n a re n
SPIEGEL GESCHICHTE 6 / 2 0 17 93
Von Reformern und Missionaren Glaubenskriege
N
achdem die französischen schlägt, wird er in einer Nachtszene zu- „Glaube“ auch gegen „Ideologie“ oder
„Religionskriege“ ab 1562 sammen mit seinen Anhängern ermordet. einfach „Gesinnung“ austauschen kann.
zwei Jahrzehnte lang eine Pro- Diese haben allerdings kein menschliches Hinzu kommt, dass Glaube und Ver-
vinz nach der anderen ver- Antlitz mehr, sondern zeigen ihr wahres folgung Andersgläubiger seit den Anfän-
wüstet und entvölkert hatten, zog der Gesicht: Sie sind allesamt zu teuflischen gen des Christentums zusammengehör-
aus der Gegend von Bordeaux stammen- Kreaturen mutiert. Im dritten und letzten ten. In dieselbe Kerbe schlugen die Re-
de französische Philosoph Michel de Bild ist dann die Ketzerei ausgerottet und formatoren. Luther hoffte anfangs, dass
Montaigne ein für das Christentum und der Friede im Königreich Frankreich sich seine Lehre als einzig wahre Aus-
die Christen vernichtendes Fazit. „Es ist wiederhergestellt. legung der Bibel von selbst durchsetzen
kein Streit so unerbittlich wie der christ- Das war das offizielle Bild aufseiten würde. Als der Siegeszug ausblieb, war
liche. Wir vollbringen wahre Wunder, aller etablierten Kirchen und Konfessio- er schnell bei der Hand mit Aufrufen,
wenn sich unser Eifer mit unserer Nei- nen: Wer von den Rechtgläubigkeitsre- den Papst und die Kardinäle als Helfers-
gung zum Hass, zur Brutalität, zum Ehr- geln abweicht, ist der Hölle entsprungen helfer des Teufels zu ermorden. Wer in
geiz, zur Habgier, zur Verleumdung und und muss ausgerottet werden, sonst ver- wesentlichen Fragen der Religion ande-
zur Rebellion verquickt.“ Eigentlich – so breitet sich die teuflische Ansteckung wie rer Meinung war, musste von Grund auf
Montaigne weiter – sollte die himmlische eine Epidemie weiter. Zu den Ursachen böse, also eine Ausgeburt der Hölle sein,
Lehre des milden Jesus doch zur Näch- dieses christlichen Haders zog Montaigne gegen die alle, auch die härtesten Zwangs-
sten-, ja sogar zur Feindesliebe erziehen. das herbe Fazit: Wer eine Armee aus auf- maßnahmen gerechtfertigt waren – das
„Stattdessen hegt, pflegt und stärkt die rechten Streitern für den wahren Glau- sahen ab 1530 alle religiösen Kirchenfüh-
Religion die Laster.“ ben oder anderen lauteren Motiven zu- rer und Ideengeber so.
Was war falsch gelaufen? Montaigne sammenstellen wollte, würde nicht ein- Huldrych Zwingli in Zürich rechtfer-
hatte eine bis heute überzeugende Erklä- mal ein Fähnlein, die kleinste militärische tigte die Verfolgung und Ertränkung der
rung parat: Die Botschaft des Evangeli- Einheit, zusammenbringen. Täufer als Staatsverbrecher, weil sie
ums wurde in den Händen der Menschen Mit anderen Worten: Religionskriege durch die Verweigerung von Eid und Mi-
verunreinigt. Religionen – so eine weitere im eigentlichen Wortsinn gibt es gar litärdienst die öffentliche Ordnung unter-
Erkenntnis des Querdenkers – gehören nicht; die Religion ist nur die Oberfläche, gruben.
zur psychischen und kulturellen Grund- in der Tiefe entspringen solche Konflikte Jean Calvin in Genf zwang seine Geg-
ausstattung des Menschen. Je nach Ge- aus Machtgier, Lust an der Grausamkeit ner zu demütigender öffentlicher Abbitte
gend und Landsmannschaft wird man in und Hass in allen Variationen. im Büßerhemd, um sie bei Rückfälligkeit
den einen oder anderen Glauben hinein- Belege dafür gab es in den „Glaubens- mit theologischen Gutachten dem „welt-
geboren; Religion ist also ein wesent- kriegen“ des 16. und 17. Jahrhunderts lichen Arm“, also der staatlichen Ge-
licher Bestandteil individueller und kol- überreichlich – Fürsten und Generäle, die richtsbarkeit und damit dem Schafott zu
lektiver Identität. Damit eignet sie sich je nach Opportunität die Seiten und überantworten.
bestens zur Erzeugung von Feindbildern: manchmal sogar den Glauben wechsel- Besonders grauenhaft vollzog sich
Der Andersgläubige wird zum Monstrum, ten, Dörfer, Nachbarschaften, Familien, 1553 die Verbrennung des spanischen
zum Unmenschen. die sich im Namen der religiösen Wahr- Arztes Miguel Servet, der sich die Ge-
Bis heute empfängt der Papst hohe heit buchstäblich zerfleischten. Die Über- dankenfreiheit genommen hatte, die
Staatsgäste in der Vatikanischen Sala zeugung, im Namen Gottes zu töten, mit christliche Trinität zu leugnen und einen
Regia. Dort hat Giorgio Vasari 1573 ein Bluttaten ein gutes, heilswirksames Werk einzigen, unteilbaren Gott an deren Stel-
Fresken-Triptychon gemalt, das diesen zu verrichten, setzt die niedrigsten In- le zu setzen. Und natürlich loderten auch
Prozess der Entmenschlichung veran- stinkte des Menschen frei – diese Diagno- in Rom, wo 1542 eine neue Zentralinqui-
schaulicht. Im ersten Bild wird der Calvi- se Montaignes gilt bis heute, wobei man sition eingerichtet wurde, die Scheiter-
nistenführer Coligny durch einen Schuss haufen der „Uneinsichtigen“. Seit Mitte
aus heiterem Himmel an der Hand ver- Animation: Der Reformator des 16. Jahrhunderts wurde es also für
wundet; das ist eine letzte Warnung, Martin Luther Europäerinnen und Europäer fast überall
zum wahren, römisch-katholischen Glau- spiegel.de/sg062017luther – Zonen der Duldung wie Polen ausge-
ben überzutreten. Da er sie in den Wind oder in der App DER SPIEGEL nommen – lebensgefährlich, einen von
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In der „Sala Regia“ im Vatikan malte Giorgio Vasari 1572 drei Szenen mit den Ereignissen rund um die Bartholomäusnacht in Frankreich, bei der viele
Tausend Hugenotten umgebracht wurden. Das Gemälde zeigt das Massaker (M.), das vorhergehende Attentat auf den Protestanten Coligny (l.) und das
Zusammentreffen des Parlaments vor dem König nach den Ereignissen (r.). Der Vatikan bekräftigte damit seinen Herrschaftsanspruch.
der jeweiligen Staatsreligion abweichen- vorschreiben ließen, und derjenigen, die vorhanden waren, während Zwingli und
den Glauben zu bekennen. das Verbindende stärker betonten – vor Calvin dieses Sakrament rein symbolisch
Das Zeitalter der streitenden Konfes- allem in Montaignes Frankreich, wo die beziehungsweise spirituell auslegten und
sionen, die sich alle verteufelten, war an- Spaltung der Kirchen und Konfessionen die katholische Kirche mit ihrer Lehre
gebrochen. „Konfession“ heißt eigentlich die politische Einheit des Landes akut der Transsubstantiation eine Verwand-
Bekenntnis, und zu immer präziser kodi- bedrohte. Für diese – bezeichnender- lung der Substanz während der Eucharis-
fizierten Rechtgläubigkeitskatalogen wa- weise „politiques“, Politiker, genannten tie bei unveränderter Form festlegte. Dar-
ren die „Das musst du glauben“-Kate- – „Versöhner“ waren die theologischen über hinaus lehrten die Reformatoren,
chismen der Kirchen bereits angeschwol- Differenzen eher nebensächlich. dass jeder Mensch vor seiner Geburt zu
len. Das Trennende war damit wichtiger Gewiss, Luther lehrte die Realpräsenz, Heil oder Verdammnis vorherbestimmt
geworden als das Gemeinsame. wonach Fleisch und Blut in Brot und sei, während Rom an einer Basisfreiheit
Weiterhin allerdings hielt sich die klei- Wein des Abendmahls auf geheimnisvolle des Willens und der individuellen Ent-
ne Minderheit derjenigen, die sich nichts Weise tatsächlich, doch ohne Wandlung, scheidung festhielt. Aber waren das nicht
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Von Reformern und Missionaren Glaubenskriege
Spitzfindigkeiten, die kaum jemand ver- gleich geschaffen. Nach dem Prinzip reich von 1562 bis 1598, worum es in sol-
stand, und damit unwichtig gegenüber „cuius regio, eius religio“ (frei übersetzt: chen Konflikten wirklich ging: Ganz im
dem gemeinsamen Glauben an Christus? Wer das Land regiert, dessen Konfession Sinne Montaignes verquickte sich die re-
Sechs Jahre nach Montaignes Tod, im gilt) bestimmten die Fürsten der zahlrei- ligiöse Spaltung mit einer Vielzahl welt-
Frühjahr 1598, erließ König Heinrich IV., chen Einzelterritorien die Glaubensrich- licher Handlungsmotive und Antriebe.
der als Calvinist geboren worden war, tung. Wer nicht mitmachte, musste aus- In Böhmen, wo der Krieg 1618 aus-
1572 zwangsweise katholisch wurde, bald wandern. In der Eidgenossenschaft wa- brach, pochte der großteils reformierte
danach zum angestammten reformierten ren katholische und reformierte Kantone Adel auf ein Dekret, das ihm Religions-
Glauben zurückkehrte, um 1593/95 aus zu einem Minimalkonsens verdammt, da freiheit zusicherte, und versuchte so, die
reiner Staatsklugheit wieder das katholi- sie gemeinsame Eroberungen mit rotie- Geschicke des Landes zu bestimmen: ge-
sche Bekenntnis der großen Mehrheit sei- renden Landvögten zu verwalten hatten. gen den habsburgischen König, der reka-
ner Untertanen anzunehmen, in Nantes In beiden Fällen gestaltete sich die tholisieren und die Macht in seinen Hän-
ein Edikt, das die Existenz von zwei Kir- Koexistenz zweier Kirchen und Konfes- den bündeln wollte. Hier verschmolz das
chen und Konfessionen auf französi- sionen in einem politischen Rahmen alles kirchlich-religiöse Motiv also mit unver-
schem Boden tolerierte, und zwar auf andere als störungsfrei. In der Schweiz einbaren Machtansprüchen und politi-
der Grundlage der bürgerlichen Gleich- kam es 1531, 1656 und 1712 zu drei inne- schen Vorstellungen.
berechtigung. Die Hugenotten, wie man ren Kriegen, bei denen die Glaubensfrage Das war letztlich überall so. Wie hoch
die calvinistischen Einwohner Frank- eine ausschlaggebende Rolle spielte; der jeweilige Stellenwert der Konfession
reichs nannte, durften zwar in Paris und selbst der Sonderbundskrieg von 1847 und damit des Glaubens in all diesen
am Hofe nicht organisiert auftreten, dort, zwischen liberalen und konservativen Konflikten im Einzelnen war, ist heute
wo sie Gemeinschaften gebildet hatten, Kantonen war in vieler Hinsicht noch nicht mehr sicher zu ermessen. Das Spek-
aber unbehelligt Gottesdienste abhalten. vom Gegensatz der Kirchen und Konfes- trum reicht von tatsächlichen „Glaubens-
Lange hat dieses Experiment jedoch sionen bestimmt. tätern“ bis zu reinen Zynikern und Op-
nicht funktioniert. Im Oktober 1685 hob In Deutschland zeigte schon das hun- portunisten, wobei die Mehrheit in der
Ludwig XIV. die Bestimmungen seines dertjährige Reformationsjubiläum 1617, Mitte liegen dürfte: Eigeninteresse und
Großvaters auf, woraufhin Hunderttau- wie aufgeheizt das konfessionell-politi- Glauben gingen eine nützliche Union ein
sende der Zwangskonversion durch Aus- sche Klima und wie aufgepeitscht die – die Faustformel bis heute.
wanderung entgingen; wer blieb, war de Emotionen breiter Kreise waren; dass im Am Ende des Dreißigjährigen Krieges
facto rechtlos, und zwar bis kurz vor der Jahr darauf ein Krieg ausbrach, der sich standen Friedensschlüsse, die eine Neu-
Französischen Revolution. mit seinen Fortsetzungen dreißig Jahre auflage eines solchen Flächenbrands ver-
Im Heiligen Römischen Reich Deut- hinziehen sollte, überraschte daher nie- hindern sollten. Und in der Tat: Größere
scher Nation hatte der Augsburger Reli- manden. Dieser Dreißigjährige Krieg „Religionskriege“ hat es danach nicht
gionsfriede von 1555 einen prekären Aus- zeigte wie die „Religionskriege“ in Frank- mehr gegeben. Als König Friedrich II. in
Christentum
1500 bis heute
Europäische Kolonien in
Übersee – Südostasien,
Konfessionen und Amerika, Afrika – tragen zur
Glaubenswandel seit dem Mit seinen 95 Thesen löst Im Augsburger Religions- weltweiten Verbreitung des Mit ihrem „amtlichen“ Text
Anbruch der Neuzeit Martin Luther die Refor- frieden einigen sich die Lan- Christentums bei. wird die King-James-Bibel
mation aus, die zur dauer- desherren auf gegenseitige zum Grundbuch des Eng-
haften Kirchenspaltung in Duldung ihrer konfessionel- lischen – wie zuvor Luthers
Europa führt. len Rechte. Übersetzung fürs Deutsche.
1519 bis 1556 1558 bis 1603 1618 bis 1648 um 1700
Unter dem
Regiment
von Königin
Elisabeth I.
Weltgeschichte erlebt Eng-
1500 bis heute land mit Wil-
liam Shakes-
peare und
Wichtige Rahmenbedingun- Der römisch-deutsche Herr- Francis Bacon eine intellek- Im Dreißigjährigen Krieg Kirchenskepsis und Ver-
gen und politisch-kulturelle scher Karl V. versucht, tuelle Blütezeit. verbinden sich Konfessions- nunft-Vertrauen stehen am
Schlüsselgestalten Habsburgs weltumspannen- gegensätze und macht- Anfang der Aufklärung,
de Macht auch gegen die politisches Kalkül zu einem die bald alle Bereiche des
Reformation zu behaupten. langen Zermürbungskampf. geistigen Lebens erfasst.
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Preußen 1740 Schlesien ohne gültigen geliums in die Welt hinaustrug, konnte Die Versklavung im Namen von Glau-
Rechtsanspruch überfiel, rechtfertigte er nach den Maßstäben der Zeit den An- ben und Zivilisation ließ denn auch nicht
sich mit religiösen Motiven, doch das spruch vertreten, die wahre Kirche zu lange auf sich warten. Die Einwohner der
nahm dem Vertreter der nackten Staats- sein. Auf diesem Gebiet hatte die katho- eroberten Gebiete wurden unter das Joch
räson niemand mehr ab. Um dieselbe lische Kirche uneinholbare Startvorteile: einer unmenschlichen Zwangsarbeit ge-
Zeit kämpften die Vordenker der Aufklä- Die Monarchen Spaniens und Portugals, drückt, vor allem in den großen Silber-
rung wie Voltaire mit allen Mitteln der die den Wettlauf in die ab 1492 neu ent- bergwerken wie Potosí im heutigen Boli-
Publizistik, der Ratio, des Spotts und der deckten Weltteile mit päpstlicher Schieds- vien. Doch dieses System von Zwangs-
Anklage für eine Zurückdrängung der gerichtsbarkeit unter sich ausmachten, katholisierung und Ausbeutung blieb
Religion in die Privatsphäre. waren und blieben „altgläubig“; größere nicht unwidersprochen.
Dieser Prozess ist bis heute nicht völlig Betätigungsfelder boten sich lutherischen Schon Montaigne, der sich nach außen
abgeschlossen, aber unter dem Strich und calvinistischen Missionaren erst im als guter Katholik gerierte, aber nicht
doch erfolgreich: Die Frage, welcher Re- 17. Jahrhundert, als England und die mehr als Christ dachte und fühlte, war
ligion man anhängen soll, ja ob über- Niederlande zu Kolonialmächten in der Meinung, dass die Kultur der neu ent-
haupt einer, ist dank der Aufklärung in Nordamerika und Asien aufstiegen. deckten Völker die menschlichere und
Europa inzwischen weitgehend indivi- Für die spanischen Konquistadoren, freiere sei; außerdem fand er es weniger
duelle Gewissens- und Überzeugungs- die nach Kolumbus Mittel- und Südame- schlimm, im Krieg gefallene Feinde auf-
sache – wahrscheinlich die größte Errun- rika eroberten, war die Missionierung zuessen, als Menschen wegen ihres Glau-
genschaft der europäischen Geschichte. der „Ungläubigen“ die alles entscheiden- bens zu verbrennen.
Der Kampf zwischen den Konfessio- de Rechtfertigung: Völker, die Götzen an- Ebenso radikale Ansichten trug der
nen tobte jahrhundertelang auf allen Ebe- beteten, diesen Menschenopfer darbrach- spanische Dominikanermönch und spä-
nen, auch unter Historikern. Sie sollten ten und Menschenfleisch verzehrten, tere Bischof von Chiapas, Bartolomé de
mit den „richtigen“ Quellen und Schluss- musste man notfalls mit Gewalt bekeh- Las Casas, vor. In jüngeren Jahren hatte
folgerungen beweisen, dass „ihre“ Kirche ren und auch politisch einer heilsamen er selbst vom „encomienda-System“, der
die einzige legitime Nachfolgerin der Ur- Vormundschaft unterwerfen – so die vor- Zwangsarbeit der Unterworfenen, profi-
christen war, während die anderen von herrschende Ideologie. Manche spani- tiert, das er nach seiner Bekehrung wie
dieser Wahrheit abgefallen waren. Dieses schen Gelehrten, wie der berühmte Hu- kein anderer anklagte. Ja, die ganze spa-
Bestreben ist auch 2017 noch in vielen manist Juan Ginés de Sepúlveda, gingen nische Eroberung erschien ihm jetzt ille-
Biografien Luthers und Darstellungen der sogar noch einen Schritt weiter und er- gitim; rechtmäßig wäre sie nur, wenn alle
Reformationszeit zu spüren. klärten die Indianer im Sinne des Aristo- Ureinwohner der spanischen Machtüber-
Heftig um die evangelische Wahrheit teles zu geborenen Sklaven und damit nahme ausnahmslos ihre Zustimmung er-
gerungen wurde seinerzeit auch in der für alle Zeit unfähig zu selbstverantwort- teilten, doch davon konnte angesichts der
Mission. Nur wer die Botschaft des Evan- licher Lebensführung oder gar Regierung. Brutalität der Eroberer keine Rede sein.
1789 1796 bis 1815 1871 1918 bis 1945 seit 1970
Die Französische Revolu- Mit seinen Feldzügen stürzt Zäh und zielstrebig gelingt Die beiden Weltkriege mit Umweltprobleme, schwin-
tion richtet sich nicht nur Napoleon Europa in Aufruhr. es Otto von Bismarck, Preu- vielen Millionen Toten und dende Energiereserven und
gegen Adel und Monarchie, Den Befreiungskriegen folgt ßens König zum Regenten Ermordeten werden zum die zunehmende Digitali-
sie weckt auch Hoffnungen eine Phase der politischen des neuen Deutschen Schock für die Menschheit sierung sind die Heraus-
auf eine Vernunftreligion. Restauration. Kaiserreichs auszurufen. und mahnen zum Frieden. forderungen der Epoche.
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Von Reformern und Missionaren Glaubenskriege
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Dokument
L ange hatte sich Desiderius Erasmus von Rotterdam, Luther antwortete dem auf Vermittlung zielenden Ge-
der berühmte humanistische Gelehrte, gegen Mar- lehrten denkbar hart. Seine Schrift „De servo arbitrio“
tin Luther zurückgehalten. Doch 1524, sieben Jahre („Über den unfreien Willen“), Ende 1525 veröffentlicht,
nach den ersten aufsehenerregenden Thesen des ehe- dreht den Titel des Erasmus ins Gegenteil. Kompromisslos
maligen Mönchs aus Wittenberg, stellte er den Refor- stellt Luther die reformatorische Lehre klar, dass der sün-
mator zur Rede. In einer langen, mit Bibelzitaten ge- dige Mensch Gottes Gnade wie auch seinen Ratschluss
pfefferten Abhandlung „Über den freien Willen“ verfocht auf keine Weise beeinflussen könne – Gottes Gerechtig-
er die Wahlfreiheit des Men- keit stehe nun einmal unbe-
schen – was sollten die Mah- greiflich höher.
nungen der Heiligen Schrift, „Darum muss man bis zum
wenn ohnehin alles vorherbe- Äußersten gehen, sodass der
stimmt sei? ganze freie Wille bestritten und
„Worauf beziehen sich die alles auf Gott zurückgeführt
zahlreichen Lobpreisungen der wird. Dann werden die Schrift-
Heiligen … wenn unser Eifer aussagen einander nicht wider-
nicht verdienstlich ist? Was soll streiten, und die Unannehmlich-
der überall gelobte Gehorsam, keiten, wenn sie nicht aufgeho-
wenn wir für Gott zu den guten ben werden, werden zu tragen
und in gleicher Weise zu den sein …
bösen Werken nur ein solches Nimm mir dreierlei Licht an,
Werkzeug sind, wie die Axt für das Licht der Natur, das Licht
den Zimmermann? Aber ein sol- der Gnade und das Licht der
ches Werkzeug sind wir alle, Herrlichkeit, wie es eine ver-
wenn … wahr ist, dass alles so- breitete und gute Unterschei-
wohl vor als auch nach Emp- dung tut. Im Licht der Natur ist
fang der Gnade, Gutes in glei- es unlösbar, dass das gerecht
cher Weise wie Böses, und auch ist, dass der Gute heimgesucht
was dazwischenliegt, aus reiner wird und dass es dem Bösen
Notwendigkeit geschieht, eine wohlgeht. Doch dies löst das
Meinung, die Luther billigt … Licht der Gnade. Im Licht der
Diejenigen übrigens, die leug- Gnade ist es unlösbar, wie Gott
nen, dass es überhaupt einen den verdammen kann, der aus
freien Willen gebe, sondern be- seinen eigenen Kräften nichts
haupten, alles geschehe aus ab- anderes tun kann, als sündigen
Luthers Schrift „Über den unfreien Willen“
soluter Notwendigkeit, beken- erschien 1525 als Antwort an Erasmus. und schuldig werden. Hier sa-
nen, dass Gott in allen nicht nur gen sowohl das Licht der Natur
die guten Werke wirke, sondern auch die bösen, woraus zu wie das Licht der Gnade, dass die Schuld nicht des armen
folgen scheint, dass, wie der Mensch in keiner Hinsicht der Menschen, sondern des ungerechten Gottes sei. Denn sie
Urheber guter Werke genannt werden kann, er auch in keiner können nicht anders über Gott urteilen, der den gottlosen
Weise Urheber der bösen genannt werden kann. … Menschen umsonst ohne Verdienste krönt und einen ande-
Nachdem sie den freien Willen abgetan haben, lehren ren nicht krönt, sondern verdammt, der vielleicht weniger
sie, dass der Mensch dann vom Geist Christi getrieben oder wenigstens nicht mehr gottlos ist. Aber das Licht der
werde, dessen Natur keine Gemeinschaft mit der Sünde Herrlichkeit redet anders und wird alsdann zeigen, dass
duldet. Und doch sagen dieselben Leute, dass der Mensch Gott, dessen Gericht bisher eine unbegreifliche Gerechtig-
auch nach Empfang der Gnade nichts anderes tue als zu keit innewohnt, die gerechteste und offenkundigste Gerech-
sündigen.“ tigkeit zugehört.“ Johannes Saltzwedel
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Von Reformern und Missionaren Christliche Mystik
In den Wirren nach der Reformation fand Teresa von Ávila eine neue Innerlichkeit des
Glaubens. Die Spiritualität ihres Reformordens entwickelte eine enorme Anziehungskraft.
D
ie Nonnen erreichten ihr Ziel und Almosen gegründet. Teresa düpierte kurz zuvor sogar der Erzbischof von
mitten in der Nacht – und das mit ihren Plänen aber auch alle, deren Toledo unter dem Verdacht des Luthera-
auch noch, als man gerade die unverheiratete Töchter zwar als Nonnen nismus verhaftet worden war.
Stiere für die Corrida des näch- lebten, aber aufgrund großzügiger Zu- Es gehörte zu den vielen Talenten der
sten Tages durch die Straßen trieb. wendungen ihrer Familien auf keine kleinen und unwürdigen Frau, als die sich
Jemand erzählte später: Die Gruppe, Annehmlichkeit, noch nicht einmal auf Teresa zeitlebens stilisierte, sich mit den
die sich um eine Uhrzeit durch Medina den Besuch von Verehrern, verzichten richtigen Fürsprechern zu umgeben. Immer
del Campo bewegte, zu der sonst keine mussten. wieder machten diese ihr Mut, ihren Weg
ehrbaren Leute mehr auf der Straße an- So wie Teresa selbst bisher. niederzuschreiben, damit ihr
zutreffen waren, wirkte so, als habe sie Zwar hatte sie lange Jahre ver- „Da ich stilles Gebet und ihr Rückzug
gerade eine Kirche ausgeraubt. sucht, Gott näherzukommen. nach innen für sie selbst und
Nachdem sie das Haus erreicht hatten, Immer wieder hatte sie Bü-
unfähig bin, andere nachvollziehbar werde.
das ihnen fortan als Kloster dienen sollte, cher mit spirituellen Übungen Gott so zu die- Besonders eindrücklich ge-
begannen sie, es notdürftig für den ersten angefangen, doch immer wie- nen, wie ich lang ihr das mit dem Bild der
Gottesdienst herzurichten. Als sie im der hatte sie diese beiseite- „Inneren Burg“, das sie für ihre
Morgengrauen die Glocke läuteten und gelegt, weil es ihr nicht gelin-
es gern täte, Nonnen entwarf. Diese Burg
die überraschten Nachbarn herbeiström- gen wollte, sich von den welt- beschloss ich, war die eigene Seele, eine Re-
ten, wurde erst klar, was die Dunkelheit lichen Ablenkungen um sie das Wenige gion „ganz aus Diamant oder
bisher verborgen hatte: Das Gebäude, herum zu lösen. Nicht einmal sehr klarem Kristall“, ein pa-
das eine Dame ihnen überlassen hatte, eine schwere Krankheit, die
zu tun, was radiesischer Ort. Hier, so Tere-
war wenig mehr als eine Ruine. sie jahrelang ans Bett gefesselt ich konnte.“ sa, konnte der Mensch begrei-
Es sollte noch viele solcher Momente hatte – einmal wäre sie fast le- fen, dass Gott ihn nach seinem
geben, in denen Teresa de Ahumada y bendig begraben worden –, hatte daran Vorbild geschaffen hatte. Hier war die
Cepeda oder Teresa de Jesús, wie sie sich etwas geändert. mystische Union mit dem Schöpfer mög-
nun nannte, an den Umständen ihrer Mis- Dann aber, sie war schon über vier- lich. „Was wir sonst nur dem Glauben zu-
sion fast verzweifelte. Mitten in der Zeit zig, erlebte sie mystische Visionen, die schreiben“, so Teresa, könne die Seele in
der Reformation gründete sie in Spanien ihren Glauben neu entfachten. Anfangs dieser geistlichen Burg „durch eigene An-
kleine Klöster, in denen sich die Nonnen waren es bedrohliche Erscheinungen schauung verstehen“.
wieder auf die ursprünglichen Regeln eines strafenden Gottes: Teresa sah den Ins Zentrum dieser Festung gelangte
der Karmeliter verpflichteten. Gebet, Platz, der ihr in der Hölle zugedacht war. nur, wer viele Zimmer mit immer neuen
Buße und strenge Observanz sollten ihre Als sie mit aller Kraft ihre spirituellen Prüfungen und Entsagungen durchschritt.
Waffen sein im Kampf für den rechten Übungen wieder aufnahm, erschreckte Es war eine Gnade, all das erleben zu dür-
Glauben. Etwas anderes war ihnen als es sie kaum weniger, plötzlich Gottes fen, aber der Erfolg brachte auch die Ver-
Frauen verwehrt. Und schon dies ging wohlwollende Stimme in ihrem Inneren pflichtung zum Handeln mit sich: „Diese
vielen zu weit. zu hören. Was, wenn es der Teufel war, geistige Vermählung dient nur dazu, dass
Noch etliche Male würde Teresa mit- der sie in Versuchung führen wollte? aus ihr stets Werke entstehen, Werke.“
ten in der Nacht ihre neue Unterkunft Die Antwort konnten ihr nur Männer Allmählich begriff Teresa, was ihr ei-
beziehen, um Protesten zuvorzukom- geben. Nur sie verfügten über die nötige genes Werk in der Welt werden sollte.
men. Denn schon die Gründung des ers- Bildung, um Teresas Visionen bewerten Die blutigen Glaubenskriege, in denen
ten Klosters in Ávila im Jahr 1562 hatte und verteidigen zu können. Sich diesen Frankreich gerade versank, bereiteten ihr
erbitterten Widerstand hervorgerufen. Geistlichen anzuvertrauen verlangte großen Kummer: „Mir schien, ich würde
Den Oberen bereitete Sorge, dass es einiges an Entschlusskraft. Denn damals tausend Leben geben, um nur eine Seele
ohne jeglichen finanziellen Rückhalt war der Grat zwischen katholischer der vielen zu retten, die dort ins Verder-
bestehen sollte, allein auf Gottes Hilfe Orthodoxie und Häresie so schmal, dass ben stürzten. Und da ich eine unwürdige
Dem Großreich China näherten sich westliche Missionare nicht mit Gewalt,
sondern mit Kultur und Wissenschaft. Ein Jesuit aus Köln brachte es auf diese Weise
sogar zum Berater des Kaisers.
Giftige Schlange,
schwaches Licht
A
nfang September des Jahres noch im Dreißigjährigen Krieg aufrieben, Mathematik, Logik, sogar Astronomie
1632 zog im Norden Chinas, in taumelte im Reich der Mitte seit 1627 die und natürlich Theologie am deutschen
Peking, der deutsche Missio- Ming-Dynastie unter einem schwachen, Jesuitenkolleg in Rom studiert. Er sprach
nar Johann Adam Schall von jungen Kaiser dem Untergang entgegen. Latein wie Deutsch; in seiner Freizeit
Bell seinen Priestermantel aus und stieg Der ehemals von Peking aus straff orga- kümmerte sich der Novize um Arme,
in ein paar Lumpen. Er schwärzte Ge- nisierte Hof- und Beamtenapparat verfiel Kranke und Gefangene.
sicht und Arme mit Ofenruß, warf sich unter der Herrschaft korrupter Eunuchen China oder Lateinamerika, damals
einen Kohlensack über die Schulter und und Offiziere. Hauptziele christlicher Mission, konnten
machte sich auf den Weg zum Kerker Seuchen und Missernten schwächten einem wissbegierigen Studenten so un-
der Stadt, wo zwei chinesische Christen die Bevölkerung, mandschurische Stäm- erreichbar wie faszinierend erscheinen.
auf die Vollstreckung ihrer Todesurteile me und Piraten bedrohten die Sicherheit Der päpstliche Auftrag, ein Volk von da-
warteten. des Landes. Bauern und Handwerker re- mals geschätzt 200 Millionen aus christ-
Der Pater wollte den Gefangenen die bellierten gegen unaufhörlich steigende licher Sicht ungläubigen Chinesen mit
Sterbesakramente bringen, was streng Steuern, es kam zu frühkolonialistischen der eigenen, für allein wahr erkannten
verboten war. Am Tor zum Gefängnis Auseinandersetzungen zwischen den Religion zu erleuchten, verlieh dem Fern-
murmelte er etwas von „Kohlen“ und Niederlanden und Portugal. weh einen Heiligenschein.
„Kommandant“, die Wächter ließen ihn Kaum vorstellbar, dass in derart unsi- „Guter Jesus“ hieß das Schiff mit vier
passieren, und der vermeintliche Kohlen- cheren Zeiten ein Grüppchen Jesuiten Decks, das 1618 von Lissabon aus Rich-
händler gelangte in die lichtlose Zelle zu unbeirrbar daran arbeitete, möglichst vie- tung Orient in See stach. An Bord waren
seinen Glaubensbrüdern. Anderthalb le Chinesen katholisch zu taufen. 22 für China bestimmte Glaubensbot-
Tage beteten sie mit ihrem Beichtvater, Welchen Einfluss die Missionare in schafter, zu denen noch nicht vorgedrun-
in Gesellschaft von Ungeziefer und Rat- China zeitweise ausübten und auf wel- gen war, dass der amtierende Kaiser ein
ten, dann verließ er die Todgeweihten. che Widerstände sie stießen, zeigt das Jahr zuvor befohlen hatte, katholische
Die Sträflinge wurden enthauptet. filmreife Leben und Wirken des Pater Missionare aus dem Land zu verbannen.
Tollkühn war es, was der deutsche Pa- Schall, der als Sohn des rheinischen Fast vier Jahre saßen sie am portugiesi-
ter da wagte – inmitten einer chaotischen Adelsgeschlechts von Schall zu Bell 1592 schen Stützpunkt Macau fest. Als die
Welt. Die politische und wirtschaftliche zur Welt gekommen und in Köln aufge- christenfeindliche Stimmung allmählich
Lage in China war um die Mitte des wachsen war. abflaute, erreichte Bruder Schall mit ei-
17. Jahrhunderts instabil. Während sich Als 15-Jähriger hatte der junge Adlige nigen Getreuen 1623 fast fünf Jahre nach
Protestanten und Katholiken in Europa beschlossen, Priester zu werden, hatte seiner Abreise die Hauptstadt Peking.
Die Pietisten stellten erstmals das freie Individuum in den Mittelpunkt des Glaubens.
Gegen orthodoxe Prinzipienreiterei setzten sie das religiöse Gefühl des Einzelnen. Damit
wurden sie zur wichtigsten protestantischen Reformbewegung.
S
ehr christlich ging es nicht zu Doch auch mit der lutherischen Amts- Als Pfarrer im Halleschen Vorort Glau-
in Deutschland nach dem Drei- kirche geriet er aneinander. Spener be- chau sah Francke das Elend vieler Kinder
ßigjährigen Krieg. Viele Män- klagte seit 1675 in seinem grundlegenden und Jugendlicher, die ihre Eltern verloren
ner hatten ihren Lebensunter- Werk „Pia Desideria“ (Fromme Wün- hatten und obdachlos geworden waren.
halt über Jahre in Söldnertruppen und sche) das „Elend der christlichen Kir- Viele von ihnen empfand der Theologe
Räuberbanden verdient und waren ver- chen“. Viele lutherische Geistliche seien als „rohe, wüst und wilde“ und als „frech
roht. Bildungsferne Rabauken waren vie- der „Fleischeslust, Augenlust und hof- in allen Lüsten“, wie er es in Schriften
lerorts zahlreicher als bibelfeste Kirch- färtigem Leben“ verfallen. Dies sei ver- formulierte. Oft sprach er über die Sün-
gänger. hängnisvoll in der gegenwärtigen Lage, digkeit des natürlichen Menschen. Fran-
Dem Protestantismus war vom ur- in welcher man die wahre Kirche nicht cke nahm sich vor, die geistige und sitt-
sprünglichen Schwung zur Erneuerung mehr erkenne, sie zudem bedroht sei liche Not zu bekämpfen. Er setzte auf
der Gesellschaft kaum noch etwas anzu- durch die katholische Irrlehre und die Erziehung durch den Geist Gottes, wie
merken. Die orthodoxen Lutheraner hat- „schwere türkische Tyrannei“ in den vom er ihn verstand, in Abkehr von weltlichen
ten sich zunehmend unter der Fürsten- Osmanischen Reich besetzten Gebieten Genüssen und dem „bösen Samen des
macht eingerichtet. Südosteuropas. menschlichen Herzens“.
Zudem habe die „traumatische Erfah- Der Amtskirche mit ihren Gebrechen Seit 1695 begann er, elternlose Kinder
rung des Dreißigjährigen Krieges“, so die setzte Spener ganz lutherisch-orthodox zu unterrichten. 1698 legte er in Halle
Historikerin Barbara Hoffmann, „ein Be- die Heilige Schrift entgegen. Daraus den Grundstein für ein neues Waisen-
dürfnis nach Reinigung und Vergewisse- schöpfte er die „Hoffnung auf einen bes- haus. Mithilfe großzügiger Spender er-
rung“ geweckt. In dieser Lage trat im seren Zustand der Kirche hier auf Erden“. richteten Francke-Freunde innerhalb von
Protestantismus eine innerkirchliche Re- Spener erinnerte an die Urchristen und drei Jahrzehnten Schul- und Wohnein-
formbewegung auf: die Pietisten. Sie rief dazu auf, „das Werk der Heiligung richtungen, Werkstätten und Gärten. So
wandten sich ab von den lutherischen in uns zu verrichten“. Mit dem „allge- entstanden die bis heute existierenden
Kirchen und propagierten eine indivi- meinen Priestertum aller Gläubigen“ Franckeschen Stiftungen in Halle.
dualisierte, mehr vom Gefühl als vom wollte er die Mitarbeit von Laien in der
Verstand geprägte Frömmigkeit. Ihnen Kirche fördern, setzte auf die fromme Seine Zöglinge unterwarf Francke ei-
ging es darum, die Herzen der Gläubigen Tat und die Praxis des Glaubens. Predig- nem strengen Reglement. Sie mussten im
zu berühren. Nicht mehr äußere Normen ten sollten vor allem der inneren Erbau- Sommer um fünf Uhr, im Winter um
sollten die religiöse Praxis leiten; jeder ung der Menschen dienen. Vage stellte sechs aufstehen und hatten täglich sieben
Einzelne sollte christliche Tugenden Spener seinen Lesern und Zuhörern eine Stunden Unterricht. Freizeit gab es kaum.
wie Selbstbeherrschung, Mäßigung und Wiedergeburt als neue christliche Exis- Francke ging es darum, „den Willen un-
Geduld aus dem Glauben heraus ent- tenz in der Ordnung Gottes in Aussicht. ter den Gehorsam zu bringen“. Wer sich
wickeln. Bei vielen Lutheranern traf Spener da- widersetzte, bekam, wie es damals üblich
Führender Kopf war der Elsässer Phi- mit einen Nerv. An ganz unterschied- war, auch körperliche Gewalt zu spüren;
lipp Jakob Spener, geboren 1635. Mit lichen Orten fand der Erneuerer Gleich- eingeschränkt jedoch durch Franckes
28 Jahren war er Prediger am Straßbur- gesinnte und Schüler. Der bekannteste Mahnung, man solle in der Disziplin Maß
ger Münster, mit 31 bereits Senior der lu- von ihnen war der Theologe und Päda- halten und die Knaben nicht „braun und
therischen Pfarrerschaft in Frankfurt am goge August Hermann Francke, rund drei blau schlagen“.
Main und mit 51 kursächsischer Oberhof- Jahrzehnte jünger als Spener. Er griff Spe- Verboten war den Jugendlichen „das
prediger in Dresden am Hofe Johann Ge- ners Ideen auf und verband die geistliche weltübliche Tanzen“, das „Toback-Rau-
orgs III. Als sich der asketische Theologe Reform mit höchst praktischem Wirken chen“ und selbst der Besuch von „Komö-
mit dem genussfreudig barocken Fürsten in der Welt: Streben nach sozialer Ver-
überwarf, zog er 1691 nach Berlin und antwortung dank innerem Erleben des August Hermann Francke verbreitete den Pietismus
wurde Propst und Konsistorialrat an der Glaubens – so lässt sich Franckes pietis- in den von ihm gegründeten Waisenhäusern (Gemälde
Nikolaikirche. tische Überzeugung zusammenfassen. von Antoine Pesne, um 1725).
nicht selten: Unliebsame Zeitgenossen sittenstreng und tugendhaft. Doch es gab Die Sektierer erklärten Appenfeller
wurden schnell zu Werkzeugen des Bösen unter den religiös entflammten jungen zu „Christus“ und Eva von Buttlar zur
gestempelt. Auch die Juden sah Petersen Damen auch einige, die Abkehr von äu- Verlobten des Heiligen Geistes. Es ging
dem Zeitgeist entsprechend negativ. Sie ßeren Normen auf radikale Weise ernst in der Truppe nicht nur theologisch frei-
akzeptierte sie nicht als Anhänger einer nahmen. zügig zu. 1705 kam es nach der Verhaf-
eigenständigen Religion, sondern als Ver- Die bekannteste von ihnen war Eva tung mehrerer Gruppenmitglieder zu
irrte, die es zu missionieren galt. Die Margareta von Buttlar, um 1670 im mittel- einem Gerichtsverfahren. Die Anklage
„künfftige Bekehrung der Juden und Hey- deutschen Barchfeld geboren. Sie verließ lautete auf Unzucht, Blasphemie, Abtrei-
den“ sah sie als wichtiges Ziel. Dies habe ihren Ehemann und gab ihre Stellung als bung und zweifachen Säuglingsmord.
ihr „der treue Gott im Jahre 1664 ver- Hoffräulein in Eisenach auf, um sich Eva von Buttlar wurde beschuldigt, sie
mittels eines Traumes eröffnet“. radikalen Pietisten anzuschließen. Mit habe einen „Bund mit dem Teufel“ ge-
Überhaupt spielten geradezu mysti- 32 Jahren gründete sie mit Studenten in schlossen und im „Ehebruch mit mehr
sche Erfahrungen in der verinnerlichten Allendorf nordwestlich von Marburg die als 60 Personen gelebt“.
Religionspraxis eine große Rolle. Johan- „Christliche und Philadelphische Sozie- Einstimmen konnte sich das Gericht
na Eleonora Petersen behauptete, sie tät“, die bald 70 Mitglieder zählte. Sie durch die Schilderung einer Reise des
habe schon im 18. Lebensjahr im Traum waren davon überzeugt, dass das Tau- Landgrafen von Hessen-Darmstadt zu den
die Stimme eines Mannes sagen hören: sendjährige Reich der biblischen Apoka- Sektierern. Darin wird Buttlar als „ziem-
„Siehe, zu der Zeit werden anfangen gro- lypse bald anbrechen werde. lich lässig, frech und geil“ beschrieben –
ße Dinge zu geschehen und Dir soll etwas zumindest nicht so unterwürfig, wie man
eröffnet werden.“ Später beschäftigte Als der hessische Landgraf ihre Ver- sich Frauen wünschte. Ein Zeuge der An-
sie sich intensiv – wie auch andere Glau- sammlungen verbot, zog die Truppe auf klage behauptete sogar, die angebliche
bensschwestern – mit den Endzeitvisio- einen Hof in der Grafschaft Wittgenstein Verlobte des Heiligen Geistes habe „ihme
nen. Sie sprach vom „tausendjährigen in Saßmannshausen. Zu den Führern der seine Schamm ergriffen, undt selbst damitt
Reich in der heiligen Offenbarung Jesu Buttlar-Sekte gehörten auch der Medizin- handthieret“, ohne dass er dadurch „von
Christi“. student Justus Georg Appenfeller und der fleischlichen lust befreyet“ worden sei.
Trotz Apokalypse und Mystik: Die der Theologiestudent Johann Gottfried Buttlar selbst räumte nur eine Bezie-
meisten Pietistinnen waren wie Petersen Winter. hung ein und sagte, sie sei „mit dem Win-
Nach der Aufklärung glaubten viele Gebildete mehr an die Vernunft als an Gott.
Der Berliner Theologe Friedrich Schleiermacher versuchte, Religion und Rationalität
zu versöhnen. Damit schuf er die Grundlagen des modernen Protestantismus.
„Nicht der hat Religion, der an eine hunderts nicht nur in die zwei Konfessio- Kants, des großen Denkers der Spätauf-
heilige Schrift glaubt, sondern der, nen der Lutheraner und der Reformier- klärung. Schleiermacher geriet in eine
welcher keiner bedarf und wohl selbst ten, sondern wies auch innerhalb der bei- Glaubenskrise; an seinen Vater schrieb
eine machen könnte.“ den großen Blöcke verschiedene Richtun- er zweifelnd: „Gott kann die Menschen,
gen auf. die er offenbar nicht zur Vollkommen-
Friedrich Schleiermacher („Über die Religion. Reden Neben den Orthodoxen, die an der al- heit, sondern nur zum Streben nach der-
an die Gebildeten unter ihren Verächtern“, 1799)
ten Ordnung und der überlieferten Dog- selben geschaffen hat, unmöglich darum
matik festhielten, gab es die Pietisten, ewig strafen wollen, weil sie nicht voll-
I
n Johann Wolfgang von Goethes die den Kern des Glaubens nicht in Lehr- kommen geworden sind.“
Tragödie „Faust“ will Gretchen sätzen, sondern in der individuellen Er- Seinen Glauben verlor er dennoch
von ihrem Liebhaber wissen: weckung sahen (siehe Seite 106). Dane- nicht. Nach dem Studium und einigen
„Nun sag, wie hast du’s mit der ben standen die Anhänger des theolo- Jahren als Hauslehrer wurde er mit 28
Religion? Du bist ein herzlich guter gischen Rationalismus, die versuchten, Jahren Prediger am Berliner Kranken-
Mann, allein ich glaub, du hältst nicht die Vernunft der Aufklärung mit der bi- haus Charité. In der Metropole öffnete
viel davon.“ Es ist die berühmte Gret- blischen Offenbarung zu vereinen. sich ihm eine völlig neue Welt: Im be-
chenfrage. Den Protestantismus mit der Moderne rühmten Salon der Jüdin Henriette Herz
Der schon ältere Gelehrte Heinrich zu versöhnen wurde zur Lebensaufgabe lernte er Adlige, Intellektuelle und Schön-
Faust weicht einer klaren Antwort aus: des Berliner Theologen Friedrich Daniel geister kennen; er freundete sich mit dem
„Nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott! Ich Ernst Schleiermacher. Er setzte alles da- Kritiker Friedrich Schlegel an, traf die
habe keinen Namen dafür. Gefühl ist al- ran, das evangelische Christentum mit Brüder Wilhelm und Alexander von
les, Name Schall und Rauch.“ Vernunft und Humanität zu verbinden, Humboldt – der eine Staatsmann, der an-
Die Mehrheit des deutschen Bürger- ohne das innerliche Erlebnis des Glau- dere Naturforscher –, er begegnete den
tums am Ende des 18. Jahrhunderts – der bens preiszugeben. Schleiermacher, der Dichtern Ludwig Tieck und Jean Paul.
erste Teil von Goethes „Faust“ erschien „Kirchenvater des 19. Jahrhunderts“, gilt Friedrich Schlegel, der zeitweise mit
als Fragment 1790 – hätte wohl ähnlich vielen bis heute als wichtigster protes- Schleiermacher zusammenwohnte, urteil-
antworten können. Unter den Gebildeten tantischer Theologe nach Martin Luther. te respektvoll: „Schleiermacher ist ein
verloren Kirche und Religion ihre Über- Mensch, in dem der Mensch gebildet ist,
zeugungskraft; im Sog der Aufklärung Seine ersten religiösen Erfahrungen wa- und darum gehört er freilich für mich in
des 18. Jahrhunderts glaubte man weit ren die schlichter Frömmigkeit. Geboren eine höhere Kaste.“ Und: „Sein ganzes
eher an die Kraft der reinen Vernunft. 1768 in Breslau, schickte ihn der Vater, Wesen ist moralisch.“
Der sonntägliche Kirchgang galt nicht ein Militärgeistlicher, mit 14 Jahren zur Nach der Abkehr von der pietisti-
mehr als Pflicht, die Sorge um das See- pietistischen Herrnhuter Brüdergemeine, schen Frömmigkeit seiner Jugend hatte
lenheil begann sich von den Dogmen der um den Jungen gegen moderne theolo- Schleiermacher nach dem Vorbild Kants
Kirche zu lösen. Der Theologe Karl Gott- gische Versuchungen zu immunisieren. die Religion fast nur noch auf Moralleh-
lieb Bretschneider, seit 1816 General- Doch schon nach ein paar Jahren spürte ren reduziert. Doch nun, unter dem Ein-
superintendent in Gotha und keineswegs Schleiermacher die Widersprüche zwi- fluss seines schwärmerisch-romantischen
ein Vernunftgegner, klagte „über die Un- schen pietistisch strenger Lebensführung Bekanntenkreises in Berlin, erschloss er
kirchlichkeit dieser Zeit im protestan- und jugendlichem Freiheitsdrang, zwi- sich ein neues Verständnis der Religion
tischen Deutschland“. schen christlichem Dogma und kri- jenseits sowohl der theologischen Dog-
Wie der Katholizismus reagierte auch tischem Denken. matik als auch der rationalen Wissen-
der Protestantismus auf die Anforderun- Er begann, an der Universität Halle schaft.
gen der modernen Zeit mit dem Versuch, Theologie zu studieren, beschäftigte sich 1798 begann Schleiermacher an einem
sich zu erneuern. Die protestantische dort aber auch intensiv mit Philosophie, Manuskript zu arbeiten, das im Sommer
Glaubenswelt zerfiel Anfang des 19. Jahr- vor allem mit den Schriften Immanuel darauf erstmals erscheinen sollte, ihn be-
len, darunter Spaziergänge in trauter Zwei- versität bis zu seinem Lebensende einen Gottesfurcht und kritisches Denken,
samkeit, gaben Anlass zu delikaten Ge- Lehrstuhl für Theologie innehaben sollte. religiöser Glaube und aufklärerische
rüchten. Henriette Herz vermerkte in ih- 1809 heiratete er, inzwischen 40 Jahre alt, Vernunft waren bei Schleiermacher
ren Erinnerungen: „Es fehlte auch nicht die 20 Jahre jüngere Henriette von Wil- keine Gegensätze mehr. In seinen
an Leuten, welche, die Innigkeit unseres lich, die Frau eines früh verstorbenen Schriften legte er die Grundlagen
Verhältnisses kennend, ein anderes Gefühl Freundes. Henriette brachte aus ihrer für einen liberalen Protestantismus
als das der Freundschaft in uns voraussetz- ersten Ehe zwei Kinder mit; Schleier- und ermöglicht so den bürgerlichen
ten. Sie waren im Irrtum.“ Die Beziehung macher und sie bekamen noch vier eige- Schichten, „Wissenschaft und Philo-
sollte bis zu Schleiermachers Tod halten. ne. Nach außen präsentierten die beiden sophie guten Gewissens mit dem evan-
Daneben war Schleiermacher von ein harmonisches Familienglück. Intern gelischen Glauben zu vereinbaren“,
1798 an sieben Jahre gefangen in tiefer, kriselte es jedoch schnell und schwer. wie der Historiker Thomas Nipperdey
aber unerfüllter Liebe zu Eleonore Gru- Schleiermachers Produktivität jedoch schrieb.
now, der Frau eines ebenfalls protestan- litt unter den privaten Miseren nicht. An Am 12. Februar 1834 starb Friedrich
tischen Predigers. In einem Brief an der Berliner Universität wurde er zu Schleiermacher, 65 Jahre alt, in Berlin
einen Freund schrieb er: „Ich weiß nicht, einer bedeutenden Größe, im deutsch- im Kreis seiner Familie an einer Lungen-
ob sich irgendjemand meinen Zustand sprachigen Raum als einer der wichtigs- entzündung. Dem Leichenzug zum Fried-
denken kann; es ist das tiefste ungeheu- ten Intellektuellen der Zeit wahrgenom- hof der Dreifaltigkeitsgemeinde schlos-
erste Unglück – der Schmerz wird mich men. Neben der Theologie dozierte er sen sich etwa 30 000 Menschen an. Ein
nicht verlassen.“ auch über Philosophie, Staatslehre, Her- Augenzeuge notierte: „Vielleicht sah Ber-
Im Jahr 1804 wurde Schleiermacher meneutik und Pädagogik. Jahre verwen- lin nie solches Trauerbegräbnis. Der Zug
Professor für Theologie und Philosophie dete er an die Übersetzung der Werke ging endlos durch die Straßen. Es war
in Halle. 1807 kehrte er nach Berlin zu- Platons – es ist bis heute die wichtigste eine Anerkennung des Geistes, wie sie
rück, wo er an der neu gegründeten Uni- deutschsprachige Übertragung. selten gesehen wird.“
Stille Nacht
Anfang Dezember 1805 begann Friedrich und auch nicht gebetet. Weihnachten ist Kind nur lächeln und jauchzen.“ Für den
Schleiermacher, seine Schrift „Die Weih- zu einem Fest der Geschenke geworden; Glauben bedeute das: „Dass ich das
nachtsfeier. Ein Gespräch“ zu verfassen. gereicht werden „niedliches Kinderzeug“, Schöne der Religiosität ehre und liebe;
Eigentlich wollte der Theologe das dünne „Reisegerät“, „Schulbücher“, Noten und aber sie muss ein Innerliches sein und
Bändchen am 24. Dezember auf dem Ga- Stickereien. Selbst gebastelte Geschenke bleiben.“
bentisch sehen, doch am Heiligen Abend stehen, wie heute, hoch im Kurs. Zur Er- Diese Vorstellung entsprach der Erfah-
saß er noch über den letzten Passagen. bauung wird ein wenig musiziert. rungstheologie, der Schleiermacher si-
So erschien es erst im Januar 1806. Im Laufe des Abends diskutieren die cher nahestand. Die gemeinsame Feier
Schleiermacher schildert in der Ge- anwesenden Männer über Sinn und Be- des Freundeskreises, der für den Theolo-
sprächsnovelle detailliert, wie ein Weih- deutung von Weihnachten. Einer bezwei- gen die eigentliche Kirche bildete, stellte
nachtsabend in einer gebildeten Bürger- felt den Wahrheitsgehalt der Überliefe- für ihn den Kern des Festes dar.
familie ablief – in einer Zeit, in der sich rung und stellt zur Diskussion, ob „die Andere Theologen warfen Schleier-
das Fest, wie wir es heute kennen, erst heilige Geschichte“ nur „etwas wie ein macher vor, er entwürdige die Geburt
herausbildete. Schon vor der Wende zum Märchen“ sei. Er steht für die aufkläre- Jesu und leiste der Säkularisierung Vor-
19. Jahrhundert hatte sich die Feier der rische Kritik am Christentum und sieht schub. Der Geistliche beschrieb indes nur
Christnacht aus den Kirchen ins heimelig sich in der gemeinsamen Feier mehr an verbreitete Ansichten zum Weihnachts-
hergerichtete Wohnzimmer verlagert, Jesus erinnert als durch die Bibel und die fest, und seine Erzählung trifft wohl noch
war quasi privatisiert worden. „Der Liturgie. „So müssen wir auch glauben, heute vielfach die bürgerliche Lebens-
freundliche Saal war festlich aufge- das Andenken an Christum werde in grö- wirklichkeit.
schmückt …“, heißt es zu Anfang von ßerem Umfang durch das Fest erhalten Ein festlich geschmückter Weihnachts-
Schleiermachers Novelle, die im Haus als durch die Schrift.“ baum stand allerdings wohl noch nicht
eines Professors spielt, dessen Familie In einem anderen löst die Geburt Jesu in Schleiermachers Haus in Halle, als er
mit Freunden Weihnachten verbringt. ein Gefühl von Heil aus sich selbst heraus seine Erzählung verfasste; erst in der
Niemand in Schleiermachers Erzäh- aus: „Der sprachlose Gegenstand ver- zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sollte
lung besucht eine Christmette oder -ves- langt oder erzeugt auch mir eine sprach- sich dieser Brauch von Deutschland aus
per, es wird nicht aus der Bibel vorgelesen lose Freude; die meinige kann wie ein in die Welt verbreiten. Joachim Mohr
IV
Mit Gott
oder ohne?
„Gott ist tot“, schrieb der Philosoph Friedrich Nietzsche und gab damit den Ton
vor für die Auseinandersetzung der Moderne mit der Religion. Doch so radikal wie er
brach kaum jemand mit der christlichen Tradition.
Der Antichrist
Von Andreas Urs Sommer
G
egeben am Tage des Heils, am Nietzsches Antichristentum ist ein Kernland des lutherischen Protestan-
ersten Tage des Jahres Eins Wendepunkt hin zur Moderne. Vor und tismus, stammte Nietzsche väter- wie
(– am 30. September 1888 der nach ihm gab es zwar zahlreiche lautstar- mütterlicherseits aus Pastorenfamilien.
falschen Zeitrechnung)“, unter- ke Kritiker des Christentums. Aber kei- Der Vater, Pfarrer in der kleinen Gemein-
zeichnet mit „Der Antichrist“, hat der ner hat mit solcher Konsequenz wie de, predigte anlässlich seiner Taufe über
Philosoph Friedrich Nietzsche in den letz- Nietzsche die christliche Fundierung un- die Worte aus dem Lukas-Evangelium:
ten Wochen vor seinem geistigen Zu- serer moralischen Überzeugungen so- „Was, meinest du, will aus dem Kindlein
sammenbruch dieses „Gesetz wider das wohl herausgestellt als auch verdammt. werden?“
Christenthum“ zu Papier gebracht. Selbst die meisten heutigen Atheisten Für die Familie stellte sich diese Frage
Seiner Mitwelt hat er den ungeheuer- würden mit ihren moralischen Überzeu- auch nach dem frühen Tod des Vaters im
lichen Text allerdings noch nicht zu- gungen bei Nietzsche keine Gnade fin- Grunde nicht: Schon als Volksschüler galt
gemutet: Von ihm mit einem anderen den. Und überdies hat keiner mit solcher der ernsthaft-altkluge Junge, der anhand
Blatt überklebt, wurde das „Gesetz“ erst Konsequenz wie Nietzsche über eine der lutherischen Bibelübersetzung Lesen
später im Nachlass entdeckt. In der kri- Welt nachgedacht, in der das religiöse und Schreiben gelernt hatte, als „kleiner
tischen Ausgabe seiner Werke steht es Bedürfnis aufhört, eine Selbstverständ- Pastor“. Als er in das Eliteinternat Schul-
jetzt am Ende jenes Buches, mit dem lichkeit zu sein. pforta eintrat, schien sein beruflicher
Nietzsche die „Umwerthung aller Wer- Wie war der strebsame Philologe und Weg zur Kanzel vorgezeichnet.
the“ zu vollziehen hoffte: „Der Anti- kühne Moralanalytiker zu solchen Posi- Seine Neigungen allerdings waren
christ. Fluch auf das Christenthum“. tionen gelangt? Der Weg zum Antichris- eher künstlerischer, philologischer und
Noch heute jagt dessen Titel allen From- tentum war Friedrich Nietzsche jeden- philosophischer Natur. Er übte sich
men und Halbfrommen eisigen Schre- falls nicht vorgezeichnet. Geboren 1844 in den Methoden der historischen Text-
cken ein. in Röcken nahe Lützen und damit im kritik, die im Unterricht zunächst an
griechischen und lateinischen Klassikern kam, weigerte er sich, am Abendmahl Zunft unmöglich machte, ist Christliches
Anwendung fanden. Im nominell christ- teilzunehmen. oder Antichristliches auf der Textober-
lichen Pforta blieben auch das Alte und Damit hätte, wie bei so vielen Wissen- fläche kaum zu erkennen. Rückblickend
das Neue Testament vor diesem Zugriff schaftlern seines Jahrhunderts, Nietz- meinte er, in diesem Werk dem Christen-
auf Dauer nicht verschont. Obwohl der sches Auseinandersetzung mit dem Chris- tum gegenüber „behutsames und feind-
Halbwüchsige damals mit dem Christen- tentum schon zu Ende sein können. Die seliges Schweigen“ gewahrt zu haben.
tum noch nicht offen brach, entfremdete bange und zugleich hoffnungsfrohe Frage In Basel hatte sich Nietzsche inzwi-
er sich doch von dessen enger, bibli- des Vaters, „Was will aus dem Kindlein schen mit dem Theologieprofessor Franz
zistisch-orthodoxer Auslegung, die in werden?“, hätte eine epochentypische Overbeck angefreundet. Dieser hatte
seiner Familie vorherrschte. Der Reli- Antwort gefunden: ein agnostischer Ge- zwar angehenden Pfarrern Neues Testa-
gionsunterricht festigte seinen Glauben lehrter, der zur christlichen Überlieferung ment und Kirchengeschichte nahezubrin-
ebenso wenig. ironische Distanz hält, ohne sie direkt gen, war jedoch zutiefst skeptisch ange-
Um den familiären Erwartungen zu anzugreifen und ohne sich weiter um sie sichts des christlichen Anspruchs, die
genügen, begann Nietzsche nach dem zu scheren. Welt erklären und dem Menschen Halt
Abitur an der Universität Bonn zunächst Tatsächlich weisen die ersten Schritte geben zu können.
neben der Philologie auch Theologie von Nietzsches intellektueller Karriere Für Overbeck war das Christentum
zu studieren. Unter dem Eindruck theo- genau in diese Richtung: Für den klassi- ein antikes Relikt, dessen frühe Reprä-
logiekritischer Werke wie dem epoche- schen Philologen, der blutjung auf eine sentanten, die Kirchenväter, bereits den
machenden „Leben Jesu“ (1835/64) von Professur in Basel berufen wurde, war ursprünglich kompromisslos weltabge-
David Friedrich Strauß, das die neutesta- das Christentum zunächst kein Thema. wandten und weltflüchtigen Charakter
mentliche Überlieferung als reine Mytho- Und auch in seinem 1872 veröffentlichten dieser Religion verraten hätten. Das neu-
logie verstand, gab er die Theologie frei- philosophischen Erstling, „Die Geburt zeitliche Christentum erschien ihm nur
lich bald ernüchtert auf. Als er in seinen der Tragödie aus dem Geiste der Musik“, mehr als Gespenst, als verwesender
ersten Ostersemesterferien nach Hause mit dem er sich in der philologischen Leichnam ohne jede Bindungskraft.
nen wie immer. Der „tolle Mensch“ ver- werden wollen, bleibt im Ungefähren. scheaner in parachristlicher Sinnsucht. In
sucht hingegen, ihnen zu vermitteln, dass Entsprechend buntscheckig und wider- „Also sprach Zarathustra“ werden zwar
mit Gott ihr gesamtes Weltbild hinfällig sprüchlich sind die politischen Folgerun- die alten Tafeln der Moral zerbrochen,
geworden sei, dass sie nichts mehr hätten, gen, die die Nachwelt aus Nietzsches At- die neuen jedoch bleiben, entgegen an-
woran sie sich halten können. tacken meinte ziehen zu müssen. derslautenden Bekundungen, weitge-
Die Leute auf dem Markt sind sich der „Also sprach Zarathustra“ (1883/85) hend unbeschrieben.
fatalen Konsequenzen einer Tötung Got- wollte Nietzsche als weltgeschichtlichen So scharf die „Genealogie der Moral“
tes nicht bewusst. Sie glauben, die christ- Paukenschlag verstanden wissen, auch von 1887 mit der sklavenmoralischen,
lich inspirierte Moral weiter aufrecht- wenn oder gerade weil sich damals kaum christlichen Umwertung der Werte ins
erhalten zu können, während sie doch ein Leser um dieses neue, so rätselhafte Gericht ging, so deutlich arbeitete Nietz-
deren transzendenter Grundlage längst Werk scherte. Der Philosoph ließ darin sche darin heraus, wie sehr sich emanzi-
beraubt sind. Mit seiner gottlosen Predigt unter dem Namen des altpersischen Pro- piert dünkende, frei gewordene Geister
dringt der aufrührerische Marktschreier pheten Zarathustra eine Figur auftreten, im Kern noch christlich moralisiert sind.
allerdings nicht durch; man hält ihn ein- die man fälschlich immer wieder mit Er schilderte, wie das dem Christentum
fach für verrückt. Dass ihre Welt ohne Nietzsche identifiziert hat. durchaus innewohnende Redlichkeits-
Gott entleert ist, merken die Leute auf Dieser Zarathustra geht zu den Men- streben zunächst Grundfesten der christ-
dem Markt nicht einmal. schen und versucht, ihnen philosophische lichen Dogmatik und dann den Gott
Mit der philosophischen Anekdote Lehren nahezubringen, spricht vom selbst preisgibt, um endlich die christlich
vom „tollen Menschen“ eröffnete Nietz- Übermenschen, vom Willen zur Macht kontaminierte Moral mit dem ihr inne-
sche einen Problemhorizont, in den er und von der ewigen Wiederkunft des wohnenden „Willen zur Wahrheit“ aufs
seine weitere Auseinandersetzung mit Gleichen. Er bedient sich des hohen To- Korn zu nehmen.
dem Christentum stellte: Offensicht- nes religiöser Verkündigung, suhlt sich Die philosophische Befreiungsbemü-
lich ließ es sich weder mit bloßer philo- in einer Metaphernflut und macht Ri- hung wurzelt also selbst im christlichen
logischer Textkritik noch mit beißen- chard Wagner Konkurrenz beim Versuch Feld, mag sie dieses Feld noch so sehr
dem atheistischem Witz aus der Welt der Publikumsüberwältigung. Oft hat umpflügen. Nietzsche kalkulierte minu-
schaffen. man Nietzsches „Also sprach Zarathus- tiös die enormen Folgekosten der christ-
Was der Philosoph stattdessen entwi- tra“ als Bemühen um eine atheistische lich geprägten Moral, die einengt und ver-
ckelte, ist ein moralgenealogisches Ver- Religionsgründung verstanden wissen gewaltigt, und die gleichermaßen enor-
fahren. Es sollte zeigen, dass alle Moral wollen. men Folgekosten der Ermordung Gottes,
geschichtlich entstanden ist, dass wir uns Dabei wurde allerdings übersehen, die die Menschen völliger Sinnleere über-
somit nicht auf unverrückbare moralische dass Nietzsche die Zarathustra-Figur in antwortet und sie dazu zwingt, ihren ei-
Intuitionen verlassen können. Die vom ihrem missionarischen Bemühen ebenso genen Sinn zu schaffen.
Christentum in Geltung gebrachte Moral scheitern lässt wie den „tollen Menschen“ Es mutet wie ein Rätsel an, dass Nietz-
sei erfunden worden von den Schwachen, der „Fröhlichen Wissenschaft“. Eine sä- sche im letzten Schaffensjahr 1888 seine
den Unterlegenen, den Zu-kurz-Gekom- kulare Zarathustra-Religion als Christen- Kritik am Christentum zum schrillen For-
menen, die sich ihrer bedient hätten und tumsersatz ist nicht Nietzsches Angebot, tissimo steigerte, zugleich aber sein eige-
nach wie vor bedienten, um obenauf zu sondern das Produkt entfesselter Nietz- nes Dasein in christlich-heilsgeschicht-
kommen. liche Kategorien einpasste. Die Genealo-
In Nietzsches späten Werken, nament- gie seiner selbst, in der er sich und sein
lich in der „Genealogie der Moral“ von noch sehr spärliches Publikum über sich
1887 und in der „Götzen-Dämmerung“ selbst aufklären wollte, heißt „Ecce
von 1888, gilt die christliche Kirche daher homo“ und spielt damit auf das von Pila-
als eine Institution, deren Ziel die Zäh- tus auf Jesus gemünzte Wort an: „Sehet,
mung der ungeschlachten und wilden welch ein Mensch!“
Menschennatur ist. „Sie wird geschwächt, Im „Antichrist“ hingegen führt scho-
sie wird weniger schädlich gemacht, sie nungslose Polemik das Wort. Nietzsche
wird durch den depressiven Affekt der bot das ganze Arsenal historisch-philo-
Furcht, durch Schmerz, durch Wunden, logischer Gelehrsamkeit auf, ebenso
durch Hunger zur krankhaften Bestie.“ psychologisches und physiologisches
Es sollen die von Natur Starken und Ge- Wissen; er reicherte das Gemisch an mit
sunden gewesen sein, deren Willen die Einsichten aus den Werken von Fjodor
christliche Domestizierung gebrochen Dostojewski und Leo Tolstoi. Und all
habe, um sie moralisch gefügig, sozial dies nur um nachzuweisen, dass das aus
verträglich zu machen. dem Judentum emporgewachsene Chris-
Der von „Priestern“ verwalteten tentum eine weltgeschichtliche Katastro-
„Sklaven-Moral“ hält Nietzsche in seinen phe sei.
philosophischen Denkexperimenten eine Ressentiment und schlechtes Gewis-
„Herren-Moral“ entgegen. Ob dies aber sen seien systematisch dazu benutzt wor-
eine neue Gewaltherrschaft von physisch den, den Menschen kleinzumachen. De-
Überlegenen in Aussicht stellt, die mit Bereits mit 55 Jahren starb Nietzsche an
mokratie und Gleichberechtigung in der
der Abschüttelung des christlich-morali- einer seltenen Demenzform; der Maler Curt Gegenwart seien nichts anderes als ver-
schen Jochs selbst wieder Unterjochende Stoeving nahm seine Totenmaske ab (1900). kapptes Christentum mit anderen Mit-
teln. Nietzsche wollte seine eigene „Um- lich-eschatologischen Selbstdeutung also ner Nacheiferer waren und sind in ih-
werthung aller Werthe“ auf die Tages- vielleicht doch nicht so groß: Weder rem Atheismus nicht weniger dogma-
ordnung setzen, die mit dem „Antichrist“ agnostischer Wissenschaftlerdünkel noch tisch als ihre christlichen Kontrahenten.
schriftstellerisch endlich vollzogen wer- die Reden Zarathustras haben die christ- Nietzsches Warnung, Überzeugungen
den sollte. liche Moral aus der Welt zu schaffen ver- statt als Gefängnisse als Mittel zu ver-
Dabei wies er Jesus eine Sonderstel- mocht. Entsprechend scheinen sehr star- stehen, haben sie oft in den Wind ge-
lung zu: Dieser zu jedem Widerstand un- ke polemisch-rhetorische Mittel erforder- schlagen.
fähige Symbolist war jetzt ganz aus der lich, um jene allgemeine Mobilisierung Wer die Macht des Christentums neu-
jüdisch-christlichen Verfallsgeschichte zu erreichen, die Nietzsche als Umwer- tralisieren will, wäre womöglich noch im-
herausgenommen, während Paulus als tung aller Werte für seine Gegenwart und mer besser beraten, es auf Eis zu legen,
„Genie im Hass“ die eigentliche Grün- die Zukunft erhoffte. anstatt es mit Flüchen zu überziehen.
dergestalt des institutionalisierten Chris- Dazu waren dann alle Mittel recht: Eine Anfrage Nietzsches pflegen die
tentums verkörperte. Aber der späte „Überzeugungen“ sollten nach einer me- frommen Atheisten ohnehin zu überhö-
Nietzsche entwickelte keine private Je- thodischen Selbstreflexion im Antichrist ren: dass es womöglich auch mit unserer
sus-Frömmigkeit, sondern charakteri- nicht „Gefängnisse“ sein, in die man sich Moral nichts sei, weil auch diese zu sehr
sierte den sogenannten Erlöser als patho- einschließt, sondern „Mittel“, Kampf- in der christlichen Tradition verwurzelt
logischen Fall des Nicht-widerstehen- mittel, um das Christentum als Moral zu ist. Wer aber würde es wagen, auch sie
Könnens, der bloß sich selbst von seinem beseitigen. Nietzsche ging es darum, den auf Eis zu legen?
Leiden zu erlösen verstanden habe. Jesus Menschen freizustellen. Frei auch im Sin-
ist im „Antichrist“ eine Spielfigur, er- ne von unbehaust, obdachlos. Andreas Urs Sommer lehrt Philosophie
dacht, um die Christen ihrer eigenen Leit- Der Atheismus des 20. und 21. Jahr- an der Universität Freiburg i. Br. und leitet die
figur zu berauben. hunderts hat Nietzsche immer wieder Forschungsstelle Nietzsche-Kommentar der Hei-
Näher besehen ist das Rätsel von als Leitbild bemüht. Für plakative delberger Akademie der Wissenschaften. 2017
Nietzsches spätem Antichristentum und Thesen gab sein Werk einen gern ge- erschien sein Buch „Nietzsche und die Folgen“
seiner eigenen, ironisch gefärbten, christ- nutzten Steinbruch ab. Aber viele sei (J. B. Metzler).
S
ein Tod war es, der ihn unsterb- einem schwarzen Kollegen an; er erlebte
lich machte. Am 8. April 1945, die Rassentrennung und die Diskrimi-
einen Monat vor dem Ende des nierung der Afroamerikaner.
Zweiten Weltkriegs, verurteilte Bonhoeffer, der sein erstes Pfarramt
ein SS-Standgericht im oberpfälzischen als Studentenpfarrer in Berlin antrat,
Konzentrationslager Flossenbürg Diet- war also in puncto Rassismus sensi-
rich Bonhoeffer zum Tode. Im Morgen- bilisiert, für die Ökumene interessiert,
grauen des nächsten Tages wurde der 39 und er bewegte sich auf eine pazifisti-
Jahre alte evangelische Theologe mit vier sche Position zu. Auf einer internatio-
weiteren Widerstandskämpfern auf den nalen Jugend-Friedenskonferenz in der
Richtplatz geführt. Die Häftlinge mussten Tschechoslowakei 1932 forderte er: „Die
sich nackt ausziehen, dann wurden sie Ordnung des internationalen Friedens
gehängt. ist heute Gottes Gebot für uns.“
Die Ermordung durch die SS-Scher-
gen hat Dietrich Bonhoeffer zu einem Die Bewährungsprobe für seine Über-
Helden und Märtyrer gemacht, zu einer zeugungen kam, nachdem Adolf Hitler
Art evangelischem Heiligen. Die Mehr- Ende Januar 1933 Reichskanzler gewor-
heit der Kirchenleute passte sich im Na- den war. Im Kreis von Vertrauten ver-
tionalsozialismus den Machthabern an, hehlte der Nationalsozialist seinen Ab-
so wie es die meisten Deutschen taten. scheu gegenüber der Religion nicht: „Der
Der Theologe Bonhoeffer aber schloss schwerste Schlag, der die Menschheit ge-
sich den Verschwörern an, die die Deut- troffen hat, ist das Christentum; der Bol-
schen von Hitler befreien wollten, nahm schewismus ist der uneheliche Sohn des
für seine Überzeugung schließlich sogar Christentums; beide sind Ausgeburt des
den Tod in Kauf. Juden.“ Hitler wünschte sich, „dass auf
Geboren war er 1906 in Breslau als der Kanzel nur noch lauter Deppen ste-
sechstes von acht Kindern des Psychia- hen und vor ihnen alte Weiblein sitzen“.
trieprofessors Karl Bonhoeffer, der bald Da aber etwa 95 Prozent der Deut-
an der Charité in Berlin lehrte. Mit sei- schen Mitglied der evangelischen oder
nem Wunsch, Theologie zu studieren, der katholischen Kirche waren, hielten
stieß der vielseitig begabte und hochin- sich die Nazis taktisch zurück. Schon
tellektuelle Dietrich in seiner Familie 1932 hatten sie die „Glaubensbewegung
eher auf Verwunderung als auf Begei- Deutsche Christen“ begründet; ihre Flag-
sterung. Bereits mit 21 Jahren schloss er ge enthielt ein Hakenkreuz.
sein Studium der evangelischen Theo- Mitte November 1933 erklärte ihr Ber-
logie in Tübingen und Berlin mit der liner Gauobmann Reinhold Krause auf
Promotion ab. einer Kundgebung im Sportpalast, man
Dietrich Bonhoeffer als Leiter eines Prediger-
Schon als Student reiste er viel und seminars der „Bekennenden Kirche“ (1935). müsse sich nun „vom Alten Testament
weit – nach Rom, Barcelona und im Sep- Als Gefangener der SS schrieb er später mit seiner jüdischen Lohnmoral, von die-
tember 1930 für ein Jahr nach New York. Verse mit dem Titel „Neujahr 1945“, aus sen Viehhändler- und Zuhältergeschich-
„Eine Theologie gibt es hier nicht“, denen eines der beliebtesten christlichen ten“ frei machen und „auf die ganze Sün-
Lieder wurde. Der Schluss lautet: „Von
schrieb er in die Heimat. „Es wird das guten Mächten wunderbar geborgen,
denbock- und Minderwertigkeitstheolo-
Blaue vom Himmel heruntergeschwatzt erwarten wir getrost, was kommen mag. gie des Rabbiners Paulus“ verzichten.
ohne die geringste sachliche Begrün- Gott ist bei uns am Abend und am Morgen Bonhoeffer hingegen hatte bereits im
dung.“ Bonhoeffer freundete sich mit und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“ Juli 1933 in seinem Aufsatz „Die Kirche
vor der Judenfrage“ klargemacht, dass dere führten sie heimlich weiter, bis die man erst in der vollen Diesseitigkeit des
die Kirche auch die Möglichkeit habe, Gestapo sie 1940 endgültig auflöste. Bon- Lebens glauben lernt.“
„nicht nur die Opfer unter dem Rad zu hoeffer wurde mit einem Rede- und Ver- Seinen Weg zu Gott beschrieb er so:
verbinden, sondern dem Rad selbst in öffentlichungsverbot belegt. „Wenn man völlig darauf verzichtet hat,
die Speichen zu fallen“. Der Konflikt In dieser Zeit vollzog der Theologe aus sich selbst etwas zu machen – sei es
mit dem Regime war absehbar. den Schritt vom Pazifismus zum bewaff- einen Heiligen oder einen bekehrten
Vielleicht auch deshalb ging Bonhoef- neten Widerstand gegen Hitler. Er kann- Sünder oder einen Kirchenmann, einen
fer zunächst als Auslandspfarrer nach te natürlich das Bibelwort „Wer das Gerechten oder einen Ungerechten, ei-
London und kümmerte sich um die ers- Schwert nimmt, der soll durchs Schwert nen Kranken oder einen Gesunden –,
ten deutschen Emigranten. In Deutsch- umkommen“, aber er kam zu der Über- dann wirft man sich Gott ganz in die
land formierte sich in dieser Zeit ab zeugung, dass der Tyrannenmord im Fal- Arme.“ Seine letzten theologischen Aus-
Frühjahr 1934 die „Bekennende Kirche“ le Hitlers gerechtfertigt sei. führungen kreisen um „ein christliches
als Gegenbewegung zu den „Deutschen Leben in einer religionslosen Welt“, die
Christen“. Die hier Engagierten wollten Bonhoeffers Schwager Hans von Doh- Ausarbeitung einer konsistenten Lehre
keinen Arierparagrafen einführen, stell- nanyi brachte Bonhoeffer in Kontakt mit gelang ihm nicht mehr.
ten sich gegen die „Gleichschaltung“ anderen Verschwörern gegen Hitler und Nachdem das Reichssicherheitshaupt-
der evangelischen Kirche. Nach seiner sorgte dafür, dass er als Verbindungs- amt durch Bomben schwer beschädigt
Rückkehr übernahm Bonhoeffer die mann ins Ausland reisen konnte. Doch worden war, verlegte die SS Bonhoeffer
Leitung eines Predigerseminars der die Gruppe flog auf; Dohnanyi und Bon- ins KZ Buchenwald und schließlich
Bekennenden Kirche in Pommern. Auf hoeffer wurden Anfang April 1943 ver- in das Lager Flossenbürg in der Ober-
einem einsamen Gut bei Stettin bildete haftet und drei Monate später wegen pfalz.
er angehende Pfarrer aus. Die Kirche, „Wehrkraftzersetzung“ angeklagt. „Er war fröhlich und aufgelegt, jeden
davon war er überzeugt, müsse sich an Im Untersuchungsgefängnis der Wehr- Scherz zu erwidern“, erinnerte sich ein
die Seite der Verfolgten stellen. Bon- macht in Berlin-Tegel rekapitulierte Bon- englischer Mithäftling in Buchenwald.
hoeffer setzte sich deshalb als einer der hoeffer in Briefen die Genese seines „Bonhoeffer war ganz Bescheidenheit
ersten christlichen Theologen auch für Glaubens. „Ich dachte, ich könnte glau- und Freundlichkeit. Er war einer der
die Juden ein. ben lernen, indem ich selbst so etwas ganz wenigen Männer, die ich je getrof-
Der Reichsführer SS Heinrich Himm- wie ein heiliges Leben zu führen ver- fen habe, denen ihr Gott immer nahe
ler ließ im August 1937 die Prediger- suchte“, schrieb er. „Später erfuhr ich und wirklich war.“
seminare verbieten; Bonhoeffer und an- und ich erfahre es bis zur Stunde, dass michael.sontheimer@spiegel.de
Die Befreiungstheologie in Lateinamerika wollte ein besseres Leben für die Armen
im Hier und Jetzt – sie verband die Religion mit sozialistischen Idealen.
Was ist unter dem argentinischen Papst Franziskus aus der Bewegung geworden?
D
as Haus des Dichters Ernesto Religion zusammenbringen wollte und gung, unter dem schwarzen Barett fun-
Cardenal auf der Insel Mancar- damit weltweit Widerhall fand? keln dunkle Augen. Die Regierung ver-
rón im Nicaragua-See ist ein Auf der Insel im Nicaragua-See ist die folgt ihn, vorübergehend hatte er sogar
Ort zum Träumen. Vom Bal- religiöse Revolution nur noch eine ferne erwogen, ins Exil zu gehen. Schriftstel-
kon schweift der Blick über eine liebliche Erinnerung. Am Bootsanleger verkaufen lerkollegen aus aller Welt haben sich mit
Tropenlandschaft. Dampfender Urwald einheimische Künstler naive Malerei, aus ihm solidarisiert.
liegt dem Besucher zu Füßen, am Hori- dem Gemeindesaal wurde ein kleines Seinen Traum von einem religiös be-
zont erstreckt sich wie ein riesiger silbri- Museum. Cardenal, heute 92, war seit gründeten, revolutionären Weg aus Ar-
ger Teller der See. Kleine Boote tanzen Jahren nicht in Solentiname, er lebt in mut und Unterdrückung hat Cardenal
auf den Wellen. der Hauptstadt Managua. An gesundheit- dennoch nicht aufgegeben. Er glaubt
Hier, auf der größten Insel des So- lichen Problemen liegt es nicht: Ein Ge- allerdings nicht mehr, dass die Befreiung
lentiname-Archipels, starteten Fischer, richtsstreit um seine Liegenschaften im von einer wie auch immer motivierten
Bauern und Geistliche vor mehr als Archipel vergällt ihm die Rückkehr. Guerilla ausgeht. Seine Hoffnung gilt
50 Jahren ein religiöses Experiment, das Cardenals Prozessgegner stehen Prä- jetzt dem Mann im Vatikan: „Papst Fran-
jahrzehntelang engagierte Christen in sident Daniel Ortega nahe. Der war einst ziskus macht die Revolution.“
Lateinamerika und Europa faszinierte. Anführer der sandinistischen Guerilla-
Unter Leitung des früheren Trappisten- kämpfer. Wie die Befreiungstheologen Ein Papst war es auch, der einst die Hoff-
mönchs Cardenal schlossen sich die Bau- setzten die Sandinisten sich für ein sozia- nungen auf ein politisches Christentum
ern zu einer christlichen Basisgemeinde listisches Nicaragua ein, gegen den ver- an der Seite der Armen beflügelte. „Die
zusammen. In der klosterähnlichen Ge- hassten Despoten Anastasio Somoza. Kirche kann kein ehrwürdiges Museum
meinschaft lebten sie nach den Regeln Doch inzwischen ist Cardenal verbittert sein, sie muss das Haus aller sein, luftig
der Befreiungstheologie, die sich damals über den einstigen Genossen: „Daniel und angenehm zum Leben“, verkündete
in ganz Lateinamerika ausbreitete. Ortega ist ein Diktator“, sagt Cardenal. der betagte Papst Johannes XXIII.; er be-
Es gab keine Hierarchie wie in ei- Sein schlohweißer Bart zittert vor Erre- rief 1962 das Zweite Vatikanische Konzil
ner herkömmlichen Pfarrei, die Bauern ein, das bis 1965 tagte.
selbst organisierten die Gottesdienste. In Ziel der Kirchenversammlung war das
Bibelkreisen diskutierten sie Gewalt und „aggiornamento“, eine Aktualisierung des
Ungleichheit und suchten nach Wegen Selbstverständnisses der katholischen Kir-
aus der Armut. In seinem Buch „Das che. In der lateinamerikanischen Periphe-
Evangelium der Bauern von Solenti- rie war sie bis dahin als elitäre Macht
name“ beschrieb Cardenal seine Erfah- wahrgenommen worden, denn die Staats-
rungen. kirchen sahen sich als Spiegel Roms. Mit
Die Theologie der Befreiung war der dem Vatikanum aber ließ die Kirche „fri-
Versuch, das Christentum politisch wirk- schen Wind“ in die Gemeinden, so be-
sam zu machen. Katholische Priester und schreibt es der brasilianische Befreiungs-
Ordensleute in Lateinamerika stellten theologe Leonardo Boff.
sich an die Seite der Armen, nahmen In Lateinamerika führten die vatika-
eine dezidiert linke Haltung ein – und nischen Reformen dazu, dass die Kirche
gerieten dadurch in Konflikt mit den Kir- ihre soziale Rolle neu definierte. Sie
chenoberen in Rom und mit den Militär- müsse vor allem eine „Kirche der Ar-
diktaturen in ihrer Heimat. Einige von men“ sein, hatte Johannes XXIII. vor
Rom sah die Befreiungstheologie kritisch:
ihnen zogen für ihre Ideale sogar in den 1983 musste sich Ernesto Cardenal dem Konzil gefordert. Junge Theologen
bewaffneten Kampf. Was ist aus der Be- in Managua von Papst Johannes Paul II. in Lateinamerika interpretierten das
wegung geworden, die Sozialismus und öffentlich tadeln lassen. als einen Aufruf, die bestehenden sozia-
len Verhältnisse umzuwälzen. Die Worte den Appell zur Rebellion wörtlich: In hilfe der USA an die Macht gekommen
Boffs waren unmissverständlich: „Wenn Kolumbien schlossen sich Camilo Torres waren. Sie bekämpften die linken Theo-
die Unterdrückung regiert, muss die und Manuel Pérez der Guerilla an und logen auch mit Gewalt. Im März 1980 er-
Rolle der Kirche die Befreiung und Ver- gingen in den Untergrund, sie folgten schoss der Anführer einer rechtsgerich-
änderung sein.“ dem Beispiel Fidel Castros und der ku- teten Todesschwadron den Erzbischof
Auf der lateinamerikanischen Bi- banischen Revolution. von San Salvador, Oscar Romero, wäh-
schofskonferenz in Medellín 1968 pran- Ihre Radikalisierung ist nur zu ver- rend dieser die Messe las. Neun Jahre
gerten einige Bischöfe erstmals die so- stehen vor dem Hintergrund des Kalten später ermordeten Auftragskiller sechs
ziale Ungerechtigkeit an. In Brasilien rief Krieges, der Lateinamerika ideologisch Jesuiten, die an der Zentralamerikani-
der „rote Bischof“ Dom Hélder Câmara gespalten hatte. In vielen Ländern herrsch- schen Universität in San Salvador lehrten.
zum Aufstand gegen die bestehenden ten in den Siebziger- und Achtzigerjah- Manche Befreiungstheologen, unter
Verhältnisse auf. Einige Priester nahmen ren Militärdiktaturen, die teilweise mit- ihnen auch der Nicaraguaner Ernesto
Cardenal, pflegten eine ambivalente Hal- Mario Bergoglio hieß, regelmäßig die Seite der Armen. Theologie der Befrei-
tung zur Gewalt, das war eine der Kon- Elendsviertel der argentinischen Haupt- ung“ heraus. Sie schlugen damit eine
fliktlinien mit Rom. Sie traten für einen stadt. Und tatsächlich mehren sich schon Brücke der Versöhnung und versuchten
radikalen sozialen Wandel ein, darin sa- seit einigen Jahren die Anzeichen einer zugleich, die Befreiungstheologie zu ak-
hen ihre Gegner eine ideologische Ab- Entspannung zwischen dem Heiligen tualisieren: In dem Werk geht es um
weichung von der katholischen Sozial- Stuhl und den Rebellen. Globalisierung, Informationstechnologie
doktrin. Der Mix aus Sozialismus und Ausgerechnet der eher konservative und andere Herausforderungen der Post-
Christentum, den die Befreiungstheolo- deutsche Kardinal Gerhard Ludwig Mül- moderne.
gen propagierten, kam im Vatikan nicht ler, den Benedikt im Juli 2012 zum Prä- Unter dem argentinischen Papst Fran-
gut an. fekten der Glaubenskongregation er- ziskus hat sich das Verhältnis zu den
nannt hatte, leistete dazu einen Beitrag. linken Kirchenkritikern endgültig ent-
Bei seinem Besuch in Nicaragua 1983 Müller pflegte enge Kontakte zu dem krampft. Franziskus ist durch und durch
tadelte Johannes Paul II., der durch die peruanischen Dominikaner Gustavo Gu- Pragmatiker, er hat die Diskussion ent-
kommunistische Diktatur in seinem Hei- tiérrez, der 1971 in einem Standardwerk ideologisiert, mit den einst geächteten
matland Polen geprägt war, öffentlich die theoretischen Grundlagen für die Be- Theologen hat er Nachsicht: Er sieht ihre
den Revolutionspriester Ernesto Carde- freiungstheologie gelegt hatte. Irrungen und Wirrungen als Folge der
nal. Das Foto des Papstes, der auf dem Schon im Jahr 2004 gaben Müller und schreienden sozialen Ungerechtigkeit auf
Flughafen von Managua mit erhobenem Gutiérrez gemeinsam das Buch „An der dem lateinamerikanischen Kontinent.
Zeigefinger den vor ihm knienden Car-
denal zurechtwies, ging um die Welt.
Den Franziskaner Boff, der die Hie-
rarchie der Amtskirche in einer flam-
menden Streitschrift kritisiert hatte, lud
im Jahr 1984 Kardinal Joseph Ratzinger,
der damals die Glaubenskongregation
leitete, zur Zurechtweisung nach Rom
vor. Boff musste auf dem Sessel Platz
nehmen, auf dem schon der als Ketzer
verfemte Galileo Galilei gesessen hatte.
Die Kurie verurteilte ihn zu einem ein-
jährigen Rede- und Lehrverbot, dem
sogenannten Bußschweigen. Auch Car-
denal wurde 1985 von seinem Amt als
Priester suspendiert.
Der Streit mit der Amtskirche sorgte
auf der ganzen Welt für Schlagzeilen.
Doch den Basisgemeinden in Lateiname-
rika brachte er keinen Zulauf. Viele Gläu-
bige klagten über die Politisierung durch
übereifrige Priester.
Das größte Problem der Befreiungs-
theologie seien nicht so sehr die theolo-
gischen Irrtümer gewesen, sondern die
mangelnde Seelsorge, meint der spani-
sche Kirchenhistoriker Alberto Royo Me-
jía. Sie habe auf „unerbittliche Weise die
Kirchen geleert“. Vielleicht auch deshalb
liefen in den vergangenen Jahren Mil-
lionen Katholiken zu den evangelikalen
Kirchen über.
Seit 2013 aber gibt es eine neue Hoff-
nung für Befreiungstheologen wie Ernes-
to Cardenal: Mit Franziskus steht der
erste Lateinamerikaner an der Spitze der
katholischen Kirche. Nach dem streng
antikommunistischen Johannes Paul II.
und dem volksfernen Traditionalisten Be-
nedikt XVI. ist jetzt ein Papst an der
Macht, der die „Kirche der Armen“ aus
eigener Erfahrung kennt. Papst Franziskus bei einer Freiluftmesse im kolumbianischen Ort Medellín,
Als Erzbischof von Buenos Aires be- einer Hochburg der Befreiungstheologie, am 9. September 2017
suchte Franziskus, der damals noch Jorge
Christlich-evangelikale „Megachurches“
ziehen in den USA viele Gläubige an –
auch ihre oft ekstatischen Gottesdienste
machen sie für viele attraktiv.
130
Säkularisierung heißt die Abkehr vom Glauben, die fast
alle modernen Gesellschaften trifft. Der Religionssoziologe
Detlef Pollack erklärt, wie es dazu kommt –
und wo das Christentum nach wie vor erfolgreich ist.
131
Mit Gott oder ohne? Der Weg in die Zukunft
SPIEGEL: Fast 2000 Jahre lang war das Den Menschen geht es auf Erden so für das Leiden in der Welt, für Krank-
Christentum, global betrachtet, gut, dass die Notwendigkeit, auf ein heit, für Tod, für Pest und für Hunger,
ziemlich erfolgreich. Nun ist es im Jenseits oder eine Erlösung zu hoffen, verliert demgegenüber zunehmend an
Niedergang, zumindest in den west- weggefallen ist? Bedeutung. Die Frage ist in modernen
lichen Ländern. Wie kommt das? Ja, das ist ein entscheidender Punkt. Gesellschaften nicht mehr: Wie kann
Detlef Pollack: Tatsächlich geht in fast Veränderungen im Menschen- und im ich Gerechtigkeit vor Gott finden, son-
allen westlichen Ländern die Bindung Gottesbild setzen in der Zeit der Auf- dern wie kann ich die Welt so verän-
an die Kirche zurück. Und auch an klärung im 18. Jahrhundert ein: Der dern, dass sie meinen Wünschen und
Gott glauben immer weniger Menschen, Mensch wird nicht mehr vor allem als Bedürfnissen entspricht.
selbst in einst hoch religiösen Ländern ein verderbtes und sündiges Wesen ge-
wie Irland, Spanien oder Italien. Spiri- sehen, sondern als zur Tugend und Sie sagten, der Rückgang betreffe alle
tuelle Fragen, die früher existenziell Vervollkommnung begabt. Der Mensch westlichen Länder. Aber spielt nicht in
waren – erlange ich ewiges Leben, fin- traut sich nun zu, sein Leben und die den USA Religion immer noch eine sehr
de ich sündiger Mensch vor Gottes Au- Welt selbst zu gestalten. Die Funktion viel stärkere Rolle, sowohl im Alltag als
gen Gnade –, verlieren an Bedeutung. des Glaubens, Erklärungen zu liefern auch in der Politik?
Auch in den USA sind tief greifende Es gibt also keine Rückkehr der Religio- die Vermischung etwa von religiösen
Prozesse der Säkularisierung und sität in den USA? und sexualethischen oder politischen
Entkirchlichung zu beobachten. Aller- Nein. Richtig ist aber, dass die Mobi- Fragen nicht länger gutheißen.
dings ist das religiöse Ausgangsniveau lisierungskraft des Christentums in den
höher. In den USA bekennen sich USA deutlich höher ist als in Europa. In Afrika oder Lateinamerika sind sol-
trotz rückläufiger Entwicklungen noch Die evangelikalen Bewegungen dort che Säkularisierungsprozesse nicht zu
immer 90 Prozent der Menschen zum nehmen oft sehr lautstark Stellung zu beobachten, dort hat der Niedergang
Glauben an Gott. Aber der Anteil Fragen von Moral oder Politik, etwa zu des Christentums noch nicht begonnen.
derer, die von sich sagen, sie hätten Abtreibung, Homosexualität oder auch Hat die Religion für die Menschen dort
keine religiöse Bindung, ist inzwischen zur freiheitlichen Mission der USA in eine andere Funktion?
genauso hoch wie in Westdeutschland. der Welt, damit gewinnen sie immer Das ungebrochene Wachstum der
Er liegt heute bei etwa 25 Prozent. neue Anhänger. Die wechseln zum Teil christlichen Gemeinden in diesen Ge-
Und diese Abschwächung der kirch- von liberaleren kirchlichen Gruppen in genden erklärt sich vor allem damit,
lichen Bindungen erfolgt ebenso das moralisch eindeutigere Lager. Aber dass Christen – aber auch Anhänger an-
wie in Westeuropa: von Generation zu gleichzeitig verlieren diese lauten Ge- derer Religionen – schlichtweg mehr
Generation. meinden auch ständig Mitglieder, die Kinder haben als Menschen, die nicht
LAND IN DIE
religiös gebunden sind. Aber das
Christentum spielt in diesen Gesell-
schaften auch tatsächlich oft eine
andere Rolle als in höher entwickel-
ten Gegenden. Wir beobachten zum
In westlichen Ländern wird ja nicht
nur die Gesellschaft moderner;
auch die christlichen Kirchen verän-
dern sich, werden liberaler. Ist das
ein Weg, dem Rückgang der Religio-
Beispiel in Lateinamerika, dass der sität zu begegnen?