SCHWERKRAFT UND
GNADE
Mit einer Einführung von
Gustave Thibon
IM KÖSEL-VERLAG ZU MÜNCHEN
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Titel der französischen Originalausgabe: „La Pesenteur et la
Grace“
(Librairie Plon, Paris 1948). Deutsche Übersetzung von
Friedhelm Kemp
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Einführung
1 Siehe auch Simone Weil, »Attente de Dieu«. Deutsche Ausgabe unter dem
Titel »Das Unglück und die Gottesliebe« demnächst im Kösel-Verlag,
München.
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meinen Weg stellte,, nicht beiseitezuschieben, jene Aura des
Mitgefühls, welche damals die Juden auf Grund der gegen
sie einsetzenden Verfolgungen umgab, und nicht zuletzt eine
gewisse Neugier veranlaßten mich schließlich, meine erste
unwillkürliche Entscheidung wieder umzustoßen. Einige
Tage später traf Simone Weil bei mir ein. Unsere ersten
Berührungen waren herzlich, aber beschwerlich. In
sachlicher Hinsicht waren wir beinahe über nichts der
gleichen Ansicht. Mit einem beharrlich monotonen Stimmfall
erging sie sich in endlosen Diskussionen, und am Ende
dieser ausweglosen Gespräche war ich jedesmal buchstäblich
erledigt. Ich wappnete mich daher, um sie zu ertragen, mit
Geduld und Höflichkeit. Bald jedoch konnte ich, dank
unseres täglichen Zusammenlebens, mehr und mehr
feststellen, daß diese unmögliche Seite ihres Charakters,
weit entfernt, ihr tieferes Wesen auszudrücken, nur ihr
äußeres und soziales Ich wiedergab. Das gewöhnliche
Verhältnis zwischen Sein und Scheinen war bei ihr geradezu
umgekehrt: im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen
gewann sie unendlich bei näherer Bekanntschaft und im
vertrauten Umgang; mit einer erschreckenden
Unmittelbarkeit kehrte sie die ungefälligen Züge ihres
Wesens nach außen, aber es bedürfte einer langen Zeit und
großer Zuneigung, ehe sie ihr Schamgefühl überwand und
sich dem andern von ihrer besten Seite zeigte. Sie begann
damals, sich von ganzer Seele dem Christentum zu
erschließen; der Geist einer makellosen Mystik ging von ihr
aus; noch niemals ist mir ein Mensch von einer ähnlichen
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Vertrautheit mit den Mysterien des religiösen Lebens
begegnet; niemals ist mir das Wort übernatürlich so
schwellend von Wirklichkeit erschienen wie I in ihrer Nähe.
Eine solche Mystik hatte nichts gemein mit jenen religiösen
Spekulationen ohne Einsatz der Persönlichkeit, wie sie nur
allzu häufig das einzige Zeugnis der Intellektuellen sind, die
sich den göttlichen Dingen zugewandt haben. Sie kannte, sie
lebte den verzweiflungsvollen Abstand zwischen »wissen«
und »von ganzer Seele wissen«, und ihr Leben hatte kein an-
deres Ziel als die Überwindung dieses Abstandes. Der
alltägliche Ablauf ihres Daseins lag so offen vor meinen
Augen, daß dies auch den leisesten Zweifel an der Echtheit
ihrer geistlichen Berufung in mir zerstreuen mußte: ihr
Glaube, ihre Abgelöstheit verkörperten sich in jeder ihrer
Handlungen, bisweilen mit einer bestürzenden Verkennung
der Wirklichkeit, immer aber mit einer unbedingten
Hochsinnigkeit. Ihre Askese mochte übertrieben erscheinen
in unserem Jahrhundert der Halbheiten, in welchem, um
einen Ausdruck von Leon Bloy zu gebrauchen, »die Christen
dem Martyrium in gemächlichem Trab zustreben« - und in
der Tat, welches Ärgernis würden heutzutage nicht die
exzentrischen Bußübungen gewisser mittelalterlicher
Heiligen erregen? -; dennoch blieb sie frei von jeder
merklichen Übertreibung, und nichts ließ auf eine Kluft zwi-
schen der Stufe ihrer Abtötung und jener ihres inneren
Lebens schließen. Da ihr die Einrichtung meines Hauses zu
bequem erschien, hatte sie sich ein altes, halbverfallenes
Anwesen, das meine Schwie-
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gereltern an den Ufern der Rhone besitzen, zu ihrer
Wohnung erwählt. Jeden Tag kam sie zur Arbeit und, falls
sie zu essen geruhte, zu den Mahlzeiten zu uns. Schwächlich
und kränkelnd - sie hatte ihr ganzes Leben an
unerträglichen Kopfschmerzen gelitten, und eine
Brustfellentzündung, die sie sich vor einigen Jahren
zugezogen, hatte schwere Schädigungen hinterlassen -,
bearbeitete sie den Boden mit einer unbeugsamen Energie,
und zu ihrer Nahrung begnügte sie sich oft mit einigen
Brombeeren, die sie von den Sträuchern am Wege pflückte.
Jeden Monat schickte sie die Hälfte ihrer Lebensmittelkarten
an politische Häftlinge. Ihre geistlichen Güter aber
verschwendete sie noch großmütiger. Jeden Abend, nach der
Arbeit, erklärte sie mir die großen Texte Platos - ich habe
niemals Zeit gefunden, gründlichere Kenntnisse der
griechischen Sprache zu erwerben - mit einem
pädagogischen Genie, das ihrem Unterricht die Lebendigkeit
einer Schöpfung verlieh. Mit dem gleichen Eifer und der
gleichen Liebe übrigens widmete sie sich irgendeinem zu-,
rückgebliebenen Dorfbuben, um ihm die Anfangsgründe des
Rechnens beizubringen. So groß war ihr Verlangen nach
Aussaat in den Geistern, daß ihr mitunter wohl auch das ein
oder andere erheiternde Versehen unterlief. Eine Art höhe-
rer Gleichmacherei veranlaßte sie, ihre eigene geistige Höhe
als allgemeines Richtmaß zu nehmen; und es gab für sie
kaum einen Geist, den sie nicht für fähig hielt, die
erhabensten Lehren zu empfangen. Ich erinnere mich einer
jungen lothringischen Arbeiterin, bei der sie eine Berufung
zu geist-
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lichen Dingen entdeckt zu haben glaubte und die sie lange
Zeit mit den herrlichsten Auslegungen der Upanishaden
überschüttete. Das arme Kind langweilte sich tödlich, wagte
aber aus Scheu oder Höflichkeit nichts zu sagen. ...
Im vertrauten Umgang war sie eine ungemein liebenswerte
und geistvolle Gefährtin: sie wußte zu scherzen, ohne
geschmacklos zu werden, und verstand sich auf eine Ironie
ohne Bösartigkeit. Ihre ungewöhnliche Gelehrsamkeit, deren
Inhalte sie sich so innig anverwandelt hatte, daß man kaum
imstande war, sie von dem Ausdruck ihres eigenen
Innenlebens zu unterscheiden, verlieh ihren Gesprächen
einen unvergeßlichen Reiz. Sie hatte allerdings einen großen
Fehler - oder einen seltenen Vorzug, je nachdem auf welche
Ebene man sich stellt: sie weigerte sich, den
Notwendigkeiten und Übereinkünften des sozialen Lebens je
das geringste Zugeständnis zu machen. Immer sagte sie
jedem und bei jeder Gelegenheit ihre ganze Meinung. Diese
Aufrichtigkeit, die vor allem einer tiefen Ehrfurcht vor den
Seelen entsprang, verursachte manche abenteuerlichen,
meist erheiternden Zwischenfälle, von denen einige jedoch
leicht eine tragische Wendung hätten nehmen können, zu
einer Zeit, wo es wenig ratsam war, jede Wahrheit von den
Dächern zu predigen.
Es kann hier nicht der Ort sein, sämtliche geschichtlichen
Quellen ihres Denkens aufzuzählen und die Einflüsse
nachzuweisen, die es vermutlich in sich aufgenommen hat.
Neben dem Evangelium, das ihre tägliche Nahrung war,
hatte sie eine tiefe Ver-
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ehrung für die großen Texte der Hindu-Literatur und des
Taoismus, für Homer, die griechischen Tragiker und vor
allem für Plato, den sie in einem durchaus christlichen Sinne
auslegte. Sie haßte hingegen Aristoteles, in dem sie den
ersten Totengräber der großen mystischen Überlieferung
erblickte. Der heilige Johannes vom Kreuz als religiöser Au-
tor, Shakespeare, einige der englischen metaphysischen
Dichter und Racine innerhalb der eigentlichen Literatur
hatten gleichfalls ihren Geist gebildet. Von den Zeitgenossen
wüßte ich höchstens Paul Valéry und Arthur Koestler [wegen
seines »Spanischen Testamentes«] zu nennen, von denen sie
mir mit Worten unvermischter Bewunderung gesprochen
hatte. Ihre Entscheidungen über das, was sie vorzog und
verwarf, waren schroff und unwiderruflich. Sie war der
festen Überzeugung, daß die wahrhaft geniale Schöpfung
eine höhere Stufe der Spiritualität fordere und daß es
unmöglich sei, den vollkom-menen Ausdruck zu erreichen,
ohne sich strengen inneren Reinigungen unterworfen zu
haben. Da ihr die innerliche Reinheit und Echtheit so sehr
am Herzen lag, war sie unerbittlich gegenüber allen
Autoren, bei denen sie auch nur das leiseste Haschen nach
dem Effekt, die mindeste Beimischung der Unredlichkeit
oder des Schwulstes aufzuspüren glaubte: Corneille, Hugo,
Nietzsche. Für sie zählte nur der Stil der völligen
Entäußerung, der die Nacktheit der Seele wiedergab. »Das
Ringen um den Ausdruck«, schrieb sie mir, »erstreckt sich
nicht allein auf die Form, sondern auf das Denken und das
ganze innere Sein. Solange die Nacktheit des Aus-
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drucks noch nicht erreicht ist, so lange ist auch das Denken
der wahren Größe noch nicht nahegekommen, geschweige
daß es sie berührt hätte. ... Die wahre Art des Schreibens
ist: zu schreiben, wie man übersetzt. Übersetzt man einen in
einer Fremdsprache geschriebenen Text, so versucht man
auch nicht, ihm etwas hinzuzufügen; im Gegenteil, man
befleißigt sich mit religiöser Gewissenhaftigkeit, ihm nichts
hinzuzufügen. Auf die nämliche Weise muß man auch einen
nicht geschriebenen Text zu übersetzen versuchen.«
Nachdem Simone Weil einige Wochen bei mir verbracht
hatte, fand sie, daß man sie mit einer allzu großen Rücksicht
behandle, weshalb sie auf einem anderen Gut zu arbeiten
beschloß, um dort als eine Unbekannte unter Unbekannten
das Los der wahren Landarbeiter zu teilen. Ich veranlaßte,
daß ein Großgrundbesitzer des benachbarten Dorfes sie bei
sich einstellte, um bei der Weinlese mitzuhelfen. Sie
arbeitete dort über einen Monat mit heroischer Ausdauer,
und trotz ihrer Schwäche und der fehlenden Gewöhnung
weigerte sie sich stets, ihre Arbeit früher zu verlassen als
die kräftigen Bauern, mit denen sie zusammen war. Ihre
Kopfschmerzen waren von solcher Heftigkeit, daß sie ihre
Arbeit mitunter in einem Alptraum zu verrichten glaubte.
»Eines Tages«, gestand sie mir, »fragte ich mich, ob ich
nicht, ohne es gewahr zu werden, gestorben und zur Hölle
gefahren sei, und ob nicht dies die Hölle sei: ewig
Weintrauben zu lesen...« Nachdem sie sich noch dieser
letzten Erfahrung unterzogen hatte, kehrte sie nach
Marseille zurück,
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wo ihre Eltern, die der Einmarsch der deutschen Truppen
aus Paris vertrieben hatte, sich damals aufhielten. Ich
besuchte sie dort verschiedene Male in ihrer kleinen
Wohnung auf den Catalans, aus deren Fenster man einen
herrlichen Blick über die unermeßliche Weite des Meeres
hatte. Unterdessen rüsteten ihre Eltern sich zur Abfahrt
nach den Vereinigten Staaten. Ihre Verbundenheit mit dem
unglücklichen Vaterlande und das Verlangen, das Los ihrer
verfolgten Freunde zu teilen, ließen sie lange schwanken, ob
sie ihren Eltern folgen sollte. Endlich entschloß sie sich doch
dazu, in der Hoffnung drüben eine leichte Gelegenheit zu
finden, nach Rußland oder nach England zu gelangen.
Anfang Mai 1942 sah ich sie zum letztenmal. Sie brachte mir
eine mit Papieren vollgestopfte Aktentasche auf den
Bahnhof, mit der Bitte, jene zu lesen und während ihres
Exils in meine Obhut zu nehmen. Beim Abschied sagte ich zu
ihr in scherzendem Ton und um meine Bewegung zu
verbergen: »Auf Wiedersehen, in dieser Welt oder in jener!«
Sie wurde Unversehens ernst und sagte: »In jener Welt sieht
man sich nicht mehr wieder.,« Sie wollte damit zum
Ausdruck bringen, daß die Grenzen, die unser »empirisches
Ich« begründen, in der Einheit des ewigen Lebens
dahinfallen. Ich blickte ihr einen Augenblick nach, während
sie sich auf der Straße entfernte. Wir sollten uns nicht
wiedersehen: die Berührungen des Ewigen in der Zeit sind
nur von schmerzlich flüchtiger Dauer.
Nach Hause zurückgekehrt, durchlief ich die Aufzeichnungen
von Simone Weil: etwa zehn dicke
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Hefte, in die sie täglich ihre Gedanken eingetragen hatte,
untermischt mit Zitaten in allen Sprachen und mit streng
persönlichen Aufzeichnungen. Bis dahin hatte ich von ihr
nur einige Verse und die Arbeiten über Homer gelesen, die
in den »Cahiers du Sud« unter dem anagrammatischen
Pseudonym Emile Novis erschienen waren. Sämtliche
nachstehenden Texte sind diesen Heften entnommen. Die Zeit
erlaubte mir, noch einmal an Simone Weil zu schreiben, um
ihr zu sagen, wie sehr mich die Lektüre dieser Seiten
erschüttert hatte. Aus Oran empfing ich folgendes Schreiben
von ihr, das ich mir, trotz seines persönlichen Tones, in
extenso zu zitieren erlaube, weil es die Veröffentlichung
dieses Buches erklärt und rechtfertigt:
»Lieber Freund,
Nun scheint der Augenblick gekommen, sich Lebewohl
zu sagen. Es wird nicht leicht sein, häufige
Nachrichten von Ihnen zu erhalten. Ich hoffe, das
Schicksal wird jenes Haus in Saint-Marcel verschonen,
in dem drei Wesen leben, die sich lieben. Das ist
etwas über die Maßen Kostbares. Das menschliche
Leben ist etwas so Zerbrechliches, so Ausgesetztes,
daß ich nicht lieben kann, ohne zu zittern. Noch
niemals habe ich mich wahrhaft damit abfinden
können, daß nicht alle anderen menschlichen Wesen
außer mir vor jeder Möglichkeit des Unglücks gänzlich
behütet sind. Das ist eine schwere Verfehlung gegen
die Pflicht der Ergebung in Gottes Willen. Sie
schreiben mir, daß Sie in meinen Heften, außer
Dingen, die Sie selbst gedacht haben, andere gefunden
haben, die Sie nicht gedacht haben, die Sie
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aber erwarteten; sie gehören Ihnen also, und ich hoffe,
daß sie, nachdem sie in Ihnen eine Verwandlung
erfahren haben, eines Tages in einem Ihrer Werke ans
Licht treten werden. Denn es ist für eine Idee gewiß
weitaus besser, daß ihr Schicksal mit dem Ihren statt
mit dem meinen verknüpft sei. Ich habe ein Vorgefühl,
als ob das meine auf Erden niemals ein gutes sein
werde - nicht daß ich darauf zählte, anderswo ein
besseres zu finden: das kann ich nicht glauben. Ich bin
nicht von der Art, daß es gut wäre, sein Schicksal mit
mir zu verknüpfen. Die Menschen haben das auch
immer mehr oder weniger deutlich gespürt; aber die
Ideen scheinen, ich weiß nicht aus welchem
geheimnisvollen Grunde, ein schwächeres
Unterscheidungsvermögen zu besitzen. Denen, die mich
aufgesucht haben, wünsche ich nichts mehr als eine
gute Unterkunft, und ich wäre sehr glücklich, wenn sie
unter Ihrer Feder heimisch würden und sich dort derart
veränderten, daß sie Ihr Bild widerspiegeln. Dies würde
mich ein wenig des Gefühls der Verantwortung
entheben und mir die erdrückende Last des Gedankens
etwas erleichtern, daß ich, auf Grund meiner
verschiedenen Mängel, unfähig bin, die Wahrheit so
darzubieten, wie sie mir erscheint, indes sie, dünkt
mich, bisweilen geruht, sich aus einem unbegreiflichen
Übermaß der Barmherzigkeit von mir wahrnehmen zu
lassen. Sie werden, denke ich, dies alles mit der
gleichen Einfalt aufnehmen, mit der ich es Ihnen sage.
Für den, der die Wahrheit liebt, sind beim Akt des
Schreibens die Hand, die die Feder führt, der Körper
und die Seele, die dazu gehören, mit-
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samt ihrem ganzen sozialen Beiwerk, nur Dinge von
infinitesimaler Wichtigkeit. Zumindest ist dies das Maß
an Wichtigkeit, daß ich, hinsichtlich dieses Aktes, nicht
nur meiner Person, sondern auch der Ihren und der
jedes Autors, den ich schätze, beimesse. In diesem
Bereich zählt für mich nur die Person derer, die ich
mehr oder minder verachte.
Ich weiß nicht, ob ich Ihnen bezüglich dieser Hefte
gesagt habe, daß Sie daraus nach Ihrem Ermessen, was
und wem Sie wollen, vorlesen können, daß Sie aber kein
Blatt fremden Händen überlassen mögen. ... Wenn Sie
im Verlauf von drei oder vier Jahren nichts mehr von
mir hören, so betrachten Sie diese Aufzeichnungen
völlig als ihr Eigentum. Ich schreibe Ihnen dies alles,
um leichteren Sinnes zu scheiden. Ich bedauere nur,
Ihnen nicht alles anvertrauen zu können, was ich noch
in mir trage und was noch unentwickelt ist. Zum Glück
aber ist das, was in mir ist, entweder ohne Wert, oder
es hat seine Stätte außerhalb meiner, in vollkommener
Gestalt, an einem reinen Orte, wo es jedem Zugriff
unerreichbar ist und woher es jederzeit wieder her-
absteigen kann. Darum kann nichts, was mich betrifft,
von der geringsten Wichtigkeit sein.
Ich möchte auch gerne glauben, daß Sie nach dieser
leichten Erschütterung der Trennung, was mir auch
zustoßen sollte, sich dieserhalb niemals bekümmern
und daß Sie, wenn Sie manchmal an mich denken
sollten, sich meiner erinnern wie eines Buches, das man
als Kind gelesen hat. Ich möchte niemals einen anderen
Raum in dem Herzen irgend eines Men-
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schen, den ich liebe, einnehmen, um gewiß zu sein, ihm
niemals irgend ein Leid zu bereiten. Ich werde die
Großmut nicht vergessen, die Sie getrieben hat, mir
einige jener Worte zu sagen und zu schreiben, die uns
wohltun, selbst wenn wir, wie dies für mich zutrifft,
ihnen keinen Glauben schenken können. Sie sind
dennoch eine Stütze. Allzusehr vielleicht. Ich weiß
nicht, ob wir uns noch lange voneinander Nachricht
geben können. Aber man muß denken, daß dies nicht
von Wichtigkeit ist.... Wenn ich ein Heiliger wäre, hätte
ich das in Ihrem Schreiben enthaltene Angebot
annehmen können. Ebenso hätte ich es annehmen
können, wenn ich ein sehr gemeiner Mensch wäre. Denn
in dem ersten Falle zählte mein Ich nicht, und in dem
zweiten zählte nur mein Ich allein. Da ich weder das
eine noch das andere bin, erübrigt sich die Frage.«
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zu entwerfen, dessen Eigenartigkeit alle Freunde lebendiger
Einzelzüge und des Anekdotischen entzücken würde. Ich habe
sie jedoch zu sehr geliebt, um ihr dies antun zu können: ein
Bruder kann von einer Schwester nicht so reden wie ein
Schriftsteller von einem Mitbruder. Es wäre auch fast ein
wenig geschmacklos, ein Gericht von so hohem geistigem
Gehalt mit pittoresken Dreingaben zu würzen. Ich
beschränke mich also darauf, ihr Leben vor und nach
unserem Zusammentreffen in seinen Grundzügen
nachzuzeichnen.
Geboren zu Paris im Jahre 1909, vormals Schülerin von
Alain, trat sie schon früh in die École normale supérieure
ein und bestand dort mit glänzendem Erfolg ihr
Philosophieexamen. Hierauf unterrichtete sie an
verschiedenen höheren Lehranstalten und nahm sehr bald
am politischen Leben teil. Es wird niemand wundernehmen,
daß ihre revolutionären Überzeugungen, die sie ohne die ge-
ringste Rücksicht auf berufliche oder gesellschaftliche
Konvenienzen offen zur Schau trug, ihr von seiten der
vorgesetzten Behörden einige Mißhelligkeiten eintrugen, die
sie mit überlegener Geringschätzung hinnahm. Einem
Generalinspektor, der ihr Disziplinarmaßnahmen androhte,
die unter Umständen ihre Enthebung vom Lehramt zur Folge
haben könnten, entgegnete sie mit lächelnder Miene: »Herr
Inspektor, ich habe die Amtsenthebung stets als die normale
Krönung meiner beruflichen Laufbahn betrachtet.« Sie
kämpfte in den Reihen der äußersten Linken: die
Mitgliedschaft irgendeiner politischen Formation jedoch
lehnte sie ab und be-
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schränkte sich darauf, die Schwachen und Unterdrückten zu
verteidigen, gleichviel, welcher Partei oder Rasse sie
angehörten. Da sie das Los der Armen teilen wollte,
beantragte sie eine zeitweilige Beurlaubung und ließ sich bei
den Renault-Werken einstellen, wo sie, ohne irgend jemand
ihre Herkunft und ihren Beruf zu verraten, während eines
Jahres als Fräserin arbeitete. Sie hatte ein Zimmer in einem
Arbeiterviertel gemietet und lebte ausschließlich von dem
spärlichen Ertrag ihrer Arbeit. Eine Brustfellentzündung
nötigte sie, mit diesem Experiment auszusetzen. Als der
Spanienkrieg ausbrach, schloß sie sich den Reihen der Roten
an, doch ließ sie sich angelegen sein, niemals von ihren
Waffen Gebrauch zu machen, und war so eher eine
antreibende Kraft, als daß sie einen eigentlich
kämpferischen Beitrag geliefert hätte. Ein Unfall - sie hatte
sich aus Unachtsamkeit die Füße mit siedendem Öle verbrüht
- veranlaßte ihre Rückführung nach Frankreich. Unter
diesen tragischen Umständen, wie auch sonst während ihres
ganzen Lebens, ließen ihre Eltern, an denen sie zärtlich
hing, die aber die heroischen Torheiten ihrer Tochter fast
zur Verzweiflung brachten, ihr alle Sorge und Pflege
angedeihen, die gewiß die Auflösung dieses Daseins, das
nichts Unreines auf Erden festhielt, hinauszögerten. »Jene
Kraft, die die Karamasoffs aus ihrer niederen Natur
schöpfen« und die den Menschen an der. Erde haften läßt,
mangelte ihr in einem seltenen Grade.
Ehe ich hier das Verhalten Simone Weils wahrend jener
Ereignisse schildere, die zwischen 1940 und
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1944 die Ursache so tiefgehender Spaltungen zwischen den
Franzosen waren, möchte ich mit Nachdruck hervorheben,
daß es ihr Andenken beleidigen hieße, wollte man den
ewigen und transzendenten Gehalt ihrer Botschaft im Sinne
der politischen Aktualität auslegen und in den
Meinungsstreit der
Parteien hinabziehen. Keine soziale Gruppe oder
Weltanschauung hat das Recht, sich auf sie zu berufen. Ihre
Liebe zum Volk und ihr Haß gegen jede Unterdrückung
reichen nicht hin, sie für die Linksparteien in Anspruch zu
nehmen; ebensowenig berechtigen ihre Leugnung des
Fortschritts und ihr Kult der Überlieferung, sie der Rechten
einzugliedern. Jedesmal, wenn sie sich politisch einsetzte,
tat sie dies mit der nämlichen Leidenschaft, mit der sie alles
betrieb; weit entfernt jedoch von jeder Vergötzung einer
Idee, einer Nation oder Klasse, wußte sie, daß das Soziale
der Bereich des Relativen und des Übels par excellence ist -
»Die Betrachtung des Sozialen«, schrieb sie, »ist eine ebenso
wirksame Reinigung, als zöge man sich aus der Welt zurück,
und darum war es nicht verkehrt, daß ich mich so lange mit
der Politik eingelassen habe.« - und daß innerhalb dieser
Ordnung die Pflicht der übernatürlichen Seele nicht in der
fanatischen Anhängerschaft an eine Partei besteht, sondern
in dem unablässigen Versuch, dadurch, daß man auf die
Seite der Besiegten und Unterdrückten tritt, das Gleich-
gewicht wiederherzustellen. Dies war der Grund, warum sie,
trotz ihrer Abneigung gegenüber dem Kommunismus, nach
Rußland gehen wollte, als dieses Land unter dem deutschen
Stiefel blutete.
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Dieser Begriff des Gegengewichts ist ein wesentlicher \
Bestandteil ihrer Auffassung der politischen und sozialen
Aktivität: »Weiß man, wodurch das Gleichgewicht der
Gesellschaft gestört ist, so muß man sein Möglichstes tun,
um der zu leichten Schale ein Gewicht hinzuzufügen. Auch
wenn dieses Gewicht das Böse ist, so mag es, wenn man es in
dieser Absicht handhabt, dennoch vielleicht gelingen, sich
nicht zu beflecken. Aber man muß das Gleichgewicht erfaßt
haben und immer bereit sein, sich auf die Gegenseite zu
schlagen, wie die Gerechtigkeit, ,diese Flüchtlingin aus dem
Lager des Siegers'.« Aus einer solchen Gesinnung fühlte sie
sich, seit dem Waffenstillstand von 1940, zu jener durch ihre
Ursprünge und Ziele so verschiedenartigen Bewegung
hingezogen, die man heute unter dem Namen Resistance
zusammenfaßt. Schon vor ihrer Abfahrt nach Amerika war
sie mit der Polizei des »Französischen Staates«
zusammengestoßen, und es könnte wohl kein Zweifel über ihr
Schicksal bestehen, wenn sie zur Zeit der großen Razzien der
Gestapo noch in Frankreich gewesen wäre. Gleich nach
ihrem Eintreffen in den Vereinigten Staaten unternahm sie
Schritte, um sich in die Streitkräfte der Resistance
aufnehmen zu lassen. Im November 1942 ging sie nach
London und arbeitete dort einige Zeit auf einer Dienststelle
unter Maurice Schumann.
Sie bat inständig, in einer Mission nach Frankreich
geschickt zu werden, aber ihre allzu leicht erkennbare
Rassenzugehörigkeit ließ es nicht ratsam scheinen, ihr
hierin zu willfahren. Derart der Möglichkeit beraubt, sich
den Gefahren auszusetzen, die
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damals auf den Franzosen lasteten, wollte sie wenigstens
deren Entbehrungen teilen; und so legte sie sich die strenge
Verpflichtung auf, keine größere Nahrungsmenge zu sich zu
nehmen, als den Franzosen damals nach ihren
Lebensmittelkarten, zustand. Diese Zwangsdiät genügte,
ihre an sich schon erschütterte Gesundheit bald völlig zu
untergraben. Von Hunger und Lungenschwindsucht
zerfressen, mußte sie schließlich ein Krankenhaus aufsuchen.
Sie litt dort viel unter den Rücksichten einer gewissen
Sonderbehandlung, die man ihr angedeihen ließ. Schon als
sie noch bei mir weilte, war mir diese Eigentümlichkeit ihres
Charakters aufgefallen: sie verabscheute es, in eine Lage
versetzt zu werden, wo sie irgendwelche Vergünstigungen
genoß, und sie entzog sich mit einer wilden Scheu jeder Für-
sorge, die sie über das allgemeine Niveau hinausheben
wollte. Sie fühlte sich nur wohl, wenn sie sich auf der
untersten Sprosse der sozialen Leiter befand, durch nichts
unterschieden von der Masse der Armen und Enterbten
dieser Welt. Aufs Land gebracht, starb sie dort, nachdem sie
noch einige Freude über dieses Wiedersehen mit der Natur
bezeigt hatte. Die Einzelheiten ihres Endes sind mir
unbekannt. »Die Agonie«, sagte sie, »ist die letzte dunkle
Nacht, deren selbst die Vollkommenen bedürfen, um die
absolute Reinheit zu erreichen; und darum ist es besser, daß
sie bitter sei.« Ich wage zu glauben, ihr Leben war hart
genug, daß ihr die Gnade eines friedlichen Sterbens gewährt
wurde.
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nur abschwächen und verraten kann. Meine einzige
Berechtigung, diese Texte vorzulegen, entspringt dem
Umstand, daß meine Freundschaft mit der Verfasserin und
die langen Gespräche, die wir miteinander geführt haben,
mir den Zugang zu ihren Gedanken ein wenig erleichtern
und mir so erlauben, gewisse allzu schroffe oder
ungenügend ausgearbeitete Formulierungen leichter in ihr
genaues Licht zu rücken und in ihrem organischen Kontext
zu zeigen. Man darf in der Tat nicht außer acht lassen, daß
es sich hier, wie bei Pascal, um nur vorläufige Bausteine
handelt, die, wie der Tag es eben mit sich brachte, oft in
Eile hingesetzt wurden, im Hinblick auf ein vollständigeres
und umfassenderes Ganzes, das leider niemals zustande
kam.
Diese Niederschriften sind so nackt und einfach1 wie die
innere Erfahrung, deren Ausdruck sie sind. Zwischen Leben
und Wort tritt nicht die geringste Auspolsterung: Seele,
Gedanke und Ausdruck bilden einen einzigen nahtlosen
Block. Selbst wenn ich Simone Weil nicht persönlich gekannt
hätte, ihr Stil allein genügte, mir die Echtheit ihres
Zeugnisses zu verbürgen. Was an ihren Gedanken vor allem
auffällt, ist die Vielseitigkeit ihrer möglichen An-
wendungen; ihre Einfachheit vereinfacht alles, was sie
berühren; sie tragen uns auf jene Gipfel des Seins empor,
wo das Auge mit einem einzigen Blick eine Unzahl
gestaffelter Weiten überschaut. »Man soll«, sagte sie, »alle
Ansichten gelten lassen, aber
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sie auf entsprechenden Ebenen einander über- und
unterordnen.« Und weiter: »Alles, was wirklich genug ist,
um übereinander gestaffelte Auslegungen in sich zu
begreifen, ist unschuldig oder gut.« Dieses Kennzeichen der
Größe und Reinheit begegnet uns auf jeder Seite ihres
Werkes.
Man nehme etwa folgenden Gedanken, der den ewigen
Widerstreit zwischen Optimismus und Pessimismus, dessen
Lösung Leibniz nicht gelang, schlichtet: »Es gibt alle
möglichen Grade des AbStandes zwischen dem Geschöpf und
Gott. Einen Abstand, wo die Liebe zu Gott unmöglich ist:
Materie, Pflanzen, Tiere. Das Böse ist dort so vollständig,
daß es sich selber aufhebt; also daß es kein Böses mehr gibt:
Spiegel der göttlichen Unschuld. Wir befinden uns an jener
Stelle, wo die Liebe gerade möglich ist. Das ist ein großes
Vorrecht, denn die vereinigende Liebe ist dem Abstand
proportional. Gott hat eine Welt erschaffen, die nicht die
beste der möglichen Welten ist, sondern die alle Grade des
Guten und des Schlechten enthält. Wir befinden uns an jener
Stelle, wo sie die schlechteste der möglichen Welten ist.
Denn jenseits liegt die Stufe, wo das Böse zur Unschuld
wird.« Oder diesen anderen Gedanken, der das Problem des
Bösen und des Übels bis in die geheimen Verborgenheiten
der göttlichen Liebe erhellt: »Alle erschaffenen Dinge
weigern sich, mir als Ziele zu gelten. Hierin liegt die
höchste Barmherzigkeit Gottes gegen mich. Und eben das ist
das Übel. Gottes Barmherzigkeit erscheint in dieser Welt
unter der Gestalt des Übels.« Und diese glatte und
endgültige
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Widerlegung aller Denker, die, wie Schopenhauer oder
Sartre, aus der Anwesenheit des Bösen und des Übels in der
Welt einen grundsätzlichen Pessimismus entwickeln: »Zu
sagen, die Welt sei nichts wert, dieses Leben sei nichts wert,
und zum Beweis das Übel anzuführen, ist widersinnig; denn
wenn sie nichts wert sind, wessen beraubt dann das Übel?«
Oder auch dieses folgendermaßen formulierte Gesetz der
Einfügung des Höheren in das Niedere: »Jede einer anderen
transzendente Ordnung kann sich dieser nur in der Gestalt
eines unendlich Kleinen einfügen«, welches das Pascalsche
Gesetz der drei Ordnungen ergänzt und vertieft. Die Welt
des Lebendigen erscheint in der Tat als ein unendlich
Kleines innerhalb der stofflichen Welt: Was bedeuten die
Lebewesen, in Vergleichung mit der Masse des Planeten und
vielleicht des Kosmos? Dasselbe gilt für die Welt des Geistes
hinsichtlich der Welt des Lebendigen: mindestens eine halbe
Million Gattungen von Lebewesen erfüllen die Erde, und von
diesen allen besitzt nur eine einzige »il ben dell' intelletto«.
Und was die Welt der Gnade angeht, so stellt auch diese
ihrerseits wiederum nur ein unendlich Kleines in der Masse
unserer weltlichen Gedanken und Neigungen dar: die Gleich-
nisse des Evangeliums von dem Sauerteig und dem Senfkorn
bezeugen genugsam diesen »Infinitesimalcharakter des
reinen Guten«.
Das gesamte Werk von Simone Weil wird von einem
ungeheuren Verlangen nach innerlicher Läuterung bewegt
und durchdrungen, das noch bis in ihre Me-
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taphysik und Theologie hinein wirksam ist. Von ganzer Seele
ausgeredet auf ein reines und absolutes Gutes, dessen
Existenz ihr durch nichts hienieden bewiesen werden kann,
dessen Wirklichkeit ihr jedoch innerlich gewisser ist als
alles, was in ihr und um sie existiert, will sie ihren Glauben
an dieses vollkommene Sein in einem Grunde verankern, den
weder Schicksalsschläge noch irgend ein Unglück, kein
Strudel der Materie oder des Geistes jemals erschüttern
können. Hierzu ist es vor allem unerläßlich, das innere
Leben von allen Formen der Illusion und des Ersatzes
[fromme Einbildungen, religiöse »Tröstungen«,
ungeläuterter Glaube an die eigene Unsterblichkeit usw.] zu
befreien, welche sich nur allzu oft den göttlichen Namen
anmaßen und in Wirklichkeit nur Schlupfwinkel unserer
Schwachheit und unseres Stolzes sind. »Man soll über die
Stufe wachen, auf der man dem Unendlichen seinen Ort
anweist. Ist dies eine Stufe, die nur dem Endlichen
angemessen ist, so ist es von geringem Belang, mit welchem
Namen man es benennt.« Die Schöpfung spiegelt Gott in
ihrer Schönheit und Harmonie, aber durch das Übel und den
Tod, die ihr einwohnen, und durch die fühllose Notwendig-
keit, die sie beherrscht, offenbart sie auch die Abwesenheit
Gottes. Wir sind von Gott ausgegangen: das bedeutet, daß
wir das Siegel dieser Herkunft an uns tragen, und bedeutet
zugleich, daß wir von ihm getrennt sind. Die Etymologie des
Wortes »existieren« [hinausgestellt sein] ist in dieser Hin-
sicht höchst aufschlußreich: wir existieren, wir sind nicht.
Gott, der das Sein ist, hat sich gewissermaßen
26
zurückgezogen, damit wir existieren könnten; er hat darauf
verzichtet, alles zu sein, damit wir etwas seien; er hat sich
zu unseren Gunsten seiner Notwendigkeit begeben, die eines
ist mit dem Guten, um die Herrschaft an eine andere
Notwendigkeit abzutreten, der das Gute fremd und
gleichgültig Das Zentralgesetz dieser Welt, aus der sich Gott
durch seinen Schöpfungsakt selbst zurückgezogen hat, ist
das Gesetz der Schwerkraft, das sich analog in allen
Schichten der Existenz wiederfindet. Die Schwerkraft ist die
»Deifugal«-Kraft par excellence. Sie treibt jedes Geschöpf,
nach allem zu streben, was seiner Erhaltung und seinem
Wachstum dient, und, nach dem Wort des Thukydides, alle
Macht auszuüben, die ihm zu Gebote steht. Im Bereich des
Seelischen findet sie ihren Ausdruck in allen jenen Trieben
der Selbstbehauptung oder Selbstwiederherstellung, in allen
unterschwelligen Ausflüchten [innere Lüge, Flucht in den
Traum und die falschen Ideale, eingebildete Übergriffe auf
die Vergangenheit oder Zukunft usw.], deren wir uns
bedienen, um unsere wankende Existenz von innen her zu
festigen, das heißt, um außerhalb Gottes und im Widersatz
zu ihm zu verharren. Simone Weil stellt die Frage nach dem
Heil mit folgenden Worten: »Wie entrinnt man dem, was in
uns der Schwerkraft gleicht?« Einzig durch die Gnade. Gott
durchdringt, um bis zu uns zu gelangen, die unendliche
Dichte von Zeit und Raum; seine Gnade ändert nichts an
dem blinden Spiel der Notwendigkeit und des Zufalls, die
diese Welt lenken: sie dringt in unsere Seelen ein, wie der
Wasser-
27
tropfen die geologischen Schichten durchsichert, ohne ihre
Struktur zu verändern, und dort wartet sie in der Stille, daß
wir einwilligen, wieder zu Gott zu werden. Da die
Schwerkraft das Gesetz der Erschaffung ist, besteht die
Arbeit der Gnade darin, uns zu »entschaffen«. Aus Liebe
hat Gott eingewilligt, nicht mehr alles zu sein, damit wir
etwas seien; aus Liebe sollen wir einwilligen, nichts mehr zu
sein, damit Gott wieder alles werde. Es gilt also, in uns das
Ich aufzuheben, »diesen Schatten, den Sünde und Irrtum,
welche das Licht Gottes aufhalten, werfen und dem wir ein
wesenhaftes Sein zuschreiben«. Außer dieser gänzlichen
Demut, dieser bedingungslosen Einwilligung darin, daß wir
nichts seien, bleiben alle Formen des Heroismus und der
Aufopferung der Schwerkraft und der Lüge unterworfen;
»Man kann nichts darbringen als nur das Ich. Andernfalls
ist alles, was man Opfer nennt, nur ein Etikett auf etwas,
das man an Stelle des Ich darbringt.«
Um das Ich zu töten, gilt es, sich allen Bissen des Lebens
nacht und wehrlos auszusetzen, die Leere, das gestörte
Gleichgewicht hinzunehmen, niemals eine Entschädigung
für das Unglück zu suchen und vor allem die Tätigkeit der
Einbildungskraft in sich zum Stillstand zu bringen, »die
unablässig bestrebt ist, die Ritzen zu verstopfen, durch
welche die Gnade eindringen könnte«. Alle Sünden sind
Versuche, die Leere zu fliehen. Ferner gilt es, der Ver-
gangenheit wie der Zukunft zu entsagen, denn das Ich ist
nichts anderes als eine Verdichtung von Vergangenheit und
Zukunft um eine stets versagende
28
Gegenwart. Erinnerung und Hoffnung verhindern, daß das
Unglück zu unserem Heil ausschlägt, indem sie imaginären
Erhöhungen [ich war, ich werde sein...] ein unbegrenztes
Feld eröffnen; die Treue aber zum gegenwärtigen
Augenblick macht den Menschen wahrhaft zunicht und öffnet
ihm dadurch die Pforten der Ewigkeit.
Das Ich muß von innen getötet werden durch die Liebe. Es
kann aber auch von außen getötet werden durch das
äußerste Leiden und die Verworfenheit. Es gibt Vagabunden
und Prostituierte, die nicht mehr Eigenliebe haben als die
Heiligen und deren ganzes Leben sich auf den
gegenwärtigen Augenblick beschränkt. Hierin liegt das
Drama der Verworfenheit: was sie zu etwas Unheilbarem
stempelt, ist nicht der Umstand, daß das Ich, welches sie
zerstört, etwas Kostbares wäre, denn es ist zur Zerstörung
bestimmt, sondern daß sie Gott verhindert, es selbst zu
zerstören, daß sie der ewigmachenden Liebe ihre Beute
raubt.
Simone Weil macht einen strengen Unterschied zwischen
diesem übernatürlichen Selbstopfer und allen übrigen
Formen der menschlichen Größe und des menschlichen
Heroismus. Gott ist hienieden das schwächste und am
meisten entblößte Wesen; die Liebe zu einem Götzen ist für
den fleischlichen Teil der Seele eine Erfüllung, die Liebe zu
Gott läßt ihn leer. Wer sich zu Gott auf den Weg machen
will, der muß sich vergeblich abmühen, muß jeden Rausch
der Leidenschaft und des Stolzes, die uns das entsetzliche
Geheimnis des Todes verhüllen, von sich abweisen und sich
einzig führen lassen von jenem
29
»leisen Wehen«, von dem die Bibel spricht, welches das
Fleisch und das Ich nicht wahrnehmen können. »Wie Petrus
zu Christus sagen: ich werde dir treu bleiben, hieß schon,
ihn verleugnen, denn es hieß annehmen, der Urquell der
Treue entspringe in einem selbst und nicht in der Gnade. Da
er ein Auserwählter war, ist diese Verleugnung offenkundig
geworden für alle und für ihn. Wie viele andere verfallen in
ähnliche Prahlereien - und kommen niemals zur
Erkenntnis.« Es ist leicht, für das zu sterben, was stark ist;
denn die Teilhabe an der Kraft versetzt uns in einen
betäubenden Rausch. Aber es ist übernatürlich, für das zu
sterben, was schwach ist: Tau- sende von Männern waren
imstande, für Napoleon den Heldentod zu sterben, indes die
Jünger Christi ihn in seinem Todeskampf verließen - für die
Märtyrer nachher war das Opfer bereits leichter, denn sie
hatten schon eine Stütze in der sozialen Macht der Kirche.
»Die übernatürliche Liebe hat keinerlei Berührung mit der
Gewalt, aber sie schützt auch die Seele nicht vor der Kälte
der Gewalt, der Kälte des Stahls. Nur eine irdische Bindung,
wenn sie genügend stark ist, kann einen Schutz vor der
Kälte des Stahls bieten. Die Rüstung ist aus Stahl ge-
schmiedet wie das Schwert. Begehrt man eine Liebe, die die
Seele vor Verwundungen schützt, so muß man etwas anderes
lieben als Gott.« Der Held trägt eine Rüstung, der Heilige
ist nackt. Während aber die Rüstung vor Streichen schützt,
verhindert sie zugleich die unmittelbare Berührung mit dem
Wirklichen und läßt vor allem keinen Zugang zu der dritten
Dimension finden, welche die
30
Dimension der übernatürlichen Liebe ist. Damit die Dinge
wirklich für uns existieren, müssen sie in uns eindringen.
Deshalb wird die Nacktheit gefordert: nichts vermag in uns
einzudringen, wenn die Rüstung uns zugleich vor
Verwundungen schützt und vor der Tiefe, die diese
bloßlegen. Jede Sünde ist ein Attentat auf die dritte
Dimension, der Versuch, ein Gefühl, das in die Tiefe dringen
möchte, auf die Ebene des Unwirklichen, des Schmerzlosen
zurückzuschieben. Dies ist ein unerbittliches Gesetz: man
vermindert sein eigenes Leiden in eben dem Grade, in
welchem man die innige und unmittelbare Verbindung mit
dem Wirklichen in sich schwächt. Im äußersten Falle breitet
sich das Leben zur bloßen Oberfläche aus: man leidet nur
noch im Traum, denn die auf eine bloße Zweidimensionalität
verkürzte Existenz wird platt wie ein Traum. Das gleiche
gilt von den Tröstungen, den Illusionen, den Prahlereien und
allen kompensierenden Reaktionen, mit denen wir die
Leerräume auszufüllen trachten, die der Zahn des
Wirklichen in uns hineinbeißt. Jede Leere, jeder Hohlraum
schließt in der Tat die Gegenwart der dritten Dimension ein;
in eine Oberfläche dringt man nicht ein, und einen Leerraum
zuzuschütten bedeutet, daß man sich an die Oberfläche
flüchtet und sich dort abschließt. Der Spruch der alten
Physik vom horror vacui der Natur findet seine strenge
Anwendung auf die Psychologie. Aber gerade dieser Leere
bedarf die Gnade, um in uns einzutreten.
Dieser Prozeß der »Entschaffung«, welcher der einzige Weg
zum Heil ist, ist das Werk der Gnade und
31
nicht des Willens. Der Mensch erhebt sich nicht zum Himmel,
indem er sich an seinem eigenen Schopf emporzieht. Der
Wille ist nur zu knechtischen Arbeiten gut: er sichert die
rechte Ausübung der natürlichen Tugenden, die dem Werk
der Gnade vorausgehen müssen, wie das Umpflügen des
Feldes der Aussaat. Das göttliche Samenkorn aber ist an-
derer Herkunft.... Wie Plato und Malebranche mißt Simone
Weil in diesem Bereich der Aufmerksamkeit eine sehr viel
größere Bedeutung bei als dem Willen. »Man soll Gut und
Böse mit gleichem Sinne gelten lassen, aber mit wirklich
gleichem Sinne, das heißt, das Licht der Aufmerksamkeit
gleichermaßen auf das eine wie das andere richten. Dann
gewinnt das Gute automatisch die Oberhand.« Eben diesen
höheren Automatismus gilt es hervorzubringen; und man
erreicht ihn, nicht indem man sein Ich verkrampft und sein
Vermögen forciert, um das Gute zu erzwingen - nichts
würdigt so sehr herab wie die Vollbringung einer hohen Tat
in einem niederen Zustand der Seele -, sondern indem man
durch Selbstauslöschung und Liebe zu jenem Zustand einer
vollkommenen Fügsamkeit gegenüber der Gnade gelangt,
aus welchem das Gute spontan hervorgeht. »Das Handeln
ist der Zeiger der Waage. Man soll nicht an den Zeiger
rühren, sondern die Gewichte verändern.« Es ist leider
leichter, den Zeiger in Unordnung zu bringen, als sein
eigenes Gewicht auf dieser »goldenen Waage des Zeus« zu
verändern.
Die religiöse Aufmerksamkeit erhebt uns also über die
»Verwirrung der Gegensätze« und die Wahl
32
zwischen Gut und Böse. »Die Wahl, ein Begriff der niederen
Bereiche.« Solange ich noch schwanke, ob ich eine schlechte
Tat tun soll oder nicht - zum Beispiel diese Frau, die sich
mir anbietet, zu besitzen oder nicht, diesen Freund zu
verraten oder nicht -und selbst wenn ich mich dabei zuletzt
für das Gute entscheide, so lange erhebe ich mich noch kaum
über das Böse, das ich abweise. Damit meine »gute« Tat
wahrhaft rein sei, muß ich erst dieses erbärmlichen Hin-
und Herschwankens Herr werden, muß dasGute, das ich
nach außen vollbringe, die genaue Entsprechung meiner
inneren Notwendigkeit sein. Hierin ähnelt die Heiligkeit der
Verworfenheit1: ebenso wie ein gemeiner Mensch nicht
zögert, eine Frau in Besitz zu nehmen, wenn seine
Leidenschaft spricht, oder einen Freund zu verraten, wenn
sein Vorteil es fordert, ebenso bleibt dem Heiligen keine
Wahl, ob er rein und treu bleiben will; er kann gar nicht
anders; er strebt dem Guten zu, wie die Biene der Blüte. Das
Gute, das man wählt, indem man es mit dem Bösen auf die
gleiche Waage legt, hat fast nur einen sozialen Wert; in den
Augen dessen, der ins Verborgene sieht, entspringt es den
gleichen Antrieben und erscheint ebenso gewöhnlich wie das
Böse. Darin gründet die oft bemerkte Verwandtschaft
zwischen gewissen Formen der »Tu-
1 Dies ist das Postulat der Tabula smaragdina des Hermes Trismegistus: Das
Oberste gleicht dem Untersten - ein Zentralgesetz des Seins, das Simone Weil
in ikrem ganzen Werk zu unendlichen Anwendungen benutzt. So kommt die
Gewaltlosigkeit der Heiligen äußerlich der Feigheit gleich, die höchste
Weisheit endet bei dem Nicht-Wissen, die Antriebe der Gnade ahmen die
Unentrinnbarkeit der tierischen Instinkte nach [»ich bin geworden gleich
einem lastbaren Tiere vor deinem Angesicht ... .«] die Äbgelöstheit ähnelt der
Gleichgültigkeit, usw.
33
gend« und der entsprechenden Sünde: Diebstahl und
bürgerliche Achtung des Eigentums, Ehebruch und
»anständige Frau«, Sparkasse und Verschwendung usw. Das
wahre Gute ist nicht der Gegensatz des Bösen - unmittelbare
Gegensätze gibt es nur auf der gleichen Stufe -: es übersteigt
und tilgt es. »Was das Böse verletzt, ist nicht das Gute, denn
das Gute ist unverletzlich; man verletzt immer nur ein schon
herabgesetztes Gutes.«
Die Seele, die dem reinen Guten nachstrebt, stößt hienieden
auf unlösbare Widersprüche. »Unser Leben ist
Unmöglichkeit, Absurdität. Alles, wonach wir streben, steht
in Widerspruch zu den Bedingungen oder den Folgen, die mit
ihm verbunden sind. Der Grund ist: wir selbst sind
Widerspruch, da wir in unserer Geschöpflichkeit zugleich
Gott und das unendlich von Gott Verschiedene sind.« Zum
Beispiel, man setze Kinder über Kinder in die Welt: so be-
günstigt man die Überbevölkerung und den Krieg - der Fall
Japans ist typisch in dieser Hinsicht -; man verbessere das
materielle Los des Volkes: so läuft man Gefahr, seine Seele
zu verderben; man sei einem anderen völlig ergeben: so hört
man auf, für ihn zu existieren, usw. Nur das imaginäre Gute
enthält keinen Widerspruch: das junge Mädchen, das sich
eine zahlreiche Nachkommenschaft wünscht, der
Gesellschaftsverbesserer, der vom Glück des Volkes träumt,
usw. stoßen auf keinen Widerstand, solange sie ihre
Vorstellungen nicht wirklich in die Tat umsetzen; sie treiben
mit vollen Segeln in einem reinen, aber fiktiven Guten
dahin; der Aufprall an der Klippe ist das Signal des
Erwachens. Wir sind
34
verpflichtet, diesen Widerspruch, der ein Kennzeichen
unseres Elends und unserer Größe ist, in seiner ganzen
Bitterkeit hinzunehmen. Durch die als solche erlebte und
zutiefst erlittene Absurdität dieses aus Gutem und Bösem
gemischten Universums hindurch erreichen wir das reine
Gute, dessen Reich nicht von dieser Welt ist. »Rein ist die
Tat, die man vollbringen kann, während man seine
innerliche Absicht gänzlich auf das reine und unmögliche
Gute gerichtet hält, ohne sich durch irgendeine Lüge weder
die Anziehung noch die Unmöglichkeit des reinen Guten zu
verschleiern.« Statt der Kluft, die sich zwischen dem
Notwendigen und dem Guten erstrecht, mit Träumen zu
füllen [Glaube an Gott als einen zeitlichen Vater, an die
Wissenschaft oder den Fortschritt ...], gilt es, die beiden
Auszweigungen des Widerspruchs hinzunehmen, so wie sie
sind, und sich durch ihren Abstand zerreißen zu lassen. Und
in dieser Zerreißung, welche gleichsam der Wider schein des
Schöpfungsaktes, der Gott zerreißt, im Menschen ist, erfährt
man schließlich die ursprüngliche Identität des Notwendigen
und des Guten: »Diese Welt, insofern sie Gottes gänzlich leer
ist, ist Gott selbst. Die Notwendigkeit, insofern sie
gegenüber dem Guten das schlechthin andere ist, ist das
Gute selbst. Das ist der Grund, warum jeder Trost im Un-
glück von der Liebe und von der Wahrheit entfernt. Dies ist
das Geheimnis der Geheimnisse. Berührt man es, ist man in
Sicherheit.« So ist derjenige, der die Vermengung ablehnt,
dem Leiden ausgeliefert. Von Antigone an, die der Hüter der
zeitlichen Stadt auffordert, mit ihrer Liebe zu den Toten
hinabzu-
35
steigen1, bis zu Simone Weil selbst, die von der menschlichen
Ungerechtigkeit gekreuzigt wurde bis zum Grabe, ist das
Unglück das Los all derer, die in der Verstrickung durch das
Relative das Absolute lieben: »Begehrt man allein das Gute,
so steht man im Gegensatz zu dem Gesetz, nach dem das
Gute mit dem Bösen verbunden ist wie der beleuchtete
Gegenstand mit seinem Schatten, und weil man so zu dem
allgemeinen Weltgesetz im Gegensatz steht, stürzt man
unvermeidlich ins Unglück.« Solange die Seele noch nicht
völlig ihrer selbst entleert ist, so lange erzeugt dieses
Verlangen nach dem reinen Guten das sühnende Leiden; in
der vollkommen unschuldigen Seele bringt es das erlösende
Leiden hervor: »Unschuldig sein heißt, das Gewicht des
ganzen Universums ertragen. Heißt, das Gegengewicht fort-
werfen.« Die Reinheit hebt also das Leiden nicht auf; im
Gegenteil, sie vertieft es unendlich, aber sie verleiht ihm
einen ewigen Sinn: »Die letzte Größe des Christentums
beruht darauf, daß es nicht nach einem übernatürlichen
Heilmittel gegen das Leiden, sondern nach einem
übernatürlichen Gebrauch des Leidens trachtet.«
36
hätte, so wäre der Mensch, der leidet und stirbt, in einem
Sinne größer als Gott. Aber Gott ist Mensch geworden und
ist am Kreuz gestorben. »Gott hat Gott verlassen. Gott hat
sich entleert: dieses Wort umfaßt zugleich die Schöpfung
und die Fleischwerdung mit der Passion.... Um uns zu
lehren, daß wir Nicht-Sein sind, ist Gott Nicht-Sein
geworden.« Mit anderen Worten, Gott ist Geschöpf
geworden, um uns zu lehren, die Geschöpflichkeit in uns auf-
zulösen, und der Akt der Liebe, durch den er sich von sich
selbst getrennt hat, führt uns zu ihm zurück. In dieser
Annahme des Menschseins in seinem schmählichsten und
tragischsten Elend erblickt Simone Weil das Wesen der
Mittlerschaft Jesu Christi: die Zeichen und Wundertaten
stellen nur den menschlichen und beinahe niedrigen Teil
seiner Sendung dar; der übernatürliche Teil besteht in der
Agonie, dem Blutschweiß, dem Kreuz und seinem
vergeblichen Schreien gegen den stummen Himmel. Das
Wort des Erlösers: »Mein Vater, warum hast du mich
verlassen?«, das alle Ängste der in die Zeitlichkeit und das
Böse geworfenen Kreatur in sich schließt und das keine
andere Antwort empfängt als das Schweigen des Vaters -
dieses Wort allein genügt ihr, die Göttlichkeit des
Christentums zu beweisen.
Der Mensch rettet sich nur, wenn er im nackten Hier und
Jetzt lebt, unter Verzicht auf Vergangenheit und Zukunft.
Dies schließt den modernen Mythos von dem unendlichen
Fortschritt der Menschheit aus, selbst wenn er als ein
göttlicher Erziehungsplan dargestellt wird. Wenige Ideen
sind so
37
lästerlich wie diese, denn sie veranlaßt uns, in der Zukunft
zu suchen, was nur die Ewigkeit uns geben kann, und so
wendet sie uns in eine Richtung der Abkehr von Gott.
»Nichts kann sich etwas anderes zum Ziel setzen, als was es
zum Ursprung hat. Entgegengesetzter Gedanke, der
Fortschrittsgedanke, Gift. Die Wurzel, die diese Frucht
hervorgebracht hat, muß ausgerissen werden.« Dies
bedeutet nicht, daß die Menschheit keiner zeitlichen
Errungenschaften fähig sei; als zeitliche jedoch können
diese Fortschritte niemals unendlich sein, denn immer ver-
schlingt die Zeitlichkeit zuletzt ihre eigenen Kinder.
Hingenommen als das unaufhebbar Andere als die Ewigkeit,
ist die Zeit für uns die Pforte zur Ewigkeit: man soll sie
nicht zu einem »ersatz«1 der Ewigkeit machen.
38
andern getrennt, dann ist man verloren. Der Kreislauf
enthält die Wahrkeit.« Um aber diesen Kreislauf zu
erfassen, muß man sich von der Zukunft abwenden und sich
bis zum Ewigen erheben. »Nicht die Religion, die Revolution
ist Opium für das Volk.« Unzählige relative Dinge, die als
absolute gelten, treten hienieden zwischen die Seele und
Gott; Solange der Mensch nicht bereit ist, nichts zu werden,
um alles zu sein, bedarf er der Götzen. »Der Götzendienst ist
eine Lebensnotwendigkeit in der Höhle.« Und unter diesen
Götzen ist das Soziale, die Kollektivseele der mächtigste und
gefährlichste. Die meisten Sünden beziehen sich auf den
Bereich des Sozialen; sie entspringen dem Verlangen, etwas
zu scheinen und andere zu beherrschen. Nicht als ob Simone
Weil das Soziale als solches ablehnte; sie weiß, daß Umwelt,
Verwurzelung, Herkommen usw.
»metaxy«1 darstellen, Brücken zwischen der Erde und dem
Himmel. Was sie verwirft, das ist der totalitäre Staat, das
»Große Tier« Piatos und das »Tier« der Apokalypse, dessen
Macht und Ansehen sich in der Seele die Stelle Gottes
anmaßen. Ob sie ein konservatives oder ein revolutionäres
Gesicht zeigt, ob sie auf die Anbetung eines gegenwärtigen
oder eines Zukunftsstaates hinausläuft, immer ist die
Vergötzung des Sozialen bestrebt, die wahre mystische Tra-
dition zu ersticken und zu verdrängen. Sie ist die Ursache
aller Verfolgungen der Propheten und Heiligen; durch sie
wurden Antigone und Jeanne d'Arc zum Tode verurteilt und
Jesus Christus gekreuzigt. Das soziale Tier bietet dem
Menschen einen Reli-
39
gionsersatz, der ihm gestattet, sich seihst zu trans-
zendieren, ohne sich seiner selbst zu entäußern, und der ihm
infolgedessen erlaubt, des wahren Gottes leicht entraten zu
können; die höchsten Tugenden sind einer sozialen
Nachahmung fähig, die sie alsbald in Heuchelei verkehrt:
»Ein Pharisäer ist ein Mensch, der tugendhaft ist aus
Gehorsam gegen das Große Tier.«
Zwei Völker des Altertums verkörpern diese Vergötzung der
Kollektivseele: Israel und Rom. »Rom: das atheistische,
materialistische Große Tier, das nur sich selbst anbetet.
Israel: das religiöse Große Tier. Keines von beiden ist
liebenswert. Das Große Tier ist immer abstoßend.« Die
Auseinandersetzung zwischen Israel und Rom, in welcher
Nietzsche den Kampf zweier unversöhnlicher
Lebensauffassungen erblickte, schrumpft für Simone Weil zu
dem Streit zweier gleichartiger Toalitarismen zusammen. Es
ist jedoch angezeigt, mit allem Nachdruck zu betonen, daß
ihr Antisemitismus - der so heftig war, daß die Lehre der
Kirche von dem fortlaufenden Zusammenhang zwischen dem
Alten und dem Neuen Testament für sie einer der
Hauptgründe war, die sie verhinderten, dem Katholizismus
beizutreten - sich auf rein geistliche Entscheidungen bezog
und infolgedessen nichts gemein hatte mit dem, was heute
diesen Namen trägt. Sie empfand zum Beispiel den gleichen
Widerwillen gegen den Hitlerschen Antisemitismus wie
gegen den zeitlichen Messianismus der Juden. Wie oft hat sie
mir gegenüber von den jüdischen Wurzeln des
Antisemitismus gesprochen! Sie liebte es, wiederholt zu
behaupten,
40
Hitler jage auf dem gleichen Felde wie die Juden, und er
verfolge sie nur, um ihren irdischen, grausamen und
alleinherrscherlichen Stammesgott unter anderem Namen zu
seinem eigenen Vorteil wieder aufleben zu lassen. Ihr
Abscheu vor dem sozialen Götzen erstreckte sich natürlich
auch auf alle übrigen Formen einer totalitären Mystik und
insbesondere auf den Marxismus. Sogar die katholische
Kirche, die sie übrigens in mancher Hinsicht bewunderte,
entging nicht ihrer Kritik des Sozialen: ihre jüdischen und
römischen Ursprünge, ihre Einmischung in zeitliche
Angelegenheiten, ihre Organisation und ihre Hierarchie,
ihre Konzilien, gewisse Formeln wie »extra ecclesiam nulla
salus« oder ihr »ana-thema sit« und gewisse ihrer
geschichtlichen Erscheinungsformen wie die Inquisition usw.
erschienen ihr als unzweifelhaft höhere, aber immer noch
äußerst gefährliche Formen des sozialen Götzendienstes.
Dennoch hörte sie niemals auf, an die Gegenwart Gottes und
die Eingebung seines Geistes in der Kirche zu glauben.
»Glücklicherweise werden die Pforten der Hölle nicht
obsiegen«, schrieb sie in den letzten Zeiten ihres Lebens; »es
bleibt ein unzerstörbarer Wahrheitskern.«1
1 Die Stelle, auf die Gustave Thibon anspielt, lautet:
»Wenn zwei oder drei von euch versammelt sind in meinem Namen,
so werde ich unter ihnen sein.
Wenn es aber vier sind? Wird dann etwa der Teufel unter ihnen
sein?
Vielleicht.
Und die Konzile?
Vielleicht...
Glücklicherweise werden die Pforten der Hölle nicht obsiegen. Es bleibt ein
unzerstörbarer Wahrheitskern.«
[Simone Weil, La Connaissance surnaturelle, Gallimard, Paris 1950, pp. 272/3.]
41
Dies ist in ihren Grundzügen die Gedankenwelt von Simone
Weil. Das Schematische dieser Übersicht läßt notgedrungen
zahllose Nuancen im Dunkeln, die ihre Lehre verdeutlichen,
verschärfen und ergänzen.
Aber eine Einführung kann, wie schon ihr Name anzeigt, nicht
mehr sein als eine Einladung, eine Schwelle zu überschreiten.
Muß ich noch eigens hervorheben, daß meineFreund-schaft und
Verehrung für Simone Weil, das schmerzliche Gefühl ihres
Verlustes und die Freude, sie alle Tage jenseits des Todes
wiederzufinden, mein dauernder Umgang mit ihren Gedanken,
von denen ich mich nähre, und vor allem jene unüberwindliche
Scheu, die jede echte Vertraulichkeit begleitet, mir die
Bemühung um eine sachliche Einstellung fast unmöglich
machen, die doch erforderlich wäre, um eine kritische
Untersuchung ihres Werkes vornehmen zu können?
Ich bin Katholik; Simone Weil war es nicht. Ich habe niemals
auch nur eine Sekunde daran gezweifelt, daß sie in der
Erfahrung und Erkenntnis der übernatürlichen Wahrheiten
unendlich viel fortgeschrittener war als ich; aber nach außen
hin blieb sie immer in den Grenzbezirken der Kirche und
empfing niemals die Taufe. In einem ihrer letzten Briefe an
mich gibt sie eine vortreffliche Kennzeichnung ihrer
Einstellung gegenüber dem Katholizismus: »In diesem
Augenblick wäre ich eher bereit, für die Kirche zu sterben -
wenn sie eines nahen Tages dessen bedarf, daß man für sie
sterbe -, als in sie einzutreten. Sterben verpflichtet zu nichts,
wenn ich so sagen darf; es schließt keine Lüge
42
ein.... Nun aber habe ich, was ick auch tun mag, den
Eindruck zu lügen, sei es, indem ich mich außer der Kirche
halte, sei es, indem ich ihr beitrete. Es fragt sich, worin die
geringere Lüge besteht....« Daß Simone Weil eine heroische
Liebende Jesu Christi gewesen ist, darüber bin ich in meiner
Überzeugung niemals wankend geworden; dennoch bleibt es
dabei, daß ihre Lehre, obwohl sie sehr oft der Hauptrichtung
der großen christlichen Wahrheiten folgt, nichts spezifisch
Katholisches hat und daß sie niemals das Universalamt der
Kirche anerkannte. Wenn jedoch ein Katholik über die
Gedankenwelt eines Nicht-Katholiken urteilen soll, so
entrinnt er schwerlich zwei entgegengesetzten
Versuchungen, die beide über das Erlaubte hinausführen.
Einmal der Versuchung, dem betreffenden Denken die
Grundsätze der spekulativen Dogmatik entgegenzustellen
und unbarmherzig alles zu verdammen, was, von außen
gesehen, der strengen Rechtgläubigkeit zuwiderläuft. Diese
Methode bietet die Vorteile eines Geländers, das auf den
Brücken, welche zu Gott führen, immer unerläßlich ist;
bedient man sich ihrer jedoch ohne Verständnis und ohne
Liebe, so läuft man Gefahr, daß sie in eine mißbräuchliche
Anwendung der Vorschrift des Evangeliums: »Wenn dein
Auge dich ärgert...« entartet. Da ich meinerseits weder
Theologe noch eigens beauftragt bin, den Schatz des
christlichen Glaubens zu verteidigen, so fühle ich mich zu
einem derartigen Unternehmen keineswegs berufen. Vor
allem möchte ich es vermeiden, hier als ein
Schreibstubentheologe aufzutreten, der sich anmaßte, an
Hand eines Baedeckers
43
des Göttlichen über den - vielleicht unvollständigen •
Bericht eines heroischen Reisenden unwiderrufliche Urteile
zu fällen.... Die zweite Gefahr besteht darin, das Denken,
das man untersucht, um jeden Preis in die Richtung der
katholischen Wahrheit beugen zu wollen. Das ist ein
offenbarer Mißbrauch des »compelle intrare«. Wir hingegen
glauben, daß alles, was ein menschliches Leben oder Werk
an Wahrem und Reinem enthält, natürlicherweise seinen
Platz in der katholischen Synthese findet, ohne daß man es
stößt oder dreht, um es hineinzuzwingen. Wir brauchen nicht
nach Art eines Geizigen, der seinen Schatz zu vermehren
sucht, alles an uns zu ziehen, denn alles ist unser, die wir
Christi sind.... Da es also nicht meine Aufgabe ist, zu
entscheiden, wie weit das Denken Simone Weils orthodox ist
oder nicht, so will ich mich darauf beschränken, zu zeigen -
ohne daß mein Zeugnis für etwas außer mir verbindlich ist
in welchem Sinne eine christliche Seele dieses Denken
auslegen kann, um darin eine Nahrung für ihr geistliches
Leben zu finden. Vor allem werde ich mich wohl hüten, mit
Simone Weil über Worte zu streiten. Ihr Vokabular ist das
der Mystiker und nicht der spekulativen Theologen: was es
auszudrücken strebt, ist nicht die ewige Ordnung des
wesenhaften Seins, sondern die besondere Wanderschaft
einer Seele auf ihrer Suche nach Gott. Daher die besondere
Redeweise aller spirituellen Autoren. Wenn Christus in dem
»Zwiegespräch« zu der heiligen Katharina von Siena sagt:
»Ich bin der ich bin, du bist die nicht ist«., so ist diese
Formulierung, die das Geschöpf auf ein reines Nichts
44
herabsetzt, im Bereich der ontologischen Erkenntnis
unannehmbar. Das gleiche gilt für die von vielen Mystikern
verwendeten Ausdrücke, die von der Armut Gottes, von
seiner Abhängigkeit im Hinblick auf die Kreatur usw. reden:
sie sind wahr in der Ordnung der Liebe und falsch in der
Ordnung des Seins. Jacques Maritain hat als erster
dargelegt, daß diese beiden Vokabulare einander nicht
widersprechen, denn das eine bezieht sich auf die
spekulative Erkenntnis und das andere auf die praktische
und affektive Erkenntnis.
Zwei Dinge vor allem in dem Werk von Simone Weil haben
bei den wenigen Freunden, die in ihre Handschriften
Einblick genommen haben, Anstoß erregt. Zum ersten die
absolute Trennung, die sie, wie es scheint, zwischen der
erschaffenen Welt und einem transzendenten Gott setzt, der
sich dem Bösen gegenüber selbst die Hände gebunden hat
und die Welt dem Spiel des Zufalls und des Absurden
überläßt: diese Trennung läuft Gefahr, die Vorsehung in der
Geschichte und den Begriff eines Fortschreitens aufzuheben
und infolgedessen die irdischen Werte und Pflichten
verkennen zu lassen. Zum andern die Scheu vor dem
Sozialen, die darauf hinausläuft, den Einzelnen in einer
stolzen Selbstgenügsamkeit zu vereinsamen.
Wir wiederholen, daß Simone Weil als Mystikerin und nicht
als Metaphysikerin spricht. Wir sind sogar gerne zu dem
Eingeständnis bereit, daß die Neigung ihres Geistes,
unaufhörlich die mit nichts anderem vereinbarte
Einzigartigkeit des Übernatürlichen hervorzuheben, sie des
öfteren veranlaßt, die
45
Verbindungspunkte und die Elemente des Übergangs
zwischen Natur und Gnade außer acht zu lassen. Nichts ist
gewisser, als daß sie bestimmte Seiten der christlichen
Frömmigkeit verkannt hat. Jedoch ermächtigt uns dies nicht
zu der Behauptung, der Aspekt, den sie beschreibt, sei kein
christlicher. Keine menschliche Erfahrung - diejenige
Christi beiseite gesetzt - hat jemals die übernatürliche
Wahrheit in ihrer Vollständigkeit umfaßt. Der heilige
Johannes vom Kreuz zum Beispiel hebt nicht die gleichen
göttlichen Wirklichkeiten hervor wie der heilige
Bonaventura. Es gibt verschiedene Schulen der geistlichen
Übung, und man kann von den Mystikern sagen, indem man
das Wort Welt durch das Wort Gott ersetzt, was der Dichter
von den Menschen im allgemeinen sagt:
Ein jeder sieht die Welt in seinem eignen Sinn, Und jeder
siehet recht, so viel ist Sinn darin.
46
Kreuz in minder unbedingten Ausdrücken von dem Nichts
der erschaffenen Dinge und unserer Liebe, die uns an sie
bindet? »Jedes Sein der Geschöpfe ist im Vergleich mit dem
unendlichen Sein Gottes ein Nichts, und also ist die Seele,
die noch im Geschöpflichen befangen ist - Nichts. Alle
Schönheit der Geschöpfe ist letzte Häßlichkeit vor der un-
endlichen Schönheit Gottes. Alle Anmut, aller Zauber der
Geschöpfe ist reizlos und abstoßend angesichts der
göttlichen Schönheit. Alles, was die Geschöpfe an Güte
enthalten, ist nur höchste Bosheit in Gegenwart der
göttlichen Güte. Gott allein ist gut. ...«
Außerdem, wenn Simone Weils »Theologie« auch freilich die
Vorstellung eines »Gottes der braven Leute« abweist, der
die Welt nach dem Muster eines Familienvaters oder eines
weltlichen Herrschers regierte, so schließt sie doch
keineswegs das Wirken der Vorsehung, im höheren Sinne des
Wortes, aus. Die Begriffe Zufall, Schicksal und Vorsehung
sind gleicherweise wahr, wenn auch auf verschiedenen
Seinsebenen. Es ist nicht zu bezweifeln, daß hienieden die
Materie und das Böse »alle Kausalität, die ihnen angehört«,
ausüben: das Schauspiel der unzählbaren Greuel der
Geschichte beweist zur Genüge, daß diese Welt nicht das
Reich Gottes ist [nennt die Schrift nicht den Teufel princeps
huius mundi?]. Trotzdem bleibt Gott in seiner Schöpfung
geheimnisvoll gegenwärtig: ohne die Verhängnisse, die auf
uns lasten, im geringsten zu verändern, findet seine Gnade
ihren Weg durch die Gesetze der Schwerkraft hindurch, wie
der Sonnenstrahl das
47
Gewölk durchdringt. Diesem Gott, »der in seiner Liebe
schweigt«, ist das menschliche Elend nicht gleichgültig wie
dem Gotte des Aristoteles oder Spinoza. Denn eben aus Liebe
zu seiner Kreatur zieht er sich dem Anschein nach aus der
Schöpfung zurück; eben um sie zur höchsten Reinheit empor-
zuführen, läßt er sie einsam und verwaist das ganze Ausmaß
des Leidens und der Nacht erfahren. Indem er sich vor dem
Bösen die Hände bindet, indem er alles von sich abtut, was
zeitlicher Macht und zeitlichem Ansehen gleicht, richtet Gott
an die Menschen die Aufforderung, in ihm nur die Liebe zu
lieben. »Er gibt sich den Menschen als der Mächtige oder als
der Vollkommene - nach ihrer Wahl.« Die unendliche
Vollkommenheit jedoch ist hienieden unendliche
Schwachheit: Gott als die Liebe hängt ganz am Kreuz....
Simone Weil verkennt keineswegs die Würde und
Notwendigkeit der zeitlichen Werte. Sie sieht in ihnen
»metaxy«, Vermittlungen zwischen der Seele und Gott. »Die
Zerstörung welcher Dinge ist frevelhaft? Nicht des
Niedrigen, denn es ist bedeutungslos. Nicht des Hohen, denn
es ist unserem Zugriff entzogen. Also die Zerstörung der
metaxy. Die metaxy sind der Bereich des Guten und
Schlechten.... Man soll kein Menschenwesen jener
vermischten und relativen Güter [Heim, Vaterland,
Überlieferungen, Kultur usw.] berauben, welche die Seele
wärmen und nähren und ohne welche, außerhalb der
Heiligkeit, ein menschliches Leben nicht möglich ist.« Doch
diese vermischten und relativen Güter können als solche nur
von denen behandelt wer-
48
den, die aus Liebe zu Gott durch die völlige Bloßwerdung
hindurchgegangen sind; alle übrigen erheben sie mehr oder
minder zu Götzen: »Nur wer Gott mit übernatürlicher Liebe
liebt, kann die Mittel nur als Mittel betrachten.«
Unbeschadet ihrer Ansicht, daß »die Wahl ein Begriff der
niederen Bereiche« sei, und trotz ihrer Behauptung von der
völligen Wirkungslosigkeit der Willensanstrengung im
Bereich des Übernatürlichen, neigt Simone Weil doch
keineswegs dem Quietismus zu. Vielmehr kommt sie
beständig darauf zurück, daß das mystische Leben ohne eine
beharrliche und strenge Übung der natürlichen Tugenden
nur auf eine Täuschung hinausläuft. Die Ursache der Gnade
liegt jenseits des Menschen, aber ihre Bedingungen liegen im
Menschen. Ihr Haß ge gen die Illusion, vor allem wenn sie in
Gestalt einer empfindseligen Frömmigkeit und als eine Art
religiöser »Schwärmerei« auftritt, hält bei Simone Weil
allem, was bei einer so verfeinerten Spiritualität der
Einbildung oder dem Hochmut schmeicheln könnte, das
Gegengewicht. Gerne führte sie die Ansicht des heiligen
Johannes vom Kreuz an, daß die Inspiration, die uns von der
Erfüllung der leichten und niedrigen Verpflichtungen
abwendig macht, nicht von Gott komme. »Die Pflicht ist uns
gegeben, um das Ich abzutöten.... Nur dann gelangt man zu
dem wahrhaften Gebet, wenn man zuvor seinen Eigenwillen
an der Befolgung der Regeln abgenutzt hat« Jedes religiöse
Hochgefühl, das der Stütze eines beharrlichen Treuseins in
den alltäglichen Pflichten entbehrte, war ihr so verdächtig,
49
daß die seltenen eigenen Versäumnisse in der Erfüllung
dieser Pflichten, die größtenteils ihrer schwachen
Gesundheit entsprangen, sie allezeit die bittersten Zweifel
an der Echtheit ihrer geistlichen Berufung empfinden ließen.
»All diese mystischen Phänomene«, schrieb sie am Ende
ihres Lebens mit einer herzzerreißenden Demut, »liegen
völlig außer meiner Zuständigkeit. Ich verstehe nichts
davon. Sie sind denen vorbehalten, die vor allem einmal die
elementaren sittlichen Tugenden besitzen. Ich rede davon
nur aufs Geratewohl. Und ich bin nicht einmal fähig, mir
aufrichtig einzugestehen, daß ich nur aufs Geratewohl
davon rede.«
Ich möchte schon deshalb nicht auf die politischen Ansichten
von Simone Weil näher eingehen, weil ich sie völlig teile.
Ein anderer könnte wohl eine höchst eindrucksvolle
Schilderung von diesem Leben geben, in dessen Verlauf ein
seinem Wesen nach revolutionäres Temperament unter dem
Einfluß des Nachdenkens und des Glaubens allmählich von
der Verehrung für die Vergangenheit und die Tradition
durchdrungen wurde. Zwar blieb Simone Weil immer eine
Revolutionärin, aber sie war dies in immer steigendem
Maße, nicht um einer chimärischen Zukunft willen, die den
Menschen von dem Seienden ablenkt, sondern im Namen
eines ewig Unveränderlichen, das unaufhörlich
wiederhergestellt werden muß, weil es unaufhörlich dazu
neigt, sich in der Zeit zu erniedrigen. Simone Weil glaubte
nicht an die unendliche Vervollkommnung des Menschenge-
schlechts; sie war sogar der Ansicht, die geschichtliche
Entwicklung erhärte eher das Gesetz der En-
50
tropie als das eines Fortschritts ä la Condorcet. Ich brauche
sie diesbezüglich nicht zu verteidigen; denn ich halte es für
keine Ketzerei, der Überzeugung der großen griechischen
Tradition beizupflichten, daß »jeder Wechsel nur begrenzt
oder zyklisch sein kann«. Um sich ferner zu überzeugen, daß
ihre Invektiven gegen das soziale Tier, wie übertrieben sie
auch bisweilen der Form nach sein mögen, in keinem Falle
eine Verteidigung der Anarchie darstellen, genügt es, sie aus
ihrem Kontext heraus zu verstehen. »Das Soziale«, schreibt
sie, »ist unaufhebbar der Bereich der Fürsten dieser Welt. In
Hinsicht auf das Soziale hat man nur die eine Pflicht, zu
versuchen, das Böse einzuschränken.... Das Soziale unter der
Aufschrift des Göttlichen: berauschende Mischung, die zu
jeder Willkür verlockt - der verkappte Teufel.« Doch setzt
sie sogleich hinzu: »Und dennoch ein Vaterland? Aber dies
ist etwas anderes als das Soziale; hier handelt es sich um
ein menschliches Milieu, dessen man sich ebensowenig
bewußt ist wie der Luft, die man atmet. Um einen Zusam-
menhang mit der Natur, der Vergangenheit, der
Überlieferung. Die Verwurzelung ist etwas anderes als das
Soziale.« Mit anderen Worten, der Einfluß des Sozialen ist
zugleich eine Nahrung und ein Gift: eine Nahrung, insoweit
es dem Einzelnen die nötige innerliche Ausrüstung liefert,
um als Mensch zu leben und zu Gott zurückzukehren; ein
Gift, insoweit es danach trachtet, ihn seiner Freiheit zu
berauben und sich in ihm an die Stelle Gottes zu setzen. Die
fortwährenden Übergriffe des Sozialen in die Rechte des
Göttlichen - diese unaufhörliche Entartung einer
51
Mystik zu einer Politik, davon die Geschichte voll ist -
beweisen zur Genüge - und heute mehr denn je - das
Bedrohliche dieser -letzteren Gefahr. Mutatis mutandis gilt
das gleiche für die Kirche. Man begreift, daß einem derart
nach dem Absoluten lechzenden Geist wie dem Simone Weils
der Sinn für die geschichtliche Bedingtheit notwendig ein
wenig abgehen mußte: das »nolite conformari huic saeculo«
war für sie ein Gebot, das keine Einschränkung duldete. Es
fehlte ihr fast jedes Verständnis dafür, daß gewisse
Zugeständnisse der Kirche an zeitliche Notwendigkeiten ihre
ewige Seele in nichts verpflichten. Die Seligsprechung1 Karls
des Großen zum Beispiel war in ihren Augen ein
ärgerniserregender Kompromiß mit dem sozialen Götzen.
Irgendwo nennt sie auch die Kirche einmal ein »totalitäres
Großes Tier«. Was will sie damit sagen? Jeder
Totalitarismus ist dadurch gekennzeichnet, daß er das
Ganze nicht gelten lassen will und zugleich den Anspruch
erhebt, selber das Ganze zu sein. Da die katholische Kirche
hienieden die Abgesandte des Ganzen ist, braucht sie nicht
totalitär zu sein. Der Vorwurf Simone Weils, insoweit er be-
rechtigt ist, kann also nur gewisse Glieder am Leibe der
Kirche treffen, die willkürlich die Pforten der Liebe und der
Wahrheit verriegeln und dadurch die universale Sendung
des Katholizismus verkennen. Es ist hier nicht der Ort - vor
allem zu einer Stunde, da so viele Katholiken nicht zaudern,
die Zuchtruten gegen ihre Mutter zu liefern -, die ehemals
1 Karl der Große wird zwar in Aachen als Seliger verehrt; eine formelle
Seligsprechiung hat jedoch nicht stattgefunden.
52
durch den Begriff der Kirche als »Leib der Sünde«
aufgeregten Auseinandersetzungen wieder aufzunehmen.
Begnügen wir uns mit der Feststellung, daß Christus, als er
sagte, daß »die Pforten der Hölle sie nicht überwältigen
werden«, damit keineswegs versprochen hat, daß alles in
der Kirche ewig rein bleiben, sondern daß der wesentliche
Hort des Glaubens durch alles hindurch gerettet verden
würde. Die Wurzeln der Kirche sind in Gott: was nicht
hindert, daß der Baum auch dürre und wurmzerfressene
Zweige trägt. Den Glauben haben, heißt überzeugt sein, daß
er niemals des göttlichen Saftes entbehren wird. Im übrigen
stellt die Erhaltung dieses - nach Simone Weils eigenen
Worten - »unzerstörbaren Wahrheitskernes« durch alle dem
Leib der Kirche beigemischten Verunreinigungen hindurch
bereits einen der sichersten Beweise für die Göttlichkeit des
Katholizismus dar. Die Kirche könnte nur in dem Maße ein
»totalitäres Großes Tier« werden, als ihr menschlicher Leib
sich gänzlich von seiner göttlichen Seele abtrennte. Eine un-
mögliche Annahme, denn die Pforten der Hölle werden nicht
obsiegen.... Heutzutage erscheint die Kirche als die letzte
Zufluchtsstätte des Universalen angesichts der entfesselten
Totalitarismen. Die Vertreibung des sozialen Götzen führt
also bei Simone Weil nicht zu einem religiösen Individualis-
mus. »Das Ich und das Soziale sind die beiden großen
Götzen.« Die Gnade befreit uns von dem einen wie von dem
andern. Das war es wohl auch, dem Célestin Bouglé in seiner
Sprache Ausdruck zu geben versuchte, als er Simone Weil
noch in ihrer
53
Studentenzeit einmal als »eine Mischung von einem
Anarchisten und einem Pfaffenknecht« bezeichnete.
54
Man muß den Gedanken wagen, daß es uns nicht erniedrigt,
sondern unseren wahren Rang offenbar macht.« Oder auch:
»Wenn man mir Böses tut, wünschen, daß dieses Böse mich
nicht erniedrige, dem zuliebe, der es mir zufügt, damit er
nicht wahrhaft Böses getan habe.« Eher durch solche Schreie
der Demut und Liebe als in dem, was an ihrem Werke nach
einem System aussehen könnte, erscheint Simone Weil als
ein reiner Bote. Ich habe niemals aufgehört, an sie zu
glauben.
Im Februar 1947
Gustave Thibon
55
56
SCHWERKRAF T UN D GN ADE
58
q Alle natürlichen Bewegungen der Seele sind Gesetzen
unterworfen, die denen der stofflichen Schwerkraft
entsprechen. Ausnahmen macht allein die Gnade.
q Man soll stets darauf gefaßt sein, daß die Dinge sich in
Übereinstimmung mit der Schwerkraft vollziehen, außer im
Schwere.
q Woran liegt es, daß, sobald ein Mensch merken läßt, daß
er eines andern mehr oder weniger bedarf, dieser letztere
59
q Das Ziel einer Handlung und das Niveau der Energie, die
sie speist - zwei Dinge, die wohl zu unterscheiden sind.
eines niedrigen willen [die Leute, die, ohne sich vom Fleck zu
rühren, von ein Uhr nachts bis acht Uhr morgens anstanden,
um ein Ei zu bekommen, wären hierzu schwerlich zu
bewegen gewesen, wenn es sich um die Rettung eines
Menschenlebens gehandelt hätte], dann ist eine niedere
60
Es handelt sich hier um einen besonderen Fall jenes
Gesetzes, nach welchem die Kraft gewöhnlich auf seilen der
Niedrigkeit ist. Die Schwerkraft ist gleichsam ein Symbol
dafür.
61
es sich darum handelt, von sich selbst befreit zu werden.
Wollte ich diese Befreiung aus eigener Kraft versuchen, so
gliche das dem Betragen einer Kuh, die an ihrer Fußfessel
zerrt und so auf die Knie stürzt.
In einem solchen Falle setzt man Energie in sich frei durch
Kreislauf, aus dem man nur von oben befreit werden kann.
Die Quelle der sittlichen Kraft, wie der Körperkraft
[Nahrung, Atmung], liegt außerhalb des Menschen. Da er sie
Vergehen: daß wir nicht fähig sind, uns von Licht zu nähren.
Denn wenn diese Fähigkeit zerstört ist, sind alle Vergehen
möglich. »Meine Speise ist die, daß ich tue den Willen
dessen, der mich gesandt hat.« Kein anderes Gut als diese
Fähigkeit.
62
q Die Schöpfung besteht aus der Abwärtsbewegung der
Schwerkraft, der Aufwärtsbewegung der Gnade und der
Abwärtsbewegung der Gnade in der zweiten Potenz.
Verachtung.
Das Mitleid steigt nur bis zu einer gewissen Stufe hinab und
63
handlungen, sei es dadurch, daß er ihr Mitleid hervorruft -,
um es so zu vermindern, und derart vermindert er es in der
Tat. Wer ganz unten ist, wen niemand bedauert, wer über
niemanden Gewalt hat, den er mißhandeln könnte [wenn er
weder ein Kind hat noch irgendein Wesen, das ihn liebt], bei
sich davon frei machen? Wie befreit man sich von dem, was
wie die Schwerkraft ist?
Könnte ich doch nichts besudeln, wenn ich auch selber ganz
zu Kot verwandelt wäre! Nichts besudeln, nicht einmal in
Gedanken. Selbst in meinen schlimmsten Augenblicken
würde ich eine griechische Statue oder ein Fresko von Giotto
nicht zerstören. Warum also anderes? Warum zum Beispiel
64
selber leidet, genau das nämliche Leiden. Darum richtet,
empfunden.
bezahlen wird müssen], wenn man Böses getan hat? Man hat
ersparen, den der andere leisten muß. Das gleiche gilt für die
niedrigere Stufe.
65
q Verzeihen, Man vermag es nicht. Wenn jemand uns
Böses zugefügt hat, entstehen Gegenwirkungen in uns. Das
Verlangen nach Rache ist ein Verlangen nach wesentlichem
Gleichgewicht. Das Gleichgewicht auf einer anderen Ebene
suchen. Man muß von sich aus bis an diese Grenze gehen.
Dort berührt man die Leere. [Hilf dir selbst, so hilft dir Gott
...]
66
und so weiter - ein Krieg bricht aus, und man führt ihn als
Sklaven fort; von nun an muß er sich bis an die äußerste
Grenze seiner Kräfte abmühen, nur um sein Dasein zu
fristen. Das ist entsetzlich, unmöglich, und darum wird er
sich an jedes noch so erbärmliche Ziel, das sich ihm
sehen. Er hat nicht mehr die Wahl des Zieles. Gleichviel wel-
ches ist wie ein Ast für einen Ertrinkenden.
67
harte Lage erniedrigt, besteht darin, daß die von den
höheren Gefühlen gelieferte Energie - im allgemeinen -
begrenzt ist; fordert die Lage, daß man über diese Grenze
hinausgehe, so muß man niedere Gefühle [Furcht,
Begehrlichkeit, Rekordsucht, Gefallen an äußeren Ehren],
Entwürdigung absinken.
q Der Stein im Wege. Sich auf den Stein werfen, als ob er,
wenn erst das Verlangen eine gewisse Stärke erreicht hat, zu
existieren aufhörte. Oder davongehen, als ob man selber
nicht existierte.
68
q Jede Energie, die dadurch freigesetzt wird, daß die
Gegenstände, auf die sie gerichtet war, verschwinden, strebt
immer einer niedrigen Region zu.
69
sagt, so macht man sich einen Gott zurecht, der uns
zulächelt.
Auch ich bin anders, als zu sein ich mir einbilde. Dies
Gas ist die Seele bestrebt, die Gesamtheit des Raumes, der
70
widerspräche dem Gesetz der Entropie. Anders aber verhält
Die Gnade ist Erfüllung, aber sie findet nur dort Zutritt, wo
eine Leere ist, sie zu empfangen, und es ist die Gnade selbst,
fällt uns zu. Er fällt uns nicht zu, wenn wir schon ein anderes
nämliche gilt für die Erlassung der Schulden [die nicht nur
das Böse betrifft, das die andern uns angetan haben, sondern
ebenso auch das Gute, das wir an ihnen getan haben]. Auch
hier nimmt man eine Leere in einem selber hin. Eine Leere
muß an-
71
derswoher kommen. Aber dennoch bedarf es zunächst einer
Loslösung, eines verzweifelten Sich-Abreißens, daß zuerst
eine Leere entstehe. Leere: dunkle Nacht. Die Bewunderung,
das Mitleid [die Mischung beider vor allem] lassen uns eine
wirkliche Kraft zuströmen. Doch muß man ihrer entraten
können.
Man muß eine Zeitlang ohne Lohn sein, natürlichen oder
übernatürlichen.
q Die Wahrheit lieben, heißt die Leere ertragen und also den
Tod hinnehmen. Die Wahrheit ist auf Seiten des Todes.
q Der Mensch entrinnt den Gesetzen dieser Welt nur auf die
Dauer eines Blitzstrahls. Augenblicke des Innehaltens, der
Augenblick
72
lang ohne Hoffnung. Doch soll man sich nicht in sie
hineinstürzen.
Ablösung
73
greifen und empfinden [Beispiel: Hunger, Müdigkeit,
Demütigung verdunkeln die Einsicht und hindern die
Meditation] und dennoch Verzicht darauf leisten.
Diese zweite Art des Verzichtes allein ist geistige Bloßheit.
Mehr noch, die materiellen Güter wären kaum gefährlich,
absolute Gut.
Aber diese Leere ist voller als jegliche Fülle. Gelangt man
74
Gott wird diese Leere erfüllen. Dabei handelt es sich
keineswegs um einen intellektuellen Prozeß, so wie man ihn
heutzutage auffaßt. Die Intelligenz hat nichts zu finden, sie
hat den Schutt fortzuräumen. Sie ist nur zu knechtischen
Arbeiten gut.
Das Gute ist für uns ein Nichts, weil kein Ding gut ist. Doch
dieses Nichts ist nicht unwirklich. Alles, was existiert, ist, mit
ihm verglichen, unwirklich.
75
q Das Unglück, das uns zwingt, uns an erbärmliche Dinge zu
heften, legt den erbärmlichen Charakter der Verhaftung
bloß. Hieraus erhellt noch deutlicher die Notwendigkeit der
Ablösung.
q Sobald man weiß, daß etwas wirklich ist, kann man ihm
nicht mehr verhaftet sein. Die Verhaftung ist nichts anderes
»Und als sie zuletzt sich der Tränen ersättigt« [Ilias] - ein
1
Christus hat jedoch gesagt: »Selig sind, die da weinen . . Aber Simone Weil
verurteilt hier nur die Tränen, die der Verlust zeitlicher Güter uns entpreßt und
die der Mensch über sich selbst vergießt. [Anmerkung des Herausgebers.]
76
q Die Verhaftung bringt Täuschungen hervor, und wer das
sich ein wie ein dürres Blatt. Ovid. Sklaven bei Plautus.
Art, zu sterben. Aber nur, was man liebt. [Wer nicht hasset
seinen Vater, seine Mutter . . . Aber: Liebet eure Feinde . . . ]
Nicht wünschen, das, was man liebt, möchte unsterblich
sei.
77
Gut in eine Sache verlegen, die unter der Erde verborgen ist,
warum nicht auch in Gott? Ist aber Gott so voller Bedeutung
geworden wie der Schatz für den Geizigen, sich kräftig
wiederholen, daß es ihn nicht gibt. Empfinden, daß man ihn
liebt, selbst wenn es ihn nicht gibt. Er ist es, der sich,
eindringen könnte. d
die Verdrän-
78
gung der Leere durch ein Produkt unserer Einbildung.
Obgleich man bei einem Siege nichts gewinnen wird, erträgt
man das Sterben für eine Sache, die siegen, nicht aber für
eine Sache, die unterliegen wird. Für etwas völlig jeder Kraft
Entblößtes zu sterben, das wäre übermenschlich [die Jünger
1
Über die Bedeutung dieses Wortes im Vokabular von Simone
Weil, Siehe S. 232
79
Verbrechen so platt wie Träume, auf beiden Seiten: auf
Seiten des Henkers wie auf Seiten des Opfers. Was kann es
Entsetzlicheres geben, als in einem Alptraum zu sterben?
niedriger.
80
liche Leiden hindurchgehen, ohne geläutert zu werden.
q Die Zeit ist ein Gleichnis der Ewigkeit, aber sie ist auch
81
q Vergangenheit und Zukunft erschweren die heilsame
der Zukunft, denn sie ist nur das, was einmal Gegenwart
sein wird. Aber man weiß es nicht. Richtet man die Spitze
die Gegenwart, dann bricht sie hindurch und stößt auf das
Ewige.
Zukunft richten.
1
Siehe Plato, Politeia, VII. Buch
82
q Eine Weise der Läuterung: zu Gott beten, nicht nur im
Verborgenen hinsichtlich der Menschen, sondern mit dem
Gedanken, daß Gott nicht existiert.1
Fromme Ehrfurcht vor den Toten: alles tun für das, was
nicht existiert.
Der Schmerz über den Tod der andern, ist dieser Schmerz
der Leere, des gestörten Gleichgewichts. Alle weiteren
Bemühungen ohne Ziel, also ohne Lohn. Liefert die
Einbildung einen Ersatz, dann Erniedrigung. »Laß die Toten
ihre Toten begraben!« Und der eigene Tod, verhält es sich
damit nicht ebenso? Das Ziel, der Lohn liegen in der Zukunft.
Verlust der Zukunft: Leere, gestörtes Gleichgewicht. Darum:
»Philosophieren heißt sterben lernen.« Darum: »Beten heißt
gleichsam sterben.«
Ewigkeit entrissen.
1
Gott existiert in der Tat nicht nach Art der erschaffenen Dinge, die für unsere
natürlichen Fähigkeiten den einzigen Gegenstand der Erfahrung darstellen.
Daher wird auch die Berührung mit der über« natürlichen Wirklichkeit zuerst
als eine Erfahrung des Nichts erlebt. [Anmerkung des Herausgebers.]
83
Begehren ohne Gegenstand
Begehrlichkeit.
Kurz, jenes Wesen, das an dem und dem Tage um die und die
in dem Maße als . . . Und in diesem Maße hat man es. Das
84
der Unwirklichkeit beiseite, so wird man gewahr, daß sie uns
derart gegeben sind. Gewahrt man dies, so leidet man wohl
noch, aber man ist glücklich.
Das alles sind Kleider. »Sie schämten sich, daß sie nackt
waren.«
sein sollte. Aber das Verlangen nach ihm ist nicht imaginär.
85
q Die Leere ist die höchste Fülle, aber der Mensch hat nicht
das Recht, dies zu wissen. Der Beweis liegt darin, daß
Christus selber, für die Dauer eines Augenblicks, jedes
Wissen davon abhanden gekommen ist. Ein Teil meiner
selbst soll es wissen, aber nicht die anderen; denn wüßten sie
86
Hieraus folgt, daß man niemals einen Trost suchen soll für
den Schmerz. Denn die Glückseligkeit liegt jenseits des
Bereiches von Trost und Schmerz. Sie wird mit einem
anderen Sinne wahrgenommen, wie die Wahrnehmung von
Gegenständen vermittels der Spitze eines Stockes oder eines
hinaus.
halten bis in den Tod. Auch für die Märtyrer, hernach, war es
sehr viel
87
leichter, die Treue zu halten, denn da gab es schon die
Kirche, eine Gewalt, mit zeitlichen Verheißungen. Man stirbt
für das, was stark, nicht für das, was schwach ist, oder
zumindest für etwas, das in seiner augenblicklichen
Schwachheit einen verklärenden Glanz der Stärke bewahrt.
Die Treue zu Napoleon auf Sankt Helena war keine Treue ins
Leere. Zu sterben für das, was stark ist, nimmt dem Tod
Leere.
Das Ich
q Wir besitzen nichts auf der Welt - denn alles kann der
88
q Opfer: man kann keine andere Gabe darbringen als das
Ich, und alles, was man Opfer nennt, ist nur ein Etikett auf
etwas, das man an Stelle des Ich darbringt.
q Nichts auf der Welt kann uns die Macht rauben, ich zu
sagen. Nichts, außer dem äußersten Unglück. Nichts ist
das Unglück von außen zerstört worden ist? Für sie kann
man sich nichts anderes vorstellen als die Vernichtung,
Druck von außen zerstört, ohne daß es sich auf das heftigste
widersetzt. Versagt man sich dieses Aufbegehren aus Liebe
zu Gott, dann erfolgt die Zerstörung des Ich nicht von außen,
89
q Erlösender Schmerz. Stürzt ein menschliches Wesen im
Stand der Vollkommenheit, nachdem es durch den Beistand
der Gnade das Ich in sich selber völlig ausgetilgt hat, auf jene
Stufe des Unglücks herab, die für dieses Wesen der Zer-
störung des Ich von außen entspräche, so ist dies die Fülle
des Kreuzes. In ihm kann das Unglück nicht mehr das Ich
zerstören, da es völlig verschwunden ist und Gott Platz
gemacht hat. Aber das Unglück bringt auf der Höhe der
Vollkommenheit eine Wirkung hervor, die ein Äquivalent
der Zerstörung von außen ist. Es bewirkt die Abwesenheit
Wert, der damit verbunden ist und den man den erlösenden
Schmerz nennt?
hin-
90
gegen ist kein wahrer Abgrund [siehe Thibon]. Die Hölle ist
oberflächlich. Die Hölle ist ein Nichts, das sich anmaßt und
die Täuschung hervorruft, ein Sein zu haben.
Die nur von außen bewirkte Zerstörung des Ich ist beinahe
höllischer Schmerz. Die von außen eindringende Zerstörung,
alles, was ihr einen Halt gewähren kann, wie die Pflanze ihre
Ranken anschlingt. Dankbarkeit [außer in einer niedrigen
Form], Gerechtigkeit sind in diesem Zustand nicht denkbar.
Sklaverei. Es fehlt die zusätzliche Menge Energie, die der
Willenskraft als Stütze dient und vermittels derer der
91
Auf Grund dieses Mechanismus erscheint den Unglücklichen
nichts süßer als das Leben, gerade dann, wenn ihr Leben in
In einer solchen Lage den Tod hinnehmen, das ist die völlige
Ablösung.
92
Unpersönliches in dem fast höllischen Unglück wie in der
Vollkommenheit.
q Für die, deren Ich gestorben ist, kann man nichts tun, gar
nichts. Man weiß jedoch niemals, ob bei einem bestimmten
menschlichen Wesen das Ich gänzlich gestorben oder ob es
nur leblos ist. Wenn es noch nicht gänzlich gestorben ist, so
kann die Liebe es wieder beleben, wie durch eine
das sich wehrt. Ist das Ich aber einmal halb gestorben, so
ersehnt es den Gnadenstoß und versinkt in stumpfe Be-
wußtlosigkeit. Wird es in dieser Verfassung durch eine
Es kommt auch vor, daß die Liebe des Wohltäters keine reine
Liebe ist. Dann empfängt das Ich, das von dieser Liebe
Verachtung, und
93
es entsteht der bitterste Haß, ein berechtigter Haß.
Derjenige, bei dem hingegen das Ich völlig abgestorben ist,
fühlt sich keineswegs belästigt durch die Liebe, die man ihm
erweist. Er läßt alles mit sich geschehen, wie die Hunde und
Katzen, die Nahrung, Wärme, Liebkosungen empfangen,
seinen Wohltäter, oder er läßt wie eine Katze mit einer Art
Gleichgültigkeit alles mit sich geschehen. Ohne den ge-
ringsten Skrupel saugt er die ganze Kraft dessen, der sich
94
Begabung für Mathematik, und ein völlig Glaubensloser, der
sich rühmt, unter schwierigen Umständen »Haltung«
bewahrt zu haben, ist dazu ebensowenig berechtigt wie der
junge Mann, der sich seiner mathematischen Fähigkeiten
rühmt. Wer an Gott glaubt, steht in Gefahr, einer noch
Wirkung ist.
Das ist erhaben nach Art des Raumes auf den Fresken des
Giotto. Eine Demütigung, die uns zwingt, selbst der Ver-
zweiflung zu entsagen.
1
Arnolphe, der betrogene Ehemann in Molières »Schule der Frauen«;
Phaedra, die Titelheldin der gleichnamigen Tragödien des Euripides und
Racine; Lykaon, siehe Ovid, Metamorph., I. Buch, Vers 196 ff.
2
Ilias, XXIV. Gesang, Vers 602 [Übersetzung Voß-Rupé].
95
Das Böse bewirkt den Unterschied, es verhindert, daß Gott
alles sei.
Mein Elend bewirkt, daß ich »ich« bin. Das Elend des
Universums bewirkt, daß Gott, in einem Sinne, Ich [das
heißt: eine Person] ist.
anderswo als von mir, nicht als eine Gabe, sondern als ein
Darlehen, das unaufhörlich der Erneuerung bedarf. Alles,
96
Entschaffung
Unerschaffene.
q Die Schöpfung ist ein Akt der Liebe, und sie ist
Gottes zu uns. Gott aber kann nur sich selbst lieben. Seine
Liebe zu uns ist Selbstliebe durch uns hindurch. Also liebt er,
der uns das Sein gibt, in uns die Einwilligung, nicht zu sein.
Gott, der sich aus Liebe von uns zurückzieht, damit wir ihn
lieben können. Denn wären wir den Strahlen seiner Liebe
unmittelbar
97
ausgesetzt, ohne den Schutz von Raum, Zeit und
Stofflichkeit, wir würden verdunsten wie das Wasser in der
Sonne; wir hätten nicht genügend Ich in uns, um das Ich aus
Liebe preiszugeben. Die Notwendigkeit ist die Schutzwand
zwischen Gott und uns, damit wir sein können. An uns ist es,
sein. Wir sollen darauf verzichten, etwas zu sein. Dies ist für
uns das einzige Gut.
98
tet, auf einen so engen Raum einschränkt. Ebenso jedesmal,
wenn man das Ich [das soziale, das psychologische und so
weiter] erhöht, wie hoch man es auch erhebe, man erniedrigt
sich doch unendlich, indem man sich auf nichts als das
einschränkt. Wenn das Ich erniedrigt ist [es sei denn, die
ist.
selbst entschaffen.
99
Entsprechend wird der Mensch seinerseits durch die
Ermüdung, das Unglück, den Tod zu einem Stoff und von
Gott verzehrt. Wie könnte man sich dieser Gegenseitigkeit
verweigern?
werden. Hat man einmal begriffen, daß man nichts ist, so ist
In dem Maße, als ich nichts werde, liebt Gott sich durch mich
hindurch.
q Was unten ist, gleicht dem, was oben ist. Daher ist die
man nach dem streben, was das Niedrigste ist, als nach
einem Gleichnis.
100
mit das, was erhaben ist, hinaufsteigen könne. Denn wir
sind in uns verkehrt. Wir werden als Verkehrte geboren. Die
Ordnung wiederherstellen, heißt das Geschöpf in uns
auflösen.
101
samkeit auf mich zu lenken, einige Wurzeln des Baumes
abtrennen. Man mag von der Meinung der Menschen noch so
unabhängig sein, in den ungewöhnlichen Taten liegt dennoch
immer ein Anreiz, der sich nicht daraus entfernen läßt.
Dieser Anreiz fehlt den gewöhnlichen Verrichtungen völlig.
102
Aber auch die Lust, das Glück, der Wohlstand - wenn man zu
erkennen imstande ist, was sie Äußerlichkeiten [dem Zufall,
den Umständen usw.] verdanken -, auch sie sind Zeugnisse
des menschlichen Elends. Auch von ihnen den nämlichen
Gebrauch machen. Und selbst die Gnade, soweit sie ein
Ansichten über das, was gut, und das, was dauerhaft ist, usw.
Und alles dieses soll man nicht selber von sich abtun,
Qual soll also noch größer sein als im wirklichen Unglück, sie
soll nicht durch die Länge der Zeit in kleinere Teile zerlegt,
103
tive Energie erfaßt, dann begegnen wir solchen Fällen wie
dessen, daß die Natur die letzte Gewalt erlitten habe. Hiob,
das Kreuz. . .
Die Liebe der Phaedra, des Arnolphe ist unrein. Eine Liebe,
Augenblick können wir nichts sein als das, was wir sind:
1
»Und in mir spür’ ich: ja zerbersten muß ich [Wenn meines Schicksals
Unheil sich erfüllt.]« Molière, Die Schule der Frauen» IV, 1
104
q Es gibt im menschlichen Leben nur zwei Augenblicke
vollkommener Nacktheit und Reinheit: Geburt und Tod.
Unter der menschlichen Gestalt kann man Gott nicht
anbeten, ohne die Gottheit zu beflecken, außer als
Neugeborener und als Sterbender.
finden, daß man selber nicht ist, denn das ist ein und
derselbe Gedanke. Und daß auch unsere sinnliche Natur an
105
q Der Glaube an die Unsterblichkeit ist deshalb schädlich,
weil es nicht in unserer Macht steht, uns die Seele wahrhaft
entkörpert vorzustellen. So ist dieser Glaube tatsächlich
Glaube an eine Verlängerung des Lebens und verhindert
den rechten Gebrauch des Todes.
q Sein und Haben. - Der Mensch hat kein Sein, er hat nur
ein Haben. Das Sein des Menschen hat seinen Ort hinter dem
106
kennen vermag, ist einzig das, was ihm die Umstände
handelt sich um die Stufe der Liebe. Ist die Liebe von gleicher
Dimension, über dies alles hinaus? Wie tief diese Liebe auch
dem Endlichen auf das Unendliche hin entreißt, der die Liebe
läßt. Das ist der Tod der Seele. Wehe dem, bei dem der
leibliche Tod dem Tod der Seele vorausgeht! Die Seele, die
nicht ganz von Liebe erfüllt ist, stirbt eines schlechten Todes.
q Der Schein haftet am Sein und nur der Schmerz kann eins
vom anderen ablösen.
107
Wer das Sein hat, kann nicht den Schein haben. Der Schein
fesselt das Sein. Der Lauf der Zeit trennt das Scheinen vom
Sein und das Sein vom Scheinen mit Gewalt. Die Zeit macht
offenbar, daß sie nicht die Ewigkeit ist.
q Man muß sich entwurzeln. Den Baum fällen und ein Kreuz
daraus zimmern und dieses dann alle Tage tragen.
q Man soll nicht »ich« sein, aber man soll noch weniger
»wir« sein.
Zuhauseseins.
Stätte.
108
Auslöschung
q Das Ich ist nur der Schatten, den Sünde und Irrtum,
welche das Licht Gottes aufhalten, werfen, und dem ich ein
q Das, was der Bleistift für mich ist, wenn ich geschlossenen
Auges mit seiner Spitze den Tisch abtaste - dies für Christus
109
ist. Es bedarf unserer Einwilligung, daß er durch uns
anderen Sinn als die Liebe; wie der Vater seinem Kinde das
anderes ist als Liebe, hat nichts anderes erschaffen als Liebe.
q Alles, was ich sehe, höre, atme, berühre, esse, alle Wesen,
denen ich begegne - alles dieses beraube ich seiner
mit all diesem in dem Maße, als etwas in mir »ich« sagt. Ich
kann etwas tun für alles dieses und für Gott, nämlich: mich
durchscheuert nach
110
und nach die Stricke, die mich an meine Stelle fesseln und
mich daran hindern.
Wesen für mich empfinden, nur ein Irrtum sein kann. Aber
seine Schöpfung liebt, die man nur von dem Punkt aus, an
dem ich mich befinde, haben kann. Aber ich verstelle diese
Berührung treten kann, die der Zufall auf meinen Weg stellt
Erde, auf der ich gehe, dem Meer, das ich höre . . . Was ist
111
gabung usw. in mir vorhanden ist? Ich habe dessen immer
genug, um zu verschwinden.
diese Dinge, die ich sehe, würden - weil sie aufhörten, Dinge
zu sein, die ich sehe - vollkommen schön!
der sie fühlbar ist. Denn mir kann sie ihr Geheimnis nicht
sagen, das zu hoch ist. Daß ich fortginge - und der Schöpfer
und das Geschöpf könnten ihre Geheimnisse austauschen!
Eine Landschaft so zu sehen, wie sie ist, wenn ich nicht darin
bin. . .
Wenn ich irgendwo bin, beflecke ich das Schweigen des
Himmels und der Erde durch mein Atmen und das Schlagen
meines Herzens.
1
»Der meinen Augen jetzt die Klarheit raubt, der Tod Schenkt so dem Licht
Racine, Phaedra, V 7
112
q Hinnehmen, daß man der Notwendigkeit unterworfen
ist, und nur handeln, indem man sie behandelt.
113
der vor Durst verschmachtet, zu trinken zu geben, wenn
das Wasser nahe ist. Weder ein Räuber noch ein Heiliger
würde dies unterlassen.
Analog gilt es, die Fälle zu erkennen, in denen, obwohl
dies auf den ersten Blick nicht ebenso unmittelbar
andern nicht.
q Nicht einen Schritt tun, sogar auf das Gute hin, über
wissen, wohin.
114
q Wenn mein ewiges Heil als ein Gegenstand vor mir auf
diesem Tisch läge, und ich brauchte nur die Hand
auszustrecken, um es zu ergreifen, so streckte ich die Hand
nicht aus, ohne den Befehl dazu empfangen zu haben.
»Ich war nackt, und ihr habt mich gekleidet.« Diese Gabe ist
115
sung, daß sie nicht anders konnten, als die Hungrigen
speisen, die Nackten kleiden; sie taten dies keineswegs um
Christi willen, sie konnten nicht anders: sie mußten so
handeln, weil die Erbarmung Christi in ihnen war. Wie der
heilige Nikolaus, als er mit dem heiligen Cassian durch die
Hilfe zu bringen. Die Hilfe kommt von dem Herrn, aber sie
116
gelitten. Er hat für die Menschen gelitten durch den Willen
des Vaters.
Man kann nicht sagen, der Sklave, der Hilfe bringt, tue dies
für seinen Herrn. Er tut nichts. Selbst wenn er, um bis zu
dem Unglücklichen hinzugelangen, mit nackten Füßen über
sein Ziel.
117
nen in keinem Falle etwas hervorbringen, das besser wäre
als wir selbst. Darum darf die wahrhaft auf das Gute
gerichtete Bemühung ihr Ziel nicht erreichen; erst nach
einer langen und ergebnislosen Anspannung, die in
Verzweiflung endet, wenn man nichts mehr erwartet, dann
Fülle, die in uns ist, zerstört. Die göttliche Leere, die voller
ist als jede Fülle, ist herbeigekommen und hat Wohnung
genommen in uns.
dann mit Liebe, von ganzer Seele und ohne Worte denkt:
»Dein Wille geschehe!« - was man dann ohne Ungewißheit zu
tun sich verpflichtet fühlt [selbst wenn es in gewisser
Hinsicht ein Irrtum wäre], das ist Gottes Wille. Denn er gibt
keine Steine, wenn man ihn um Brot bittet.
hinausgeht.
118
habe diesbezüglich eine übernatürliche Eingebung
empfangen. Denn Gott ist das universale Sein. Gewiß, er
steigt in das Besondere herab. Er ist herabgestiegen, er steigt
herab im Akt der Schöpfung; ebenso in der Menschwerdung,
in der Eucharistie, in der Eingebung usw. Aber dies ist eine
rettet, was man auch tue, wenn man Gott unendlich über
sich stellt, und sie verdammt, was man auch tue, wenn man
119
mögliches Böses lange Zeit zu betrachten, ohne es zu
vollbringen, bewirkt eine Art von Trans-substantiation.
Widersteht man ihm mit einer endlichen Kraft, so erschöpft
diese Kraft sich in einer gegebenen Zeit, und wenn sie
erschöpft ist, erliegt man der Versuchung. Bleibt man
120
q Es gibt zweierlei Gehorsam. Man kann der Schwerkraft
gehorchen oder dem Verhältnis der Dinge. Im ersten Fall tut
man das, wozu die Einbildungskraft treibt, die jede Leere
auszufüllen sucht. Dem kann man dann, oft sogar mit dem
Anschein der Wahrheit, jede Namensbezeichnung, mit
Bevor man nicht so weit gelangt ist, hat man weder einen
Begriff von der Notwendigkeit noch das Gefühl des echten
Gehorsams.
Dann kann man nicht mehr stolz sein auf das, was man
vollbringt, selbst wenn man Wundertaten vollbrächte.
121
Tat einschließt und alle Sorge um den Lohn dem Vater
Verborgene sieht.
q Das Handeln ist der Zeiger der Waage. Man soll nicht
Genau das gleiche gilt für die Meinungen. Daher also ent-
gefällt hat - in diesem oder jenem Sinne. Sehr viel wahrer als
122
q Wenn im Menschen die Natur, während sie von jedem
fleischlichen Antrieb abgelöst und jedes übernatürlichen
Lichtes beraubt ist, Taten vollbringt, die mit dem
übereinstimmen, was das übernatürliche Licht forderte,
wenn es gegenwärtig wäre, so ist dies die Fülle der Reinheit.
Täuschungen
q Man wird zu einer Sache hingezogen, weil man sie für gut
gelten.
nicht ihr Dasein, sondern ihren Wert. Das Gleichnis von der
Höhle bezieht sich auf den. Wert. Wir besitzen nur Schatten
123
Gute sind wir Gefangene und in Fesseln [Verhaftung], Wir
Wertsystems.
XXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXX
124
fen sind, keine Existenz zu. Aber unsere Unterworfenheit
existiert. Wir liegen in wirklicher Haft an unwirklichen
Ketten. Die Zeit, die selber etwas Unwirkliches ist, verbreitet
über alles und uns selbst einen Schleier der Unwirklichkeit.
ein Mittel [das Geld] ist schon als solches etwas anderes als
ein Gut. Löst man es jedoch aus seiner Funktion als ein
Mittel heraus, setzt man es als einen Zweck, so ist es noch
weiter davon entfernt, ein Gut zu sein. Die
Sinnesempfindungen sind unwirklich in bezug auf die
Ablösung stattfindet.
125
q Die Seele, die das Haupt über den Himmel hinausgereckt
126
q Wie unterscheidet man in geistlichen Dingen das
gestaffelter Ebenen.
fortgeschritten glaubt, als man ist: das Licht tut darum nicht
ohne sie auszudeuten. Was man dann liebt, das ist wahrhaft
Gott.
[127]
127
Ist man durch das absolute Gut hindurchgegangen, so findet
absoluten Gutes.
jedes Gut und jedes Übel begrenzt und vermischt sind und
Regeldetri hinausgehen.
inkarnieren.
128
q Heilmittel gegen die imaginäre Liebe. Gott in sich das
strikte Minimum gewähren, das, was man ihm auf keine
Weise verweigern kann - und begehren, daß dieses strikte
Minimum eines Tages und so bald wie möglich alles werde.
Das Gegenteil trifft zu: man würde sich erheben, wenn man
Spiel liebt.
seinen Ort anweist. Ist dies eine Stufe, die nur dem
Endlichen angemessen ist, so ist es von geringem Belang, mit
welchem Namen man es nennt.
129
Sie mögen ihn lieben, wie man hungert und dürstet. Nur das
Oberste hat ein Anrecht auf Sättigung.
q Furcht vor Gott bei dem heiligen Johannes vom Kreuz. Ist
es nicht die Furcht davor, an Gott zu denken, wenn man
130
zu begehren, dessen physiologische Grundlage die.
geschlechtliche Energie ist, auf Gott richtet, und der falschen
Nachahmung des Mystikers, welche, diesem Vermögen seine
natürliche Richtung belassend und ihm einen imaginären
Gegenstand vorsetzend, diesem Gegenstand als Bezeichnung
heiligen Dingen.
wertlos.
131
Noch schlimmer aber ist es, wenn sie uns ihm auf eine
schlechte Weise, das heißt, wenn sie uns einem imaginären
Gott näher bringt.
sich und dem, was groß ist, das Ich zu einem Werkzeug der
unterscheiden?
132
mit Notwendigkeit falsch, und das, was wahr ist, ruft fast
scheint wie das Falsche, dies ist der Triumph der Heiligkeit
theatralischer Prediger.
nennt. Aber die Lüge ist ein Panzer, der dem Menschen oft
sondert Lüge
133
ab, um nicht zu sterben, und zwar je mehr, je größer die
Todesgefahr ist. Deshalb gibt es keine Liebe zur Wahrheit
ohne vorbehaltlose Bereitschaft zum Tode. Das Kreuz Christi
ist die ein zige Pforte zur Erkenntnis.
q Jede Sünde, die ich begangen, soll mir als eine Gunst
Gottes gelten. Denn es ist eine Gunst, daß die wesenhafte
Unvollkommenheit, die in meinem Grunde verborgen ist,
mir an dem und dem Tage, zu der und der Stunde, unter den
und den Umständen teilweise offenbar geworden ist. Ich
q Alles, was ohne Wert ist, flieht das Licht. Hie-nieden kann
man sich unter das Fleisch verbergen. Im Tode kann man es
nicht mehr. Nackt ist man dem Licht ausgeliefert. Das ist
die Mühe;
134
sondern in dem Widerwillen des Fleisches gegen das Gute.
Denn für eine schlechte Sache, wenn der Anreiz nur kräftig
genug ist, wird das Fleisch zu allem bereit sein; es weiß ja:
dies kann ich tun, ohne sterben zu müssen. Selbst der Tod,
den man für eine schlechte Sache erleidet, ist für den
fleischlichen Teil der Seele nicht der wahrhafte Tod. Gott von
Angesicht zu Angesicht zu schauen, das allein ist dem
die Sünde uns sehr wirksam davor schützt, ihn von Angesicht
zu Angesicht zu schauen: Lust und Schmerz liefern uns
einzig den unentbehrlichen leichten Anstoß zur Sünde, und
vor allem liefern sie den Vorwand, das Alibi, die noch
nicht das, was uns von Gott entfernt, es ist der Schleier, den
135
Vielleicht gilt dies jedoch erst von einem bestimmten Punkt
ab. Das Höhlengleichnis scheint darauf hinzudeuten. Das
Erste, was einen schmerzt, ist die Bewegung. Dann, wenn
man den Ausgang erreicht hat, schmerzt einen das Licht. Es
blendet nicht nur, sondern es verletzt; so daß sich das Auge
q Gott muß mich mit Gewalt ergreifen, denn wenn jetzt der
Tod, die Scheidewand des Fleisches niederreißend, mich vor
Götzendienst
doch fast jeden Tag, ins Leere abmühen. Dazu aber bedarf
man des übernatürlichen Brotes.
136
Der Götzendienst ist also eine Lebensnotwendigkeit in der
Der Mensch möchte Egoist sein und kann es nicht. Dies ist
Ordnung.
137
q Wir brauchen die Demut nicht zu erwerben. Die Demut ist
in uns. Nur demütigen wir uns vor falschen Göttern.
Liebe
q Nicht weil Gott uns liebt, sollen wir ihn lieben. Sondern
weil Gott uns liebt, sollen wir uns lieben. Wie könnte man
diesem Umweg.
über einen Stab fesselt, so trennt dieser Stab mich von den
Hände fühlen nur den Stab, mein Sinn nimmt nur die Mauer
berührt nur die Geschöpfe und geht doch nur auf Gott. Sie
liebt nur die Geschöpfe [was haben wir anderes, das wir
138
schöpfe, einen selber mit einbegriffen. Einen Fremden zu
lieben wie sich selbst, schließt als Gegenstück ein, daß man
sich selbst wie einen Fremden liebt.
q Die Liebe zu Gott ist rein, wenn Freude und Leid die
Gewalt. Dies ist die einzige Reinheit. Die Berührung mit dem
Schwerte verursacht immer dieselbe Besudelung, ob man
nun das Heft ergreife oder ob einen die Spitze treffe. Die
139
berauben; aber er wird sich von Gott verlassen fühlen. Die
übernatürliche Liebe hat keinerlei Berührung mit der
Gewalt, aber sie schützt auch die Seele nicht vor der Kälte
der Gewalt, der Kälte des Stahls. Nur eine irdische Bindung,
wenn sie genügend stark ist, kann einen Schutz vor der
Liebe liebt, dem läßt der Mord die Seele erstarren, er sei der
Täter oder das Opfer, und ebenso jede andere Gewalttätig-
keit, wenn sie auch nicht bis zum Tode selbst geht. Begehrt
q Die Liebe will immer weiter und weiter gehen. Aber sie
hat eine Grenze. Ist diese Grenze überschritten, schlägt die
140
luter Idealismus, Solipsismus, Skeptizismus; siehe die
Upanishaden, die Taoisten und Plato, die sämtlich diese
philosophische Haltung einnehmen, als eine Läuterung],
Darum ist die Hinnahme, die Liebe, das einzige Organ,
durch das wir die Existenz berühren. Darum sind Schönheit
herabsteigt.
141
verhaftet, und jeder Strick kann durchschnitten werden.
Ebenso ist man dem Gott seiner Einbildung durch einen
Strick verhaftet, dem Gott, den wir mit einer Liebe lieben,
die ebenfalls Verhaftung ist. Dem wirklichen Gott aber ist
man nicht verhaftet, und deshalb gibt es hier keinen Strick,
draußen, und das einzige, was wir von ihnen erkennen, sind
die Spannungen unterschiedlichen Grades und in
veränderlicher Richtung, die sich dem Strick mitteilen,
q Es ist eine Feigheit, bei denen, die man liebt, eine andere
142
möchte verstanden werden, so nicht um seinet-, sondern um
des andern willen, damit man für ihn existiere.
wider die Reinheit auf und hat, um sein Leben zu retten, das
ist das, was man nicht ändern wollen kann. Sich einer Sache
143
Schatz niemals, ohne ihn in seiner Einbildung n-mal größer
zu sehen. Man muß gestorben sein, um die Dinge nackt zu
sehen.
So ist Keuschheit in der Liebe oder Mangel an Keuschheit, je
nachdem, ob das Begehren auf die Zukunft gerichtet ist oder
dem Muster der Zukunft vorgestellt wird, ist die Liebe, die
man den Gestorbenen weiht, vollkommen rein. Denn sie ist
das Begehren nach einem endlichen Leben, das nichts Neues
144
liche Wesen als ein Wert an sich betrachtet. Die Seele einer
Frau lieben, heißt an diese Frau nicht in Hinsicht auf seine
eigene Lust denken, usw. Die Liebe ist der Beschauung
unfähig geworden, sie will den Besitz [Verschwinden der
platonischen Liebe]1.
1 Diese »platonische« Liebe hat nichts mit dem gemein, was man heutzutage
so nennt. Sie geht nicht von der Einbildung aus, sondern von der Seele. Sie ist
die rein geistliche Schau. Vgl. weiter unten das Kapitel über die Schönheit.
[Anmerkung des Herausgebers:]
145
rinnen, ist eine Feigheit. Die Freundschaft kann nicht
gesucht, nicht erträumt, nicht begehrt werden; sie wird
ausgeübt [sie ist eine Tugend]. Diesen ganzen Wust unreinen
und verworrenen Gefühls hinausfegen. Schluß!1
1 Im Original deutsch
146
der Freundschaft, im Gegenteil. Ja eben an diesem
untrüglichen Zeichen wirst du sie erkennen. Jede andere
Zuneigung muß streng in Zucht gehalten werden.
die gleiche Schicht. So kann der Hörer, wenn er die Gabe der
Unterscheidung besitzt, erkennen, was diese Worte wert
sind.
q Die Wohltat ist eben darum erlaubt, weil sie eine noch
größere Demütigung darstellt als der Schmerz, eine noch
vorgeschrieben, weil dies der Gebrauch ist, den wir von der
147
q Dankbarkeit ist zuerst Sache des Helfenden, wenn die
Hilfe rein ist. Der Verpflichtete schuldet sie nur als
Gegenleistung.
mir sagen können, daß man mich gut behandelt, weder aus
Mitleid, oder aus Sympathie, oder aus Laune, als Vergünsti-
gung oder auf Grund eines Vorrechts, noch aus irgendeiner
Das Böse1
Unendliche.
1 Das französische Wort »le mal« dient zur Bezeichnung alles dessen, was dem Guten oder
einem Gut entgegengesetzt ist; es bedeutet daher je nachdem das in praktisch-sachlicher, in
sittlicher oder in religiöser Hinsicht Schlechte, sowohl das Böse [malum quod est culpa] als
auch das Übel [malum quod est poena] und ferner im Einzelfalle alles dem Körper oder der
Seele Schädliche, Unangenehme oder Beschwerliche: Krankheit, Schmerz, Leid. Bei
solcher Breite des Bedeutungsfeldes sah sich die Übersetzung verschiedentlich genötigt,
dieses Wort durch den im jeweiligen Falle besonderen und
148
Das Unendliche allein begrenzt das Unbegrenzte.
eintönig: hier muß man alles aus sich selber holen. Es ist
149
q Literatur und Moral. Das imaginäre Böse ist romantisch,
abwechslungsreich, das wirkliche Böse stumpfsinnig,
eintönig, öde, langweilig. Das imaginäre Gute ist langweilig;
das wirkliche Gute ist immer neu, wunderbar, berauschend.
Deshalb ist die »Romanliteratur« entweder langweilig oder
q Das Gute als der Gegensatz des Bösen ist ihm in einem
Sinne gleichwertig wie alle Gegensätze.
q Was das Böse verletzt, ist nicht das Gute, denn das Gute ist
Ehe-
150
bruch und die »anständige Frau«; Sparkasse und
Vergeudung; Lüge und »Aufrichtigkeit«.
q Das Gute ist seinem Wesen nach anders als das Böse. Das
Böse ist vielfältig und fragmentarisch, das Gute ist eines; das
Böse ist scheinhaft; das Gute ist geheimnisvoll; das Böse be-
steht in Handlungen, das Gute im Nicht-Handeln, in nicht-
handelndem Handeln, usw. - Das Gute, das mit dem Bösen
auf gleicher Stufe steht und ihm nur entgegengesetzt ist wie
ein Gegenteil einem Gegenteil, ist ein Gutes im Sinne des
die dem Bösen ergeben sind? Ich glaube nicht. Die Laster
sind der Schwerkraft unterworfen, und darum gibt es keine
vollbringt.
151
Die Erfahrung des Bösen gewinnt man nur, indem man sich
verbietet, es zu vollbringen, oder, hat man es schon
vollbracht, indem man es bereut.
Vollbringt man das Böse, so erkennt man es nicht, weil das
Böse das Licht scheut.
q Sobald man das Böse tut, erscheint das Böse als eine Art
Pflicht. Die Mehrzahl hat das Gefühl der Pflicht bei
usw. Bei ihnen ist das Gute mit dem Bösen auf gleicher Stufe,
ein Gutes ohne Licht.
152
Das wahre Verbrechen wird nicht empfunden. Der leidende
Henker weiß sie nicht. Das Böse, das der Unschuldige in sich
empfinden.
q Die Sünde, die in uns ist, tritt aus uns heraus und
verbreitet sich draußen, indem sie die andern für die Sünde
wird Leiden. Dies ist die Aufgabe, die dem Gerechten des
153
Vielleicht darf man hieraus folgern, daß der erlösende
Schmerz dem Sozialen entstammen muß. Er muß
Ungerechtigkeit sein, von menschlichen Wesen verübte
Gewaltsamkeit.
Befreiung.
einzigen, denen
154
der Strafapparat nichts Böses zufügen kann. Den
Unschuldigen fügt er ein furchtbares Böses zu. Findet eine
Übertragung des Bösen statt, so wird das Böse bei dem, von
welchem es ausgeht, nicht vermindert, sondern vermehrt.
Phänomen der Multiplikation. Das gleiche gilt für die Über-
bleibt.
Die Geduld besteht darin, daß man das Leiden nicht in
Verbrechen umwandelt. Dies genügt schon, um das
Verbrechen in Leiden umzuwandeln.
155
sie widersetzt sich der Operation der Übertragung. Hefte ich
Insofern aber ist sie auf das äußerste verwundbar, als jedes
ihr angetane Böse sie leiden macht und jede Sünde, die sie
q Wenn man mir Böses tut, wünschen, daß dieses Böse mich
156
q Die Heiligen [die fast Heiligen] sind mehr als die andern
dem Teufel ausgesetzt, weil die wirkliche Kenntnis, die sie
von ihrem Elend haben, ihnen das Licht fast unerträglich
macht.
q Die Sünde wider den Geist besteht darin, daß man etwas
als gut kennt und es eben als ein Gutes haßt. Etwas Ähnliches
sein in dem Gedanken, daß das Gute das Gute ist, wenn man
selbst auch ferne davon ist, ja selbst dann, wenn es einem
bestimmt wäre, sich unendlich davon zu entfernen.
157
die verbrecherischste Schwäche unendlich viel weniger
gefährlich als der geringste Verrat, bestünde dieser auch nur
in einer rein innerlichen Regung unsres Sinnes, die kaum
einen flüchtigen Augenblick währte, aber mit unserer
Einwilligung geschähe. Dies ist die Teilhabe an der Hölle.
Solange die Seele das reine Gute noch nicht verkostet hat, ist
sie von der Hölle ebenso geschieden wie von dem Paradies.
q Liebt man Gott durch das Böse als solches hindurch, dann
ist es wahrhaft Gott, den man liebt.
man dieses Böse haßt. Gott lieben als den Urheber des Bösen,
das zu hassen man im Begriff steht1. Das Böse ist für die
Liebe, was das Mysterium für die Vernunft ist. Wie das
Mysterium die Tugend des Glaubens nötigt, eine
158
machen zu wollen, ist der Liebe ebenso abträglich wie der
Versuch, den Inhalt der Mysterien nach menschlicher
Vernünftigkeit auslegen zu wollen.
q Die Agonie ist die letzte dunkle Nacht, deren selbst die
Vollkommenen zur gänzlichen Reinheit bedürfen, und
darum ist es besser, daß sie bitter sei.
159
Gute wirklich gegenwärtig ist. Das Böse wird von denen
verübt, die von dieser wirklichen Gegenwart keine Kenntnis
haben. Insofern ist es wahr, daß niemand willentlich böse ist.
Wo das Verhältnis durch die Gewalt bestimmt wird,
empfängt das Abwesende die Macht, das Gegenwärtige zu
zerstören.
Man wird von Entsetzen ergriffen, wenn man betrachtet, wie
weit das Böse sich erstreckt, das der Mensch tun und
erleiden kann. Wie könnte man glauben, daß es möglich sei,
für dieses Böse einen Ausgleich zu finden, da ja um dieses
Wirklichkeit mindert. Die Römer taten das Böse, als sie die
griechischen Städte ihrer Bildwerke beraubten, weil die
Städte, die Tempel, das Leben jener Griechen ohne diese
160
nichts Niedriges an. Aber sie mußte fast mit Notwendigkeit
wirkungslos bleiben. Verpflichtung, das Wertsystem des
andern zu verstehen und mit dem eigenen auf der gleichen
Waage zu wägen. Die Waage schmieden.
161
gilt das völlige Gegenteil; der Graben wird gesehen, wenn es
zum Sprung anzusetzen gilt, im Augenblick des Ablösens und
der Zerreißung. Man fällt nicht in das Gute. Der Ausdruck
Niedrigkeit bezeichnet diese Eigenschaft des Bösen.
q Etwas wesentlich anderes als das Böse ist die Tugend, die
162
Leid anzutun, wenn man einen Punkt erreicht hat, wo kein
anderer uns noch ein Leid antun kann [dann liebt man die
anderen, im äußersten Falle, wie sein früheres Selbst].
Dies kommt daher, daß man nicht weiß, daß das menschliche
Elend eine unveränderlich gleichbleibende Quantität ist, die
in jedem Menschen gerade so groß ist, als sie sein kann, und
163
also zwischen einem Menschen und einem anderen völlige
Gleichheit besteht.
an jener Stelle, wo die Liebe gerade möglich ist. Das ist ein
großes Vorrecht, denn die vereinigende Liebe ist dem Ab-
stand proportional.
Gott hat eine Welt erschaffen, die nicht die beste der
möglichen Welten ist, sondern die alle Grade des Guten und
164
finden uns an jener Stelle, wo sie die schlechteste der
möglichen Welten ist. Denn jenseits liegt die Stufe, wo das
Böse zur Unschuld wird.
Das Unglück
Paradies glauben.
165
q Zweierlei Vorstellungen von der Hölle: die gewöhnliche
[Leiden ohne Tröstung]; die meinige [falsche Glückseligkeit,
sich irrtümlich im Paradies glauben].
Noch besser aber ist es, zu leiden und das Gefühl des
rein äußer-
166
lich und anderseits rein innerlich. Hierzu ist es nötig, daß er
nur in unserem Empfindungsvermögen herrsche. Dann ist er
äußerlich - insofern er außerhalb der geistlichen Teile der
Seele liegt - und innerlich - insofern er gänzlich auf uns selbst
konzentriert ist, ohne auf das Weltall zurückzuwirken, um es
zu entstellen.
Wirklichkeit selbst.
167
Zwei Gedanken erleichtern das Unglück ein wenig.
Entweder, daß es fast unverzüglich aufhören oder daß es
unaufhörlich fortdauern wird. Unmöglich oder notwendig.
Aber man ist außerstande, zu denken, daß es einfach ist. Das
ist nicht auszuhalten.
Unglücks.
nicht gehen willst; die Zeit führt einen mit sich, wohin man
168
wird mich, nicht hinrichten, wenn unterdessen die Zeit
stillsteht. Was auch Entsetzliches bevorstehe, kann man
wünschen, die Zeit möchte stillstehen, die Gestirne möchten
in ihrem Lauf innehalten? Die Gewalt der Zeit zerreißt die
Seele: durch den Riß dringt die Ewigkeit ein.
169
Verwandlung soll in ihnen stattfinden, die sie befähigt, die
Belehrung zu empfangen. Pathos bedeutet zugleich Leiden
[namentlich Leiden bis zum Tode] und Umgestaltung
[namentlich Verwandlung in ein unsterbliches Wesen].
dieser Schmerz das ganze Sein, so daß für Gott kein Raum
mehr bleibt, sogar bei Christus nicht, bei dem zumindest der
muß es
170
kommen, damit die Inkarnation völlig sei. Das ganze Sein
wird ein Gottes-Beraubtsein: wie könnte man darüber
hinausgehen? Danach bleibt nur noch die Auferstehung. Um
dahin zu gelangen, bedarf es der eisigen Berührung des
nackten Eisens.
Bei dieser Berührung muß man sich wie Christus von Gott
getrennt fühlen, sonst ist es ein anderer Gott. Die Märtyrer
fühlten sich nicht von Gott getrennt, aber es war ein anderer
Gott, und es war vielleicht besser, kein Märtyrer zu sein. Der
Gott, in dem die Märtyrer auf der Folter oder im Tode die
q Zu sagen, die Welt sei nichts wert, dieses Leben sei nichts
wert, und zum Beweis das Übel anzuführen, ist widersinnig;
denn wenn sie nichts wert sind, wessen beraubt dann das
Übel? So sind das Leiden im Unglück und das Mit- leid mit
andern desto reiner und heftiger, je besser man die Fülle der
Und begreift man die Fülle der Freude, so verhält sich das
171
Wirklichkeit empfangen haben, um die Wirklichkeit im
Leiden zu finden. Sonst ist das Leben nur ein mehr oder,
minder schlechter Traum. Man muß dahin gelangen, im
Leiden, das Nichts und Leere ist, eine noch vollere
Wirklichkeit zu finden.
Ebenso muß man eine sehr starke Liebe zum Leben haben,
um den Tod noch stärker zu lieben.
Die Gewalt
172
Antwort müßte lauten: brauche Gewalt, es sei denn, du
könntest sie, mit der gleichen Aussicht auf Erfolg, auch ohne
Anwendung von Gewalt verteidigen; es sei denn, du besäßest
eine Ausstrahlung, deren Stärke [das heißt: deren mögliche
Wirksamkeit, im materiellsten Verstände] deiner
Verhielte es sich so, daß das Leben von X.. mit dem eigenen
Leben derart verbunden wäre, daß sein Tod gleichzeitig den
173
Leib und die ganze Seele inbrünstig nach dem Leben
verlangen und man dennoch, ohne zu lügen, hierauf mit Ja
antworten kann, dann hat man das Recht zu töten.
Das Kreuz
Christentums.
174
Vorbild der Gerechtigkeit nackt und tot sein. Einzig das
Kreuz verbietet jede eingebildete Nachfolge.
der Askese oder des Heroismus wollen, nicht aber das Kreuz,
welches Strafleiden ist. Die, welche in der Kreuzigung nur
das dargebrachte Opfer sehen, berauben sie ihres Heils-
q Kreuz. Der Baum der Sünde war ein wirklicher Baum, der
Baum des Lebens war ein Balken. Etwas, das keine Früchte
bringt, sondern nichts ist als senkrechte Aufwärtsbewegung.
175
werk und Früchte sind Kraftvergeudung, wenn man nichts
verführe. Läßt sie sich, und sei es nur auf eines Blitzes
Dauer, eine reine und völlige Einwilligung entreißen, dann
176
Wissen, daß ich als denkendes und endliches Wesen
gekreuzigter Gott hin. Gott gleichen, aber dem gekreuzigten
Gott. Dem allmächtigen Gott, insoweit er durch die
Notwendigkeit gebunden ist.
ist Passion. Wie könnte das Gute das Böse lieben, ohne zu
leiden? Und auch das Böse leidet, wenn es das Gute liebt. Die
wechselseitige Liebe zwischen Gott und Mensch ist Leiden.
177
q Die Ausmaße der Liebe Christi, das ist der Abstand
zwischen Gott und dem Geschöpf. Die Funktion der
Mittlerschaft begreift, durch sich selber, die Zerreißung mit
ein... Darum ist der Herabstieg Gottes zu dem Menschen
oder der Aufstieg des Menschen zu Gott undenkbar ohne
Zerreißung.
groß wie der Abstand, der zu überwinden ist. Damit die Liebe
die größtmögliche sei, ist der Abstand der größtmögliche.
Deshalb kann das Böse bis an die äußerste Grenze gehen,
kommen.
178
q Die Passion ist die Existenz der vollkommenen
Gerechtigkeit, ohne jede Beimischung des Scheinhaften. Die
Gerechtigkeit ist ihrem Wesen nach nicht-handelnd. Sie muß
transzendent oder leidend sein.
bringt, wohltätig ist. Für mich hingegen alles, was ihn von
mir entfernt. Zwischen mir und ihm die Dichte des Alls - und
179
Blutstropfen im Schnee. Die Unschuld und das Böse. Daß das
Böse selber rein sei! Es kann nur rein sein als Leiden eines
Unschuldigen. Ein leidender Unschuldiger ergießt über das
Böse das Licht des Heils. Er ist das sichtbare Bild des
unschuldigen Gottes. Das ist der Grund, warum ein Gott, der
q Wenn man sich entleert, setzt man sich dem ganzen Druck
q Gott gibt sich den Menschen als der Mächtige oder als der
des Aufstiegs. Der Himmel, der auf die Erde herabsteigt, hebt
180
Hebel. Niedersenken, wenn man hinaufheben will.
q Eins, die kleinste Zahl. »Die Eins, die das allein Weise
ist.«1 Sie ist das Unendliche. Eine Zahl, die zunimmt, glaubt,
sich dem Unendlichen zu nähern. Sie entfernt sich davon.
Rausch, einem Zuwachs. Die Lust aber gibt uns nichts, außer
Grenzen und unseres Elends hebt uns auf eine höhere Stufe
hinauf.
181
»Wer sich erniedrigt, der wird erhöht werden.« Die
aufsteigende Bewegung in uns ist eitel [und schlimmer als
eitel], wenn sie nicht aus einer Abwärtsbewegung
hervorgeht.
reduzierte Körper.
richtet.
und leichter Körper, der aber Gott war, das Gewicht der
ganzen Welt gehoben hat. »Gib mir einen Stütz-
Vers 23
182
pünkt, und ich werde die Welt aufheben.« ..Dieser
muß dort sein, wo die Welt und das, was nicht die Welt ist,
Das Unmögliche
q Das Gute ist unmöglich. - Aber der Mensch hat stets die
bei jedem Ereignis, das uns selbst nicht zermalmt, einen Teil
»um wie vieles das Wesen des Notwendigen sich von dem des
Gott zu verlegen, der nichts anderes ist als das Gute selbst,
183
q Das Begehren ist unmöglich; es zerstört seinen
Gegenstand. Die Liebenden können nicht eins sein, noch
kann Narziß zwei sein. Don Juan, Narziß. Weil es unmöglich
ist, etwas zu begehren, soll man das Nichts begehren.
ist das Gefühl der Wirklichkeit. Denn unser Elend ist nicht
etwas, das wir erfinden. Es ist wirklich. Darum muß man es
lieben. Alles übrige ist imaginär.
Nur Unvermögen.
184
»Unser Vater, der du bist im Himmel.« Darin liegt eine Art
uns vom Erdboden abzulösen, wie ein Erdwurm. Und Er, wie
sind. Nur die Lüge kann uns diese Evidenz verhüllen. Das
greifen.
185
q Wenn etwas, trotz aller Bemühungen, unmöglich zu
erlangen scheint, so ist das ein Anzeichen dafür, daß man auf
dieser Stufe auf eine unübersteigbare Schranke gestoßen ist.
Hier ergibt sich die Notwendigkeit, einen Höhenwechsel
vorzunehmen. Sich auf dieser Stufe bis zur Erschöpfung
auszukosten.
einiger Nähe bemerke ich, daß der, auf den ich zulaufe, ein
man sie vollbringt, sich mit ganzer Seele bewußt ist, daß eine
Wohltat etwas schlechthin Unmögliches ist.
186
Das Gute tun. Was ich auch tue, ich weiß mit völliger
Deutlichkeit, daß es nicht das Gute ist. Denn wer nicht gut ist,
tut nicht das Gute. Und »Gott allein ist gut« ...
Was man auch tue, in jeder Lage tut man Böses, ein
unerträgliches Böses.
Man soll darum bitten, daß alles Böse, was man tut, einzig
und unmittelbar auf einen selbst fällt. Das ist das Kreuz.
q Gut ist die Tat, die man vollbringen kann, während man
gerichtet hält.
Widerspruch
187
q Der bis auf den Grund des eigenen Seins erlittene
188
Metapher der Erhebung. Nehme ich meinen Weg auf der
Flanke eines Berges, so kann ich erst einen See sehen, dann
nach einigen Schritten einen Wald. Ich muß wählen:
entweder den See, oder den Wald. Will ich See und Wald
gleichzeitig sehen, so muß ich höher hinaufsteigen. Allein,
der Berg ist nicht vorhanden. Er besteht aus Luft. Man kann
nicht steigen: man muß gezogen werden.
des Aufsteigens in mir. Ich kann nicht durch die Luft bis in
den Himmel klettern. Nur indem ich meinen Sinn auf etwas
richte, das besser ist als ich, zieht dieses Etwas mich nach
oben. Werde ich wirklich gezogen, dann ist dieses Etwas
ein Mut sein, der dem entspricht, was ich mir in meiner
augenblicklichen Unvollkommenheit unter diesem Namen
vorstelle, und der folglich
189
über diese Unvollkommenheit nicht hinausgeht. Es handelt
sich also nur um eine Veränderung auf der gleichen Ebene,
nicht um einen Wechsel der Ebene selbst.
Der Widerspruch ist das Kriterium. Unvereinbare Dinge
kann man sich nicht durch Suggestion verschaffen. Nur die
Art wilder Lust jede Zärtlichkeit in sich selber aus. Nur die
Gnade kann uns Mut geben, ohne daß die Zärtlichkeit, oder
Zärtlichkeit, ohne daß der Mut darunter leidet.
übernatürlich.
190
q Konträre Gegensätze und kontradiktorische
Widersprüche. Was das Verhältnis der konträren Gegensätze
vermag, um das natürliche Sein zu berühren, das vermögen
die in eins gedachten kontradiktorischen Widersprüche, um
Gott zu berühren.
191
glaubten, das Böse ließe sich dadurch vernichten, daß man
den Unterdrückten die Macht gebe. Ein unmöglicher Traum.
Worin also liegt der spezifische Unterschied zwischen der
schlechten und der rechten Vereinigung der Gegensätze?
Die schlechte Vereinigung der Gegensätze [schlecht, weil
erlogen] wird auf der gleichen Ebene vollzogen, auf der die
Gegensätze gelten. So, wenn man die Unterdrückten zur
192
q Die Zuordnung der kontradiktorischen Widersprüche ist
Ablösung. Die Anhänglichkeit an einen besonderen
Gegenstand kann nur durch eine hiermit unvereinbare
Anhänglichkeit zerstört werden. Darum heißt es: »Liebet
eure Feinde ... Wer nicht haßt seinen Vater und seine
Mutter...«
193
Sein, und des Guten mit der Schwachheit, dem Nichts.
Und gleichzeitig ist das Böse ein Mangel. Die Art und Weise
die das Werk von Simone Weil durchziehen: Liehe zur Überlieferung und
Ablösung von der Vergangenheit, Gott zugleich als höchste Wirklichkeit und
als Nichts begriffen usw, Diese Widersprüche sind wahr auf verschiedenen
Daseinsebenen, und ihr Widerstreit schlichtet sich auf der Ebene der
übernatürlichen Liehe. Die Vernunft gewahrt die beiden Enden der Kette, aber
die sie vereinigende Mitte ist nur der Intuition zugänglich, die jede Vorstel-
lung übersteigt. [Anmerkung des Herausgebers.]
194
der beleuchtete Gegenstand mit seinem Schatten, und weil
man so zu dem allgemeinen Weltgesetz im Gegensatz steht,
stürzt man unvermeidlich ins Unglück.
Das Mysterium des Kreuzes Christi beruht auf einem
Widerspruch, denn es ist zugleich ein freiwillig
195
diese Entsprechung besteht darin, daß er der Notwendigkeit
Unparteilichkeit.
Also ist der gewöhnliche Begriff des Wunders eine Art
Unfrömmigkeit [ein Geschehnis, das keine Zweitursache,
196
Um das Böse zu reinigen, gibt es nur Gott oder das soziale
Tier. Die Reinheit reinigt das Böse. Die Stärke ebenfalls,
doch auf gänzlich andere Weise. Wer alles kann, dem ist alles
erlaubt. Wer einem Allmächtigen dient, der kann alles in
ihm. Die Gewalt befreit von dem Gegensatzpaar Gut-Böse.
Sie befreit den, der sie ausübt, und sogar den, der sie
erleidet. Einem Herrn ist alles gestattet, einem Sklaven
so schön.
197
q Das Unbegrenzte ist die Probe auf das Eine. Die Zeit auf
die Ewigkeit. Das Mögliche auf das Notwendige. Die
Veränderlichkeit auf das Unveränderliche.
Der Wert einer Wissenschaft, eines Kunstwerks, einer Moral
oder einer Seele bemißt sich nach dem Grade ihrer
Zufall
Aber alles, was einen Wert besitzt, ist das Ergebnis eines
Zusammentreffens, dauert auf Grund dieses
198
Über den Zufall zu meditieren, der meinen Vater und meine
Mutter zusammenführte, ist noch heilsamer als über den Tod
zu meditieren. Gibt es irgend etwas in mir, dessen Ursprung
nicht in diesem Zusammentreffen liegt? Gott allein. Und
selbst noch mein Denken Gottes hat seinen Ursprung in
diesem Zusammentreffen.
199
q Die Frau, die sich ein Kind wünscht, so weiß wie Schnee,
so rot wie Blut, bekommt es; aber sie stirbt, und das Kind
q Das Böse und die Unschuld Gottes. Man muß Gott in einen
unendlichen Abstand rücken, um ihn als an dem Bösen
q Diese Welt, insofern sie Gottes gänzlich leer ist, ist Gott
selbst.
Das ist der Grund, warum jeder Trost im Unglück von der
man in Sicherheit.
200
q Wer sein Leben in seinen Glauben an Gott setzt, kann
seinen Glauben verlieren. Aber wer sein Leben in Gott selbst
setzt, der wird ihn niemals verlieren. Sein Leben in das
setzen, was jeder Berührung durchaus entzogen ist. Das ist
unmöglich. Das ist ein Tod. Das ist es, was wir tun müssen.
Also muß man das lieben, was nicht existiert. Aber dieser
das unbedingte Gute. Willigen wir in das ein, was wir uns als
das Gute vorstellen, so willigen wir in eine Mischung aus
Gutem und Bösem ein, und diese Einwilligung bringt Gutes
und Böses hervor: das Verhältnis des Guten und des Bösen in
uns ändert sich nicht. Die bedingungslose Einwilligung hin-
gegen in das Gute, das wir uns nicht vorstellen können und
201
diese Einwilligung ist etwas rein Gutes und bringt nichts als
Gutes hervor, und es genügt, daß sie dauere, auf daß
schließlich die ganze Seele nichts als Gutes sei.
202
Gott denen erweist, die der Beschauung fähig sind [derartige
Zustände gibt es, und sie sind ein Teil ihrer kreatürlichen
hienieden1.
schickt Sonnenschein und Regen über die Guten wie über die
nichts. Man hat Christus getötet, aus Zorn, weil er nur Gott
war.
q Dächte ich, Gott sende mir den Schmerz aus einem Akt
der darin besteht, mich zu lehren, daß ich nichts bin. Man
soll also dergleichen nicht denken. Aber man soll Gott lieben
203
Ich soll es lieben, nichts zu sein. Wie schrecklich wäre es,
wenn ich etwas wäre! Mein Nichts lieben; lieben, Nichts zu
sein. Mit jenem Teil der Seele lieben, dessen Stätte jenseits
des Vorhangs ist, denn der Teil der Seele, der dem Be-
wußtsein wahrnehmbar ist, kann das Nichts nicht lieben, es
Ilias.
Das Leiden erklären, heißt es trösten; es soll also nicht
erklärt werden.
Darum kommt dem Leiden des Unschuldigen
204
ein so ungeheurer Wert zu. Es gleicht der Hinnahme des
nach. Sie wollen nichts sagen. Wenn wir bis in die innerste
Faser eines Lautes bedürfen, der etwas sagt, wenn wir
schreien um eine Antwort, und sie uns verweigert wird, dann
wenn wir allzu erschöpft sind, wenn wir nicht mehr das Herz
205
nach auch tun, man soll für sie nur Mitleid haben. Die
es einen Gott gibt, insofern ich völlig gewiß bin, daß meine
Liebe keine Täuschung ist. Ich bin völlig gewiß, daß es keinen
Gott gibt, insofern ich völlig gewiß bin, daß nichts Wirkliches
dem gleicht, was ich mir vorstellen kann, wenn ich diesen
Namen ausspreche. Doch das, was ich mir nicht vorstellen
206
Der falsche Gott, der in allem dem wahren gleicht, mit
Ausnahme dessen, daß man ihn nicht berührt, verwehrt auf
immer den Zugang zu dem wahren.
Humanismus.
q Insoweit als die Religion ein Quell des Trostes ist, ist sie
ein Hindernis für den wahren Glauben: in diesem Sinne ist
der Atheismus eine Läuterung. Ich soll Atheist sein mit dem
Teil meiner selbst, der nicht für Gott gemacht ist. Unter den
Menschen, bei denen der übernatürliche Teil ihrer selbst
207
Barmherzigkeit Gottes geglaubt haben, so glauben sie nun
entweder nicht mehr daran oder ihre Vorstellung davon hat
sich von Grund auf, verwandelt. Ich habe dergleichen nicht
durchgemacht. Aber ich weiß, daß es vorkommt: folglich,
welcher Unterschied?
erreich-
208
barer Gegenstände verknüpft sind. Ich kann meine Hand
flach auf den Tisch legen wollen. Wäre die innerliche
Reinheit, oder die Inspiration, oder die Wahrheit im Denken
notwendig mit einem derartigen Verhalten verknüpft, so
könnten sie Gegenstand des Willens sein. Da dies keineswegs
der Fall ist, so können wir sie nur erflehen. Sie erflehen,
heißt glauben, daß wir einen Vater im Himmel haben. Oder
Irrtums.
Auf ihrer höchsten Stufe ist die Aufmerksamkeit das gleiche
wie das Gebet. Sie setzt den Glauben und die Liebe voraus.
q Wendet man das Auge der Einsicht auf das Gute, so ist es
209
nach die ganze Seele unwillkürlich von dem Zug zum Guten
ergriffen wird.
210
Wer an der Traube zerrt, verstreut die Beeren auf den
Boden.
nicht insofern sie Wahrheit, sondern insofern sie ein Gut ist.
Die Aufmerksamkeit ist an das Verlangen geknüpft. Nicht an
den Willen, sondern an das Verlangen. Oder, noch genauer,
an die Einwilligung.
211
suchen, es zu vollbringen. Denn jeder Versuch in dieser
Richtung ist eitel und wird teuer bezahlt. Bei einem solchen
Werk muß alles, was ich »ich« nenne, sich passiv verhalten.
Von mir wird nichts gefordert als die Aufmerksamkeit, eine
so völlige Aufmerksamkeit, daß das »ich« verschwindet.
einem Augenblick.
spricht, keiner Antwort würdigt und sich stellt, als höre sie
ihn nicht.
q Wir sollen Gut und Böse mit gleichem Sinne gelten lassen,
aber wenn wir so gleichen Sinnes sind, daß heißt, wenn wir
Gute die Oberhand. Dies ist die wesentliche Gnade. Und dies
212
wenn man sie nicht zurückweist. Man braucht sich nicht zu
ihren Gunsten zu entscheiden, es genügt, die Anerkenntnis
nicht zu verweigern, daß sie ist.
wächst aus sich selber wie ein Samenkorn. Man muß rings
um ihn ständig auf der Wacht sein, in voller Rüstung und re-
gungslos, und seine Wachsamkeit nähren mit der
Betrachtung der Zahlen, der festen und strengen
Verhältnisse.
213
brauche nicht zu befürchten, daß ich es an der äußersten
Anstrengung fehlen lassen werde. Unter der einzigen
Bedingung, daß ich mich nicht belüge und aufmerksam
bleibe.
verhält es sich mit dem Akt der Liebe. Zu wissen, daß dieser
Mensch, der hungert und dürstet, in Wahrheit genau so
existiert wie ich - das genügt, das Weitere folgt von selbst.
Die echten und reinen Werte des Wahren, Schönen und
Guten im Tun und Handeln eines Menschen werden durch
214
au übersetzen, eine bestimmte Art, eine geometrische
Aufgabe zu lösen [und nicht irgend eine beliebige Art],
stellen eine geeignete Gymnastik der Aufmerksamkeit dar,
um ihre Fähigkeit zum Gebet zu steigern.
an Stelle des Raumes die Zeit. Mit der Zeit verändert man
sich, und wenn man, durch diese Veränderungen hindurch,
den Blick beständig auf das gleiche gerichtet hält, so löst die
215
braucht. Man muß den Biß der Begierde passiv ertragen wie
ein Leiden, das einen sein Elend empfinden läßt, und die
Aufmerksamkeit unverwandt auf das Gute gerichtet halten.
Dann findet auf der Qualitätsleiter der Energien eine
Erhöhung statt.
erfaßt, ist unbestreitbar die Leere von oben, denn man erfaßt
sie desto besser, je mehr man die natürlichen Fähigkeiten
der Einsicht, des Willens und der Liebe schärft. Die Leere
216
von unten hingegen ist jene, in die man hinabstürzt, wenn
man die natürlichen Fähigkeiten in sich verkümmern läßt.
q Von Gott können wir nur eines wissen: daß er das ist, was
wir ihn.
217
Geschichte Christi ist der Experimentalbeweis, daß das
menschliche Elend unaufhebbar ist, daß es bei dem
Menschen, der völlig ohne Sünde ist, ebenso groß ist wie bei
dem Sünder. Es ist nur erhellt...
sei.
218
Dressur
219
q Dressur. - Bei jedem unwillkürlichen Gedanken des
Stolzes, über dem man sich ertappt, den vollen Blick der
Aufmerksamkeit einige Augenblicke lang auf die Erinnerung
an eine Demütigung seines vergangenen Lebens lenken und
hierzu möglichst die bitterste, die unerträglichste wählen.
gewaltsam
220
zwingen, so zu handeln, als besäße man diese oder jene
Begierde oder Abneigung nicht, ohne dabei zu versuchen, das
Gefühl überzeugen zu wollen, indem man es zum Gehorsam
zwingt. Dann widersetzt sich das Gefühl, und es gilt, diese
Widersetzlichkeit passiv hinzunehmen, sie zu kosten, sie
statthaft, wenn die Vernunft sie befiehlt [im Hinblick auf die
221
Anstoß der Gnade sie uns vorschreibt [aber dann geht die
Gewalt nicht von einem selbst aus].
q Berge, Felsen, fallet über uns und verberget uns ferne von
222
Ich verdiene in diesem Augenblick diesen Zorn. Nicht
vergessen, daß nach dem heiligen Johannes vom Kreuz die
Eingebungen, die uns von der Erfüllung der einfachen und
niedrigen Obliegenheiten ablenken, von der schlimmen Seite
kommen.
Die Pflicht ist uns gegeben, um das Ich abzutöten. Und ein so
kostbares Werkzeug lasse ich verrosten.
wissen, daß es ist, daß es schlecht ist, daß es endlich ist. Aber
223
und die ununterbrochene Weiterführung des Prozesses der
Auslöschung. Wenn dieser Prozeß nicht eintritt, dann ist dies
ein Zeichen, daß ich eben das, was ich hier niederschreibe, in
Wahrheit nicht weiß.
Die nötige Kraft ist in mir vorhanden, da ich deren zum
Leben habe. Ich muß sie mir entreißen, und sollte ich daran
sterben.
Unter der Bedingung, daß es wahres Gebet sei. Aber ehe man
dahin gelangt, muß man seinen Eigenwillen an der Befolgung
der Regeln abgenutzt haben.
das Gute, dauerte sie auch nur einen Augenblick, ein wenig
224
Böses. Im Bereich des Natürlichen hingegen [die
psychologischen Vorgänge mit einbegriffen] erzeugen das
Gute und das Böse sich wechselseitig. So ist man niemals in
Sicherheit, solange man den geistlichen Bereich noch nicht
erreicht hat - eben jenen Bereich, wo man sich nichts durch
Vorrangs der Liebe aber soll die Vernunft mit ihren eigenen
Mitteln erwerben, das heißt: durch Feststellung und Be-
225
gend der Demut nichts anderes als das Vermögen der
Aufmerksamkeit.
sei.
Die wahre Demut ist die Erkenntnis, daß man als
menschliches Wesen und, noch allgemeiner, als Geschöpf
Vernunft ihrer Natur nach etwas ist, das eben dadurch, daß
es in Tätig-
226
keit tritt, sein Selbstsein aufgibt. Ich kann mich mühen, die
Wahrheiten zu erreichen, aber wenn sie einmal da sind, sind
sie und bedürfen nicht meines Zutuns.
Nichts kommt der wahren Demut näher als die
Vernunfteinsicht. Es ist unmöglich, auf seine Vernunft stolz
ihr abgelöst. Denn man weiß, daß - würde man selbst auch im
nächsten Augenblick und für den Rest seines Lebens zum
Idioten - die Wahrheit fortfährt, zu sein.
V
ist kein Symbol, denn ein Symbol ist die Verbindung einer
227
es ist nicht übernatürlich. Und hierin haben die Katholiken
recht, nicht die Protestanten. Nur der Teil unserer selbst, der
zustimmen.
vom Kreuz nennt den Glauben eine Nacht. Bei denen, die
228
q Der Gegenstand der Forschung soll nicht das
Übernatürliche sein, sondern die Welt. Das Übernatürliche
ist das Licht: macht man es zu einem Gegenstand, so
erniedrigt man es.
kann jedoch und sie allein kann beurteilen, ob die Worte, die
es ausdrücken, angemessen sind. Zu diesem Gebrauch muß
229
der Irrtum oder das Ungefähr, und der Umstand, daß etwas
göttlich war, spornte sie zu der Forderung nach vermehrter
Genauigkeit an. [Wir tun genau das Gegenteil, verbildet, wie
wir sind, durch unsere Gewöhnung der Propaganda]. Weil
sie in der Geometrie eine göttliche Offenbarung erblickten,
den Geist. Aber man sieht nicht das Durchsichtige. Man sieht
1 Auch dies ist einer von jenen Widersprüchen, die nur im Unaussprechlichen
eine Lösung finden: das mystische Lehen, das nur von dem göttlichen
Beliehen abhängt, ist dennoch strengen Gesetzen unterworfen. Der heilige
Johannes vom Kreuz konnte den Reiseweg der Seele zu Gott unter einem
geometrischen Schema beschreiben. [Anmerkung des Herausgebers.]
230
Staub auf der Fensterscheibe oder die Landschaft dahinter,
niemals aber die Scheibe selbst. Das Abwischen des Staubes
dient nur dazu, die Landschaft zu sehen. Die Vernunft soll
ihre Tätigkeit nur ausüben, um zu den wahren Mysterien zu
gelangen: zu den wahren Unbeweis-barkeiten, die das
Wirkliche sind. Das Unbegriffene verbirgt das
Unbegreifliche, und deshalb soll es beseitigt werden.
231
Wahrheiten in den Symbolen, die uns die Gestirne und die
Verbindungen der Substanzen bieten. Astronomie und
Chemie sind nur ihre Verfallserscheinungen. Astrologie und
Alchimie als magische Praktiken sind noch niedrigere Ver-
fallserscheinungen. Die Fülle der Aufmerksamkeit wird nur
Lesarten1
232
als auf ihren Bruder, erblickt einen jungen Mann, der ihr den
Tod dieses Bruders meldet - und eben im Augenblick des
tiefsten Jammers offenbart dieser junge Mann sich als ihr
Bruder. »Sie glaubte, es sei der Gärtner.« In einem Unbe-
kannten seinen Bruder erkennen, in dem Weltall Gott
erkennen.
zu werden.
233
daß er an Gott dachte, sondern daß er Gott in seinem
Nachbarn erkannte. Petrus vor dem Hahnenschrei erkannte
Gott nicht mehr in Christus.
Andere lassen sich für falsche Propheten töten, in denen sie -
zu Unrecht - Gott lesen. Wer kann sich schmeicheln, daß er
recht liest? Man kann ungerecht sein aus dem Willen, die
Gerechtigkeit zu beleidigen, oder infolge einer schlechten
Lesart der Gerechtigkeit. Fast immer ist aber das zweite der
Fall. Welche Liebe der Gerechtigkeit schützt uns vor einer
schlechten Lesart?
verhalten?
Jeanne d'Arc: die heute große Reden über sie führen, hätten
sie fast alle verurteilt. Aber ihre Richter haben nicht die
Heilige, die Jungfrau usw. verurteilt, sondern die Hexe, die
Ketzerin usw1.
1 Siehe die Texte des Evangeliums, welche die Urheber irriger »Lesarten«
betreffen: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen ..nicht, was sie tun!« »Es
kommt aber die Stunde, daß, wer euch tötet, wird meinen, er tue Gott einen
Dienst damit.« [Anmerkung des Herausgebers.]
234
Aber sie war schwankend. Und Christus ...
In den fingierten moralischen Problemen fehlt die
Verleumdung.
verkennt?
235
Der Ring des Gyges1
236
Man setzt beiseite, ohne es zu wissen; und eben darin liegt
die Gefahr. Oder, was noch schlimmer ist, man setzt durch
man sich selbst verhehlt. Und nachher weiß man nicht mehr,
daß man beiseite gesetzt hat. Man will es nicht wissen, und
weil man es nicht wissen will, gelangt man zuletzt dahin, daß
einer Kirche usw.] mit ins Spiel kommen. Alles, was das
Ich bediene mich seiner, wenn ich die Erfüllung einer Pflicht
zur Last legen, denn diese rechtfertigt die Grausamkeit. [Anmerkung des
Herausgebers.]
237
Ich trenne die Verpflichtung von dem Ablauf der Zeit.
Nichts ist wünschenswerter, als diesen Schlüssel
Der Akt, durch den man den Schlüssel, den Ring des Gyges,
ist der schmerzhafte und blinde Gang aus der Höhle hinaus.
Gyges. Ich bin König geworden, und der vorige König ist
sie herstellt. Zwei und zwei bleiben immer zwei und zwei,
möch-
238
ten, Beziehungen herzustellen, die wir nicht herstellen
wollen.
1 Die Gleichsetzung der Seele mit dem Weltall hat hier nichts mit dem
Pantheismus zu tun. Man kann die blinde Notwendigkeit, die das Universum
lenkt, nur hinnehmen, wenn man aus Liebe dem Gott anhängt, der dem
Universum transzendent ist. Vgl. S.200: »Diese Welt, insofern sie Gottes
gänzlich leer ist, ist Gott selbst.« [Anmerkung des Herausgebers.]
239
fen: »Es lebe der Kaiser!«, zu Napoleon. Die Seele verlegt
sich, aus dem eigenen Körper, in etwas anderes hinein.
Verlege sie sich also in das ganze Universum.
Sich mit dem Universum selbst gleichsetzen. Alles, was
weniger ist als das Universum, ist dem Leiden unterworfen.
Ich mag sterben, das Universum dauert fort. Das ist kein
Trost für mich, wenn ich etwas anderes bin als das
Leiden.
Seine Liebe auf das reine Subjekt beschränken und sie auf
das ganze Universum ausdehnen, das ist das gleiche.
Das Verhältnis zwischen sich und der Welt ändern, wie sich
für den Arbeiter durch die Lehrzeit das Verhältnis zwischen
240
Gewohnheit, Geschicklichkeit: Verlagerung des Bewußtseins
in einen anderen Gegenstand als den eigenen Körper.
Möge dieser Gegenstand das All sein, die Jahreszeiten, die
Sonne, die Sterne. Das Verhältnis zwischen Körper und
Werkzeug verändert sich im Verlauf der Lehrzeit. Es gilt, das
den man nach langer Zeit wiedersieht, uns die Hand drückt,
was macht es, ob er die Hand gewaltsam preßt und uns weh
tut? Ein Grad des Schmerzes, bei dem man die Welt verliert.
241
daß für ihn ein Augenblick eintritt, wo alle Dinge, die nicht er
verknüpfen, von denen man begehrt, daß sie uns durch keine
Umstände geraubt werden können.
242
selbst auf gleiche Weise. Heißt auch nicht, sie niemals leiden
machen, denn ich weigere mich nicht, mich selbst leiden zu
machen. Sondern heißt: zu einem jeden in dem Verhältnis
stehen, in welchem eine Weise, das .Universum zu denken,
zu einer anderen Weise, das Universum zu denken, steht,
wünschen, daß die Welt nicht sei. Nun, das steht für mich in
nicht sei, heißt wünschen, daß ich, so wie ich bin, alles sei.
243
bare Grund meines Leidens ist, universal werden lassen.
sich
244
führte, an Möglichkeiten menschlichen Austauschs, die nur
mit ihm gegeben waren - dies alles war nun gegenstandslos.
Heute stelle ich ihn mir nicht mehr als lebend vor, und sein
Tod ist mir nicht mehr unerträglich. Die Erinnerung an ihn
tut mir wohl. Aber es gibt andere Menschen, die ich damals
noch nicht kannte, und deren Tod die gleiche Wirkung auf
mich hätte.
D. ist nicht gestorben, aber die Freundschaft, die ich für ihn
empfand, ist unter ähnlichen Schmerzen gestorben. Er ist
wenn ich an X..., Y —, Z ... denke, die dennoch bis vor kurzem
nicht vorstellen können, daß ein Kind drei Jahre vorher noch
man habe die Wesen, die man liebt, nicht schon seit je
gekannt.
Meine Liebe ist nicht die rechte, scheint mir; sonst wäre es
mel...« Liebt, wie die Sonne scheint. Man muß seine Liebe in
245
Dinge auszudehnen. Gott allein liebt alle Dinge, und er liebt
nur sich.
q Ich kann das ganze All mit meinem Elend besudeln und
dieses Elend nicht empfinden, oder dieses Elend ganz in
mich zusammenfassen.
Milch nur aus dem Euter zieht. Ebenso bringt die Welt
Heiligkeit hervor.
Metaxy
246
q Diese Welt ist die verschlossene Türe. Sie ist eine
Schranke. Und zugleich ist sie der Durchgang.
Mauer ist das Trennende zwischen ihnen, aber sie ist auch
das, was ihnen erlaubt, miteinander zu verkehren. Das
gleiche gilt für uns und Gott. Jede Trennung ist eine
Verbindung.
als existieren.
247
denen wir unaufhörlich neue Stockwerke aufsetzen. Wir
wissen nicht mehr, daß es Brücken sind, etwas, über das man
hinübergeht, und daß man über sie zu Gott gelangt.
Speise. Ich möchte, daß der, den ich liebe, mich wieder liebt.
Aber wenn er mir völlig ergeben ist, existiert er nicht mehr,
und ich höre auf, ihn zu lieben. Insoweit er mir nicht völlig
248
haft Unbegrenzten. Man muß hindurchgegangen sein.
Unglück derer, die die Ermüdung jener überschüssigen
Energie beraubt, welche der Quell des Begehrens ist.
Unglück auch derer, die die Begierde verblendet.
Man muß sein Begehren an die Achse der Pole anklammern.
anderer nur in dem Maße achten, als man die, die man selbst
besitzt, nur als metaxy betrachtet; was bedeutet, daß man
249
q Alle Vermögen in freier Wirksamkeit und ohne sich zu
vermischen, ihren Ausgang nehmend von einem innersten
Urprinzip. Das ist der Mikrokosmos, die Nachahmung der
Welt. Christus nach dem heiligen Thomas. Der Gerechte in
Platos Staat. Wenn Plato von der Spezialisierung spricht, so
nämliche gilt für die Hierarchie. - Das Zeitliche als das, was
nur durch und für das Geistliche einen Sinn hat, ihm aber
nicht vermischt ist. Was durch die Sehnsucht über das
Schönheit
250
q Gegenstand der Wissenschaft: das Schöne [das heißt: die
Ordnung, die Proportion, die Harmonie], soweit es über-
sinnlich und notwendig ist.
hindurch.
251
Die Griechen betrachteten ihre Tempel. Wir ertragen die
andere ist.
man essen. Das Schöne ist das, was man begehrt, ohne es
252
q Regungslos verharren und sich mit dem vereinigen, was
man begehrt und dem man nicht näher kommt.
Derart ist die Vereinigung mit Gott: man kann sich ihm nicht
nähern.
Der Abstand ist die Seele des Schönen.
253
q Die herabsteigende Bewegung, dieser Spiegel der Gnade,
ist die Essenz aller Musik. Das Übrige dient nur zu ihrer
möglich ist.
Deshalb ist jede Kunst höchsten Ranges ihrem Wesen nach
religiöse Kunst [was man heutzutage nicht mehr weiß]. Eine
wahrscheinlicher ist,
254
hängen jene Leute nicht vielmehr statt dem echten Schönen
einer schlechten Nachahmung an? Denn wie es eine göttliche
Kunst gibt, so gibt es auch eine dämonische Kunst. Gewiß
war es diese, welche Nero liebte. Ein großer Teil unserer
Kunst ist dämonisch.
Leben mehr gibt [es gibt nur noch tote Kollektive], und auch
deshalb, weil das wahrhafte Bündnis zwischen Leib und
Mechanik, usw. ... Seit 1914 ist der Bruch vollständig. Selbst
die Komödie ist fast unmöglich: nur für die Satire ist noch
Die Kunst kann nur aus dem Schoß der großen Anarchie
wiedergeboren werden – sie wird vermutlich eine epische
Kunst sein, denn das Unglück wird sehr vieles vereinfacht
255
haben... Es ist daher gänzlich müßig, daß du Leonardo da
Vinci, oder Bach beneidest. Die Größe unserer Tage muß
andere Bahnen einschlagen. Sie kann übrigens nur einsam,
im Dunkel verborgen und ohne Echo sein ... [aber: keine
Kunst ohne Echo].
Algebra
256
Austausch der Zeichen untereinander vervielfältigt sich
durch sich selbst und um seiner selbst willen. Und die
wachsende Komplikation fordert wiederum Zeichen für
Zeichen...
Daher dieses Paradox: daß die Sache denkt und der Mensch
zu einer Sache herabgesunken ist.
Methoden.
257
Versuchen, sich auf eine genaue Weise Aufschluß darüber zu
258
geblieben. Aber sie stehen auch in keiner Beziehung mehr zu
dem übrigen Dasein.
259
q Der Natur und nicht den Menschen gegenüber zu stehen,
das ist die einzige Disziplin. Von einem fremden Willen
abhängen, heißt Sklave sein. Dies aber ist das Schicksal aller
Menschen. Der Sklave ist von dem Herrn und der Herr von
dem Sklaven abhängig. Eine Lage, die den Menschen zu
Herr sehr milde und die Gesetze sehr hart sein können: das
260
den der Zeit; er wartet [die demütigendste Lage], was der
nächste Augenblick bringen wird. Er verfügt nicht über seine
Augenblicke; die Gegenwart ist für ihn kein Hebel mehr, der
auf die Zukunft wirkt.
unausweichlichen
261
Zwang unterworfen, das Spielzeug eines anderen Wesens zu
sein, ist für den Menschen unerträglich. Sieht er sich also
aller Hilfsmittel beraubt, diesem Zwang zu entrinnen, so
bleibt ihm kein anderer Ausweg, als sich zu überreden, daß
er eben die Dinge, zu denen man ihn zwingt, freiwillig leiste,
Gegenteil um, und zwar auf Grund der Demütigung, die das
262
bereitet. Anders ausgedrückt, die wichtigste Stütze des
Unterdrückers liegt in der ohnmächtigen Empörung des
Unterdrückten. In diesem Sinne ließe sich der Roman eines
napoleonischen Rekruten schreiben. Und die Lüge der
Ergebenheit täuscht auch den Herrn...
versuchen].
263
q Man soll das Unglück, soweit man es vermag, aus dem
sozialen Leben entfernen, denn das Unglück dient nur der
Gnade, und die Gesellschaft ist keine Gemeinschaft von
Auserwählten. Es wird immer noch genügend Unglück für
die Auserwählten geben.
dem Menschenwesen. Es gibt nur eines auf Erden, das als ein
1 Über den. Ursprung dieses Mythos siebe Plato, Politeia, VI. Buch. -Das
»Große Tier« anbeten, heißt denken und bandeln in Übereinstimmung mit den
Vorurteilen und Reflexen der Masse, zum Nachteil jedes persönlichen
Forschens nach der Wahrheit und dem Guten. [Anmerkung des Herausgebers.]
264
lich, der menschlichen Person eine Art von Transzendenz
besitzt: das ist das Kollektiv. Aller Götzendienst gilt dem
Kollektiv; dieses fesselt uns an die Erde. Der Geiz: das Gold
ist ein sozialer Faktor. Der Ehrgeiz: die Macht ist ein sozialer
Faktor. Auch die Wissenschaft, die Kunst. Und die Liebe? Die
den Geiz oder den Ehrgeiz. Aber auch der Liebe ist das
Soziale beigemischt [siehe jene Leidenschaften, die die
Fürsten erregen, die berühmten Leute, alle, die in
Gegenteil des Bösen ist, und das Gute, welches das Absolute
ist. Das Absolute hat kein Gegenteil. Das Relative ist nicht das
Gegenteil des Absoluten; es ist von dem Absoluten abgeleitet
ihm aus Irrtum zu wie der Prinz, der sich anschickt, die
Magd statt der Herrin zu lieben. Die Kleider sind die Ursache
des Irrtums. Ebenso verleiht das Soziale dem Relativen den
Anstrich des Absoluten. Dagegen hilft nur der
265
Gedanke der Relation. Die Relation sprengt den Rahmen des
Sozialen. Sie ist das ausschließliche Vorrecht des Einzelnen.
Die Gesellschaft ist die Höhle; wer sie verlassen will, muß in
die.Einsamkeit gehen.
Die Relation gehört dem einsamen Geiste an. Keine Menge
befleckt.
266
Das Soziale unter der Aufschrift des Göttlichen:
berauschende Mischung, die jede Willkür in sich schließt.
Der verkappte Teufel.
Sozialen verhaftet. Man muß sie davon ablösen. Das ist die
schwierigste Ablösung.
267
Was aber treibt uns, einer solchen Gesellschaft beizutreten?
Entweder die Notwendigkeit oder der Leichtsinn oder, in den
meisten Fällen, eine Mischung aus beidem; man glaubt, man
binde sich nicht, denn man weiß nicht, daß, mit Ausnahme
des Übernatürlichen, einzig die Gesellschaft uns hindert,
daß man ein anderer werden wird, denn man weiß nicht, wie
weit sich in einem selber der Bereich dessen erstreckt, was
durch äußere Einflüsse verändert werden kann. Man bindet
Keines von beiden ist liebenswert. Das Große Tier ist immer
abstoßend.
Vielleicht auch bei den Hebräern. Ihr Gott war schwer und
plump.
268
welchem geheimnisvollen Grunde? Ein künstlicher Staat von
sich. Sie weckt auch ein Gefühl der Pflicht. Das Abweichen
von dieser Übereinstimmung erscheint als eine Sünde. Daher
sind alle Verkehrungen möglich. Ein Zustand der
einer Entschädigung.
269
von den Zöllnern und Dirnen sagen können: Wahrlich, ich
sage euch, sie haben ihre Strafe dahin - nämlich die Ächtung
des wahren Gottes aber läßt das Grauen vor dem Bösen
Böse, vor dem einem graut, liebt man zugleich, weil es aus
270
ner auf seiten des Guten stehe, glauben auch, daß er den Sieg
davontragen werde1. Ein Gutes, das man als solches liebt,
durch den bevorstehenden Verlauf der Ereignisse zum
Christen.
Diese eschatologische Propaganda erklärt sehr gut die
Verfolgungen der ersten Periode.
271
Tugend sehr viel Platz einnimmt. In ihnen findet die Gnade
wenig freien Raum. Die soziale Tugend ist der Gehorsam
gegen das Große Tier, das dem Guten gleichgesetzt wird. Ein
Pharisäer ist ein Mensch, der tugendhaft ist aus Gehorsam
gegen das Große Tier.
Großes Tier.
272
q Patriotismus. Man soll mit keiner anderen Liebe lieben als
mit der wahren Nächstenliebe. Die Nächstenliebe kann nicht
einer Nation gelten. Wohl aber einem Land, als einem Milieu,
das ewige Traditionen hütet. Und so allen Ländern.
273
Jeder in der menschlichen Gesellschaft ist das unendlich
Die Liebe des Bürgers für den Staat, des Vasallen für den
Mensch, der nicht in der Gnade ist, gerecht sei, muß die
274
q Sinn der berühmten Stelle im »Gorgias« über die
Geometrie. In der Natur der Dinge ist keine unbegrenzte
Entwicklung möglich; die Welt beruht ganz und gar auf Maß
und Gleichgewicht, und das nämliche gilt für den Staat. Aller
Ehrgeiz ist Maßlosigkeit, Absurdität.
((griechisches Original-Zitat))1
Was der Ehrgeiz völlig vergißt, ist der Begriff der Beziehung.
Staat erbauen.
Dem Landesherrn, einem Menschen gehorchen, aber einem
schmückte als die des Eides und dessen Hoheit in nichts dem
Großen Tier entlehnt wäre.
275
q Eine wohleingerichtete Gesellschaft wäre jene, in welcher
dem Staat gleichsam als einem Steuerruder nur eine negative
Funktion zukäme: ein leichter Druck im geeigneten
Augenblick, um eine Störung des Gleichgewichts schon im
Beginn auszugleichen.
q Der Sinn von Platos »Politeia« ist der, daß die Macht in
den Händen einer Gesellschaftsschicht liegen soll, die sich
Die Technik, welche die Macht und die Zivilisation auf der
276
q Einem Menschen zu gehorchen, dessen Autorität nicht
verhelfen kann, ist der Gedanke: das ist immer gewesen, das
Streben nach
277
Besitzanhäufung [das einzige Motiv, das der Liberalismus
anerkennt].
Die Legitimität ist die Stetigkeit in der Zeit, die
Beständigkeit, ein unverändert Bleibendes. Sie verleiht dem
sozialen Leben die Richtung auf ein Ziel, das existiert, und
was ist.
die Zukunft.
278
den kleinen Übeln und kleinen Gütern des Alltagslebens hin
und her treiben.
Niedrigkeit.
279
findet sogar auf das Pflanzen- und Tierleben Anwendung.
q Nur das Ewige ist unverletzbar durch die Zeit. Soll ein
Kunstwerk immer Bewunderung finden, soll eine Liebe, eine
Freundschaft ein ganzes Leben [ja vielleicht nur einen Tag
lang rein und ungetrübt] dauern, soll eine Lebensanschau-
ung durch die vielfältigen Erfahrungen und alle Wechselfälle
q Eine ganz und gar unmögliche Zukunft, wie das Ideal der
spanischen Anarchisten, erniedrigt sehr viel weniger, weicht
dann hebt sie in das Ewige hinauf. Das Mögliche ist die Stätte
der Einbildung, und also der Erniedrigung. Unser Wollen
soll entweder eben dem gelten, was existiert, oder dem, was
280
beidem. Das, was ist, und das, was nicht sein kann, ist eines
wie das andere dem Werden entzogen. Die Vergangenheit,
wenn sich die Einbildung nicht in ihr gefällt - im Augenblick
einer Gelegenheit, die sie in ihrer Reinheit aufsteigen läßt -,
ist ein Zeitliches, auf dem der Abglanz des Ewigen ruht. Hier
ist das Gefühl der Wirklichkeit rein. Dies ist die reine
Freude. Dies ist das Schöne. Proust. Die Gegenwart hält uns
tun können, dem wir uns nur zuwenden können, damit wir
Wirklichkeit.
281
Ist dies der Grund, warum die Erinnerung als solche so
freudig und schön ist?
ihr machen. Außer jenen Seelen aber, die der Heiligkeit nahe
genug sind, tragen die Opfer den Makel der Gewalt ebenso an
sich -wie die Henker. Das Böse am Heft des Schwertes
überträgt sich auf die Schwertspitze. Und die derart auf den
Gipfel erhobenen und von dem Wechsel trunkenen Opfer
282
q Der Sozialismus verlegt das Gute in die Besiegten, die
Rassenlehre in die Sieger. Jedoch bedient sich der
revolutionäre Flügel des Sozialismus jener, die, obwohl
niedrig geboren, ihrer Natur und Berufung nach zu den
Siegern gehören, und so läuft es auch hier am Ende auf die
283
q Du hättest zu keiner besseren Zeit geboren werden
können als dieser, in der man alles verloren hat.
284
q Selbst Plato ist nur ein Vorläufer. Die Griechen kannten
die Kunst, die Leibesübungen, doch nicht die Arbeit. Der
Herr ist insofern ein Sklave des Sklaven, als der Herr ein
Produkt des Sklaven ist.
ist der Quell der Lüge, die den unteren Schichten des Volkes
eigentümlich ist [jede soziale Stufe hat ihre eigene Lüge].
Dieser Ekel ist die Last der Zeit. Wer ihn sich eingesteht,
285
einen sehr großen Anteil an dieser Vergünstigung
empfangen.
Jeden Ekel in Ekel an sich selbst umwandeln...
Das Schönste, wenn sie ein Abglanz der Ewigkeit ist. Das
gemachte Zeit.
Erschöpfung das Phänomen der wie eine Kugel hin und her
Größe.
Wenn der Mensch sich selbst als ein Eichhörnchen sieht, das
286
q Der große Schmerz der Handarbeit besteht darin, daß
Der Sklave ist derjenige, dem kein Gut als Ziel seiner Mühen
q Kein irdisches Ziel trennt die Arbeiter von Gott. Sie sind
287
das Schöne erlaubt, an dem, was ist, sein Genügen zu finden.
als nach Brot. Das Bedürfnis, daß ihr Leben Poesie sei. Das
Nicht die Religion, die Revolution ist Opium für das Volk.
einschließt.
288
Man muß durch den Tod hindurchgehen. Man muß getötet
werden, die Schwerkraft der Welt erleiden. Die Last des
Universums auf dem Rücken eines Menschen - wen wundert
es, daß dies schmerzt?
Die. Arbeit ist gleichsam ein Tod, wenn sie ohne Anreiz
289
INHALT
Einführung .................................................... 5
Ablösung ........................................................ 73
Entschärfung .................................................... 97
Widerspruch..................................................... 187
290
Der Atheismus als Läuterung ............................ .206
291