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SIMONE WEIL

SCHWERKRAFT UND
GNADE
Mit einer Einführung von
Gustave Thibon

IM KÖSEL-VERLAG ZU MÜNCHEN

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Titel der französischen Originalausgabe: „La Pesenteur et la
Grace“
(Librairie Plon, Paris 1948). Deutsche Übersetzung von
Friedhelm Kemp

Erste Auflage 1952


Copyright 1952 by Kösel-Verlag KG., München, Printed in
Germany Gesamtherstellung in der verlagseigenen
Graphischen Anstalt in Kempten

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Einführung

Nicht ohne schmerzliche Gefühle übergebe ich heute das


außergewöhnliche Werk von Simone Weil dem Publikum.
Bisher teilte ich die Freude, sie in ihrer Person und in ihrem
Denken zu kennen, nur mit einigen wenigen Freunden, und
so kann ich mich nun des quälenden Eindrucks nicht
erwehren, daß ich im Begriff stehe, ein Familiengeheimnis
auszuplaudern. Mein einziger Trost ist der Gedanke, daß
durch diese unvermeidliche Entweihung der Ver-
öffentlichung ihr Zeugnis einige Seelen erreichen wird, die
der ihren schwesterlich verwandt sind. Noch härter trifft
mich die Nötigung, um dieses Werk »einzuführen«, beiläufig
von mir selbst sprechen zu müssen. Secretum meum mihi:
das mangelnde Schamgefühl so vieler zeitgenössischer
Schriftsteller, dieses Gefallen an Selbstdarstellungen und
Bekenntnissen, diese Gewohnheit, der Öffentlichkeit bis in
den letzten Winkel eines preisgegebenen Privatlebens Zutritt
zu verschaffen, sind mir stets ein Anlaß der Verwunderung
und des Ärgernisses gewesen. Ich bin jedoch gehalten - und
sei es auch nur, um das Erscheinen meines Namens an dieser
Stelle zu rechtfertigen -, die ungewöhnlichen Umstände
darzulegen, die mich in den Stand setzten, die wahre
Persönlichkeit von Simone Weil kennenzulernen, und die mir
heute die unverdiente Ehre eintragen, ihre Gedanken der
Welt vorzustellen.
Im Juni 1941 erhielt ich von einem befreundeten
Dominikaner, dem R. P. Perrin,1 der damals in Marseille
wohnte, einen Brief, den ich nicht aufbewahrt habe, der aber
im wesentlichen folgenden Inhalt hatte: »Ich kenne hier ein
israelitisches Mädchen, Dozentin für Philosophie und
linksradikale Militantin, die, durch die neuen Gesetze von
der Hochschule ausgeschlossen, gerne einige Zeit als
Bauernmagd auf dem Lande arbeiten möchte. Ein derartiges
Experiment bedürfte meines Erachtens der Aufsicht und
Lenkung, und ich wäre glücklich, wenn Sie dieses Mädchen
zu sich nehmen könnten.« Ich mußte dieses Schreiben erst
eine Weile überdenken. Ich bin, Gott sei Dank, frei von
jedem Antisemitismus a priori, aber was mir aus Erfahrung
von den Vorzügen und Fehlern des jüdischen Temperaments
bekannt ist, stimmt mit meinem eigenen Temperament und
vor allem mit den Anforderungen eines gemeinschaftlichen
Zusammenlebens nur wenig überein. Auch sind meine
elementaren Reaktionen von denen eines Militanten der
äußersten Linken recht verschieden. Und was die
Intellektuellen betrifft, die von dem Verlangen einer
Rückkehr zur Scholle geplagt werden, so kenne ich sie
hinreichend, um zu wissen, daß sie, mit einigen Ausnahmen,
zu jener Gattung verschwärmter Geister gehören, deren Un-
ternehmungen für gewöhnlich ein schlechtes Ende finden.
Meine erste Regung war also, abzulehnen. Der Wunsch
jedoch, dem Vorschlag eines Freundes zu entsprechen und
eine Seele, die das Schicksal auf

1 Siehe auch Simone Weil, »Attente de Dieu«. Deutsche Ausgabe unter dem
Titel »Das Unglück und die Gottesliebe« demnächst im Kösel-Verlag,
München.

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meinen Weg stellte,, nicht beiseitezuschieben, jene Aura des
Mitgefühls, welche damals die Juden auf Grund der gegen
sie einsetzenden Verfolgungen umgab, und nicht zuletzt eine
gewisse Neugier veranlaßten mich schließlich, meine erste
unwillkürliche Entscheidung wieder umzustoßen. Einige
Tage später traf Simone Weil bei mir ein. Unsere ersten
Berührungen waren herzlich, aber beschwerlich. In
sachlicher Hinsicht waren wir beinahe über nichts der
gleichen Ansicht. Mit einem beharrlich monotonen Stimmfall
erging sie sich in endlosen Diskussionen, und am Ende
dieser ausweglosen Gespräche war ich jedesmal buchstäblich
erledigt. Ich wappnete mich daher, um sie zu ertragen, mit
Geduld und Höflichkeit. Bald jedoch konnte ich, dank
unseres täglichen Zusammenlebens, mehr und mehr
feststellen, daß diese unmögliche Seite ihres Charakters,
weit entfernt, ihr tieferes Wesen auszudrücken, nur ihr
äußeres und soziales Ich wiedergab. Das gewöhnliche
Verhältnis zwischen Sein und Scheinen war bei ihr geradezu
umgekehrt: im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen
gewann sie unendlich bei näherer Bekanntschaft und im
vertrauten Umgang; mit einer erschreckenden
Unmittelbarkeit kehrte sie die ungefälligen Züge ihres
Wesens nach außen, aber es bedürfte einer langen Zeit und
großer Zuneigung, ehe sie ihr Schamgefühl überwand und
sich dem andern von ihrer besten Seite zeigte. Sie begann
damals, sich von ganzer Seele dem Christentum zu
erschließen; der Geist einer makellosen Mystik ging von ihr
aus; noch niemals ist mir ein Mensch von einer ähnlichen

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Vertrautheit mit den Mysterien des religiösen Lebens
begegnet; niemals ist mir das Wort übernatürlich so
schwellend von Wirklichkeit erschienen wie I in ihrer Nähe.
Eine solche Mystik hatte nichts gemein mit jenen religiösen
Spekulationen ohne Einsatz der Persönlichkeit, wie sie nur
allzu häufig das einzige Zeugnis der Intellektuellen sind, die
sich den göttlichen Dingen zugewandt haben. Sie kannte, sie
lebte den verzweiflungsvollen Abstand zwischen »wissen«
und »von ganzer Seele wissen«, und ihr Leben hatte kein an-
deres Ziel als die Überwindung dieses Abstandes. Der
alltägliche Ablauf ihres Daseins lag so offen vor meinen
Augen, daß dies auch den leisesten Zweifel an der Echtheit
ihrer geistlichen Berufung in mir zerstreuen mußte: ihr
Glaube, ihre Abgelöstheit verkörperten sich in jeder ihrer
Handlungen, bisweilen mit einer bestürzenden Verkennung
der Wirklichkeit, immer aber mit einer unbedingten
Hochsinnigkeit. Ihre Askese mochte übertrieben erscheinen
in unserem Jahrhundert der Halbheiten, in welchem, um
einen Ausdruck von Leon Bloy zu gebrauchen, »die Christen
dem Martyrium in gemächlichem Trab zustreben« - und in
der Tat, welches Ärgernis würden heutzutage nicht die
exzentrischen Bußübungen gewisser mittelalterlicher
Heiligen erregen? -; dennoch blieb sie frei von jeder
merklichen Übertreibung, und nichts ließ auf eine Kluft zwi-
schen der Stufe ihrer Abtötung und jener ihres inneren
Lebens schließen. Da ihr die Einrichtung meines Hauses zu
bequem erschien, hatte sie sich ein altes, halbverfallenes
Anwesen, das meine Schwie-

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gereltern an den Ufern der Rhone besitzen, zu ihrer
Wohnung erwählt. Jeden Tag kam sie zur Arbeit und, falls
sie zu essen geruhte, zu den Mahlzeiten zu uns. Schwächlich
und kränkelnd - sie hatte ihr ganzes Leben an
unerträglichen Kopfschmerzen gelitten, und eine
Brustfellentzündung, die sie sich vor einigen Jahren
zugezogen, hatte schwere Schädigungen hinterlassen -,
bearbeitete sie den Boden mit einer unbeugsamen Energie,
und zu ihrer Nahrung begnügte sie sich oft mit einigen
Brombeeren, die sie von den Sträuchern am Wege pflückte.
Jeden Monat schickte sie die Hälfte ihrer Lebensmittelkarten
an politische Häftlinge. Ihre geistlichen Güter aber
verschwendete sie noch großmütiger. Jeden Abend, nach der
Arbeit, erklärte sie mir die großen Texte Platos - ich habe
niemals Zeit gefunden, gründlichere Kenntnisse der
griechischen Sprache zu erwerben - mit einem
pädagogischen Genie, das ihrem Unterricht die Lebendigkeit
einer Schöpfung verlieh. Mit dem gleichen Eifer und der
gleichen Liebe übrigens widmete sie sich irgendeinem zu-,
rückgebliebenen Dorfbuben, um ihm die Anfangsgründe des
Rechnens beizubringen. So groß war ihr Verlangen nach
Aussaat in den Geistern, daß ihr mitunter wohl auch das ein
oder andere erheiternde Versehen unterlief. Eine Art höhe-
rer Gleichmacherei veranlaßte sie, ihre eigene geistige Höhe
als allgemeines Richtmaß zu nehmen; und es gab für sie
kaum einen Geist, den sie nicht für fähig hielt, die
erhabensten Lehren zu empfangen. Ich erinnere mich einer
jungen lothringischen Arbeiterin, bei der sie eine Berufung
zu geist-

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lichen Dingen entdeckt zu haben glaubte und die sie lange
Zeit mit den herrlichsten Auslegungen der Upanishaden
überschüttete. Das arme Kind langweilte sich tödlich, wagte
aber aus Scheu oder Höflichkeit nichts zu sagen. ...
Im vertrauten Umgang war sie eine ungemein liebenswerte
und geistvolle Gefährtin: sie wußte zu scherzen, ohne
geschmacklos zu werden, und verstand sich auf eine Ironie
ohne Bösartigkeit. Ihre ungewöhnliche Gelehrsamkeit, deren
Inhalte sie sich so innig anverwandelt hatte, daß man kaum
imstande war, sie von dem Ausdruck ihres eigenen
Innenlebens zu unterscheiden, verlieh ihren Gesprächen
einen unvergeßlichen Reiz. Sie hatte allerdings einen großen
Fehler - oder einen seltenen Vorzug, je nachdem auf welche
Ebene man sich stellt: sie weigerte sich, den
Notwendigkeiten und Übereinkünften des sozialen Lebens je
das geringste Zugeständnis zu machen. Immer sagte sie
jedem und bei jeder Gelegenheit ihre ganze Meinung. Diese
Aufrichtigkeit, die vor allem einer tiefen Ehrfurcht vor den
Seelen entsprang, verursachte manche abenteuerlichen,
meist erheiternden Zwischenfälle, von denen einige jedoch
leicht eine tragische Wendung hätten nehmen können, zu
einer Zeit, wo es wenig ratsam war, jede Wahrheit von den
Dächern zu predigen.
Es kann hier nicht der Ort sein, sämtliche geschichtlichen
Quellen ihres Denkens aufzuzählen und die Einflüsse
nachzuweisen, die es vermutlich in sich aufgenommen hat.
Neben dem Evangelium, das ihre tägliche Nahrung war,
hatte sie eine tiefe Ver-

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ehrung für die großen Texte der Hindu-Literatur und des
Taoismus, für Homer, die griechischen Tragiker und vor
allem für Plato, den sie in einem durchaus christlichen Sinne
auslegte. Sie haßte hingegen Aristoteles, in dem sie den
ersten Totengräber der großen mystischen Überlieferung
erblickte. Der heilige Johannes vom Kreuz als religiöser Au-
tor, Shakespeare, einige der englischen metaphysischen
Dichter und Racine innerhalb der eigentlichen Literatur
hatten gleichfalls ihren Geist gebildet. Von den Zeitgenossen
wüßte ich höchstens Paul Valéry und Arthur Koestler [wegen
seines »Spanischen Testamentes«] zu nennen, von denen sie
mir mit Worten unvermischter Bewunderung gesprochen
hatte. Ihre Entscheidungen über das, was sie vorzog und
verwarf, waren schroff und unwiderruflich. Sie war der
festen Überzeugung, daß die wahrhaft geniale Schöpfung
eine höhere Stufe der Spiritualität fordere und daß es
unmöglich sei, den vollkom-menen Ausdruck zu erreichen,
ohne sich strengen inneren Reinigungen unterworfen zu
haben. Da ihr die innerliche Reinheit und Echtheit so sehr
am Herzen lag, war sie unerbittlich gegenüber allen
Autoren, bei denen sie auch nur das leiseste Haschen nach
dem Effekt, die mindeste Beimischung der Unredlichkeit
oder des Schwulstes aufzuspüren glaubte: Corneille, Hugo,
Nietzsche. Für sie zählte nur der Stil der völligen
Entäußerung, der die Nacktheit der Seele wiedergab. »Das
Ringen um den Ausdruck«, schrieb sie mir, »erstreckt sich
nicht allein auf die Form, sondern auf das Denken und das
ganze innere Sein. Solange die Nacktheit des Aus-

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drucks noch nicht erreicht ist, so lange ist auch das Denken
der wahren Größe noch nicht nahegekommen, geschweige
daß es sie berührt hätte. ... Die wahre Art des Schreibens
ist: zu schreiben, wie man übersetzt. Übersetzt man einen in
einer Fremdsprache geschriebenen Text, so versucht man
auch nicht, ihm etwas hinzuzufügen; im Gegenteil, man
befleißigt sich mit religiöser Gewissenhaftigkeit, ihm nichts
hinzuzufügen. Auf die nämliche Weise muß man auch einen
nicht geschriebenen Text zu übersetzen versuchen.«
Nachdem Simone Weil einige Wochen bei mir verbracht
hatte, fand sie, daß man sie mit einer allzu großen Rücksicht
behandle, weshalb sie auf einem anderen Gut zu arbeiten
beschloß, um dort als eine Unbekannte unter Unbekannten
das Los der wahren Landarbeiter zu teilen. Ich veranlaßte,
daß ein Großgrundbesitzer des benachbarten Dorfes sie bei
sich einstellte, um bei der Weinlese mitzuhelfen. Sie
arbeitete dort über einen Monat mit heroischer Ausdauer,
und trotz ihrer Schwäche und der fehlenden Gewöhnung
weigerte sie sich stets, ihre Arbeit früher zu verlassen als
die kräftigen Bauern, mit denen sie zusammen war. Ihre
Kopfschmerzen waren von solcher Heftigkeit, daß sie ihre
Arbeit mitunter in einem Alptraum zu verrichten glaubte.
»Eines Tages«, gestand sie mir, »fragte ich mich, ob ich
nicht, ohne es gewahr zu werden, gestorben und zur Hölle
gefahren sei, und ob nicht dies die Hölle sei: ewig
Weintrauben zu lesen...« Nachdem sie sich noch dieser
letzten Erfahrung unterzogen hatte, kehrte sie nach
Marseille zurück,

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wo ihre Eltern, die der Einmarsch der deutschen Truppen
aus Paris vertrieben hatte, sich damals aufhielten. Ich
besuchte sie dort verschiedene Male in ihrer kleinen
Wohnung auf den Catalans, aus deren Fenster man einen
herrlichen Blick über die unermeßliche Weite des Meeres
hatte. Unterdessen rüsteten ihre Eltern sich zur Abfahrt
nach den Vereinigten Staaten. Ihre Verbundenheit mit dem
unglücklichen Vaterlande und das Verlangen, das Los ihrer
verfolgten Freunde zu teilen, ließen sie lange schwanken, ob
sie ihren Eltern folgen sollte. Endlich entschloß sie sich doch
dazu, in der Hoffnung drüben eine leichte Gelegenheit zu
finden, nach Rußland oder nach England zu gelangen.
Anfang Mai 1942 sah ich sie zum letztenmal. Sie brachte mir
eine mit Papieren vollgestopfte Aktentasche auf den
Bahnhof, mit der Bitte, jene zu lesen und während ihres
Exils in meine Obhut zu nehmen. Beim Abschied sagte ich zu
ihr in scherzendem Ton und um meine Bewegung zu
verbergen: »Auf Wiedersehen, in dieser Welt oder in jener!«
Sie wurde Unversehens ernst und sagte: »In jener Welt sieht
man sich nicht mehr wieder.,« Sie wollte damit zum
Ausdruck bringen, daß die Grenzen, die unser »empirisches
Ich« begründen, in der Einheit des ewigen Lebens
dahinfallen. Ich blickte ihr einen Augenblick nach, während
sie sich auf der Straße entfernte. Wir sollten uns nicht
wiedersehen: die Berührungen des Ewigen in der Zeit sind
nur von schmerzlich flüchtiger Dauer.
Nach Hause zurückgekehrt, durchlief ich die Aufzeichnungen
von Simone Weil: etwa zehn dicke

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Hefte, in die sie täglich ihre Gedanken eingetragen hatte,
untermischt mit Zitaten in allen Sprachen und mit streng
persönlichen Aufzeichnungen. Bis dahin hatte ich von ihr
nur einige Verse und die Arbeiten über Homer gelesen, die
in den »Cahiers du Sud« unter dem anagrammatischen
Pseudonym Emile Novis erschienen waren. Sämtliche
nachstehenden Texte sind diesen Heften entnommen. Die Zeit
erlaubte mir, noch einmal an Simone Weil zu schreiben, um
ihr zu sagen, wie sehr mich die Lektüre dieser Seiten
erschüttert hatte. Aus Oran empfing ich folgendes Schreiben
von ihr, das ich mir, trotz seines persönlichen Tones, in
extenso zu zitieren erlaube, weil es die Veröffentlichung
dieses Buches erklärt und rechtfertigt:

»Lieber Freund,
Nun scheint der Augenblick gekommen, sich Lebewohl
zu sagen. Es wird nicht leicht sein, häufige
Nachrichten von Ihnen zu erhalten. Ich hoffe, das
Schicksal wird jenes Haus in Saint-Marcel verschonen,
in dem drei Wesen leben, die sich lieben. Das ist
etwas über die Maßen Kostbares. Das menschliche
Leben ist etwas so Zerbrechliches, so Ausgesetztes,
daß ich nicht lieben kann, ohne zu zittern. Noch
niemals habe ich mich wahrhaft damit abfinden
können, daß nicht alle anderen menschlichen Wesen
außer mir vor jeder Möglichkeit des Unglücks gänzlich
behütet sind. Das ist eine schwere Verfehlung gegen
die Pflicht der Ergebung in Gottes Willen. Sie
schreiben mir, daß Sie in meinen Heften, außer
Dingen, die Sie selbst gedacht haben, andere gefunden
haben, die Sie nicht gedacht haben, die Sie

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aber erwarteten; sie gehören Ihnen also, und ich hoffe,
daß sie, nachdem sie in Ihnen eine Verwandlung
erfahren haben, eines Tages in einem Ihrer Werke ans
Licht treten werden. Denn es ist für eine Idee gewiß
weitaus besser, daß ihr Schicksal mit dem Ihren statt
mit dem meinen verknüpft sei. Ich habe ein Vorgefühl,
als ob das meine auf Erden niemals ein gutes sein
werde - nicht daß ich darauf zählte, anderswo ein
besseres zu finden: das kann ich nicht glauben. Ich bin
nicht von der Art, daß es gut wäre, sein Schicksal mit
mir zu verknüpfen. Die Menschen haben das auch
immer mehr oder weniger deutlich gespürt; aber die
Ideen scheinen, ich weiß nicht aus welchem
geheimnisvollen Grunde, ein schwächeres
Unterscheidungsvermögen zu besitzen. Denen, die mich
aufgesucht haben, wünsche ich nichts mehr als eine
gute Unterkunft, und ich wäre sehr glücklich, wenn sie
unter Ihrer Feder heimisch würden und sich dort derart
veränderten, daß sie Ihr Bild widerspiegeln. Dies würde
mich ein wenig des Gefühls der Verantwortung
entheben und mir die erdrückende Last des Gedankens
etwas erleichtern, daß ich, auf Grund meiner
verschiedenen Mängel, unfähig bin, die Wahrheit so
darzubieten, wie sie mir erscheint, indes sie, dünkt
mich, bisweilen geruht, sich aus einem unbegreiflichen
Übermaß der Barmherzigkeit von mir wahrnehmen zu
lassen. Sie werden, denke ich, dies alles mit der
gleichen Einfalt aufnehmen, mit der ich es Ihnen sage.
Für den, der die Wahrheit liebt, sind beim Akt des
Schreibens die Hand, die die Feder führt, der Körper
und die Seele, die dazu gehören, mit-

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samt ihrem ganzen sozialen Beiwerk, nur Dinge von
infinitesimaler Wichtigkeit. Zumindest ist dies das Maß
an Wichtigkeit, daß ich, hinsichtlich dieses Aktes, nicht
nur meiner Person, sondern auch der Ihren und der
jedes Autors, den ich schätze, beimesse. In diesem
Bereich zählt für mich nur die Person derer, die ich
mehr oder minder verachte.
Ich weiß nicht, ob ich Ihnen bezüglich dieser Hefte
gesagt habe, daß Sie daraus nach Ihrem Ermessen, was
und wem Sie wollen, vorlesen können, daß Sie aber kein
Blatt fremden Händen überlassen mögen. ... Wenn Sie
im Verlauf von drei oder vier Jahren nichts mehr von
mir hören, so betrachten Sie diese Aufzeichnungen
völlig als ihr Eigentum. Ich schreibe Ihnen dies alles,
um leichteren Sinnes zu scheiden. Ich bedauere nur,
Ihnen nicht alles anvertrauen zu können, was ich noch
in mir trage und was noch unentwickelt ist. Zum Glück
aber ist das, was in mir ist, entweder ohne Wert, oder
es hat seine Stätte außerhalb meiner, in vollkommener
Gestalt, an einem reinen Orte, wo es jedem Zugriff
unerreichbar ist und woher es jederzeit wieder her-
absteigen kann. Darum kann nichts, was mich betrifft,
von der geringsten Wichtigkeit sein.
Ich möchte auch gerne glauben, daß Sie nach dieser
leichten Erschütterung der Trennung, was mir auch
zustoßen sollte, sich dieserhalb niemals bekümmern
und daß Sie, wenn Sie manchmal an mich denken
sollten, sich meiner erinnern wie eines Buches, das man
als Kind gelesen hat. Ich möchte niemals einen anderen
Raum in dem Herzen irgend eines Men-

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schen, den ich liebe, einnehmen, um gewiß zu sein, ihm
niemals irgend ein Leid zu bereiten. Ich werde die
Großmut nicht vergessen, die Sie getrieben hat, mir
einige jener Worte zu sagen und zu schreiben, die uns
wohltun, selbst wenn wir, wie dies für mich zutrifft,
ihnen keinen Glauben schenken können. Sie sind
dennoch eine Stütze. Allzusehr vielleicht. Ich weiß
nicht, ob wir uns noch lange voneinander Nachricht
geben können. Aber man muß denken, daß dies nicht
von Wichtigkeit ist.... Wenn ich ein Heiliger wäre, hätte
ich das in Ihrem Schreiben enthaltene Angebot
annehmen können. Ebenso hätte ich es annehmen
können, wenn ich ein sehr gemeiner Mensch wäre. Denn
in dem ersten Falle zählte mein Ich nicht, und in dem
zweiten zählte nur mein Ich allein. Da ich weder das
eine noch das andere bin, erübrigt sich die Frage.«

Simone Weil schrieb mir noch aus Casablanca, und hiernach


ein letztes Mal aus New York. Dann machte der Einmarsch
der Deutschen in das bis dahin unbesetzte Gebiet unserem
Briefwechsel ein Ende. Als ich im November 1944 ihre
Rückkehr nach Frankreich erwartete, erfuhr ich von
gemeinsamen Freunden, daß sie vor einem Jahre in London
gestorben war.

Simone Weil war ein zu lauterer Mensch, um viele


Geheimnisse zu haben; sie sprach mit ebensolcher
Einfachheit von sich selbst wie von irgend etwas anderem.
Es wäre mir ein leichtes, unter Zuhilfenahme meiner
Erinnerungen und unserer Gespräche ein nach außen hin
sehr treffendes Bildnis von ihr

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zu entwerfen, dessen Eigenartigkeit alle Freunde lebendiger
Einzelzüge und des Anekdotischen entzücken würde. Ich habe
sie jedoch zu sehr geliebt, um ihr dies antun zu können: ein
Bruder kann von einer Schwester nicht so reden wie ein
Schriftsteller von einem Mitbruder. Es wäre auch fast ein
wenig geschmacklos, ein Gericht von so hohem geistigem
Gehalt mit pittoresken Dreingaben zu würzen. Ich
beschränke mich also darauf, ihr Leben vor und nach
unserem Zusammentreffen in seinen Grundzügen
nachzuzeichnen.
Geboren zu Paris im Jahre 1909, vormals Schülerin von
Alain, trat sie schon früh in die École normale supérieure
ein und bestand dort mit glänzendem Erfolg ihr
Philosophieexamen. Hierauf unterrichtete sie an
verschiedenen höheren Lehranstalten und nahm sehr bald
am politischen Leben teil. Es wird niemand wundernehmen,
daß ihre revolutionären Überzeugungen, die sie ohne die ge-
ringste Rücksicht auf berufliche oder gesellschaftliche
Konvenienzen offen zur Schau trug, ihr von seiten der
vorgesetzten Behörden einige Mißhelligkeiten eintrugen, die
sie mit überlegener Geringschätzung hinnahm. Einem
Generalinspektor, der ihr Disziplinarmaßnahmen androhte,
die unter Umständen ihre Enthebung vom Lehramt zur Folge
haben könnten, entgegnete sie mit lächelnder Miene: »Herr
Inspektor, ich habe die Amtsenthebung stets als die normale
Krönung meiner beruflichen Laufbahn betrachtet.« Sie
kämpfte in den Reihen der äußersten Linken: die
Mitgliedschaft irgendeiner politischen Formation jedoch
lehnte sie ab und be-

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schränkte sich darauf, die Schwachen und Unterdrückten zu
verteidigen, gleichviel, welcher Partei oder Rasse sie
angehörten. Da sie das Los der Armen teilen wollte,
beantragte sie eine zeitweilige Beurlaubung und ließ sich bei
den Renault-Werken einstellen, wo sie, ohne irgend jemand
ihre Herkunft und ihren Beruf zu verraten, während eines
Jahres als Fräserin arbeitete. Sie hatte ein Zimmer in einem
Arbeiterviertel gemietet und lebte ausschließlich von dem
spärlichen Ertrag ihrer Arbeit. Eine Brustfellentzündung
nötigte sie, mit diesem Experiment auszusetzen. Als der
Spanienkrieg ausbrach, schloß sie sich den Reihen der Roten
an, doch ließ sie sich angelegen sein, niemals von ihren
Waffen Gebrauch zu machen, und war so eher eine
antreibende Kraft, als daß sie einen eigentlich
kämpferischen Beitrag geliefert hätte. Ein Unfall - sie hatte
sich aus Unachtsamkeit die Füße mit siedendem Öle verbrüht
- veranlaßte ihre Rückführung nach Frankreich. Unter
diesen tragischen Umständen, wie auch sonst während ihres
ganzen Lebens, ließen ihre Eltern, an denen sie zärtlich
hing, die aber die heroischen Torheiten ihrer Tochter fast
zur Verzweiflung brachten, ihr alle Sorge und Pflege
angedeihen, die gewiß die Auflösung dieses Daseins, das
nichts Unreines auf Erden festhielt, hinauszögerten. »Jene
Kraft, die die Karamasoffs aus ihrer niederen Natur
schöpfen« und die den Menschen an der. Erde haften läßt,
mangelte ihr in einem seltenen Grade.
Ehe ich hier das Verhalten Simone Weils wahrend jener
Ereignisse schildere, die zwischen 1940 und

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1944 die Ursache so tiefgehender Spaltungen zwischen den
Franzosen waren, möchte ich mit Nachdruck hervorheben,
daß es ihr Andenken beleidigen hieße, wollte man den
ewigen und transzendenten Gehalt ihrer Botschaft im Sinne
der politischen Aktualität auslegen und in den
Meinungsstreit der
Parteien hinabziehen. Keine soziale Gruppe oder
Weltanschauung hat das Recht, sich auf sie zu berufen. Ihre
Liebe zum Volk und ihr Haß gegen jede Unterdrückung
reichen nicht hin, sie für die Linksparteien in Anspruch zu
nehmen; ebensowenig berechtigen ihre Leugnung des
Fortschritts und ihr Kult der Überlieferung, sie der Rechten
einzugliedern. Jedesmal, wenn sie sich politisch einsetzte,
tat sie dies mit der nämlichen Leidenschaft, mit der sie alles
betrieb; weit entfernt jedoch von jeder Vergötzung einer
Idee, einer Nation oder Klasse, wußte sie, daß das Soziale
der Bereich des Relativen und des Übels par excellence ist -
»Die Betrachtung des Sozialen«, schrieb sie, »ist eine ebenso
wirksame Reinigung, als zöge man sich aus der Welt zurück,
und darum war es nicht verkehrt, daß ich mich so lange mit
der Politik eingelassen habe.« - und daß innerhalb dieser
Ordnung die Pflicht der übernatürlichen Seele nicht in der
fanatischen Anhängerschaft an eine Partei besteht, sondern
in dem unablässigen Versuch, dadurch, daß man auf die
Seite der Besiegten und Unterdrückten tritt, das Gleich-
gewicht wiederherzustellen. Dies war der Grund, warum sie,
trotz ihrer Abneigung gegenüber dem Kommunismus, nach
Rußland gehen wollte, als dieses Land unter dem deutschen
Stiefel blutete.

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Dieser Begriff des Gegengewichts ist ein wesentlicher \
Bestandteil ihrer Auffassung der politischen und sozialen
Aktivität: »Weiß man, wodurch das Gleichgewicht der
Gesellschaft gestört ist, so muß man sein Möglichstes tun,
um der zu leichten Schale ein Gewicht hinzuzufügen. Auch
wenn dieses Gewicht das Böse ist, so mag es, wenn man es in
dieser Absicht handhabt, dennoch vielleicht gelingen, sich
nicht zu beflecken. Aber man muß das Gleichgewicht erfaßt
haben und immer bereit sein, sich auf die Gegenseite zu
schlagen, wie die Gerechtigkeit, ,diese Flüchtlingin aus dem
Lager des Siegers'.« Aus einer solchen Gesinnung fühlte sie
sich, seit dem Waffenstillstand von 1940, zu jener durch ihre
Ursprünge und Ziele so verschiedenartigen Bewegung
hingezogen, die man heute unter dem Namen Resistance
zusammenfaßt. Schon vor ihrer Abfahrt nach Amerika war
sie mit der Polizei des »Französischen Staates«
zusammengestoßen, und es könnte wohl kein Zweifel über ihr
Schicksal bestehen, wenn sie zur Zeit der großen Razzien der
Gestapo noch in Frankreich gewesen wäre. Gleich nach
ihrem Eintreffen in den Vereinigten Staaten unternahm sie
Schritte, um sich in die Streitkräfte der Resistance
aufnehmen zu lassen. Im November 1942 ging sie nach
London und arbeitete dort einige Zeit auf einer Dienststelle
unter Maurice Schumann.
Sie bat inständig, in einer Mission nach Frankreich
geschickt zu werden, aber ihre allzu leicht erkennbare
Rassenzugehörigkeit ließ es nicht ratsam scheinen, ihr
hierin zu willfahren. Derart der Möglichkeit beraubt, sich
den Gefahren auszusetzen, die

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damals auf den Franzosen lasteten, wollte sie wenigstens
deren Entbehrungen teilen; und so legte sie sich die strenge
Verpflichtung auf, keine größere Nahrungsmenge zu sich zu
nehmen, als den Franzosen damals nach ihren
Lebensmittelkarten, zustand. Diese Zwangsdiät genügte,
ihre an sich schon erschütterte Gesundheit bald völlig zu
untergraben. Von Hunger und Lungenschwindsucht
zerfressen, mußte sie schließlich ein Krankenhaus aufsuchen.
Sie litt dort viel unter den Rücksichten einer gewissen
Sonderbehandlung, die man ihr angedeihen ließ. Schon als
sie noch bei mir weilte, war mir diese Eigentümlichkeit ihres
Charakters aufgefallen: sie verabscheute es, in eine Lage
versetzt zu werden, wo sie irgendwelche Vergünstigungen
genoß, und sie entzog sich mit einer wilden Scheu jeder Für-
sorge, die sie über das allgemeine Niveau hinausheben
wollte. Sie fühlte sich nur wohl, wenn sie sich auf der
untersten Sprosse der sozialen Leiter befand, durch nichts
unterschieden von der Masse der Armen und Enterbten
dieser Welt. Aufs Land gebracht, starb sie dort, nachdem sie
noch einige Freude über dieses Wiedersehen mit der Natur
bezeigt hatte. Die Einzelheiten ihres Endes sind mir
unbekannt. »Die Agonie«, sagte sie, »ist die letzte dunkle
Nacht, deren selbst die Vollkommenen bedürfen, um die
absolute Reinheit zu erreichen; und darum ist es besser, daß
sie bitter sei.« Ich wage zu glauben, ihr Leben war hart
genug, daß ihr die Gnade eines friedlichen Sterbens gewährt
wurde.

Die Niederschriften von Simone Weil gehören zu jenen sehr


großen Werken, die jeder Kommentar

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nur abschwächen und verraten kann. Meine einzige
Berechtigung, diese Texte vorzulegen, entspringt dem
Umstand, daß meine Freundschaft mit der Verfasserin und
die langen Gespräche, die wir miteinander geführt haben,
mir den Zugang zu ihren Gedanken ein wenig erleichtern
und mir so erlauben, gewisse allzu schroffe oder
ungenügend ausgearbeitete Formulierungen leichter in ihr
genaues Licht zu rücken und in ihrem organischen Kontext
zu zeigen. Man darf in der Tat nicht außer acht lassen, daß
es sich hier, wie bei Pascal, um nur vorläufige Bausteine
handelt, die, wie der Tag es eben mit sich brachte, oft in
Eile hingesetzt wurden, im Hinblick auf ein vollständigeres
und umfassenderes Ganzes, das leider niemals zustande
kam.
Diese Niederschriften sind so nackt und einfach1 wie die
innere Erfahrung, deren Ausdruck sie sind. Zwischen Leben
und Wort tritt nicht die geringste Auspolsterung: Seele,
Gedanke und Ausdruck bilden einen einzigen nahtlosen
Block. Selbst wenn ich Simone Weil nicht persönlich gekannt
hätte, ihr Stil allein genügte, mir die Echtheit ihres
Zeugnisses zu verbürgen. Was an ihren Gedanken vor allem
auffällt, ist die Vielseitigkeit ihrer möglichen An-
wendungen; ihre Einfachheit vereinfacht alles, was sie
berühren; sie tragen uns auf jene Gipfel des Seins empor,
wo das Auge mit einem einzigen Blick eine Unzahl
gestaffelter Weiten überschaut. »Man soll«, sagte sie, »alle
Ansichten gelten lassen, aber

1 So erklären sich gewisse Wiederholungen oder stilistische


Nachlässigkeiten, die auch hier im ganzen gewissenhaft beibehalten wurden.

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sie auf entsprechenden Ebenen einander über- und
unterordnen.« Und weiter: »Alles, was wirklich genug ist,
um übereinander gestaffelte Auslegungen in sich zu
begreifen, ist unschuldig oder gut.« Dieses Kennzeichen der
Größe und Reinheit begegnet uns auf jeder Seite ihres
Werkes.
Man nehme etwa folgenden Gedanken, der den ewigen
Widerstreit zwischen Optimismus und Pessimismus, dessen
Lösung Leibniz nicht gelang, schlichtet: »Es gibt alle
möglichen Grade des AbStandes zwischen dem Geschöpf und
Gott. Einen Abstand, wo die Liebe zu Gott unmöglich ist:
Materie, Pflanzen, Tiere. Das Böse ist dort so vollständig,
daß es sich selber aufhebt; also daß es kein Böses mehr gibt:
Spiegel der göttlichen Unschuld. Wir befinden uns an jener
Stelle, wo die Liebe gerade möglich ist. Das ist ein großes
Vorrecht, denn die vereinigende Liebe ist dem Abstand
proportional. Gott hat eine Welt erschaffen, die nicht die
beste der möglichen Welten ist, sondern die alle Grade des
Guten und des Schlechten enthält. Wir befinden uns an jener
Stelle, wo sie die schlechteste der möglichen Welten ist.
Denn jenseits liegt die Stufe, wo das Böse zur Unschuld
wird.« Oder diesen anderen Gedanken, der das Problem des
Bösen und des Übels bis in die geheimen Verborgenheiten
der göttlichen Liebe erhellt: »Alle erschaffenen Dinge
weigern sich, mir als Ziele zu gelten. Hierin liegt die
höchste Barmherzigkeit Gottes gegen mich. Und eben das ist
das Übel. Gottes Barmherzigkeit erscheint in dieser Welt
unter der Gestalt des Übels.« Und diese glatte und
endgültige

24
Widerlegung aller Denker, die, wie Schopenhauer oder
Sartre, aus der Anwesenheit des Bösen und des Übels in der
Welt einen grundsätzlichen Pessimismus entwickeln: »Zu
sagen, die Welt sei nichts wert, dieses Leben sei nichts wert,
und zum Beweis das Übel anzuführen, ist widersinnig; denn
wenn sie nichts wert sind, wessen beraubt dann das Übel?«
Oder auch dieses folgendermaßen formulierte Gesetz der
Einfügung des Höheren in das Niedere: »Jede einer anderen
transzendente Ordnung kann sich dieser nur in der Gestalt
eines unendlich Kleinen einfügen«, welches das Pascalsche
Gesetz der drei Ordnungen ergänzt und vertieft. Die Welt
des Lebendigen erscheint in der Tat als ein unendlich
Kleines innerhalb der stofflichen Welt: Was bedeuten die
Lebewesen, in Vergleichung mit der Masse des Planeten und
vielleicht des Kosmos? Dasselbe gilt für die Welt des Geistes
hinsichtlich der Welt des Lebendigen: mindestens eine halbe
Million Gattungen von Lebewesen erfüllen die Erde, und von
diesen allen besitzt nur eine einzige »il ben dell' intelletto«.
Und was die Welt der Gnade angeht, so stellt auch diese
ihrerseits wiederum nur ein unendlich Kleines in der Masse
unserer weltlichen Gedanken und Neigungen dar: die Gleich-
nisse des Evangeliums von dem Sauerteig und dem Senfkorn
bezeugen genugsam diesen »Infinitesimalcharakter des
reinen Guten«.
Das gesamte Werk von Simone Weil wird von einem
ungeheuren Verlangen nach innerlicher Läuterung bewegt
und durchdrungen, das noch bis in ihre Me-

25
taphysik und Theologie hinein wirksam ist. Von ganzer Seele
ausgeredet auf ein reines und absolutes Gutes, dessen
Existenz ihr durch nichts hienieden bewiesen werden kann,
dessen Wirklichkeit ihr jedoch innerlich gewisser ist als
alles, was in ihr und um sie existiert, will sie ihren Glauben
an dieses vollkommene Sein in einem Grunde verankern, den
weder Schicksalsschläge noch irgend ein Unglück, kein
Strudel der Materie oder des Geistes jemals erschüttern
können. Hierzu ist es vor allem unerläßlich, das innere
Leben von allen Formen der Illusion und des Ersatzes
[fromme Einbildungen, religiöse »Tröstungen«,
ungeläuterter Glaube an die eigene Unsterblichkeit usw.] zu
befreien, welche sich nur allzu oft den göttlichen Namen
anmaßen und in Wirklichkeit nur Schlupfwinkel unserer
Schwachheit und unseres Stolzes sind. »Man soll über die
Stufe wachen, auf der man dem Unendlichen seinen Ort
anweist. Ist dies eine Stufe, die nur dem Endlichen
angemessen ist, so ist es von geringem Belang, mit welchem
Namen man es benennt.« Die Schöpfung spiegelt Gott in
ihrer Schönheit und Harmonie, aber durch das Übel und den
Tod, die ihr einwohnen, und durch die fühllose Notwendig-
keit, die sie beherrscht, offenbart sie auch die Abwesenheit
Gottes. Wir sind von Gott ausgegangen: das bedeutet, daß
wir das Siegel dieser Herkunft an uns tragen, und bedeutet
zugleich, daß wir von ihm getrennt sind. Die Etymologie des
Wortes »existieren« [hinausgestellt sein] ist in dieser Hin-
sicht höchst aufschlußreich: wir existieren, wir sind nicht.
Gott, der das Sein ist, hat sich gewissermaßen

26
zurückgezogen, damit wir existieren könnten; er hat darauf
verzichtet, alles zu sein, damit wir etwas seien; er hat sich
zu unseren Gunsten seiner Notwendigkeit begeben, die eines
ist mit dem Guten, um die Herrschaft an eine andere
Notwendigkeit abzutreten, der das Gute fremd und
gleichgültig Das Zentralgesetz dieser Welt, aus der sich Gott
durch seinen Schöpfungsakt selbst zurückgezogen hat, ist
das Gesetz der Schwerkraft, das sich analog in allen
Schichten der Existenz wiederfindet. Die Schwerkraft ist die
»Deifugal«-Kraft par excellence. Sie treibt jedes Geschöpf,
nach allem zu streben, was seiner Erhaltung und seinem
Wachstum dient, und, nach dem Wort des Thukydides, alle
Macht auszuüben, die ihm zu Gebote steht. Im Bereich des
Seelischen findet sie ihren Ausdruck in allen jenen Trieben
der Selbstbehauptung oder Selbstwiederherstellung, in allen
unterschwelligen Ausflüchten [innere Lüge, Flucht in den
Traum und die falschen Ideale, eingebildete Übergriffe auf
die Vergangenheit oder Zukunft usw.], deren wir uns
bedienen, um unsere wankende Existenz von innen her zu
festigen, das heißt, um außerhalb Gottes und im Widersatz
zu ihm zu verharren. Simone Weil stellt die Frage nach dem
Heil mit folgenden Worten: »Wie entrinnt man dem, was in
uns der Schwerkraft gleicht?« Einzig durch die Gnade. Gott
durchdringt, um bis zu uns zu gelangen, die unendliche
Dichte von Zeit und Raum; seine Gnade ändert nichts an
dem blinden Spiel der Notwendigkeit und des Zufalls, die
diese Welt lenken: sie dringt in unsere Seelen ein, wie der
Wasser-

27
tropfen die geologischen Schichten durchsichert, ohne ihre
Struktur zu verändern, und dort wartet sie in der Stille, daß
wir einwilligen, wieder zu Gott zu werden. Da die
Schwerkraft das Gesetz der Erschaffung ist, besteht die
Arbeit der Gnade darin, uns zu »entschaffen«. Aus Liebe
hat Gott eingewilligt, nicht mehr alles zu sein, damit wir
etwas seien; aus Liebe sollen wir einwilligen, nichts mehr zu
sein, damit Gott wieder alles werde. Es gilt also, in uns das
Ich aufzuheben, »diesen Schatten, den Sünde und Irrtum,
welche das Licht Gottes aufhalten, werfen und dem wir ein
wesenhaftes Sein zuschreiben«. Außer dieser gänzlichen
Demut, dieser bedingungslosen Einwilligung darin, daß wir
nichts seien, bleiben alle Formen des Heroismus und der
Aufopferung der Schwerkraft und der Lüge unterworfen;
»Man kann nichts darbringen als nur das Ich. Andernfalls
ist alles, was man Opfer nennt, nur ein Etikett auf etwas,
das man an Stelle des Ich darbringt.«
Um das Ich zu töten, gilt es, sich allen Bissen des Lebens
nacht und wehrlos auszusetzen, die Leere, das gestörte
Gleichgewicht hinzunehmen, niemals eine Entschädigung
für das Unglück zu suchen und vor allem die Tätigkeit der
Einbildungskraft in sich zum Stillstand zu bringen, »die
unablässig bestrebt ist, die Ritzen zu verstopfen, durch
welche die Gnade eindringen könnte«. Alle Sünden sind
Versuche, die Leere zu fliehen. Ferner gilt es, der Ver-
gangenheit wie der Zukunft zu entsagen, denn das Ich ist
nichts anderes als eine Verdichtung von Vergangenheit und
Zukunft um eine stets versagende

28
Gegenwart. Erinnerung und Hoffnung verhindern, daß das
Unglück zu unserem Heil ausschlägt, indem sie imaginären
Erhöhungen [ich war, ich werde sein...] ein unbegrenztes
Feld eröffnen; die Treue aber zum gegenwärtigen
Augenblick macht den Menschen wahrhaft zunicht und öffnet
ihm dadurch die Pforten der Ewigkeit.
Das Ich muß von innen getötet werden durch die Liebe. Es
kann aber auch von außen getötet werden durch das
äußerste Leiden und die Verworfenheit. Es gibt Vagabunden
und Prostituierte, die nicht mehr Eigenliebe haben als die
Heiligen und deren ganzes Leben sich auf den
gegenwärtigen Augenblick beschränkt. Hierin liegt das
Drama der Verworfenheit: was sie zu etwas Unheilbarem
stempelt, ist nicht der Umstand, daß das Ich, welches sie
zerstört, etwas Kostbares wäre, denn es ist zur Zerstörung
bestimmt, sondern daß sie Gott verhindert, es selbst zu
zerstören, daß sie der ewigmachenden Liebe ihre Beute
raubt.
Simone Weil macht einen strengen Unterschied zwischen
diesem übernatürlichen Selbstopfer und allen übrigen
Formen der menschlichen Größe und des menschlichen
Heroismus. Gott ist hienieden das schwächste und am
meisten entblößte Wesen; die Liebe zu einem Götzen ist für
den fleischlichen Teil der Seele eine Erfüllung, die Liebe zu
Gott läßt ihn leer. Wer sich zu Gott auf den Weg machen
will, der muß sich vergeblich abmühen, muß jeden Rausch
der Leidenschaft und des Stolzes, die uns das entsetzliche
Geheimnis des Todes verhüllen, von sich abweisen und sich
einzig führen lassen von jenem

29
»leisen Wehen«, von dem die Bibel spricht, welches das
Fleisch und das Ich nicht wahrnehmen können. »Wie Petrus
zu Christus sagen: ich werde dir treu bleiben, hieß schon,
ihn verleugnen, denn es hieß annehmen, der Urquell der
Treue entspringe in einem selbst und nicht in der Gnade. Da
er ein Auserwählter war, ist diese Verleugnung offenkundig
geworden für alle und für ihn. Wie viele andere verfallen in
ähnliche Prahlereien - und kommen niemals zur
Erkenntnis.« Es ist leicht, für das zu sterben, was stark ist;
denn die Teilhabe an der Kraft versetzt uns in einen
betäubenden Rausch. Aber es ist übernatürlich, für das zu
sterben, was schwach ist: Tau- sende von Männern waren
imstande, für Napoleon den Heldentod zu sterben, indes die
Jünger Christi ihn in seinem Todeskampf verließen - für die
Märtyrer nachher war das Opfer bereits leichter, denn sie
hatten schon eine Stütze in der sozialen Macht der Kirche.
»Die übernatürliche Liebe hat keinerlei Berührung mit der
Gewalt, aber sie schützt auch die Seele nicht vor der Kälte
der Gewalt, der Kälte des Stahls. Nur eine irdische Bindung,
wenn sie genügend stark ist, kann einen Schutz vor der
Kälte des Stahls bieten. Die Rüstung ist aus Stahl ge-
schmiedet wie das Schwert. Begehrt man eine Liebe, die die
Seele vor Verwundungen schützt, so muß man etwas anderes
lieben als Gott.« Der Held trägt eine Rüstung, der Heilige
ist nackt. Während aber die Rüstung vor Streichen schützt,
verhindert sie zugleich die unmittelbare Berührung mit dem
Wirklichen und läßt vor allem keinen Zugang zu der dritten
Dimension finden, welche die

30
Dimension der übernatürlichen Liebe ist. Damit die Dinge
wirklich für uns existieren, müssen sie in uns eindringen.
Deshalb wird die Nacktheit gefordert: nichts vermag in uns
einzudringen, wenn die Rüstung uns zugleich vor
Verwundungen schützt und vor der Tiefe, die diese
bloßlegen. Jede Sünde ist ein Attentat auf die dritte
Dimension, der Versuch, ein Gefühl, das in die Tiefe dringen
möchte, auf die Ebene des Unwirklichen, des Schmerzlosen
zurückzuschieben. Dies ist ein unerbittliches Gesetz: man
vermindert sein eigenes Leiden in eben dem Grade, in
welchem man die innige und unmittelbare Verbindung mit
dem Wirklichen in sich schwächt. Im äußersten Falle breitet
sich das Leben zur bloßen Oberfläche aus: man leidet nur
noch im Traum, denn die auf eine bloße Zweidimensionalität
verkürzte Existenz wird platt wie ein Traum. Das gleiche
gilt von den Tröstungen, den Illusionen, den Prahlereien und
allen kompensierenden Reaktionen, mit denen wir die
Leerräume auszufüllen trachten, die der Zahn des
Wirklichen in uns hineinbeißt. Jede Leere, jeder Hohlraum
schließt in der Tat die Gegenwart der dritten Dimension ein;
in eine Oberfläche dringt man nicht ein, und einen Leerraum
zuzuschütten bedeutet, daß man sich an die Oberfläche
flüchtet und sich dort abschließt. Der Spruch der alten
Physik vom horror vacui der Natur findet seine strenge
Anwendung auf die Psychologie. Aber gerade dieser Leere
bedarf die Gnade, um in uns einzutreten.
Dieser Prozeß der »Entschaffung«, welcher der einzige Weg
zum Heil ist, ist das Werk der Gnade und

31
nicht des Willens. Der Mensch erhebt sich nicht zum Himmel,
indem er sich an seinem eigenen Schopf emporzieht. Der
Wille ist nur zu knechtischen Arbeiten gut: er sichert die
rechte Ausübung der natürlichen Tugenden, die dem Werk
der Gnade vorausgehen müssen, wie das Umpflügen des
Feldes der Aussaat. Das göttliche Samenkorn aber ist an-
derer Herkunft.... Wie Plato und Malebranche mißt Simone
Weil in diesem Bereich der Aufmerksamkeit eine sehr viel
größere Bedeutung bei als dem Willen. »Man soll Gut und
Böse mit gleichem Sinne gelten lassen, aber mit wirklich
gleichem Sinne, das heißt, das Licht der Aufmerksamkeit
gleichermaßen auf das eine wie das andere richten. Dann
gewinnt das Gute automatisch die Oberhand.« Eben diesen
höheren Automatismus gilt es hervorzubringen; und man
erreicht ihn, nicht indem man sein Ich verkrampft und sein
Vermögen forciert, um das Gute zu erzwingen - nichts
würdigt so sehr herab wie die Vollbringung einer hohen Tat
in einem niederen Zustand der Seele -, sondern indem man
durch Selbstauslöschung und Liebe zu jenem Zustand einer
vollkommenen Fügsamkeit gegenüber der Gnade gelangt,
aus welchem das Gute spontan hervorgeht. »Das Handeln
ist der Zeiger der Waage. Man soll nicht an den Zeiger
rühren, sondern die Gewichte verändern.« Es ist leider
leichter, den Zeiger in Unordnung zu bringen, als sein
eigenes Gewicht auf dieser »goldenen Waage des Zeus« zu
verändern.
Die religiöse Aufmerksamkeit erhebt uns also über die
»Verwirrung der Gegensätze« und die Wahl

32
zwischen Gut und Böse. »Die Wahl, ein Begriff der niederen
Bereiche.« Solange ich noch schwanke, ob ich eine schlechte
Tat tun soll oder nicht - zum Beispiel diese Frau, die sich
mir anbietet, zu besitzen oder nicht, diesen Freund zu
verraten oder nicht -und selbst wenn ich mich dabei zuletzt
für das Gute entscheide, so lange erhebe ich mich noch kaum
über das Böse, das ich abweise. Damit meine »gute« Tat
wahrhaft rein sei, muß ich erst dieses erbärmlichen Hin-
und Herschwankens Herr werden, muß dasGute, das ich
nach außen vollbringe, die genaue Entsprechung meiner
inneren Notwendigkeit sein. Hierin ähnelt die Heiligkeit der
Verworfenheit1: ebenso wie ein gemeiner Mensch nicht
zögert, eine Frau in Besitz zu nehmen, wenn seine
Leidenschaft spricht, oder einen Freund zu verraten, wenn
sein Vorteil es fordert, ebenso bleibt dem Heiligen keine
Wahl, ob er rein und treu bleiben will; er kann gar nicht
anders; er strebt dem Guten zu, wie die Biene der Blüte. Das
Gute, das man wählt, indem man es mit dem Bösen auf die
gleiche Waage legt, hat fast nur einen sozialen Wert; in den
Augen dessen, der ins Verborgene sieht, entspringt es den
gleichen Antrieben und erscheint ebenso gewöhnlich wie das
Böse. Darin gründet die oft bemerkte Verwandtschaft
zwischen gewissen Formen der »Tu-
1 Dies ist das Postulat der Tabula smaragdina des Hermes Trismegistus: Das
Oberste gleicht dem Untersten - ein Zentralgesetz des Seins, das Simone Weil
in ikrem ganzen Werk zu unendlichen Anwendungen benutzt. So kommt die
Gewaltlosigkeit der Heiligen äußerlich der Feigheit gleich, die höchste
Weisheit endet bei dem Nicht-Wissen, die Antriebe der Gnade ahmen die
Unentrinnbarkeit der tierischen Instinkte nach [»ich bin geworden gleich
einem lastbaren Tiere vor deinem Angesicht ... .«] die Äbgelöstheit ähnelt der
Gleichgültigkeit, usw.

33
gend« und der entsprechenden Sünde: Diebstahl und
bürgerliche Achtung des Eigentums, Ehebruch und
»anständige Frau«, Sparkasse und Verschwendung usw. Das
wahre Gute ist nicht der Gegensatz des Bösen - unmittelbare
Gegensätze gibt es nur auf der gleichen Stufe -: es übersteigt
und tilgt es. »Was das Böse verletzt, ist nicht das Gute, denn
das Gute ist unverletzlich; man verletzt immer nur ein schon
herabgesetztes Gutes.«
Die Seele, die dem reinen Guten nachstrebt, stößt hienieden
auf unlösbare Widersprüche. »Unser Leben ist
Unmöglichkeit, Absurdität. Alles, wonach wir streben, steht
in Widerspruch zu den Bedingungen oder den Folgen, die mit
ihm verbunden sind. Der Grund ist: wir selbst sind
Widerspruch, da wir in unserer Geschöpflichkeit zugleich
Gott und das unendlich von Gott Verschiedene sind.« Zum
Beispiel, man setze Kinder über Kinder in die Welt: so be-
günstigt man die Überbevölkerung und den Krieg - der Fall
Japans ist typisch in dieser Hinsicht -; man verbessere das
materielle Los des Volkes: so läuft man Gefahr, seine Seele
zu verderben; man sei einem anderen völlig ergeben: so hört
man auf, für ihn zu existieren, usw. Nur das imaginäre Gute
enthält keinen Widerspruch: das junge Mädchen, das sich
eine zahlreiche Nachkommenschaft wünscht, der
Gesellschaftsverbesserer, der vom Glück des Volkes träumt,
usw. stoßen auf keinen Widerstand, solange sie ihre
Vorstellungen nicht wirklich in die Tat umsetzen; sie treiben
mit vollen Segeln in einem reinen, aber fiktiven Guten
dahin; der Aufprall an der Klippe ist das Signal des
Erwachens. Wir sind

34
verpflichtet, diesen Widerspruch, der ein Kennzeichen
unseres Elends und unserer Größe ist, in seiner ganzen
Bitterkeit hinzunehmen. Durch die als solche erlebte und
zutiefst erlittene Absurdität dieses aus Gutem und Bösem
gemischten Universums hindurch erreichen wir das reine
Gute, dessen Reich nicht von dieser Welt ist. »Rein ist die
Tat, die man vollbringen kann, während man seine
innerliche Absicht gänzlich auf das reine und unmögliche
Gute gerichtet hält, ohne sich durch irgendeine Lüge weder
die Anziehung noch die Unmöglichkeit des reinen Guten zu
verschleiern.« Statt der Kluft, die sich zwischen dem
Notwendigen und dem Guten erstrecht, mit Träumen zu
füllen [Glaube an Gott als einen zeitlichen Vater, an die
Wissenschaft oder den Fortschritt ...], gilt es, die beiden
Auszweigungen des Widerspruchs hinzunehmen, so wie sie
sind, und sich durch ihren Abstand zerreißen zu lassen. Und
in dieser Zerreißung, welche gleichsam der Wider schein des
Schöpfungsaktes, der Gott zerreißt, im Menschen ist, erfährt
man schließlich die ursprüngliche Identität des Notwendigen
und des Guten: »Diese Welt, insofern sie Gottes gänzlich leer
ist, ist Gott selbst. Die Notwendigkeit, insofern sie
gegenüber dem Guten das schlechthin andere ist, ist das
Gute selbst. Das ist der Grund, warum jeder Trost im Un-
glück von der Liebe und von der Wahrheit entfernt. Dies ist
das Geheimnis der Geheimnisse. Berührt man es, ist man in
Sicherheit.« So ist derjenige, der die Vermengung ablehnt,
dem Leiden ausgeliefert. Von Antigone an, die der Hüter der
zeitlichen Stadt auffordert, mit ihrer Liebe zu den Toten
hinabzu-

35
steigen1, bis zu Simone Weil selbst, die von der menschlichen
Ungerechtigkeit gekreuzigt wurde bis zum Grabe, ist das
Unglück das Los all derer, die in der Verstrickung durch das
Relative das Absolute lieben: »Begehrt man allein das Gute,
so steht man im Gegensatz zu dem Gesetz, nach dem das
Gute mit dem Bösen verbunden ist wie der beleuchtete
Gegenstand mit seinem Schatten, und weil man so zu dem
allgemeinen Weltgesetz im Gegensatz steht, stürzt man
unvermeidlich ins Unglück.« Solange die Seele noch nicht
völlig ihrer selbst entleert ist, so lange erzeugt dieses
Verlangen nach dem reinen Guten das sühnende Leiden; in
der vollkommen unschuldigen Seele bringt es das erlösende
Leiden hervor: »Unschuldig sein heißt, das Gewicht des
ganzen Universums ertragen. Heißt, das Gegengewicht fort-
werfen.« Die Reinheit hebt also das Leiden nicht auf; im
Gegenteil, sie vertieft es unendlich, aber sie verleiht ihm
einen ewigen Sinn: »Die letzte Größe des Christentums
beruht darauf, daß es nicht nach einem übernatürlichen
Heilmittel gegen das Leiden, sondern nach einem
übernatürlichen Gebrauch des Leidens trachtet.«

Dieses Mysterium des Leidens, das den Menschen


»entschafft« und ihn zu Gott zurückbringt, findet seine
Mitte in dem Mysterium der Inkarnation. Wenn Gott nicht
das Fleisch an sich genommen

1 Siehe Sophokles. Antigonä [II, 1], deutsch von Friedrich Hölderlin:


Kreon: Nie ist der Feind, auch wenn er tot ist, Freund.
Antigonä: Aber gewiß. Zum Hasse nicht, zur Liebe bin ich.
Kreon: So geh hinunter, wenn du lieben willst, Und liebe dort!

36
hätte, so wäre der Mensch, der leidet und stirbt, in einem
Sinne größer als Gott. Aber Gott ist Mensch geworden und
ist am Kreuz gestorben. »Gott hat Gott verlassen. Gott hat
sich entleert: dieses Wort umfaßt zugleich die Schöpfung
und die Fleischwerdung mit der Passion.... Um uns zu
lehren, daß wir Nicht-Sein sind, ist Gott Nicht-Sein
geworden.« Mit anderen Worten, Gott ist Geschöpf
geworden, um uns zu lehren, die Geschöpflichkeit in uns auf-
zulösen, und der Akt der Liebe, durch den er sich von sich
selbst getrennt hat, führt uns zu ihm zurück. In dieser
Annahme des Menschseins in seinem schmählichsten und
tragischsten Elend erblickt Simone Weil das Wesen der
Mittlerschaft Jesu Christi: die Zeichen und Wundertaten
stellen nur den menschlichen und beinahe niedrigen Teil
seiner Sendung dar; der übernatürliche Teil besteht in der
Agonie, dem Blutschweiß, dem Kreuz und seinem
vergeblichen Schreien gegen den stummen Himmel. Das
Wort des Erlösers: »Mein Vater, warum hast du mich
verlassen?«, das alle Ängste der in die Zeitlichkeit und das
Böse geworfenen Kreatur in sich schließt und das keine
andere Antwort empfängt als das Schweigen des Vaters -
dieses Wort allein genügt ihr, die Göttlichkeit des
Christentums zu beweisen.
Der Mensch rettet sich nur, wenn er im nackten Hier und
Jetzt lebt, unter Verzicht auf Vergangenheit und Zukunft.
Dies schließt den modernen Mythos von dem unendlichen
Fortschritt der Menschheit aus, selbst wenn er als ein
göttlicher Erziehungsplan dargestellt wird. Wenige Ideen
sind so

37
lästerlich wie diese, denn sie veranlaßt uns, in der Zukunft
zu suchen, was nur die Ewigkeit uns geben kann, und so
wendet sie uns in eine Richtung der Abkehr von Gott.
»Nichts kann sich etwas anderes zum Ziel setzen, als was es
zum Ursprung hat. Entgegengesetzter Gedanke, der
Fortschrittsgedanke, Gift. Die Wurzel, die diese Frucht
hervorgebracht hat, muß ausgerissen werden.« Dies
bedeutet nicht, daß die Menschheit keiner zeitlichen
Errungenschaften fähig sei; als zeitliche jedoch können
diese Fortschritte niemals unendlich sein, denn immer ver-
schlingt die Zeitlichkeit zuletzt ihre eigenen Kinder.
Hingenommen als das unaufhebbar Andere als die Ewigkeit,
ist die Zeit für uns die Pforte zur Ewigkeit: man soll sie
nicht zu einem »ersatz«1 der Ewigkeit machen.

Aus dieser heilswesentlichen Notwendigkeit, im reinen Jetzt


zu leben und sich ins Leere abzumühen, entwickelt Simone
Weil eine wunderbare Spiritualität der Handarbeit. Diese
Arbeit bringt den Menschen in unmittelbare Berührung mit
der Absurdität und dem Widerspruch, die von dem irdischen
Leben untrennbar sind, und dadurch läßt sie den Arbeiter,
wenn er nicht lügt, den Himmel berühren: »Die Arbeit läßt
uns bis zur Erschöpfung das Phänomen der wie eine Kugel
hin und her gestoßenen Zweckhaftigkeit erfahren: man
arbeitet, um zu essen, man ißt, um zu arbeiten.... Betrachtet
man eines von beiden als einen Zweck, oder eines vom

1 Die französische Umgangssprache verwendet das deutsche Wort Er-satz als


Fremdwort zur Bezeichnung einer minderwertigen Nachahmung,
besonders bei Nahrungsmitteln.

38
andern getrennt, dann ist man verloren. Der Kreislauf
enthält die Wahrkeit.« Um aber diesen Kreislauf zu
erfassen, muß man sich von der Zukunft abwenden und sich
bis zum Ewigen erheben. »Nicht die Religion, die Revolution
ist Opium für das Volk.« Unzählige relative Dinge, die als
absolute gelten, treten hienieden zwischen die Seele und
Gott; Solange der Mensch nicht bereit ist, nichts zu werden,
um alles zu sein, bedarf er der Götzen. »Der Götzendienst ist
eine Lebensnotwendigkeit in der Höhle.« Und unter diesen
Götzen ist das Soziale, die Kollektivseele der mächtigste und
gefährlichste. Die meisten Sünden beziehen sich auf den
Bereich des Sozialen; sie entspringen dem Verlangen, etwas
zu scheinen und andere zu beherrschen. Nicht als ob Simone
Weil das Soziale als solches ablehnte; sie weiß, daß Umwelt,
Verwurzelung, Herkommen usw.
»metaxy«1 darstellen, Brücken zwischen der Erde und dem
Himmel. Was sie verwirft, das ist der totalitäre Staat, das
»Große Tier« Piatos und das »Tier« der Apokalypse, dessen
Macht und Ansehen sich in der Seele die Stelle Gottes
anmaßen. Ob sie ein konservatives oder ein revolutionäres
Gesicht zeigt, ob sie auf die Anbetung eines gegenwärtigen
oder eines Zukunftsstaates hinausläuft, immer ist die
Vergötzung des Sozialen bestrebt, die wahre mystische Tra-
dition zu ersticken und zu verdrängen. Sie ist die Ursache
aller Verfolgungen der Propheten und Heiligen; durch sie
wurden Antigone und Jeanne d'Arc zum Tode verurteilt und
Jesus Christus gekreuzigt. Das soziale Tier bietet dem
Menschen einen Reli-

1 metaxy: das Dazwischenliegende; siehe auch S. 246

39
gionsersatz, der ihm gestattet, sich seihst zu trans-
zendieren, ohne sich seiner selbst zu entäußern, und der ihm
infolgedessen erlaubt, des wahren Gottes leicht entraten zu
können; die höchsten Tugenden sind einer sozialen
Nachahmung fähig, die sie alsbald in Heuchelei verkehrt:
»Ein Pharisäer ist ein Mensch, der tugendhaft ist aus
Gehorsam gegen das Große Tier.«
Zwei Völker des Altertums verkörpern diese Vergötzung der
Kollektivseele: Israel und Rom. »Rom: das atheistische,
materialistische Große Tier, das nur sich selbst anbetet.
Israel: das religiöse Große Tier. Keines von beiden ist
liebenswert. Das Große Tier ist immer abstoßend.« Die
Auseinandersetzung zwischen Israel und Rom, in welcher
Nietzsche den Kampf zweier unversöhnlicher
Lebensauffassungen erblickte, schrumpft für Simone Weil zu
dem Streit zweier gleichartiger Toalitarismen zusammen. Es
ist jedoch angezeigt, mit allem Nachdruck zu betonen, daß
ihr Antisemitismus - der so heftig war, daß die Lehre der
Kirche von dem fortlaufenden Zusammenhang zwischen dem
Alten und dem Neuen Testament für sie einer der
Hauptgründe war, die sie verhinderten, dem Katholizismus
beizutreten - sich auf rein geistliche Entscheidungen bezog
und infolgedessen nichts gemein hatte mit dem, was heute
diesen Namen trägt. Sie empfand zum Beispiel den gleichen
Widerwillen gegen den Hitlerschen Antisemitismus wie
gegen den zeitlichen Messianismus der Juden. Wie oft hat sie
mir gegenüber von den jüdischen Wurzeln des
Antisemitismus gesprochen! Sie liebte es, wiederholt zu
behaupten,

40
Hitler jage auf dem gleichen Felde wie die Juden, und er
verfolge sie nur, um ihren irdischen, grausamen und
alleinherrscherlichen Stammesgott unter anderem Namen zu
seinem eigenen Vorteil wieder aufleben zu lassen. Ihr
Abscheu vor dem sozialen Götzen erstreckte sich natürlich
auch auf alle übrigen Formen einer totalitären Mystik und
insbesondere auf den Marxismus. Sogar die katholische
Kirche, die sie übrigens in mancher Hinsicht bewunderte,
entging nicht ihrer Kritik des Sozialen: ihre jüdischen und
römischen Ursprünge, ihre Einmischung in zeitliche
Angelegenheiten, ihre Organisation und ihre Hierarchie,
ihre Konzilien, gewisse Formeln wie »extra ecclesiam nulla
salus« oder ihr »ana-thema sit« und gewisse ihrer
geschichtlichen Erscheinungsformen wie die Inquisition usw.
erschienen ihr als unzweifelhaft höhere, aber immer noch
äußerst gefährliche Formen des sozialen Götzendienstes.
Dennoch hörte sie niemals auf, an die Gegenwart Gottes und
die Eingebung seines Geistes in der Kirche zu glauben.
»Glücklicherweise werden die Pforten der Hölle nicht
obsiegen«, schrieb sie in den letzten Zeiten ihres Lebens; »es
bleibt ein unzerstörbarer Wahrheitskern.«1
1 Die Stelle, auf die Gustave Thibon anspielt, lautet:
»Wenn zwei oder drei von euch versammelt sind in meinem Namen,
so werde ich unter ihnen sein.
Wenn es aber vier sind? Wird dann etwa der Teufel unter ihnen
sein?
Vielleicht.
Und die Konzile?
Vielleicht...
Glücklicherweise werden die Pforten der Hölle nicht obsiegen. Es bleibt ein
unzerstörbarer Wahrheitskern.«
[Simone Weil, La Connaissance surnaturelle, Gallimard, Paris 1950, pp. 272/3.]

41
Dies ist in ihren Grundzügen die Gedankenwelt von Simone
Weil. Das Schematische dieser Übersicht läßt notgedrungen
zahllose Nuancen im Dunkeln, die ihre Lehre verdeutlichen,
verschärfen und ergänzen.
Aber eine Einführung kann, wie schon ihr Name anzeigt, nicht
mehr sein als eine Einladung, eine Schwelle zu überschreiten.
Muß ich noch eigens hervorheben, daß meineFreund-schaft und
Verehrung für Simone Weil, das schmerzliche Gefühl ihres
Verlustes und die Freude, sie alle Tage jenseits des Todes
wiederzufinden, mein dauernder Umgang mit ihren Gedanken,
von denen ich mich nähre, und vor allem jene unüberwindliche
Scheu, die jede echte Vertraulichkeit begleitet, mir die
Bemühung um eine sachliche Einstellung fast unmöglich
machen, die doch erforderlich wäre, um eine kritische
Untersuchung ihres Werkes vornehmen zu können?
Ich bin Katholik; Simone Weil war es nicht. Ich habe niemals
auch nur eine Sekunde daran gezweifelt, daß sie in der
Erfahrung und Erkenntnis der übernatürlichen Wahrheiten
unendlich viel fortgeschrittener war als ich; aber nach außen
hin blieb sie immer in den Grenzbezirken der Kirche und
empfing niemals die Taufe. In einem ihrer letzten Briefe an
mich gibt sie eine vortreffliche Kennzeichnung ihrer
Einstellung gegenüber dem Katholizismus: »In diesem
Augenblick wäre ich eher bereit, für die Kirche zu sterben -
wenn sie eines nahen Tages dessen bedarf, daß man für sie
sterbe -, als in sie einzutreten. Sterben verpflichtet zu nichts,
wenn ich so sagen darf; es schließt keine Lüge

42
ein.... Nun aber habe ich, was ick auch tun mag, den
Eindruck zu lügen, sei es, indem ich mich außer der Kirche
halte, sei es, indem ich ihr beitrete. Es fragt sich, worin die
geringere Lüge besteht....« Daß Simone Weil eine heroische
Liebende Jesu Christi gewesen ist, darüber bin ich in meiner
Überzeugung niemals wankend geworden; dennoch bleibt es
dabei, daß ihre Lehre, obwohl sie sehr oft der Hauptrichtung
der großen christlichen Wahrheiten folgt, nichts spezifisch
Katholisches hat und daß sie niemals das Universalamt der
Kirche anerkannte. Wenn jedoch ein Katholik über die
Gedankenwelt eines Nicht-Katholiken urteilen soll, so
entrinnt er schwerlich zwei entgegengesetzten
Versuchungen, die beide über das Erlaubte hinausführen.
Einmal der Versuchung, dem betreffenden Denken die
Grundsätze der spekulativen Dogmatik entgegenzustellen
und unbarmherzig alles zu verdammen, was, von außen
gesehen, der strengen Rechtgläubigkeit zuwiderläuft. Diese
Methode bietet die Vorteile eines Geländers, das auf den
Brücken, welche zu Gott führen, immer unerläßlich ist;
bedient man sich ihrer jedoch ohne Verständnis und ohne
Liebe, so läuft man Gefahr, daß sie in eine mißbräuchliche
Anwendung der Vorschrift des Evangeliums: »Wenn dein
Auge dich ärgert...« entartet. Da ich meinerseits weder
Theologe noch eigens beauftragt bin, den Schatz des
christlichen Glaubens zu verteidigen, so fühle ich mich zu
einem derartigen Unternehmen keineswegs berufen. Vor
allem möchte ich es vermeiden, hier als ein
Schreibstubentheologe aufzutreten, der sich anmaßte, an
Hand eines Baedeckers

43
des Göttlichen über den - vielleicht unvollständigen •
Bericht eines heroischen Reisenden unwiderrufliche Urteile
zu fällen.... Die zweite Gefahr besteht darin, das Denken,
das man untersucht, um jeden Preis in die Richtung der
katholischen Wahrheit beugen zu wollen. Das ist ein
offenbarer Mißbrauch des »compelle intrare«. Wir hingegen
glauben, daß alles, was ein menschliches Leben oder Werk
an Wahrem und Reinem enthält, natürlicherweise seinen
Platz in der katholischen Synthese findet, ohne daß man es
stößt oder dreht, um es hineinzuzwingen. Wir brauchen nicht
nach Art eines Geizigen, der seinen Schatz zu vermehren
sucht, alles an uns zu ziehen, denn alles ist unser, die wir
Christi sind.... Da es also nicht meine Aufgabe ist, zu
entscheiden, wie weit das Denken Simone Weils orthodox ist
oder nicht, so will ich mich darauf beschränken, zu zeigen -
ohne daß mein Zeugnis für etwas außer mir verbindlich ist
in welchem Sinne eine christliche Seele dieses Denken
auslegen kann, um darin eine Nahrung für ihr geistliches
Leben zu finden. Vor allem werde ich mich wohl hüten, mit
Simone Weil über Worte zu streiten. Ihr Vokabular ist das
der Mystiker und nicht der spekulativen Theologen: was es
auszudrücken strebt, ist nicht die ewige Ordnung des
wesenhaften Seins, sondern die besondere Wanderschaft
einer Seele auf ihrer Suche nach Gott. Daher die besondere
Redeweise aller spirituellen Autoren. Wenn Christus in dem
»Zwiegespräch« zu der heiligen Katharina von Siena sagt:
»Ich bin der ich bin, du bist die nicht ist«., so ist diese
Formulierung, die das Geschöpf auf ein reines Nichts

44
herabsetzt, im Bereich der ontologischen Erkenntnis
unannehmbar. Das gleiche gilt für die von vielen Mystikern
verwendeten Ausdrücke, die von der Armut Gottes, von
seiner Abhängigkeit im Hinblick auf die Kreatur usw. reden:
sie sind wahr in der Ordnung der Liebe und falsch in der
Ordnung des Seins. Jacques Maritain hat als erster
dargelegt, daß diese beiden Vokabulare einander nicht
widersprechen, denn das eine bezieht sich auf die
spekulative Erkenntnis und das andere auf die praktische
und affektive Erkenntnis.
Zwei Dinge vor allem in dem Werk von Simone Weil haben
bei den wenigen Freunden, die in ihre Handschriften
Einblick genommen haben, Anstoß erregt. Zum ersten die
absolute Trennung, die sie, wie es scheint, zwischen der
erschaffenen Welt und einem transzendenten Gott setzt, der
sich dem Bösen gegenüber selbst die Hände gebunden hat
und die Welt dem Spiel des Zufalls und des Absurden
überläßt: diese Trennung läuft Gefahr, die Vorsehung in der
Geschichte und den Begriff eines Fortschreitens aufzuheben
und infolgedessen die irdischen Werte und Pflichten
verkennen zu lassen. Zum andern die Scheu vor dem
Sozialen, die darauf hinausläuft, den Einzelnen in einer
stolzen Selbstgenügsamkeit zu vereinsamen.
Wir wiederholen, daß Simone Weil als Mystikerin und nicht
als Metaphysikerin spricht. Wir sind sogar gerne zu dem
Eingeständnis bereit, daß die Neigung ihres Geistes,
unaufhörlich die mit nichts anderem vereinbarte
Einzigartigkeit des Übernatürlichen hervorzuheben, sie des
öfteren veranlaßt, die

45
Verbindungspunkte und die Elemente des Übergangs
zwischen Natur und Gnade außer acht zu lassen. Nichts ist
gewisser, als daß sie bestimmte Seiten der christlichen
Frömmigkeit verkannt hat. Jedoch ermächtigt uns dies nicht
zu der Behauptung, der Aspekt, den sie beschreibt, sei kein
christlicher. Keine menschliche Erfahrung - diejenige
Christi beiseite gesetzt - hat jemals die übernatürliche
Wahrheit in ihrer Vollständigkeit umfaßt. Der heilige
Johannes vom Kreuz zum Beispiel hebt nicht die gleichen
göttlichen Wirklichkeiten hervor wie der heilige
Bonaventura. Es gibt verschiedene Schulen der geistlichen
Übung, und man kann von den Mystikern sagen, indem man
das Wort Welt durch das Wort Gott ersetzt, was der Dichter
von den Menschen im allgemeinen sagt:

Ein jeder sieht die Welt in seinem eignen Sinn, Und jeder
siehet recht, so viel ist Sinn darin.

Wenn es, wie das Evangelium sagt, mehrere Wohnungen im


Himmel gibt, so gibt es gleichfalls mehrere Wege, die zum
Himmel führen. Simone Weil wählte die via negativa: »Es
gibt Menschen, für die alles, was sie hienieden Gott näher
bringt, heilsam ist; für mich hingegen alles, was von ihm
entfernt.« Dieser königliche Pfad des Heiles, dessen
Wanderschaft darin besteht, daß man Gott findet und liebt
in dem, was schlechthin anders als Gott ist - die blinde
Notwendigkeit, das Nichts, das Böse ...-, gleicht er nicht auf
seltsame Weise jener Trockenheit des Aufstiegs zum Berge
Karmel, wo der Mensch nur ein einziges Wort zum Führer
hat: nada - nichts? Und spricht der heilige Johannes vom

46
Kreuz in minder unbedingten Ausdrücken von dem Nichts
der erschaffenen Dinge und unserer Liebe, die uns an sie
bindet? »Jedes Sein der Geschöpfe ist im Vergleich mit dem
unendlichen Sein Gottes ein Nichts, und also ist die Seele,
die noch im Geschöpflichen befangen ist - Nichts. Alle
Schönheit der Geschöpfe ist letzte Häßlichkeit vor der un-
endlichen Schönheit Gottes. Alle Anmut, aller Zauber der
Geschöpfe ist reizlos und abstoßend angesichts der
göttlichen Schönheit. Alles, was die Geschöpfe an Güte
enthalten, ist nur höchste Bosheit in Gegenwart der
göttlichen Güte. Gott allein ist gut. ...«
Außerdem, wenn Simone Weils »Theologie« auch freilich die
Vorstellung eines »Gottes der braven Leute« abweist, der
die Welt nach dem Muster eines Familienvaters oder eines
weltlichen Herrschers regierte, so schließt sie doch
keineswegs das Wirken der Vorsehung, im höheren Sinne des
Wortes, aus. Die Begriffe Zufall, Schicksal und Vorsehung
sind gleicherweise wahr, wenn auch auf verschiedenen
Seinsebenen. Es ist nicht zu bezweifeln, daß hienieden die
Materie und das Böse »alle Kausalität, die ihnen angehört«,
ausüben: das Schauspiel der unzählbaren Greuel der
Geschichte beweist zur Genüge, daß diese Welt nicht das
Reich Gottes ist [nennt die Schrift nicht den Teufel princeps
huius mundi?]. Trotzdem bleibt Gott in seiner Schöpfung
geheimnisvoll gegenwärtig: ohne die Verhängnisse, die auf
uns lasten, im geringsten zu verändern, findet seine Gnade
ihren Weg durch die Gesetze der Schwerkraft hindurch, wie
der Sonnenstrahl das

47
Gewölk durchdringt. Diesem Gott, »der in seiner Liebe
schweigt«, ist das menschliche Elend nicht gleichgültig wie
dem Gotte des Aristoteles oder Spinoza. Denn eben aus Liebe
zu seiner Kreatur zieht er sich dem Anschein nach aus der
Schöpfung zurück; eben um sie zur höchsten Reinheit empor-
zuführen, läßt er sie einsam und verwaist das ganze Ausmaß
des Leidens und der Nacht erfahren. Indem er sich vor dem
Bösen die Hände bindet, indem er alles von sich abtut, was
zeitlicher Macht und zeitlichem Ansehen gleicht, richtet Gott
an die Menschen die Aufforderung, in ihm nur die Liebe zu
lieben. »Er gibt sich den Menschen als der Mächtige oder als
der Vollkommene - nach ihrer Wahl.« Die unendliche
Vollkommenheit jedoch ist hienieden unendliche
Schwachheit: Gott als die Liebe hängt ganz am Kreuz....
Simone Weil verkennt keineswegs die Würde und
Notwendigkeit der zeitlichen Werte. Sie sieht in ihnen
»metaxy«, Vermittlungen zwischen der Seele und Gott. »Die
Zerstörung welcher Dinge ist frevelhaft? Nicht des
Niedrigen, denn es ist bedeutungslos. Nicht des Hohen, denn
es ist unserem Zugriff entzogen. Also die Zerstörung der
metaxy. Die metaxy sind der Bereich des Guten und
Schlechten.... Man soll kein Menschenwesen jener
vermischten und relativen Güter [Heim, Vaterland,
Überlieferungen, Kultur usw.] berauben, welche die Seele
wärmen und nähren und ohne welche, außerhalb der
Heiligkeit, ein menschliches Leben nicht möglich ist.« Doch
diese vermischten und relativen Güter können als solche nur
von denen behandelt wer-

48
den, die aus Liebe zu Gott durch die völlige Bloßwerdung
hindurchgegangen sind; alle übrigen erheben sie mehr oder
minder zu Götzen: »Nur wer Gott mit übernatürlicher Liebe
liebt, kann die Mittel nur als Mittel betrachten.«
Unbeschadet ihrer Ansicht, daß »die Wahl ein Begriff der
niederen Bereiche« sei, und trotz ihrer Behauptung von der
völligen Wirkungslosigkeit der Willensanstrengung im
Bereich des Übernatürlichen, neigt Simone Weil doch
keineswegs dem Quietismus zu. Vielmehr kommt sie
beständig darauf zurück, daß das mystische Leben ohne eine
beharrliche und strenge Übung der natürlichen Tugenden
nur auf eine Täuschung hinausläuft. Die Ursache der Gnade
liegt jenseits des Menschen, aber ihre Bedingungen liegen im
Menschen. Ihr Haß ge gen die Illusion, vor allem wenn sie in
Gestalt einer empfindseligen Frömmigkeit und als eine Art
religiöser »Schwärmerei« auftritt, hält bei Simone Weil
allem, was bei einer so verfeinerten Spiritualität der
Einbildung oder dem Hochmut schmeicheln könnte, das
Gegengewicht. Gerne führte sie die Ansicht des heiligen
Johannes vom Kreuz an, daß die Inspiration, die uns von der
Erfüllung der leichten und niedrigen Verpflichtungen
abwendig macht, nicht von Gott komme. »Die Pflicht ist uns
gegeben, um das Ich abzutöten.... Nur dann gelangt man zu
dem wahrhaften Gebet, wenn man zuvor seinen Eigenwillen
an der Befolgung der Regeln abgenutzt hat« Jedes religiöse
Hochgefühl, das der Stütze eines beharrlichen Treuseins in
den alltäglichen Pflichten entbehrte, war ihr so verdächtig,

49
daß die seltenen eigenen Versäumnisse in der Erfüllung
dieser Pflichten, die größtenteils ihrer schwachen
Gesundheit entsprangen, sie allezeit die bittersten Zweifel
an der Echtheit ihrer geistlichen Berufung empfinden ließen.
»All diese mystischen Phänomene«, schrieb sie am Ende
ihres Lebens mit einer herzzerreißenden Demut, »liegen
völlig außer meiner Zuständigkeit. Ich verstehe nichts
davon. Sie sind denen vorbehalten, die vor allem einmal die
elementaren sittlichen Tugenden besitzen. Ich rede davon
nur aufs Geratewohl. Und ich bin nicht einmal fähig, mir
aufrichtig einzugestehen, daß ich nur aufs Geratewohl
davon rede.«
Ich möchte schon deshalb nicht auf die politischen Ansichten
von Simone Weil näher eingehen, weil ich sie völlig teile.
Ein anderer könnte wohl eine höchst eindrucksvolle
Schilderung von diesem Leben geben, in dessen Verlauf ein
seinem Wesen nach revolutionäres Temperament unter dem
Einfluß des Nachdenkens und des Glaubens allmählich von
der Verehrung für die Vergangenheit und die Tradition
durchdrungen wurde. Zwar blieb Simone Weil immer eine
Revolutionärin, aber sie war dies in immer steigendem
Maße, nicht um einer chimärischen Zukunft willen, die den
Menschen von dem Seienden ablenkt, sondern im Namen
eines ewig Unveränderlichen, das unaufhörlich
wiederhergestellt werden muß, weil es unaufhörlich dazu
neigt, sich in der Zeit zu erniedrigen. Simone Weil glaubte
nicht an die unendliche Vervollkommnung des Menschenge-
schlechts; sie war sogar der Ansicht, die geschichtliche
Entwicklung erhärte eher das Gesetz der En-

50
tropie als das eines Fortschritts ä la Condorcet. Ich brauche
sie diesbezüglich nicht zu verteidigen; denn ich halte es für
keine Ketzerei, der Überzeugung der großen griechischen
Tradition beizupflichten, daß »jeder Wechsel nur begrenzt
oder zyklisch sein kann«. Um sich ferner zu überzeugen, daß
ihre Invektiven gegen das soziale Tier, wie übertrieben sie
auch bisweilen der Form nach sein mögen, in keinem Falle
eine Verteidigung der Anarchie darstellen, genügt es, sie aus
ihrem Kontext heraus zu verstehen. »Das Soziale«, schreibt
sie, »ist unaufhebbar der Bereich der Fürsten dieser Welt. In
Hinsicht auf das Soziale hat man nur die eine Pflicht, zu
versuchen, das Böse einzuschränken.... Das Soziale unter der
Aufschrift des Göttlichen: berauschende Mischung, die zu
jeder Willkür verlockt - der verkappte Teufel.« Doch setzt
sie sogleich hinzu: »Und dennoch ein Vaterland? Aber dies
ist etwas anderes als das Soziale; hier handelt es sich um
ein menschliches Milieu, dessen man sich ebensowenig
bewußt ist wie der Luft, die man atmet. Um einen Zusam-
menhang mit der Natur, der Vergangenheit, der
Überlieferung. Die Verwurzelung ist etwas anderes als das
Soziale.« Mit anderen Worten, der Einfluß des Sozialen ist
zugleich eine Nahrung und ein Gift: eine Nahrung, insoweit
es dem Einzelnen die nötige innerliche Ausrüstung liefert,
um als Mensch zu leben und zu Gott zurückzukehren; ein
Gift, insoweit es danach trachtet, ihn seiner Freiheit zu
berauben und sich in ihm an die Stelle Gottes zu setzen. Die
fortwährenden Übergriffe des Sozialen in die Rechte des
Göttlichen - diese unaufhörliche Entartung einer

51
Mystik zu einer Politik, davon die Geschichte voll ist -
beweisen zur Genüge - und heute mehr denn je - das
Bedrohliche dieser -letzteren Gefahr. Mutatis mutandis gilt
das gleiche für die Kirche. Man begreift, daß einem derart
nach dem Absoluten lechzenden Geist wie dem Simone Weils
der Sinn für die geschichtliche Bedingtheit notwendig ein
wenig abgehen mußte: das »nolite conformari huic saeculo«
war für sie ein Gebot, das keine Einschränkung duldete. Es
fehlte ihr fast jedes Verständnis dafür, daß gewisse
Zugeständnisse der Kirche an zeitliche Notwendigkeiten ihre
ewige Seele in nichts verpflichten. Die Seligsprechung1 Karls
des Großen zum Beispiel war in ihren Augen ein
ärgerniserregender Kompromiß mit dem sozialen Götzen.
Irgendwo nennt sie auch die Kirche einmal ein »totalitäres
Großes Tier«. Was will sie damit sagen? Jeder
Totalitarismus ist dadurch gekennzeichnet, daß er das
Ganze nicht gelten lassen will und zugleich den Anspruch
erhebt, selber das Ganze zu sein. Da die katholische Kirche
hienieden die Abgesandte des Ganzen ist, braucht sie nicht
totalitär zu sein. Der Vorwurf Simone Weils, insoweit er be-
rechtigt ist, kann also nur gewisse Glieder am Leibe der
Kirche treffen, die willkürlich die Pforten der Liebe und der
Wahrheit verriegeln und dadurch die universale Sendung
des Katholizismus verkennen. Es ist hier nicht der Ort - vor
allem zu einer Stunde, da so viele Katholiken nicht zaudern,
die Zuchtruten gegen ihre Mutter zu liefern -, die ehemals

1 Karl der Große wird zwar in Aachen als Seliger verehrt; eine formelle
Seligsprechiung hat jedoch nicht stattgefunden.

52
durch den Begriff der Kirche als »Leib der Sünde«
aufgeregten Auseinandersetzungen wieder aufzunehmen.
Begnügen wir uns mit der Feststellung, daß Christus, als er
sagte, daß »die Pforten der Hölle sie nicht überwältigen
werden«, damit keineswegs versprochen hat, daß alles in
der Kirche ewig rein bleiben, sondern daß der wesentliche
Hort des Glaubens durch alles hindurch gerettet verden
würde. Die Wurzeln der Kirche sind in Gott: was nicht
hindert, daß der Baum auch dürre und wurmzerfressene
Zweige trägt. Den Glauben haben, heißt überzeugt sein, daß
er niemals des göttlichen Saftes entbehren wird. Im übrigen
stellt die Erhaltung dieses - nach Simone Weils eigenen
Worten - »unzerstörbaren Wahrheitskernes« durch alle dem
Leib der Kirche beigemischten Verunreinigungen hindurch
bereits einen der sichersten Beweise für die Göttlichkeit des
Katholizismus dar. Die Kirche könnte nur in dem Maße ein
»totalitäres Großes Tier« werden, als ihr menschlicher Leib
sich gänzlich von seiner göttlichen Seele abtrennte. Eine un-
mögliche Annahme, denn die Pforten der Hölle werden nicht
obsiegen.... Heutzutage erscheint die Kirche als die letzte
Zufluchtsstätte des Universalen angesichts der entfesselten
Totalitarismen. Die Vertreibung des sozialen Götzen führt
also bei Simone Weil nicht zu einem religiösen Individualis-
mus. »Das Ich und das Soziale sind die beiden großen
Götzen.« Die Gnade befreit uns von dem einen wie von dem
andern. Das war es wohl auch, dem Célestin Bouglé in seiner
Sprache Ausdruck zu geben versuchte, als er Simone Weil
noch in ihrer

53
Studentenzeit einmal als »eine Mischung von einem
Anarchisten und einem Pfaffenknecht« bezeichnete.

Das Verständnis Simone Weils ist nur möglich auf der


gleichen Höhe, von der aus sie gesprochen hat. Ihr Werk
wendet sich, wenn auch nicht an Seelen von ebensolcher
Bloßheit wie die ihre, so zumindest doch an jene, die am
Grunde ihrer selbst eine Sehnsucht bewahrt haben nach
jenem reinen Guten, dem sie im Leben und Sterben ergeben
war. Ich verkenne durchaus nicht die Gefahren einer solchen
Spiritualität: der ärgste Schwindel ergreift uns auf den
höchsten Gipfeln. Doch daß das Licht uns verbrennen kann,
ist noch kein zureichender Grund, es unter dem Scheffel zu
lassen.
Es geht hier nicht um Philosophie, sondern um Leben.
Simone Weil lag jeder Anspruch fern, ein persönliches
System zu errichten; ihr innigster Wunsch war vielmehr, sie
möchte von ihrem Werk abwesend sein. Sie begehrte nichts
anderes, als fernerhin keine Scheidewand mehr zwischen
Gott und den Menschen zu bilden - zu verschwinden, »damit
der Schöpfer und das Geschöpf ihre Heimlichkeiten
austauschen könnten«. Ihre eigene Begabung verachtete sie
nur, denn sie wußte zu gut, daß die wahre Größe darin
besteht, nichts mehr zu sein. »Was ist an dem gelegen, was
an Kraft, an Begabung usw. in mir vorhanden ist? Ich habe
dessen immer genug, um zu verschwinden....« Sie hat
Erhörung gefunden: gewisse Niederschriften erreichen jenen
unpersönlidien Klang, der das Merkmal der höchsten
Inspiration ist: »Unmöglich, jemandem, der uns Böses
zugefügt hat, zu vergeben, wenn dieses Böse uns erniedrigt.

54
Man muß den Gedanken wagen, daß es uns nicht erniedrigt,
sondern unseren wahren Rang offenbar macht.« Oder auch:
»Wenn man mir Böses tut, wünschen, daß dieses Böse mich
nicht erniedrige, dem zuliebe, der es mir zufügt, damit er
nicht wahrhaft Böses getan habe.« Eher durch solche Schreie
der Demut und Liebe als in dem, was an ihrem Werke nach
einem System aussehen könnte, erscheint Simone Weil als
ein reiner Bote. Ich habe niemals aufgehört, an sie zu
glauben.

Sämtliche in diesem Bande enthaltenen Texte sind den


Handschriften entnommen, die Simone Weil mir persönlich
anvertraut hat. Ihre Niederschrift fällt also in eine Zeit vor
dem Mai 1942. Spätere Arbeiten, die ihre Eltern mir
liebenswürdigerweise mitgeteilt haben, konnten hier nicht
aufgenommen werden. Ich selber habe unter den Texten, die
sich in den Heften zwischen zahllosen Zitaten sowie
philologischen und wissenschaftlichen Arbeiten fanden, eine
Auswahl getroffen. Ich schwankte zwischen zwei
verschiedenen Formen der Darbietung: sollte man die
Gedanken Simone Weils ohne Rücksicht auf ihren inneren
Zusammenhang in der Reihenfolge ihrer Niederschrift
geben, oder sollte man sie in eine lockere Ordnung zu
bringen versuchen? Das letztere schien mir vorzuziehen.

Im Februar 1947

Gustave Thibon

55
56
SCHWERKRAF T UN D GN ADE

58
q Alle natürlichen Bewegungen der Seele sind Gesetzen
unterworfen, die denen der stofflichen Schwerkraft
entsprechen. Ausnahmen macht allein die Gnade.

q Man soll stets darauf gefaßt sein, daß die Dinge sich in
Übereinstimmung mit der Schwerkraft vollziehen, außer im

Falle einer Zwischenkunft des Übernatürlichen.

q Zwei Kräfte herrschen über das Weltall: Licht und

Schwere.

q Schwerkraft. - Ganz allgemein wird das, was wir von den


andern erwarten, durch die Wirkungen der Schwerkraft in

uns bestimmt; was wir von ihnen empfangen, wird bestimmt


durch die Wirkungen der Schwerkraft in ihnen. Bisweilen
trifft dies [zufällig] überein, oftmals nicht.

q Woran liegt es, daß, sobald ein Mensch merken läßt, daß
er eines andern mehr oder weniger bedarf, dieser letztere

sich entfernt? Schwerkraft.

q Lear, die Tragödie der Schwerkraft. Alles, was Niedrigkeit

heißt, ist ein Phänomen der Schwerkraft. Wie ja auch der


Ausdruck Niedrigkeit bereits erkennen läßt.

59
q Das Ziel einer Handlung und das Niveau der Energie, die
sie speist - zwei Dinge, die wohl zu unterscheiden sind.

q Dies oder jenes m u ß getan werden. Doch woher die


Kraft schöpfen? Eine tugendhafte Handlung kann

erniedrigen, wenn auf dem gleichen Niveau keine Energie


zur Verfügung steht.

q Das Niedrige und das Oberflächliche sind gleichen


Ranges. Man kann wohl sagen: seine Liebe ist heftig, aber

niedrig; unmöglich jedoch: seine Liebe ist tief, aber niedrig.

q Wenn es zutrifft, daß das nämliche Leiden um eines


hohen Zieles willen sehr viel schwerer zu ertragen ist als um

eines niedrigen willen [die Leute, die, ohne sich vom Fleck zu
rühren, von ein Uhr nachts bis acht Uhr morgens anstanden,
um ein Ei zu bekommen, wären hierzu schwerlich zu
bewegen gewesen, wenn es sich um die Rettung eines
Menschenlebens gehandelt hätte], dann ist eine niedere

Tugend den Schwierigkeiten, den Versuchungen und dem

Unglück in gewisser Hinsicht vielleicht eher gewachsen als

eine höhere Tugend. Soldaten Napoleons. Daher die


Anwendung der Grausamkeit, um den Kampfgeist der
Soldaten zu erhalten oder wieder kräftigen. Dies nicht
vergessen, wenn man einen Menschen versagen sieht.

60
Es handelt sich hier um einen besonderen Fall jenes
Gesetzes, nach welchem die Kraft gewöhnlich auf seilen der
Niedrigkeit ist. Die Schwerkraft ist gleichsam ein Symbol
dafür.

q Schlangestehen vor den Lebensmittelgeschäften. Ein


und dieselbe Handlung ist leichter, wenn der Beweggrund

ein niederer, als wenn er ein höherer ist. Die niederen


Beweggründe sind eine größere Energiequelle als die
höheren. Problem: wie kann man die den niederen
Beweggründen zugefallene Energie auf die höheren
überleiten?

q Nicht vergessen, daß ich während meiner Kopf-


schmerzen in gewissen Augenblicken, wenn die Krise

anstieg, von dem heftigen Verlangen erfüllt war, einem


anderen Menschen Schmerz zuzufügen, indem ich ihn
genau auf die gleiche Stelle der Stirn schlüge.
Wünsche dieser Art sind sehr häufig unter den Menschen.
In diesem Zustand bin ich zu wiederholten Malen

zumindest der Versuchung erlegen, verletzende Worte zu

sagen. Das heißt der Schwerkraft gehorchen. Die größte

Sünde. Hierdurch verdirbt man die Funktion der Sprache,


die darin besteht, die sachlichen Verhältnisse der Dinge
auszudrücken.

q Flehentliche Haltung: ich muß mich notwendig etwas

anderem als mir selber zukehren, da

61
es sich darum handelt, von sich selbst befreit zu werden.
Wollte ich diese Befreiung aus eigener Kraft versuchen, so
gliche das dem Betragen einer Kuh, die an ihrer Fußfessel
zerrt und so auf die Knie stürzt.
In einem solchen Falle setzt man Energie in sich frei durch

eine Gewaltsamkeit, die einen noch tiefer erniedrigt.


Kompensation im Sinne der Thermodynamik, höllischer

Kreislauf, aus dem man nur von oben befreit werden kann.
Die Quelle der sittlichen Kraft, wie der Körperkraft
[Nahrung, Atmung], liegt außerhalb des Menschen. Da er sie

jedoch im allgemeinen findet, erliegt er - wie im


Körperlichen - der Täuschung, sein Dasein trage den Grund
seiner Erhaltung in sich selbst. Nur die Entbehrung läßt ihn

seine Bedürftigkeit spüren. Und im Fall des, Entbehrens


kann er nicht umhin, sich allem zuzuwenden, was nur
irgend eßbar ist.
Dagegen gäbe es nur ein einziges Heilmittel: ein Chlorophyll,

das erlaubte, sich von Licht zu nähren.


Nicht richten. Alle Vergehen sind gleich. Es gibt nur ein

Vergehen: daß wir nicht fähig sind, uns von Licht zu nähren.
Denn wenn diese Fähigkeit zerstört ist, sind alle Vergehen

möglich. »Meine Speise ist die, daß ich tue den Willen

dessen, der mich gesandt hat.« Kein anderes Gut als diese

Fähigkeit.

62
q Die Schöpfung besteht aus der Abwärtsbewegung der
Schwerkraft, der Aufwärtsbewegung der Gnade und der
Abwärtsbewegung der Gnade in der zweiten Potenz.

q Eine Bewegung des Hinabsteigens, an der die


Schwerkraft keinen Anteil hat. . . Die Schwerkraft zieht

hinab, der Flügel trägt empor: welcher Flügel in der


zweiten Potenz kann abwärtstragen ohne Schwere?

q Die Gnade ist das Gesetz der herabsteigenden


Bewegung.

q Sich erniedrigen, heißt hinsichtlich der geistigen


Schwerkraft steigen. Die Schwerkraft des Geistes läßt uns

nach oben fallen.

q Ein übergroßes Unglück läßt ein menschliches Wesen


unterhalb des Mitleids geraten: Abscheu, Grauen und

Verachtung.
Das Mitleid steigt nur bis zu einer gewissen Stufe hinab und

nicht darunter. Wie gelingt es der Barmherzigkeit, noch

darunter hinabzusteigen? Die so tief gefallen sind, haben


sie Mitleid mit sich selbst?

Leere und Ausgleichung

q Menschliche Mechanik. Wer leidet, sucht sein Leiden

anderen mitzuteilen - sei es durch Miß-

63
handlungen, sei es dadurch, daß er ihr Mitleid hervorruft -,
um es so zu vermindern, und derart vermindert er es in der
Tat. Wer ganz unten ist, wen niemand bedauert, wer über
niemanden Gewalt hat, den er mißhandeln könnte [wenn er
weder ein Kind hat noch irgendein Wesen, das ihn liebt], bei

dem bleibt das Leiden in ihm und vergiftet ihn.


Das ist unentrinnbar wie die Schwerkraft. Wie kann man

sich davon frei machen? Wie befreit man sich von dem, was
wie die Schwerkraft ist?

q Neigung, das Übel außer sich zu verbreiten: ich habe sie


noch! Die Wesen und Dinge sind mir nicht heilig genug.

Könnte ich doch nichts besudeln, wenn ich auch selber ganz
zu Kot verwandelt wäre! Nichts besudeln, nicht einmal in
Gedanken. Selbst in meinen schlimmsten Augenblicken

würde ich eine griechische Statue oder ein Fresko von Giotto
nicht zerstören. Warum also anderes? Warum zum Beispiel

einen Augenblick im Leben eines Menschen, der ein glück-


licher Augenblick sein könnte?

q Unmöglich, jemandem, der uns Böses zugefügt


hat, zu verzeihen, wenn dieses Böse uns erniedrigt. Man muß
den Gedanken wagen, daß es uns nicht erniedrigt, sondern

unseren wahren Rang offenbar gemacht hat.

q Verlangen, andere leiden zu sehen, was man

64
selber leidet, genau das nämliche Leiden. Darum richtet,

außer in Zeiten gestörten sozialen Gleichgewichts, die

Rachsucht der Elenden sich gegen ihresgleichen.

Dies ist ein Faktor sozialer Beständigkeit.

q Neigung, das Böse außer sich zu verbreiten: Wenn man,

weil man allzu schwach ist, weder Mitleid erregen noch

einem andern Schaden zufügen kann, so mißhandelt man die

Vorstellung der Welt an sich.

Alles Schöne und Gute wird dann als eine Beleidigung

empfunden.

q Andern Böses tun, heißt etwas von ihnen empfangen.

Was? Was hat man gewonnen [das man seinerseits wieder

bezahlen wird müssen], wenn man Böses getan hat? Man hat

zugenommen. Man hat sich ausgedehnt. Man hat eine Leere

in sich ausgefüllt, indem man sie bei andern verursachte.

Andern ungestraft Böses tun können - zum Beispiel seinen

Zorn an einem Untergebenen auslassen, und dieser wäre

gezwungen, zu schweigen -, heißt sich einen Kraftaufwand

ersparen, den der andere leisten muß. Das gleiche gilt für die

unrechtmäßige Befriedigung irgend eines Verlangens. Die

Energie, die man so einspart, gerät alsbald auf eine

niedrigere Stufe.

65
q Verzeihen, Man vermag es nicht. Wenn jemand uns
Böses zugefügt hat, entstehen Gegenwirkungen in uns. Das
Verlangen nach Rache ist ein Verlangen nach wesentlichem
Gleichgewicht. Das Gleichgewicht auf einer anderen Ebene
suchen. Man muß von sich aus bis an diese Grenze gehen.

Dort berührt man die Leere. [Hilf dir selbst, so hilft dir Gott
...]

q Kopfschmerzen. In gewissen Augenblicken läßt der


Schmerz nach, wenn man ihn in das Weltall
hineinprojiziert, aber das Weltall wird entstellt; der
Schmerz wird heftiger, sobald er wieder an seinen Ort
zurückgenommen wurde, aber etwas in mir leidet nicht

mehr und bleibt in Berührung mit einer unentstellten Welt.


Ein gleiches Verfahren gegenüber den Leidenschaften

anwenden. Sie herabzwingen, sie auf einen Punkt zurück-


nehmen, sich von ihnen abkehren und ihrer nicht mehr
achten. Namentlich alle Schmerzen derart behandeln.

Verhindern, daß sie den Dingen nahe kommen.

q Das Streben nach Gleichgewicht ist schlecht, weil es

imaginär ist. Die Rache. Selbst wenn man seinen Feind

tatsächlich tötet oder foltert, so ist dies in gewissem Sinne


doch imaginär.

q Ein Mensch lebt für sein Gemeinwesen, seine Familie,

seine Freunde, um sich zu bereichern, um seine


gesellschaftliche Stellung zu verbessern

66
und so weiter - ein Krieg bricht aus, und man führt ihn als
Sklaven fort; von nun an muß er sich bis an die äußerste
Grenze seiner Kräfte abmühen, nur um sein Dasein zu
fristen. Das ist entsetzlich, unmöglich, und darum wird er
sich an jedes noch so erbärmliche Ziel, das sich ihm

darbietet, anklammern, sei es auch nur dieses, daß er danach


trachte, den Sklaven, der neben ihm arbeitet, bestraft zu

sehen. Er hat nicht mehr die Wahl des Zieles. Gleichviel wel-
ches ist wie ein Ast für einen Ertrinkenden.

q Die, deren Stadt zerstört wurde und die man in die


Sklaverei fortführte, hatten weder Vergangenheit noch

Zukunft mehr: womit konnten sie ihren Geist ausfüllen? Mit


Lügen, mit den niedrigsten, den erbärmlichsten Begierden,
und vielleicht waren sie eher bereit, sich der Gefahr des
Gekreuzigtwerdens auszusetzen, um ein Huhn zu stehlen, als
zuvor dem Tod in der Schlacht, um ihre Vaterstadt zu

verteidigen. Gewiß sogar, oder aber jene gräßlichen


Todesstrafen wären nicht nötig gewesen. Oder sie hätten

fähig sein müssen, die geistige Leere zu ertragen. Um die

Kraft zu haben, das Unglück zu betrachten, wenn man


unglücklich ist, dazu bedarf man des übernatürlichen Brotes.

q Der Mechanismus, auf Grund dessen eine allzu

67
harte Lage erniedrigt, besteht darin, daß die von den
höheren Gefühlen gelieferte Energie - im allgemeinen -
begrenzt ist; fordert die Lage, daß man über diese Grenze
hinausgehe, so muß man niedere Gefühle [Furcht,
Begehrlichkeit, Rekordsucht, Gefallen an äußeren Ehren],

die reicher an Energie sind, zu Hilfe rufen. Diese


Begrenzung ist der Schlüssel zu vielen Verkehrungen.

q Tragödie derer, die aus Liebe zum Guten einen Weg


eingeschlagen haben, wo Leiden sie erwarten, und die dann

nach einiger Zeit auf ihre Grenze stoßen und in

Entwürdigung absinken.

q Der Stein im Wege. Sich auf den Stein werfen, als ob er,
wenn erst das Verlangen eine gewisse Stärke erreicht hat, zu
existieren aufhörte. Oder davongehen, als ob man selber
nicht existierte.

Das Verlangen umschließt etwas Absolutes, und wenn es


[sobald der Vorrat an Energie erschöpft ist] scheitert, so
verlegt das Absolute sich in das Hindernis. Seelische

Verfassung der Besiegten, der Unterdrückten.

q Begreifen, daß es [in allem] eine Grenze gibt, die man

ohne übernatürliche Hilfe nicht [oder doch nur um sehr


weniges] überschreiten kann; und nicht ohne hernach mit

einer furchtbaren Erniedrigung dafür bezahlen zu müssen.

68
q Jede Energie, die dadurch freigesetzt wird, daß die
Gegenstände, auf die sie gerichtet war, verschwinden, strebt
immer einer niedrigen Region zu.

Die niederen Gefühle [Neid, Ressentiment] sind degradierte


Energie.

q Jede Art von Belohnung setzt unsere Energie auf eine


niedrigere Stufe herab.

q Die Selbstzufriedenheit nach einer guten Tat [oder einem


Kunstwerk] ist eine Herabsetzung höherer Energie. Darum
soll die Rechte nicht wissen. . .

q Ein nur imaginärer Lohn [ein Lächeln Ludwigs XIV.] ist


die genaue Entsprechung dessen, was man ausgegeben hat,

denn er ist gerade so viel wert wie die Ausgaben - im


Gegensatz zu jedem wirklichen Lohn, der, als solcher, immer
mehr oder weniger wert ist. Auch verhält es sich so, daß

einzig die imaginären Vorteile die Energie für unbegrenzte

Anstrengungen liefern. Allerdings muß Ludwig XIV. wirklich


lächeln; lächelt er nicht, fühlt man sich unaussprechlich

beraubt. Ein König kann meist nur mit imaginärem Lohn

zahlen, oder er wäre zahlungsunfähig.

Gegenwerte in der Religion auf einer gewissen Stufe. Bleibt


uns das Lächeln Ludwigs XIV. ver-

69
sagt, so macht man sich einen Gott zurecht, der uns

zulächelt.

Oder auch, man lobt sich selbst. Man bedarf eines

gleichwertigen Lohnes. Unvermeidlich wie die Schwerkraft.

q Jemand, den ich liebe, enttäuscht mich. Ich habe ihm

geschrieben. Unmöglich, daß er mir nicht das gleiche

antworte, was ich mir selber in seinem Namen gesagt habe.

Die Menschen schulden uns, was wir in unserer Einbildung

von ihnen erwarten. Ihnen diese Schuld erlassen.

q Hinnehmen, daß sie anders sind als die Geschöpfe

unserer Einbildung, heißt den Verzicht Gottes nachahmen.

Auch ich bin anders, als zu sein ich mir einbilde. Dies

wissen, das ist die Vergebung.

Hinnahme der Leere

q »Hinsichtlich der Götter glauben wir nach der

Überlieferung und hinsichtlich der Menschen wissen wir aus

Erfahrung, daß jegliches Wesen stets naturnotwendig alle

Macht ausübt, die ihm zu Gebot steht« [Thukydides]. Wie ein

Gas ist die Seele bestrebt, die Gesamtheit des Raumes, der

ihr gewährt ist, einzunehmen. Ein Gas, das sich

zusammenzöge und einen Leerraum ließe,

70
widerspräche dem Gesetz der Entropie. Anders aber verhält

es sich mit dem Gott der Christen. Er ist ein übernatürlicher

Gott, während Jehovah ein natürlicher Gott ist. Nicht alle

Macht ausüben, die einem zu Gebot steht, heißt die Leere

ertragen. Das widerspricht allen Naturgesetzen: die Gnade

allein vermag es.

Die Gnade ist Erfüllung, aber sie findet nur dort Zutritt, wo

eine Leere ist, sie zu empfangen, und es ist die Gnade selbst,

die diese Leere schafft.

q Notwendigkeit eines Lohnes, Bedürfnis, den Gegenwert

dessen zu empfangen, was man gibt. Läßt man jedoch, diese

Nötigung, dieses Bedürfnis überwindend, eine Leere, so

entsteht etwas wie ein Luftzug, und ein übernatürlicher Lohn

fällt uns zu. Er fällt uns nicht zu, wenn wir schon ein anderes

Entgelt erhalten haben: diese Leere ruft ihn herbei. Das

nämliche gilt für die Erlassung der Schulden [die nicht nur

das Böse betrifft, das die andern uns angetan haben, sondern

ebenso auch das Gute, das wir an ihnen getan haben]. Auch

hier nimmt man eine Leere in einem selber hin. Eine Leere

in einem selber hinzunehmen, das ist übernatürlich. Wo die

Energie finden für ein Tun ohne Gegenleistung? Die Energie

muß an-

71
derswoher kommen. Aber dennoch bedarf es zunächst einer
Loslösung, eines verzweifelten Sich-Abreißens, daß zuerst
eine Leere entstehe. Leere: dunkle Nacht. Die Bewunderung,
das Mitleid [die Mischung beider vor allem] lassen uns eine
wirkliche Kraft zuströmen. Doch muß man ihrer entraten

können.
Man muß eine Zeitlang ohne Lohn sein, natürlichen oder

übernatürlichen.

q Unsere Vorstellung von der Welt muß derart beschaffen


sein, daß es Leere in ihr gebe, damit die Welt Gottes

bedürftig sei. Dies setzt das Übel voraus.

q Die Wahrheit lieben, heißt die Leere ertragen und also den
Tod hinnehmen. Die Wahrheit ist auf Seiten des Todes.

q Der Mensch entrinnt den Gesetzen dieser Welt nur auf die
Dauer eines Blitzstrahls. Augenblicke des Innehaltens, der

Kontemplation, der reinen Intuition, der geistigen Leere, der


Hinnahme der sittlichen Leere. Durch diese Augenblicke ist

er des Übernatürlichen fähig.

Wer einen Augenblick lang die Leere erträgt, der empfängt

entweder das übernatürliche Brot, oder er fällt. Entsetzliche


Gefahr. Doch muß man sie auf sich nehmen, und sogar einen

Augenblick

72
lang ohne Hoffnung. Doch soll man sich nicht in sie
hineinstürzen.

Ablösung

q Um die gänzliche Ablösung zu erreichen, genügt das

Unglück nicht. Hierzu bedarf es eines Unglücks ohne

Tröstung. Man darf keinen Trost haben. Keinerlei


vorstellbaren Trost. Dann steigt die unaussprechliche
Tröstung hernieder. Die Schulden erlassen. Die

Vergangenheit hinnehmen, ohne von der Zukunft eine


Entschädigung zu verlangen. Die Zeit im Augenblick zum
Stillstand bringen. Das ist auch die Hinnahme des Todes.

»Er hat sich seiner Gottheit entleert.« Sich der Welt


entleeren. Sich überkleiden mit der Natur eines Sklaven.
Zurückschrumpfen auf den Punkt, den man in Raum und

Zeit einnimmt. Auf nichts.

Die imaginäre Herrschaft über die Welt von sich abtun.


Völlige Einsamkeit. Dann hat man die Wahrheit der Welt.

q Zweierlei Art, auf die materiellen Güter zu verzichten:

Sich ihrer enthalten um eines geistigen Gutes willen.

Sie als die Vorbedingungen geistiger Güter be-

73
greifen und empfinden [Beispiel: Hunger, Müdigkeit,
Demütigung verdunkeln die Einsicht und hindern die
Meditation] und dennoch Verzicht darauf leisten.
Diese zweite Art des Verzichtes allein ist geistige Bloßheit.
Mehr noch, die materiellen Güter wären kaum gefährlich,

wenn sie allein und nicht mit geistigen Gütern verknüpft


erschienen.

Verzicht leisten auf alles, was nicht die Gnade


ist, und die Gnade nicht begehren.

q Die Auslöschung der Begierde [Buddhismus] - oder die


Ablösung - oder der amor fati - oder das Verlangen nach

dem absoluten Gut -, immer handelt es sich um das gleiche:


Entleerung der Begierde, des Zielstrebens von jedem Inhalt,
entleertes, wunschloses Verlangen. Unser Begehren von
allen Gütern ablösen und warten. Die. Erfahrung beweist,
daß dieses Warten Erfüllung findet. Dann berührt man das

absolute Gut.

q In allem, über jedes Besondere, was es auch sein mag,

hinaus, entleerten Willens sein, die Leere wollen. Denn für


uns ist es eine Leere, jenes Gut, das wir weder uns

vorstellen noch seinem Wesen nach bestimmen können.

Aber diese Leere ist voller als jegliche Fülle. Gelangt man

dorthin, so ist man gerettet, denn

74
Gott wird diese Leere erfüllen. Dabei handelt es sich
keineswegs um einen intellektuellen Prozeß, so wie man ihn
heutzutage auffaßt. Die Intelligenz hat nichts zu finden, sie
hat den Schutt fortzuräumen. Sie ist nur zu knechtischen
Arbeiten gut.

Das Gute ist für uns ein Nichts, weil kein Ding gut ist. Doch
dieses Nichts ist nicht unwirklich. Alles, was existiert, ist, mit
ihm verglichen, unwirklich.

q Jeden Glauben abweisen, der die Leerräume ausfüllen,


die Bitternisse lindern soll. Den an die Unsterblichkeit. Den

an die Nützlichkeit der Sünden: etiam peccata. Den an eine


durch die Vorsehung bestimmte Ordnung des Geschehens -

kurz: die »Tröstungen«, die man gewöhnlich in der Religion


sucht.

q Gott lieben, durch die Zerstörung von Troja und Karthago


hindurch, und ohne Tröstung. Die Liebe ist nicht Tröstung,

sie ist Licht.

q Wir erzeugen die Wirklichkeit der Welt aus unserer

Verhaftung. Es ist die Wirklichkeit des Ich, die wir in die


Dinge hineinverlegen. Es ist keineswegs die äußere

Wirklichkeit. Diese läßt sich nur durch die gänzliche

Ablösung erfahren. Bleibt auch nur ein einziger Faden, so


sind wir immer noch Verhaftete.

75
q Das Unglück, das uns zwingt, uns an erbärmliche Dinge zu
heften, legt den erbärmlichen Charakter der Verhaftung
bloß. Hieraus erhellt noch deutlicher die Notwendigkeit der
Ablösung.

q Sobald man weiß, daß etwas wirklich ist, kann man ihm
nicht mehr verhaftet sein. Die Verhaftung ist nichts anderes

als ein Versagen unserer Empfindung für die Wirklichkeit.


Man ist dem Besitz eines Dinges verhaftet, weil man glaubt,

es würde, wenn man aufhörte, es zu besitzen, aufhören zu


sein. Viele Menschen fühlen nicht mit ganzer Seele, daß
zwischen der Vernichtung einer Stadt und ihrer endgültigen

Verbannung aus dieser Stadt ein grundsätzlicher


Unterschied besteht.

q Das menschliche Elend wäre unerträglich, wenn es nicht


durch die Zeit verdünnt würde. Verhindern, daß es verdünnt

wird, damit es unerträglich sei.

»Und als sie zuletzt sich der Tränen ersättigt« [Ilias] - ein

weiterer Behelf, das schlimmste Leid erträglich zu machen.

Man soll nicht weinen, um nicht getröstet zu werden.1

1
Christus hat jedoch gesagt: »Selig sind, die da weinen . . Aber Simone Weil
verurteilt hier nur die Tränen, die der Verlust zeitlicher Güter uns entpreßt und
die der Mensch über sich selbst vergießt. [Anmerkung des Herausgebers.]

76
q Die Verhaftung bringt Täuschungen hervor, und wer das

Wirkliche will, muß abgelöst sein.

q Jeder Schmerz, der uns nicht ablöst, ist verlorener


Schmerz. Nichts ist furchtbarer; öde Kälte: die Seele rollt

sich ein wie ein dürres Blatt. Ovid. Sklaven bei Plautus.

q Denke niemals an ein Ding oder Wesen, das du liebst


und nicht vor Augen hast, ohne zu bedenken, daß dieses

Ding vielleicht zerstört oder dieses Wesen gestorben ist. Daß


dieser Gedanke dann die Empfindung der Wirklichkeit nicht

auflöse, sondern verstärke. Jedesmal, wenn man sagt: »Dein


Wille geschehe«, sich alles je mögliche Unglück in seiner
Gesamtheit vorstellen.

q Zwei Arten sich zu töten: Selbstmord oder Ablösung.


Durch sein Denken alles töten, was man liebt: die einzige

Art, zu sterben. Aber nur, was man liebt. [Wer nicht hasset
seinen Vater, seine Mutter . . . Aber: Liebet eure Feinde . . . ]
Nicht wünschen, das, was man liebt, möchte unsterblich

sein. Von keinem menschlichen Wesen, wer immer es sei,


weder wünschen, daß es unsterblich, noch daß es gestorben

sei.

q Durch seine Begierde danach beraubt sich der Geizige

seines Schatzes. Kann man aber all sein

77
Gut in eine Sache verlegen, die unter der Erde verborgen ist,
warum nicht auch in Gott? Ist aber Gott so voller Bedeutung
geworden wie der Schatz für den Geizigen, sich kräftig
wiederholen, daß es ihn nicht gibt. Empfinden, daß man ihn
liebt, selbst wenn es ihn nicht gibt. Er ist es, der sich,

vermittels der dunklen Nacht, zurückzieht, um nicht so


geliebt zu werden, wie der Geizige seinen Schatz liebt.

q Elektra, den toten Orest beweinend. Wenn man Gott


liebt in dem Gedanken, daß es ihn nicht gibt, dann wird er

sein Dasein offenbaren.

Verdrängung der Leere durch


Einbildungen

q Die Einbildungskraft ist unablässig bemüht,


alle Ritzen zu verstopfen, durch welche die Gnade

eindringen könnte. d

q Jede [nicht hingenommene] Leere erzeugt Haß,


Verbitterung, Groll, Rachsucht. Das Böse, welches man dem
wünscht, was man haßt, und welches man in der Vorstellung

vollbringt, stellt das Gleichgewicht wieder her.

q Die Milizsoldaten des »Spanischen Testaments«, die sich


Siege erfanden, um das Sterben zu ertragen - ein Beispiel für

die Verdrän-

78
gung der Leere durch ein Produkt unserer Einbildung.
Obgleich man bei einem Siege nichts gewinnen wird, erträgt
man das Sterben für eine Sache, die siegen, nicht aber für
eine Sache, die unterliegen wird. Für etwas völlig jeder Kraft
Entblößtes zu sterben, das wäre übermenschlich [die Jünger

Christi]. Der Gedanke an den Tod verlangt nach einem


Gegengewicht, und dieses Gegengewicht - abgesehen von der

Gnade - kann nur eine Lüge sein.

q Die Einbildungskraft, welche die Leerräume ausfüllt, ist


ihrem Wesen nach lügnerisch. Sie schließt die dritte

Dimension aus, denn nur die wirklichen Dinge haben an den


drei Dimensionen teil. Sie schließt die Vielfalt der
Verhältnisse aus.
Versuchen, die Dinge zu definieren, die, obgleich sie sich
wirklich ereignen, dennoch in einem Sinne imaginär

bleiben. Krieg. Verbrechen. Rachetaten. Äußerstes Unglück.


Die Verbrechen in Spanien wurden wirklich begangen und

glichen dennoch bloßen Prahlereien. Wirklichkeiten, die

nicht mehr Dimensionen haben als der Traum.


Im Bösen gibt es, wie im Traum, keine vielfältigen Lesarten.1

Daher die Einfältigkeit der Verbrecher.

1
Über die Bedeutung dieses Wortes im Vokabular von Simone
Weil, Siehe S. 232

79
Verbrechen so platt wie Träume, auf beiden Seiten: auf
Seiten des Henkers wie auf Seiten des Opfers. Was kann es
Entsetzlicheres geben, als in einem Alptraum zu sterben?

q Ausgleichungen. Marius tröstete sich mit der Vorstellung


künftiger Rache. Napoleon träumte von der Nachwelt.

Wilhelm II. verlangte nach einer Tasse Tee. Seine


Einbildungskraft war der Macht nicht mit der nötigen Stärke
verhaftet, um durch die Jahre hin auszudauern: sie kehrte

sich einer Tasse Tee zu.

q Anbetung der Großen durch das Volk im siebzehnten


Jahrhundert [La Bruyère]. Auch dies war eine Wirkung der

Einbildungskraft, die die Leerräume ausfüllt; eine Wirkung,


die sich verloren hat, seit der Adel durch das Geld verdrängt
worden ist. Zwei niedrige Wirkungen, aber das Geld ist noch

niedriger.

q Wenn man, gleichviel in welcher Lage, der Einbildung

und ihren Scheinerfüllungen Einhalt gebietet, so entsteht

eine Leere [die Armen im Geiste].

In gleichviel welcher Lage [in einigen jedoch um den Preis

welcher Erniedrigung!] kann man die Leere mit

Einbildungen ausfüllen. So können mittelmäßige Wesen


Gefangene, Sklaven, Prostituierte sein und durch jedes nur
erdenk-

80
liche Leiden hindurchgehen, ohne geläutert zu werden.

q Beständig die Tätigkeit der Einbildungskraft, die die


Leere zu verdrängen sucht, in sich selber aufhalten.

Wenn man gleichviel welche Leere hinnimmt, was für ein

Schicksalsschlag kann einen dann hindern, das Universum

zu lieben? Was auch geschehe, man hat die Gewißheit: das

Universum ist Fülle.

Verzicht auf die Zeit

q Die Zeit ist ein Gleichnis der Ewigkeit, aber sie ist auch

ein »ersatz« der Ewigkeit.

q Der Geizige, dem man seinen Schatz genommen. Was


man ihm nimmt, ist gefrorene Vergangenheit.

Vergangenheit und Zukunft, die einzigen Reichtümer des


Menschen.

q Zukunft - dient ebenfalls dazu, Leerräume auszufüllen.

Mitunter spielt auch die Vergangenheit diese Rolle [ich war,


ich habe getan ...]. In anderen Fällen macht das Unglück den

Gedanken an das Glück unerträglich; und so beraubt es den

Unglücklichen seiner Vergangenheit [nessun maggior


dolore . . . ] ,

81
q Vergangenheit und Zukunft erschweren die heilsame

Wirkung des Unglücks, indem sie imaginären Erhebungen

unbegrenzten Spielraum bieten. Deshalb ist der Verzicht

auf .Vergangenheit und Zukunft als erster zu leisten.

q Der Gegenwart kommt keine Finalität zu. Ebensowenig

der Zukunft, denn sie ist nur das, was einmal Gegenwart

sein wird. Aber man weiß es nicht. Richtet man die Spitze

dieses Verlangens in uns, das der Finalität entspricht, auf

die Gegenwart, dann bricht sie hindurch und stößt auf das

Ewige.

Hierin liegt der Gebrauch der Verzweiflung, die uns von

der Zukunft abwendet.

q Wenn ein Vergnügen, das man erwartete, und das nun

eintritt, uns enttäuscht, so liegt die Ursache der

Enttäuschung darin, daß man ja Zukünftiges erwartete. Und

ist es nun eingetroffen, so ist es Gegenwart. Das Zukünftige

müßte eintreffen, ohne aufzuhören, zukünftig zu sein.

Absurdität, von der allein die Ewigkeit heilt.

q Die Zeit und die Höhle.1 Die Höhle verlassen, die

Verhaftung lösen, heißt seinen Sinn nicht mehr auf die

Zukunft richten.

1
Siehe Plato, Politeia, VII. Buch

82
q Eine Weise der Läuterung: zu Gott beten, nicht nur im
Verborgenen hinsichtlich der Menschen, sondern mit dem
Gedanken, daß Gott nicht existiert.1
Fromme Ehrfurcht vor den Toten: alles tun für das, was
nicht existiert.

Der Schmerz über den Tod der andern, ist dieser Schmerz
der Leere, des gestörten Gleichgewichts. Alle weiteren
Bemühungen ohne Ziel, also ohne Lohn. Liefert die
Einbildung einen Ersatz, dann Erniedrigung. »Laß die Toten
ihre Toten begraben!« Und der eigene Tod, verhält es sich

damit nicht ebenso? Das Ziel, der Lohn liegen in der Zukunft.
Verlust der Zukunft: Leere, gestörtes Gleichgewicht. Darum:
»Philosophieren heißt sterben lernen.« Darum: »Beten heißt

gleichsam sterben.«

q Wenn Schmerz und Erschöpfung jenen Punkt erreichen,


wo sie in der Seele die Empfindung der Unaufhörlichkeit

wecken, und es gelingt, diese Unaufhörlichkeit in Liebe zu


betrachten und hinzunehmen, dann wird man bis in die

Ewigkeit entrissen.

1
Gott existiert in der Tat nicht nach Art der erschaffenen Dinge, die für unsere
natürlichen Fähigkeiten den einzigen Gegenstand der Erfahrung darstellen.
Daher wird auch die Berührung mit der über« natürlichen Wirklichkeit zuerst
als eine Erfahrung des Nichts erlebt. [Anmerkung des Herausgebers.]

83
Begehren ohne Gegenstand

q Die Läuterung besteht in der Trennung des Gutes von der

Begehrlichkeit.

q Steige hinab zur Quelle der Begehrungen, um die Energie


von ihrem Gegenstand loszureißen! Dort sind die

Begehrungen wahr als Energie. Das Falsche liegt im

Gegenstand. Aber die Trennung eines Begehrens von seinem


Gegenstand ist in der Seele eine unaussprechliche
Abreißung.

q Steigt man hinab in sich selbst, so findet man, daß man

genau das besitzt, was man begehrt. Begehrt man dieses

oder jenes Wesen [einen Toten], so begehrt man ein

besonderes, beschränktes Wesen; notwendigerweise also ein

sterbliches Wesen, und man begehrt jenes bestimmte We-

sen, jenes Wesen, das ..., dem . . . und so weiter.

Kurz, jenes Wesen, das an dem und dem Tage um die und die

Stunde gestorben ist. Und so hat man es - als ein

gestorbenes. Begehrt man Geld, so begehrt man eine Münze

[eine Einrichtung], etwas, das nur unter dieser oder jener

Bedingung erworben werden kann, man begehrt es also nur

in dem Maße als . . . Und in diesem Maße hat man es. Das

Leiden, die Leere sind in solchen Fällen der Modus, unter

welchem die Gegenstände des Begehrens existieren. Schiebt

man den Schleier

84
der Unwirklichkeit beiseite, so wird man gewahr, daß sie uns
derart gegeben sind. Gewahrt man dies, so leidet man wohl
noch, aber man ist glücklich.

q Dahin gelangen, genau zu wissen, was der Geizige, dem


man seinen Schatz gestohlen, verloren hat; man würde vieles

daraus lernen. Lauzun und sein Rang als Hauptmann der


Musketiere. Er wollte lieber gefangen und Hauptmann der
Musketiere sein als frei und nicht Hauptmann.

Das alles sind Kleider. »Sie schämten sich, daß sie nackt

waren.«

q Jemanden verlieren: man leidet darunter, daß der Tote,


der Abwesende etwas Imaginäres, etwas Falsches geworden

sein sollte. Aber das Verlangen nach ihm ist nicht imaginär.

In sich selbst hinabsteigen, wo das Verlangen wohnt, das


nicht imaginär ist. Hunger: man erträumt sich Speisen, aber

der Hunger selbst ist wirklich: sich des Hungers


bemächtigen. Die Anwesenheit des Toten ist imaginär, aber

seine Abwesenheit ist durchaus wirklich; sie ist hinfort seine

Art, uns zu erscheinen.

q Man soll die Leere nicht suchen, denn es hieße Gott


versuchen, zu ihrer Erfüllung auf das übernatürliche Brot zu

zählen. Ebensowenig aber soll man sie fliehen.

85
q Die Leere ist die höchste Fülle, aber der Mensch hat nicht
das Recht, dies zu wissen. Der Beweis liegt darin, daß
Christus selber, für die Dauer eines Augenblicks, jedes
Wissen davon abhanden gekommen ist. Ein Teil meiner
selbst soll es wissen, aber nicht die anderen; denn wüßten sie

es auf ihre niedrige Weise, so gäbe es keine Leere mehr.

q Christus hat das ganze menschliche Elend gehabt, außer


der Sünde. Doch er hat alles gehabt, was den Menschen zur

Sünde fähig macht. Was den Menschen zur Sünde fähig


macht, das ist die Leere. Alle Sünden sind Versuche, eine
Leere auszufüllen. Also ist mein Leben voller Makel seinem

vollkommen reinen Leben nahe, und das gleiche gilt von


jedem, noch so viel niedrigeren Leben. Wie tief ich auch falle,
ich entferne mich nicht weit von ihm. Aber wenn ich falle,
werde ich dies nicht mehr wissen können.

q Händedruck eines Freundes, den ich nach langer

Abwesenheit wiedersehe. Ich bemerke nicht einmal, ob


dieser Druck für den Gefühlssinn Lust oder Schmerz ist: wie

der Blinde die Gegenstände, die er mit der Spitze seines


Stockes berührt, unmittelbar empfindet, so empfinde ich

unmittelbar die Anwesenheit des Freundes. Ebenso alle


übrigen Umstände meines Lebens, wie sie auch beschaffen

sein mögen, und Gott.

86
Hieraus folgt, daß man niemals einen Trost suchen soll für
den Schmerz. Denn die Glückseligkeit liegt jenseits des
Bereiches von Trost und Schmerz. Sie wird mit einem
anderen Sinne wahrgenommen, wie die Wahrnehmung von
Gegenständen vermittels der Spitze eines Stockes oder eines

Instrumentes eine andere ist als die eigentliche


Tastempfindung. Dieser andere Sinn entsteht durch eine

Verlagerung der Aufmerksamkeit; wozu nicht nur die ganze


Seele, sondern auch der Körper in die Lehre genommen
werden muß.

Darum heißt es im Evangelium: »Ich sage euch, diese haben


ihren Lohn dahin.« Es soll keinen Ausgleich geben. Eben die
Leere in allem Sinnenhaften trägt über das Sinnenhafte

hinaus.

q Verleugnung des heiligen Petrus. Zu Christus sagen: ich


werde dir treu bleiben, hieß schon, ihn verleugnen; denn es

hieß annehmen, der Urquell der Treue entspringe in einem


selbst und nicht in der Gnade. Glücklicherweise, da er ein

Auserwählter war, ist diese Verleugnung offenkundig


geworden für alle und für ihn. Wie viele andere verfallen in
ähnliche Prahlereien und kommen niemals zur Erkenntnis!

Es war schwer, Christus die Treue zu halten. Es war eine

Treue ins Leere. Sehr viel leichter, Napoleon die Treue zu

halten bis in den Tod. Auch für die Märtyrer, hernach, war es

sehr viel

87
leichter, die Treue zu halten, denn da gab es schon die
Kirche, eine Gewalt, mit zeitlichen Verheißungen. Man stirbt
für das, was stark, nicht für das, was schwach ist, oder
zumindest für etwas, das in seiner augenblicklichen
Schwachheit einen verklärenden Glanz der Stärke bewahrt.

Die Treue zu Napoleon auf Sankt Helena war keine Treue ins
Leere. Zu sterben für das, was stark ist, nimmt dem Tod

seine Bitterkeit. Und, gleichzeitig, seinen ganzen Wert.

q Einen Menschen anflehen, heißt den verzweifelten


Versuch unternehmen, durch inständiges Anliegen dem

Geist eines andern sein eigenes Wertsystem aufdrängen zu


wollen. Gott anflehen, ist das genaue Gegenteil: ein Versuch,
die göttlichen Werte in die eigene Seele eindringen zu lassen.

Weit entfernt, daß man dabei, so inständig wie möglich, an


die Werte dächte, denen man anhängt, ist dies eine innere

Leere.

Das Ich

q Wir besitzen nichts auf der Welt - denn alles kann der

Zufall uns rauben - außer dem Vermögen, ich zu sagen. Dies


ist es, was wir Gott geben, das heißt: zerstören sollen. Es gibt

durchaus keinen anderen freien Akt, der uns erlaubt wäre,

außer der Zerstörung des Ich.

88
q Opfer: man kann keine andere Gabe darbringen als das
Ich, und alles, was man Opfer nennt, ist nur ein Etikett auf
etwas, das man an Stelle des Ich darbringt.

q Nichts auf der Welt kann uns die Macht rauben, ich zu
sagen. Nichts, außer dem äußersten Unglück. Nichts ist

schlimmer als das äußerste Unglück, welches das Ich von


außen zerstört, denn von nun an kann man es nicht mehr
selber zerstören. Was geschieht mit denen, deren Ich durch

das Unglück von außen zerstört worden ist? Für sie kann
man sich nichts anderes vorstellen als die Vernichtung,

entsprechend der Vorstellung des Atheismus oder


Materialismus. Daß sie das Ich verloren haben, besagt nicht,
sie hätten keinen Egoismus mehr. Im Gegenteil. Gewiß, auch

das kommt manchmal vor, wenn eine hündische Ergebenheit


sich einstellt. Zu anderen Malen jedoch wird das Wesen auf
den nackten, rein vegetativen Egoismus reduziert. Einen
Egoismus ohne Ich.

Hat man erst einmal begonnen, das Ich zu zerstören, so


kann man verhindern, daß irgend ein Unglück uns noch

Schaden zufügt. Denn niemals wird das Ich durch einen

Druck von außen zerstört, ohne daß es sich auf das heftigste
widersetzt. Versagt man sich dieses Aufbegehren aus Liebe

zu Gott, dann erfolgt die Zerstörung des Ich nicht von außen,

sondern von innen.

89
q Erlösender Schmerz. Stürzt ein menschliches Wesen im
Stand der Vollkommenheit, nachdem es durch den Beistand
der Gnade das Ich in sich selber völlig ausgetilgt hat, auf jene
Stufe des Unglücks herab, die für dieses Wesen der Zer-
störung des Ich von außen entspräche, so ist dies die Fülle

des Kreuzes. In ihm kann das Unglück nicht mehr das Ich
zerstören, da es völlig verschwunden ist und Gott Platz

gemacht hat. Aber das Unglück bringt auf der Höhe der
Vollkommenheit eine Wirkung hervor, die ein Äquivalent
der Zerstörung von außen ist. Es bewirkt die Abwesenheit

Gottes. »Mein Gott, warum hast du mich verlassen?«


Was ist diese Abwesenheit Gottes, die das äußerste Unglück
in der vollkommenen Seele bewirkt? Was ist das für ein

Wert, der damit verbunden ist und den man den erlösenden
Schmerz nennt?

Der erlösende Schmerz ist dasjenige, wodurch das Übel


wirklich die Fülle des Seins hat, nach dem vollen Maße, in

dem es sie empfangen kann. Durch den erlösenden Schmerz

ist Gott in dem äußersten Übel anwesend. Denn die

Abwesenheit Gottes ist der Modus der göttlichen An-

wesenheit, die dem Übel entspricht - die empfundene


Abwesenheit. Wer Gott nicht in sich hat, kann seine

Abwesenheit nicht empfinden. Dies ist die Reinheit, die

Vollkommenheit, die Fülle, der Abgrund des Übels. Die Hölle

hin-

90
gegen ist kein wahrer Abgrund [siehe Thibon]. Die Hölle ist
oberflächlich. Die Hölle ist ein Nichts, das sich anmaßt und
die Täuschung hervorruft, ein Sein zu haben.
Die nur von außen bewirkte Zerstörung des Ich ist beinahe
höllischer Schmerz. Die von außen eindringende Zerstörung,

in die die Seele aus Liebe einwilligt, ist sühnender Schmerz.


Wenn in einer Seele, die sich aus Liebe völlig ihrer selbst

entleert hat, die Gottverlassenheit sich einstellt, dann ist dies


erlösender Schmerz.

q Im Unglück überdauert die Lebenstriebkraft die


zerrissenen Bindungen und klammert sich blindlings an

alles, was ihr einen Halt gewähren kann, wie die Pflanze ihre
Ranken anschlingt. Dankbarkeit [außer in einer niedrigen
Form], Gerechtigkeit sind in diesem Zustand nicht denkbar.
Sklaverei. Es fehlt die zusätzliche Menge Energie, die der
Willenskraft als Stütze dient und vermittels derer der

Mensch Abstand nimmt. So betrachtet ist das Unglück


abstoßend, wie es das entblößte Leben stets ist, wie ein Glied-

stummel, wie wimmelndes Ungeziefer. Das formlose Leben.

Der Wille zu überleben ist dort die einzige Bindung. Dort


eben beginnt das äußerste Unglück, wo der Wille zu

überleben alle anderen Bindungen verdrängt hat. Dort liegt

die Verhaftung bloß. Ohne einen anderen Zweck als sich


selbst. Hölle.

91
Auf Grund dieses Mechanismus erscheint den Unglücklichen

nichts süßer als das Leben, gerade dann, wenn ihr Leben in

nichts dem Tode vorzuziehen ist.

In einer solchen Lage den Tod hinnehmen, das ist die völlige

Ablösung.

q Fast-Hölle auf Erden. Die äußerste Entwurzelung im


Unglück.

Die menschliche Ungerechtigkeit bringt gewöhnlich keine

Märtyrer, sondern Fast-Verdammte hervor. Die, welche

dieser Fast-Hölle verfallen sind, gleichen dem Mann, der

unter die Räuber fiel, die ihn ausplünderten und verletzten.

Sie haben das Kleid des Charakters verloren. Das größte

Leiden, das noch einige Wurzeln fortbestehen läßt, ist von

dieser Fast-Hölle noch durch eine unendliche Kluft getrennt.

Erweist man solchen Entwurzelten einen Dienst und

erwidern sie diesen mit Grobheiten, Undankbarkeit, Verrat,

so erduldet man einfach einen schwachen Teil ihres

Unglücks. Man hat die Pflicht, sich dem, in einem

beschränkten Maße, auszusetzen, wie man die Pflicht hat,

sich dem Unglück auszusetzen. Erfährt man dergleichen, so

soll man es ertragen, wie man das Unglück erträgt, ohne es

mit bestimmten Personen in Verbindung zu setzen, denn

eine solche Verbindung besteht nicht zu Recht. Es liegt etwas

92
Unpersönliches in dem fast höllischen Unglück wie in der

Vollkommenheit.

q Für die, deren Ich gestorben ist, kann man nichts tun, gar
nichts. Man weiß jedoch niemals, ob bei einem bestimmten
menschlichen Wesen das Ich gänzlich gestorben oder ob es
nur leblos ist. Wenn es noch nicht gänzlich gestorben ist, so
kann die Liebe es wieder beleben, wie durch eine

Einspritzung, aber nur die völlig reine Liebe, ohne die


mindeste Spur der Herablassung, denn die geringste

Beimischung von Verachtung stößt dieses Wesen in den Tod.


Wird das Ich von außen verletzt, so bäumt es sich zuerst mit
der äußersten Heftigkeit und Erbitterung auf wie ein Tier,

das sich wehrt. Ist das Ich aber einmal halb gestorben, so
ersehnt es den Gnadenstoß und versinkt in stumpfe Be-
wußtlosigkeit. Wird es in dieser Verfassung durch eine

Berührung der Liebe geweckt, so empfindet es einen


äußersten Schmerz, der sich als Zorn und bisweilen als Haß
gegen den richtet, der diesen Schmerz hervorgerufen. Daher

bei heruntergekommenen Wesen jene scheinbar

unerklärlichen Reaktionen der Rachsucht gegen ihren


Wohltäter.

Es kommt auch vor, daß die Liebe des Wohltäters keine reine
Liebe ist. Dann empfängt das Ich, das von dieser Liebe

geweckt wird, alsbald eine neue Verletzung durch die

Verachtung, und

93
es entsteht der bitterste Haß, ein berechtigter Haß.
Derjenige, bei dem hingegen das Ich völlig abgestorben ist,
fühlt sich keineswegs belästigt durch die Liebe, die man ihm
erweist. Er läßt alles mit sich geschehen, wie die Hunde und
Katzen, die Nahrung, Wärme, Liebkosungen empfangen,

und ist wie diese begierig, möglichst viel davon zu


empfangen. Je nachdem heftet er sich wie ein Hund an

seinen Wohltäter, oder er läßt wie eine Katze mit einer Art
Gleichgültigkeit alles mit sich geschehen. Ohne den ge-
ringsten Skrupel saugt er die ganze Kraft dessen, der sich

seiner annimmt, in sich ein. Unglücklicherweise läuft jede


karitative Einrichtung Gefahr, daß die Mehrzahl derer, die
ihre Fürsorge in Anspruch nehmen, Leute ohne Skrupel sind

und vor allem solche Wesen, deren Ich getötet ist.

q Das Ich wird um so rascher getötet, je schwächer der


Charakter dessen ist, der das Unglück erduldet. Genauer

gesagt: die äußerste Grenze des Unglücks, an der das Ich


zerstört wird, liegt mehr oder weniger fern, je nach der

Widerstandsfähigkeit des Charakters, und je ferner sie liegt,


je mehr spricht man von einem starken Charakter.
Die größere oder geringere Entfernung dieser Grenze ist

wahrscheinlich naturgegeben wie. die

94
Begabung für Mathematik, und ein völlig Glaubensloser, der
sich rühmt, unter schwierigen Umständen »Haltung«
bewahrt zu haben, ist dazu ebensowenig berechtigt wie der
junge Mann, der sich seiner mathematischen Fähigkeiten
rühmt. Wer an Gott glaubt, steht in Gefahr, einer noch

gröberen Täuschung zu erliegen, daß er nämlich der Gnade


zuschreibe, was seinem Wesen nach eine bloß mechanische

Wirkung ist.

q Die Qual des äußersten Unglücks ist die Zerstörung des


Ich von außen. Arnolphe. Phaedra. Lykaon.1 Man hat wohl

Grund, sich auf die Knie zu werfen, um Erbarmung zu

betteln, wenn der gewaltsame Tod, der über einem schwebt,


das Ich von außen töten wird, noch ehe das Leben zerstört
ist.

q »Niobe selbst im lockigen Haar gedachte der Speise.«2

Das ist erhaben nach Art des Raumes auf den Fresken des
Giotto. Eine Demütigung, die uns zwingt, selbst der Ver-
zweiflung zu entsagen.

q Die Sünde in mir sagt »ich«.


Ich bin alles. Aber dieses »ich« ist Gott Und also kein Ich.

1
Arnolphe, der betrogene Ehemann in Molières »Schule der Frauen«;
Phaedra, die Titelheldin der gleichnamigen Tragödien des Euripides und
Racine; Lykaon, siehe Ovid, Metamorph., I. Buch, Vers 196 ff.
2
Ilias, XXIV. Gesang, Vers 602 [Übersetzung Voß-Rupé].

95
Das Böse bewirkt den Unterschied, es verhindert, daß Gott
alles sei.
Mein Elend bewirkt, daß ich »ich« bin. Das Elend des
Universums bewirkt, daß Gott, in einem Sinne, Ich [das
heißt: eine Person] ist.

q Die Pharisäer waren Leute, die glaubten, aus eigener


Kraft tugendhaft sein zu können. Die Demut besteht darin,

zu wissen, daß in dem, was man »ich« nennt, keine Quelle


der Energie liegt, die einem erlaubte, sich zu erheben. Alles,
was in mir von Wert ist, ausnahmslos alles, kommt von

anderswo als von mir, nicht als eine Gabe, sondern als ein
Darlehen, das unaufhörlich der Erneuerung bedarf. Alles,

was in mir ist, ausnahmslos alles, ist völlig wertlos; und


unter den Gaben, die von anderswo kommen, verliert alles,
was ich mir aneigne, alsbald jeden Wert.

q Die vollkommene Freude schließt eigentlich das eigene


Empfinden der Freude aus, denn in der ganz von ihrem
Gegenstand erfüllten Seele ist auch nicht der kleinste Raum
mehr verfügbar, um »ich« zu sagen.

Solche Freuden sind unvorstellbar, wenn sie abwesend sind,

und so fehlt auch der Anreiz, sie zu suchen.

96
Entschaffung

q »Entschaffung«: Erschaffenes hinüberführen in das

Unerschaffene.

Zerstörung: Erschaffenes zurückführen in das Nichts.

Schuldhafter »ersatz« der Entschaffung.

q Die Schöpfung ist ein Akt der Liebe, und sie ist

unaufhörlich. In jedem Augenblick ist unser Dasein Liebe

Gottes zu uns. Gott aber kann nur sich selbst lieben. Seine

Liebe zu uns ist Selbstliebe durch uns hindurch. Also liebt er,

der uns das Sein gibt, in uns die Einwilligung, nicht zu sein.

Unser Dasein besteht nur aus seinem Warten auf unsere

Einwilligung in die Aufhebung dieses Daseins.

Unaufhörlich erbettelt er von uns dieses Dasein, das er uns

schenkt. Er schenkt es uns, um es von uns zu erbetteln.

q Die unbeugsame Notwendigkeit, das Elend, die

Bedrängnis, die erdrückende Last der Notdurft und der


Arbeit, die den Menschen erschöpft, die Grausamkeit, die

Folterqualen, der gewaltsame Tod, der Zwang, der Terror,


die Krankheiten - alles dieses ist die göttliche Liebe. Es ist

Gott, der sich aus Liebe von uns zurückzieht, damit wir ihn
lieben können. Denn wären wir den Strahlen seiner Liebe

unmittelbar

97
ausgesetzt, ohne den Schutz von Raum, Zeit und
Stofflichkeit, wir würden verdunsten wie das Wasser in der
Sonne; wir hätten nicht genügend Ich in uns, um das Ich aus
Liebe preiszugeben. Die Notwendigkeit ist die Schutzwand
zwischen Gott und uns, damit wir sein können. An uns ist es,

die Wand zu durchstoßen, damit wir aufhören zu sein.

q Es gibt eine »Deïfugal«-Kraft. Sonst wäre alles Gott.

q Der Mensch hat eine imaginäre Göttlichkeit empfangen,


damit er sich ihrer entäußern könne, wie Christus sich seiner
wirklichen Göttlichkeit entäußert hat.

q Verzicht. Nachahmung des Verzichtes Gottes in der


Schöpfung. Gott verzichtet - in einem Sinne - darauf, alles zu

sein. Wir sollen darauf verzichten, etwas zu sein. Dies ist für
uns das einzige Gut.

Wir sind ein grundloses Faß, solange wir noch nicht


begriffen haben, daß wir einen Grund haben.

q Erhöhung und Erniedrigung. Eine Frau, die sich im

Spiegel betrachtet und sich schmückt, empfindet nicht die


Schmach, daß sie ihr Selbst, dieses unendliche Wesen, das

alle Dinge betrach-

98
tet, auf einen so engen Raum einschränkt. Ebenso jedesmal,
wenn man das Ich [das soziale, das psychologische und so
weiter] erhöht, wie hoch man es auch erhebe, man erniedrigt
sich doch unendlich, indem man sich auf nichts als das
einschränkt. Wenn das Ich erniedrigt ist [es sei denn, die

Energie richte sich auf das Wunschbild einer Erhöhung], so


weiß man, daß man »das« nicht ist.

Eine sehr schöne Frau, die ihr Bild im Spiegel betrachtet,


kann leicht des Glaubens sein, sie selber sei »das«, was sie
vor sich sieht. Eine häßliche Frau weiß, daß sie »das« nicht

ist.

q Alles, was unsere natürlichen Fähigkeiten ergreifen, ist


hypothetisch. Nur die übernatürliche Liebe ist der Setzung

fähig. So sind wir Mit-Schöpfer.


Wir nehmen teil an der Erschaffung der Welt, indem wir uns

selbst entschaffen.

q Man besitzt nur das, worauf man verzichtet.


Das, worauf man nicht verzichtet, entzieht sich
uns. In dem Sinne kann man nichts, was es auch sei,
besitzen, außer durch Gott hindurch.

q Kommunion der Katholiken. Gott ist nicht nur einmal


Fleisch geworden, er wird alle Tage zu einem Stoff, um sich
dem Menschen zu schenken und sich von ihm verzehren zu
lassen.-

99
Entsprechend wird der Mensch seinerseits durch die
Ermüdung, das Unglück, den Tod zu einem Stoff und von
Gott verzehrt. Wie könnte man sich dieser Gegenseitigkeit
verweigern?

q Er hat sich seiner Gottheit entleert. Wir sollen uns der

falschen Göttlichkeit entleeren, mit welcher wir geboren

werden. Hat man einmal begriffen, daß man nichts ist, so ist

das Ziel aller Anstrengungen, nichts zu werden. Um

dessentwillen leidet man in Ergebung, um dessentwillen

handelt man, um dessentwillen betet man.

Mein Gott, gewähre mir, nichts zu werden!

In dem Maße, als ich nichts werde, liebt Gott sich durch mich

hindurch.

q Was unten ist, gleicht dem, was oben ist. Daher ist die

Sklaverei ein Gleichnis des Gehorsams gegen Gott, die

Demütigung ein Gleichnis der Demut, die physische

Notwendigkeit ein Gleichnis des unwiderstehlichen Antriebs

der Gnade, die Hingabe der Heiligen an das tagtägliche

Geschehen ein Gleichnis der Zerstückelung der Zeit bei den

Verbrechern und Dirnen, usw. In Anbetracht dessen soll

man nach dem streben, was das Niedrigste ist, als nach

einem Gleichnis.

Das, was in uns niedrig ist, steige herunter, da-

100
mit das, was erhaben ist, hinaufsteigen könne. Denn wir
sind in uns verkehrt. Wir werden als Verkehrte geboren. Die
Ordnung wiederherstellen, heißt das Geschöpf in uns
auflösen.

q Verkehrung des Objektiven und des Subjektiven.

Ebenso Verkehrung des Positiven und des Negativen. Dies

ist auch der Sinn der Philosophie der Upanishaden.

Wir werden als Verkehrte geboren, und wir leben in der


Verkehrtheit, denn wir werden geboren und leben in der
Sünde, die eine Verkehrung der Hierarchie ist. Die erste
Operation ist die Umkehr. Die Bekehrung.

q Wenn das Korn nicht stirbt. . . Es muß sterben, um die


Kraft zu befreien, die es in sich trägt, damit andere

Verbindungen daraus entstehen.


Ebenso müssen wir sterben, um die verhaftete Energie
freizusetzen, um eine freie Kraft zu besitzen, die fähig ist,

dem wahren Verhältnis der Dinge entsprechend zu handeln.

q Die äußerste Schwierigkeit, die ich oft empfinde, auch

nur die geringfügigste Handlung auszuführen, ist eine


Gunst, die mir zuteil geworden ist. Denn so kann ich, durch

die gewöhnlichsten Verrichtungen und ohne die Aufmerk-

101
samkeit auf mich zu lenken, einige Wurzeln des Baumes
abtrennen. Man mag von der Meinung der Menschen noch so
unabhängig sein, in den ungewöhnlichen Taten liegt dennoch
immer ein Anreiz, der sich nicht daraus entfernen läßt.
Dieser Anreiz fehlt den gewöhnlichen Verrichtungen völlig.

Bei einer gewöhnlichen Verrichtung auf eine ungewöhnliche


Schwierigkeit zu stoßen, ist eine Gunst, für die man dankbar

sein soll. Man soll nicht bitten, daß diese Schwierigkeit


verschwinde; man soll um die Gnade flehen, sie recht zu
gebrauchen.

Ganz allgemein: nicht wünschen, daß irgendeine unserer


Erbärmlichkeiten verschwinde, sondern die Gnade erbitten,
die sie verwandelt.

q Die physischen Leiden [und Entbehrungen] sind für


mutige Menschen oft eine Gelegenheit, ihre Standhaftigkeit

und Seelenstärke zu erproben. Aber es gibt noch einen


besseren Gebrauch. Darum wünsche ich, daß sie mir zu

etwas anderem dienen mögen. Daß sie mir ein fühlbares

Zeugnis des menschlichen Elends seien. Daß ich sie gänzlich


erleidend hinnehmen möge. Was auch geschehe, wie könnte
das Unglück mir je zu groß dünken, da doch der Biß des

Unglücks und die Erniedrigung, zu der es mich verurteilt, die

Erkenntnis des menschlichen Elends ermöglichen, jene

Erkenntnis, welche die Pforte aller Weisheit ist?

102
Aber auch die Lust, das Glück, der Wohlstand - wenn man zu
erkennen imstande ist, was sie Äußerlichkeiten [dem Zufall,
den Umständen usw.] verdanken -, auch sie sind Zeugnisse
des menschlichen Elends. Auch von ihnen den nämlichen
Gebrauch machen. Und selbst die Gnade, soweit sie ein

sinnliches Phänomen ist. . Nichts sein, um im Ganzen an


seinem wahren Platz zu sein.

q Der Verzicht fordert, daß man Qualen durchleide, die

denen gleichkommen, welche uns in Wirklichkeit der Verlust

aller geliebten Wesen und aller Güter verursachen würde,

mit einbegriffen die Fähigkeiten und Erwerbungen im Be-

reich des Verstandes und des Charakters, die Meinungen und

Ansichten über das, was gut, und das, was dauerhaft ist, usw.

Und alles dieses soll man nicht selber von sich abtun,

sondern es verlieren - wie Hiob. Die derart von ihren

Gegenständen abgetrennte Energie soll jedoch nicht in

Wankelmütigkeit vergeudet, nicht degradiert werden. Die

Qual soll also noch größer sein als im wirklichen Unglück, sie

soll nicht durch die Länge der Zeit in kleinere Teile zerlegt,

noch auf eine Hoffnung hingerichtet werden.

q Wenn die Leidenschaft der Liebe das ganze Wesen so

durchdringt, daß sie auch die vegeta-

103
tive Energie erfaßt, dann begegnen wir solchen Fällen wie

Phaedra, Arnolphe usw. »Et je sens là-dedans q ' i l faudra

que je crève.«1 Hippolyt ist dem Leben Phaedras, im

wörtlichsten Sinne, notwendiger als Speise und Trank. Daß

auch die Liebe zu Gott in solche Tiefe dringe, dazu bedarf es

dessen, daß die Natur die letzte Gewalt erlitten habe. Hiob,

das Kreuz. . .

Die Liebe der Phaedra, des Arnolphe ist unrein. Eine Liebe,

die so tief hinabstiege und die rein wäre. . .

Zunicht werden bis in den Bereich des Vegetativen; dann

wird Gott zu Brot.

q Wenn wir uns in einem bestimmten Augenblick betrachten


-, dem gegenwärtigen Augenblick, abgetrennt von

Vergangenheit und Zukunft -, sind wir unschuldig. In diesem

Augenblick können wir nichts sein als das, was wir sind:

jeder Fortschritt schließt eine Dauer ein. Es ist, in diesem

Augenblick, in der Ordnung der Welt, daß wir so sind.

Einen einzelnen Augenblick derart herauslösen, schließt die

Vergebung ein. Aber diese Herauslösung ist Ablösung.

1
»Und in mir spür’ ich: ja zerbersten muß ich [Wenn meines Schicksals
Unheil sich erfüllt.]« Molière, Die Schule der Frauen» IV, 1

104
q Es gibt im menschlichen Leben nur zwei Augenblicke
vollkommener Nacktheit und Reinheit: Geburt und Tod.
Unter der menschlichen Gestalt kann man Gott nicht
anbeten, ohne die Gottheit zu beflecken, außer als
Neugeborener und als Sterbender.

q Tod. Augenblicklicher Zustand ohne Vergangenheit noch


Zukunft. Unerläßlich, um zu der Ewigkeit Zutritt zu finden.

q Findet man die Fülle der Freude in dem Gedanken, daß


Gott ist, so soll man die gleiche Fülle in der Erkenntnis

finden, daß man selber nicht ist, denn das ist ein und
derselbe Gedanke. Und daß auch unsere sinnliche Natur an

dieser Erkenntnis teilhabe, dazu bedarf es des Leidens und


des Todes.

q Freude in Gott. In Gott ist wirklich vollkommene und


unendliche Freude. Meine Teilhabe kann der Wirklichkeit

dieser vollkommenen und unendlichen Freude nichts

hinzufügen, meine Nicht-Teilhabe sie um nichts verringern.

Ist es also irgend von Belang, ob ich an ihr teilhaben soll

oder nicht? Nicht im allermindesten.

q Welcher Mensch sein Heil begehrt, der glaubt nicht

wahrhaft an die Wirklichkeit der Freude in Gott.

105
q Der Glaube an die Unsterblichkeit ist deshalb schädlich,
weil es nicht in unserer Macht steht, uns die Seele wahrhaft
entkörpert vorzustellen. So ist dieser Glaube tatsächlich
Glaube an eine Verlängerung des Lebens und verhindert
den rechten Gebrauch des Todes.

q Gegenwart Gottes. Das muß auf zweierlei Art verstanden


werden. In seiner Eigenschaft als Schöpfer ist Gott
gegenwärtig in jedem Daseienden, sobald es ins Dasein tritt.
Die Gegenwart jedoch, zu welcher Gott der Mitwirkung des
Geschöpfes bedarf, ist die Gegenwart Gottes, nicht insofern

er der Schöpfer, sondern insofern er der Geist ist. Die erste


Gegenwart ist die Gegenwart der Erschaffung. Die zweite ist

die Gegenwart der Ent-schaffung. [»Der uns ohne uns


erschaffen, wird uns nicht ohne uns erretten.« Augustinus.]

q Gott konnte nur erschaffen, indem er sich verbarg.


Anders gäbe es nur ihn allein. Also muß auch die Heiligkeit

verbor-gen sein, in einem gewissen Grade sogar dem

Bewußtsein. Und sie muß es in der Welt sein.

q Sein und Haben. - Der Mensch hat kein Sein, er hat nur
ein Haben. Das Sein des Menschen hat seinen Ort hinter dem

Vorhang, auf Seiten der Übernatur. Was er von sich selbst zu


er-

106
kennen vermag, ist einzig das, was ihm die Umstände

leihweise geben. Das Selbst ist mir [und den andern]

verborgen; es ist auf seilen Gottes, es ist in Gott, es ist Gott.

Hoffärtig sein, heißt vergessen, daß man Gott i s t . . . Der

Vorhang, das ist das menschliche Elend: selbst für Christus

gab es einen Vorhang.

q Hiob. Satan zu Gott: Liebt er dich unentgeltlich? Es

handelt sich um die Stufe der Liebe. Ist die Liebe von gleicher

Art wie die Liebe zu Schafherden, Kornfeldern, zahlreicher

Nachkommenschaft? Oder reicht sie weiter, in die dritte

Dimension, über dies alles hinaus? Wie tief diese Liebe auch

sei, es gibt einen Augenblick der Unterbrechung, wo sie

erliegt, und dies ist der Augenblick der Verwandlung, der

dem Endlichen auf das Unendliche hin entreißt, der die Liebe

der Seele zu Gott in der Seele selber transzendent werden

läßt. Das ist der Tod der Seele. Wehe dem, bei dem der

leibliche Tod dem Tod der Seele vorausgeht! Die Seele, die

nicht ganz von Liebe erfüllt ist, stirbt eines schlechten Todes.

Warum muß das Los eines solchen Todes ohne Unterschied

treffen? Ja, es muß sein. Alles muß ohne Unterschied treffen.

q Der Schein haftet am Sein und nur der Schmerz kann eins
vom anderen ablösen.

107
Wer das Sein hat, kann nicht den Schein haben. Der Schein
fesselt das Sein. Der Lauf der Zeit trennt das Scheinen vom
Sein und das Sein vom Scheinen mit Gewalt. Die Zeit macht
offenbar, daß sie nicht die Ewigkeit ist.

q Man muß sich entwurzeln. Den Baum fällen und ein Kreuz
daraus zimmern und dieses dann alle Tage tragen.

q Man soll nicht »ich« sein, aber man soll noch weniger

»wir« sein.

Die Gemeinschaft der Mitbürger gibt das Gefühl des

Zuhauseseins.

Sich in der Verbannung zu Hause fühlen lernen.

Verwurzelt sein in der Abwesenheit jeglicher

Stätte.

q Sich entwurzeln aus seiner gesellschaftlichen Umwelt


und seinem Lebensraum. Sich verbannen aus jedem ir-

dischen Vaterland. Dies alles über einen andern, von außen,


verhängen, ist ein »ersatz« der Entschaffung. Dies heißt, Un-

wirkliches hervorbringen. Aber wer sich selber entwurzelt,

sucht mehr Wirklichkeit.

108
Auslöschung

q Gott hat mir das Sein gegeben, damit ich es ihm


zurückgebe. Das ist wie eine jener Prüfungen, die Fallen

gleichen und denen man in den Märchen und


Initiationsgeschichten begegnet. Nehme ich diese Gabe an,
verkehrt sie sich ins Schlechte und schlägt mir zum
Verderben aus; ihre Kraft wird erst offenbar, wenn ich die

Annahme verweigere. Gott erlaubt mir, außerhalb seiner ein

Dasein zu haben. An mir ist es, mich zu weigern, von dieser


Ermächtigung Gebrauch zu machen.

Die Demut ist eben diese Weigerung, außerhalb Gottes ein


Dasein haben zu wollen. Die Königin der Tugenden.

q Das Ich ist nur der Schatten, den Sünde und Irrtum,

welche das Licht Gottes aufhalten, werfen, und dem ich ein

wesenhaftes Sein zuschreibe.

Selbst wenn man wie Gott sein könnte, es wäre dennoch

besser, ein Unrat zu sein, der Gott gehorcht.

q Das, was der Bleistift für mich ist, wenn ich geschlossenen
Auges mit seiner Spitze den Tisch abtaste - dies für Christus

sein. Wir haben die Möglichkeit, Mittler zu sein zwischen

Gott und jenem Teil der Schöpfung, der uns anvertraut

109
ist. Es bedarf unserer Einwilligung, daß er durch uns

hindurch seine Schöpfung wahrnehme. Mit unserer

Einwilligung wirkt er dieses Wunder. Es genügte, daß es mir

gelungen wäre, mich aus meiner eigenen Seele

zurückzuziehen, damit diesem Tisch hier vor mir das

unvergleichliche Glück widerführe, von Gott gesehen zu

werden. Gott kann in uns nichts lieben als diese

Einwilligung, uns zurückzuziehen, um ihn hindurchzulassen,

wie er selbst, als Schöpfer, sich zurückgezogen hat, um uns

ein Sein zu lassen. Diese doppelte Operation hat keinen

anderen Sinn als die Liebe; wie der Vater seinem Kinde das

gibt, was das Kind in den Stand setzt, ihm zu seinem

Geburtstag ein Geschenk zu machen. Gott, der nichts

anderes ist als Liebe, hat nichts anderes erschaffen als Liebe.

q Alles, was ich sehe, höre, atme, berühre, esse, alle Wesen,
denen ich begegne - alles dieses beraube ich seiner

Berührung mit Gott, und ich beraube Gott seiner Berührung

mit all diesem in dem Maße, als etwas in mir »ich« sagt. Ich

kann etwas tun für alles dieses und für Gott, nämlich: mich

zurückziehen, um das Beisammensein nicht zu stören. Die

strikte Erfüllung der nur menschlichen Pflicht ist eine

Vorbedingung dafür, daß ich mich zurückziehen kann. Sie

durchscheuert nach

110
und nach die Stricke, die mich an meine Stelle fesseln und
mich daran hindern.

q Die Notwendigkeit, daß Gott mich liebt, liegt außerhalb

meines Vorstellungsvermögens, da ich doch so deutlich

fühle, daß jegliche Zuneigung, auch die, welche menschliche

Wesen für mich empfinden, nur ein Irrtum sein kann. Aber

ich kann mir leicht vorstellen, daß er diese Aussicht auf

seine Schöpfung liebt, die man nur von dem Punkt aus, an

dem ich mich befinde, haben kann. Aber ich verstelle diese

Aussicht. Ich muß mich zurückziehen, damit sie offen vor

seinen Blicken liegt.

Ich muß mich zurückziehen, damit Gott mit je nen Wesen in

Berührung treten kann, die der Zufall auf meinen Weg stellt

und die er liebt. Meine Anwesenheit ist zudringlich, als ob

ich mich zwischen zwei Liebenden oder zwei Freunden

befände. Ich bin nicht das junge Mädchen, das einen

Bräutigam erwartet, sondern der lästige Dritte, der mit zwei

Brautleuten zusammen ist und erst fortgehen muß, damit sie

wahrhaft beieinander seien.

Wenn es mir nur gelänge, zu verschwinden, so wäre die

liebende Einigung vollkommen, zwischen Gott und der

Erde, auf der ich gehe, dem Meer, das ich höre . . . Was ist

an dem gelegen, was an Kraft, an Be-

111
gabung usw. in mir vorhanden ist? Ich habe dessen immer
genug, um zu verschwinden.

q Et la mort, à mes yeux ravissant la clarté, Rend au jour


q'uils souillaient toute sa pureté .. Daß ich verschwände, und

diese Dinge, die ich sehe, würden - weil sie aufhörten, Dinge
zu sein, die ich sehe - vollkommen schön!

q Ich begehre keineswegs, daß diese erschaffene Welt mir


nicht mehr fühlbar sei, sondern daß nicht mehr ich es sei,

der sie fühlbar ist. Denn mir kann sie ihr Geheimnis nicht
sagen, das zu hoch ist. Daß ich fortginge - und der Schöpfer
und das Geschöpf könnten ihre Geheimnisse austauschen!

Eine Landschaft so zu sehen, wie sie ist, wenn ich nicht darin
bin. . .
Wenn ich irgendwo bin, beflecke ich das Schweigen des
Himmels und der Erde durch mein Atmen und das Schlagen
meines Herzens.

Notwendigkeit und Gehorsam

q Die Sonne leuchtet über Gerechte und Ungerechte Gott

macht sich zur Notwendigkeit.


Zweierlei Ansicht der Notwendigkeit: als ausgeübte und

erlittene. Sonne und Kreuz.

1
»Der meinen Augen jetzt die Klarheit raubt, der Tod Schenkt so dem Licht

des Tags, das sie besudelten, All seine Reinheit wieder . . .«

Racine, Phaedra, V 7

112
q Hinnehmen, daß man der Notwendigkeit unterworfen
ist, und nur handeln, indem man sie behandelt.

q Unterordnung: Einsparung von Energie, Dank ihrer


kann eine heroische Tat vollbracht werden, ohne daß

weder der Befehlende nocht der Gehorchende Helden zu


sein brauchen.
Dahin gelangen, Befehle von Gott zu empfangen.

q In welchen Fällen erschöpft der Kampf gegen eine


Versuchung die Energie, die auf das Gute gerichtet ist,

und in welchen Fällen läßt er sie auf der Qualitätsleiter


der Energien höher steigen?
Das muß wohl abhängen von der jeweils mehr oder
minder wichtigen Rolle, die der Wille und die
Aufmerksamkeit dabei spielen.

Die Liebe muß so stark sein, daß wir verdienen, einem


Zwang zu unterstehen.

q Der Gehorsam ist die höchste Tugend. Die


Notwendigkeit lieben. Die Notwendigkeit ist in bezug auf

das Individuum dasll Allerniedrigste [Zwang, Gewalt,


eine „harte Notwendigkeit“]; die allgemeine

Notwendigkeit macht davon frei.

q Es gibt Fälle, in denen etwas aus dem einzigen


Grunde, daß es möglich ist, auch notwendig ist. So, zu

essen, wenn man Hunger hat; so, einem Verwundeten,

113
der vor Durst verschmachtet, zu trinken zu geben, wenn
das Wasser nahe ist. Weder ein Räuber noch ein Heiliger
würde dies unterlassen.
Analog gilt es, die Fälle zu erkennen, in denen, obwohl
dies auf den ersten Blick nicht ebenso unmittelbar

einleuchtet, die Möglichkeit eine Notwendigkeit in sich


schließt. In diesen Fällen soll man handeln, in den

andern nicht.

q Der Granatkern. Man verpflichtet sich nicht, Gott zu

lieben, sondern man stimmt der Verpflichtung zu, die

ohne unser Zutun in uns selber eingegangen wurde.

q Hinsichtlich der Tugendakte nur diejenigen leisten,


denen man sich nicht entziehen kann, diejenigen, die

man nicht nicht leisten kann; jedoch, indem man seine


Aufmerksamkeit immer schärfer darauf richtet,
beständig die Anzahl derer zu vermehren, die man nicht

nicht leisten kann.

q Nicht einen Schritt tun, sogar auf das Gute hin, über

das hinaus, wozu Gott uns unwiderstehlich treibt, und


dies in Taten, Worten und Gedanken. Aber bereit sein,
unter seinem Antrieb gleichviel wohin zu gehen, bis an

die Grenze [das Kreuz ...]. Zum Äußersten bereit sein,

heißt beten, daß man getrieben werde, doch ohne zu

wissen, wohin.

114
q Wenn mein ewiges Heil als ein Gegenstand vor mir auf
diesem Tisch läge, und ich brauchte nur die Hand
auszustrecken, um es zu ergreifen, so streckte ich die Hand
nicht aus, ohne den Befehl dazu empfangen zu haben.

q Ablösung von den Früchten der Tat. Sich dieser


Unvermeidlichkeit entziehen. Wie erreicht man dies?

Handeln, nicht um eines Gegenstandes willen, sondern aus


einer Notwendigkeit. Ich kann nicht anders. Dies ist kein
Handeln, sondern eine Art Erleiden. Nicht-handelndes
Handeln. In einem Sinne ist der Sklave ein Vorbild [das
Niederste . . . das Höchste . . . immer das gleiche Gesetz]. Die

Materie ebenfalls. Die Beweggründe seines Handelns aus


sich hinaus verlegen. Getrieben werden. Die völlig reinen
Beweggründe [oder die gemeinsten: immer das gleiche

Gesetz] erscheinen gleichsam als äußerliche.

q Alles Handeln nicht unter dem Gesichtspunkt des


Gegenstandes, sondern des Antriebs betrachten. Nicht: in

welcher Absicht? Sondern: aus welchem Antrieb?

»Ich war nackt, und ihr habt mich gekleidet.« Diese Gabe ist

einfach das Merkmal des Zustandes, in welchem jene sich


befanden, die derart handelten. Sie befanden sich in einer
Verfas-

115
sung, daß sie nicht anders konnten, als die Hungrigen
speisen, die Nackten kleiden; sie taten dies keineswegs um
Christi willen, sie konnten nicht anders: sie mußten so
handeln, weil die Erbarmung Christi in ihnen war. Wie der
heilige Nikolaus, als er mit dem heiligen Cassian durch die

russische Steppe zu einem Stelldichein mit Gott wanderte,


nicht anders konnte, als die anberaumte Stunde des

Stelldicheins versäumen, um dem Fuhrwerk eines Muschiks,


das sich im Straßenkot festgefahren hatte, wieder heraus-
zuhelfen. Das derart fast wider Willen, fast mit Beschämung

und Gewissensbissen vollbrachte Gute ist rein. Jedes absolut


reine Gute ist unserem Willen gänzlich entzogen. Das Gute
ist transzendent. Gott ist das Gute.

q »Ich hungerte, und ihr habt mich gesättigt.« Wann denn,


Herr? Sie wußten es nicht. Man soll es nicht wissen.

Man soll dem Nächsten nicht um Christi willen zu Hilfe


kommen, sondern durch Christus. Das Ich soll derart ver-

schwinden, daß Christus über jenes vermittelnde Zwischen-

glied, das unsere Seele und unser Körper darstellen, dem


Nächsten zu Hilfe kommt. Der Sklave sein, den sein Herr
ausschickt, dem oder jenem Unglücklichen diese öder jene

Hilfe zu bringen. Die Hilfe kommt von dem Herrn, aber sie

gilt dem Unglücklichen. Christus hat nicht für seinen Vater

116
gelitten. Er hat für die Menschen gelitten durch den Willen

des Vaters.

Man kann nicht sagen, der Sklave, der Hilfe bringt, tue dies
für seinen Herrn. Er tut nichts. Selbst wenn er, um bis zu
dem Unglücklichen hinzugelangen, mit nackten Füßen über

Nägel schreiten müßte, so leidet er zwar, doch er tut nichts.


Denn er ist ein Sklave. »Wir sind unnütze Sklaven«, das
heißt: wir haben nichts getan.

Überhaupt ist »für Gott« ein unangemessener Ausdruck.


Denn man kann Gott nichts geben. Nicht zu dem Nächsten
gehen für Gott, sondern durch Gott zu dem Nächsten

hingetrieben werden wie der Pfeil durch den Schützen auf

sein Ziel.

q Nur ein vermittelndes Zwischenstück sein zwischen dem


Brachland und dem bestellten Acker, zwischen dem

Problem und der Lösung, zwischen dem weißen Blatt und


dem Gedicht, zwischen dem Unglücklichen, der Hunger
leidet, und dem Unglücklichen, der gesättigt ist.

q Einzig das in allen Dingen, was uns von außen zufällt,

unentgeltlich, als Überraschung, als eine Gabe des


Schicksals, ohne daß wir es gesucht hätten, ist reine Freude.

Gleicherweise kann das wirklich Gute uns immer nur von

außen zufallen, niemals aus unserer Bemühung. Wir kön-

117
nen in keinem Falle etwas hervorbringen, das besser wäre
als wir selbst. Darum darf die wahrhaft auf das Gute
gerichtete Bemühung ihr Ziel nicht erreichen; erst nach
einer langen und ergebnislosen Anspannung, die in
Verzweiflung endet, wenn man nichts mehr erwartet, dann

erst fällt uns - wunderbare Überraschung - die Gabe von


außen zu. Diese Bemühungen haben einen Teil der falschen

Fülle, die in uns ist, zerstört. Die göttliche Leere, die voller
ist als jede Fülle, ist herbeigekommen und hat Wohnung
genommen in uns.

q Der Wille Gottes. Wie ihn erkennen? Wenn man jedes


Begehren, alle Meinungen in sich zum Schweigen bringt und

dann mit Liebe, von ganzer Seele und ohne Worte denkt:
»Dein Wille geschehe!« - was man dann ohne Ungewißheit zu
tun sich verpflichtet fühlt [selbst wenn es in gewisser
Hinsicht ein Irrtum wäre], das ist Gottes Wille. Denn er gibt
keine Steine, wenn man ihn um Brot bittet.

Konvergierende Kriterien. Ein Tun oder Verhalten,

zugunsten dessen die Vernunft mehrere unterschiedliche

und konvergierende Beweggründe findet, während man

dennoch fühlt, daß es über alle vorstellbaren Gründe

hinausgeht.

q Man soll seinen Sinn im Gebet auf keinen besonderen

Gegenstand richten, es sei denn, man

118
habe diesbezüglich eine übernatürliche Eingebung
empfangen. Denn Gott ist das universale Sein. Gewiß, er
steigt in das Besondere herab. Er ist herabgestiegen, er steigt
herab im Akt der Schöpfung; ebenso in der Menschwerdung,
in der Eucharistie, in der Eingebung usw. Aber dies ist eine

herabsteigende, niemals eine aufsteigende Bewegung; Gott


bewegt sich, nicht wir. Wir können eine derartige

Verbindung nur insoweit herstellen, als Gott sie uns diktiert.


Unsere Aufgabe ist es, auf das Universale hingewendet zu
bleiben.

Hierin liegt vielleicht auch die Lösung jener Schwierigkeit


bei Berger hinsichtlich der Unmöglichkeit, das Relative an
das Absolute anzuknüpfen. Dies ist unmöglich durch eine

Aufwärtsbewegung, möglich aber durch eine Ab-


wärtsbewegung.

q Man kann niemals wissen, daß Gott dieses oder jenes


befiehlt. Die Absicht, dem Willen Gottes zu gehorchen,

rettet, was man auch tue, wenn man Gott unendlich über

sich stellt, und sie verdammt, was man auch tue, wenn man

sein eigenes Herz Gott nennt. Im ersten Falle denkt man


niemals, was man getan, was man tut oder was man tun
wird, könne etwas Gutes sein.

Gebrauch der Versuchungen. Er liegt in der Beziehung

zwischen der Seele und der Zeit. Ein

119
mögliches Böses lange Zeit zu betrachten, ohne es zu
vollbringen, bewirkt eine Art von Trans-substantiation.
Widersteht man ihm mit einer endlichen Kraft, so erschöpft
diese Kraft sich in einer gegebenen Zeit, und wenn sie
erschöpft ist, erliegt man der Versuchung. Bleibt man

unbeweglich und aufmerksam, dann hingegen erschöpft sich


die Versuchung - und man empfängt die aufgestaute Kraft.

Ebenso wenn man - auf die nämliche Weise: unbeweglich


und aufmerksam - ein mögliches Gutes betrachtet, dann tritt
gleichfalls eine Umwandlung der Energie ein, dank derer

man dieses Gute ausführt.


Die Umwandlung der Energie besteht darin, daß bei
Betrachtung des Guten ein Augenblick eintritt, wo man nicht

mehr umhin kann, es zu vollbringen.


Auch hieraus läßt sich ein Kriterium des Guten und des
Bösen ableiten.

q Jedes Geschöpf, das den vollkommenen Gehorsam

erreicht hat, stellt einen besonderen, einzigartigen und


durch nichts zu ersetzenden Modus der Gegenwart, der

Erkenntnis und des Handelns Gottes in der Welt dar.

q Notwendigkeit. Sieht man die Verhältnisse der Dinge und


sich selbst, mit einbegriffen, was an Zwecken in einem liegt,

als einen der Beziehungspunkte, so entspringt dem ganz

natürlich die Tat.

120
q Es gibt zweierlei Gehorsam. Man kann der Schwerkraft
gehorchen oder dem Verhältnis der Dinge. Im ersten Fall tut
man das, wozu die Einbildungskraft treibt, die jede Leere
auszufüllen sucht. Dem kann man dann, oft sogar mit dem
Anschein der Wahrheit, jede Namensbezeichnung, mit

einbegriffen die des Guten und Gottes, anheften. Schaltet


man das Treiben der Einbildungskraft und ihre scheinhaften

Erfüllungen aus und richtet man seine Aufmerksamkeit auf


das Verhältnis der Dinge, dann erscheint eine
Notwendigkeit, der man unmöglich nicht gehorchen kann.

Bevor man nicht so weit gelangt ist, hat man weder einen
Begriff von der Notwendigkeit noch das Gefühl des echten
Gehorsams.

Dann kann man nicht mehr stolz sein auf das, was man
vollbringt, selbst wenn man Wundertaten vollbrächte.

q Ausspruch des bretonischen Schiffsjungen, als ein

Journalist ihn fragte, wie er dies zuwege gebracht habe: »Hat


halt sein müssen!« Reinster Heroismus. Er findet sich unter

dem Volke häufiger als anderwärts.

Der Gehorsam ist der einzige reine Beweggrund, der einzige,

der in keinem Grade den Lohn der

121
Tat einschließt und alle Sorge um den Lohn dem Vater

anheimstellt, der im Verborgenen ist und der ins

Verborgene sieht.

Vorausgesetzt, daß man einer Notwendigkeit gehorche und

keinem Zwang [entsetzliche Leere bei den Sklaven].

q Was immer man einem anderen oder einer großen Sache


von seinem Eigenen zuwendet, welche Mühsal man dabei auf

sich nimmt - geschieht es aus reinem Gehorsam gegenüber

einem klaren Begriff von dem Verhältnis der Dinge und

gegenüber der Notwendigkeit, so fällt der Entschluß leicht,

ob auch die Ausführung Anstrengungen kostet. Man kann

nicht anders, und daraus entsteht keine Verkehrung, kein

Gefühl bedürftiger Leere, kein Verlangen nach Belohnung,

kein Groll, keine Erniedrigung.

q Das Handeln ist der Zeiger der Waage. Man soll nicht

an den Zeiger rühren, sondern die Gewichte verändern.

Genau das gleiche gilt für die Meinungen. Daher also ent-

weder Verwirrung oder Leiden.

q Törichte Jungfrauen. - Dies zeigt an, daß man in dem

gleichen Augenblick, da man sich der Notwendigkeit einer

Entscheidung bewußt wird, eben diese Entscheidung bereits

gefällt hat - in diesem oder jenem Sinne. Sehr viel wahrer als

die Allegorie von Herkules am Scheidewege.

122
q Wenn im Menschen die Natur, während sie von jedem
fleischlichen Antrieb abgelöst und jedes übernatürlichen
Lichtes beraubt ist, Taten vollbringt, die mit dem
übereinstimmen, was das übernatürliche Licht forderte,
wenn es gegenwärtig wäre, so ist dies die Fülle der Reinheit.

Das ist die innerste Mitte der Passion.

q Das rechte Verhältnis zu Gott ist in der Betrachtung die


Liebe, im Handeln der sklavische Gehorsam. Dies nicht

vermengen. Als Sklave handeln, während man als Liebender


betracht e t . . .

Täuschungen

q Man wird zu einer Sache hingezogen, weil man sie für gut

hält, und man bleibt an sie gefesselt, weil sie zu einer


Notwendigkeit geworden ist.

q Die sinnenhaften Dinge sind wirklich, insofern sie

sinnenhaft sind, unwirklich aber, insofern sie als Güter

gelten.

q Der Schein hat die Fülle der Wirklichkeit, aber in seiner

Eigenschaft als Schein. Wird er als etwas anderes aufgefaßt,


ist er Irrtum.

q Die Täuschung bezüglich der Dinge dieser Welt betrifft

nicht ihr Dasein, sondern ihren Wert. Das Gleichnis von der

Höhle bezieht sich auf den. Wert. Wir besitzen nur Schatten

von Nachbildungen des Guten. Und eben in bezug auf das

123
Gute sind wir Gefangene und in Fesseln [Verhaftung], Wir

lassen die falschen Werte, die uns erscheinen, gelten, und

wenn wir zu handeln glauben, sind wir in Wirklichkeit un-

beweglich, denn wir verharren innerhalb des nämlichen

Wertsystems.

q Wirklich vollbrachte Taten, die dennoch imaginär sind.

Ein Mensch begeht Selbstmord, entrinnt jedoch dem Tode,

und ist nachher nicht abgelöster als vorher. Sein Selbstmord

war imaginär. Der Selbstmord ist dies wahrscheinlich

immer, und deshalb ist er verboten.

q Genau gesprochen kommt der Zeit keinerlei Existenz zu

[außer der Gegenwart als einer Grenze], und dennoch sind

wir der Zeitlichkeit unterworfen. Das also ist unsere Lage.

Wir sind dem unterworfen, was nicht existiert. Es handle

sich um passiv erlittene Dauer - physischer Schmerz,

Warten, Sehnsucht nach Vergangenem, Reue, Furcht - oder

um tätig gestaltete Zeit - Ordnung, Methode, Notwendigkeit -,

in beiden Fällen kommt dem, dem wir unterwor-

XXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXX

124
fen sind, keine Existenz zu. Aber unsere Unterworfenheit
existiert. Wir liegen in wirklicher Haft an unwirklichen
Ketten. Die Zeit, die selber etwas Unwirkliches ist, verbreitet
über alles und uns selbst einen Schleier der Unwirklichkeit.

q Der Schatz ist für den Geizigen der Schatten einer


Nachbildung eines Guten. Er ist doppelt unwirklich. Denn

ein Mittel [das Geld] ist schon als solches etwas anderes als
ein Gut. Löst man es jedoch aus seiner Funktion als ein
Mittel heraus, setzt man es als einen Zweck, so ist es noch
weiter davon entfernt, ein Gut zu sein. Die
Sinnesempfindungen sind unwirklich in bezug auf die

Werturteile; denn insoweit sie als Werte gelten, sind die


Dinge unwirklich für uns. Der Umstand aber, daß einem
Gegenstand ein falscher Wert beigelegt wird, nimmt auch

der Wahrnehmung des Gegenstandes von ihrer Realität,


denn er versenkt das Wahrgenommene ins Imaginäre.
So erlaubt allein die vollkommene Ablösung, die Dinge nackt

zu sehen, ohne diesen Nebel lügnerischer Werte. Deshalb


bedurfte es der Schwären und des Mistes, daß Hiob die
Schönheit der Welt offenbart wurde. Denn es gibt keine

Ablösung ohne Schmerz. Und kein Schmerz wird ohne Haß


und ohne Lüge ertragen, wenn nicht gleichzeitig eine

Ablösung stattfindet.

125
q Die Seele, die das Haupt über den Himmel hinausgereckt

hat, nährt sich vom Sein.1 Die, welche innerhalb verbleibt,

nährt sich von der Meinung.

q Die Notwendigkeit ist ihrem Wesen nach dem


Imaginären fremd.

q Was an der sinnlichen Wahrnehmung wirklich ist und sie

vom Traum unterscheidet, sind nicht die Sinneseindrücke,

vielmehr die in diesen Eindrücken enthaltene

Notwendigkeit. »Weshalb gerade diese Dinge und nicht

andere?« »Weil es so ist.«

Im geistigen Leben unterscheiden sich Täuschung und

Wahrheit auf die nämliche Weise. Was an der

Wahrnehmung wirklich ist und sie vom Traum

unterscheidet, sind nicht die Sinneseindrücke, sondern die

Notwendigkeit. Unterschied zwischen denen, die in der

Höhle bleiben, die Augen schließen und nur in ihrer

Einbildung reisen, und denen, die wirklich reisen.

Wirkliches und Imaginäres auch im Geistigen, und auch hier

macht die Notwendigkeit den Unterschied. Nicht bloß das

Leiden, denn es gibt auch imaginäre Leiden. Und was das

innere Gefühl betrifft, so lehrt die Erfahrung, daß es im

höchsten Grade trügerisch ist.

1 Vgl. Plato, Phaidros

126
q Wie unterscheidet man in geistlichen Dingen das

Imaginäre vom Wirklichen? Man soll die wirkliche Hölle

dem imaginären Paradies vorziehen.

q Was die höheren Zustände von den niederen

unterscheidet, ist in den höheren Zuständen das

gleichzeitige Vorhandensein mehrerer übereinander

gestaffelter Ebenen.

q Die Demut hat die Aufgabe, das Imaginäre während des

geistlichen Fortschreitens aufzulösen. Es ist hierbei

keineswegs abträglich, wenn man sich sehr viel weniger

fortgeschritten glaubt, als man ist: das Licht tut darum nicht

minder seine Wirkung, die ja nicht der Meinung entspringt.

Sehr schädlich ist es hingegen, sich für fortgeschrittener zu

halten, denn dann hat die Meinung eine Wirkung.

q Es. ist ein Kriterium des Wirklichen, daß es hart und

rauh ist. Man findet dort Freuden, aber keine

Annehmlichkeiten. Was angenehm ist, ist Träumerei.

q Zu lieben versuchen, ohne sich Einbildungen zu

überlassen. Die Erscheinung in ihrer Nacktheit lieben und

ohne sie auszudeuten. Was man dann liebt, das ist wahrhaft

Gott.

[127]

127
Ist man durch das absolute Gut hindurchgegangen, so findet

man die trügerischen Sondergüter zwar wieder, aber in einer

hierarchischen Ordnung; diese bewirkt, daß man sich das

Streben nach diesem einen Gut nur in dem begrenzten Maße

erlaubt, als es die Sorge um jenes andere Gut zuläßt. Diese

Ordnung ist in bezug auf die Güter, die sie miteinander

verbindet, transzendent, und sie ist ein Abglanz des

absoluten Gutes.

Schon die diskursive Vernunft [die Einsicht in die

Beziehungen und Verhältnisse] ist behilflich, allen

Götzendienst zu zerstreuen, da sie uns erkennen läßt, wie

jedes Gut und jedes Übel begrenzt und vermischt sind und

wie leicht eines in das andere umschlägt.

Den Punkt erkennen, an dem das Gute in das Böse übergeht:

insofern, in dem Maße als, in Hinsicht auf, usw. Über die

Regeldetri hinausgehen.

q Immer handelt es sich um ein Verhältnis zur Zeit. Die

Illusion verlieren, daß man die Zeit besäße. Sich

inkarnieren.

Der Mensch soll dahin wirken, daß er sich inkarniere, denn

durch die Einbildung ist er desinkarniert. Was in uns von

Satan herrührt, das ist die Einbildung.

128
q Heilmittel gegen die imaginäre Liebe. Gott in sich das
strikte Minimum gewähren, das, was man ihm auf keine
Weise verweigern kann - und begehren, daß dieses strikte
Minimum eines Tages und so bald wie möglich alles werde.

q Übertragung: man glaubt sich zu erheben, weil man, die


nämlichen niederen Neigungen bewahrend [zum Beispiel:

das Verlangen, sich vor andern auszuzeichnen], diese


höheren Gegenständen zugewandt hat.

Das Gegenteil trifft zu: man würde sich erheben, wenn man

höhere Bestrebungen auf niedere Gegenstände richtete.

q Alle Leidenschaften können Wunder vollbringen. Ein

Spieler ist fähig, zu wachen und zu fasten, beinahe wie ein

Heiliger, er hat Vorwarnungen, usw.

Es ist sehr gefährlich, Gott zu lieben, wie ein Spieler das

Spiel liebt.

q Über die Stufe wachen, auf der man dem Unendlichen

seinen Ort anweist. Ist dies eine Stufe, die nur dem
Endlichen angemessen ist, so ist es von geringem Belang, mit
welchem Namen man es nennt.

q Die niederen Teile meiner selbst sollen Gott lieben, aber

nicht zu sehr. Denn dann wäre es nicht Gott.

129
Sie mögen ihn lieben, wie man hungert und dürstet. Nur das
Oberste hat ein Anrecht auf Sättigung.

q Furcht vor Gott bei dem heiligen Johannes vom Kreuz. Ist
es nicht die Furcht davor, an Gott zu denken, wenn man

dessen unwürdig ist? Ihn zu beflecken, wenn man ihn auf


unangemessene Weise denkt. Durch diese Furcht weichen
die niederen Teile von Gott zurück.

q Das Fleisch ist gefährlich, insofern es sich weigert, Gott


zu lieben, aber auch insofern es sich ungebührlich

vordrängt, ihn zu lieben.

q Warum ist der Wille, ein Vorurteil zu bekämpfen, selbst


ein sicheres Zeichen, daß man von diesem Vorurteil

durchdrungen ist? Er entsteht notwendig aus einer


Besessenheit. Er stellt eine gänzlich fruchtlose Bemühung
dar, sich ihrer zu entledigen. Das einzig Wirksame in

dergleichen Dingen ist das Licht der Aufmerksamkeit, und

dieses ist mit jeder polemischen Absicht unvereinbar.

Die ganze Freudsche Psychoanalyse ist von dem gleichen

Vorurteil durchtränkt, das zu bekämpfen sie sich zur


Aufgabe setzt, dem Vorurteil nämlich, das Geschlechtliche

sei niedrig. Es besteht ein wesentlicher Unterschied

zwischen dem Mystiker, der das Vermögen zu lieben und

130
zu begehren, dessen physiologische Grundlage die.
geschlechtliche Energie ist, auf Gott richtet, und der falschen
Nachahmung des Mystikers, welche, diesem Vermögen seine
natürliche Richtung belassend und ihm einen imaginären
Gegenstand vorsetzend, diesem Gegenstand als Bezeichnung

den Namen Gottes anheftet. Die Unterscheidung zwischen


diesen beiden Operationen, von denen die letztere noch

unterhalb der Ausschweifung liegt, ist schwierig, aber sie ist


möglich.

q Gott und das Übernatürliche sind im Universum


verborgen und gestaltlos. Es wäre gut, wenn sie in der Seele

verborgen und namenlos blieben. Sonst läuft man Gefahr,


unter diesem Namen etwas Imaginäres zu begreifen [die,
welche Christus speisten und kleideten, wußten nicht, daß es
Christus war]. Sinn der antiken Mysterien. Das Christentum
[Katholiken und Protestanten] spricht zuviel von den

heiligen Dingen.

q Moral und Literatur. Unser wirkliches Leben setzt sich zu

mehr als drei Vierteln aus Einbildung und Fiktion


zusammen. Die wahren Berührungen mit dem Guten und
dem Bösen sind selten.

q Eine Wissenschaft, die uns nicht näher zu Gott bringt, ist

wertlos.

131
Noch schlimmer aber ist es, wenn sie uns ihm auf eine
schlechte Weise, das heißt, wenn sie uns einem imaginären
Gott näher bringt.

q Es ist schlecht, von dem, was die Natur auf mechanische


Weise in mir wirkt, zu glauben, ich sei sein Urheber. Noch

schlechter aber ist es, die Urheberschaft dem Heiligen Geist


zuzuschreiben. Das ist noch weiter von der Wahrheit ent-
fernt.

q Verschiedene Typen der Verknüpfung und des Übergangs

zwischen Gegensätzen: Aus völliger Hingabe an eine große

Sache [Gott mit einbegriffen] der Niedertracht in einem sel-

ber freie Bahn geben.

Durch die Betrachtung des unendlichen Abstan-des zwischen

sich und dem, was groß ist, das Ich zu einem Werkzeug der

Größe machen. Welches Kriterium erlaubt uns, beides zu

unterscheiden?

Das einzige Kriterium liegt, glaube ich, darin, daß die

schlechte Verknüpfung die Beschränkung dessen aufhebt,

was eingeschränkt bleiben soll.

q Was unter Menschen - ausgenommen die höchsten

Formen des Genies und der Heiligkeit - den Eindruck des


Wahren hervorruft, ist fast

132
mit Notwendigkeit falsch, und das, was wahr ist, ruft fast

mit Notwendigkeit den Eindruck des Falschen hervor.

Es bedarf der Mühe, um das Wahre auszudrücken. Auch um

es zu empfangen. Das Falsche - oder zumindest das

Oberflächliche - läßt sich mühelos ausdrücken und

empfangen. Wenn das Wahre zumindest ebenso wahr

scheint wie das Falsche, dies ist der Triumph der Heiligkeit

oder des Genies. So rührte der heilige Franziskus seine

Zuhörer zu Tränen, ebenso wie ein gewöhnlicher und

theatralischer Prediger.

q Die zeitliche Dauer, sei es der Jahrhunderte für die

Kulturen, sei es der Jahre und Jahrzehnte für das

Einzelleben, hat eine darwinistische Funktion: das

Untüchtige auszusondern. Was zu allem tüchtig ist, ist ewig.

Hierin allein liegt der Wert dessen, was man Erfahrung

nennt. Aber die Lüge ist ein Panzer, der dem Menschen oft

erlaubt, das Untüchtige in ihm selber die Ereignisse, die es

ohne diesen Panzer töten würden, überleben zu lassen [so

kann der Stolz die Demütigungen überleben], und dieser

Panzer ist gleichsam etwas, das das Untüchtige absondert,

um der Gefahr zu begegnen [wird der Mensch gedemütigt,

so verdichtet der Stolz die innerliche Lüge]. Es gibt in der

Seele eine Art Phagozytose; alles, was die Zeit bedroht,

sondert Lüge

133
ab, um nicht zu sterben, und zwar je mehr, je größer die
Todesgefahr ist. Deshalb gibt es keine Liebe zur Wahrheit
ohne vorbehaltlose Bereitschaft zum Tode. Das Kreuz Christi
ist die ein zige Pforte zur Erkenntnis.

q Jede Sünde, die ich begangen, soll mir als eine Gunst
Gottes gelten. Denn es ist eine Gunst, daß die wesenhafte
Unvollkommenheit, die in meinem Grunde verborgen ist,
mir an dem und dem Tage, zu der und der Stunde, unter den
und den Umständen teilweise offenbar geworden ist. Ich

begehre, ich flehe, daß meine Unvollkommenheit meinen


Augen gänzlich offenbar werden möge, soweit der

menschliche Geist dieses Anblicks fähig ist. Nicht darum,


daß ich von ihr geheilt werde, sondern daß ich, selbst wenn
ich nicht von ihr geheilt werden sollte, in der Wahrheit sei.

q Alles, was ohne Wert ist, flieht das Licht. Hie-nieden kann
man sich unter das Fleisch verbergen. Im Tode kann man es

nicht mehr. Nackt ist man dem Licht ausgeliefert. Das ist

dann, je nachdem, Hölle, Fegefeuer oder Paradies.

q Die Ursache, daß man vor den Mühen zurückscheut, die

dem Guten näherbrächten, liegt in dem Widerwillen des


Fleisches, aber nicht in dem Widerwillen des Fleisches gegen

die Mühe;

134
sondern in dem Widerwillen des Fleisches gegen das Gute.
Denn für eine schlechte Sache, wenn der Anreiz nur kräftig
genug ist, wird das Fleisch zu allem bereit sein; es weiß ja:
dies kann ich tun, ohne sterben zu müssen. Selbst der Tod,
den man für eine schlechte Sache erleidet, ist für den

fleischlichen Teil der Seele nicht der wahrhafte Tod. Gott von
Angesicht zu Angesicht zu schauen, das allein ist dem

fleischlichen Teil der Seele tödlich.


Darum fliehen wir die innere Leere, weil Gott sich in sie
einschleichen könnte. Nicht das Streben nach Lust und die

Abneigung gegen die Mühe erzeugen die Sünde, sondern die


Angst vor Gott. Man weiß, daß man ihn nicht von Angesicht
zu Angesicht schauen kann, ohne zu sterben. Man weiß, daß

die Sünde uns sehr wirksam davor schützt, ihn von Angesicht
zu Angesicht zu schauen: Lust und Schmerz liefern uns
einzig den unentbehrlichen leichten Anstoß zur Sünde, und
vor allem liefern sie den Vorwand, das Alibi, die noch

unentbehrlicher sind. Wie es eines Vorwandes bedarf für


einen ungerechten Krieg, so bedarf es für die Sünde eines

falschen Guten, denn die Vorstellung, daß man im Begriff


steht, das Schlechte zu tun, ist unerträglich. Das Fleisch ist

nicht das, was uns von Gott entfernt, es ist der Schleier, den

wir vor uns ausspannen, um so eine Schutzwand zwischen

Gott und uns zu errichten.

135
Vielleicht gilt dies jedoch erst von einem bestimmten Punkt
ab. Das Höhlengleichnis scheint darauf hinzudeuten. Das
Erste, was einen schmerzt, ist die Bewegung. Dann, wenn
man den Ausgang erreicht hat, schmerzt einen das Licht. Es
blendet nicht nur, sondern es verletzt; so daß sich das Auge

dagegen empört. Sollte es vielleicht wahr sein, daß man von


diesem Augenblick an nur noch Todsünden begehen kann?

Das Fleisch benutzen, um sich vor dem Licht zu verbergen,


ist das nicht eine Todsünde? Entsetzlicher Gedanke. Lieber
aussätzig sein.

q Gott muß mich mit Gewalt ergreifen, denn wenn jetzt der
Tod, die Scheidewand des Fleisches niederreißend, mich vor

ihn stellte Angesicht in Angesicht - ich würde entfliehen.

Götzendienst

q Der Götzendienst entsteht daraus, daß man, nach einem


absoluten Gut dürstend, nicht die übernatürliche

Aufmerksamkeit besitzt und nicht die Geduld hat, diese


wachsen zu lassen.

q In Ermangelung von Götzen muß man sich oft, jeden oder

doch fast jeden Tag, ins Leere abmühen. Dazu aber bedarf
man des übernatürlichen Brotes.

136
Der Götzendienst ist also eine Lebensnotwendigkeit in der

Hölle. Es ist unvermeidlich, selbst bei den Besten, daß er

Einsicht und Güte eng beschränke.

q Die Gedanken sind dem Wechsel unterworfen, sie

gehorchen den Leidenschaften, den Launen, der Müdigkeit.

Der Mensch muß aber unausgesetzt tätig sein, alle Tage,

viele Stunden täglich. Daher bedarf seine Tätigkeit solcher

Bewegkräfte, die den Gedanken - und also dem

Verhältnismäßigen - entzogen bleiben: Götzen.

q Alle Menschen sind bereit, für das zu sterben, was sie

lieben. Der Unterschied liegt nur in dein Rang des geliebten

Gegenstandes und in der Konzentration oder Dispersion der

Liebe. Niemand liebt sich selbst.

Der Mensch möchte Egoist sein und kann es nicht. Dies ist

das auffälligste Kennzeichen seines Elends und die Quelle

seiner Größe. Der Mensch weiht sich immer einer Ordnung.

Nur daß - außer im Falle übernatürlicher Erleuchtung - im

Mittelpunkt dieser Ordnung entweder er selbst oder ein

anderes Einzelwesen steht [das eine Abstraktion sein kann],

in welches er sein Ich hineinverlegt hat. [Napoleon für seine

Soldaten, die Wissenschaft, die Kunst usw.] Perspektivische

Ordnung.

137
q Wir brauchen die Demut nicht zu erwerben. Die Demut ist
in uns. Nur demütigen wir uns vor falschen Göttern.

Liebe

q Die Liebe ist ein Kennzeichen unseres Elends. Gott kann

nur sich lieben. Wir können nur anderes lieben.

q Nicht weil Gott uns liebt, sollen wir ihn lieben. Sondern
weil Gott uns liebt, sollen wir uns lieben. Wie könnte man

sich selbst lieben ohne dieses Motiv?

Die Selbstliebe ist dem Menschen unmöglich, außer auf

diesem Umweg.

q Wenn man mir die Augen verbindet und meine Hände

über einen Stab fesselt, so trennt dieser Stab mich von den

Dingen, aber er dient mir doch, sie zu erkunden. Meine

Hände fühlen nur den Stab, mein Sinn nimmt nur die Mauer

wahr. Ebenso verhält es sich mit den Geschöpfen hinsichtlich

unserer Fähigkeit zur Liebe. Die übernatürliche Liebe

berührt nur die Geschöpfe und geht doch nur auf Gott. Sie

liebt nur die Geschöpfe [was haben wir anderes, das wir

lieben könnten?], aber als Vermittlungen. In dieser

Eigenschaft liebt sie gleichermaßen alle Ge-

138
schöpfe, einen selber mit einbegriffen. Einen Fremden zu
lieben wie sich selbst, schließt als Gegenstück ein, daß man
sich selbst wie einen Fremden liebt.

q Die Liebe zu Gott ist rein, wenn Freude und Leid die

gleiche Dankbarkeit einflößen.

q Bei dem Glücklichen besteht die Liebe darin, daß er das


Leid des unglücklichen Geliebten teilen möchte.

Bei dem Unglücklichen besteht die Liebe darin, daß er seine


volle Genüge darin findet, den Geliebten in der Freude zu
wissen, ohne selbst an dieser Freude teilzuhaben, ja ohne

diese Teilhabe auch nur zu begehren.

q In den Augen Platos ist die fleischliche Liebe ein


degradiertes Bild der wahrhaften Liebe. Die keusche
menschliche Liebe [eheliche Treue] ist ein minder
degradiertes Bild. Auf die Idee der Sublimierung konnte nur

die Dummheit unserer Zeit verfallen.

q Die Liebe im »Phaidros«. Weder übt noch leidet sie

Gewalt. Dies ist die einzige Reinheit. Die Berührung mit dem
Schwerte verursacht immer dieselbe Besudelung, ob man

nun das Heft ergreife oder ob einen die Spitze treffe. Die

Kälte des Stahls wird den Liebenden nicht seiner Liebe

139
berauben; aber er wird sich von Gott verlassen fühlen. Die
übernatürliche Liebe hat keinerlei Berührung mit der
Gewalt, aber sie schützt auch die Seele nicht vor der Kälte
der Gewalt, der Kälte des Stahls. Nur eine irdische Bindung,
wenn sie genügend stark ist, kann einen Schutz vor der

Kälte des Stahls bieten. Die Rüstung ist aus Stahl


geschmiedet wie das Schwert. Wer nur mit einer reinen

Liebe liebt, dem läßt der Mord die Seele erstarren, er sei der
Täter oder das Opfer, und ebenso jede andere Gewalttätig-
keit, wenn sie auch nicht bis zum Tode selbst geht. Begehrt

man eine Liebe, die die Seele vor Verwundungen schützt, so


muß man etwas anderes lieben als Gott.

q Die Liebe will immer weiter und weiter gehen. Aber sie
hat eine Grenze. Ist diese Grenze überschritten, schlägt die

Liebe in Haß um. Diesen Wechsel zu vermeiden, muß die


Liebe selber eine andere werden.

q Unter den menschlichen Wesen erkennt man nur

denjenigen eine volle Existenz zu, die man liebt.

q An die Existenz anderer menschlicher Wesen als solcher


zu glauben, ist Liebe..

q Nichts zwingt den Geist, an die Existenz von irgend etwas

zu glauben [Subjektivismus, abso-

140
luter Idealismus, Solipsismus, Skeptizismus; siehe die
Upanishaden, die Taoisten und Plato, die sämtlich diese
philosophische Haltung einnehmen, als eine Läuterung],
Darum ist die Hinnahme, die Liebe, das einzige Organ,
durch das wir die Existenz berühren. Darum sind Schönheit

und Wirklichkeit identisch. Darum sind die Freude und das


Gefühl des Wirklichen identisch.

q Dieses Bedürfnis, der Schöpfer dessen zu sein, was man


liebt, ist ein Bedürfnis, Gott nachzuahmen. Aber es ist eine

Neigung zu der falschen Göttlichkeit. Es sei denn, man


nehme seine Zuflucht zu dem Muster, das oberhalb des Him-
mels erschaut wird...

q Reine Liebe zu den Geschöpfen: nicht Liebe in Gott,

sondern Liebe, die durch Gott hindurchgegangen ist wie

durch das Feuer. Liebe, die sich von den Geschöpfen

gänzlich ablöst, um zu Gott aufzusteigen und die von Gott in

Gemeinschaft mit seiner schöpferischen Liebe wieder

herabsteigt.

So vereinigen sich die beiden Gegensätze, welche die

menschliche Liebe zerreißen: das geliebte Wesen lieben, wie

es ist, und es abermals erschaffen wollen.

q Imaginäre Liebe zu den Geschöpfen. Allem, dem man

anhaftet, ist man durch einen Strick

141
verhaftet, und jeder Strick kann durchschnitten werden.
Ebenso ist man dem Gott seiner Einbildung durch einen
Strick verhaftet, dem Gott, den wir mit einer Liebe lieben,
die ebenfalls Verhaftung ist. Dem wirklichen Gott aber ist
man nicht verhaftet, und deshalb gibt es hier keinen Strick,

der durchschnitten werden könnte. Er tritt in uns ein. Er


allein kann in uns eintreten. Alle anderen Dinge bleiben

draußen, und das einzige, was wir von ihnen erkennen, sind
die Spannungen unterschiedlichen Grades und in
veränderlicher Richtung, die sich dem Strick mitteilen,

wenn sie oder wir den Ort verändern.

q Die Liebe bedarf der Wirklichkeit. Was gibt es


Gräßlicheres, als eines Tages zu merken, daß man durch eine

körperliche Erscheinung hindurch ein eingebildetes Wesen


liebt? Dies ist weit gräßlicher als der Tod, denn der Tod hin-
dert den Geliebten nicht, gewesen zu sein. Das ist die Strafe

für das Verbrechen, die Liebe mit Einbildung genährt zu


haben.

q Es ist eine Feigheit, bei denen, die man liebt, eine andere

Stärkung zu suchen [oder ihnen mitzuteilen zu wünschen]


als jene, die uns die Kunstwerke geben, die uns durch ihre

bloße Existenz eine Hilfe sind. Lieben, geliebt werden, das


macht diese Existenz nur wechselseitig konkreter

und dem Geiste beständiger gegenwärtig. Aber sie soll ihm

gegenwärtig sein als Quelle der Gedanken, nicht als deren


Gegenstand. Besteht Veranlassung, zu begehren, man

142
möchte verstanden werden, so nicht um seinet-, sondern um
des andern willen, damit man für ihn existiere.

q Alles in uns, was niedrig oder mittelmäßig ist, lehnt sich

wider die Reinheit auf und hat, um sein Leben zu retten, das

Bedürfnis, diese Reinheit zu besudeln.

Besudeln, das heißt verändern, heißt berühren. Das Schöne

ist das, was man nicht ändern wollen kann. Sich einer Sache

bemächtigen, heißt sie besudeln. Besitzen, heißt besudeln.

Mit reiner Liebe lieben, heißt in den Abstand einwilligen,

heißt den Abstand anbeten zwischen einem selber und dem,

was man liebt.

q Die Einbildung ist immer an ein Begehren gebunden, das

heißt an einen Wert. Nur das gegenstandslose Begehren ist

leer von jeder Einbildung. Gott ist wirklich gegenwärtig in

allen Dingen, welche die Einbildung nicht verhüllt. Das

Schöne nimmt das Begehren in uns gefangen und entleert es

jedes Gegenstandes, indem es ihm einen gegenwärtigen

Gegenstand vorstellt und so verhindert, daß sein Drängen

sich auf die Zukunft richte.

Hierin beruht der Wert der keuschen Liebe. Jedes Begehren

nach Genuß geht auf Zukünftiges, auf Trügerisches. Begehrt


man hingegen nichts weiter, als daß ein Wesen existiere, so
existiert es: was will man darüber hinaus noch begehren?

Dann ist das geliebte Wesen nackt und wirklich, unverhüllt


von imaginärer Zukunft. Der Geizige betrachtet seinen

143
Schatz niemals, ohne ihn in seiner Einbildung n-mal größer
zu sehen. Man muß gestorben sein, um die Dinge nackt zu
sehen.
So ist Keuschheit in der Liebe oder Mangel an Keuschheit, je
nachdem, ob das Begehren auf die Zukunft gerichtet ist oder

nicht. In diesem Sinne und unter der Bedingung, daß sie


nicht auf eine Pseudo-Unsterblichkeit gerichtet sei, die nach

dem Muster der Zukunft vorgestellt wird, ist die Liebe, die
man den Gestorbenen weiht, vollkommen rein. Denn sie ist
das Begehren nach einem endlichen Leben, das nichts Neues

mehr hervorbringen kann. Man begehrt, daß der Gestorbene


existiert habe, und er hat existiert.

q Dort, wo der Geist aufhört, Ursache zu sein, hört er auch


auf, Ziel zu sein. Hierin gründet die unerbittliche

Verknüpfung zwischen dem kollektiven »Denken« in all


seinen Formen und dem Verlust des Sinnes für die Seele, der
Ehrfurcht vor den Seelen. Die Seele ist das mensch-

144
liche Wesen als ein Wert an sich betrachtet. Die Seele einer
Frau lieben, heißt an diese Frau nicht in Hinsicht auf seine
eigene Lust denken, usw. Die Liebe ist der Beschauung
unfähig geworden, sie will den Besitz [Verschwinden der
platonischen Liebe]1.

q Das Verlangen danach, verstanden zu werden, ist ein


Vergehen, solange man noch nicht Klarheit über sich selbst
gewonnen hat. Das heißt, Vergnügungen in der Freundschaft
suchen, und zwar unverdiente. Das ist etwas noch Verderb-
licheres als die Liebe. Das hieße, deine Seele für die

Freundschaft verkaufen. Lerne, die Freundschaft abzuweisen


oder vielmehr den Traum der Freundschaft. Die Freund-

schaft zu begehren, ist ein schweres Vergehen. Die


Freundschaft soll eine Freude sein, die unentgeltlich zuteil
wird wie die Freuden der Kunst oder des Lebens. Man muß

sie ablehnen, um ihres Empfanges würdig zu sein. Sie gehört


der Ordnung der Gnade an [»Mein Gott, entferne dich von
mir ...«]. Sie gehört zu jenen Dingen, die man als Dreingabe

erhält. Jeder Traum von Freundschaft verdient zerbrochen


zu werden. Es ist kein Zufall, daß du niemals geliebt
wurdest... Das Verlangen danach, dieser Einsamkeit zu ent-

1 Diese »platonische« Liebe hat nichts mit dem gemein, was man heutzutage
so nennt. Sie geht nicht von der Einbildung aus, sondern von der Seele. Sie ist
die rein geistliche Schau. Vgl. weiter unten das Kapitel über die Schönheit.
[Anmerkung des Herausgebers:]

145
rinnen, ist eine Feigheit. Die Freundschaft kann nicht
gesucht, nicht erträumt, nicht begehrt werden; sie wird
ausgeübt [sie ist eine Tugend]. Diesen ganzen Wust unreinen
und verworrenen Gefühls hinausfegen. Schluß!1

Oder vielmehr - denn man soll Lebendiges in sich nicht allzu


streng ausschneiden - alles, was in der Freundschaft nicht in

wirklich gegenseitigen Austausch übergeht, soll in


Nachdenken übergehen. Es ist gar nicht nötig, auf die in-

spirierende Kraft der Freundschaft zu verzichten. Was man


sich unerbittlich verbieten sollte, ist das Schwelgen in
erträumten Genüssen des Gefühls. Denn das ist Verderbnis.

Und es ist ebenso töricht, wie von Musik oder Malerei zu


träumen. Die Freundschaft läßt sich von der Wirklichkeit
nicht ablösen, ebensowenig wie das Schöne. Sie ist ein
Wunder wie das Schöne. Und das Wunder besteht einfach in
der Tatsache, daß sie existiert. Mit fünfundzwanzig Jahren
ist es höchste Zeit, mit seinem Jünglingsalter endlich
gründlich Schluß zu machen.

q Laß dich von keiner Zuneigung gefangennehmen. Hüte

deine Einsamkeit. An dem Tage [wenn er je eintritt], wo dir

eine wahrhafte Zuneigung zuteil würde, gäbe es auch keinen

Widerstreit mehr zwischen der inneren Einsamkeit und

1 Im Original deutsch

146
der Freundschaft, im Gegenteil. Ja eben an diesem
untrüglichen Zeichen wirst du sie erkennen. Jede andere
Zuneigung muß streng in Zucht gehalten werden.

q Dieselben Worte [zum Beispiel, ein Mann sagt zu seiner


Frau: ich liebe dich] können gewöhnlich oder

außerordentlich sein, je nach der Art, wie sie ausgesprochen


werden. Und diese Art des Aussprechens hängt ab von der
Tiefe der Wesenschicht, aus der sie stammen, ohne daß der
Wille hier irgend etwas vermöchte. Und, infolge einer
wunderbaren Übereinstimmung, berühren sie bei dem Hörer

die gleiche Schicht. So kann der Hörer, wenn er die Gabe der
Unterscheidung besitzt, erkennen, was diese Worte wert
sind.

q Die Wohltat ist eben darum erlaubt, weil sie eine noch
größere Demütigung darstellt als der Schmerz, eine noch

innerlichere und unwiderleglichere Erfahrung der

Abhängigkeit. Und die Dankbarkeit ist darum

vorgeschrieben, weil dies der Gebrauch ist, den wir von der

empfangenen Wohltat machen sollen. Aber es soll die Ab-


hängigkeit in bezug auf das Schicksal sein und nicht

hinsichtlich eines bestimmten menschlichen Wesens.

Deshalb hat der Wohltäter die Verpflichtung, von der

Wohltat gänzlich abwesend zu sein. Und die Dankbarkeit

darf in keinem Grade eine Verhaftung herstellen,.denn dies


ist die Dankbarkeit der Hunde.

147
q Dankbarkeit ist zuerst Sache des Helfenden, wenn die
Hilfe rein ist. Der Verpflichtete schuldet sie nur als
Gegenleistung.

q Um das Gefühl einer reinen Dankbarkeit zu empfinden -


den Fall der Freundschaft einmal beiseite gesetzt - muß ich

mir sagen können, daß man mich gut behandelt, weder aus
Mitleid, oder aus Sympathie, oder aus Laune, als Vergünsti-
gung oder auf Grund eines Vorrechts, noch aus irgendeiner

natürlichen Gemütsveranlagung, sondern aus dem


Verlangen, das zu tun, was die Gerechtigkeit fordert. Wer

mich so behandelt, wünscht also, daß allen, die in meiner


Lage sind, die nämliche Behandlung widerfahre von allen,
die in der seinigen sind.

Das Böse1

q Die Schöpfung: das Gute in Stücke zerteilt und durch das

Übel hin verstreut.

q Das Übel ist das Unbegrenzte, aber es ist nicht das

Unendliche.

1 Das französische Wort »le mal« dient zur Bezeichnung alles dessen, was dem Guten oder
einem Gut entgegengesetzt ist; es bedeutet daher je nachdem das in praktisch-sachlicher, in
sittlicher oder in religiöser Hinsicht Schlechte, sowohl das Böse [malum quod est culpa] als
auch das Übel [malum quod est poena] und ferner im Einzelfalle alles dem Körper oder der
Seele Schädliche, Unangenehme oder Beschwerliche: Krankheit, Schmerz, Leid. Bei
solcher Breite des Bedeutungsfeldes sah sich die Übersetzung verschiedentlich genötigt,
dieses Wort durch den im jeweiligen Falle besonderen und

148
Das Unendliche allein begrenzt das Unbegrenzte.

q Monotonie des Bösen: nichts Neues, hier ist alles

gleichwertig. Nichts Wirkliches, hier ist alles imaginär.

Dieser Monotonie wegen spielt die Quantität eine so große

Rolle. Viele Frauen [Don Juan] oder viele Männer

[Célimène1] usw. Zur falschen Unendlichkeit verurteilt. Das

ist die Hölle selbst.

q Das Böse ist die schrankenlose Freiheit, und darum ist es

eintönig: hier muß man alles aus sich selber holen. Es ist

aber dem Menschen nicht gegeben, daß er selber Schöpfer

sei. Das ist ein schlechter Versuch, Gott nachzuahmen. Diese

Unmöglichkeit, daß man selber Schöpfer sei, nicht zu kennen

und hinzunehmen, ist die Quelle vieler Irrtümer. Wir

müssen den Schöpfungsakt nachahmen, und es gibt zwei

Möglichkeiten der Nachahmung - eine echte und eine

scheinbare - Erhalten und Zerstören.

Keine Spur von »ich« in der Erhaltung. Wohl aber in der

Zerstörung. »Ich« hinterläßt sein Merkzeichen auf der Welt,


indem es zerstört.

vorzüglich angemessenen Begriff wiederzugeben; doch wurde, wo dies irgend anging, um


einer strengeren Einheitlichkeit Willen »das Böse« einge- -setzt.

1 Célimène, Gestalt der Gefallsüchtigen in Molieres »Misanthrop«. [149]

149
q Literatur und Moral. Das imaginäre Böse ist romantisch,
abwechslungsreich, das wirkliche Böse stumpfsinnig,
eintönig, öde, langweilig. Das imaginäre Gute ist langweilig;
das wirkliche Gute ist immer neu, wunderbar, berauschend.
Deshalb ist die »Romanliteratur« entweder langweilig oder

unmoralisch [oder eine Mischung aus beidem]. Dieser


Alternative entrinnt sie nur dann, wenn die Kunst in ihr so

mächtig ist, daß sie gewissermaßen in den Bereich des


Wirklichen hinübertritt - was zu bewirken einzig das Genie
imstande ist.

q Eine gewisse niedrigere Tugend ist ein minderes Abbild


des Guten, das man bereuen soll und das schwieriger zu

bereuen ist als das Böse. Pharisäer und Zöllner.

q Das Gute als der Gegensatz des Bösen ist ihm in einem
Sinne gleichwertig wie alle Gegensätze.

q Was das Böse verletzt, ist nicht das Gute, denn das Gute ist

unverletzlich; man verletzt immer nur ein schon


herabgemindertes Gutes.

q Was einem Bösen unmittelbar entgegengesetzt ist, gehört

niemals der Ordnung des höheren Guten an. Kaum daß es


selber oberhalb des Bösen ist, wie oft! Beispiele: der

Diebstahl und die bürgerliche Achtung des Eigentums; der

Ehe-

150
bruch und die »anständige Frau«; Sparkasse und
Vergeudung; Lüge und »Aufrichtigkeit«.

q Das Gute ist seinem Wesen nach anders als das Böse. Das
Böse ist vielfältig und fragmentarisch, das Gute ist eines; das

Böse ist scheinhaft; das Gute ist geheimnisvoll; das Böse be-
steht in Handlungen, das Gute im Nicht-Handeln, in nicht-
handelndem Handeln, usw. - Das Gute, das mit dem Bösen

auf gleicher Stufe steht und ihm nur entgegengesetzt ist wie
ein Gegenteil einem Gegenteil, ist ein Gutes im Sinne des

Strafgesetzbuches. Oberhalb dessen befindet sich ein Gutes,


das, in einem Sinne, eher dem Bösen gleicht als dieser
niederen Form des Guten. Dies ermöglicht viel Demagogie

und manches unerquickliche Paradoxon. Das Gute, das sich


auf die gleiche Weise definieren läßt, wie man das Böse, das
Schlechte definiert, muß verneint werden. Und das Schlechte
verneint es. Aber es verneint es auf schlechte Art.

q Gibt es eine Vereinigung unvereinbarer Laster bei denen,

die dem Bösen ergeben sind? Ich glaube nicht. Die Laster
sind der Schwerkraft unterworfen, und darum gibt es keine

Tiefe, keine Transzendenz im Bösen.

q Die Erfahrung des Guten gewinnt man nur, indem man es

vollbringt.

151
Die Erfahrung des Bösen gewinnt man nur, indem man sich
verbietet, es zu vollbringen, oder, hat man es schon
vollbracht, indem man es bereut.
Vollbringt man das Böse, so erkennt man es nicht, weil das
Böse das Licht scheut.

q Ist das Böse, so wie man es sich vorstellt, wenn man es


nicht tut, überhaupt vorhanden? Und scheint das Böse, das

man tut, nicht etwas Einfaches, etwas Natürliches, das sich


unabweisbar aufdrängt? Verhält es sich mit dem Bösen nicht
ähnlich wie mit der Täuschung? Ist man das Opfer einer

Täuschung, so wird sie nicht als Täuschung empfunden,


sondern als Wirklichkeit. Ebenso vielleicht das Böse. Ist man

im Bösen, so wird es nicht als Böses empfunden, sondern als


Notwendigkeit oder gar als Pflicht.

q Sobald man das Böse tut, erscheint das Böse als eine Art
Pflicht. Die Mehrzahl hat das Gefühl der Pflicht bei

bestimmten bösen und anderen guten Dingen. Ein und

derselbe Mensch hält sich gleichsam für verpflichtet, seine

Ware so teuer wie möglich zu verkaufen und nicht zu stehlen,

usw. Bei ihnen ist das Gute mit dem Bösen auf gleicher Stufe,
ein Gutes ohne Licht.

q Das Empfindungsvermögen des unschuldig Leidenden ist

gleichsam empfindbares Verbrechen.

152
Das wahre Verbrechen wird nicht empfunden. Der leidende

Unschuldige weiß die Wahrheit über seinen Henker, der

Henker weiß sie nicht. Das Böse, das der Unschuldige in sich

selber empfindet, ist in seinem Henker, aber dort ist es

unempfindbar. Der Unschuldige kann das Böse nur als

Leiden kennen. Was in dem Verbrecher nicht empfunden

wird, das ist das Verbrechen. Was in dem Unschuldigen nicht

empfunden wird, das ist die Unschuld.

Der Unschuldige ist es, der imstande ist, die Hölle zu

empfinden.

q Die Sünde, die in uns ist, tritt aus uns heraus und

verbreitet sich draußen, indem sie die andern für die Sünde

gleichsam anfällig macht. So wird, wenn wir gereizt sind,

unsere Umgebung reizbar. Oder auch, vom Vorgesetzten zum

Untergebenen: wird der eine zornig, wird der andere

furchtsam. Wird aber ein vollkommen reines Wesen

getroffen, so findet eine Umwandlung statt, und die Sünde

wird Leiden. Dies ist die Aufgabe, die dem Gerechten des

Isaias zufällt, dem Lamm Gottes. Dies ist das erlösende

Leiden. Alle verbrecherische Gewalt des römischen Reiches

ist wider den Christus gestoßen und ist in ihm zu reinem

Leiden geworden. Die Bösen hingegen verwandeln das bloße

Leiden [zum Beispiel die Krankheit] in Sünde.

153
Vielleicht darf man hieraus folgern, daß der erlösende
Schmerz dem Sozialen entstammen muß. Er muß
Ungerechtigkeit sein, von menschlichen Wesen verübte
Gewaltsamkeit.

q Der falsche Gott verwandelt das Leiden in Gewaltsamkeit.


Der wahre Gott verwandelt die Gewaltsamkeit in Leiden.

q Das sühnende Leiden ist der Rückschlag des Bösen, das


man tut. Und das erlösende Leiden ist der Schatten des

reinen Guten, das man begehrt.

q Die böse Tat überträgt auf andere die Entwürdigung, die


man in sich selbst trägt. Deshalb neigt man dazu wie zu einer

Befreiung.

Jedes Verbrechen überträgt das Böse von dem Handelnden

auf den Erleidenden. Die ungesetzliche Liebe wie der Mord.

Die Maschinerie der Strafgerichtsbarkeit ist dadurch, daß sie


seit Jahrhunderten ohne eine ausgleichende Läuterung mit

den Übeltätern in Berührung ist, derart mit Bösem verseucht

worden, daß eine Verurteilung sehr oft das Böse des


Strafapparates auf den Verurteilten überträgt, und dies

sogar dann, wenn er schuldig und die verhängte Strafe


angemessen ist. Die verhärteten Verbrecher sind die

einzigen, denen

154
der Strafapparat nichts Böses zufügen kann. Den
Unschuldigen fügt er ein furchtbares Böses zu. Findet eine
Übertragung des Bösen statt, so wird das Böse bei dem, von
welchem es ausgeht, nicht vermindert, sondern vermehrt.
Phänomen der Multiplikation. Das gleiche gilt für die Über-

tragung des Bösen, wenn man es in Gegenstände


hineinverlegt. Wohin also mit dem Bösen? Man muß es aus

dem unreinen Teil in den reinen Teil seiner selbst übertragen


und es derart umwandeln in reines Leiden. Das Verbrechen,
das in einem ist, muß man sich selber antun. Dann aber hätte

man sehr bald den Punkt der inneren Reinheit besudelt,


wenn man ihn nicht erneuerte durch die Berührung mit
einer unveränderlichen Reinheit, die jedem Zugriff entzogen

bleibt.
Die Geduld besteht darin, daß man das Leiden nicht in
Verbrechen umwandelt. Dies genügt schon, um das
Verbrechen in Leiden umzuwandeln.

Das Böse auf äußere Dinge übertragen, heißt die


Verhältnisse zwischen den Dingen entstellen. Was genau und

nach festen Maßen geordnet ist - Zahl, Proportion, Harmonie


-, widersteht dieser Entstellung. Ich mag noch so rüstig oder

noch so erschöpft sein, eine Strecke von fünf Kilometern hat

immer fünf Kilometersteine. Deshalb schmerzt die Zahl,

wenn man leidet:

155
sie widersetzt sich der Operation der Übertragung. Hefte ich

aber die Aufmerksamkeit auf das, was zu streng bestimmt ist,

um von den veränderlichen Anwandlungen meines Innern

entstellt zu werden, so schaffe ich in mir die Vorbereitung

dafür, daß ein Unveränderliches erscheint und der Zugang

zum Ewigen sich auftut.

q Das Böse, das man uns antut, hinnehmen als ein

Heilmittel gegen jenes, das wir getan haben. Nicht das

Leiden, das man selbst sich auferlegt, ist das wahre

Heilmittel, sondern jenes, das man von außen erduldet. Und

es ist sogar erforderlich, daß es ungerecht sei. Hat man aus

Ungerechtigkeit gesündigt, so genügt es nicht, gerecht zu

leiden, man muß die Ungerechtigkeit erleiden.

q Die Reinheit ist völlig unverwundbar in ihrem Wesen als

Reinheit, insofern als keine Gewalt sie minder rein macht.

Insofern aber ist sie auf das äußerste verwundbar, als jedes

ihr angetane Böse sie leiden macht und jede Sünde, die sie

berührt, in ihr zu Leiden wird.

q Wenn man mir Böses tut, wünschen, daß dieses Böse mich

nicht erniedrige, dem zuliebe, der es mir zufügt, damit er

nicht wahrhaft Böses getan habe.

156
q Die Heiligen [die fast Heiligen] sind mehr als die andern
dem Teufel ausgesetzt, weil die wirkliche Kenntnis, die sie
von ihrem Elend haben, ihnen das Licht fast unerträglich
macht.

q Die Sünde wider den Geist besteht darin, daß man etwas
als gut kennt und es eben als ein Gutes haßt. Etwas Ähnliches

empfindet man als eine Art Widerstreben jedesmal, wenn


man seinen Sinn auf das Gute richtet. Denn jede Berührung
mit dem Guten läßt den Abstand zwischen dem Bösen und
dem Guten erkennen und fordert anfangs eine mühsame
Anstrengung der Angleichung. Dies ist ein Schmerz, und man

schrickt zurück. Dieses Erschrecken ist vielleicht das


Kennzeichen der wirklichen Berührung. Die entsprechende
Sünde kann nur dann eintreten, wenn der Mangel an
Hoffnung das Bewußtsein des Abstands unerträglich macht
und den Schmerz in Haß verwandelt. In dieser Hinsicht ist
die Hoffnung ein Heilmittel. Ein noch besseres Heilmittel

aber ist es, sich selber gleichgültig zu sein und glücklich zu

sein in dem Gedanken, daß das Gute das Gute ist, wenn man
selbst auch ferne davon ist, ja selbst dann, wenn es einem
bestimmt wäre, sich unendlich davon zu entfernen.

q Hat erst einmal ein Atom des reinen Guten Einlaß

gefunden in die Seele, dann ist die größte,

157
die verbrecherischste Schwäche unendlich viel weniger
gefährlich als der geringste Verrat, bestünde dieser auch nur
in einer rein innerlichen Regung unsres Sinnes, die kaum
einen flüchtigen Augenblick währte, aber mit unserer
Einwilligung geschähe. Dies ist die Teilhabe an der Hölle.

Solange die Seele das reine Gute noch nicht verkostet hat, ist
sie von der Hölle ebenso geschieden wie von dem Paradies.

Nur der kann eine höllische Wahl treffen, dem an seinem


Heil gelegen ist. Wer die Freude Gottes nicht begehrt,
sondern sich daran genügen läßt, zu wissen, daß wirklich

Freude in Gott ist, der fällt, aber er verrät nicht.

q Liebt man Gott durch das Böse als solches hindurch, dann
ist es wahrhaft Gott, den man liebt.

q Gott lieben durch das Böse als solches hindurch. Gott


lieben durch das Böse hindurch, das man haßt, und während

man dieses Böse haßt. Gott lieben als den Urheber des Bösen,
das zu hassen man im Begriff steht1. Das Böse ist für die

Liebe, was das Mysterium für die Vernunft ist. Wie das
Mysterium die Tugend des Glaubens nötigt, eine

übernatürliche Tugend zu sein, ebenso nötigt das Böse die


Tugend der Liebe. Und der Versuch, Entschädigungen,

Rechtfertigungen für das Böse ausfindig

1 Siehe Anmerkung 1, S. 148

158
machen zu wollen, ist der Liebe ebenso abträglich wie der
Versuch, den Inhalt der Mysterien nach menschlicher
Vernünftigkeit auslegen zu wollen.

q Iwans Rede in den »Karamasoff«: »Selbst wenn diese


ungeheure Veranstaltung uns die außerordentlichsten

Wunder bescherte und auch nur eine einzige Träne eines


einzigen Kindes kostete - dennoch, ich würde nein sagen.«
Dieser Gesinnung schließe ich mich völlig an. Was man mir
auch bieten könnte, um die Träne eines Kindes aufzuwiegen,
es gibt nichts, das mich veranlassen kann, diese Träne

hinzunehmen. Nichts, gar nichts, das die menschliche Ver-


nunft ersinnen könnte. Eines ausgenommen, das aber nur
die übernatürliche Liebe zu begreifen vermag: Gott hat es

gewollt. Und um dieses einen willen würde ich ebenso eine


Welt, die nur Böses wäre, hinnehmen wie eine Kinderträne.

q Die Agonie ist die letzte dunkle Nacht, deren selbst die
Vollkommenen zur gänzlichen Reinheit bedürfen, und
darum ist es besser, daß sie bitter sei.

q Die Unwirklichkeit, die dem Guten das Gute nimmt,


begründet das Böse. Das Böse ist immer die Zerstörung
sinnlicher Dinge, in denen das

159
Gute wirklich gegenwärtig ist. Das Böse wird von denen
verübt, die von dieser wirklichen Gegenwart keine Kenntnis
haben. Insofern ist es wahr, daß niemand willentlich böse ist.
Wo das Verhältnis durch die Gewalt bestimmt wird,
empfängt das Abwesende die Macht, das Gegenwärtige zu

zerstören.
Man wird von Entsetzen ergriffen, wenn man betrachtet, wie

weit das Böse sich erstreckt, das der Mensch tun und
erleiden kann. Wie könnte man glauben, daß es möglich sei,
für dieses Böse einen Ausgleich zu finden, da ja um dieses

Bösen willen Gott den Kreuzestod erlitten hat?

q Gut und Böse. Wirklichkeit. Gut ist, was Wesen und


Dingen ein Mehr an Wirklichkeit verleiht, böse, was ihre

Wirklichkeit mindert. Die Römer taten das Böse, als sie die
griechischen Städte ihrer Bildwerke beraubten, weil die
Städte, die Tempel, das Leben jener Griechen ohne diese

Bildwerke eine geringere Wirklichkeit besaßen und weil


diese Bildwerke in Rom nicht ebensoviel Wirklichkeit haben

konnten als in Griechenland.

Verzweifelte, flehentlich demütige Bitten der Griechen, nur


einige Bildwerke behalten zu dürfen: verzweifeltes Bemühen,

dem Geist des andern das eigene Wertgefühl begreiflich zu


machen. So verstanden, haftet dieser Bemühung

160
nichts Niedriges an. Aber sie mußte fast mit Notwendigkeit
wirkungslos bleiben. Verpflichtung, das Wertsystem des
andern zu verstehen und mit dem eigenen auf der gleichen
Waage zu wägen. Die Waage schmieden.

q Die Einbildung bei dem verweilen lassen, was böse ist,


schließt eine Art Feigheit ein; man hofft, aus dem

Unwirklichen Genuß, Erkenntnis und Mehrung zu schöpfen.


Ja selbst seine Einbildung bei gewissen Dingen als möglich
verweilen zu lassen - was etwas völlig anderes ist, als ihre
Möglichkeit klar ins Auge zu fassen, wie es wesentlich zur
Tugend gehört -, heißt schon sich einlassen. Schuld ist die

Neugier. Sich gewisse Gedanken verbieten [nicht ihre


Vorstellung, sondern das Verweilen dabei]; nicht denken an.
Man glaubt, das Denken sei unverbindlich, aber nichts außer
dem Denken schlägt uns in Bande, und wer in Gedanken zü-
gellos ist, ist jeder Zügellosigkeit fähig. Nicht denken an,
höchste Fähigkeit. Reinheit, negative Tugend. Hat die

Einbildung bei etwas Bösem verweilt und trifft man dann

andere Menschen, die es in Worten und Taten gegenständ-


lich machen und derart die soziale Schranke beseitigen, so ist
man schon fast verloren. Und was könnte leichter sein? Da

ist kein Punkt der Unterbrechung; wenn man den Graben


sieht, hat man ihn bereits übersprungen. Für das Güte

161
gilt das völlige Gegenteil; der Graben wird gesehen, wenn es
zum Sprung anzusetzen gilt, im Augenblick des Ablösens und
der Zerreißung. Man fällt nicht in das Gute. Der Ausdruck
Niedrigkeit bezeichnet diese Eigenschaft des Bösen.

q Sogar verübt, behält das Böse jenes Merkmal der


Unwirklichkeit; vielleicht ist das der Grund, warum die

Verbrecher so einfältig sind; im Traum ist alles einfach.


Diese Einfältigkeit ist das Gegenstück zu jener Einfalt der
höchsten Tugend.

q Das Böse muß geläutert werden - oder das Leben ist


unmöglich. Nur Gott vermag dies. Das ist der Gedanke der

Bhagavadgita. Das ist auch der Gedanke des Moses,


Mohammeds, des Hitlerismus ...

Aber Jehova, Allah, Hitler sind irdische Götter. Die

Läuterung, die sie bewirken, ist imaginär.

q Etwas wesentlich anderes als das Böse ist die Tugend, die

von einer klaren Vorstellung der Möglichkeit des Bösen


begleitet ist, und zwar des Bösen unter dem Anschein des

Guten. Daß Illusionen, die man überwunden, dem Denken

dennoch gegenwärtig bleiben, dies ist vielleicht das


Kriterium der Wahrheit.

q Erst dann ist man imstande, Abscheu zu empfinden bei

der Vorstellung, einem andern ein

162
Leid anzutun, wenn man einen Punkt erreicht hat, wo kein
anderer uns noch ein Leid antun kann [dann liebt man die
anderen, im äußersten Falle, wie sein früheres Selbst].

q Die Betrachtung des menschlichen Elends entreißt zu Gott


hin, und man betrachtet es nur in dem andern, den man liebt

wie sich selbst. Es läßt sich weder in einem selber als


solchem noch in dem andern als solchem betrachten.

q Das äußerste Unglück, das über den Menschen


hereinbrechen kann, bringt das menschliche Elend nicht erst

hervor, sondern es offenbart nur sein Vorhandensein.


Die Sünde und das Ansehen der Gewalt. Weil es einem nicht
gelungen ist, das menschliche Elend mit ganzer Seele zu

erkennen und hinzunehmen, glaubt man, es gebe


Unterschiede zwischen den menschlichen Wesen, und so ver-

geht man sich gegen die Gerechtigkeit, sei es dadurch, daß


man zwischen sich und andern einen Unterschied macht, sei
es dadurch, daß man unter den andern ein Ansehen der

Person gelten läßt.

Dies kommt daher, daß man nicht weiß, daß das menschliche
Elend eine unveränderlich gleichbleibende Quantität ist, die

in jedem Menschen gerade so groß ist, als sie sein kann, und

daß alle Größe allein von Gott stammt, derart, daß

163
also zwischen einem Menschen und einem anderen völlige
Gleichheit besteht.

q Man wundert sich, daß das Unglück den Menschen nicht


läutert. Das kommt daher, daß man, wenn man an einen

Unglücklichen denkt, an sein Unglück denkt. Der


Unglückliche aber denkt nicht an sein Unglück: sein ganzes
Sinnen ist auf die allergeringste Erleichterung gerichtet, die

er nur irgend begehren könnte.

q Wie sollte es kein Schlechtes in der Welt geben? Die Welt


muß unseren Begehrungen fremd sein. Wäre sie dies, ohne

Schlechtes zu enthalten, dann wären unsere Begehrungen


durchaus schlecht. Das soll nicht sein.

q Es gibt alle möglichen Grade des Abstandes zwischen dem


Geschöpf und Gott. Einen Abstand, wo die Liebe zu Gott
unmöglich ist. Materie, Pflanzen, Tiere. Das Böse ist dort so

vollständig, daß es sich selber aufhebt; also daß es kein Böses

mehr gibt: Spiegel der göttlichen Unschuld. Wir befinden uns

an jener Stelle, wo die Liebe gerade möglich ist. Das ist ein
großes Vorrecht, denn die vereinigende Liebe ist dem Ab-

stand proportional.
Gott hat eine Welt erschaffen, die nicht die beste der

möglichen Welten ist, sondern die alle Grade des Guten und

des Schlechten enthält. Wir be-

164
finden uns an jener Stelle, wo sie die schlechteste der
möglichen Welten ist. Denn jenseits liegt die Stufe, wo das
Böse zur Unschuld wird.

Das Unglück

q Leiden: Überlegenheit des Menschen über Gott. Es


bedurfte der Menschwerdung, damit diese Überlegenheit

kein Ärgernis wäre.

q Ich soll mein Leiden nicht deshalb lieben, weil es nützlich


ist, sondern weil es ist.

q Hinnehmen, was bitter ist; doch soll die Hinnahme nicht


auf die Bitterkeit zurückwirken und sie lindern, andernfalls

büßt die Hinnahme in gleichen Graden an Kraft und Reinheit


ein. Denn der Gegenstand der Hinnahme ist das Bittere,
insofern es bitter und nichts als bitter ist. -Wie Iwan

Karamasoff sagen: nichts kann eine einzige Träne eines

einzigen Kindes aufwiegen. Und dennoch alle Tränen


hinnehmen und die unzähligen Greuel, die über alle Tränen

sind. Diese Dinge hinnehmen, nicht insofern sie Ent-


schädigungen bieten könnten, sondern als sie selbst.

Hinnehmen, daß sie seien, bloß weil sie sind.

q Gäbe es kein Unglück in dieser Welt, wir könnten uns im

Paradies glauben.

165
q Zweierlei Vorstellungen von der Hölle: die gewöhnliche
[Leiden ohne Tröstung]; die meinige [falsche Glückseligkeit,
sich irrtümlich im Paradies glauben].

q Größere Reinheit des physischen Schmerzes [Thibon].


Daher die größere Würdigkeit des Volkes.

q Nicht danach trachten, nicht zu leiden, noch danach,


weniger zu leiden, sondern danach trachten, durch das

Leiden nicht zum Schlimmeren verändert zu werden.

q Die letzte Größe des Christentums beruht darauf, daß es


nicht nach einem übernatürlichen Heilmittel gegen das

Leiden, sondern nach einem übernatürlichen Gebrauch des


Leidens trachtet.

q Man soll sich bemühen, so sehr man irgend kann, das


Unglück zu vermeiden, damit das Unglück, das einem

begegnet, vollkommen rein und vollkommen bitter sei.

q Die Freude ist die Fülle des Gefühls des Wirklichen.

Noch besser aber ist es, zu leiden und das Gefühl des

Wirklichen dabei zu bewahren. Zu leiden, ohne dem Leiden

wie einem Alpdruck zu erliegen. Der Schmerz sei einerseits

rein äußer-

166
lich und anderseits rein innerlich. Hierzu ist es nötig, daß er
nur in unserem Empfindungsvermögen herrsche. Dann ist er
äußerlich - insofern er außerhalb der geistlichen Teile der
Seele liegt - und innerlich - insofern er gänzlich auf uns selbst
konzentriert ist, ohne auf das Weltall zurückzuwirken, um es

zu entstellen.

q Das Unglück zwingt, das als wirklich anzuerkennen, was


man nicht für möglich hält.

q Unglück: die Zeit führt das denkende Wesen dem

entgegen, was es nicht ertragen kann und was dennoch


eintreffen wird. »Dieser Kelch möge an mir vorübergehen!«
Jede Sekunde, die verrinnt, reißt ein Wesen in dieser Welt zu
etwas Unerträglichem mit sich fort.

q Es gibt einen Punkt des Unglücks, wo wir außerstande


sind, weder sein Fortdauern noch die Erlösung davon zu
ertragen.

q Das Leiden ist nichts, außer dem Zusammenhang

zwischen Vergangenheit und Zukunft; was aber wäre für den


Menschen wirklicher als dieser Zusammenhang? Er ist die

Wirklichkeit selbst.

Zukunft: man denkt, daß etwas morgen eintreffen wird, bis


zu dem Augenblick, da man denkt, daß es niemals eintreffen
wird.

167
Zwei Gedanken erleichtern das Unglück ein wenig.
Entweder, daß es fast unverzüglich aufhören oder daß es
unaufhörlich fortdauern wird. Unmöglich oder notwendig.
Aber man ist außerstande, zu denken, daß es einfach ist. Das
ist nicht auszuhalten.

»Das ist unmöglich.« Es ist unmöglich, sich eine Zukunft


vorzustellen, in der das Unglück fortdauern würde. Der

natürliche Drang des Geistes auf die Zukunft hin wird


aufgehalten, unser Wesen wird in seinem Zeitgefühl
zerrissen. »In einem Monat, in einem Jahr, wie werden wir

dann noch leiden?«

q Das Wesen, für das jeder, Gedanke an die Vergangenheit


oder Zukunft unerträglich ist, wird bis zur Materie

erniedrigt. Weißrussen bei Renault. So kann man wie die


Materie gehorchen lernen, aber zweifellos erfinden sie sich

eine erlogene Vergangenheit und eine nahe bevorstehende


erlogene Zukunft.

q Den Verbrechern und Dirnen zerfällt die Zeit in Stücke;

ebenso den Sklaven. Dies ist also ein Kennzeichen des

Unglücks.

q Die Zeit vergewaltigt; sie ist die einzige Gewalt. Ein


Anderer wird dich gürten und dich mit sich führen, wohin du

nicht gehen willst; die Zeit führt einen mit sich, wohin man

nicht gehen will. Man verurteile mich zum Tode, man

168
wird mich, nicht hinrichten, wenn unterdessen die Zeit
stillsteht. Was auch Entsetzliches bevorstehe, kann man
wünschen, die Zeit möchte stillstehen, die Gestirne möchten
in ihrem Lauf innehalten? Die Gewalt der Zeit zerreißt die
Seele: durch den Riß dringt die Ewigkeit ein.

q Alle Probleme lassen sich auf die Zeit zurückführen.


Äußerster Schmerz: richtungslose Zeit: Bahn zur Hölle oder

zum Paradies. Unaufhörlichkeit oder Ewigkeit.

q Nicht Freude und Schmerz widersprechen einander,


sondern ihre jeweiligen Arten. Es gibt Höllenfreuden und

Höllenschmerzen, heilende Freuden und heilende


Schmerzen, himmlische Freuden und himmlische
Schmerzen.

q Es liegt in unserer Natur, daß wir das Leiden fliehen und


die Lust suchen. Das ist der einzige Grund, warum die

Freude zu einem Gleichnis des Guten und der Schmerz zu

einem Gleichnis des Bösen dient. Daher die bildlichen Vor-

stellungen von Paradies und Hölle. Tatsächlich aber sind


Lust und Schmerz ein unzertrennliches Paar.

q Leiden, Belehrung und Verwandlung. Die Eingeweihten

sollen nicht etwas lernen, sondern eine

169
Verwandlung soll in ihnen stattfinden, die sie befähigt, die
Belehrung zu empfangen. Pathos bedeutet zugleich Leiden
[namentlich Leiden bis zum Tode] und Umgestaltung
[namentlich Verwandlung in ein unsterbliches Wesen].

q Leiden und Genuß als Quellen des Wissens. Die Schlange


hat Adam und Eva die Erkenntnis angeboten. Die Sirenen

haben Odysseus die Erkenntnis angeboten. Diese


Erzählungen lehren, daß die Seele sich zugrunde richtet,
wenn sie die Erkenntnis in der Lust sucht. Warum? Die Lust
ist vielleicht unschuldig, vorausgesetzt, man suche in ihr
nicht die Erkenntnis. Es ist uns nicht erlaubt, diese in etwas

anderem zu suchen als im Leiden.

q Das Unendliche, das im Menschen ist, ist einem kleinen


Stück Eisen preisgegeben; so ist das menschliche Dasein
beschaffen; Ursache dessen sind Raum und Zeit. Unmöglich,
dieses Stück Eisen zu handhaben, ohne daß plötzlich das
Unendliche im Menschen sich auf einen Punkt der Spitze, auf

einen Punkt des Griffes zusammenzieht um den Preis eines


zerreißenden Schmerzes. Auf Augenblicksdauer ergreift

dieser Schmerz das ganze Sein, so daß für Gott kein Raum
mehr bleibt, sogar bei Christus nicht, bei dem zumindest der

Gedanke an Gott nur noch der einer Beraubung ist. Dahin

muß es

170
kommen, damit die Inkarnation völlig sei. Das ganze Sein
wird ein Gottes-Beraubtsein: wie könnte man darüber
hinausgehen? Danach bleibt nur noch die Auferstehung. Um
dahin zu gelangen, bedarf es der eisigen Berührung des
nackten Eisens.

Bei dieser Berührung muß man sich wie Christus von Gott
getrennt fühlen, sonst ist es ein anderer Gott. Die Märtyrer

fühlten sich nicht von Gott getrennt, aber es war ein anderer
Gott, und es war vielleicht besser, kein Märtyrer zu sein. Der
Gott, in dem die Märtyrer auf der Folter oder im Tode die

Freude fanden, steht jenem Gott nahe, den das römische


Reich von Amts wegen annahm und in der Folge anderen
durch Ausrottungen aufzwang.

q Zu sagen, die Welt sei nichts wert, dieses Leben sei nichts
wert, und zum Beweis das Übel anzuführen, ist widersinnig;

denn wenn sie nichts wert sind, wessen beraubt dann das
Übel? So sind das Leiden im Unglück und das Mit- leid mit

andern desto reiner und heftiger, je besser man die Fülle der

Freude begreift. Wes-sen beraubt denn das Leiden den, der


ohne Freude ist?

Und begreift man die Fülle der Freude, so verhält sich das

Leiden noch zur Freude wie der Hunger zur Nahrung.

Man muß durch die Freude die Offenbarung der

171
Wirklichkeit empfangen haben, um die Wirklichkeit im
Leiden zu finden. Sonst ist das Leben nur ein mehr oder,
minder schlechter Traum. Man muß dahin gelangen, im
Leiden, das Nichts und Leere ist, eine noch vollere
Wirklichkeit zu finden.

Ebenso muß man eine sehr starke Liebe zum Leben haben,
um den Tod noch stärker zu lieben.

Die Gewalt

q Der Tod ist die kostbarste Gabe, die der Mensch


empfangen. Darum ist es der ärgste Frevel, ihn schlecht zu

gebrauchen. Schlecht zu sterben. Schlecht zu töten. [Wie


aber entrinnt man zugleich dem Mord und dem Selbstmord?]
Nächst dem Tode, die Liebe. Ähnliches Problem: weder
schlechtes Genießen, noch schlechte Enthaltung. Krieg und
Eros sind unter den Menschen die beiden Quellen der

Täuschung und der Lüge. Vermischen sie sich, dann entsteht


die größte Unreinheit.

q Sich bemühen, die Gewalt in der Welt immer mehr durch


eine wirksame Gewaltlosigkeit zu ersetzen.

q Nur wenn sie wirksam ist, ist die Gewaltlosigkeit gut.

Siehe die Frage, die ein junger Mann bezüglich seiner


Schwester an Gandhi stellte. Die

172
Antwort müßte lauten: brauche Gewalt, es sei denn, du
könntest sie, mit der gleichen Aussicht auf Erfolg, auch ohne
Anwendung von Gewalt verteidigen; es sei denn, du besäßest
eine Ausstrahlung, deren Stärke [das heißt: deren mögliche
Wirksamkeit, im materiellsten Verstände] deiner

Muskelstärke gleich käme. Sich bemühen, so zu werden, daß


man gewaltlos handeln kann. Das hängt auch vom Gegner ab.

q Ursache der Kriege: jeder Mensch, jede Gruppe von


Menschen fühlt sich mit vollem Recht als legitimer Herr und

Eigentümer des Alls. Aber man hat nicht den richtigen


Begriff von seinen Eigentumsrechten, da man nicht weiß,
daß der Zugang zu diesem Besitz - soweit als er dem

Menschen auf Erden möglich ist - für einen jeden durch


seinen eigenen Körper führt. Alexander verhält sich zu
einem bäuerlichen Landeigentümer wie Don Juan zu einem
glücklichen Gatten.

q Krieg. Die Liebe zum Leben in sich intakt erhalten;

niemals den Tod zufügen, ohne ihn für sich selber


hinzunehmen.

Verhielte es sich so, daß das Leben von X.. mit dem eigenen
Leben derart verbunden wäre, daß sein Tod gleichzeitig den

eigenen Tod bewirkte, wollte man dennoch, daß er stürbe?


Wenn der

173
Leib und die ganze Seele inbrünstig nach dem Leben
verlangen und man dennoch, ohne zu lügen, hierauf mit Ja
antworten kann, dann hat man das Recht zu töten.

Das Kreuz

q Wer das Schwert ergreift, der wird durch das Schwert


umkommen. Und wer das Schwert nicht ergreift [oder es

fahren läßt], der wird am Kreuz umkommen.

q Christus, die Kranken heilend, die Toten auferweckend,


usw.; dies ist der geringe, der menschliche, fast niedrige Teil

seiner Sendung. Der übernatürliche Teil ist der Blutsehweiß,


das unerfüllte Verlangen nach menschlichen Tröstungen, das

Flehen um Verschonung, das Gefühl der Gottverlassenheit.

q Die Verlassenheit im letzten Augenblick der Kreuzigung;

welch ein Abgrund der Liebe auf beiden Seiten!

q »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«

Hierin liegt der wahre Beweis von der Göttlichkeit des

Christentums.

q Um gerecht zu sein, muß man nackt und tot sein. Ohne


Einbildung. Darum muß auch das

174
Vorbild der Gerechtigkeit nackt und tot sein. Einzig das
Kreuz verbietet jede eingebildete Nachfolge.

q Es bedarf eines gerechten Menschen zur Nachfolge, damit


die Nachfolge Gottes nicht ein leeres Wort sei, aber es bedarf

auch dessen, daß wir, um über den Willen hinausgetragen zu


werden, ihm nicht nachfolgen wollen können. Das Kreuz
kann man nicht wollen. Man könnte jedes beliebige Ausmaß

der Askese oder des Heroismus wollen, nicht aber das Kreuz,
welches Strafleiden ist. Die, welche in der Kreuzigung nur
das dargebrachte Opfer sehen, berauben sie ihres Heils-

geheimnisses und ihrer heilsamen Bitternis. Nach dem


Martyrium zu trachten, ist allzuwenig. Das Kreuz ist
unendlich viel mehr als das Martyrium.

Das Leiden voll reinster Bitterkeit, das Strafleiden als


Bürgschaft für die Echtheit.

q Kreuz. Der Baum der Sünde war ein wirklicher Baum, der
Baum des Lebens war ein Balken. Etwas, das keine Früchte
bringt, sondern nichts ist als senkrechte Aufwärtsbewegung.

»Des Menschen Sohn muß erhöht werden, und er wird euch


an sich ziehen.« Man kann die Lebenskraft in sich abtöten

und nichts bewahren als die senkrechte Aufwärtsbewegung.


Laub-

175
werk und Früchte sind Kraftvergeudung, wenn man nichts

will als aufwärtssteigen.

q Eva und Adam wollten, die Göttlichkeit in der Lebenskraft


suchen. Ein Baum, eine Frucht. Aber sie ist uns bereitet an

einem geometrisch abgevierten toten Holz, an dem ein


Leichnam hängt. Das Geheimnis unserer Verwandtschaft mit
Gott muß in unserer Sterblichkeit gesucht werden.

q Gott erschöpft sich, damit er, durch die unendliche Dichte


von Zeit und Raum hindurch, die Seele erreiche und zu sich

verführe. Läßt sie sich, und sei es nur auf eines Blitzes
Dauer, eine reine und völlige Einwilligung entreißen, dann

hat Gott sie erobert.


Und ist sie dann völlig ein Ding geworden, das nur ihm
angehört, so verläßt er sie. Er läßt sie ganz allein. Und nun

muß die Seele ihrerseits, doch in einem blinden Tasten, die


unendliche Dichte von Zeit und Raum durchmessen, auf der
Suche nach dem, den sie liebt. So legt die Seele nun in

umgekehrter Richtung den Reiseweg zurück, auf dem Gott zu


ihr gekommen war. Und dies ist das Kreuz.

q Gott ist gekreuzigt, weil endliche Wesen, der

Notwendigkeit, dem Raum und der Zeit unterworfene,


denken.

176
Wissen, daß ich als denkendes und endliches Wesen
gekreuzigter Gott hin. Gott gleichen, aber dem gekreuzigten
Gott. Dem allmächtigen Gott, insoweit er durch die
Notwendigkeit gebunden ist.

q Prometheus, der Gott, der um seiner allzu großen


Menschenliebe willen gekreuzigt wurde. Hippolyt, der

Mensch, der um seiner allzu großen Reinheit willen, und weil


die Götter ihn allzusehr liebten, gestraft wurde. Die
Annäherung zwischen dem Menschlichen und dem

Göttlichen ruft die Züchtigung herbei.


Wir sind das, was von Gott am weitesten entfernt ist, an jener

äußersten Grenze, von der aus es noch nicht völlig unmöglich


ist, zu ihm zurückzukehren. In unserem Sein ist Gott zer-
rissen. Wir sind die Kreuzigung Gottes. Gottes Liebe zu uns

ist Passion. Wie könnte das Gute das Böse lieben, ohne zu
leiden? Und auch das Böse leidet, wenn es das Gute liebt. Die
wechselseitige Liebe zwischen Gott und Mensch ist Leiden.

q Damit wir den Abstand von uns zu Gott empfinden, muß

Gott ein gekreuzigter Sklave sein. Denn wir empfinden nur


den Abstand nach unten hin. Es ist sehr viel leichter, sich in
der Einbildung an die Stelle des Schöpfergottes zu versetzen,

als an die Stelle des, gekreuzigten Christus.

177
q Die Ausmaße der Liebe Christi, das ist der Abstand
zwischen Gott und dem Geschöpf. Die Funktion der
Mittlerschaft begreift, durch sich selber, die Zerreißung mit
ein... Darum ist der Herabstieg Gottes zu dem Menschen
oder der Aufstieg des Menschen zu Gott undenkbar ohne

Zerreißung.

q Wir müssen durch die unendliche Dichte von Zeit und


Raum hindurch - aber Gott zuerst, um zu uns zu gelangen;
denn er kommt als erster. Von allen Beziehungen zwischen
Gott und dem Menschen ist die Liebe die größte. Sie ist so

groß wie der Abstand, der zu überwinden ist. Damit die Liebe
die größtmögliche sei, ist der Abstand der größtmögliche.
Deshalb kann das Böse bis an die äußerste Grenze gehen,

jenseits derer selbst die Möglichkeit des Guten verschwände.


Es ist dem Bösen gestattet, diese Grenze zu berühren.
Bisweilen scheint es, daß es sie überschreitet.

Dies ist in einem Sinne das genaue Gegenteil des


Leibniz'schen Gedankens. Es ist gewiß vereinbarer mit der
Größe Gottes; denn hätte er die beste aller möglichen Welten

erschaffen, so wäre dies ein Zeichen, daß er nur wenig ver-


mochte.

q Gott durchdringt die Dichte der Welt, um zu uns zu

kommen.

178
q Die Passion ist die Existenz der vollkommenen
Gerechtigkeit, ohne jede Beimischung des Scheinhaften. Die
Gerechtigkeit ist ihrem Wesen nach nicht-handelnd. Sie muß
transzendent oder leidend sein.

Dies ist die übernatürliche Gerechtigkeit in ihrer Reinheit,

gänzlich entblößt jedes empfundenen Beistandes, sogar der


Liebe Gottes, soweit sie empfunden wird.

Das Leiden ist erlösendes Leiden, wenn es nackt ist und in

seiner Reinheit in die Existenz tritt. Dies rettet die Existenz.

q Wie Gott in der sinnlichen Wahrnehmung eines Stück


Brotes gegenwärtig ist durch die eucharistische Weihe, so ist

er in dem äußersten Schlimmen gegenwärtig durch den


erlösenden Schmerz, durch das Kreuz.

q Durch das menschliche Elend zu Gott. Nicht aber als

Vergütung oder Tröstung. Sondern als Zuordnung.

q Es gibt Menschen, für die alles, was ihnen Gott näher

bringt, wohltätig ist. Für mich hingegen alles, was ihn von
mir entfernt. Zwischen mir und ihm die Dichte des Alls - und

das Kreuz, das noch hinzukommt.

q Der Schmerz ist der Unschuld zugleich völlig äußerlich

und völlig wesentlich.

179
Blutstropfen im Schnee. Die Unschuld und das Böse. Daß das
Böse selber rein sei! Es kann nur rein sein als Leiden eines
Unschuldigen. Ein leidender Unschuldiger ergießt über das
Böse das Licht des Heils. Er ist das sichtbare Bild des
unschuldigen Gottes. Das ist der Grund, warum ein Gott, der

den Menschen liebt, ein Mensch, der Gott liebt, leiden


müssen. Glück der Unschuld. Auch etwas, das unendlich

kostbar ist. Es ist aber ein gefährdetes, ein zerbrechliches


Glück, ein zufälliges Glück. Apfelblüten. Das Glück ist an die
Unschuld nicht gebunden.

q Unschuldig sein heißt, das Gewicht des ganzen


Universums ertragen. Heißt, das Gegengewicht fortwerfen.

q Wenn man sich entleert, setzt man sich dem ganzen Druck

des umgebenden Universums aus.

q Gott gibt sich den Menschen als der Mächtige oder als der

Vollkommene - nach ihrer Wahl.

Waage und Hebel

q Das Kreuz als Waage, als Hebel. Abstieg, Vorbedingung

des Aufstiegs. Der Himmel, der auf die Erde herabsteigt, hebt

die Erde zum Himmel hinauf.

180
Hebel. Niedersenken, wenn man hinaufheben will.

Ebenso wird »wer sich erniedrigt, erhöht werden«.

Auch im Bereich der Gnade gibt es eine Notwendigkeit und


Gesetze. »Die Hölle selbst hat ihre Rechte« [Goethe]. Der
Himmel auch.

q Eine unerbittliche Notwendigkeit, die jede Willkür, jeden


Zufall ausschließt, regelt die stofflichen Erscheinungen.

Noch geringer, wenn möglich, sind Willkür und Zufall in der


geistigen Welt, obgleich sie frei ist.

q Eins, die kleinste Zahl. »Die Eins, die das allein Weise

ist.«1 Sie ist das Unendliche. Eine Zahl, die zunimmt, glaubt,
sich dem Unendlichen zu nähern. Sie entfernt sich davon.

Man muß sich erniedrigen, um sich zu erhöhen. Wenn 1 Gott


ist, ist co der Teufel.

q Das menschliche Elend enthält das Geheimnis der

göttlichen Weisheit, und nicht die Lust. Jedes Streben nach


Lust ist Streben nach einem künstlichen Paradies, einem

Rausch, einem Zuwachs. Die Lust aber gibt uns nichts, außer

der Erfahrung ihrer Eitelkeit. Einzig die Betrachtung unserer

Grenzen und unseres Elends hebt uns auf eine höhere Stufe
hinauf.

' Vgl. Heraklit, Fragmente, Diels Nr. 32

181
»Wer sich erniedrigt, der wird erhöht werden.« Die
aufsteigende Bewegung in uns ist eitel [und schlimmer als
eitel], wenn sie nicht aus einer Abwärtsbewegung
hervorgeht.

q Statera facta corporis1. Der gekreuzigte Leib ist eine


gerechte Waage: der auf seinen Punkt in Zeit und Raum

reduzierte Körper.

q Nicht richten. Wie der Vater im Himmel, der nicht richtet:


durch ihn richten die Wesen sich selbst. Alle Wesen zu sich

kommen lassen und sich selbst richten lassen. Eine Waage


sein. Dann wird man nicht ins Gericht kommen, denn man
ist zu einem Bild des wahren Richters geworden, der nicht

richtet.

q Wenn das gesamte Universum auf uns lastet, gibt es kein


anderes mögliches Gegengewicht als Gott selber - den
wahren Gott, denn die falschen Götter sind hier machtlos,
selbst unter dem Namen des wahren. Das Böse ist unendlich

nach Art des Unbestimmten: Stoff, Raum, Zeit. Nur das

wahrhaft Unendliche überwindet diese Art des Unendlichen.


Darum ist das Kreuz eine Waage, auf der ein schmächtiger

und leichter Körper, der aber Gott war, das Gewicht der
ganzen Welt gehoben hat. »Gib mir einen Stütz-

1 Siehe den Hymnus des Venantius Fortunatus, »Vexilla regis prodeunt«

Vers 23

182
pünkt, und ich werde die Welt aufheben.« ..Dieser

Stützpunkt ist das Kreuz. Es kann keinen anderen geben. Er

muß dort sein, wo die Welt und das, was nicht die Welt ist,

sich überschneiden. Dieser Schnittpunkt ist das Kreuz.

Das Unmögliche

q Das menschliche Leben ist unmöglich. Aber einzig das

Unglück läßt dies empfinden.

q Das unmögliche Gute: »Aus Gutem folgt Böses, aus Bösem

Gutes, und wann wird das enden?«

q Das Gute ist unmöglich. - Aber der Mensch hat stets die

Einbildungskraft zu seiner Verfügung, um sich diese

Unmöglichkeit in jedem Einzelfall zu verbergen [es genügt,

bei jedem Ereignis, das uns selbst nicht zermalmt, einen Teil

des Bösen zu verdecken und etwas fiktives Gutes

hinzuzufügen - und einige vermögen das sogar, wenn sie

selbst zermalmt werden] und um sich zugleich zu verbergen,

»um wie vieles das Wesen des Notwendigen sich von dem des

Guten unterscheidet«, und um sich den wahren Zugang zu

Gott zu verlegen, der nichts anderes ist als das Gute selbst,

das nirgendwo in dieser Welt zu finden ist.

183
q Das Begehren ist unmöglich; es zerstört seinen
Gegenstand. Die Liebenden können nicht eins sein, noch
kann Narziß zwei sein. Don Juan, Narziß. Weil es unmöglich
ist, etwas zu begehren, soll man das Nichts begehren.

q Unser Leben ist Unmöglichkeit, Absurdität. Alles, wonach


wir streben, steht in Widerspruch zu den Bedingungen oder

den Folgen, die mit ihm verbunden sind, jede Behauptung,


die wir aufstellen, schließt die Behauptung des Gegenteils
ein, jedes unserer Gefühle ist mit seinem Gegenteil
vermischt. Der Grund ist: wir sind Widerspruch, da wir in
unserer Geschöpflichkeit zugleich Gott und das unendlich

von Gott Verschiedene sind.


Einzig der Widerspruch beweist, daß wir nicht alles sind. Der
Widerspruch ist unser Elend, und das Gefühl unseres Elends

ist das Gefühl der Wirklichkeit. Denn unser Elend ist nicht
etwas, das wir erfinden. Es ist wirklich. Darum muß man es
lieben. Alles übrige ist imaginär.

q Die Unmöglichkeit ist die Pforte zum Übernatürlichen.

Man kann nur anklopfen. Ein Anderer öffnet.

q Man muß das Unmögliche berühren, um aus dem Traum

herauszukommen. Im Traum gibt es keine Unmöglichkeit.

Nur Unvermögen.

184
»Unser Vater, der du bist im Himmel.« Darin liegt eine Art

Humor. Er ist euer Vater, aber versucht es nur einmal, ihn da

oben aufzusuchen! Wir sind buchstäblich ebenso unfähig,

uns vom Erdboden abzulösen, wie ein Erdwurm. Und Er, wie

sollte er zu uns kommen, ohne herabzusteigen? Es gibt keine

andere Vorstellung eines Verhältnisses zwischen Gott und

Mensch, das nicht ebenso unbegreiflich wäre wie die In-

karnation. Die Inkarnation macht diese Unbegreiflichkeit

offenbar. Sie ist die konkreteste Form, unter der dieser

unmögliche Herabstieg gedacht wird. Warum also sollte sie

nicht die Wahrheit sein?

q Die Bande, die wir nicht knüpfen können, sind das

Zeugnis der Transzendenz.

q Wir sind erkennende, wollende und liebende Wesen, und

sobald wir unsere Aufmerksamkeit auf die Gegenstände der

Erkenntnis, des Willens und der Liebe richten, erkennen wir

mit Evidenz, daß sie ohne Ausnahme sämtlich unmöglich

sind. Nur die Lüge kann uns diese Evidenz verhüllen. Das

Bewußtsein dieser Unmöglichkeit nötigt uns zu dem

unaufhörlichen Verlangen, durch alles, was wir begehren,

erkennen und wollen, hindurch das Unergreifbare zu er-

greifen.

185
q Wenn etwas, trotz aller Bemühungen, unmöglich zu
erlangen scheint, so ist das ein Anzeichen dafür, daß man auf
dieser Stufe auf eine unübersteigbare Schranke gestoßen ist.
Hier ergibt sich die Notwendigkeit, einen Höhenwechsel
vorzunehmen. Sich auf dieser Stufe bis zur Erschöpfung

abzumühen, erniedrigt. Besser ist es, die Beschränkung


hinzunehmen, sie zu betrachten und ihre volle Bitterkeit

auszukosten.

q Der Irrtum als Beweggrund, eine Energiequelle. Ich

glaube, einen Freund zu sehen. Ich laufe auf ihn zu. In

einiger Nähe bemerke ich, daß der, auf den ich zulaufe, ein

anderer ist, ein Unbekannter. Ebenso verwechseln wir das

Relative mit dem Absoluten, das Geschaffene mit Gott.


Alle besonderen Beweggründe sind Irrtümer. Nur die

Energie, die keinem Beweggrund entspringt, ist gut: der


Gehorsam gegen Gott, das heißt, insofern Gott alles
übersteigt, was wir uns einbilden oder vorstellen können,

der Gehorsam gegen nichts. Dies ist unmöglich und


notwendig zugleich - mit anderen Worten: übernatürlich.

q Eine Wohltat. Es ist eine gute Tat, wenn man, während

man sie vollbringt, sich mit ganzer Seele bewußt ist, daß eine
Wohltat etwas schlechthin Unmögliches ist.

186
Das Gute tun. Was ich auch tue, ich weiß mit völliger

Deutlichkeit, daß es nicht das Gute ist. Denn wer nicht gut ist,

tut nicht das Gute. Und »Gott allein ist gut« ...

Was man auch tue, in jeder Lage tut man Böses, ein

unerträgliches Böses.

Man soll darum bitten, daß alles Böse, was man tut, einzig

und unmittelbar auf einen selbst fällt. Das ist das Kreuz.

q Gut ist die Tat, die man vollbringen kann, während man

seine Aufmerksamkeit und innerliche. Absicht gänzlich auf

das reine und unmögliche Gute gerichtet hält, ohne sich

durch irgendeine Lüge weder die Anziehung noch die Un-

möglichkeit des reinen Guten zu verschleiern. Hierdurch ist

die Tugend ein vollkommenes Analogon zu der

künstlerischen Eingebung. Schön ist das Gedicht, das man

schreibt, während man seine Aufmerksamkeit auf die

unausdrückbare Eingebung, eben als unausdrückbare,

gerichtet hält.

Widerspruch

q Die Widersprüche, an denen der Geist sich stößt, einzige

Wirklichkeiten, Kriterium des Wirklichen. Keinerlei

Widerspruch im Imaginären. Der Widerspruch ist die Probe

auf die Notwendigkeit.

187
q Der bis auf den Grund des eigenen Seins erlittene

Widerspruch, das ist die Zerreißung, das ist das Kreuz.

q Hat man etwas so lange aufmerksam betrachtet, bis der


Widerspruch darin offenbar geworden ist, dann beginnt die
Verhaftung sich zu lockern. Verharrt man auf dieser Bahn,
so erreicht man die Ablösung.

q Die vorstellbare Wechselbeziehung zwischen konträren


Gegenteilen ist ein Gleichnis der transzendenten

Wechselbeziehung zwischen kontradiktorischen


Gegensätzen.

q Jedes wahrhaft Gute unterliegt einander wi-


dersprechenden Bedingungen und ist folglich unmöglich.

Wer seine Aufmerksamkeit wirklich auf diese Unmöglichkeit


gerichtet hält und dann handelt, der wird das Gute tun.
Ebenso schließt jede Wahrheit einen Widerspruch in sich
ein.
Der Widerspruch ist die Spitze der Pyramide.

q Das Wort »gut« hat nicht denselben Sinn, wenn es als

Glied des wechselseitigen Verhältnisses Gut-Böse auftritt


oder wenn es das göttliche Sein selbst bezeichnet.

q Vorhandensein gegensätzlicher Tugenden in der Seele des

Heiligen. Hierauf bezieht sich die

188
Metapher der Erhebung. Nehme ich meinen Weg auf der
Flanke eines Berges, so kann ich erst einen See sehen, dann
nach einigen Schritten einen Wald. Ich muß wählen:
entweder den See, oder den Wald. Will ich See und Wald
gleichzeitig sehen, so muß ich höher hinaufsteigen. Allein,

der Berg ist nicht vorhanden. Er besteht aus Luft. Man kann
nicht steigen: man muß gezogen werden.

q Ontologischer Experimentalbeweis. Ich habe kein Prinzip

des Aufsteigens in mir. Ich kann nicht durch die Luft bis in
den Himmel klettern. Nur indem ich meinen Sinn auf etwas
richte, das besser ist als ich, zieht dieses Etwas mich nach
oben. Werde ich wirklich gezogen, dann ist dieses Etwas

wirklich. Keine eingebildete Vollkommenheit kann mich


hinaufziehen, auch nicht um einen Millimeter. Denn eine

eingebildete Vollkommenheit befindet sich automatisch auf


der gleichen Höhe wie ich, der sie sich einbildet, weder höher
noch tiefer. Die Wirkung des in eine solche Richtung ge-

brachten Sinnes ist in nichts der Suggestion vergleichbar.


Wenn ich mir alle Morgen sage: ich bin mutig, ich habe keine
Angst, so kann ich zwar mutig werden, aber es wird doch nur

ein Mut sein, der dem entspricht, was ich mir in meiner
augenblicklichen Unvollkommenheit unter diesem Namen
vorstelle, und der folglich

189
über diese Unvollkommenheit nicht hinausgeht. Es handelt
sich also nur um eine Veränderung auf der gleichen Ebene,
nicht um einen Wechsel der Ebene selbst.
Der Widerspruch ist das Kriterium. Unvereinbare Dinge
kann man sich nicht durch Suggestion verschaffen. Nur die

Gnade kann es. Ein zartes Wesen, das durch Suggestion


mutig wird, verhärtet sich, häufig sogar merzt es mit einer

Art wilder Lust jede Zärtlichkeit in sich selber aus. Nur die
Gnade kann uns Mut geben, ohne daß die Zärtlichkeit, oder
Zärtlichkeit, ohne daß der Mut darunter leidet.

q Es ist der große Schmerz des Menschen, der mit der


Kindheit beginnt und bis zum Tode währt, daß Schauen und

Essen zwei verschiedene Tätigkeiten sind. Die ewige Seligkeit


ist ein Zustand, in dem Schauen Essen ist. Was man
hienieden schaut, ist nicht wirklich, es ist eine Kulisse. Was
man ißt, wird zerstört, ist nicht mehr wirklich.
Die Sünde hat diese Trennung in uns hervorgebracht.

q Die natürlichen Tugenden, wenn man das Wort »Tugend«

in seinem echten Sinn nimmt, das heißt, wenn man die


sozialen Nachbildungen der Tugend ausschließt, sind als

bleibendes Verhalten nur dem möglich, der die


übernatürliche Gnade in sich hat. Ihre Dauer ist

übernatürlich.

190
q Konträre Gegensätze und kontradiktorische
Widersprüche. Was das Verhältnis der konträren Gegensätze
vermag, um das natürliche Sein zu berühren, das vermögen
die in eins gedachten kontradiktorischen Widersprüche, um
Gott zu berühren.

Ein von Gott inspirierter Mensch ist ein Mensch, dessen


Verhaltungsweisen, Gedanken und Gefühle durch ein Band

verknüpft sind, das sich der Vorstellung entzieht.

q Pythagoräische Idee: das Gute bestimmt sich immer durch


die Vereinigung der Gegensätze. Wenn man das Gegenteil

eines Schlechten lobt, «bleibt man auf der Ebene dieses


Schlechten. Hat man es erprobt, kehrt man zu dem ersten zu-
rück. Das ist es, was die Bhagavad-Gita »die Verwirrung der

Gegensätze« nennt. Die marxistische Dialektik ist eine sehr


degradierte und gänzlich verfälschte Ansicht hiervon.

q Schlechte Vereinigung der Gegensätze. Der Imperialismus


der Arbeiterklasse, den der Marxismus entwickelt hat.
Lateinische Sprichwörter über die Unverschämtheit der seit

kurzem freigelassenen Sklaven. Unverschämtheit und

knechtische Gesinnung steigern sich wechselseitig. Die

aufrichtigen Anarchisten, die des Prinzips der Vereinigung


der Gegensätze durch einen Nebel in etwas ansichtig
geworden waren,

191
glaubten, das Böse ließe sich dadurch vernichten, daß man
den Unterdrückten die Macht gebe. Ein unmöglicher Traum.
Worin also liegt der spezifische Unterschied zwischen der
schlechten und der rechten Vereinigung der Gegensätze?
Die schlechte Vereinigung der Gegensätze [schlecht, weil

erlogen] wird auf der gleichen Ebene vollzogen, auf der die
Gegensätze gelten. So, wenn man die Unterdrückten zur

Herrschaft kommen läßt: man bleibt innerhalb des Zirkels


Unterdrückung-Beherrschung. Die rechte Vereinigung der
Gegensätze wird auf der höheren Ebene vollzogen. So löst

sich der Widerstreit zwischen Beherrschung und Unter-


drückung auf der Ebene des Gesetzes, welches das
Gleichgewicht ist.

Ebenso trennt der Schmerz - und hierin besteht seine


eigentliche Funktion - die vereinigten Gegensätze, um sie auf
der Ebene oberhalb ihrer ersten Vereinigung von neuem zu
vereinigen, Pulsschlag Schmerz-Freude. Aber die Freude

behält stets mit mathematischer Sicherheit die Oberhand.


Der Schmerz ist Gewaltsamkeit, die Freude ist

Sanftmütigkeit, aber die Freude ist die stärkere.

q Die Vereinigung der kontradiktorischen Widersprüche ist

Zerstückelung: sie ist unmöglich ohne äußerstes Leiden.

192
q Die Zuordnung der kontradiktorischen Widersprüche ist
Ablösung. Die Anhänglichkeit an einen besonderen
Gegenstand kann nur durch eine hiermit unvereinbare
Anhänglichkeit zerstört werden. Darum heißt es: »Liebet
eure Feinde ... Wer nicht haßt seinen Vater und seine

Mutter...«

Entweder man hat sich die Gegensätze unterworfen, oder

man ist den Gegensätzen unterworfen.

q Gleichzeitiges Vorhandensein des Unvereinbaren in dem


Verhalten der Seele; Waage, die sich nach beiden Seiten

zugleich neigt; dies ist die Heiligkeit, die Verwirklichung des

Mikrokosmos, die Nachbildung der Weltordnung.

q Gleichzeitiges Vorhandensein der gegensätzlichen

Tugenden in der Seele als eine Zange, um Gott zu fassen.

Gewisse Gesetze des menschlichen Zustandes ausfindig

machen und formulieren; es gibt diesbezüglich viele

tiefsinnige Bemerkungen, die manchen Einzelfall dieser

Gesetze ins Licht setzen.

Zum Beispiel: das durchaus Höhere ist ein Abbild des

durchaus Niedrigeren, aber ein versetztes.

Verwandtschaft des Bösen mit der Kraft, dem

193
Sein, und des Guten mit der Schwachheit, dem Nichts.
Und gleichzeitig ist das Böse ein Mangel. Die Art und Weise

erhellen, auf welche die kontradiktorischen Widersprüche


wahr sind. Methode der Untersuchung: sobald man einen
Gedanken gefaßt hat, nachforschen, in welcher Hinsicht das

Gegenteil wahr ist1.

q Das Böse ist der Schatten des Guten. Jedes wirkliche


Gute, das Festigkeit und Dichte besitzt, wirft als seinen

Schatten Böses. Nur das eingebildete Gute wirft diesen


Schatten nicht. Jedes Güte ist einem Bösen verhaftet; begehrt
man also das Gute und will man das entsprechende Böse

nicht um sich verbreiten, so ist man, da dieses Böse sich

nicht vermeiden läßt, gehalten, es auf sich selbst zu

versammeln. Daher schließt das Verlangen nach einem gänz-


lich reinen Guten die Hinnahme des äußersten Unglücks für
einen selber ein. Begehrt man allein das Gute, so steht man

im Gegensatz zu dem Gesetz, nach dem das wirkliche Gute

mit dem Bösen verbunden ist, wie

1 Dieser Aphorismus liefert uns den Schlüssel der scheinbaren Widersprüche,

die das Werk von Simone Weil durchziehen: Liehe zur Überlieferung und
Ablösung von der Vergangenheit, Gott zugleich als höchste Wirklichkeit und
als Nichts begriffen usw, Diese Widersprüche sind wahr auf verschiedenen
Daseinsebenen, und ihr Widerstreit schlichtet sich auf der Ebene der
übernatürlichen Liehe. Die Vernunft gewahrt die beiden Enden der Kette, aber
die sie vereinigende Mitte ist nur der Intuition zugänglich, die jede Vorstel-
lung übersteigt. [Anmerkung des Herausgebers.]

194
der beleuchtete Gegenstand mit seinem Schatten, und weil
man so zu dem allgemeinen Weltgesetz im Gegensatz steht,
stürzt man unvermeidlich ins Unglück.
Das Mysterium des Kreuzes Christi beruht auf einem
Widerspruch, denn es ist zugleich ein freiwillig

dargebrachtes Opfer und eine Strafe, die er wider Willen


erlitten. Sähe man nur das Opfer darin, so könnte man das

nämliche für sich wollen. Aber eine wider Willen erlittene


Strafe kann man nicht wollen.

Der Abstand zwischen dem Notwendigen und dem Guten1

q Die Notwendigkeit ist der Schleier Gottes.

q Gott hat alle Phänomene ohne Ausnahme dem

Mechanismus der Welt anvertraut2.

q Wie es in Gott eine Entsprechung jeder menschlichen

Tugend gibt, so auch des Gehorsams. Und

1 Siehe Plate-, Politeia, IV. Buch. [Anmerkung des Herausgehers.]


2 Es ist bedeutsam, festzustellen, daß Simone Weil den Determinismus des
Descartes und Spinoza auf alle natürlichen Phänomene ausdehnt, mit
einbegriffen die seelischen Tatsachen. Für sie wird die Schwerkraft nur durch
die Gnade aufgehoben. Hierin liegt eine Verkennung jenes Spielraums der
Unbestimmtheit und des freien Beliebens, den Gott in der Natur gelassen hat
und der es ermöglicht, daß die Freiheit und das Wunder sich in die Welt
einfügen. Trotzdem verhält es sich de facto so, daß die Schwerkraft praktisch
allmächtig ist: auch der heilige Thomas räumt ein, daß die Mehrzahl der
menschlichen Handlungen dem blinden Trieb der Sinne folgt und dem
Determinismus durch die Gestirne unterliegt. [Anmerkung des Herausgebers.]

195
diese Entsprechung besteht darin, daß er der Notwendigkeit

in dieser Welt freies Spiel läßt.

q Die Notwendigkeit ist das der menschlichen Vernunft


einsichtige Gleichnis von Gottes Gleichmut und

Unparteilichkeit.
Also ist der gewöhnliche Begriff des Wunders eine Art
Unfrömmigkeit [ein Geschehnis, das keine Zweitursache,

sondern einzig eine Erstursache hätte].

q Der Abstand zwischen dem Notwendigen und dem Guten


ist der Abstand selber zwischen dem Geschöpf und dem
Schöpfer. «[ Der Abstand zwischen dem Notwendigen und
dem Guten. Ein Anlaß zu unaufhörlicher Betrachtung. Die

große Entdeckung Griechenlands. Gewiß hatte der Fall


Trojas sie dies gelehrt.
Jeder Versuch einer Rechtfertigung des Übels durch etwas

anderes als: »dieses ist«, ist ein Verstoß gegen diese


Wahrheit.

q Unser einziges Trachten geht darauf, die unerträgliche

Last des Gegensatzpaares Gut-Böse abzuwerfen, jene Last,


die Adam und Eva sich aufgebürdet haben.

Dies zu erreichen, muß man entweder »das Wesen des

Notwendigen und das des Guten« verwechseln oder über

diese Welt hinausgehen.

196
Um das Böse zu reinigen, gibt es nur Gott oder das soziale
Tier. Die Reinheit reinigt das Böse. Die Stärke ebenfalls,
doch auf gänzlich andere Weise. Wer alles kann, dem ist alles
erlaubt. Wer einem Allmächtigen dient, der kann alles in
ihm. Die Gewalt befreit von dem Gegensatzpaar Gut-Böse.

Sie befreit den, der sie ausübt, und sogar den, der sie
erleidet. Einem Herrn ist alles gestattet, einem Sklaven

ebenfalls. Das Schwert, an seinem Griff wie an seiner Spitze,


befreit von der Pflicht, die die unerträgliche Last ist. Auch
die Gnade befreit davon, aber zu ihr gelangt man nur über

die Pflicht. Man entrinnt der Beschränkung nur, indem man


zur Einheit aufsteigt oder zum Schrankenlosen hinabsteigt.

q Die Grenze ist das Zeugnis, daß Gott uns liebt.

q Die Erwartung des nahen Weltendes hat das Verhalten


der Urkirche geformt. Dieser Glaube erzeugte in ihnen »das

Vergessen des unendichen Abstandes, der das Notwendige


von dem Guten trennt«.

q Die Abwesenheit Gottes ist das wunderbarste Zeugnis der


vollkommenen Liebe, und darum ist die pure Notwendigkeit,
die offenkundig von dem Guten verschiedene Notwendigkeit,

so schön.

197
q Das Unbegrenzte ist die Probe auf das Eine. Die Zeit auf
die Ewigkeit. Das Mögliche auf das Notwendige. Die
Veränderlichkeit auf das Unveränderliche.
Der Wert einer Wissenschaft, eines Kunstwerks, einer Moral
oder einer Seele bemißt sich nach dem Grade ihrer

Widerstandsfähigkeit, mit der sie diese Probe bestehen.

Zufall

q Die Wesen, die ich liebe, sind Geschöpfe. Sie verdanken


ihre Entstehung dem Zufall. Mein Zusammentreffen mit

ihnen ist gleichfalls ein Zufall. Sie werden sterben. Ihre


Gedanken, ihre Gefühle, ihre Taten sind endlich und aus

Gutem und Bösem gemischt.


Dessen von ganzer Seele eingedenk sein und sie nicht minder
lieben.
Gott nachahmen, der die endlichen Dinge in ihrer
Eigenschaft als endliche unendlich liebt.

q Wir wünschten, alles, was einen Wert besitzt, wäre ewig.

Aber alles, was einen Wert besitzt, ist das Ergebnis eines
Zusammentreffens, dauert auf Grund dieses

Zusammentreffens und zerfällt, wenn das

Zusammengetroffene sich wieder trennt. Das ist der


Zentralgedanke des Buddhismus [Gedanke des Heraklit]. Er

führt geradenwegs zu Gott.

198
Über den Zufall zu meditieren, der meinen Vater und meine
Mutter zusammenführte, ist noch heilsamer als über den Tod
zu meditieren. Gibt es irgend etwas in mir, dessen Ursprung
nicht in diesem Zusammentreffen liegt? Gott allein. Und
selbst noch mein Denken Gottes hat seinen Ursprung in

diesem Zusammentreffen.

q Sterne und blühende Obstbäume. Das völlig Dauerhafte


und das äußerst Zerbrechliche wecken gleicherweise das

Gefühl des Ewigen.

q Die Theorien über den Fortschritt, über den »Genius, der


sich immer Bahn bricht«, sind daraus entstanden, daß es

unerträglich ist, sich vorzustellen, das Kostbarste, was die


Welt besitzt, sei dem Zufall ausgeliefert. Gerade weil dies
unerträglich ist, soll man es betrachten. Denn eben dieses ist
die Schöpfung. Das einzige Gut, das dem Zufall nicht unter-
worfen ist, ist jenes, das außer der Welt ist.

q Die Verwundbarkeit der kostbaren Dinge ist schön, weil

die Verwundbarkeit ein Merkmal der Existenz ist.

q Zerstörung Trojas. Fallende Blüten der Obstbäume.

Wissen, daß das Kostbarste keine Wurzeln in der Existenz


hat. Das ist schön. Warum? Weil es die Seele über die Zeit
hinausführt.

199
q Die Frau, die sich ein Kind wünscht, so weiß wie Schnee,

so rot wie Blut, bekommt es; aber sie stirbt, und das Kind

wird einer Stiefmutter ausgeliefert.

Der, den wir lieben sollen, ist abwesend

q Gott kann in der Schöpfung nicht anders anwesend sein

als unter der Form der Abwesenheit.

q Das Böse und die Unschuld Gottes. Man muß Gott in einen
unendlichen Abstand rücken, um ihn als an dem Bösen

unschuldig vorzustellen; anderseits zeigt das Böse an, daß


man Gott in einen unendlichen Abstand rücken muß.

q Diese Welt, insofern sie Gottes gänzlich leer ist, ist Gott
selbst.

Die Notwendigkeit, insofern sie gegenüber dem Guten das


schlechthin Andere ist, ist das Gute selbst.

Das ist der Grund, warum jeder Trost im Unglück von der

Liebe und von der Wahrheit entfernt.


Dies ist das Geheimnis der Geheimnisse. Berührt man es, ist

man in Sicherheit.

q Dans l'Orient désert ..Man muß in einer Einöde sein. Denn

der, den wir lieben sollen, ist abwesend.

200
q Wer sein Leben in seinen Glauben an Gott setzt, kann
seinen Glauben verlieren. Aber wer sein Leben in Gott selbst
setzt, der wird ihn niemals verlieren. Sein Leben in das
setzen, was jeder Berührung durchaus entzogen ist. Das ist
unmöglich. Das ist ein Tod. Das ist es, was wir tun müssen.

q Nichts, was existiert, ist unbedingt liebenswürdig.

Also muß man das lieben, was nicht existiert. Aber dieser

Gegenstand der Liebe, der nicht existiert, ist nichts


Erdichtetes. Denn unsere Erdichtungen können der Liebe
nicht würdiger sein als wir, die ihrer unwürdig sind.

q Einwilligung in das Gute, nicht in irgendein greifbares,


vorstellbares Gutes, sondern bedingungslose Einwilligung in

das unbedingte Gute. Willigen wir in das ein, was wir uns als
das Gute vorstellen, so willigen wir in eine Mischung aus
Gutem und Bösem ein, und diese Einwilligung bringt Gutes

und Böses hervor: das Verhältnis des Guten und des Bösen in
uns ändert sich nicht. Die bedingungslose Einwilligung hin-

gegen in das Gute, das wir uns nicht vorstellen können und

niemals werden vorstellen können,

201
diese Einwilligung ist etwas rein Gutes und bringt nichts als
Gutes hervor, und es genügt, daß sie dauere, auf daß
schließlich die ganze Seele nichts als Gutes sei.

q Der Glaube [wenn es sich um eine übernatürliche


Auslegung des Natürlichen handelt] ist eine Mutmaßung per

analogiam, die sich auf übernatürliche Erfahrungen stützt.


So machen die, welche das Vorrecht der mystischen Schau
besitzen und Gottes Barmherzigkeit erfahren haben, die
Annahme, daß, weil Gott Barmherzigkeit ist, die erschaffene
Welt ein Werk der Barmherzigkeit sei. Wer jedoch diese

Barmherzigkeit in der Natur selber unmittelbar feststellen


will, der muß seine Augen verblenden, seine Ohren
verstopfen und jedes Mitleid ausreißen, um zu glauben, daß

er dies könne. Daher sind Juden und Mohammedaner, die in


der Natur die Beweise der göttlichen Barmherzigkeit finden
wollen, unbarmherzig. Und oft auch die Christen. Deshalb ist

die Mystik der einzige Quell, dem die Tugend der


Menschlichkeit entspringt. Denn der Unglaube an eine
unendliche Barmherzigkeit hinter dem Vorhang und der

Glaube, daß diese Barmherzigkeit diesseits des Vorhangs sei,


machen beide grausam.

q Vier Dinge auf Erden sind ein Zeugnis der göttlichen

Barmherzigkeit. Die Gnaden, die

202
Gott denen erweist, die der Beschauung fähig sind [derartige

Zustände gibt es, und sie sind ein Teil ihrer kreatürlichen

Erfahrung]. Die Ausstrahlung, die von diesen Wesen

ausgeht, und ihre Erbarmung, welche die göttliche Er-

barmung in ihnen ist. Die Schönheit der Welt. Das vierte

Zeugnis ist die gänzliche Abwesenheit der Barmherzigkeit

hienieden1.

q Inkarnation. Gott ist schwach, weil er unparteiisch ist. Er

schickt Sonnenschein und Regen über die Guten wie über die

Bösen. Dieser Gleichmut des Vaters und die Schwachheit

Christi entsprechen einander. Abwesenheit Gottes. Das

Himmelreich ist gleich einem Senfkorn — Gott ändert gar

nichts. Man hat Christus getötet, aus Zorn, weil er nur Gott

war.

q Dächte ich, Gott sende mir den Schmerz aus einem Akt

seines Willens und zu meinem Wohl, so glaubte ich etwas zu

sein, und ich versäumte den Hauptgebrauch des Schmerzes,

der darin besteht, mich zu lehren, daß ich nichts bin. Man

soll also dergleichen nicht denken. Aber man soll Gott lieben

durch den Schmerz hindurch.

1 Eben durch diese Antithese, in dieser Zerreißung zwischen den Wirkungen


der Gnade in uns, der Schönheit der Welt um uns und der unerbittlichen
Notwendigkeit, die das Weltall lenkt, erfahren wir Gott zugleich als dem
Menschen gegenwärtig und als jedem menschlichen Maßstab unbedingt
entzogen. [Anmerkung des Herausgebers.]

203
Ich soll es lieben, nichts zu sein. Wie schrecklich wäre es,
wenn ich etwas wäre! Mein Nichts lieben; lieben, Nichts zu
sein. Mit jenem Teil der Seele lieben, dessen Stätte jenseits
des Vorhangs ist, denn der Teil der Seele, der dem Be-
wußtsein wahrnehmbar ist, kann das Nichts nicht lieben, es

graut ihm davor. Wenn er es zu lieben glaubt, so ist das, was


er liebt, etwas anderes als das Nichts.

q Gott sendet das Unglück unterschiedslos über Böse und


Gute wie Regen und Sonne. Er hat das Kreuz nicht Christus
allein vorbehalten. Mit dem Einzelmenschen als solchem tritt
er nur durch die rein geistliche Gnade, die auf den Gott

zugekehrten Blick antwortet, in Berührung, das heißt: genau


in dem Maße, als das Einzelwesen aufhört, eines zu sein.
Kein Geschehnis ist eine Gunst Gottes, einzig die Gnade.

q Die Kommunion wirkt in den Guten Gutes und in den


Schlimmen Schlimmes. So sind auch die Seelen der

Verdammten im Paradies, aber für sie ist das Paradies die


Hölle.

q Der Schrei des Leidens »warum?« tönt durch die ganze

Ilias.
Das Leiden erklären, heißt es trösten; es soll also nicht

erklärt werden.
Darum kommt dem Leiden des Unschuldigen

204
ein so ungeheurer Wert zu. Es gleicht der Hinnahme des

Bösen in der Schöpfung durch Gott, der unschuldig ist.

q Der unaustilgbare Wesenszug des Leidens, daß man im

Augenblick des Erleidens von einem unwiderstehlichen


Grauen davor erfaßt wird, hat die Bestimmung, den Willen
anzuhalten, wie die Absurdität die Vernunft, wie die
Abwesenheit die Liebe aufhält, damit der Mensch, am Ende

seiner menschlichen Fähigkeiten angelangt, die Arme


ausstrecke, innehalte, schaue und warte.

q »Er lacht des Unglücks der Unschuldigen.« Schweigen


Gottes. Die irdischen Geräusche ahmen dieses Schweigen

nach. Sie wollen nichts sagen. Wenn wir bis in die innerste
Faser eines Lautes bedürfen, der etwas sagt, wenn wir
schreien um eine Antwort, und sie uns verweigert wird, dann

berühren wir das Schweigen Gottes. Gewöhnlich legt unsere


Einbildungskraft Worte in die Geräusche hinein, wie man

aus Rauchwolken müßig spielend sich Gestalten bildet. Aber

wenn wir allzu erschöpft sind, wenn wir nicht mehr das Herz

haben, zu spielen, dann bedürfen wir wirklicher Worte. Wir

schreien danach. Der Schrei zerreißt unser Innerstes. Nichts


antwortet uns als das Schweigen. Nach dieser Erfahrung
beginnen die einen, wie die Irren mit sich selbst zu reden.

Was sie her-

205
nach auch tun, man soll für sie nur Mitleid haben. Die

wenigen anderen weihen ihr ganzes Herz dem Schweigen.

Der Atheismus als Läuterung

q Fälle wahrer Widersprüche. Gott existiert, Gott existiert


nicht. Worin besteht das Problem? Ich bin völlig gewiß, daß

es einen Gott gibt, insofern ich völlig gewiß bin, daß meine
Liebe keine Täuschung ist. Ich bin völlig gewiß, daß es keinen
Gott gibt, insofern ich völlig gewiß bin, daß nichts Wirkliches

dem gleicht, was ich mir vorstellen kann, wenn ich diesen
Namen ausspreche. Doch das, was ich mir nicht vorstellen

kann, ist keine Täuschung.

q Es gibt zwei Arten des Atheismus, deren eine eine


Läuterung unseres Begriffes von Gott ist. Vielleicht daß alles,

was böse ist, unter einem anderen Gesichtspunkt eine


Läuterung auf dem Fortschritt zum Guten und unter einem
dritten das höhere Gute ist.

Drei Gesichtspunkte, die wohl zu unterscheiden sind, denn


es ist für das Denken und die praktische Lebensführung sehr
gefährlich, sie zu verwechseln.

q Von zwei Menschen ohne Gotterfahrung ist der, welcher

ihn leugnet, ihm vielleicht am nächsten.

206
Der falsche Gott, der in allem dem wahren gleicht, mit
Ausnahme dessen, daß man ihn nicht berührt, verwehrt auf
immer den Zugang zu dem wahren.

An einen Gott glauben, der in allem dem wahren gleicht,

außer daß er nicht existiert, denn man befindet sich nicht an

dem Punkte, an dem Gott existiert.

q Die Irrtümer unseres Zeitalters sind ein Christentum


ohne Übernatur. Ursache ist der Laizismus - und zuvor der

Humanismus.

q Insoweit als die Religion ein Quell des Trostes ist, ist sie
ein Hindernis für den wahren Glauben: in diesem Sinne ist

der Atheismus eine Läuterung. Ich soll Atheist sein mit dem
Teil meiner selbst, der nicht für Gott gemacht ist. Unter den
Menschen, bei denen der übernatürliche Teil ihrer selbst

nicht erweckt ist, haben die Atheisten recht, und die


Gläubigen haben unrecht.

q Ein Mensch, dessen sämtliche Angehörigen unter der

Folter umgekommen wären, der selbst lange Zeit in einem


Konzentrationslager gefoltert worden wäre. Oder ein Indio

des sechzehnten Jahrhunderts, der als einziger der völligen


Ausrottung seines ganzen Volksstammes entronnen wäre.

Wenn solche Menschen an die

207
Barmherzigkeit Gottes geglaubt haben, so glauben sie nun
entweder nicht mehr daran oder ihre Vorstellung davon hat
sich von Grund auf, verwandelt. Ich habe dergleichen nicht
durchgemacht. Aber ich weiß, daß es vorkommt: folglich,
welcher Unterschied?

Ich soll danach trachten, von der göttlichen Barmherzigkeit


eine Vorstellung zu haben, die unauslöschlich ist, die sich

nicht ändert, was auch das Schicksal über mich verhängen


mag, und die sich jedem beliebigen menschlichen Wesen mit-
teilen läßt.

Die Aufmerksamkeit und der Wille

q Nicht neue Dinge begreifen wollen, sondern durch immer


größere Geduld, Anstrengung und Methode dahin gelangen,
die offenkundigen Wahrheiten mit seinem ganzen Selbst zu
begreifen.

q Stufen des Glaubens. Die allergewöhnlichste Wahrheit,

wenn sie die ganze Seele durchdringt, ist wie eine


Offenbarung.

q Versuchen, seinen Fehlern durch die Aufmerksamkeit

abzuhelfen und nicht durch den Willen. Der Herrschaft des


Willens unterstehen nur einige Bewegungen einiger

Muskeln, die mit der Vorstellung einer Ortsveränderung

erreich-

208
barer Gegenstände verknüpft sind. Ich kann meine Hand
flach auf den Tisch legen wollen. Wäre die innerliche
Reinheit, oder die Inspiration, oder die Wahrheit im Denken
notwendig mit einem derartigen Verhalten verknüpft, so
könnten sie Gegenstand des Willens sein. Da dies keineswegs

der Fall ist, so können wir sie nur erflehen. Sie erflehen,
heißt glauben, daß wir einen Vater im Himmel haben. Oder

sollte man aufhören, sie zu begehren? Was könnte ärger


sein? Das innerliche Flehen ist allein Vernünftig, denn es
vermeidet die Anspannung von Muskeln, die hier nichts zu

suchen haben. Was könnte törichter sein, als die Muskeln zu


ver-krampfen und die Kiefer zusammenzubeißen, wenn es
sich um Tugend, oder um Poesie, oder um die Lösung eines

Problems handelt? Die Aufmerksamkeit ist etwas völlig


anderes. Der Stolz ist eine solche Verkrampfung. Dem
Stolzen fehlt die Charis [in der doppelten Bedeutung des
Wortes als Gnade und Anmut]. Dies ist die Folge eines

Irrtums.
Auf ihrer höchsten Stufe ist die Aufmerksamkeit das gleiche

wie das Gebet. Sie setzt den Glauben und die Liebe voraus.

q Die von jeder Beimischung ganz und gar gereinigte

Aufmerksamkeit ist Gebet.

q Wendet man das Auge der Einsicht auf das Gute, so ist es

unmöglich, daß nicht nach und

209
nach die ganze Seele unwillkürlich von dem Zug zum Guten
ergriffen wird.

q Das schöpferische Vermögen im Menschen entspringt der


höchsten Aufmerksamkeit, und diese höchste

Aufmerksamkeit wird immer eine religiöse sein. Die Menge


schöpferischer Genialität eines Zeitalters ist auf das
strengste der Menge höchster Aufmerksamkeit proportional,

das heißt also, der Menge authentischer Religion in diesem


Zeitalter.

q Schlechte Art des Suchens. Aufmerksamkeit, die an einem


Problem haften bleibt. Auch dies ist ein Phänomen des

horror vacui. Man will sich nicht vergeblich bemüht haben.

Hartnäckiger Jagdeifer. Man soll nicht finden wollen: wie im


Falle einer übertriebenen Ergebenheit gerät man in

Abhängigkeit von dem Gegenstand der Bemühung. Man


bedarf eines äußerlichen Lohnes, den der Zufall manchmal

gewährt und den man um den Preis einer Entstellung der

Wahrheit zu empfangen bereit ist.

Einzig die Bemühung, die nichts verlangt [die keinem


Gegenstand verhaftet ist], schließt unfehlbar einen Lohn in
sich.
Vor dem Gegenstand, den man verfolgt, zurückweichen. Nur

das mittelbare Handeln ist -wirksam. Man erreicht nichts,

wenn man zuvor nicht zurückweicht.

210
Wer an der Traube zerrt, verstreut die Beeren auf den

Boden.

q Es gibt Bemühungen, die das Gegenteil des verfolgten

Zwecks erreichen [Beispiel: verbitterte Frömmlerinnen,


falsche Askese, gewisse Aufopferungen usw.]. Andere sind
immer von Nutzen, selbst wenn sie ihr Ziel nicht erlangen.
Worin unterscheiden sie sich? Vielleicht darin: die einen

sind mit der Leugnung des innerlichen Elends verbunden


[die immer verlogen ist]. Die anderen mit einer Auf-

merksamkeit, die den Abstand zwischen dem, was man ist,


und dem, was man liebt, unablässig vor Augen hat.

q Die Liebe belehrt Götter und Menschen, denn niemand


lernt ohne Verlangen zu lernen. Die Wahrheit wird erstrebt,

nicht insofern sie Wahrheit, sondern insofern sie ein Gut ist.
Die Aufmerksamkeit ist an das Verlangen geknüpft. Nicht an
den Willen, sondern an das Verlangen. Oder, noch genauer,

an die Einwilligung.

q Man setzt Energie in sich frei. Aber sie gerät unaufhörlich

in neue Verhaftung. Wie gelangt man dahin, sie gänzlich zu


befreien? Man muß begehren, daß dies in uns geschehe. Dies

wirklich begehren. Es bloß begehren, nicht ver-

211
suchen, es zu vollbringen. Denn jeder Versuch in dieser
Richtung ist eitel und wird teuer bezahlt. Bei einem solchen
Werk muß alles, was ich »ich« nenne, sich passiv verhalten.
Von mir wird nichts gefordert als die Aufmerksamkeit, eine
so völlige Aufmerksamkeit, daß das »ich« verschwindet.

Allem, was ich »ich« nenne, das Licht der Aufmerksamkeit


entziehen und es auf das Unvorstellbare richten.

q Das Vermögen, einen Gedanken ein für allemal zu


vertreiben, ist die Pforte der Ewigkeit. Das Unendliche in

einem Augenblick.

q Den Versuchungen gegenüber sich die sehr keusche Frau


zum Vorbild nehmen, die den Verführer, wenn er zu ihr

spricht, keiner Antwort würdigt und sich stellt, als höre sie
ihn nicht.

q Wir sollen Gut und Böse mit gleichem Sinne gelten lassen,
aber wenn wir so gleichen Sinnes sind, daß heißt, wenn wir

das Licht der Aufmerksamkeit gleichermaßen auf das eine


wie auf das andere richten, dann gewinnt automatisch das

Gute die Oberhand. Dies ist die wesentliche Gnade. Und dies

ist die Definition, das Kriterium des Guten.


Eine göttliche Eingebung bringt unfehlbar, unwiderstehlich

eine Wirkung hervor, wenn man die Aufmerksamkeit nicht

von ihr abwendet,

212
wenn man sie nicht zurückweist. Man braucht sich nicht zu
ihren Gunsten zu entscheiden, es genügt, die Anerkenntnis
nicht zu verweigern, daß sie ist.

q Wendet man die Aufmerksamkeit mit Liebe auf Gott -


oder, auf einer niedrigeren Stufe, auf jedes wahrhaft Schöne

so werden gewisse Dinge unmöglich. Derart wirkt das nicht-


handelnde Handeln des Gebetes in der Seele. Es gibt Ver-
haltungsweisen, die diese Aufmerksamkeit trüben würden,

wenn sie einträten, und die eben diese Aufmerksamkeit


ihrerseits unmöglich macht.

q Sobald man einen Punkt Ewigkeit in der Seele hat, hat


man nichts weiter zu tun, als ihn zu bewahren, denn er

wächst aus sich selber wie ein Samenkorn. Man muß rings
um ihn ständig auf der Wacht sein, in voller Rüstung und re-
gungslos, und seine Wachsamkeit nähren mit der
Betrachtung der Zahlen, der festen und strengen
Verhältnisse.

Man nährt das Unveränderliche in der Seele durch die

Betrachtung des Unveränderlichen in der Körperwelt.

q Man schreibt, wie man niederkommt; man kann nicht

umhin, die äußerste Anstrengung zu leisten. Aber man


handelt auch geradeso. Ich

213
brauche nicht zu befürchten, daß ich es an der äußersten
Anstrengung fehlen lassen werde. Unter der einzigen
Bedingung, daß ich mich nicht belüge und aufmerksam
bleibe.

q Der Dichter bringt das Schöne dadurch hervor, daß er die


Aufmerksamkeit auf Wirkliches gerichtet hält. Ebenso

verhält es sich mit dem Akt der Liebe. Zu wissen, daß dieser
Mensch, der hungert und dürstet, in Wahrheit genau so
existiert wie ich - das genügt, das Weitere folgt von selbst.
Die echten und reinen Werte des Wahren, Schönen und
Guten im Tun und Handeln eines Menschen werden durch

ein und denselben Akt hervorgebracht: durch eine gewisse


Anwendung der Fülle der Aufmerksamkeit auf den
Gegenstand. Der Unterricht sollte nur den Zweck haben, die
Möglichkeit eines solchen Aktes durch die Übung der
Aufmerksamkeit vorzubereiten. Alle übrigen Vorteile des
Unterrichts sind belanglos.

q Studium und Glaube. Da das Gebet nichts anderes ist als

die Aufmerksamkeit in ihrer reinsten Form und da jedes


Studium eine Gymnastik der Aufmerksamkeit darstellt, so

soll jede Schulübung ein Widerschein des geistlichen Lebens


sein. Hierzu bedarf es einer Methode. Eine bestimmte Art,

einen Text aus dem Lateinischen

214
au übersetzen, eine bestimmte Art, eine geometrische
Aufgabe zu lösen [und nicht irgend eine beliebige Art],
stellen eine geeignete Gymnastik der Aufmerksamkeit dar,
um ihre Fähigkeit zum Gebet zu steigern.

q Methode zum Verständnis der Bilder, der Symbole usw.


Nicht versuchen, sie auszudeuten, sondern sie so lange

betrachten, bis das Licht herausbricht.


Ganz allgemein Methode zur Übung der Vernunfteinsicht,
welche darin besteht, daß man sehen lernt.
Anwendung dieser Methode, um Wirklichkeit und
Scheinhaftigkeit zu unterscheiden. Ist man bei einer

sinnlichen Wahrnehmung dessen, was man sieht, nicht


sicher, so verändert man, es im Auge behaltend, seinen
Standort, und das Wirkliche erscheint. Im inneren Leben gilt

an Stelle des Raumes die Zeit. Mit der Zeit verändert man
sich, und wenn man, durch diese Veränderungen hindurch,
den Blick beständig auf das gleiche gerichtet hält, so löst die

Täuschung sich auf, und das Wirkliche erscheint. Bedingung

ist, daß die Aufmerksamkeit ein Schauen und kein Anhaften


sei.

q Liegt der an eine Verpflichtung gebundene Wille mit

einem bösen Begehren im Widerstreit, so wird die an das

Gute gebundene Energie ver-

215
braucht. Man muß den Biß der Begierde passiv ertragen wie
ein Leiden, das einen sein Elend empfinden läßt, und die
Aufmerksamkeit unverwandt auf das Gute gerichtet halten.
Dann findet auf der Qualitätsleiter der Energien eine
Erhöhung statt.

Den Begierden ihre Energie entziehen, indem man ihnen


ihre Richtung auf zeitliche Ziele nimmt.

q Unsere Begierden sind unendlich in ihren Ansprüchen,


aber durch die Energie, die sie speist, sind sie der

Beschränkung unterworfen. Deshalb sind wir unter Beistand


der Gnade imstande, sie zu meistern und sie durch Abnut-
zung zu zerstören. Hat man dies einmal klar und deutlich

begriffen, so hat man sie virtuell besiegt, wenn man die


Aufmerksamkeit mit dieser Wahrheit in Berührung erhält.

q Video meliora... In einem solchen Zustand scheint es, daß


man das Gute denke, und in einem Sinne denkt man es auch,

aber man denkt seine Möglichkeit nicht mit.

q Die Leere, die man mit der Zange des Widerspruchs

erfaßt, ist unbestreitbar die Leere von oben, denn man erfaßt
sie desto besser, je mehr man die natürlichen Fähigkeiten
der Einsicht, des Willens und der Liebe schärft. Die Leere

216
von unten hingegen ist jene, in die man hinabstürzt, wenn
man die natürlichen Fähigkeiten in sich verkümmern läßt.

q Die Erfahrung des Transzendenten: dies scheint ein


Widerspruch in sich selbst zu sein, und dennoch kann das

Transzendente nur durch die Berührung erkannt werden,


weil unsere Fähigkeiten nicht imstande sind, es hervorzu-
bringen.

q Einsamkeit. Worin besteht denn ihr Wert? Denn man


befindet sich in Gegenwart der bloßen Materie [selbst der

Himmel, die Sterne, der Mond, die blühenden Bäume], in


Gegenwart von Dingen, die [vielleicht] von geringerem Wert
sind als ein menschlicher Geist. Der Wert der Einsamkeit

liegt in der Ermöglichung einer höheren Aufmerksamkeit.


Wenn man des gleichen Grades der Aufmerksamkeit in

Gegenwart eines menschlichen Wesens fähig wäre ...

q Von Gott können wir nur eines wissen: daß er das ist, was

wir nicht sind. Dies erkennen wir allein im Bilde unseres


Elends. Je mehr wir dieses betrachten, je mehr betrachten

wir ihn.

q Die Sünde ist nichts anderes als die Verkennung des

menschlichen Elends. Sie ist unbewußtes Elend und gerade


dadurch schuldhaft. Die

217
Geschichte Christi ist der Experimentalbeweis, daß das
menschliche Elend unaufhebbar ist, daß es bei dem
Menschen, der völlig ohne Sünde ist, ebenso groß ist wie bei
dem Sünder. Es ist nur erhellt...

Die Erkenntnis des menschlichen Elends ist schwierig für

den Reichen, den Mächtigen, weil er fast unwiderstehlich zu

dem Glauben neigt, daß er etwas sei. Sie ist gleichfalls

schwierig für den Unglücklichen, weil er fast unwiderstehlich

zu dem Glauben neigt, daß der Reiche, der Mächtige etwas

sei.

q Nicht das Vergehen begründet die Todsünde, sondern der


Grad des Lichtes, der in der Seele ist, wenn das Vergehen, es

mag sein, was es will, vollbracht wird.

q Die Reinheit ist das Vermögen, die Befleckung zu


betrachten.

q Die höchste Reinheit kann sowohl das Reine wie das

Unreine betrachten; die Unreinheit kann weder das eine


noch das andere: die Reinheit ängstigt sie, die Unreinheit

verschlingt sie. Sie bedarf einer Mischung.

218
Dressur

q Man muß das Mögliche vollbringen, um das Unmögliche


zu berühren. Die richtige, pflichtgemäße Ausübung der

natürlichen Fähigkeiten des Willens, der Liebe und der


Erkenntnis ist hinsichtlich der geistlichen Wirklichkeiten

genau dasselbe wie die Bewegung des Körpers hinsichtlich


der Wahrnehmung der sinnlichen Gegenstände. Ein völlig
Gelähmter macht keine Wahrnehmungen.

q Die Erfüllung unserer strikten menschlichen Pflicht


gehört der gleichen Ordnung an wie die Korrektheit beim

Schreiben, Übersetzen, Rechnen usw. Diese Korrektheit


vernachlässigen ist ein Mangel an Achtung vor dem
Gegenstand. Ebenso die Vernachlässigung der Pflicht.

q Nur die Dinge, die von der Eingebung abhängen, reifen


durch Aufschub. Was unsere natürliche Pflicht ist und von

unserem Willen abhängt, duldet keinen Aufschub.

q Die Vorschriften sind nicht um ihrer Ausübung willen

gegeben, sondern ihre Ausübung ist vorgeschrieben, damit


die Vorschriften einsichtig werden. Sie sind Tonleitern. Man
spielt Bach nicht, ohne Tonleitern geübt zu haben. Aber man

übt die Tonleiter nicht um der Tonleiter willen.

219
q Dressur. - Bei jedem unwillkürlichen Gedanken des
Stolzes, über dem man sich ertappt, den vollen Blick der
Aufmerksamkeit einige Augenblicke lang auf die Erinnerung
an eine Demütigung seines vergangenen Lebens lenken und
hierzu möglichst die bitterste, die unerträglichste wählen.

q Man soll nicht versuchen, Begierden und Abneigungen,


Lust und Schmerz in sich zu ändern oder auszumerzen. Man

soll sie passiv hinnehmen wie die Farbempfindungen und


ohne ihnen eine größere Wichtigkeit beizumessen. Wenn die
Scheibe meines Fensters rot ist, so kann ich nicht anders,
und redete ich mir auch ein Jahr lang Tag und Nacht zu, als
mein Zimmer in einer rosigen Beleuchtung sehen. Ich weiß

auch, daß es notwendig, richtig und gut ist, daß ich es so


sehe. Gleichzeitig messe ich dieser Farbe als einer Auskunft
nur eine beschränkte Wichtigkeit bei, denn ich weiß ja, daß
sie durch die Beschaffenheit des Glases bedingt ist. So und
nicht anders sind alle Arten von Begierde und Abneigung,
von Lust und Schmerz, die in mir auftreten, hinzunehmen.

Da man anderseits auch ein Prinzip der Gewalt in sich hat,

nämlich den Willen, so soll man in beschränktem Maße


[doch in völliger Erfüllung dieses Maßes] dieses
Gewaltprinzip auch gewaltsam zur Anwendung bringen; sich

gewaltsam

220
zwingen, so zu handeln, als besäße man diese oder jene
Begierde oder Abneigung nicht, ohne dabei zu versuchen, das
Gefühl überzeugen zu wollen, indem man es zum Gehorsam
zwingt. Dann widersetzt sich das Gefühl, und es gilt, diese
Widersetzlichkeit passiv hinzunehmen, sie zu kosten, sie

auszukosten, sie wie etwas Äußerliches hinzunehmen, wie


die rosige Beleuchtung des Zimmers, dessen Fensterscheibe

rot ist. Jedesmal, wenn man sich in diesem Geiste Gewalt


antut, bedeutet dies, daß man in der Dressur des Tieres in
einem selbst einen kleineren oder größeren, aber einen

wirklichen Fortschritt gemacht hat.


Es versteht sich, daß diese Gewalt gegen sich selbst, um
wirklich die Dressur zu fördern, ein bloßes Mittel bleiben

muß. Wenn man einen Hund dressiert, um ihn zu allerlei


Geschicklichkeiten abzurichten, so gibt man ihm die Peitsche
nicht um der Peitsche willen, sondern um ihn abzurichten,
und man schlägt ihn nur dann, wenn ihm ein Stückchen

mißrät. Schlägt man ihn ohne Methode, so macht man ihn


schließlich zu jeder Dressur untauglich, und dies ist auch die

Folge einer falschen Askese.


Gewaltanwendungen gegen sich selbst sind nur dann

statthaft, wenn die Vernunft sie befiehlt [im Hinblick auf die

Ausführung dessen, was man klar und deutlich als seine

Pflicht erkannt hat] - oder aber, wenn ein unwiderstehlicher

221
Anstoß der Gnade sie uns vorschreibt [aber dann geht die
Gewalt nicht von einem selbst aus].

q Meine Schwierigkeiten rühren daher, daß ich aus


Erschöpfung, aus Mangel an Lebenskraft unterhalb des

Niveaus der normalen Aktivität bin. Und wenn mich etwas


packt und mich aufhebt, bin ich oberhalb. Dann schiene es
mir schade, diese Zeit in gewöhnlichen Tätigkeiten zu ver-

geuden. In den anderen Augenblicken müßte ich mir eine


Gewalt antun, die ich von mir aus aufzubringen außerstande
bin. Ich könnte die hieraus sich ergebende Anomalie meines
Betragens hinnehmen. Aber ich weiß, ich glaube zu wissen,
daß ich es nicht soll. Diese Anomalie ist die Ursache von

Unterlassungssünden gegen andere. Und mich selber hält sie


gefangen.
Welche Methode also?
((Zitat in griechischer Schrift))1

Ich soll mich bemühen, das Gefühl der Anstrengung in ein

passives Gefühl des Erleidens umzuwandeln. Wie ich mich


auch stelle, wenn Gott mir ein Leiden schickt, so bin ich wohl

gezwungen, alles zu leiden, was zu leiden ist. Weshalb also

angesichts der Pflicht nicht gleichermaßen alles tun, was zu


tun ist?

q Berge, Felsen, fallet über uns und verberget uns ferne von

dem Zorn des Lammes!

1 »Willst du, so kannst du mich reinigen.« Mk. 1, 40

222
Ich verdiene in diesem Augenblick diesen Zorn. Nicht
vergessen, daß nach dem heiligen Johannes vom Kreuz die
Eingebungen, die uns von der Erfüllung der einfachen und
niedrigen Obliegenheiten ablenken, von der schlimmen Seite
kommen.

Die Pflicht ist uns gegeben, um das Ich abzutöten. Und ein so
kostbares Werkzeug lasse ich verrosten.

Man muß seine Pflicht im vorgeschriebenen Augenblick


erfüllen, um an die Wirklichkeit der Außenwelt zu glauben.
Man muß an die Wirklichkeit der Zeit glauben. Anders

träumt man nur.


Vor Jahren schon habe ich diesen folgenschweren Fehler in
mir erkannt und bisher nichts getan, ihn zu beseitigen.

Welche Entschuldigung könnte ich finden?


Hat dieses Übel nicht seit meinem zehnten Lebensjahr
beständig in mir zugenommen? Doch wie groß es auch sein
mag, es ist nicht unendlich. Das genügt. Wenn es so groß ist,

daß es mich jeder Möglichkeit beraubt, es im Laufe dieses


Lebens auszutilgen und also den Stand der Vollkommenheit

zu erreichen, so muß auch dies mit liebender Ergebung


hingenommen werden, wie alles, was ist. Es genügt mir, zu

wissen, daß es ist, daß es schlecht ist, daß es endlich ist. Aber

jedes dieser drei Dinge und alle zusammen wirklich zu

wissen, ist selber schon der Beginn

223
und die ununterbrochene Weiterführung des Prozesses der
Auslöschung. Wenn dieser Prozeß nicht eintritt, dann ist dies
ein Zeichen, daß ich eben das, was ich hier niederschreibe, in
Wahrheit nicht weiß.
Die nötige Kraft ist in mir vorhanden, da ich deren zum

Leben habe. Ich muß sie mir entreißen, und sollte ich daran
sterben.

q Es gibt nur ein einziges vollkommenes Kriterium des


Guten und des Bösen: das ununterbrochene innere Gebet.

Alles, was dieses Gebet nicht unterbricht, ist erlaubt; alles,


was es unterbricht, ist verboten. Es ist unmöglich, andern
Böses zuzufügen, wenn man im Zustand des Gebetes handelt.

Unter der Bedingung, daß es wahres Gebet sei. Aber ehe man
dahin gelangt, muß man seinen Eigenwillen an der Befolgung
der Regeln abgenutzt haben.

q Die Hoffnung ist die Erkenntnis, daß das Böse in uns


endlich ist und daß die geringste Hinwendung der Seele auf

das Gute, dauerte sie auch nur einen Augenblick, ein wenig

des Bösen austilgt, und daß, im geistlichen Bereich, jedes


Gute unfehlbar Gutes erzeugt. Die das nicht wissen, sind der

Qual der Danaiden geweiht.

q Im Bereich des rein Geistlichen erzeugt das Gute

unfehlbar Gutes und das Böse unfehlbar

224
Böses. Im Bereich des Natürlichen hingegen [die
psychologischen Vorgänge mit einbegriffen] erzeugen das
Gute und das Böse sich wechselseitig. So ist man niemals in
Sicherheit, solange man den geistlichen Bereich noch nicht
erreicht hat - eben jenen Bereich, wo man sich nichts durch

sich selber verschaffen kann, wo man alles anderswoher


erwartet.

Vernunfteinsicht und Gnade

q Wir wissen vermittels der Vernunfteinsicht, daß


dasjenige, was die Vernunft nicht erfaßt, wirklicher ist als

dasjenige, was sie erfaßt.

q Der Glaube ist die Erfahrung, daß die Vernunfteinsicht


durch die Liebe erleuchtet wird. Diese Erkenntnis des

Vorrangs der Liebe aber soll die Vernunft mit ihren eigenen
Mitteln erwerben, das heißt: durch Feststellung und Be-

weisführung. Sie soll sich nicht unterwerfen, sie wisse denn

warum, und zwar auf eine vollkommen bestimmte und klare


Weise. Andernfalls ist ihre Unterwerfung ein Irrtum und

dasjenige, dem sie sich unterwirft, welchen Namen man ihm

auch anhefte, etwas anderes als die übernatürliche Liebe.

Zum Beispiel der Einfluß des Sozialen.

q Im Bereich der Vernunfteinsicht ist die Tu-

225
gend der Demut nichts anderes als das Vermögen der
Aufmerksamkeit.

q Die falsche Demut führt zu dem Glauben, daß man als

man selbst, als dieses bestimmte menschliche Wesen, Nichts

sei.
Die wahre Demut ist die Erkenntnis, daß man als
menschliches Wesen und, noch allgemeiner, als Geschöpf

überhaupt Nichts ist. Hier hat die Vernunft einen


bedeutenden Anteil. Man muß das Universale denken.

q Hört man eine Musik von Bach oder einen


gregorianischen Choral, so schweigen alle Fähigkeiten der

Seele und recken sich aus, dieses vollkommen Schöne zu


erfassen, jede auf ihre Weise. Unter anderen auch die

Vernunfteinsicht: sie findet hier nichts zu bejahen oder zu

verneinen, aber sie wird gespeist.


Soll nicht auch der Glaube eine Zustimmung dieser Art sein?

Man erniedrigt die Mysterien des Glaubens, wenn man sie zu

Gegenständen der Bejahung oder Verneinung macht,

während sie ein Gegenstand der Beschauung sein sollen.

q Die Vernunfteinsicht hat das Vorrecht empfangen, eine


besondere Rolle in der wahren Liebe zu spielen, weil die

Vernunft ihrer Natur nach etwas ist, das eben dadurch, daß
es in Tätig-

226
keit tritt, sein Selbstsein aufgibt. Ich kann mich mühen, die
Wahrheiten zu erreichen, aber wenn sie einmal da sind, sind
sie und bedürfen nicht meines Zutuns.
Nichts kommt der wahren Demut näher als die
Vernunfteinsicht. Es ist unmöglich, auf seine Vernunft stolz

zu sein, in dem Augenblick, da man sie wirklich in Tätigkeit


setzt. Und wenn man sie in Tätigkeit setzt, ist man schon von

ihr abgelöst. Denn man weiß, daß - würde man selbst auch im
nächsten Augenblick und für den Rest seines Lebens zum
Idioten - die Wahrheit fortfährt, zu sein.
V

q Die Mysterien des katholischen Glaubens sind nicht so


beschaffen, daß sie von allen Teilen der Seele geglaubt

werden sollen. Die Gegenwart Christi in der Hostie ist auf


andere Weise Tatsache, als die Seele Pauls in Pauls Körper
gegenwärtig ist [beides ist übrigens dem Verständnis völlig

unfaßbar, doch nicht auf die nämliche Weise]. Die


Eucharistie soll demnach kein Gegenstand des Glaubens für
jenen Teil meiner selbst sein, der auf die Erfassung des

Tatsächlichen gerichtet ist. Hierin liegt das Teil Wahrheit des


Protestantismus. Aber diese Gegenwart Christi in der Hostie

ist kein Symbol, denn ein Symbol ist die Verbindung einer

Abstraktion mit einem Bilde, etwas, das der menschlichen


Vernunft als Vorstellung einsichtig ist,

227
es ist nicht übernatürlich. Und hierin haben die Katholiken

recht, nicht die Protestanten. Nur der Teil unserer selbst, der

für das Übernatürliche geschaffen ist, soll diesen Mysterien

zustimmen.

Der Anteil der Vernunft - jenes Teiles unserer selbst, der

bejaht und verneint, der Behauptungen aufstellt - ist einzig

die Unterwerfung. Alles, was ich als wahr begreife, ist

minder wahr als diese Dinge, deren Wahrheit mir

unbegreiflich ist, die ich aber liebe. Der heilige Johannes

vom Kreuz nennt den Glauben eine Nacht. Bei denen, die

eine christliche Erziehung erhalten haben, heften sich die

unteren Teile der Seele an diese Mysterien, während sie doch

kein Anrecht darauf haben. Deshalb bedürfen sie einer

Läuterung, deren Stufen der heilige Johannes vom Kreuz

beschreibt. Der Atheismus, der Unglaube stellen ein

Äquivalent dieser Läuterung dar.

q Das Verlangen, Neues zu entdecken, verhindert uns, die

Gedanken auf die transzendente, unvorstellbare Bedeutung

des schon Entdeckten zu richten. Mein völliger Mangel an

Begabung, der mir dieses Verlangen verbietet, ist eine große

Gunst, die ich empfangen habe. Die Anerkenntnis und

Hinnahme des Fehlens intellektueller Gaben zwingt zu einem

uneigennützigen Gebrauch der Vernunft.

228
q Der Gegenstand der Forschung soll nicht das
Übernatürliche sein, sondern die Welt. Das Übernatürliche
ist das Licht: macht man es zu einem Gegenstand, so
erniedrigt man es.

q Die Welt ist ein Text mit mehrfachen Bedeutungen, und


man gelangt von einer Bedeutung zur andern durch eine

Arbeit. Eine Arbeit, an der immer auch der Körper beteiligt


ist, wie wenn man das Alphabet einer fremden Sprache
erlernt: dieses Alphabet muß der Hand durch beständiges
Schreiben der Buchstaben geläufig werden. Ohne dieses ist
jede Veränderung unserer Denkungsart eine Täuschung.

q Es ist nicht erforderlich, daß man sich zwischen


verschiedenen Ansichten entscheidet: man soll sie alle gelten
lassen, aber sie auf entsprechenden Ebenen einander über-
und unterordnen.

So etwa: Zufall, Schicksal, Vorsehung.

q Die Vernunft kann das Mysterium nicht durchdringen, sie

kann jedoch und sie allein kann beurteilen, ob die Worte, die
es ausdrücken, angemessen sind. Zu diesem Gebrauch muß

sie scharfsinniger, durchdringender, strenger und


unnachsichtiger sein als zu jedem anderen.

q Die Griechen glaubten, daß allein die Wahrheit den

göttlichen Dingen angemessen sei, nicht

229
der Irrtum oder das Ungefähr, und der Umstand, daß etwas
göttlich war, spornte sie zu der Forderung nach vermehrter
Genauigkeit an. [Wir tun genau das Gegenteil, verbildet, wie
wir sind, durch unsere Gewöhnung der Propaganda]. Weil
sie in der Geometrie eine göttliche Offenbarung erblickten,

deshalb haben sie die strenge Beweisführung erfunden...

q Im Bereich der Beziehungen zwischen dem Menschen und


dem Übernatürlichen muß man nach einer mehr als

mathematischen Präzision streben: es gilt hier die


Genauigkeit der Wissenschaft zu übertreffen1.

Das Rationale im Sinne des Descartes, das heißt: der

Mechanismus, die menschlicherweise vorstellbare


Notwendigkeit, soll überall, wo es angeht, vorausgesetzt
werden, um dasjenige ins rechte Licht zu setzen, was sich

nicht darauf zurückführen läßt.


Der Gebrauch der Vernunft macht die Dinge durchsichtig für

den Geist. Aber man sieht nicht das Durchsichtige. Man sieht

das Opake durch das Durchsichtige hindurch, das Opake, das


solange verborgen war, als das Durchsichtige noch nicht

durchsichtig war. Man sieht entweder den

1 Auch dies ist einer von jenen Widersprüchen, die nur im Unaussprechlichen
eine Lösung finden: das mystische Lehen, das nur von dem göttlichen
Beliehen abhängt, ist dennoch strengen Gesetzen unterworfen. Der heilige
Johannes vom Kreuz konnte den Reiseweg der Seele zu Gott unter einem
geometrischen Schema beschreiben. [Anmerkung des Herausgebers.]

230
Staub auf der Fensterscheibe oder die Landschaft dahinter,
niemals aber die Scheibe selbst. Das Abwischen des Staubes
dient nur dazu, die Landschaft zu sehen. Die Vernunft soll
ihre Tätigkeit nur ausüben, um zu den wahren Mysterien zu
gelangen: zu den wahren Unbeweis-barkeiten, die das
Wirkliche sind. Das Unbegriffene verbirgt das
Unbegreifliche, und deshalb soll es beseitigt werden.

q Die Wissenschaft muß heute eine Quelle der Eingebung


oberhalb ihrer selbst suchen, oder sie wird zugrunde gehen.

Die Wissenschaft bietet nur dreierlei Vorteile: 1. die


technischen Anwendungen; 2. Schachspiel; 3. Weg zu Gott.
[Der Reiz des Schachspiels wird erhöht durch Wettbewerbe,

Preise und Auszeichnungen.]

q Pythagoras. Einzig diese mystische Auffassung der


Geometrie war imstande, den für die Anfänge dieser

Wissenschaft erforderlichen Grad von Aufmerksamkeit zu


liefern. Ist es nicht überdies eine anerkannte Tatsache, daß
die Astronomie aus der Astrologie, die Chemie aus der

Alchimie hervorgegangen ist? Aber man deutet diese


Nachfolge als einen Fortschritt, während es sich um einen

Verfall der Aufmerksamkeit handelt. Die transzendente

Astrologie und Alchimie sind die Betrachtung der ewigen

231
Wahrheiten in den Symbolen, die uns die Gestirne und die
Verbindungen der Substanzen bieten. Astronomie und
Chemie sind nur ihre Verfallserscheinungen. Astrologie und
Alchimie als magische Praktiken sind noch niedrigere Ver-
fallserscheinungen. Die Fülle der Aufmerksamkeit wird nur

in der religiösen Aufmerksamkeit erreicht.

q Galilei. Da die moderne Wissenschaft von der


unbegrenzten Bewegung in gerader Richtung ausging und
nicht mehr von der Kreisbewegung, konnte sie keine Brücke
zu Gott mehr sein.

q Die philosophische Reinigung der katholischen Religion

hat niemals stattgefunden. Um dies zu unternehmen, müßte

man drinnen und draußen sein.

Lesarten1

q Die andern. Jedes menschliche Wesen [Bild unserer

selbst] als ein Gefängnis wahrnehmen, in dem ein


Gefangener wohnt, mit dem ganzen All ringsum.

q Elektra, die Tochter eines mächtigen Vaters, zur Sklavin

erniedrigt, ohne andere Hoffnung

1 Im Geiste Simone Weils bedeutet diese Vokabel soviel wie: gefühlsmäßige


Auslegung, konkretes Werturteil. Ich sehe zum Beispiel einen Mann, der über
eine Mauer klettert: instinktiv [und vielleicht zu Unrecht] »lese« ich in ihm
einen Dieb. [Anmerkung des Heraus. Gebers]

232
als auf ihren Bruder, erblickt einen jungen Mann, der ihr den
Tod dieses Bruders meldet - und eben im Augenblick des
tiefsten Jammers offenbart dieser junge Mann sich als ihr
Bruder. »Sie glaubte, es sei der Gärtner.« In einem Unbe-
kannten seinen Bruder erkennen, in dem Weltall Gott

erkennen.

q Gerechtigkeit. Beständig zu der Annahme bereit sein, daß


ein anderer etwas anderes ist als das, was man in ihm liest,

wenn er zugegen ist [oder wenn man an ihn denkt], Oder


vielmehr in ihm lesen, daß er gewiß etwas anderes, vielleicht
etwas völlig anderes ist als das, was man in ihm liest.

Jedes Wesen ist ein stummer Schrei danach, anders gelesen

zu werden.

q Man liest, aber man wird auch von andern gelesen.


Interferenzen dieser Lesarten. Jemanden zwingen, sich

selbst zu lesen, wie man ihn liest [Sklaverei]. Die anderen


zwingen, einen zu lesen, wie man sich selbst liest

[Eroberung]. Mechanismus. Meistens ein Gespräch zwischen

Leuten, die taub sind.

q Die Nächstenliebe und die Ungerechtigkeit lassen sich nur

durch Lesarten bestimmen - und sind derart jeder


Bestimmung entzogen. Das Wunder des guten Schachers
bestand nicht darin,

233
daß er an Gott dachte, sondern daß er Gott in seinem
Nachbarn erkannte. Petrus vor dem Hahnenschrei erkannte
Gott nicht mehr in Christus.
Andere lassen sich für falsche Propheten töten, in denen sie -
zu Unrecht - Gott lesen. Wer kann sich schmeicheln, daß er

recht liest? Man kann ungerecht sein aus dem Willen, die
Gerechtigkeit zu beleidigen, oder infolge einer schlechten

Lesart der Gerechtigkeit. Fast immer ist aber das zweite der
Fall. Welche Liebe der Gerechtigkeit schützt uns vor einer
schlechten Lesart?

Worin besteht der Unterschied zwischen dem Gerechten und


dem Ungerechten, wenn alle sich immer in
Übereinstimmung mit ihrer Lesart der Gerechtigkeit

verhalten?
Jeanne d'Arc: die heute große Reden über sie führen, hätten
sie fast alle verurteilt. Aber ihre Richter haben nicht die
Heilige, die Jungfrau usw. verurteilt, sondern die Hexe, die

Ketzerin usw1.

Ursache falscher Lesarten: die öffentliche Meinung, die


Leidenschaften.
Die öffentliche Meinung ist eine sehr mächtige Ursache. Man

liest in der Geschichte der Jeanne d'Arc, was die öffentliche

Meinung der Zeit genossen diktiert.

1 Siehe die Texte des Evangeliums, welche die Urheber irriger »Lesarten«
betreffen: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen ..nicht, was sie tun!« »Es
kommt aber die Stunde, daß, wer euch tötet, wird meinen, er tue Gott einen
Dienst damit.« [Anmerkung des Herausgebers.]

234
Aber sie war schwankend. Und Christus ...
In den fingierten moralischen Problemen fehlt die

Verleumdung.

Welche Hoffnung bleibt der Unschuld, wenn man sie

verkennt?

q Lesarten. All unser Lesen - wenn nicht eine besondere


Qualität der Aufmerksamkeit vorhanden ist - unterliegt der
Schwerkraft. Man liest die Meinungen, die die Schwerkraft
uns suggeriert [überwiegender Anteil der Leidenschaften

und des sozialen Konformismus an unseren Urteilen über


Menschen und Ereignisse]. Mit einer höheren Qualität der
Aufmerksamkeit liest man die Schwerkraft selbst, und

verschiedene Systeme des möglichen Gleichgewichts.

q Lesarten, die sich überlagern: hinter der sinnlichen


Wahrnehmung die Notwendigkeit lesen, hinter der

Notwendigkeit die Ordnung, hinter der Ordnung Gott lesen.

q »Richtet nicht!« Christus selbst richtet nicht. Er ist das

Gericht. Die leidende Unschuld als das Maß.

Urteil, Perspektive. In diesem Sinne richtet jedes Urteil den,

der es fällt. Nicht urteilen. Das ist keine Gleichgültigkeit oder


Enthaltung, das ist das transzendente Urteil, die

Nachahmung des göttlichen Gerichts, das uns nicht möglich


ist.

235
Der Ring des Gyges1

q Die anderen Kulturen. Ihre Mängel sollen die

Unzulänglichkeit der Religionen beweisen, auf denen diese

Kulturen beruhen. Doch es ließen sich wohl in den letzten

zweitausend Jahren europäischer Geschichte zumindest

gleichwertige Mängel finden. Die Zerstörung amerikanischer

Kulturen durch Hinschlachtungen und der afrikanischen

durch die Sklaverei, die Hinmetzelung der Albigenser im

Süden Frankreichs wiegen wohl die Homosexualität in

Griechenland oder die orgiastischen Riten des Orients auf.

Man behauptet jedoch, dergleichen Schändlichkeiten seien in

Europa trotz der Vollkommenheit des Christentums möglich

gewesen, während man sie bei den anderen Kulturen der

Unvollkommenheit ihrer Religion zur Last legt. Ein

ausgezeichnetes Beispiel für den Mechanismus des Irrtums,

das einer langen Betrachtung würdig ist. Bei Seite setzen.

Beurteilt man Indien oder Griechenland, so setzt man das

Schlechte in Beziehung zum Guten. Beurteilt man das

Christentum, so setzt man das Schlechte beiseite2.

1 Vgl. Plato, Politeia, II. Buch


2 Simone Weil erläutert hier eine tiefe Wahrheit mit Hilfe eines ziemlich
schlecht gewählten Beispiels. Wenn das Verhalten eines Christen [zum
Beispiel eines Inquisitors] grausam ist, so darf man feststellen, daß er trotz
seiner Religion derart handelt, denn diese gebietet vor allem die
Nächstenliebe. Aber wenn ein Nazi ebenso handelt, darf man sein Verhalten
[zumindest teilweise] seiner Lehre

236
Man setzt beiseite, ohne es zu wissen; und eben darin liegt

die Gefahr. Oder, was noch schlimmer ist, man setzt durch

einen Willensakt beiseite, aber durch einen Willensakt, den

man sich selbst verhehlt. Und nachher weiß man nicht mehr,

daß man beiseite gesetzt hat. Man will es nicht wissen, und

weil man es nicht wissen will, gelangt man zuletzt dahin, daß

man es nicht wissen kann.

Diese Fähigkeit des Beiseitesetzens erlaubt jegliches

Verbrechen. Sie liefert den Schlüssel zur schrankenlosen

Willkür für alles, was über den Bereich hinausliegt,

innerhalb dessen Erziehung und Dressur feste Verbindungen

hergestellt haben. Hieraus erklärt sich, daß die Menschen

sich häufig so widerspruchsvoll verhalten, namentlich

jedesmal dann, wenn das Soziale, die Kollektivgefühle

[Krieg, Völker- und Klassenhaß, Patriotismus einer Partei,

einer Kirche usw.] mit ins Spiel kommen. Alles, was das

Prestige der gemeinschaftlichen Sache deckt, wird an eine

andere Stelle als das übrige gesetzt und aus gewissen

Beziehungen herausgelöst. Man bedient sich des gleichen

Schlüssels, wenn man dem Anreiz zur Lust nachgibt.

Ich bediene mich seiner, wenn ich die Erfüllung einer Pflicht

von Tag zu Tag hinausschiebe.

zur Last legen, denn diese rechtfertigt die Grausamkeit. [Anmerkung des
Herausgebers.]

237
Ich trenne die Verpflichtung von dem Ablauf der Zeit.
Nichts ist wünschenswerter, als diesen Schlüssel

fortzuwerfen. Man müßte ihn auf den Grund eines Brunnens

hinabwerfen, von dem man ihn niemals wieder heraufholen

könnte. Der Ring des unsichtbar gewordenen Gyges ist eben

jener Akt des Beiseitesetzens. Sich und das Verbrechen, das

man begeht, beiseite zu setzen. Die Beziehung zwischen

beiden nicht herzustellen.

Der Akt, durch den man den Schlüssel, den Ring des Gyges,

fortwirft, ist die dem Willen zukommende Anstrengung, es

ist der schmerzhafte und blinde Gang aus der Höhle hinaus.

Gyges. Ich bin König geworden, und der vorige König ist

ermordet worden. Keinerlei Beziehung zwischen diesen

beiden Tatbeständen. Wirkung des Ringes.

Der Inhaber einer Fabrik. Ich habe diese und jene

kostspieligen Genüsse, und meine Arbeiter leiden Not. Er

mag ein durchaus aufrichtiges Mitleid für seine Arbeiter

empfinden und trotzdem die Beziehung nicht herstellen.

Denn eine Beziehung entsteht nur dann, wenn das Denken

sie herstellt. Zwei und zwei bleiben immer zwei und zwei,

wenn das Denken sie nicht zu der Summe von vier

zusammenfügt. Wir hassen die Leute, die uns veranlassen

möch-

238
ten, Beziehungen herzustellen, die wir nicht herstellen
wollen.

Die Gerechtigkeit besteht darin, in analogen Dingen


identische Beziehungen zwischen homothetischen Begriffen
herzustellen, selbst wenn gewisse dieser Dinge uns

persönlich angehen und für uns der Gegenstand einer


Verhaftung sind.

Diese Tugend hat ihre Stelle an jenem Punkt, wo das

Natürliche und das Übernatürliche sich berühren. Sie gehört


dem Bereich des Willens und der klaren Vernunfteinsicht,
also noch der Höhle an [denn unsere Klarheit ist Finsternis],
aber man kann sich nicht in ihr erhalten, wenn man nicht in
das Licht hinaustritt.

Der Sinn des Universum1

q Wir sind ein Teil, der das Ganze nachahmen soll.

q Der Atman. Die Seele eines Menschen nehme sich das


ganze Universum zum Körper. Sie stehe zu dem ganzen

Universum in dem nämlichen Verhältnis wie ein Sammler zu

seiner Sammlung, wie einer der Soldaten, die sterbend rie-

1 Die Gleichsetzung der Seele mit dem Weltall hat hier nichts mit dem
Pantheismus zu tun. Man kann die blinde Notwendigkeit, die das Universum
lenkt, nur hinnehmen, wenn man aus Liebe dem Gott anhängt, der dem
Universum transzendent ist. Vgl. S.200: »Diese Welt, insofern sie Gottes
gänzlich leer ist, ist Gott selbst.« [Anmerkung des Herausgebers.]

239
fen: »Es lebe der Kaiser!«, zu Napoleon. Die Seele verlegt
sich, aus dem eigenen Körper, in etwas anderes hinein.
Verlege sie sich also in das ganze Universum.
Sich mit dem Universum selbst gleichsetzen. Alles, was
weniger ist als das Universum, ist dem Leiden unterworfen.

Ich mag sterben, das Universum dauert fort. Das ist kein
Trost für mich, wenn ich etwas anderes bin als das

Universum. Ist jedoch das Universum meiner Seele wie ein


anderer Leib, dann hört mein Tod auf, für mich von größerer
Bedeutung zu sein als der eines Unbekannten. Ebenso meine

Leiden.

q Das ganze Universum möge, im Verhältnis zu meinem


Körper, das sein, was der Stab eines Blinden im Verhältnis
zu seiner Hand ist. Sein Empfindungsvermögen hat wirklich
seinen Sitz aus der Hand in den Stab verlegt. Hierzu bedarf
es einer Lehrzeit.

Seine Liebe auf das reine Subjekt beschränken und sie auf
das ganze Universum ausdehnen, das ist das gleiche.

Das Verhältnis zwischen sich und der Welt ändern, wie sich
für den Arbeiter durch die Lehrzeit das Verhältnis zwischen

ihm und dem Werkzeug ändert. Verletzung: »das Handwerk:

geht ihm in den Leib«. Möge jedes Leiden das Universum in


den Körper eindringen lassen.

240
Gewohnheit, Geschicklichkeit: Verlagerung des Bewußtseins
in einen anderen Gegenstand als den eigenen Körper.
Möge dieser Gegenstand das All sein, die Jahreszeiten, die
Sonne, die Sterne. Das Verhältnis zwischen Körper und
Werkzeug verändert sich im Verlauf der Lehrzeit. Es gilt, das

Verhältnis zwischen dem Körper und der Welt zu verändern.


Man löst sich nicht ab, der Gegenstand der Verhaftung

wechselt. Sich allem verhaften. Durch jede Empfindung


hindurch das All empfinden. Was macht es dann aus, ob man
Lust oder Schmerz empfindet? Wenn ein geliebter Mensch,

den man nach langer Zeit wiedersieht, uns die Hand drückt,
was macht es, ob er die Hand gewaltsam preßt und uns weh
tut? Ein Grad des Schmerzes, bei dem man die Welt verliert.

Danach aber lindert er sich. Und wenn der Paroxysmus


wiederkehrt, so kehrt nachher auch die Linderung wieder.
Eben dieser Grad wird, wenn man das weiß, Erwartung der
Linderung und unterbricht infolgedessen nicht die

Berührung mit der Welt. Diese Berührung ist die Freude.

q Zwei äußerste Tendenzen: Zerstörung des Ich zugunsten

des Universums oder Zerstörung des Universums zugunsten

des Ich. Wem es nicht gelungen ist, nichts zu werden, der


läuft Gefahr,

241
daß für ihn ein Augenblick eintritt, wo alle Dinge, die nicht er

sind, aufhören zu existieren.

q Äußere Notwendigkeit oder inneres Bedürfnis, beide


gebieterisch wie das Atemschöpfen. »Laßt uns zum Atem der

Weltmitte werden!« Selbst wenn ein Brustschmerz einem das


Atmen äußerst schmerzhaft macht, so atmet man doch, man
kann nicht anders.

q Den Lebensrhythmus des Körpers an dem Rhythmus der


Welt teilnehmen lassen, diese Teilnahme beständig

empfinden und auch den fortwährenden Austausch von


Stofflichem empfinden, durch den das menschliche Wesen in

der Welt schwimmt.

Was einem menschlichen Wesen, solange es lebt, durch


nichts genommen werden kann: als Bewegung, die durch den

Willen beeinflußbar ist, das Atmen; als Wahrnehmung der


Raum [selbst in einem Kerker, selbst geblendet und des
Gehörs beraubt, hat der Mensch, solange er lebt, die

Wahrnehmung des Raumes], Hiermit die Gedanken

verknüpfen, von denen man begehrt, daß sie uns durch keine
Umstände geraubt werden können.

q Seinen Nächsten lieben wie sich selbst, heißt nicht, alle


Wesen auf gleiche Weise lieben, denn ich liebe auch nicht
alle Daseinsweisen meiner

242
selbst auf gleiche Weise. Heißt auch nicht, sie niemals leiden
machen, denn ich weigere mich nicht, mich selbst leiden zu
machen. Sondern heißt: zu einem jeden in dem Verhältnis
stehen, in welchem eine Weise, das .Universum zu denken,
zu einer anderen Weise, das Universum zu denken, steht,

und nicht in dem Verhältnis, in welchem sie zu einem Teil


des Universums steht.

q Ein Geschehnis der Welt nicht hinnehmen, heißt

wünschen, daß die Welt nicht sei. Nun, das steht für mich in

meiner Gewalt; wenn ich es wünsche, wird es mir gewährt.

Dann bin ich ein Abszeß der Welt.,

Wünsche in den Volksmärchen: die Wünsche sind deshalb

gefährlich, weil sie erhört werden. Wünschen, daß die Welt

nicht sei, heißt wünschen, daß ich, so wie ich bin, alles sei.

q Möchte doch das ganze Weltall, von diesem Kieselstein zu


meinen Füßen bis zu den fernsten Sternen, für mich in jedem

Augenblick ebensosehr existieren als Agnes für Arnolphe


oder die Schatztruhe für Harpagon!1 Wenn ich will, kann mir

die Welt gehören wie dem Geizigen der Schatz.


Doch dies ist ein Schatz, der sich nicht vermehrt.

q Dieses unaufhebbare »ich«, das der unaufheb-

1 Die Hauptfigur in Molières Komödie „Der Geizige“

243
bare Grund meines Leidens ist, universal werden lassen.

q Was liegt daran, ob niemals Freude in mir ist, da doch in


Gott unaufhörlich vollkommene Freude ist! Und das gleiche

gilt für die Schönheit, die Einsicht und alle Dinge.

q Es ist schlecht, sein Heil zu wünschen, nicht weil es


egoistisch ist [es liegt nicht in der Macht des Menschen,

egoistisch zu sein], sondern weil es die Seele auf eine bloße,


bedingte Teilmöglichkeit richten heißt, statt auf die Fülle des
Seins, statt auf das unbedingte Gute.

q Alles, was ich begehre, existiert oder hat existiert oder


wird irgendwo einmal existieren. Denn ich bin außerstande,

etwas in allen Stücken zu erfinden. Wie also sollte ich nicht


Genüge finden?

q Br. Ich konnte nicht anders: in meiner Vorstellung weilte


er noch unter den Lebenden; ich dachte an sein Haus als an

eine Stätte, wo ich immer noch seinen anmutigen


Gesprächen lauschen könnte. Da verwandelte das

Bewußtsein, daß er ja gestorben war, dies alles in eine gräß-

liche Wüste. Metallische Kälte. Was lag mir daran, daß es


noch andere Menschen gab, die ich lieben konnte? Meine auf
ihn gerichtete Liebe und was sie an, inneren Entwürfen mit

sich

244
führte, an Möglichkeiten menschlichen Austauschs, die nur
mit ihm gegeben waren - dies alles war nun gegenstandslos.
Heute stelle ich ihn mir nicht mehr als lebend vor, und sein
Tod ist mir nicht mehr unerträglich. Die Erinnerung an ihn
tut mir wohl. Aber es gibt andere Menschen, die ich damals

noch nicht kannte, und deren Tod die gleiche Wirkung auf
mich hätte.

D. ist nicht gestorben, aber die Freundschaft, die ich für ihn
empfand, ist unter ähnlichen Schmerzen gestorben. Er ist

nur noch ein Schatten.

Aber ich kann mir die gleiche Verwandlung nicht vorstellen,

wenn ich an X..., Y —, Z ... denke, die dennoch bis vor kurzem

für mein Bewußtsein nicht vorhanden waren. Wie Eltern sich

nicht vorstellen können, daß ein Kind drei Jahre vorher noch

ein Nichts war, ebenso ist es unmöglich, sich vorzustellen,

man habe die Wesen, die man liebt, nicht schon seit je

gekannt.

Meine Liebe ist nicht die rechte, scheint mir; sonst wäre es

anders darum bestellt. Meine Liebe wäre nicht an einige

Wesen gefesselt. Sie wäre für alles verfügbar, was irgend

Liebe verdient. »Seid vollkommen wie euer Vater im Him-

mel...« Liebt, wie die Sonne scheint. Man muß seine Liebe in

sich zurückholen, um sie auf alle

245
Dinge auszudehnen. Gott allein liebt alle Dinge, und er liebt

nur sich.

In Gott zu lieben, ist sehr viel schwieriger, als man glaubt.

q Ich kann das ganze All mit meinem Elend besudeln und
dieses Elend nicht empfinden, oder dieses Elend ganz in

mich zusammenfassen.

q Das Mißverhältnis zwischen der Einbildung und dem

Sachverhalt ertragen. »Ich leide.« Das ist besser als: »Diese

Landschaft ist häßlich.«

q Nicht sein eigenes Gewicht auf der Waage der Welt

verändern wollen - auf der goldenen Waage des Zeus.

q Die ganze Kuh ist ein Milchspender, obgleich man die

Milch nur aus dem Euter zieht. Ebenso bringt die Welt

Heiligkeit hervor.

Metaxy

q Alle erschaffenen Dinge weigern sich, mir als Ziele zu

gelten. Hierin liegt die höchste Barmherzigkeit Gottes gegen

mich. Und eben das ist das Übel. Gottes Barmherzigkeit

erscheint in dieser Welt unter der Gestalt des Übels.

246
q Diese Welt ist die verschlossene Türe. Sie ist eine
Schranke. Und zugleich ist sie der Durchgang.

q Zwei Gefangene in benachbarten Zellen, die durch


Klopfzeichen gegen die Mauer miteinander verkehren. Die

Mauer ist das Trennende zwischen ihnen, aber sie ist auch
das, was ihnen erlaubt, miteinander zu verkehren. Das
gleiche gilt für uns und Gott. Jede Trennung ist eine

Verbindung.

q Indem wir all unser Verlangen nach dem Guten in eine


Sache verlegen, machen wir diese Sache zu einer

Vorbedingung unserer Existenz. Aber wir machen sie darum


noch nicht zu einem Gut. Wir wollen immer etwas anderes

als existieren.

q Es ist den erschaffenen Dingen wesenhaft, Vermittlungen


zu sein. Sie sind Vermittlungen, die einen zu den andern, und

dies ohne Ende. Sie sind Vermittlungen zu Gott. Sie als


solche empfinden.

q Die »Brücken« der Griechen. - Wir haben sie von ihnen

geerbt. Aber wir kennen ihren Gebrauch nicht mehr. Wir


haben geglaubt, sie seien dazu bestimmt, daß man Häuser

darauf baue. Wir haben auf ihnen Wolkenkratzer errichtet,

247
denen wir unaufhörlich neue Stockwerke aufsetzen. Wir
wissen nicht mehr, daß es Brücken sind, etwas, über das man
hinübergeht, und daß man über sie zu Gott gelangt.

q Nur wer Gott mit einer übernatürlichen Liebe liebt, ist


imstande, die Mittel nur als Mittel zu betrachten.

q Die Macht [und das Geld, dieser Passe-partout der Macht]


ist das reine Mittel. Eben darum ist sie das höchste Ziel all

derer, die nicht begriffen haben.

q Diese Welt, als der Bereich der Notwendigkeit, bietet uns


schlechthin nichts anderes als Mittel. Unser Wollen wird

unaufhörlich von einem Mittel zu einem anderen


weitergestoßen wie eine Billardkugel.

Jedes Verlangen ist in sich widerspruchsvoll wie das nach

Speise. Ich möchte, daß der, den ich liebe, mich wieder liebt.
Aber wenn er mir völlig ergeben ist, existiert er nicht mehr,
und ich höre auf, ihn zu lieben. Insoweit er mir nicht völlig

ergeben ist, liebt er mich nicht genug. Hunger und Sättigung.

q Das Begehren ist schlecht und lügnerisch, und dennoch,

ohne das Begehren gäbe es kein Streben nach dem wahrhaft


Absoluten, dem wahr-

248
haft Unbegrenzten. Man muß hindurchgegangen sein.
Unglück derer, die die Ermüdung jener überschüssigen
Energie beraubt, welche der Quell des Begehrens ist.
Unglück auch derer, die die Begierde verblendet.
Man muß sein Begehren an die Achse der Pole anklammern.

q Die Zerstörung welcher Dinge ist frevelhaft? Nicht des


Niedrigen, denn das ist bedeutungslos. Nicht des Hohen,

denn, wollte man es auch zerstören, es ist unserem Zugriff


entzogen. Also die Zerstörung der metaxy. Die metaxy sind
der Bereich des Guten und Schlechten. Kein Menschenwesen

seiner metaxy berauben, das heißt: jener vermischten und


relativen Güter [Heim, Vaterland, Überlieferungen, Kultur

usw.], welche die Seele wärmen und nähren und ohne


welche, außerhalb der Heiligkeit, ein menschliches Leben
nicht möglich ist.

q Die wahren Erdengüter sind metaxy. Man kann die Güter

anderer nur in dem Maße achten, als man die, die man selbst
besitzt, nur als metaxy betrachtet; was bedeutet, daß man

schon zu jenem Punkt hin unterwegs ist, wo man sie

entbehren kann. Um zum Beispiel fremde Vaterländer


achten zu können, muß man sein eigenes Vaterland nicht zu

einem Götzen machen, sondern zu einer Sprosse zu Gott.

249
q Alle Vermögen in freier Wirksamkeit und ohne sich zu
vermischen, ihren Ausgang nehmend von einem innersten
Urprinzip. Das ist der Mikrokosmos, die Nachahmung der
Welt. Christus nach dem heiligen Thomas. Der Gerechte in
Platos Staat. Wenn Plato von der Spezialisierung spricht, so

meint er die besondere Ausbildung der Fähigkeiten im


Menschen und nicht die Besonderung der Menschen; das

nämliche gilt für die Hierarchie. - Das Zeitliche als das, was
nur durch und für das Geistliche einen Sinn hat, ihm aber
nicht vermischt ist. Was durch die Sehnsucht über das

Zeitliche hinaus zum Geistlichen führt. Dies ist das Zeitliche


als Brücke, als metaxy. Dies war die Berufung der Griechen
und Provenzalen.

q Griechische Kultur. Keine Anbetung der Gewalt. Das


Zeitliche war nur eine Brücke. In den seelischen Zuständen

suchte man nicht die Heftigkeit, sondern die Reinheit.

Schönheit

q Die Schönheit ist der Einklang zwischen dem Zufälligen


und dem Guten.

q Das Schöne ist das Notwendige, welches in völliger


Übereinstimmung mit seinem eigenen Gesetz, und mit ihm

allein, dem Guten gehorcht.

250
q Gegenstand der Wissenschaft: das Schöne [das heißt: die
Ordnung, die Proportion, die Harmonie], soweit es über-
sinnlich und notwendig ist.

Gegenstand der Kunst: das sinnliche und bedingte Schöne,

wahrgenommen durch das Netz des Zufalls und des Übels

hindurch.

q Das Schöne in der Natur: Vereinigung des sinnlichen


Eindrucks mit dem Gefühl der Notwendigkeit. Das soll so

sein [an erster Stelle], und genau so ist es.

q Die Schönheit verführt das Fleisch, um die Erlaubnis zu

erhalten, in die Seele einzudringen.

q Das Schöne umfaßt, unter anderen Vereinigungen der


Gegensätze, die des Augenblicklichen mit dem Ewigen.

q Das Schöne ist das, was man betrachten kann. Eine

Statue, ein Gemälde, die man stundenlang anschauen kann.


Das Schöne ist etwas, bei dem die Aufmerksamkeit verweilen
kann.

Gregorianische Musik. Wenn man Tag für Tag und täglich

viele Stunden lang die gleichen Gesänge singt, dann wird


selbst das, was nur ein wenig unterhalb der höchsten

Vortrefflichkeit liegt, unerträglich und wird ausgestoßen.

251
Die Griechen betrachteten ihre Tempel. Wir ertragen die

Standbilder im Garten des Luxembourg, weil wir sie nicht

anschauen. Ein solches Gemälde, daß man es in der Zelle

eines zu lebenslänglicher Einzelhaft Verurteilten aufhängen

könnte, ohne daß dies eine Marter wäre, im Gegenteil.

q Wahrhaft schön ist einzig das unbewegliche Theater. Die

Tragödien Shakespeares sind zweiten Ranges, mit Ausnahme

des »Lear«. Die Racines dritten Ranges, mit Ausnahme der

»Phaedra«. Die Corneilles n-ten Ranges.

q Ein Kunstwerk hat einen Urheber, und dennoch, wenn es

vollkommen ist, eignet ihm etwas wesenhaft Anonymes. Es

ahmt die Anonymität der göttlichen Kunst nach. So beweist

die Schönheit der Welt einen zugleich persönlichen und

unpersönlichen Gott, der doch weder das eine noch das

andere ist.

q Das Schöne ist ein fleischlicher Reiz, der in Entfernung

hält und einen Verzicht fordert. Miteinbegriffen den

innerlichsten Verzicht: die Selbstverleugnung der

Einbildungskraft. Alles, was man sonst noch begehrt, will

man essen. Das Schöne ist das, was man begehrt, ohne es

essen zu wollen. Wir begehren, daß es sei.

252
q Regungslos verharren und sich mit dem vereinigen, was
man begehrt und dem man nicht näher kommt.
Derart ist die Vereinigung mit Gott: man kann sich ihm nicht
nähern.
Der Abstand ist die Seele des Schönen.

Schauen und Warten ist das Verhalten, das dem Schönen


angemessen ist. Solange man noch vorstellen, wollen,

wünschen kann, erscheint das Schöne nicht. Darum liegen in


aller Schönheit unaufhebbar Widerspruch, Bitterkeit,
Abwesenheit.

q Poesie: unmögliche Schmerzen und Freuden.


Herzzerreißende Sehnsucht. Derart ist die provenzalische

und die englische Dichtung. Eine Freude, die schmerzt, weil


sie so rein und unvermischt ist. Ein Schmerz, der besänftigt,
weil er so rein und unvermischt ist.

q Schönheit: eine Frucht, die man betrachtet, ohne die


Hand nach ihr auszurecken. Ebenso ein Unglück, das man

betrachtet, ohne zurückzuweichen.

q Zweifache Bewegung des Herabstiegs: aus Liebe

wiederholen, was sonst die Schwerkraft bewirkt. Ist die


zweifache Bewegung des Herabstiegs nicht der Schlüssel
jeder Kunst?1

1 Descendit ad inferos . . . Ebenso erlöst, in einer anderen Ordnung, die große


Kunst die Schwerkraft dadurch, daß sie sich aus Liebe mit ihr vereinigt.
[Anmerkung des Herausgebers.]

253
q Die herabsteigende Bewegung, dieser Spiegel der Gnade,
ist die Essenz aller Musik. Das Übrige dient nur zu ihrer

Einfassung. Das Aufwärtssteigen der Noten ist ein bloß

sinnlicher Aufstieg. Das Abwärtssteigen ist zugleich


sinnlicher Abstieg und geistlicher Aufstieg. Dies ist das

Paradies, das jedes Wesen begehrt: daß der natürliche Hang

es aufsteigen lasse zu dem Guten.

q In allem, was das reine und echte Gefühl des Schönen in


uns weckt, ist Gott wirklich gegenwärtig. Es gibt gleichsam

eine Art Inkarnation Gottes in der Welt, deren Merkmal die


Schönheit ist.
Das Schöne ist der Experimentalbeweis, daß die Inkarnation

möglich ist.
Deshalb ist jede Kunst höchsten Ranges ihrem Wesen nach
religiöse Kunst [was man heutzutage nicht mehr weiß]. Eine

gregorianische Melodie ist ebensosehr ein Zeugnis als der


Tod eines Märtyrers.

q Ist das Schöne wirkliche Gegenwart Gottes im Stoff, ist die

Berührung mit dem Schönen im vollen Sinne des Wortes ein


Sakrament, woher gibt es dann so viele perverse Ästheten?

Nero. Gleicht das etwa dem Hunger der Liebhaber schwarzer

Messen nach den geweihten Hostien? Oder aber, was

wahrscheinlicher ist,

254
hängen jene Leute nicht vielmehr statt dem echten Schönen
einer schlechten Nachahmung an? Denn wie es eine göttliche
Kunst gibt, so gibt es auch eine dämonische Kunst. Gewiß
war es diese, welche Nero liebte. Ein großer Teil unserer
Kunst ist dämonisch.

Ein leidenschaftlicher Liebhaber der Musik kann sehr wohl


ein perverser Mensch sein - aber es fiele mir schwer, dies von

jemand zu glauben, der nach dem gregorianischen Gesang


dürstet.

q Wir müssen wohl Verbrechen begangen haben,


derentwegen wir zu Verfluchten geworden sind; denn wir

haben alle Poesie des Universums verloren.

q Die Kunst hat augenblicklich keine Zukunft, weil alle


Kunst gemeinschaftlich ist und es kein gemeinschaftliches

Leben mehr gibt [es gibt nur noch tote Kollektive], und auch
deshalb, weil das wahrhafte Bündnis zwischen Leib und

Seele zerbrochen ist. Die griechische Kunst traf zeitlich

zusammen mit den Anfängen der Geometrie und den


athletischen Wettspielen, die mittelalterliche Kunst mit dem
Handwerk, die Kunst der Renaissance mit den Anfängen der

Mechanik, usw. ... Seit 1914 ist der Bruch vollständig. Selbst

die Komödie ist fast unmöglich: nur für die Satire ist noch

Raum [wann war es jemals leichter, Juvenal zu verstehen?].

Die Kunst kann nur aus dem Schoß der großen Anarchie
wiedergeboren werden – sie wird vermutlich eine epische
Kunst sein, denn das Unglück wird sehr vieles vereinfacht

255
haben... Es ist daher gänzlich müßig, daß du Leonardo da
Vinci, oder Bach beneidest. Die Größe unserer Tage muß
andere Bahnen einschlagen. Sie kann übrigens nur einsam,
im Dunkel verborgen und ohne Echo sein ... [aber: keine
Kunst ohne Echo].

Algebra

q Geld, Mechanisierung, Algebra. Die drei Ungeheuer der


gegenwärtigen Zivilisation. Völlige Analogie.

q Algebra und Geld sind wesensmäßig nivellierende

Faktoren, die erste geistig, das andere tatsächlich.

q Seit etwa fünfzig Jahren hat das Leben der


provenzalischen Bauern aufgehört, dem der griechischen

Bauern zu gleichen, wie Hesiod sie beschrieben hat. Um die


gleiche Zeit Zerstörung der Wissenschaft, so wie die
Griechen sie verstanden. Das Geld und die Algebra haben

gleichzeitig den Sieg davongetragen.

q Der Zusammenhang zwischen dem Zeichen und dem

Bezeichneten verfällt; der fortwährende

256
Austausch der Zeichen untereinander vervielfältigt sich
durch sich selbst und um seiner selbst willen. Und die
wachsende Komplikation fordert wiederum Zeichen für
Zeichen...

q Unter den Kennzeichen der modernen Welt nicht


vergessen, daß es in ihr unmöglich geworden ist, den Bezug

zwischen der aufgewendeten Mühe und dem Ergebnis dieses


Aufwandes konkret zu denken. Zu viele Zwischenglieder. Wie
in den übrigen Fällen liegt dieser Bezug, der in keinem

Gedanken liegt, in einer Sache: dem Geld,

q Da das kollektive Denken als Gedanke nicht existieren


kann, geht es in die Sachen über [Zeichen, Maschinen ...].

Daher dieses Paradox: daß die Sache denkt und der Mensch
zu einer Sache herabgesunken ist.

q Es gibt kein kollektives Denken. Zum Ersatz ist unsere


Wissenschaft kollektiv wie unsere Technik. Spezialisierung.
Man erbt nicht nur Resultate, sondern auch Methoden, die

man nicht versteht. Übrigens ist beides untrennbar, denn die


Resultate der Algebra liefern den übrigen Wissenschaften

Methoden.

q Die Bestandsaufnahme oder die Kritik unserer

Zivilisation vornehmen, was heißt das?

257
Versuchen, sich auf eine genaue Weise Aufschluß darüber zu

verschaffen, in welcher Schlinge sich der Mensch gefangen,

daß er zum Sklaven seiner eigenen Hervorbringungen

wurde. Woher hat sich die Unbewußtheit in sein

methodisches Denken und Handeln eingeschlichen? Die

Flucht in das primitive Leben ist eine Lösung der Trägheit. Es

gilt, das ursprüngliche Bündnis zwischen Geist und Welt

inmitten der Zivilisation, in der wir leben,

wiederherzustellen. Dies ist indessen eine Aufgabe, die zu

vollbringen unmöglich ist, wegen der Kürze des

menschlichen Lebens und weil es unmöglich ist, die rechten

Mitarbeiter zu finden und die rechte Nachfolge zu sichern.

Was jedoch kein Grund ist, sie nicht in Angriff zu nehmen.

Wir befinden uns sämtlich in einer ähnlichen Lage wie

Sokrates, als er in seinem Kerker den Tod erwartete und die

Leier zu spielen lernte ... Zumindest wird man gelebt haben...

q Wenn der Geist dem Gewicht der Quantität erliegt, bleibt

ihm kein anderes Kriterium als die Wirksamkeit.

q Das moderne Leben ist der Maßlosigkeit ausgeliefert.

Alles ist der Maßlosigkeit verfallen: Tun und Denken,


öffentliches und privates Leben. Daher der Verfall der Kunst.

Überall ist das Gleichgewicht verlorengegangen. Die katho

lische Bewegung ist zum Teil eine Reaktion dagegen: die

Zeremonien der katholischen Kirche wenigstens sind intakt

258
geblieben. Aber sie stehen auch in keiner Beziehung mehr zu
dem übrigen Dasein.

q Der Kapitalismus hat die Befreiung der menschlichen


Kollektivität von der Natur verwirklicht. Aber in bezug auf

den Einzelnen hat diese Kollektivität ihrerseits nun die

Funktion der Unterdrückung übernommen, die vorher die


Natur ausübte.

Das gilt sogar in materieller Hinsicht. Feuer, Wasser und so


weiter. All dieser Naturkräfte hat sich nun die Kollektivität
bemächtigt. Frage: wie kann man diese von der Gesellschaft
errungene Freiheit auf den Einzelnen übertragen?

Der soziale Buchstabe ...

q Der Mensch ist insoweit Sklave, als zwischen seinem Tun


und dessen Wirkung, zwischen seiner Mühe und dem Werk

ein fremder Wille eingeschaltet ist.


Das gilt heute sowohl für den Sklaven als auch für den Herrn.

Niemals steht der Mensch den Bedingungen seiner eigenen


Tätigkeit gegenüber. Die Gesellschaft schiebt sich als eine
Scheidewand zwischen die Natur und den Menschen.

259
q Der Natur und nicht den Menschen gegenüber zu stehen,
das ist die einzige Disziplin. Von einem fremden Willen
abhängen, heißt Sklave sein. Dies aber ist das Schicksal aller
Menschen. Der Sklave ist von dem Herrn und der Herr von
dem Sklaven abhängig. Eine Lage, die den Menschen zu

einem Flehenden oder einem Tyrannen oder zu beidem


gleichzeitig macht [omnia serviliter pro dominationej.

Angesichts der trägen Natur jedoch bleibt keine andere Hilfe,


als zu denken.

q Der Begriff der Unterdrückung ist eigentlich eine


Dummheit: man braucht nur die Ilias zu lesen. Und mit um

so größerem Recht der Begriff einer Klasse von


Unterdrückern. Man kann nur von einer
Unterdrückungsstruktur der Gesellschaft sprechen.

q Unterschied zwischen dem Sklaven und dem Bürger

[Montesquieu, Rousseau]: der Sklave ist seinem Herrn und


der Bürger den Gesetzen unterworfen. Wobei übrigens der

Herr sehr milde und die Gesetze sehr hart sein können: das

ändert nichts. Alles liegt in dem Abstand zwischen der


Willkür und der Regel. Warum ist die Unterordnung unter

die Willkür Sklaverei? Der letzte Grund liegt in dem Zu-

sammenhang zwischen der Seele und der Zeit. Wer der

Willkür unterworfen ist, hängt am Fa-

260
den der Zeit; er wartet [die demütigendste Lage], was der
nächste Augenblick bringen wird. Er verfügt nicht über seine
Augenblicke; die Gegenwart ist für ihn kein Hebel mehr, der
auf die Zukunft wirkt.

q Den Dingen gegenüber zu stehen, befreit den Geist. Den


Menschen gegenüber zu stehen, erniedrigt, wenn man von

ihnen abhängt, und dies gleichviel, ob diese Abhängigkeit in


der Form der Unterwürfigkeit oder ob sie in der Form des
Befehls auftritt.

Warum diese Menschen zwischen der Natur und mir?


Niemals mit einem unbekannten Denken rechnen zu müssen
... [denn dann ist man dem Zufall ausgeliefert].

Heilmittel: wo du nicht durch brüderliche Bande an die

Menschen gebunden bist, sie nur als ein Schauspiel


behandeln und niemals Freundschaft suchen. Inmitten der
Menschen leben wie in jenem Waggon zwischen Saint-
Etienne und Le Puy... Vor allem sich niemals erlauben, von

Freundschaft zu träumen. Alles muß bezahlt werden. Zähle

nur auf dich selbst.

q Wenn die Unterdrückung einen gewissen Grad erreicht


hat, fangen die Mächtigen notwendig an, sich von ihren

Sklaven anbeten zu lassen. Denn der Gedanke, einem

unausweichlichen

261
Zwang unterworfen, das Spielzeug eines anderen Wesens zu
sein, ist für den Menschen unerträglich. Sieht er sich also
aller Hilfsmittel beraubt, diesem Zwang zu entrinnen, so
bleibt ihm kein anderer Ausweg, als sich zu überreden, daß
er eben die Dinge, zu denen man ihn zwingt, freiwillig leiste,

mit anderen Worten also, die Ergebenheit an die Stelle des


Gehorsams zu setzen. Ja mitunter wird er sich sogar

bemühen, mehr zu leisten, als man von ihm fordert, und


doch weniger darunter leiden, ähnlich wie Kinder im Spiel
dieselben körperlichen Schmerzen lachend ertragen, die sie

als Züchtigung überwältigen würden. Auf diesem Umwege


erniedrigt die Knechtschaft die Seele, denn diese Er-
gebenheit beruht tatsächlich auf einer Lüge, weil ihre

Gründe keiner Prüfung standhalten. [In dieser Hinsicht darf


das katholische Prinzip des Gehorsams als eine Befreiung
gelten, während der Protestantismus auf dem Gedanken des
Opfers und der Ergebenheit beruht.] Das Heil liegt einzig

darin, daß man die unerträgliche Vorstellung des Zwanges


nicht etwa durch die Täuschung der Ergebenheit, sondern

durch den Gedanken der Notwendigkeit ersetzt. Die


Empörung hingegen, wenn sie nicht unmittelbar in genaue

und wirksame Handlungen übergeht, schlägt stets in ihr

Gegenteil um, und zwar auf Grund der Demütigung, die das

Gefühl seiner radikalen Ohnmacht dem Empörer

262
bereitet. Anders ausgedrückt, die wichtigste Stütze des
Unterdrückers liegt in der ohnmächtigen Empörung des
Unterdrückten. In diesem Sinne ließe sich der Roman eines
napoleonischen Rekruten schreiben. Und die Lüge der
Ergebenheit täuscht auch den Herrn...

q Die Machthaber immer als gefährliche Sachen ansehen.


Sich vor ihnen hüten, solange und soweit dies möglich ist,

ohne sich selbst verachten zu müssen. Und sieht man sich


eines Tages bei Strafe der Feigheit gezwungen, ihrer Macht

entgegenzutreten und daran zu zerbrechen, dann soll man


sich durch die Natur der Dinge und nicht von Menschen
besiegt erachten. Man kann im Kerker und in Fesseln liegen,

aber man kann auch von Blindheit oder Lähmung befallen


werden. Keinerlei Unterschied. Die einzige Art, in der
erzwungenen Unterwerfung seine Würde zu bewahren: den

Gewalthaber als eine Sache anzusehen. Jeder Mensch ist ein


Sklave der Notwendigkeit, aber der bewußte Sklave ist der
weitaus Überlegenere.

q Soziales Problem. Jenen Anteil des Übernatürlichen, der

unentbehrlich ist, damit im sozialen Leben der nötige


Atemraum bleibt, auf ein Minimum beschränken. Jedes
Bestreben, ihn zu vermehren, ist schlecht [das heißt: Gott

versuchen].

263
q Man soll das Unglück, soweit man es vermag, aus dem
sozialen Leben entfernen, denn das Unglück dient nur der
Gnade, und die Gesellschaft ist keine Gemeinschaft von
Auserwählten. Es wird immer noch genügend Unglück für
die Auserwählten geben.

Das Große Tier1

q Aller Götzendienst gilt nur dem Großen Tier; es ist der


einzige »ersatz« Gottes, die einzige Nachahmung dessen, was

unendlich von mir entfernt ist und was ich ist.

q Wenn man doch Egoist sein könnte! Das wäre so bequem.


Man hätte seine Ruhe. Aber das ist buchstäblich unmöglich.

Es ist mir unmöglich, mich selbst als Endzweck zu nehmen,


noch demzufolge meinen Nächsten, weil er meinesgleichen
ist, als einen Endzweck gelten zu lassen. Noch auch

irgendeinen stofflichen Gegenständ, denn der stofflichen


Welt kann die Finalität noch weniger zuerkannt werden als

dem Menschenwesen. Es gibt nur eines auf Erden, das als ein

Endzweck genommen werden kann, weil es hinsicht-

1 Über den. Ursprung dieses Mythos siebe Plato, Politeia, VI. Buch. -Das
»Große Tier« anbeten, heißt denken und bandeln in Übereinstimmung mit den
Vorurteilen und Reflexen der Masse, zum Nachteil jedes persönlichen
Forschens nach der Wahrheit und dem Guten. [Anmerkung des Herausgebers.]

264
lich, der menschlichen Person eine Art von Transzendenz
besitzt: das ist das Kollektiv. Aller Götzendienst gilt dem
Kollektiv; dieses fesselt uns an die Erde. Der Geiz: das Gold
ist ein sozialer Faktor. Der Ehrgeiz: die Macht ist ein sozialer
Faktor. Auch die Wissenschaft, die Kunst. Und die Liebe? Die

Liebe ist mehr oder weniger hiervon ausgenommen; darum


kann man durch die Liebe zu Gott gelangen, nicht aber durch

den Geiz oder den Ehrgeiz. Aber auch der Liebe ist das
Soziale beigemischt [siehe jene Leidenschaften, die die
Fürsten erregen, die berühmten Leute, alle, die in

öffentlichem Ansehen stehen...]..

q Es gibt zweierlei Gutes, gleichen Namens und doch


grundsätzlich verschiedener Art: das Gute, welches das

Gegenteil des Bösen ist, und das Gute, welches das Absolute
ist. Das Absolute hat kein Gegenteil. Das Relative ist nicht das
Gegenteil des Absoluten; es ist von dem Absoluten abgeleitet

und steht zu ihm in einem nicht umkehrbaren Verhältnis.


Was wir wollen, das ist das absolute Gute. Was wir erreichen

können, ist das dem Bösen zugeordnete Gute. Wir neigen

ihm aus Irrtum zu wie der Prinz, der sich anschickt, die

Magd statt der Herrin zu lieben. Die Kleider sind die Ursache
des Irrtums. Ebenso verleiht das Soziale dem Relativen den
Anstrich des Absoluten. Dagegen hilft nur der

265
Gedanke der Relation. Die Relation sprengt den Rahmen des
Sozialen. Sie ist das ausschließliche Vorrecht des Einzelnen.
Die Gesellschaft ist die Höhle; wer sie verlassen will, muß in
die.Einsamkeit gehen.
Die Relation gehört dem einsamen Geiste an. Keine Menge

begreift je die Relation. Dies ist gut oder schlecht im Hinblick


auf ... in dem Maße als ... Das bleibt der Menge verborgen.

Eine Menge macht keine Addition. Wer oberhalb des sozialen


Lebens ist, nimmt daran teil, wann er will, nicht wer
unterhalb ist. Dasselbe gilt für alles. Nicht umkehrbare Re-

lation zwischen dem Besseren und dem minder Guten.

q Das Vegetative und das Soziale sind die beiden Bereiche,


an denen das Gute keinen Anteil hat.

Christus hat das Vegetative erlöst, nicht das Soziale. Er hat


nicht für die Welt gebetet. Das Soziale ist unaufhebbar der

Bereich des Fürsten dieser Welt. In Hinsicht auf das Soziale


hat man nur die eine Pflicht, zu versuchen, das Böse
einzuschränken [Richelieu: das Heil der Staaten liegt nur in

dieser Welt]. Eine Gesellschaft mit göttlichem Anspruch wie

die Kirche ist vielleicht noch gefährlicher durch den »ersatz«


des Guten, den sie enthält, als durch das Böse, das sie

befleckt.

266
Das Soziale unter der Aufschrift des Göttlichen:
berauschende Mischung, die jede Willkür in sich schließt.
Der verkappte Teufel.

q Das Gewissen erliegt der Täuschung durch das Soziale.


Die überschüssige [imaginative] Energie ist größtenteils dem

Sozialen verhaftet. Man muß sie davon ablösen. Das ist die
schwierigste Ablösung.

In dieser Hinsicht ist die Meditation über den sozialen

Mechanismus eine Läuterung von höchster Wichtigkeit.


Das Soziale zu betrachten, ist ein nicht minder guter Weg als

sich aus der Welt zurückzuziehen. Darum war es nicht


verkehrt, daß ich mich so lange mit Politik abgegeben habe.

q Nur dadurch, daß er in den Bereich des Transzendenten,


der Übernatur, des eigentlichen und echten Geistes eintritt,
wird der Mensch dem Sozialen überlegen. Bis dahin bleibt,
was er auch tue, das Soziale in Beziehung auf den Menschen

tatsächlich transzendent. Im Bereich dessen, was nicht der

Übernatur angehört, ist die Gesellschaft das, was uns wie


durch eine Schranke von dem Bösen [von gewissen Formen

des Bösen] trennt; eine Gesellschaft von Verbrechern oder


Lasterhaften, und bestände sie auch nur aus einigen

wenigen, hebt diese Schranke auf.

267
Was aber treibt uns, einer solchen Gesellschaft beizutreten?
Entweder die Notwendigkeit oder der Leichtsinn oder, in den
meisten Fällen, eine Mischung aus beidem; man glaubt, man
binde sich nicht, denn man weiß nicht, daß, mit Ausnahme
des Übernatürlichen, einzig die Gesellschaft uns hindert,

natürlicherweise die abscheulichsten Verbrechen zu begehen


und den verworfensten Lastern zu verfallen. Man weiß nicht,

daß man ein anderer werden wird, denn man weiß nicht, wie
weit sich in einem selber der Bereich dessen erstreckt, was
durch äußere Einflüsse verändert werden kann. Man bindet

sich immer ohne zu wissen.

q Rom: das atheistische, materialistische Große Tier, das


nur sich selbst anbetet. Israel: das religiöse Große Tier.

Keines von beiden ist liebenswert. Das Große Tier ist immer
abstoßend.

q Ist eine Gesellschaft, in der allein die Schwerkraft


herrscht, überhaupt lebensfähig, oder ist ein wenig

Übernatur eine Lebensnotwendigkeit?

Vielleicht herrschte in Rom die Schwerkraft allein.

Vielleicht auch bei den Hebräern. Ihr Gott war schwer und

plump.

q Von allen Völkern des Altertums war vielleicht ein

einziges ohne jede Mystik: Rom. Aus

268
welchem geheimnisvollen Grunde? Ein künstlicher Staat von

Vertriebenen wie Israel.

q Das Große Tier Platos. - Soweit der Marxismus auf


Wahrheit beruht, hat er seine völlige Darstellung bei Plato in

den Seiten über das Große Tier gefunden, in denen auch

schon seine Widerlegung enthalten ist.

q Stärke des Sozialen. Die Übereinstimmung zwischen


mehreren Menschen bringt ein Gefühl der Wirklichkeit mit

sich. Sie weckt auch ein Gefühl der Pflicht. Das Abweichen
von dieser Übereinstimmung erscheint als eine Sünde. Daher
sind alle Verkehrungen möglich. Ein Zustand der

Gleichförmigkeit ist eine Imitation der Gnade.

q Es ist ein sonderbares Mysterium - das in der Macht des


Sozialen begründet ist -, daß der Beruf den

Durchschnittsmenschen hinsichtlich jener Dinge, die sich


auf diesen Beruf beziehen, solche Tugenden verleiht, daß

diese, wenn sie sich auf alle Lebensumstände erstreckten,

genügten, sie zu Helden oder Heiligen zu machen. Aber die


Macht des Sozialen bewirkt, daß diese Tugenden nur
natürliche Tugenden bleiben. Also verlangen sie auch nach

einer Entschädigung.

q Pharisäer: »Wahrlich, ich sage euch, sie haben ihren Lohn

dahin.« Umgekehrt hätte Christus

269
von den Zöllnern und Dirnen sagen können: Wahrlich, ich

sage euch, sie haben ihre Strafe dahin - nämlich die Ächtung

durch die Gesellschaft. In dem Maße, als dies zutrifft, straft

der Vater, der im Verborgenen ist, sie nicht mehr. Während

die Sünden, die von keiner gesellschaftlichen Ächtung

begleitet sind, von dem Vater, der im Verborgenen ist, ihr

volles Maß der Strafe empfangen. So ist die gesellschaftliche

Ächtung eine Gunst des Schicksals. Aber sie verkehrt sich in

ein zusätzliches Übel für diejenigen, die sich unter dem

Druck dieser Ächtung abseits von den andern ein soziales

Milieu schaffen, innerhalb dessen ihnen alles erlaubt ist.

Verbrechermilieu, Milieu von Homosexuellen usw.

q Der Dienst des falschen Gottes [des sozialen Tieres in

allen seinen Verkörperungen] läutert das Böse, indem er das

Grauen davor beseitigt. Wer ihm dient, dem scheint nichts

mehr böse, außer den Verfehlungen im Dienste. Der Dienst

des wahren Gottes aber läßt das Grauen vor dem Bösen

bestehen, ja, er steigert noch seine Heftigkeit. Und dieses

Böse, vor dem einem graut, liebt man zugleich, weil es aus

Gottes Willen vorhanden ist.

q Die, welche heute glauben, daß einer der Geg-

270
ner auf seiten des Guten stehe, glauben auch, daß er den Sieg
davontragen werde1. Ein Gutes, das man als solches liebt,
durch den bevorstehenden Verlauf der Ereignisse zum

Scheitern verurteilt zu sehen, ist ein unerträglicher Schmerz.


Der Gedanke, das, was ganz und gar nicht mehr existiert,

könne ein Gutes sein, ist beschwerlich und wird beiseite


geschoben. So unterwirft man sich dem Großen Tier.
Die Kommunisten verfügen deshalb über eine so große
seelische Kraft, weil ihr Streben sich nicht nur auf etwas
richtet, das sie für das Gute halten, sondern zugleich auf
etwas, von dem sie glauben, daß es unfehlbar und in

allernächster Zukunft eintreffen wird. So sind sie imstande,


ohne Heilige zu sein - weit gefehlt -, Gefahren und Leiden zu
ertragen, die nur ein Heiliger einzig um der Gerechtigkeit
willen ertragen würde.
In mancher Hinsicht zeigt die Geistesverfassung der
Kommunisten große Ähnlichkeit mit jener der ersten

Christen.
Diese eschatologische Propaganda erklärt sehr gut die
Verfolgungen der ersten Periode.

q »Der liebt wenig, dem wenig vergeben wird.« Es handelt

sich um jene, bei denen die soziale

1 Diese Zeilen wurden im Jahre 1942 niedergeschrieben. [Anmerkung des


Herausgebers.]

271
Tugend sehr viel Platz einnimmt. In ihnen findet die Gnade
wenig freien Raum. Die soziale Tugend ist der Gehorsam
gegen das Große Tier, das dem Guten gleichgesetzt wird. Ein
Pharisäer ist ein Mensch, der tugendhaft ist aus Gehorsam
gegen das Große Tier.

q Die Nächstenliebe kann und soll in allen Ländern das


lieben, was zu den Voraussetzungen gehört, deren die
Einzelmenschen zu ihrer geistigen Entwicklung bedürfen,
das heißt einerseits die soziale Ordnung, selbst wenn sie
schlecht ist, da sie immer noch besser ist als die Unordnung,

anderseits die Sprache, die Zeremonien, die Bräuche, alles,


was am Schönen teilhat, die ganze Poesie, die das Leben

eines Landes umhüllt.


Aber eine Nation als solche kann nicht ein Gegenstand der
übernatürlichen Liebe sein. Sie hat keine Seele. Sie ist ein

Großes Tier.

q Und dennoch eine Heimat... Aber dies ist etwas anderes

als das Soziale; hier handelt es sich um ein menschliches


Milieu, dessen man sich ebensowenig bewußt ist als der Luft,

die man atmet. Um einen Zusammenhang mit der Natur, der


Vergangenheit, der Überlieferung.

Die Verwurzelung ist etwas anderes als das Soziale.

272
q Patriotismus. Man soll mit keiner anderen Liebe lieben als
mit der wahren Nächstenliebe. Die Nächstenliebe kann nicht
einer Nation gelten. Wohl aber einem Land, als einem Milieu,
das ewige Traditionen hütet. Und so allen Ländern.

Die soziale Harmonie

q Innerhalb irgendeiner Ordnung kann eine höhere, ihr


also unendlich überlegene Ordnung nicht anders vertreten

sein als durch ein unendlich Kleines. Das Senfkorn, der


Augenblick als Gleichnis der Ewigkeit usw. ...

q Berührungspunkt zwischen dem Kreis und der Geraden


[Tangente]. Derart ist die höhere Ordnung in der niederen

Ordnung unter der Form eines unendlich Kleinen


gegenwärtig. Christus ist der Tangentialpunkt zwischen der

Menschheit und Gott.

q Die Zurückhaltung, der Infinitesimalcharakter

des reinen Guten ...

q Das Gleichgewicht entsteht durch die Unterordnung einer


Ordnung unter eine andere, die der ersten transzendent und
in ihr unter der Form eines unendlich Kleinen gegenwärtig

ist. So wäre ein wahres Königtum der vollkommene Staat.

273
Jeder in der menschlichen Gesellschaft ist das unendlich

Kleine, welches die dem Sozialen transzendente und

unendlich viel größere Ordnung repräsentiert.

Die Liebe des Bürgers für den Staat, des Vasallen für den

Herrn sollte übernatürliche Liebe sein.

q Nur das Gleichgewicht zerstört die Gewalt und hebt sie

auf. Die soziale Ordnung kann nur in einem Gleichgewicht

der Kräfte bestehen. Da man nicht erwarten kann, daß ein

Mensch, der nicht in der Gnade ist, gerecht sei, muß die

Gesellschaft derart eingerichtet sein, daß die Ungerechten

sich in einem beständigen Schwanken gegenseitig bestrafen.

q Nur das Gleichgewicht vernichtet die Gewalt. Weiß man,

wodurch das Gleichgewicht der Gesellschaft gestört ist, so

muß man sein Möglichstes tun, um der zu leichten Schale ein

Gewicht hinzuzufügen. Auch wenn das Gewicht das Böse ist,

so mag es, wenn man es in dieser Absicht handhabt, dennoch

vielleicht gelingen, sich nicht zu beflecken. Aber man muß

das Gleichgewicht erfaßt haben und immer bereit sein, sich

auf die Gegenseite zu schlagen, wie die Gerechtigkeit, »diese

Flüchtlingin aus dem Lager des Siegers«.

274
q Sinn der berühmten Stelle im »Gorgias« über die
Geometrie. In der Natur der Dinge ist keine unbegrenzte
Entwicklung möglich; die Welt beruht ganz und gar auf Maß
und Gleichgewicht, und das nämliche gilt für den Staat. Aller
Ehrgeiz ist Maßlosigkeit, Absurdität.

((griechisches Original-Zitat))1

Was der Ehrgeiz völlig vergißt, ist der Begriff der Beziehung.

Peuple stupide, à qui ma puissance m'enchaîne, Hélas! mon


orgueil même a besoin de tes bras!2

q Indem das Lehnsverhältnis den Gehorsam zu einer


Angelegenheit von Mensch zu Mensch machte, verminderte

es den Anteil des Großen Tieres um ein Beträchtliches. Noch


besser tut dies das Gesetz. Man sollte keinem anderen
gehorchen als entweder dem Gesetz oder einem Menschen.
Das ist beinahe der Fall in den klösterlichen Or-
densgemeinschaften. Nach diesem Vorbild sollte man den

Staat erbauen.
Dem Landesherrn, einem Menschen gehorchen, aber einem

Menschen, der entblößt wäre, den keine andere Hoheit

schmückte als die des Eides und dessen Hoheit in nichts dem
Großen Tier entlehnt wäre.

1 Du vernachlässigst die Geometrie


2 »Törichtes Volk, an das die Macht mich kettet.
Ach-, selbst mein Stolz bedarf noch deines Arms. «
Siehe Paul Valéry, »Air de Sémiramis« in »Album de vers anciens«.

275
q Eine wohleingerichtete Gesellschaft wäre jene, in welcher
dem Staat gleichsam als einem Steuerruder nur eine negative
Funktion zukäme: ein leichter Druck im geeigneten
Augenblick, um eine Störung des Gleichgewichts schon im
Beginn auszugleichen.

q Der Sinn von Platos »Politeia« ist der, daß die Macht in
den Händen einer Gesellschaftsschicht liegen soll, die sich

aus Siegern und Besiegten zusammensetzt. Aber dies ist


gegen die Natur, außer wenn die Sieger Barbaren sind. In
dieser Hinsicht ist der Sieg der Barbaren über ein

Kulturvolk, wenn er dessen Kultur nicht zerstört,


fruchtbarer als der eines Kulturvolkes über Barbaren.

Die Technik, welche die Macht und die Zivilisation auf der

gleichen Seite vereinigt, macht derartige

Verjüngungsprozesse unmöglich. Sie ist verflucht.

Außer in solchen Augenblicken der Verschmelzung ist eine

Teilung der Macht zwischen den Starken und den Schwachen

nur möglich, wenn ein übernatürlicher Faktor hinzutritt.

Übernatürlich in der Gesellschaft ist die Legitimität in ihrer

doppelten Form: als Gesetz und als Übertragung der

höchsten Gewalt. Eine durch Gesetze gemäßigte Monarchie

könnte vielleicht die Mischung der »Politeia« verwirklichen.

Es kann aber keine Legitimität geben ohne Religion.

276
q Einem Menschen zu gehorchen, dessen Autorität nicht

von Legitimität verklärt ist, ist ein Alpdruck.

q Das Einzige, was der reinen Legitimität als einer völlig

jeder Gewalt entblößten Idee zu herrscherlicher Macht

verhelfen kann, ist der Gedanke: das ist immer gewesen, das

wird immer sein.

Deshalb soll eine Reform stets entweder als eine Rückkehr zu

etwas Vergangenem, das in Verfall geraten war, erscheinen

oder als Anpassung einer schon bestehenden Einrichtung an

neue Bedingungen, eine Anpassung, die nicht eine

Veränderung bezweckt, sondern im Gegenteil die Bewahrung

eines unveränderten Verhältnisses; so wie etwa, wenn man

das Verhältnis 12 zu 4 hat und aus 4 wird 5, der echte

Konservative nicht der ist, welcher das Verhältnis 12 zu 5

herstellen will, sondern der, welcher aus 12 15 macht.

q Das Vorhandensein einer legitimen Autorität verleiht den

Leistungen und Taten des sozialen Lebens eine sinnvolle

Zielrichtung, eine andere Zielrichtung als das unersättliche

Streben nach

277
Besitzanhäufung [das einzige Motiv, das der Liberalismus
anerkennt].
Die Legitimität ist die Stetigkeit in der Zeit, die
Beständigkeit, ein unverändert Bleibendes. Sie verleiht dem
sozialen Leben die Richtung auf ein Ziel, das existiert, und

dessen Existenz als immer gewesen und immer fortdauernd


begriffen wird. Sie nötigt die Menschen, genau das zu wollen,

was ist.

q Der Bruch der Legitimität, die Entwurzelung, wenn nicht


eine Eroberung sie herbeigeführt hat, sondern wenn sie

infolge eines Mißbrauchs der legitimen Gewalt eingetreten


ist, erregt unvermeidlicherweise die Zwangsvorstellung des
Fortschritts, denn dann verlegt sich das Ziel alles Strebens in

die Zukunft.

q Der atheistische Materialismus ist mit Notwendigkeit


revolutionär, denn um nach einem absoluten Gut auf Erden

zu trachten, muß man dieses in die Zukunft verlegen. Man

bedarf dann alsbald, damit es diesem Streben an nichts fehle,

eines Mittlers zwischen der zukünftigen Vollkommenheit


und der Gegenwart. Dieser Mittler ist der Führer: Lenin usw.
Er ist unfehlbar und vollkommen rein. Durch ihn hindurch

wird das Böse etwas Gutes.

Es bleibt nur die Wahl zwischen dieser Haltung oder der

Liebe zu Gott, oder man läßt sich von

278
den kleinen Übeln und kleinen Gütern des Alltagslebens hin
und her treiben.

q Die Verbindung zwischen Fortschritt und Tiefstand - weil


das, was eine Generation von jenem Augenblick an

fortzusetzen imstande ist, in welchem die vorhergehende


eingehalten hat, notwendig etwas Äußerliches ist - ist ein
Beispiel für die Verwandtschaft der Gewalt mit der

Niedrigkeit.

q Der große Irrtum der Marxisten und des ganzen


neunzehnten Jahrhunderts war der Glaube, durch ein bloßes

Geradeausschreiten sei man bereits in die Lüfte


aufgestiegen.

q Der atheistische Gedanke par excellence ist der Gedanke


des Fortschritts, der auf einer Leugnung des ontologischen

Experimentalbeweises beruht, denn er setzt voraus, das


Mittelmäßige könne aus sich selbst das Vortreffliche

erzeugen. Nun läuft aber die gesamte moderne Wissenschaft

darauf hinaus, den Fortschrittsgedanken zu zerstören.


Darwin hat die trügerische Vorstellung von einer inneren

Entwicklung beseitigt, die sich bei Lamarck fand. Die

Mutationstheorie läßt nur noch den Zufall und die


Aussonderung bestehen. Die Energetik geht von der

Voraussetzung aus, daß die Energie beständig absinkt und

niemals ansteigt, und dies

279
findet sogar auf das Pflanzen- und Tierleben Anwendung.

Psychologie und Soziologie werden nur durch eine

entsprechende Anwendung des Energiebegriffs den


Charakter von Wissenschaften gewinnen, eine Anwendung,
die mit jedem Fortschrittsgedanken unvereinbar ist, und

dann werden sie im Licht des wahren Glaubens erglänzen.

q Nur das Ewige ist unverletzbar durch die Zeit. Soll ein
Kunstwerk immer Bewunderung finden, soll eine Liebe, eine
Freundschaft ein ganzes Leben [ja vielleicht nur einen Tag
lang rein und ungetrübt] dauern, soll eine Lebensanschau-
ung durch die vielfältigen Erfahrungen und alle Wechselfälle

des Schicksals hindurch die gleiche bleiben - so bedarf es


einer Eingebung, die von jenseits des Himmels herabsteigt.

q Eine ganz und gar unmögliche Zukunft, wie das Ideal der
spanischen Anarchisten, erniedrigt sehr viel weniger, weicht

sehr viel weniger von dem Ewigen ab als eine mögliche


Zukunft. Ja, sie erniedrigt überhaupt nicht, außer durch die

Illusion ihrer Möglichkeit. Wird sie als unmöglich erfaßt,

dann hebt sie in das Ewige hinauf. Das Mögliche ist die Stätte
der Einbildung, und also der Erniedrigung. Unser Wollen
soll entweder eben dem gelten, was existiert, oder dem, was

ganz und gar nicht existiert, besser noch

280
beidem. Das, was ist, und das, was nicht sein kann, ist eines
wie das andere dem Werden entzogen. Die Vergangenheit,
wenn sich die Einbildung nicht in ihr gefällt - im Augenblick
einer Gelegenheit, die sie in ihrer Reinheit aufsteigen läßt -,
ist ein Zeitliches, auf dem der Abglanz des Ewigen ruht. Hier

ist das Gefühl der Wirklichkeit rein. Dies ist die reine
Freude. Dies ist das Schöne. Proust. Die Gegenwart hält uns

in Fesseln. Die Zukunft ist ein Gemächt unserer


Einbildungskraft. Die Vergangenheit allein, wenn wir sie
nicht verfälschen und umerfinden, ist reine Wirklichkeit.

q Dadurch, daß die Zeit verfließt, nützt sie das Zeitliche ab


und zerstört es. Daher liegt auch mehr Ewigkeit in der

Vergangenheit als in der Gegenwart. Wert der recht


verstandenen Geschichte, ähnlich dem Wert der Erinnerung
bei Proust. So stellt uns die Vergangenheit etwas vor, das
zugleich wirklich und besser als wir selbst ist und das uns
nach oben zu ziehen vermag, was die Zukunft niemals tut.

q Vergangenheit: Wirkliches, das aber unserem Zugriff

gänzlich entzogen ist, in dessen Richtung wir keinen Schritt

tun können, dem wir uns nur zuwenden können, damit wir

seine Ausstrahlung empfangen mögen. Hierdurch ist sie das


vorzüglichste Abbild der übernatürlichen, ewigen

Wirklichkeit.

281
Ist dies der Grund, warum die Erinnerung als solche so
freudig und schön ist?

q Woher soll uns die Wiedergeburt kommen, uns, die wir


den ganzen Erdball besudelt und entleert haben?

Einzig aus der Vergangenheit, wenn wir sie lieben.

q Die Gegensätze. Die moderne Welt dürstet nach dem


Totalitarismus und wendet sich mit Grauen von ihm ab, und
fast jeder liebt einen Totalitarismus und haßt einen andern.
Muß denn immer das, was man liebt, identisch sein mit dem,

was man haßt? Empfindet man denn immer das Bedürfnis,


das Verhaßte unter einer anderen Form zu lieben, und
umgekehrt?

q Die beständige Täuschung der Revolution liegt in dem


Glauben, die Opfer der Gewalt, die an den geschehenden
Gewalttätigkeiten unschuldig sind, würden, wenn man die

Gewalt in ihre Hände legte, einen gerechten Gebrauch von

ihr machen. Außer jenen Seelen aber, die der Heiligkeit nahe

genug sind, tragen die Opfer den Makel der Gewalt ebenso an
sich -wie die Henker. Das Böse am Heft des Schwertes

überträgt sich auf die Schwertspitze. Und die derart auf den
Gipfel erhobenen und von dem Wechsel trunkenen Opfer

verüben ebensoviel Böses oder gar noch mehr, und sinken

bald wieder in ihren vorigen Zustand zurück.

282
q Der Sozialismus verlegt das Gute in die Besiegten, die
Rassenlehre in die Sieger. Jedoch bedient sich der
revolutionäre Flügel des Sozialismus jener, die, obwohl
niedrig geboren, ihrer Natur und Berufung nach zu den
Siegern gehören, und so läuft es auch hier am Ende auf die

gleiche Ethik hinaus.

q Der moderne Totalitarismus verhält sich zu dem


katholischen Totalitarismus des zwölften Jahrhunderts wie

der Geist des Laizismus und des Freimaurertums zu dem


Humanismus der Renaissance. Bei jeder Schwankung sinkt

die Menschheit tiefer. Wie weit wird das gehen?

q Nach dem Zusammenbruch unserer Kultur bleiben nur


zwei Möglichkeiten: entweder sie geht völlig zugrunde, wie

die antiken Kulturen, oder sie paßt sich einer


dezentralisierten Welt an.
Es hängt von uns ab, nicht, ob wir die Zentralisierung

brechen - denn sie wälzt sich lawinenartig der Katastrophe


entgegen -, sondern ob wir die Zukunft vorbereiten.

q Unsere Zeit hat die innerliche Stufenordnung zerstört.

Wie sollte sie den gesellschaftlichen Stufenbau bestehen


lassen, der nur ein grobes Abbild jener ist?

283
q Du hättest zu keiner besseren Zeit geboren werden
können als dieser, in der man alles verloren hat.

Mystik der Arbeit

q Das Geheimnis unseres menschlichen Zustandes liegt in


dem Fehlen eines Gleichgewichts zwischen dem Menschen

und den ihn umgebenden Kräften der Natur, die ihn im


Nicht-Handeln unendlich übertreffen; nur im Handeln gibt
es ein Gleichgewicht, wenn der Mensch sein eigenes Leben in

der Arbeit noch einmal erschafft.

q Die Größe des Menschen besteht immer darin, sein Leben


noch einmal zu erschaffen. Wiederum zu erschaffen, was

ihm bereits gegeben ist. Eben das zu schmieden, dem er


unterworfen ist. Durch die Arbeit erzeugt er seine eigene
natürliche Existenz. Durch die Wissenschaft wird er zum
Nachschöpfer des Universums mit Hilfe von Symbolen.

Durch die Kunst wird er zum Nachschöpfer des Bündnisses


zwischen seinem Körper und seiner Seele [vergleiche die

Rede des »Eupalinos«]. Hier ist jedoch zu bemerken, daß

jedes einzelne dieser drei, für sich genommen und außer


dem Zusammenhang mit den Beiden andern, armselig, leer
und eitel ist. Vereinigung der drei: eine Arbeiterkultur [da
kannst du lange warten]...

284
q Selbst Plato ist nur ein Vorläufer. Die Griechen kannten
die Kunst, die Leibesübungen, doch nicht die Arbeit. Der
Herr ist insofern ein Sklave des Sklaven, als der Herr ein
Produkt des Sklaven ist.

q Zwei Aufgaben: Die Maschine zu individualisieren; die


Wissenschaft zu individualisieren [Allgemeinbildung,

Einrichtung einer Volkshochschule, in der die Grundlagen

der Berufe nach sokratischer Methode behandelt werden].

q Handarbeit. Warum hat es niemals einen Mystiker aus


dem Handwerker- oder Bauernstand gegeben, der eine

Anleitung zum Gebrauch des Ekels vor der Arbeit


geschrieben hätte? Die Seele flieht diesen Ekel, der so oft
vorhanden ist, der immer auf der Lauer liegt, und sucht ihn

aus einem vegetativen Widerstreben vor sich selbst zu


verheimlichen. Sein Eingeständnis ist lebensgefährlich. Dies

ist der Quell der Lüge, die den unteren Schichten des Volkes
eigentümlich ist [jede soziale Stufe hat ihre eigene Lüge].
Dieser Ekel ist die Last der Zeit. Wer ihn sich eingesteht,

ohne ihm nachzugeben, der steigt hinauf.


Der Ekel in allen seinen Formen ist mit das kostbarste Elend,
das dem Menschen als eine Leiter zu seinem Aufstieg

gegeben ist. Ich habe

285
einen sehr großen Anteil an dieser Vergünstigung
empfangen.
Jeden Ekel in Ekel an sich selbst umwandeln...

q Die Monotonie ist das Schönste oder das Entsetzlichste.

Das Schönste, wenn sie ein Abglanz der Ewigkeit ist. Das

Entsetzlichste, wenn sie eine unaufhörliche Dauer ohne

Wechsel anzeigt. Überwundene Zeit oder unfruchtbar

gemachte Zeit.

Der Kreis ist das Sinnbild der schönen Monotonie, die

Pendelschwingung das der gräßlichen Monotonie.

q Spiritualität der Arbeit. Die Arbeit läßt uns bis zur

Erschöpfung das Phänomen der wie eine Kugel hin und her

gestoßenen Zweckhaftigkeit erfahren; man arbeitet, um zu

essen, man ißt, um zu arbeiten... Betrachtet man eines yon

beiden als einen Zweck oder eines vom andern getrennt,

dann ist man verloren. Der Kreislauf enthält die Wahrheit.

Ein Eichhörnchen, das seinen Käfig umtreibt, und das

Kreisen der Himmelskugel. Tiefstes Elend und höchste

Größe.

Wenn der Mensch sich selbst als ein Eichhörnchen sieht, das

einen kreisförmigen Käfig umtreibt, dann ist er, wenn er sich


nicht belügt, dem Heil nahe.

286
q Der große Schmerz der Handarbeit besteht darin, daß

man gezwungen ist, sich so lange Stunden hindurch

abzumühen nur um der nackten Existenz willen.

Der Sklave ist derjenige, dem kein Gut als Ziel seiner Mühen

vorgesetzt ist, außer der nackten Existenz.

So bleibt ihm nur die Wahl zwischen der Abgelöstheit oder

einem Herabsinken auf die Ebene des Vegetativen.

q Kein irdisches Ziel trennt die Arbeiter von Gott. Sie sind

die einzigen, die sich in einer solchen Lage befinden. Jeder

andere Stand hat seine besonderen Ziele, die zwischen dem

Menschen und dem reinen Guten eine Scheidewand

errichten. Für sie aber gibt es keine solche Scheidewand. Sie

haben nicht etwas zuviel, dessen sie sich entäußern müßten.

q Sich mühen aus Notwendigkeit und nicht um eines Guten

willen - gestoßen und nicht gezogen -, um sein Dasein

fortzufristen, so wie es ist - ist immer Knechtschaft. In

diesem Sinne ist die Knechtschaft der Handarbeiter

unaufhebbar. Mühe ohne Zielgerichtetheit. Das ist furchtbar

- oder schöner als alles - wenn es eine Zielgerichtetheit ohne

Ziel ist. Einzig

287
das Schöne erlaubt, an dem, was ist, sein Genügen zu finden.

Die Arbeiter haben ein noch größeres Bedürfnis nach Poesie

als nach Brot. Das Bedürfnis, daß ihr Leben Poesie sei. Das

Bedürfnis nach einem Licht der Ewigkeit.

Diese Poesie kann einzig der Religion entspringen.

Nicht die Religion, die Revolution ist Opium für das Volk.

Daß sie diese Poesie entbehren müssen, erklärt alle Formen

des sittlichen Verfalls.

q Die Arbeit ohne Licht der Ewigkeit, ohne Poesie, ohne

Religion ist Sklaverei. Das ewige Licht liefert zwar keine

Gründe, weshalb man lebt und arbeitet, aber es schenkt eine

Fülle, die der Suche nach solchen Gründen enthebt.

In Ermangelung dessen sind Zwang und Gewinn die einzigen

Antriebe, Der Zwang, was also die Unterdrückung des Volkes

einschließt. Der Gewinn, was also die Korruption des Volkes

einschließt.

q Handarbeit. Die Zeit, die in den Körper eindringt. Durch

die Arbeit verstofflicht sich, der Mensch wie Christus durch

die Eucharistie. Die Arbeit ist gleichsam ein Tod.

288
Man muß durch den Tod hindurchgehen. Man muß getötet
werden, die Schwerkraft der Welt erleiden. Die Last des
Universums auf dem Rücken eines Menschen - wen wundert
es, daß dies schmerzt?
Die. Arbeit ist gleichsam ein Tod, wenn sie ohne Anreiz

geschieht. Handeln und zugleich den Früchten des Handelns


entsagen. Zu arbeiten, wenn man erschöpft ist, heißt wie die

Materie der Zeit unterworfen werden. Dann ist das Denken


gezwungen, sich von einem Augenblick zum nächsten
fortzuhelfen,, ohne sich an die Vergangenheit noch an die

Zukunft anzuklammern. Dies heißt gehorchen.

q Freuden, die mit der Ermüdung zusammengehen.


Sinnliche Freuden. Essen, Sich-Ausruhen, Vergnügungen des

Sonntags. Nicht aber das Geld.


Keine Poesie, die das Volk betrifft, ist echt, wenn sie die
Ermüdung ausschließt, und Hunger und Durst, die aus der
Ermüdung entstehen.

289
INHALT

Einführung .................................................... 5

Schwerkraft und Gnade.................................... 59

Leere und Ausgleichung ........ 63

Hinnahme der Leere ......................................... 70

Ablösung ........................................................ 73

Verdrängung der Leere durch Einbildungen ........... 78

Verzicht auf die Zeit ....................................... 81

Begehren ohne Gegenstand ............................. 84

Das Ich ............................................................. 88

Entschärfung .................................................... 97

Anslöschung ..................................................... 109

Notwendigkeit und Gehorsam .......................... 112

Täuschungen .................................................... 123

Götzendienst ..................................................... 136

Liebe ................................................................. 138

Das Böse ................................................... ....... 148

Das Unglück...................................................... 165

Die Gewalt ...................................................... 172

Das Kreuz ......................................................... 174

Waage und Hebel ............................................. 180

Das Unmögliche ........................................ ........ 183

Widerspruch..................................................... 187

Der Abstand zwischen dem Notwendigen


und dem Guten ......................................... ....... 195
Zufall ................................................................ 198
Der, den wir lieben sollen, ist abwesend ........... 200

290
Der Atheismus als Läuterung ............................ .206

Die Aufmerksamkeit und der Wille ................... 208

Dressur ................................................... ........ 219

Vernunfteinsicht und Gnade ............................ 225

Lesarten ................................................... ....... 232

Der Ring des Gyges........................................... 236

Der Sinn des Universum ................................. 239

Metaxy ............................................................ 246

Schönheit ..................................................... . 250

Algebra ................... ......................................... 256

Der soziale Buchstabe ...................................... 259

Das Große Tier ......................................... ..... 269

Die soziale Harmonie ....................................... 273

Mystik der Arbeit ............................................. 284

291

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