DER MODERNE
VEREASSUNGSSTAAT
Eine vergleichende Geschichte
von der Entstehung
bis zum 20. Jahrhundert
Ferdinand Schöningh
Paderborn ~ München ~ Wien - Zürich
Der Autor: Hans Fenske, Prof. Dr. phil., geb. 1936, ist Professor für Neue und Neueste Geschichte
an der Universität Freiburg. Buchveröffentlichungen u.a.: Konservativismus und Rechtsradikalismus
in Bayern nach 1918, Bad Homburg 1969; Wahlrecht und Parteiensystem, Frankfurt/Main 1972; Der
liberale Südwesten, Stuttgart 1981; Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Norddeutschen Bund bis
heute, Berlin 1981; Die Verwaltung Pommerns 1815-1945. Aufbau und Ertrag, Köln 1993; Deutsche
Parteiengeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Paderborn 1994.
Die Karten 3, 4, 5 und 7 wurden entnommen aus: Winfried Baumgart, Europäisches Konzert und na-
tionale Bewegung 1830-1878, Paderborn 1999 (Handbuch der Geschichte der Internationalen Bezie-
hungen, Bd. 6).
Fenske, Hans:
Der moderne Verfassungsstaat: eine vergleichende Geschichte von der
Entstehung bis zum 20. Jahrhundert / Hans Fenske. - Paderborn;
München; Wien; Zürich: Schoningh, 2001
ISBN 3-506-72432-0
Internet: www.schoeningh.de
Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt.
]ede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche
Zustimmung des Verlages nicht zulassig.
ISBN 3-506-72432-0
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INHALTSVERZEICHNIS
VoRwoRT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI
Bibliographie . . . . . . . . . _ _ . . . . . . . _ _ _ . . _ _ . . . _ _ . _ . _ _ . _ . . _ . _ . . . _ . _ 536
Register . _ . _ _ . _ _ . . . . . _ . _ . . . . _ . _ . _ . . _ _ . _ . . . _ _ . _ _ _ . _ _ _ . . . _ _ . _ _ 558
VORWORT
Im Januar 1873 begann der Oxforder Historiker Edward A. Freeman, ein Mann
mit einem weitgespannten Interessen- und Arbeitsgebiet, politisch ein militanter
Radikaler, eine sechsteilige Vorlesungsreihe in London mit dem Satz, daß die
Ausbildung der vergleichenden Methode in der Wissenschaft, für die er nament-
lich den Orientalisten Max Müller, seinen Fakultätskollegen, rühmte, der größte
intellektuelle Zugewinn seiner Zeit sei. Er schlug vor, diese Methode nicht auf
die Sprachwissenschaften zu beschränken, sondern sie auf die Kultur in einem
breiten Verständnis anzuwenden, und lieferte mit seinen Vorträgen sogleich ein
Modell dafür, wie man vorgehen könnte. Er legte dar, wie die wichtigsten staat-
lichen Institutionen seit der Antike beim westlichen Zweig der indogermani-
schen Völker organisiert waren. Dabei interessierte er sich besonders für die Si-
cherung der Freiheit. Sein Unternehmen nannte er Comparative Politics.
Mit seinem Vorgehen fand er einige Nachfolger, deren bedeutendster in
Deutschland Otto Hintze wurde, aber man kann gewiß nicht sagen, daß sich
nach Freemans Vorschlägen und Hintzes Beispiel eine umfassend angelegte und
eifrig gepflegte spezielle Richtung der Historiographie gebildet hätte. Nach wie
vor wird Verfassungsgeschichte durchweg im nationalen Rahmen oder aber im
Zweiländervergleich betrieben. Autoren, die wie Freeman oder Hintze eine
breitere Perspektive wählten, waren und sind selten.
In dieser Tatsache spiegelt sich die inzwischen sehr weit gediehene Aufspal-
tung der historischen Forschung in Teilfächer wider. Versteht man Verfassung,
wie es geboten ist, mit einer von Dietmar Willoweit vor rund einem Jahrzehnt
vorgeschlagenen Definition als Gesamtheit derjenigen Regeln und Strukturen,
die das Gemeinwesen und damit die politische Ordnung prägen, so ist schon für
jeden einzelnen nationalen Fall die Fülle der Literatur kaum noch zu übersehen.
Wie sollte man da den Mut haben, die Verfassungsentwicklung gleich mehrerer
Staaten zu erörtern? Schon der Berliner Historiker Kurt Breysig, der vor ziem-
lich genau hundert Jahren zu einer vergleichenden Kulturgeschichte der führen-
den Völker ansetzte, erklärte, daß es sehr viel Keckheit erfordere, sich an ein
solches Vorhaben zu wagen. Und als der Berliner Mediaevist Ernst Pitz vor ei-
nem knappen Jahrzehnt die Vorrede zu seinem Buch über das europäische Städ-
tewesen bis zum hohen Mittelalter schrieb, meinte er, daß eine vergleichende
Verfassungsgeschichte vom Standpunkt der Fachwissenschaft nur als Essay
möglich sei. Und er setzte ausdrücklich hinzu: ››Der Essayist ist Dilettant«. Al-
lerdings habe eine derartige Vorgehensweise, so ergänzte er mit Jacob Burck-
hardt, durchaus ihr Daseinsrecht, da sie zur Wahrung der allgemeinen Übersicht
beitrage.
XII Vorwort
Dem ist nichts hinzuzufügen. Im Sinne der eben zitierten Bemerkungen wird
auch hier ein Essay in Angriff genommen. Es geht dabei nicht um eine verglei-
chende Verfassungsgeschichte in voller Breite, vielmehr soll nur eine bestimmte
Entwicklungslinie beleuchtet werden, allerdings die zentrale. Es ist das Ziel des
hiermit in Angriff genommenen Versuches, den Weg zum modernen Verfas-
sungsstaat überall dort zu beschreiben, wo man sich ihm zuwandte_
Zunächst soll eine Annäherung an das Thema im Spiegel der Überlegungen ei-
niger Klassiker der vergleichenden Geschichtsschreibung gesucht werden. Da-
bei geht es durchweg um deutsche Autoren. Das ist gerechtfertigt, wurde diese
Sehweise in Deutschland doch besonders gepflegt. Im zweiten Kapitel wird der
Blick auf für unseren Zusammenhang wichtige Aspekte des Mittelalters gerich-
tet, auf die Stadt, deren Rolle für die Ausbildung des europäischen Verständnis-
ses von Freiheit gar nicht zu überschätzen ist, auf das Ständewesen und auf ei-
nige Bereiche der politischen Philosophie.
Im Anschluß daran wird nach der verfassungsgeschichtlichen Entwicklung
Englands bis zum Ausgang dcs 18. Jahrhunderts und Nordamerikas bis zur
Gründung der Union sowie nach der Diskussion der Thematik und nach ersten
Konkretisienıngcn in Kontincntaleuropa gefragt.
Breite Aufmerksamkeit verdient selbstverständlich der Durchbruch zum
Verfassungsstaat in Europa zwischen 1789 und 1815. Das Thema der dann fol-
genden Kapitel ist die Verfassungsentwicklung Frankreichs, Großbritanniens,
Mitteleuropas, Skandinaviens und Süd- und Osteuropas zwischen 1815 und
1914.
Schließlich wird der Verfassungsstaat außerhalb Europas während des 19.
Jahrhunderts betrachtet. Es geht um die Entwicklung in den USA, in den briti-
schen Dominions, in Lateinamerika und in Asien.
Im Laufe der Darstellung wird also häufig der Schauplatz gewechselt. Es er-
schien sinnvoller, cinzelne Staaten oder Staatengruppen nacheinander vor Au-
gen zu führen, statt die verschiedenen Entwicklungen ständig zu parallelisieren
Eine solche Vorgehensweise würde vermutlich eher Verwirrung als Klarheit
schaffen. Die Verhältnisse waren viel zu unterschiedlich, als daß man die Aus-
bildung des Verfassungsstaates leicht auf einen Nenner bringen könnte. So muß
die Vielfalt vor Augen geführt werden.
Insgesamt ist zu zeigen, wie der moderne Verfassungsstaat stetig an Boden ge-
wann und wie er sich im Laufe der Jahrzehnte auch qualitativ veränderte, indem
er sich allmählich demokratischen Vorstellungen öffnete. Am Ende des Ersten
Weltkriegs schien die Demokratie, die am weitesten entwickelte Form des mo-
dernen Verfassungsstaates, die von der großen Mehrheit der selbständigen Staa-
ten angenommenc Regierungsforni zu sein und damit auf der ganzen I.inie ge-
siegt zu haben. Daß dem nicht so war, sollte sich bald zeigen. Sie geriet in
_! 7 _ __ i M Vorwort XIII
Die kürzeste Definition dessen, was wir mit dem Begriff ›moclerncr Verfas-
sungsstaat« bezeichnen, gab die französische Nationalversammlung am 26. Au-
gust l789 in Artikel XVI des von ihr in feierlicher Sitzung proklamierten Kata-
logs der ››natürlichen, unveräußerlichen und heiligen Rechte der Menschen«l.
Jede Gesellschaft habe keine Verfassung, so hieß es dort, wenn nicht die Garan-
tie der Rechte zugesichert und die Gewaltenteilung festgelegt sei. Die meisten
der damals in Versailles versammelten Abgeordneten waren von der unbeding-
ten Richtigkeit dieser Aussage überzeugt, und sie konnten sich auch ganz sicher
sein, daß die von ihnen verkündeten Prinzipien eine breite Resonanz in der Be-
völkerung hatten. Die Auswertung der detı Deputierten mit auf den Weg gege-
benen cahiers dc doléance, über die Endejuli im Plenum berichtet worden war,
hatte gezeigt, daß über wesentliche Punkte im Lande Einigkeit bestand. Danach
sollte Frankreich eine Monarchie sein und der König die ausführende Gewalt
innehaben, die Nation aber die Gesetze mit königlieher Sanktion geben. Ohne
Zustimmung der Nation sollten Anleihen nicht aufgelegt, Steuern nicht erho-
ben werden. Auch über die Unverletzlichkeit des Eigentums und der persönli-
chen Freiheit gab es keine Meinungsverschiedenheiten, wie ebensowenig die
Notwendigkeit einer zuverlässigen Rechtspflege strittig war.
Die Nationalversammlung hatte über ihre Proklamation mit Bedacht den Ti-
tel ›Menschenrechte< gesetzt. Sie hielt ihre Aussagen für allgemeingültig. ln der
Tat fand die Erklarung vom 26. August weit über die Grenzen Frankreichs hin-
aus Aufmerksamkeit und wurde vielfach sogleich nachgedruckt oder paraphra-
siert und auf jeden Fall kommentiert. Zwar waren auch die Rechteerklärungen
in Nordamerika knapp anderthalb Jahrzehnte zuvor in Europa wahrgenommen
worden, aber von ihnen waren doch nicht derart intensive Impulse ausgegangen
wie von der französischeıı. Wenn es im Laufe des 19. Jahrhunderts weithin iib-
lich wurde, einer geschriebenen Verfassung einen derartigen Katalog bcizuge-
ben, so ging das auf den Akt vom 26. August 1789 zurück. Durch den Einfluß,
den sie damit auf die europäische Geschichte ausübte, wurde die französische
Menschenrcchtserklärung ››ein historisches Ereignis von universeller Bedeu-
tung«3.
Auch in Deutschland gab es schon iıu ausgehenden 18. Jahrhundert eine lebhaf-
te Diskussion iiber die Grundprinzipien des Verfassungslebens. In seiner 1795
2 I. Annäherung an das Thema J
Dic Ansicht ist weitverbreitet, daß der Verfassungsstaat sich erst im ausgehen-
den 18. Jahrhundert durchzusetzen begann und daß er seine frühen Verwirkli-
chungen in den nordamerikanischen Freistaaten seit 1776, in Polen im Mai 1791
und in Frankreich im September desselben Jahres fand. Mit dieser Sehweise
wird der epochale Charakter der Doppelrevolution im ausgehenden 18. jahr-
hundert - beiderseits des Atlantiks - sehr stark betont und eine scharfe Tren-
nungslinie zwischen früher und jüngerer Neuzeit gezogen. Die amerikanische
Gesellschaftswissenschaftlerin Hannah Arendt identifizierte so 1963 die ameri-
kanische Revolution geradezu mit dem Beginn der Neuzeit, und in der heute
wieder breit geführten Diskussion über die Periodisierung der europäischen
Geschichte wird die Zäsur um 1800 vielfach höher bewertet als die um 1500.
Beobachter, die den Ereignissen näher standen, hätten selbstverständlich nie die
große Bedeutung der Französischen Revolution bestritten, aber sie sahen die
Zäsur zwischen dem Ancien Regime und den neueren Verhältnissen doch nicht
so scharf. In seiner 1799 in Frankfurt begonnenen und 1801/O2 in jena weitge-
hend ausgearbeiteten, aber nicht abgeschlossenen und deshalb auch nicht publi-
zierten Schrift über die ›Verfassung des Deutschen Reiches« bezeichnete Georg
Wilhelm Friedrich Hegel es geradezu als »albernste Einbildung«, die Repräsen-
tation für eine Erfindung der neuesten Zeit zu halten. Sie sei vielmehr tief in das
Wesen der sich fortbildenden Lehensverfassung zusammen mit der Entstehung
des Bürgerstandes verwebt. Für ihn war das System der Repräsentation »das
System aller neueren europäischen Staaten«, wobei er die gesamte Neuzeit
meinte und nicht zwischen Ständen herkömmlicher Art und neuen Parlamen-
ten unterschied. Den Wert dieser institution veranschlagte er sehr hoch. Sie war
ihm die »dritte universale Gestalt des Weltgeistes«, die Vermittlung zwischen
dem orientalischen Despotismus und der Herrschaft einer einzigen Republik,
nämlich Roms, über die Welt“.
Auch Bluntschli unterstrich, daß die Repräsentativverfassung eine lange Ent-
wicklungsgeschichte durchlaufen hatte. Zwar bestritt er nicht, daß die konstitu-
tionelle Monarchie Frucht der neuen Zeit war, aber der Keim, der dieser Frucht
vorausgehen mußte, sei sehr viel früher gelegt worden. Als ersten großen, aber
noch unreifen Versuch zu einer Staatsbildung konstitutionellen Gepräges sah er
die germanischen Staaten auf römischem Boden an, »als zuerst römische Staats-
ideen sich mit germanischen Rechten vermählten.« Diese Ansätze gingen mit
der Lehnsmonarchie unter. Als aber das Mittelalter wich, »da fing die moderne
Staatsverfassung an zu zeitigen. Im Großen ist sie das Ziel einer mehr als tau-
sendjährigen Geschichte, die Vollendung des romanisch-germanischen Staatsle-
bens, d.h., der eigentlichen europäischen Staatscultur«°. Eine bedeutende Rolle
bei dieser Entwicklung wies Bluntschli England zu.
4 l. Annäherung andas Thema
Dagegen bewertete er das Beispiel der antiken Demokratie für die Ausbil-
dung des modernen Staatslebens sehr gering. Die Auffassungen im Altertum
und in der neueren Zeit über eine sinnvolle Staatsorganisation seien höchst un-
terschiedlich. »Die antiken Demokratien gingen von dem Staate aus, und such-
ten die Freiheit Aller in der politisch-gleichen Herrschaft Aller. Die neueren
Demokratien geben regelmäßig von der individuellen Freiheit des Einzelnen aus
und suchen möglichst wenig davon abzugeben an das Ganze, möglichst wenig
zu gehorchen. Die alte Demokratie ferner war durchweg eine unmittelbare De-
mokratie, wenn auch bald in absoluter Form, bald ermäßigt; die neuere dagegen
ist regelmäßig eine repräsentative Demokratie«7. Bluntschli wies ferner darauf
hin, daß die erste Form nur in einem sehr kleinen Staatsgebiet möglich, die letz-
tere aber auch in einem großen Volke und Lande anwendbar sei.
Er lenkte den Blick vor allem auf Athen, hatte die antike Demokratie dort
doch ihren konsequentesten Ausdruck gefunden. In einem Umfang wie später
nie wieder habe das Volk dort selbst die Herrschaft ausgeübt. In die eingehende
Beschreibung der athenischen Verfassung, die er dann anschloß, mischte er leb-
hafte Zweifel ein, ob diese Staatsordnung sinnvoll gewesen sei. Selbst in Athen,
wo die geistige Bildung auch der unteren Schichten der Bürger höher gestanden
habe als seither in irgendeinem Land, sei die Mehrheit unfähig gewesen, den
Verlockungen der Demagogen zu widerstehen, und nicht geneigt, eine gerechte
Herrschaft auszuüben. So konnte selbst dort, unter einem geistig so hochgebil-
deten Volke, dessen Charakter sich vorzüglich im Unglück und in der Gefahr
groß zeigte, die reine Demokratie sich nur während ganz kurzer Zeit vor Verfall
und Entartung bewahren. Auch in der Blütezeit, so Bluntschli weiter, habe die
Größe der athenischen Demokratie vornehmlich darauf beruht, daß das Volk
sich der Autorität eines Staatsmannes völlig anvcrtrautc, daß also einer die Men-
ge faktisch beherrschte. Hier zitierte er die Feststellung des Thukydides über
die Zeit des Perikles. ›››Den Worten nach war Athen eine Demokratie, in der
Wirklichkeit aber war der Staat unter der Herrschaft des Ersten Mannes<«“.
Schließlich fehlte der Hinweis nicht, daß die athcnische Demokratie die Exi-
stenz einer unfreien dienenden Bevölkerung vorausgesetzt, Sklaven gehalten ha-
be, also eine Unwahrheit gewesen sei. Diese Beobachtungen verallgemeinerte
Bluntschli. Die unmittelbare Demokratie sei nur für kleine, traditionalistisch le-
bende Völkerschaften geeignet. Für höhere Kulturvölker und reichere Lebens-
verhältnisse sei sie aber eine momentan zwar anregende, in kurzem aber ver-
derbliche und ungenügende Staatsform. So habe sich die unmittelbare
Demokratie in der modernen Welt nur ganz ausnahmsweise, unter besonders
günstigen Verhältnissen und im Vergleich mit Athen in sehr gemilderter Form
gehalten, vorzugsweise in den Bergkantonen der Schweiz mit ihren Landge-
meinden der freien Männer. Aber auch für diese einfachen Demokratien stellte
Bluntschli die Tendenz fest, sie in repräsentative Staaten umzuwandeln. Fast 150
jahre später ist dieser Prozeß aber immer noch nicht abgeschlossen.
Exkurs zur antiken Demokratie 5
Daß es keine durchgehende Linie von der antiken zur modernen Demokratie
gibt, bestätigte jochen Bleicken vor wenigen jahren erneut. Er verwies darauf,
daß man in der berühmten ›Querelle des Anciens et des Modernes<, die Charles
Perrault mit seiner im januar 1687 in der Académie Française vorgetragenen
Ode über das Zeitalter Ludwigs des Großen auslöste und die das literarische
Frankreich entzweite, vergeblich nach einer Erwähnung der Demokratie suche,
und ebenso bei ihrer späteren Bewertung durch die deutsche Klassik. In der von
Perrault angestoßenen Kontroverse ging es um den Vergleich und iiberhaupt
um die Vergleichbarkeit der Antike mit der damaligen Gegenwart. Perrault, ei-
ner der wichtigsten Wortführer der Modernes, vertrat die Auffassung, daß die
klassische Zeit Frankreichs unter Ludwig XIV. dem augusteischen Zeitalter
ebenbürtig sei. Die Großen der Antike seien Menschen wie wir, und man kön-
ne, ohne ungerecht zu werden, einen Vergleich wagen. Namentlich diese Be-
merkungen sorgten für Unruhe. Es sei eine Schande für die Akademie, sich der-
artige Sätze überhaupt anhören zu müssen, rief einer der Zuhörer dazwischen,
noch ehe Perrault geendet hatte. In der nun :iusbrechenden literarischen Debat-
te wurde die Demokratie ›den Alten« nicht gutgeschrieben. lm Zeitalter des
Sonnenkönigs mag das verständlich sein, auffällig ist aber, daß hundert jahre
später, als in der Zeit der Französischen Revolution republikanische Tugenden
unter Hinweis auf die Antike beschworen wurden, Athen wiederum nicht be-
nannt wurde. Ganz offensichtlich war, so Bleicken, »der Blick auf die politi-
schen Verhältnisse der Griechen durch die Bedeutung Roms als des politischen
Leitbildes versperrt« Diese Haltung galt für das ganze 18. Jahrhundert, und
auch später waren Versuche, die moderne Demokratie »auf dem Hintergrund
des griechischen Urbildes zu sehen«, recht selten". Entsprechende Überlegun-
gen trug etwa Moses l. Finley 1973 vor, und Christian Meier stellte anderthalb
jahrzehnte später die Frage, ob die Griechen die Demokratie kannten.
Bleicl-ten selbst führte auf ganz wenigen Seiten einen Vergleich der antiken mit
der modernen Form durch. Dabei begann er mit der Feststellung, daß Athen eine
unmittelbare Deınokratie war und dies in einem so ausgeprägten Maße wie nir-
gends sonst. Die Unmittelbarkeit wurde auf doppelte Weise betont, also »als Prin-
zip als solches scharf erfaßt und beinahe bis zur Absurdität auf die Spitze getrie-
ben«l°. Denn einmal erstreckte sich die politische Tätigkeit der Athener auf alle
öffentlichen Funktionen, nicht nur auf den Besuch der Volksversammlung - des-
halb wurden Behörden und Gerichte ganz außerordentlich aufgebläht -, und zum
anderen sollte jeder ein solches Geschäft betreiben können, weshalb Tagegelder
gezahlt wurden. Man kann, so Bleicken, die athenische Demokratie durch die Ent-
scheidung aller Gegenstände durch alle definieren uncl idealtypisch durch das
Nichtvorhandensein einer Regierung erfassen. Alle Volksbeschlüsse und Gerichts-
6 I. Annäherung an das Thema ng
urteile waren eingebettet in ein Netz von Institutionen und Normen, die ihnen ei-
ne relative Richtigkeit im Sinne der gegebenen Ordnung sicherten. Das Interesse
aller lag im Gesetzesgehorsam, die Tradition und Gesetze sagten, was gut und
richtig war. Das politische Leben verlief innerhalb eines festen, von kaum jeman-
dem bestrittenen Ordnungs- und Wertgefüges. Das Individuum hatte gegenüber
der Gesamtheit einen vergleichsweise geringen Rang. Der Begriff der Freiheit
blieb farblos, er bedeutete Abwesenheit von Herrschaft, politische Tätigkeit durch
alle. Insofern war Demokratie mit Freiheit identisch. Viel mehr Gewicht hatte die
Idee der Gleichheit, aber diese Gleichheit war eine politische, keine soziale. Grup-
peninteressen galten nichts, und es wurde institutionell alles getan, um sie auszu-
schalten. Insgesamt ging es nicht um Wandel, sondern um Bewahrung.
››Die Statik der Verhältnisse«, so Bleicken zusammenfassend, »erscheint dem
modernen Betrachter mit seiner Vorstellung von Demokratie schwer vereinbar«1 1.
Für uns ist politisches Handeln auf Veränderung angelegt, die regelmäßig als Ver-
besserung bezeichnet wird. Die Konkurrenz der Meinungen und Gruppeninteres-
sen gilt viel. Freiheit ist nicht mehr nahezu identisch mit politischer Gleichheit, die
beiden Größen sind vielmehr deutlich auseinandergerückt. Das Individuum hat
hohen Rang, und sein Schutz vor der Staatsgewalt wie vor dem Druck der Ge-
samtheit ist eine zentrale Aufgabe der Politik. Der Begriff Freiheit meint weithin
persönliche Unabhängigkeit und Unantastbarkeit. Auch das Verständnis von
Gleichheit hat sich gewandelt. Sie wird nicht mehr nur im engen Sinne politisch -
als Gleichheit der politischen Berechtigung - gesehen, sondern hat in erheblichem
Maße auch eine soziale Dimension gewonnen. Freiheit und Gleichheit stehen da-
mit in einem gewissen Spannungsverhältnis. Repräsentation ist selbstverständlich,
wenn ihr gegenüber gerade in jüngerer Zeit der Wert der Unmittelbarkeit auch
wieder stärker betont wird. Die Abwesenheit einer Regierung wäre höchst uner-
wünscht, und diese Regierung soll etwas leisten können, muß also stark sein. Aber
sie muß kontrolliert werden. Zwischen antiker und moderner Demokratie beste-
hen mithin ganz erhebliche Unterschiede. Bei einem Abstand von fast zweieinhalb
Jahrtausenden ist eine tiefgreifende Andersartigkeit aber selbstverständlich. Die
Wandlungen zwischen dem 5. vorchristlichen und dem 20. nachchristlichen Jahr-
hundert sind derart gewichtig, daß man sich fragen muß, ob man die politische
Ordnung Athens mit der heutigen unter dem gleichen Namen fassen sollte.
VER1=AssUNGsvERGLizıcHUNG:
GEORG JELLINEK UND KURT Bıuavsıc;
Kehren wir nach diesem längeren Exkurs in Bereiche, die in der Folge nicht
mehr berührt werden, nochmals zu Bluntschli zurück. Es ist keine Frage, daß
_ Vi _* 7 Georg Jellinek tLı_d Kurt B rev_ sig J
seine Bemerkung, die Germanenreiehe auf römischem Boden seien cler erste
große Versuch einer konstitutionellen Staatsbildung gewesen, nicht wörtlich zu
nehmen ist. Der Konstitutionalismus gehört einer viel späteren Entwicklungs-
stufe an. Aber mit Sicherheit lassen sich deutlichere Linien von damals bis zur
neuzeitlichen Verfassungsgeschichte ziehen als vom alten Griechenland aus.
Viele Historiker oder historisch denkende Vertreter anderer Fächer, namentlich
juristen, haben das versucht. Für Bluntschli muß das nicht mehr belegt werden.
Seine vorstehend wiederholt herangezogene ›Allgemeine Staatslehre< von 1852
ist, wie der Titelzusatz ›geschichtlich begründet« auch erkennen läßt, über wei-
te Strecken eine vergleichende Verfassungsgeschichte des Mittelalters und der
Neuzeit, eine sehr erfolgreiche übrigens: Vierunddreißig jahre nach ihrem erst-
maligen Erscheinen und fünf jahre nach dem Tode des Autors kam 1896 die
sechste Auflage unter dem Titel ›Lehre vom modernen Staat« heraus, betreut
von Edgar Löning. Auch heute noch kann das Werk Anregungen vermitteln.
Das gilt ebenso für die ›Allgemeine Staatslehre<, die der Heidelberger Rechts-
lehrer Georg jellinek im jahre 1900 vorlegte und die sehr einflußreich wurde;
bald kam es zu einer mehrfach nachgedruckten zweiten Auflage, und nach dem
Tode des Verfassers besorgte der Sohn, Walter jellinek, 1913 unter Verwendung
von handschriftlichen Aufzeiclınuııgen seines Vaters eine dritte, die bis 1928
fiinf unveränderte Neudrucke erfuhr - die starke Nachfrage zeigt, welchen
Rang das Werk hatte und hat. Hier findet sich die heute geläufige Definition des
Staates als einer dauerhaften Herrschaftsordnung für eine bestimmte Bevölke-
rung auf einem bestimmten Gebiet, allerdings hat jellinek die den Staat konsti-
tuierenden Elemente Land, Volk und Herrschaft nicht in einen derart kurzen
Satz gebracht, sondern sie nacheinander eingehend beschrieben. Wie Bluntsch-
li, so beriihrtc auch er alle lirscheinungsformen des staatlichen Lebens von der
Antike an und bot damit in reicher Fülle vergleichendes Material, aber insge-
samt ist seine Allgemeine Staatslehre doch weniger historisch angelegt als die
seines Vorgängers.
»die Fäden aufdecken, die geistiges und soziales Leben der Völker miteinander
verbunden und umsponnen halten.«l2 Als großes Thema der Weltgeschichte sah
er das soziale und sittliche Verhalten der Menschen zueinander an. Alles Han-
deln wie alles Denken ging seines Erachtens aus der Betätigung des Persönlich-
keitsdranges, entweder der Ichliebe oder des entgegengesetzten Triebes, der
Hingabe hervor. »Diese beiden Instinkte des Herzens sind es, die im Grunde
Welt und Geschichte beherrschem'-I.
Breysig folgte also einem ganz bestimmten psychologischen Konzept und
wollte in diesem Sinne eine Weltgeschichte schreiben, so wie das im 19. jahr-
hundert von Rotteck an öfters geschehen war, zuletzt durch den unbestrittenen
Großmeister der deutschen Historiographie in jener Zeit, Leopold von Rankc,
der ein solches Unternehmen noch in seinem neunten Lebensjahrzehnt begann
und den ersten Band seines Alterswerkes 1881 erscheinen ließ, als er immerhin
schon 86 jahre zählte. Zu einem Abschluß gedieh die großangelegte Darstellung
nicht. Rankc konnte in acht Bänden immerhin noch das Altertum und einen
Teil des Mittelalters behandeln. Als neunter Band wurden seine 1854 dem
bayerischen König Maximilian II. gehaltenen Vorlesungen ›Über die Epochen
der neuern Geschichte« beigefügt. Der Monarch, der als junger Prinz bei Rankc
Vorlesungen gehört hatte, hätte den großen Berliner Gelehrten gern nach Mün-
chen berufen. Daraus wurde nichts. So bat er Rankc, gleichsam als Ersatz, mit
ihm den Urlaub in Berchtesgaden zu verbringen. Dort nun wünschte er, Rankc
möge ihm seine Gesamtanschauung vom Gang der Weltgeschichte vortragen.
Das tat Rankc allerdings nicht ganz vollständig, er schloß die vorchristlichen
jahrhundcrte aus und begann mit Cäsar. So führt der nicht von ihm stammende
Titel in die Irre. Seine von einem Stenographen aufgenommenen Ausführungen,
für die er, wie er an seine Frau schrieb, nicht die Spur eines Buches heranzichen
konnte, begannen mit Überlegungen zu den leitenden Ideen in der Weltge-
schichte und wandten sich dann den Grundlagen des römischen Reiches zu.
Von dort führte er in neunzehn Vorträgen bis in die konstitutionelle Zeit, also
bis in die damalige Gegenwart. Den modernen Verfassungsstaat setzte er, ohne
den Ausdruck zu benutzen, mit der Glorious Revolution in England 1688/89
an, viel mehr Gewicht für die Entwicklung maß er allerdings der amerikani-
schen Revolution bei. Dadurch, daß die Nordamerikaner, abfallend von dem in
England gültigen konstitutionellen Prinzip, eine Republik schufen, die auf dem
individuellen Recht jedes Einzelnen beruhte, trat eine neue Macht in die Welt.
_I)ie Idee des von unten aufsteigenden Staates wanderte seines Erachtens dann
nach Europa hinüber und gewann hier während der Französischen Revolution
wenigstens kurzfristig die Oberhand. Seither standen die Prinzipien der Mon-
archie und der Volkssouveränität miteinander im Wettstreit.
Rankc konnte, den Umständen entsprechend, 1854 die Zusammenhänge nur
skizzieren, Breysig dagegen schwebte von Anfang an ein Kolossalgemiilde vor.
Er führte es allerdings nur ansatzweise aus, wiewohl er Zeit genug zur Fertig-
_ _(íeorgJellir1:k und Kurt Breysig g 9
stellung gehabt hätte: als er das große Werk in Angriff nahm, stand er mit wenig
mehr als dreißig Jahren noch ziemlich am Beginn seiner wissenschaftlichen
Laufbahn. Er brach die Arbeit nach drei stattlichen Bänden nach verhältnis-
mäßig kurzer Zeit mit dem Hochmittelalter ab, weil ihn andere Fragen jetzt
mehr interessierten. An wichtigen verfassungsgeschichtlichen Beobachtungen
ist festzuhalten, daß er die ersten Keime »des germanischen Parlamentarismus«
in der Mitte des 6. Jahrhunderts im neustrischen Franken ausmachte“, weil die
allgemeine Stammesversammlung verschwand und nun nur noch die Großen
des Reichs zweimal jährlich zusammenkamen und die ihnen gemachten Vorla-
gen in einem Ausschuß berieten. ehe sie als Kapitulare verabschiedet wurden.
Stark unterstrich er die Bedeutung römischer Einflüsse für die institutionelle
Entwicklung des Frankenreichs, auch für die Anfänge der germanischen Volks-
vertretung. »Die ersten Großenversammlungen haben sich an die Landeskonzi-
lien der Bischöfe angelehnt« So hielt Breysig die Vermutung für sehr berech-
tigt, ››daß auch das Prinzip der Vertretung, der repräsentative Parlamentarismus,
d.h. ein für alle spätere europäische Verfassungsentwicklung in Geltung geblie-
bener Grundsatz, diesem Muster entnommen ist.« Die Konzilien und Synoden
der römiseh-christlichen Kirche in der späten Kaiserzeit bewertete er als »Aus-
gangspunkt für alle romnnisch-germanische Stände- und Parlamcntsgeschich-
te«'5. Für die Kirchenversammlungen sei damals zum ersten Male eine Form
der Vertretung für ein weitausgedehntes Territorium gefunden und damit der
Weg eingeschlagen worden, auf denı man den Parlamentarismus für einen
Flächenstaat anwendbar machen konnte.
Aus der Perspektive des späteren Verfassungsstaates zog Breysig gleichwohl
eine negative Bilanz für die germanisch-romanische Staatengruppe im frühen
Mittelalter. das er bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts rechnete. Lebhaft beklagte
er, daß sich die Ansätze des Parlamentarismus nicht halten konnten. »Die vom
germanischen Altertum überkoınmeneıı archaisch-plumpcn, aber starken Mon-
arclıien werden überall durch den emporstrebenden Hochadel in ihrem wesent-
lichsten politischen Besitz. der Staatseinheit, angegriffen«“*, und der daran sich
entzündende Kampf beherrschte das innere Staatsleben dieser Jahrhunderte.
Kein Zeitalter sei so sehr bestimmt gewesen durch aristokratisches Vorwärts-
drängen, so erfüllt von adligen Rebellionen gegen Königtum und Staatsmacht
wie dieses. »Vordringender Adel, schwächer werclendes Königtum, gedruckte
Bauern ist fast überall das Ergebnis«'7.
Die verschiedenen nationalen Entwicklungen betrachtete Breysig sehr detail-
liert. Dabei kamen ihm angesichts der unterschiedlichen Geschwindigkeit, mit
der sich der historische Prozeß in den jeweiligen Staaten vollzog, erhebliche
Zweifel daran, ob es nicht gcratener wäre, die einzelnen Stufen nach nationalen
und nicht nach gemeineuropäischen Maßstäben abzugrenzen, also etwa in
Skandinavien das Altertum bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts zu erstrecken, in
Italien die Neuzeit aber schon in derselben Zeit beginnen zu lassen. Jede Anset-
IO I.7Ann†äherung anydas Thema _ _
Was Breysig im Alleingang versuchte, unternahm wenig später eine Reihe von
Gelehrten gemeinsam. Der sehr angesehene Verlag Teubner in Leipzig brachte
ab 1906 eine auf zahlreiche Bände berechnete, von Paul I-Iinneberg betreute
Reihe ›Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung und ihre Ziele« heraus, die
weit in die Geschichte zurückgriff. Hier erschien 1911 eine »Allgemeine Verfas-
sungs- und Verwaltungsgeschichtm, allerdings nur mit dem ersten Halbband.
Darin machte der Soziologe und Ethnologe Alfred Vierkandt den Beginn mit
einem Aufsatz über die Anfänge von Verfassung und Verwaltung bei primitiven
Völkern, wobei er aus Beobachtungen außerhalb Europas im 19. Jahrhundert
auch auf die Frühgeschichte rückschloß. Es folgten Abschnitte über den alten
Orient, über Israel und Juda sowie über Karthago, sodann bis in die Gegenwart
reichend, Beiträge über Verfassung und Verwaltung der islamischen Staaten,
Chinas und Japans. Griechenland und Rom von Mykcne an behandelte Leo-
pold Wenger recht kurz, da Staat und Gesellschaft der Griechen und Römer in
Otto I'-lintze 11
der Reihe mit zwei eigenen Bänden bedacht waren. Verfassung und Verwaltung
cler Germanen und des Deutschen Reiches bis zum Jahrc 1806 erörterte der
österreichische Rechtshistoriker Arnold Luschin von Ebengreuth. Die Autoren,
die der Teubnersche Verlag gewonnen hatte, waren führende Vertreter ihres ie-
weiligen Faches. So boten die Bände gründliche Information in Handbuchform
und ein breites Vergleichsmaterial. Aber es fehlte natürlich der Reiz der umfas-
senden Betrachtung aus der Perspektive eines einzelnen Autors. Erst viele ]ahr-
zehnte später wurde das durch den englischen Historiker Gladden geleistet, al-
lerdings nur für die Verwaltungsgeschichte. Das ehrgeizige Teubnersche
Unternehmen blieb infolge des Ersten Weltkrieges stecken, der zweite Halb-
band der Allgemeinen Verfassungsgeschichte erschien nie. Hier sollte Otto
Hintze die neuere Zeit insgesamt behandeln.
OT†o HıN'ı'zi1
Hintze war ein großer Einzelgänger. Er war seit 1902 Inhaber des eigens für ihn
gesclıaffenen Lehrstuhls für Verfassungs-. Verwaltungs-, Wirtschaftsgeschichte
und Politik in Berlin und unzweifelhaft der bedeutendste deutsche Verfas-
sungshistoriker überhaupt. Geboren 1861, begann er sein Studium 1880 bei jo-
hann Gustav Droysen, bei dem er freilich die volle Würdigung des ökonomi-
schen und sozialen Lebens vermißte. So wurde der 1882 aus Straßburg nach
Berlin berufene Natioııalökonoııı und Historiker Gustav Schmoller, bei dem ei-
nige jahre später auch Breysig studierte, seiıı zweiter großer akademischer Leh-
rer. Daneben hatte schließlich der Rechtshistoriker Georg Waitz, 1862 Autor ei-
ner sogcnannten -Politik~, erheblichen Einfluß auf ihn. Friedrich Meinecke. der
Hintze 1887 kennenlcrnte und dann mit ihm zeitlebens eng befreundet war,
schrieb nach Jahrzehnten über ihn, daß cr, sobald er im Gespräch »in Feuer ge-
riet, Glied auf Glied einer großen Entwieklung nur nannte, um sie sofort kau-
sal-ehern miteinander zu verschmelzen. Das individuelle Eigenleben schob er
als nicht primär erforschenswert beiseite« Seine Rede war ››konstruktiv, von
zwingender Logik, nur daß man an den Prämissen zuweilen Kritik üben konn-
te, aber immer auf die Ganzheit der Dinge gerichtet«'°.
Von diesem Bemühen um Ganzheit gab Hintze eine erste große Probe, als er
1897 das wenige jahre zuvor erschienene Buch Wilhelm Roschers, ›Politik. Ge-
schichtlichc Naturlehre der Monarchie, Aristokratie und Demokratie iıı einem
langen Aufsatz eingehend besprach. Roscher, inzwischen im achten Lebens-
jahrzehnt, war einer der Großen der damaligen Nationalökonomie und, wie
Schmoller, einer der Begründer ihrer historischen Schule. Er wollte mit seiner
12 1. Annähtüng an das Thema A __ _
der von Feudalismus sprach, wollte bei seiner Auseinandersetzung mit diesem
Phänomen einen ldealtyp gewinnen. Allerdings hielt er es für nötig, bei derje-
nigen individuellen historischen Erscheinung anzusetzen, von der aus der Be-
griff gewonnen wurde, »nämlich der feudalen Verfassung des fränkischen
Reichs und seiner Nachfolgestaaten, also des romanisch-germanischen Völker-
kreises des Mittelalters«33. Ganz allgemein bezeichnete er Feudalismus als ein
System persönlicher Herrschaftsmittel, das sich zur Regierung eines großen
Reiches in einer Zeit vorherrschender Naturalwirtschaft und wenig entwickel-
ten Verkehrs geradezu anbot. Die Realisierung dieses Zwecks führte militärisch
zur Entstehung eines gründlich ausgebildeten, dem Herrscher in Treue verbun-
denen berufsmäßigen Kriegerstandes mit bevorrechtigter Stellung, ökonomisch-
sozial zu einer grundhcrrlich-bäuerlichen Wirtschaftsweise, die dem privilegier-
ten Kriegerstand ein arbeitsfreies Renteneinkommen gewährte, politisch zur
Etablierung dieses Kriegerstandes als lokale Herren und zugleich als Gruppe,
die maßgeblichen Einfluß auf den Staatsverband hatte.
In den drei Phasen, in die sich die lange Geschichte des Feudalismus gliedern
läßt, sah Hintze jeweils einen dieser Faktoren besonders ausgeprägt - aber die
anderen waren natürlich ebenfalls wirksam. lm Frühfeudalismus, der etwa bis
zum Ende des 12. jahrhunderts reichte, war dies das militärische Moment, im
Hochfeudalismus - bis zum I6. oder 17. Jahrhundert - das politische, im Spät-
feudalismus, der Ausläufer bis in das 20. jahrhundert hatte, das ökonomisch-so-
ziale. Die militärische Funktion verschwand zuerst, an die Stelle des bisherigen
Kriegerstandes traten die Söldnerheere und später die stehenden Armeen. ln der
Epoche des Hochfeudalismus konnte der Kriegeradel seinen politischen Einfluß
gegenüber der Frühphase erheblich steigern, und zwar in den einzelnen Staaten
in unterschiedlicher Form, im lockeren deutschen Staatsverband ››in der Form
partikularistischer Absonderung und fürstenmäßigcr Selbstherrlichkeit«, in
einem festeren Staatsverband wie England »in der Form eines ständisch korpo-
rativen Zusammenschlusses«3". ln der dritten Phase war das politische Gewicht
des Adels viel geringer, jetzt konzentrierte er sich darauf, seine ökonomische
Stellung als Cuts- oder Grundherr auszunutzen und zu bewahren und seine so-
zialen Vorrechte zu erhalten. Aber auch jetzt noch genoß er politische Privile-
gien, im 19. jahrhundert beispielsweise durch eine besondere Repräsentation in
den Ersten Kammern der Landtage.
Vom Feudalismus im vollen Sinne wollte Hintze nur sprechen, wenn diese
drei Faktoren zusammenwirkten, wie das bei den Nachfolgestaaten des karo-
lingischen Reiches der Fall war. Damit engte er den Begriff deutlich ein. Außer
im abendländischen Europa - den vom Katholizisnius geprägten Teilen des
Kontinents - meinte er Feudalismus nur noch in Rußland, in der islamischen
Welt und in japan ausmachen zu können. Mit Vehemenz wandte er sich dage-
gen, daß Feudalismus ein allgemeines Durchgangsstadium sei, das jedes Volk
durchlaufen müsse; so bekannte Gelehrte wie der Philosoph uııd Psychologe
Otto Hintze 15
dieser Komplexe erläuterte Hintze eingehend. Über den Feudalismus ınuß hier
nicht mehr viel gesagt werden. Zu erwähnen ist nur die jetzt stärkere Hervor-
hebung der Tatsache, daß die Idee, Herrschaft sei Führung, die im Namen und
mit Zustimmung der Volksgesamtheit ausgeübt werden müsse, bei den germa-
nischen Völkern auch in dieser Phase nicht unterging. Daß weltliche und geist-
liche Gewalt miteinander rivalisierten und nicht zusammenfielen oder dicht bei-
einander standen wic in anderen Kulturkreisen und auch im orthodox
geprägten Teil Europas, war von kaum zu unterschätzender Bedeutung. Die Ri-
valität von Kaisertum und Papsttuın, die vom l1.]ahrhundert bis zum Ausgang
des Mittelalters reichte und sich besonders heftig im ausgehenden ll. Jahrhun-
dert im Investiturstreit entlud, war »einer der stärksten weltgeschichtlichen
Faktoren und auch für die Ausbildung und Entstehung der ständischen Verfas-
sungen von maßgebender Bedeutung«17. Der Kampf wurde mit einer außeror-
dentlich breiten Argumentation bestritten, und viele dieser Gedanken kamen
auch dem Ständewesen zugute, ebenso manche kirchlichen Strukturen. In die-
sem Sinne wirkten auch die Rivalitäten der Staaten. Die Herrscher sahen sich
auf den guten Willen der führenden Gruppen angewiesen und kamen ihnen des-
halb vielfach entgegen. Hintze erörterte all das in stetem interkulturellem Ver-
gleich.
Mit dem modernen Staat setzte Hintze sich auseinander, weil er bedauertc,
daß »dieses prägnante Wort, das doch mehr enthält als eine bloße Zeitbcstim-
mung...nach seinem eigentlichen Sinngehalt wie nach seiner Anwendungsfahig-
keit nicht ganz klar und eindeutig« sei. So wollte er »das Wesen dessen, was
man als ›n1odernen Staat« bezeiclmet«. näher bestimmen. Auch hierbei ging es
ihm um eine anschauliche Abstraktion, um einen Idealtypus“. Staat verstand er
ganz allgemein im Anschluß an die ursprüngliche Bedeutung des Wortes - sta-
tus rei publicae - als »denjenigen Zustand oder diejenige Verfassung eines Ge-
meinwesens, wodurch dieses befähigt wird, einen gemeinsamen Willen und ein
gemeinsames Handeln hervorzubringen«3". Er dachte ›7.ustand« und ›Verfas-
sung« nicht nur statisch, sondern zugleich auch dynamisch, wie das kurz zuvor
der Göttinger Staatsrechtler Rudolf Sınend dargelegt hatte. Als Gemeinwesen
bezeichnete er jeden menschlichen Verband von relativer Dauer, der über die
Familie hinausging, also einen Stamm, einen Gau, eine Stadt oder ein Volk. So
relativierte er durch die Wahl dieses Ausdrucks den Begriff Staat, der eigentlich
nur in die Neuzeit gehört. Wenn cr ihn gleichwohl auf ältere Verhältnisse an-
wandte, dann geschah das aus pragniatischen Gründen. Unbefangen sprach er
wiederholt von mittelalterlicher Staatsbildung.
lm einzelnen legte er dar, daß der moderne Staat im Laufe seiner mehrhun-
dertialırigen Entwicklulng verschiedene Phasen durchlief, die sich allerdings
überlappten. Er unterschied drei Stufen. lın ersten Stadium, das ganz im großen
betrachtet bis zur Französischen Revolution reichte, bildeten sich die Züge all-
mahlich heraus, die für den Idealtypus des modernen Staates charakteristisch
li I. Annäherupg an das Thema »_ _ _g
sind. Das zweite Stadium, das der Hochblüte, zeigte den Idealtypus in relativ
vollkommener Ausbildung, es umfaßte in der Hauptsache das ganze 19. Jahr-
hundert. Das dritte Stadium oder die Spätzeit gehörte für Hintze in das 20.
Jahrhundert, er konstatierte hier Spuren der Zersetzung unter der Einwirkung
neuer Tendenzen, »die zu einem andersartigen Typus hinzuführen scheinen«3° -
der Vortrag wurde in der Weimarer Staatkrise gehalten. Insgesamt stellte Hint-
ze eine Verkettung der politischen Erscheinungen dergestalt fest, daß die Spät-
zeit des einen Typs zugleich die Frühzeit des nachfolgenden war. Hier hätte er
von ›postmodern< sprechen können, aber diesen heute sehr geläufigen Begriff
kannte er wohl nicht, wiewohl er vermutlich erstmals schon 1917 von dem Kul-
turphilosophen und Schriftsteller Rudolf Pannwitz benutzt wurde.
Der Sache nach, so Hintze weiter, lasse sich der moderne Staat in vier Ab-
straktionen teilen, die sich gegenseitig ergänzten und überlagerten und ihn ins-
gesamt ausmachten. Das waren erstens der souveräne Machtstaat im Rahmen
des europäischen Staatensystems, zweitens der relativ geschlossene Handelsstaat
mit schließlich bürgerlich-kapitalistischer Gesellschafts- und Wirtschaftsform,
drittens der liberale Rechts- und Verfassungsstaat mit der Richtung auf die per-
sönliche Freiheit des Individuums und viertens der alle diese Tendenzen umfas-
sende und steigernde Nationalstaat mit der Richtung auf die Demokratie.
Souveränität verstand Hintze als die Herauslösung des Staates als eines Indi-
viduums aus der Gebundenheit alter Gemeinschaftsverhältnisse. Im Innern
durfte die Ausschließlichkeit der Staatsgewalt nicht mehr durch konkurrierende
Kräfte in Frage gestellt werden, auch nicht durch die Kirche, nach außen muß-
te die Fähigkeit zur Selbstbehauptung innerhalb des Staatensystems gegeben
sein. Mit Recht kennzeichnete Hintze diesen Typus als Machtstaat; es war ein
Machtstaat nach innen und nach außen, aber der äußere Aspekt interessierte
Hintze mehr. Den Krieg bezeichnete er als ultima ratio der Staatsraison, als »das
große Schwungrad für den gesamten politischen Betrieb des modernen Staa-
tes«". Wegen der Fähigkeit zur bewaffneten Auseinandersetzung mit anderen
Staaten entstanden die modernen Heere und Flotten, wesentlich zu ihrer Fi-
nanzierung die neuen Steuersysteme und die bürokratische Finanzverwaltung,
überhaupt eine rationale Verwaltungstechnik, die auch die Wirtschaft zu för-
dern suchte. In dieser Sehweise wurde das militärische Element aber zweifellos
überbewertet. In den geschlossenen Handclsstaat bezog Hintze das Merkantil-
system seit der Mitte des 17. Jahrhunderts mit ein, die Hochblüte dieses Typus
fand er aber im 19. Jahrhundert, also im eigentlichen Zeitalter des Kapitalismus.
Für den liberalen Rechts- und Verfassungsstaat hob er zwei Momente hervor,
einmal die Anerkennung und den Schutz subjektiver öffentlicher Rechte der In-
dividuen, ein Gedanke, der mit der englischen Revolution im 17. Jahrhundert
einen gewaltigen Auftrieb erfahren habe, zum anderen die gewaltenteilige
Staatsorganisation. Den um 1800 entstandenen Nationalstaat sah er auf der
Volkssouveränität beruhen, und als charakteristisch für ihn erachtete er einen
4 g Max Weber 19
nationalistischen Elan, der allen Egoismen des modernen Staates eine ideologi-
sche Rechtfertigung gab und sie damit erheblich stärkte.
Soweit ein Überblick über die letzten großen Arbeiten Otto Hintzes. Manche
Einzelheiten mag man diskutieren, und möglicherweise ist seine Definition von
Feudalismus zu eng, aber die Erklärung dafür, daß die Repräsentativverfassung
in Europa entstand, ist überzeugend. Vor allem die Stellung der geistlichen Ge-
walt ist zu unterstreichen. Dadurch wurde der Weg zur Universalmonarchie
verbaut. Auch wurden durch die Kirche wichtige Strukturen aus der römischen
Antike übermittelt - auf den Modellcharakter der Synoden und Konzilien für
Repräsentation hatten ja schon Bluntschli oder Breysig verwiesen. Mit vollem
Recht bezeichnete Hintze die Rivalität von Kaiser und Papst als einen der stärk-
sten weltgeschichtlichen Faktoren. Die weltlichen Traditionslinien aus dem Im-
perium Romanum zu den Germanenreichen wird man heute vermutlich etwas
kräftiger ziehen als Hintze das tat, und mit Sicherheit bewertete er die Rolle des
Krieges für den Verlauf der Weltgeschichte zu hoch. Auf den Wunsch nach
mehr staatlicher Effizienz wirkten auch andere Faktoren hin.
MAX WEBER
Unter den deutschen Historikern hatte Hintze, abgesehen von Breysig, die
breiteste Perspektive. Wegen seines komparativen Werks ist er am ehesten ne-
ben den um drei Jahre jüngeren Max Weber zu stellen, freilich verarbeitete die-
ser noch mehr Material aus den verschiedenen Zeiten und Kulturkreisen als je-
ner - Hintze war, wenn man so will, der solidere Fachwissenschaftler und
leistete mehr Kärrnerarbeit auch in Archiven. Vieles, was er zur Entwicklung
der Bürokratie sagte, wurde später von Weber für seinen Idealtypus Bürokratie
herangezogen.
Webers Interesse an diesem Komplex war intensiver als das seines Berliner
Kollegen. Die unaufhaltsame Bürokratisierung der Welt war für ihn ein besorg-
niserregender Vorgang. Er fürchtete, daß dadurch schließlich eine solche Ord-
nung entstehen werde, wie sie die römische Kaiserzeit oder zuvor das alte
Ägypten gekennzeichnet hatte, und er erwartete eine neue Hörigkeit, welcher
»vielleicht dereinst die Menschen sich, wie die Fellachen im altägyptischen
Staat, ohnmächtig zu fügen gezwungen sein werden«32. So suchte er nach Mit-
teln, wie der wachsenden Übermacht der Bürokratie begegnet werden könne,
und erblickte die Lösung in einer plebiszitären Demokratie. An die Spitze
wünschte er sich Menschen mit großem politischen Machtinstinkt und mit den
2O I. Annäherung an das Thema f
JUNGERE VERFASSUNGSVERGLEICHE
Unter den breit vergleichenden Historikern ist schließlich noch der Schweizer
Werner Näf zu nennen, gleichsam ein Nachzügler, denn er war eine Generation
jünger als die zuletzt besprochenen Autoren. Aus seiner Feder erschien 1945/46
ein 1959/64 nochmals aufgelegtes zweibändiges Werk ›Die Epochen der neue-
ren Geschichte<, das die Entwicklung der wichtigsten europäischen Staaten und
des Staatensystems insgesamt zum Gegenstand hat, nach dem Untertitel vom
Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart, tatsächlich aber unter Einbezie-
hung des Mittelalters. Näf begann mit seiner Darstellung im Frankenreich, weil
dort die Fundamente des christlichen Abendlandes gelegt wurden. Der Verfas-
sungsentwicklung wandte er durchgehend breite Aufmerksamkeit zu, und Nord-
amerika bezog er mit ein.
22 I. Annäherung an das Thema
Das Jahr 1999 brachte einen beträchtlichen Fortschritt auf dem Gebiet der ver-
gleichenden Verfassungsgeschichte. Fast gleichzeitig erschienen eine Studie über
den Aufstieg und Niedergang des Staates (im englischen Original und in deut-
__J_üngere Verfassungsvergleiche 23
scher Übersetzung) aus der Feder Martin van Crevelds und eine ›Geschichte der
Staatsgewaln von Wolfgang Reinhard. Beide Autoren sind sich darin einig, daß
der moderne Staat europäischen Ursprungs ist und in die anderen Kontinente
nur ›exportiert« wurde, und beide meinen, daß er inzwischen in seine Endphase
eingetreten ist. Van Creveld sagt das schon im Titel, Reinhard nach wenigen
Zeilen seines Textes. Zur Begründung dieser Auffassung verweisen sie auf das
wachsende Gewicht internationaler Organisationen, auf die Globalisierung, auf
die mannigfaltigen konkurriereııden Ansprüche, die auch im Innern angemeldet
werden, auf das Scbrumpfen der Ressourcen, auf die die Staatsgewalt zurück-
greifen kann, auf die deutlich sichtbare Überstrapazierung des Soıialstaates und
darauf, daß an den Staat nicht mehr wie früher geglaubt wird.
Van Creveld wagte sich an einen Durchgang durch die ganze Geschichte. Die
Vorgeschichte des Staates, die er bis 1300 n Chr. reichen sieht, behandelt er frei-
lich nur kursorisch. Auf knapp 60 Seiten spricht er über alle Kontinente und
vier Jahrtausende. Es ist die Rede von den Stämmen ohne Herrscher, also von
den einfachsten politischen Gemeinschaften, von Häuptlingstümern, von denen
sich einige zu Großreichen entwickelten, und von den Stadtstaaten der ver-
schiedensten Typen. Viel ausführlicher erörtert der Autor den Aufstieg des
Staates zwischen 1300 und 1648 iın Kampf der Monarchen gegen Kirche, Kai-
scrtum, Adel und Städte. Beim Zeitraum von 1648 bis 1789 interessiert ihn vor-
nehmlich die Durchsetzung effizienter monarchischer Herrschaft. Die Blütezeit
des Staates sieht er mit der Französischen Revolution beginnen. ln den Kapiteln
über das I9. und das 20. Jalirlmııdert geht es uın die weitere Verdichtung der
Staatsınacht, um Militär, Polizei, Rechtspflege, Bildungswesen und Sozialpoli-
tik und um die Ausbreitung des modernen Staates nach Osteuropa, Nordame-
rika, in die britischen Dominions, nach Lateinamerika. Afrika und Asien.
Schließlich wendet sich van Creveld dem Niedergang des Staates seit 1975 zu.
Das Buch ist mit großem Schwung geschrieben und gewiß anregend, behandelt
manche Aspekte aber doch nur knapp, namentlich dic Dimension der Verfas-
sungsstaatlichkeit. Dem robusten Umgang dcr Staaten miteinander, dem Mi-
litärwesen und den Kriegen scheint dagegen zuviel Aufmerksamkeit gewidmet.
Reinhard beschreibt die Entwicklung ab etwa 1100. Ähnlich Friedrich, doch
sehr viel konzentrierter, beleuchtet er die zentralen Aspekte der Staatlichkeit. Er
zeichnet die Iintwicklung der Monarchie von den frühen Gernıanenstaaten bis
zum 18. Jahrhundert nach und spricht über die Verwaltung, über die Auseinan-
dersetzung der frühneuzeitlichen Monarchie mit dem Adel, der Kirche und den
Städten, über die Rechtspflege, über den Ausbau der staatlichen Machtmittel,
namentlich über die Erfassung der finanziellen Ressourcen und über den Ein-
fluß auf die Wirtschaft, über Krieg und innere Sicherheit, über Völkerrecht und
Staatensvstem, stets mit Blick auf ganz Europa und immer unter Beachtung
auch der Geistesgeschichte. Des weiteren geht es um die Entwicklung des Ver-
fassutıgsstaates, um den Sozi.ılst~.ıat und uııı den totalen Staat des 20. Jahrhun-
24 _ I. Annäherung an das Thema
S'rÄt›TtwEsfiN
Wer nach den Wurzeln des modernen Verfassungstaates sucht, muß bis in das
Mittelalter zurückgreifen. Drei Aspekte sind genauer zu betrachten, die Städte
und andere genossenschaftliehe Gemeinwesen, die frühen Stände und einige
Beiträge zur politischen Philosophie. Bis zur Spätantike gab es in Europa Städ-
te, also Wohnplätze mit stark verdichteter Bevölkerung und mit zentralen ad«
ministrativen, militärischen und religiösen Funktionen, nur innerhalb des Rö-
mischen Rciches. Den außerhalb dieser Grenzen lebenden Kelten, Germanen
und Slawen war diese Siedlungsweise so fremd, daß sie nicht einmal ein eigenes
Wort dafür hatten; die Germanen benutzten dafür die Bezeichnung Burg. Im
aulšerrömischen I*'.urop~.1 existierten nur wenige Burganlagcn mit zentralörtlicher
Bedeutung. Die meisten Städte überstanden die Stürme der Völkcrwanderungs-
zeit nur mit stark verringerter fiinwohııerzalıl. Zwar waren sie nach wie vor der
Mittelpunkt ihres Umlandes, von dem sie rechtlich nicht getrennt waren, aber
die einst wohlgeordnete Verwaltung war weithin zerfallen. Die notwendigen
Entscheidungen wurden von den auf dem Lande lebenden Großen in einem
formlosen Verfahren getroffen. ln den Städten, in denen Bischöfe residierten -
und das waren damals eigentlich alle - spielten diese eine wichtige und wach-
sende Rolle als Führer und Sprecher der Ortsansässigen.
Der Wiederaufstieg der Stadt begann schon im 7. Jahrhundert und vollzog
sich regional sehr unterschiedlich, unterbrochen zunächst vorı mancherlei
Rückschlägcn. Er beschleunigte sich iın '~). jahrhundert, und das Städtewesen
entfaltete sich nun zunehmend auch in denjenigen Regionen, die nicht zum Rö-
mischen Reich gehört hatten. Anstöße dazu gingen von den Herrschern aus -
besonders typisch war England unter Alfred dem Großen _ oder, bei Markt-
siedlungen, von anderen Initiatoren. und bei dcn älteren Städten bildeten sich
Vorstadte, Suburbien, Burgi oder Vici. Die entscheidende Phase bei der Durch-
setzung des Städtewesens ist im 10., ll. und I2. Jahrhundert zu sehen, als der
Kontinent nicht mehr so stark wie zuvor unter äußerer Bedrohung - durch Sa-
razcncn, Ungarn oder Wikinger - leiden mußte. Die Zahl der städtischen Sied-
lungen vermehrte sich ganz außerordentlich, ihre Bevölkerung wuchs kräftig
an, und ihre wirtschaftliche Bedeutung nahm erheblich zu. Freilich vollzog sich
dieser Entwieklungsprozelš nicht überall in Europa ähnlich. Zwischen dem
Kernbereich, der die Nachfolgcstaaten des Karolingerreiches umfaßte, also den
26 II. Mittelalterliche Wurzeln
Diese kleinen Gremien hatten die Wahlen stellvertretend für alle durchzu-
führen, sie waren eine Findungskommission, die namens der Gesamtheit und
für sie eine nicht von partikularen Interessen geleitete Entscheidung treffen und
deshalb einvernehmlich beschließen sollte. Das Wahlgremium wurde durch Eid
auf strikte Neutralität verpflichtet, es sollte nur auf die Eignung des Kandida-
ten und auf das Wohl und den Nutzen der Gesamtheit blicken. Vorabsprachen
waren verpönt, und angesichts der Zielsetzungen waren auch Mehrheitsbe-
Schlüsse undenkbar. Eher behalf man sich mit dem Los. Von heutigen Vorstel-
lungen war all das sehr weit entfernt. Es ging um Eintracht und nicht um die
Entscheidung zwischen unterschiedlichen politischen Standpunkten. So kam
der Gedanke an eine allgemeine Wahl gar nicht auf, und die Bürgerschaft war
mit der Prozedur nur locker verbunden.
Das ganze System war darauf angelegt, Gruppeninteressen hintanzuhalten
und eine Oligarchisierung zu verhindern. Doch zwischen Ideal und Wirklich-
keit bestand stets ein erheblicher Unterschied. Es gab in den oberitalienischen
Kommunen häufige und heftige Parteikäınpfe. Dabei setzte jede der rivalisie-
renden Gruppen sich mit der Kommune gleich und versuchte die Gegner mit
allen Mitteln zum Schweigen zu bringen. Das vertrug sich schlecht mit der ge-
samtpolitischen Lage. Die Führer der Stadtrepubliken waren nämlich von An-
fang an nicht gesonncn, sich auf die eigene Kommune und deren unmittelbares
Umland zu beschränken. Sie entfalteten vielmehr expansive Bestrebungen und
betrieben tatkräftig Tcrritorialpolitik. Auch deshalb gerieten sie mit den Stau-
fern iıı Konflikte und mußten dabei wiederholt befürchten, die einmal errunge-
ne Stellung zu verlieren. So war es geboten, nach Wegen zur Dämpfung und am
besten Verhinderung der inneren Streitigkeiten zu suchen. Den Ausweg fand
man im Podestat. Man betraute einen hochbezahlten Wahlbeamten, eben den
(nach dem Vorbild der Vögte in den kaisertreuen Städten benannten) Podestà,
für kurze Zeit mit weitgehenden Vollmaclıten. Der Podesta hatte immer für den
innerstädtischen Frieden und für die Rechtspflege zu sorgen, zudem wurden
ihm weitere Funktionen übertragen. oft das Militärwesen. Auf die Gesetzge-
bung hatte er wenig Einfluß, und der Rat behielt auf jeden Fall die Kontrolle.
Auch über die Besetzung dieses Amtes wurde durch Wahl entschieden. Häufig
- und bald überwiegend - kam der Podestà von außerhalb und brachte seinen
Mitarbeiterstab mit.
Das Podestat wurde gewöhnlich im 13. jahrhundert eingeführt, es war in al-
ler Regel aber nur der Übergang zur lebenslangen Herrschaft eines Mannes, die
vielfach sogar vererbt wurde. Aus dem Podestat erwuchs die Signoria. Häufig
war es ein Podestà, nicht selten aber auch der Inhaber eines anderen hohen städ-
tischen Amtes, der sich dauerhaft in der Macht festsetzte. Dieser Schritt bedeu-
tete immer Vertrags- und Verfassungsbruch, er war vielfach mit der Anwendung
von Gewalt verbunden. Mit guten Gründen bezeichneten die Zeitgenossen des-
halb die Signorie als Tyrannis. Immerhin gab es Städte, in denen die neue Herr-
Städtewesen 29
schaft milde gehandhabt wurde und der Unterschied zum Podestat hauptsäch-
lich darin bestand, daß das Amt unbefristet wurde. Die einem Podestà gegebe-
nen Möglichkeiten waren jedenfalls verführerisch. So begegnete die erste Signo-
rie schon im mittleren Drittel des 13. Jahrhunderts. In Padua behauptete sich
die alte republikanische Verfassung länger als in den meisten oberitalienischen
Städten. Hier wurde erst 1318 ein Signore mit unbeschränkten Vollmachten er-
nannt und erst 1337 nach einigen Auseinandersetzungen die erbliche Signorie
eingeführt.
Die oberitalienische Konsulatsverfassung wurde sehr schnell nach ihrer Aus-
bildung auch in Südfrankreich übernommen, nämlich noch in der ersten Hälfte
des 12. Jahrhunderts. Allerdings war hier die Zahl der Konsuln oft höher. Auch
hier gab es früh einen Rat, die consiliarii oder curiales, an dem der städtische
Adel häufig beteiligt war, auch hier konnte man auf sehr verschiedenartigen We-
gen in Ämter gelangen, auch hier trat immer wieder eine Versammlung aller
Bürger zusammen. Nördlich der Alpen gehörte Speyer zu denjenigen Städten,
in denen der Kaiser den Bürgern sehr früh das Recht verlieh, aus ihrer Mitte
zwölf Männer auszuwählen, die die Stadt eigenverantwortlich verwalten sollten.
Die nicht mehr erhaltene Urkunde, 1198 bestätigt, wurde möglicherweise 1193
ausgestellt und legitimierte vielleicht eine schon länger geübte Praxis. Immerhin
begegnete in Speyer bereits knapp hundert Jahre zuvor, 1101, der Ausdruck ci-
vis, und durch das Privileg Heinrichs V. von 1111 wurden den Bürgern man-
cherlei Rechte zugestanden, unter anderem das, daß niemand ohne allgemeine
Zustimmung - communi civium consilio - den Münzwert verändern durfte. Die
anderen Städte in Mitteleuropa, in denen sich sehr früh ein städtisches Verwal-
tungsorgan bildete, waren Lübeck, Utrecht und Straßburg. Sie fanden schnell
Nachfolger.
Schon Mitte des 13. Jahrhunderts hatten etwa 150 deutsche Städte einen Rat.
Überall scheint die Gesamtheit zunächst großes Gewicht gehabt zu haben, und
man versuchte, das städtische Regiment durch kurze Amtszeiten unter Kon-
trolle zu halten, aber diese Bestrebungen scheiterten zum guten Teil am Wider-
stand der Stadtherren oder an oligarchischen Tendenzen der Führungsschicht.
Zumeist wurde die Wahl durch Kooptierung ersetzt. In Mainz etwa wurden die
R-atsherren ab 1244 auf Lebenszeit bestellt und ergänzten ihr Gremium eben-
falls durch Berufung neuer Mitglieder. Deshalb trat die allgemeine Volksver-
sammlung aber doch nicht ganz in den Hintergrund. Nach einem Konflikt zwi-
schen Stadtgemeinde und Rat wurde etwa in Freiburg 1248 vereinbart, daß
Ratsentscheidungen unter Konsultation der Gesamtheit - consensu et consilio -
zu treffen seien und dem Gesamtinteresse dienen müßten. Und in Lübeck be-
hielt die durch Glockengeläut zu berufende allgemeine Bürgerversammlung das
Recht, wesentliche Entscheidungen zu bewilligen oder gar an ihrem Zustande-
kommen beteiligt zu werden. Überall aber kam es immer wieder zu Kämpfen
um Einfluß und Maehtpositionen, und dabei verschoben sich im Laufe der Zeit
_3O _ I1. Mittelalterliche Wurzeln V f ir _ 7 __
Auf breiter Front bildete sich, so läßt sich zusammenfassen, seit dem 12. Jahr-
hundert überall in Kerneuropa innerhalb weniger Generationen die vom
Bürgertum bestimmte, sich selbst verwaltende und im eigenen Namen recht-
sprechende Stadt mit einer in der großen Mehrheit persönlich freien Einwoh-
nerschaft mit einheitlichem Rechtsstatus, wobei die Bürger freilich in ihrer so-
zialen Stellung und ihren wirtschaftlichen Möglichkeiten stark geschichtet
waren. Bei dieser Entwicklung spielten Eidgenossenschaften eine ganz erhebli-
che Rolle. Jede Stadt hatte zwar einen Herrn, aber sie stand ihm nach dem voll-
en Ausbau ihrer Stellung doch sehr selbständig gegenüber. Und viele Städte er-
richteten in ihrem Umland selbst eine Herrschaft.
Die Ausbildung der mittelalterlichen Stadt war ein Vorgang von ganz außer-
ordentlicher Bedeutung. Gewiß gab es innerhalb der Mauern Bezirke, in denen
das Stadtrecht nicht galt und der Rat nichts zu sagen hatte, Domimmunitäten et-
wa oder sonstiger geistlicher Besitz, aber insgesamt war die Stadt als besonderer
Fricdensbezirk doch streng von den Verhältnissen geschieden, die auf dem fla-
chen Land herrschten und für die große Mehrheit der Bevölkerung galten. Mit
vollem Recht konnte man von einer »lnscllage tler Stadt in einem agrarischen
Umfeld« sprechen“. Auf diesen Inseln keinıte der Fortschritt besonders kräftig,
von hier kamen entscheidende Beiträge zum Aufbau der Moderne. Das ergab
sich aus der Betätigung der Bürger geradezu zwangsläufig. Die Dichte der Be-
völkerung auf engem Raum, das Nebeneinander verschiedener Berufe mit oft ge-
genläufigen Interessen, das Marktwesen und der Handel machten eine sorgsame
Regelung aller Lebensbereiche nötig, erforderten also die Schaffung eines diffe-
renzierten Rechtssystems und einer auf die Bedürfnisse der Bürger abgestellten
Verwaltung und Gerichtsbarkeit. Das Stadtrecht einschließlich der Freiheits-
rechte der Bürger war schnell ein komplexes Regelwerk, das Privatrecht wurde
fortgebildet, genannt seien das Erbrecht und das Recht des Grundstückverkehrs.
Die Stadt mußte sich verteidigen können, sie mußte also ein Wehrwesen auf-
bauen und unımauert sein. Das kostete erhebliches Geld. So mußte ein lei-
stungsfähiges städtisehes Finanzwesen geschaffen werden. Sie mußte ihre Inter-
essen nach außen vertreten, also Außenpolitik treiben, dazu Verbindungen
herstellen und Informationen sammeln, und sie mußte eine ausgedehnte polizei-
liche Tätigkeit entfalten. Die Kompliziertheit der städtischen Verhältnisse und,
bei den Tätigkeiten der Bürger, der Fernhandel, kamen ohne Schrifrlichkeit nicht
aus, also war für Schulen zu sorgen. Die Städte waren sehr schnell nicht nur Zen-
tren des wirtschaftlichen, sondern auch Brennpunkte des geistigen Lebens. I-Iier
wurde an der Erweiterung des Wissens gearbeitet, hier wurden Neuerungen
erdacht, Erfindungen gemacht. Freilich darf nicht vergessen werden, daß neben
den Städten und ihren Bürgern auch andere Kräfte intensiv auf dem Felde der
A __ Städtewesen g 31
Bildung tätig waren, die Kirche mit ihren Domschulen, die Klöster und die Uni-
versitäten. Erstere lagen nicht immer, letztere stets in den Städten, beide waren
aber nicht Teil der Stadt. Die vielerlei in den Städten vorhandenen Interessen or-
ganisierten sieh genossensehaftlich, in Gilden, die vielfach älter waren als die
Bürgergemeinden, in Zünften, Innungen, Zechen oder Bruderschaften. So ent-
faltete sich unterhalb der kommunalen eine reiche verbandliche Selbstverwal-
tung. ln den Städten erwuchs eine bürgerliche Führungsschicht von einiger Brei-
te, die ihren Blick über die spezifisch städtische Sphäre hinaus sehr schnell auch
auf politische Fragen in einem allgemeinen Sinne lenkte.
Das zentrale Moment der Stadtentwicklung war überall die Erlangung von
Freiheitsrechten durch die Kommunen für ihre Bürger. Das geschah in aller Re-
gel durch Vertrag, wobei diese Verträge aus sehr verschiedenen Gründen und
Anlässen zustande koımnen konnten. Es läßt sich ein sehr umfangreicher Kata-
log von Freiheitsgarantien für Person und Eigentum im Mittelalter aufstellen,
wie das Robert von Keller in seiner Münchener Dissertation schon vor fast 70
jahren tat. Von den Stadtherren wurden den Städten garantiert: die Freiheit von
Heiratszwang oder Heiratsverbot. die Freiheit von hofreehtlichen Abgaben und
Diensten, die Freiheit des lírbrechts, die Freizügigkeit, der Schutz vor Veräuße-
rungeıı, die Freiheit von Heer'/.ugspfliclıt und Gastung, Steuerfreiheiten, Zoll-
freilıeit, die Freiheit voıı fremdem Gericht, das Recht auf gesetzmäfšiges Urteil,
Garantien gegen Verhaftung und gegen Haussuchung, die Befreiung vom Zwei-
kampf und anderen Gottestırteilen, andere prozeßrechtliche Freiheiten, die
Freiheit von Fronung und Wüstung und anderen Straf- und Vollstreckungs-
maßnahmen, die Freiheit von der Pflicht zur Übernahme von Ämtern, die
Lehrfreiheit, die Petitionsfreiheit, das Recht auf Fehde und, allen voran, die Ga-
rantie der persönlichen Freiheit iiberhaupt. Diese Freiheit stand im Mittelpunkt
aller Freiheitsrechte und des bürgerlichen Gemeiııwesens. Sie hat ihren kürze-
sten Ausdruck in der später von der Forschung geprägten Formel ›Stadtluft
macht frei« gefunden. Wer sich in der Stadt ansiedeltc und dort über jahr und
Tag wohnte oder das Bürgerrecht erwarb, wurde dadurch von selbst frei, und
die Forderungen, die sein bisheriger Leib- oder Grundherr an ihn und sein Gut
richten konnte, galten nicht mehr. Die erste Formulierung dieses Satzes wurde
|O88 in Südfrankreicli ausgesprocheıi. In Deutschland war es erst sieben jahr-
zehnte später so weit, in der Handfestc Heinrichs des Löwen für die Hagen-
stadt von Braunschweig. Ifs ist unzweifelhaft, daß die mittelalterlichen Freihei-
ten neben .ınderen Faktoren großes Gewicht für »die Ausbildung der modernen
als ›Grundrechte< bezeichneten Freiheiten der Person und des Eigentums« hat-
ten“.
Man hat gemeint, dall die mittelalterliche Stadt mit ihrer korporııtiven Autono-
mie das Vorbild des ıııoderııen Staates war, aber mit einer solchen Finschätzung
_32 _ _ Iblilittelalgarliche \›X/urzclnu 7
würde die Entwicklung viel zu sehr auf eine Linie eingeengt. Auch hat man sie
als »eine An kleiner bürgerlicher Rechtsstaat« verstanden, »im Innern mit allen
Funktionen und Kompetenzen eines solchen, konstitutionellem Regiment, ge-
ordnetem Gerichtsaufbau, Gesetzgebung, gesetzlich fundierter Verwaltung und
Polizei, objektivem statutarischen Recht auf allen Lebensgebieten und subjekti-
ven, daraus fließenden Rechten und Pflichten der Bürger und Einwohner«~“'.
Der Vergleich ist gewagt, aber doeh vertretbar. Natürlich darf man die in der zi-
tierten Bemerkung verwandten neuzeitlichen Begriffe nicht mechanisch in das
Mittelalter übertragen, darauf verwies der Autor selbst mit seiner Einschrän-
kung ›einer Art<. Diese Relativierung ist dick zu unterstreichen. Die mittelalter-
lichen Städte lebten in einer ständischen Gesellschaft und konnten sich von de-
ren Geist nur bedingt freihalten. Auch in ihnen spielte Ungleichheit eine
beachtliche Rolle, und es gab ausgeprägt oligarchische Tendenzen.
Dennoch hatten sie viel Zukunft in sich. Der Weg von ihnen bis zu den Ge-
meinwesen des 19. Jahrhunderts war freilich weit, und er verlief nicht auf ebe-
ner Bahn. Seit dem 15. Jahrhundert ging die Bedeutung der Städte zurück, und
ihre Rolle wandelte sich. Überall machte sich der Staat mit Erfolg daran, ihren
Einfluß zu mindern, ihre Eigenständigkeit zu beschränken und sie sich am be-
sten einzuverleiben. Das Ringen um die Stellung der Stadt ging sehr verschie-
den aus. Großc Städte konnten sich in aller Regel gut behaupten, da sie genug
Finanzkraft hatten, ihre Ummauerung der sich wandelnden Kriegstechnik -
Einführung der Artillerie - anzupassen, kleinere dann, wenn der sie umgebende
Flächenstaat nicht sonderlich stark war, die dem Kaiser unterstehenden Reichs-
städte durch eine sehr geschickte Bündnispolitik. Viele Städte mußten eine Ein-
schränkung ihrer Selbstandigkeit hinnehmen, aber die innere Autonomie wurde
nirgends ganz beseitigt. Die Bürger beharrten auf ihrem Recht der Teilhabe an
der politischen Gewalt, namentlich in Fiııanzdingen, und sie setzten es notfalls
durch Aufstände durch, auch gegenüber den oligarchischen Tendenzen der
städtischen Führungsschichten. So blieb die Stadt immer Ort bürgerlicher Mit-
bestimmung.
Straßburg war im Reich 1332 die erste Stadt, in der die '/.ünfte aın Regiment
beteiligt wurden. Das Beispiel machte Schule, namentlich im Südwesten des
Reiches und damit auch im Gebiet der späteren Schweiz. Dieser Raum war in-
folge der systematischen Stadtgründungspolitik der Zähringer - Freiburg im
Uechtland 1157, Bern l 191 - seit der Mitte des 12. Jahrhunderts schnell mit ei-
nem sehr dichten Städtenetı überzogen worden. Einige dieser Städte, als erste
Zürich, Bern und Solothurn, hatten schon im frühen I3. Jahrhundert den Auf-
stieg zur Reichsstadt geschafft, die anderen benötigten mehr Zeit, ehe sie diesen
Status erreichten, agierten aber dennoch sehr selbständig. Die Aufnahme der
Zünfte ins Regiment bedeutete eine Demokratisierung des kommunalen Le-
bens. Aber natürlich konntcn daran nur Bürger teilnehmen, nicht auch Hinter-
sassen. Es wurde ein Rat gebildet, der zumeist so ausgedehnt war, daß ein
Genossenschaftliehe Gemeinwesen 33
großer Teil der Bürger unmittelbar politisch tätig sein konnte. Die Volksver-
sammlung wurde mithin auf die Funktion eines Wahlkörpers beschränkt. Der
bisherige Rat hieß nun Kleiner Rat, in ihm saßen die Zunftmeister, und er führ-
te im Auftrag des Großen Rats die Geschäfte. An der Spitze der Stadt stand ein
Schultheiß oder Bürgermeister. Das genossenschaftliehe Bewußtsein der Bürger
war stark ausgeprägt, waren die Städte doch wegen der nicht sonderlich großen
Bevölkerungszahlen übersichtlich. die Vermögensunterscbiede nicht krass. Ge-
gen Machtkonıentrationen war man mißtrauisch und stürzte diejenigen, die auf
dem Wege zu einer starken Position waren. Die Entwicklung zu einer Signorie
wurde damit von vornherein verhindert.
So diclıt das Stlidtenetv. in der Region auch war, die Masse der Bevölkerung leb-
te auf dem Land. Es gab viele freie Bauern. Ihre Zahl nahm im I3. Jahrhundert
infolge einer intensiven Kolonisationstätigkeit in den Alpen stark zu. Ein Zen-
trum war dabei das Gebiet um den Vierwaldstiitter See. Es entstanden zahlrei-
che genossensehaftliehe Siedlungen, die sich allmählich unter einheimischen Ge-
schlechtern wie den Attingbausen in Uri, den Stauffacher iıı Schwyz, zu
Talschaliten 7.usan1menschlossen. Einige dieser T-alschaften erlangten die Reichs-
unmittelbarkeit„ Uri 1231, Schwyz 1240. Die führenden Geschlechter konnten
sich nicht lange in ihrer Position halten. Schon in der Mitte des I4. Jahrhunderts
wurden sie gestürzt. Die Talschaften oder Communitates wurden damit zu bäu-
erlichen Republiken. Das oberste Organ war die l.andg_emeinde, die in jedem
Frühjahr tagte, uın die Allmendprobleme zu regeln, etwa nötige Gesetze zu ver-
abschieden, die Wahlen zu den Landesbehörden vorzunehtnen, darunter die des
höchsten Repräsentanten, des Landaınmans. Außerdem entschied die Landge-
meinde letztendlich über Rechtsstreitigkeiten. Zu derartigen Landgemeinden
kaın es in Uri, Sclıwyı, Ob- und Nidwalden, Glarus und Stadt und Amt Zug,
des weiteren nach Überwindung einiger Schwierigkeiten in Appenzell. In Rae-
tien bildeten sich drei Bünde. an denen auch Angehörige des Adels, Städte -
Chur - und die Abtei Disentis beteiligt waren. Sie wirkten eng zusammen und
verabschiedeten 1524 einen gemeinsamen Bundesbrief. Der so geschaffene Frei-
staat der Drei Bünde hatte eine recht komplizierte Struktur. Auch im Wallis gab
es starke deınokratische Tendenzen. Das Land organisierte sich in der ersten
Halfte des I5. _l.ıhrhunderts demokratisch-föderalistisch, wobei der Adel neben
den Bauern und Städten weiterhin eine gewisse Rolle spielte. Dem Landrat
standen der Bischof von Sitten und das Domkapitel gegenüber, so daß das Wal-
34 Mittelalterliche Wurzeln fg/ g i f W 7 ny
Iis dualistisch regiert wurde. Erst 1630 wurde es durch Umwandlung in eine Re-
publik, in der der Bischof nur noch Ehrenrechte hatte, gänzlich zu einem ge-
nossenschaftlichen Staat.
Es gab auch andernorts Bestrebungen zur Ausbildung von Landgemeinden,
jedoch gelangten sie nicht zum vollen Ziel, da die betreffenden Gebiete vorher
einem benachbarten Verband angegliedert wurden, allerdings mit weitgehenden
Selbstverwaltungsrechten. Man kann so von halbfreien Talschaften sprechen.
Insbesondere die Städte betrieben eine intensive Territorialpolitik, am erfolg-
reichsten in Bern, dessen Gebiet schließlich mit dem größerer Fürstentümer gut
vergleichbar war. Dabei gingen sie gemeinhin nicht gewaltsam vor, sondern
brachten durch Verträge und Kauf die verschiedensten Rechte an sich. Sie ver-
zichteten darauf, einen uniformen Untertanenverband herzustellen, sondern
beließen den einzelnen Landschaften und Gemeinden viele Gerechtsame. Die
Munizipalstädte unterstanden oft nur einer lockeren Aufsicht. In den Land-
vogteien, mit denen die erworbenen Gebiete verwaltet wurden, nahmen die Un-
tertanen am Gericht teil. In einigen Kantonen gab es die Volksanfrage. Hier
wurden wichtige Entscheidungen der Bevölkerung der Landvogteien zur gut-
achtlichen Stellungnahme vorgelegt. Da die Kantone auch die Untertanen zum
Wehrdienst heranziehen wollten, wurde die Leibeigenschaft früh aufgehoben.
Die Erwerbspolitik der Städte und Länder war ein wirksames Hindernis für je-
de fürstliche Territorialbildung. Schließlich gab es neben den Städten und Län-
dern nur noch die Grafschaften Neuenburg und Greyerz sowie die Abtei St.
Gallen.
Untereinander arbeiteten die Städte eng zusammen. Nach oberitalienischem
Vorbild schufen sie Einungen, die der Friedenssicherung und der Selbstbehaup-
tung dienten. Zu nennen sind das um Bern konzentrierte burgundische Städte-
bündnis und das Bündnis der Städte rund um den Bodensee; beide Verbände
durchliefen im Laufe der Zeit mannigfache Veränderungen.
Auch die drei Waldstätte Uri, Schwyz und Unterwalden verbanden sich mit-
einander, und zwar fester als die Städte. Der älteste Landfriedensbund ist nicht
datiert, er wurde im August 1291 erneuert. Dieses Bündnis wurde 1315 bestätigt
- inzwischen hatte auch Unterwalden die Reichsfreiheit erlangt - und in der
Folge um Luzern, Zürich, Zug, Glarus und Bern zum Bund der Acht alten Or-
te erweitert. Im sogenannten Pfaffenbrief von 1470, in dem es um das Verhältnis
von weltlicher und geistlicher Gerichtsbarkeit, vor allem aber um die Sicherung
des Gotthardweges ging, bezeichneten sich die vier Waldstätte, Zürich und Zug
erstmals als Eidgenossenschaft. Namentlich mit den I-Iabsburgern gab es immer
wieder Kämpfe. Wenige Jahre nach der österreichischen Niederlage bei Sem-
pach 1386 wurde in einem Waffenstillstand der Bestand der Eidgenossenschaft
anerkannt. 1415 schließlich verlieh Kaiser Sigismund aus dem Hause Luxem-
burg im Konflikt mit den I-Iabsburgern den Acht alten Orten die volle Landes-
hoheit und überließ ihnen Aargau. In den folgenden hundert jahren wuchs der
Genossensehaftlichc Gemeinwesen 35
Bund weiter und verfestigte sich dabei immer mehr. Basel, Freiburg i. Uecht-
land, Solothurn, Schaffhausen und Appenzell traten als Vollmitglieder hinzu,
auch wurden feste Verbindungen mit sogenannten Zugewandten Orten ge-
knüpft. Die Gemeine Eidgenossenschaft des großen Bundes oberdeutscher Lan-
de von Städten und Ländern verstand sich durchaus als Reichsglied, aber in
voller Gleichberechtigung mit den Fürsten. Die Bevölkerung hatte im späten 15.
Jahrhundert neben dem lokalen und regionalen durchaus auch ein eidgenössi-
sches Bewußtsein und war stolz auf die gemeinsame Geschichte und die eigene
politische Organisatioıısform. Man sah sich als urfrei an und dachte betont re-
publikanisch. Im übrigen gab es eine gehörige Portion Konservativismus. Man
wollte bei den alten Gewohnheiten und Rechten bleiben, die jedermann ein-
sichtig waren, und nicht zu dem nur Juristen verständlichen römischen Recht
übergehen.
Kurz nach 1500 war so die Schweiz ein sehr gefestigter Bund von Republi-
ken, der durch Bundesbriefe mit unbefristeter Geltung und weitere Abmachun-
gen zusammengehalten wurde. Neben den acht alten und den fünf neuen Orten
standen die Zugewandten Orte mit minderem Rechtsstatus. Auch gab es einige
Kondominate, die Gemeinen Herrschaften. Nicht zugehörig waren das Wallis
und der Freistaat der Drei Hunde, aber sie waren mit der Eidgenossenschaft ver-
bündet. Die gemeinsamen Angelegenheiten wurden durch die Tagsatzung erle-
digt. Dies Institut hatte sich seit etwa l400 herausgebildet. Es war ein in unre-
gelmäßigen Abständen zusammentretender Gesandtenkongrelš, zu dem jedes
Bundesglied zwei Delegierte mit einer Stimme entsandte. Die zugewandten Or-
te wurden nicht imıner beigezogen. Aus den Abschieden der Tagsatzung ent-
stand allmahlich ein gemeinsames Bundesrecht. Charakteristisch für die Eidge-
nossenschaft war schließlich die Regelung von Streitigkeiten durch ein
Schiedsverfahren.
Die Schweiz war mit ihren eine/„elnen Gliedern und als Gesamtheit der ausge-
pragteste Fall cities auf breiter Grundlage beruhenden genossenschaftlichen
Staates im spátmittelalterliehen und frühneuzeitlichen Europa. Sie konnte ent-
stehen, weil es hier unverhältıiisıııaßig viel Freie gab, weil die geographischen
Verhaltnisse des Landes eine genossenschaftliehe Organisation unmittelbar er-
zwangen. weil der Adel zwar zahlreich, aber nicht sonderlich vermögend war,
so daß er keine gute Ausgangsposition für eine ausgeprägte Machtbildung hat-
te - ähnlich verhielt es sich mit dem geistlichen Besitz -, und weil es zahlreiche
Stlidte gab. hin Zentrum, von dem aus entschlossen ein Territorialaufbau
großen Stils eingeleitet werden konnte, bestand nicht. Möglicherweise hätten
die '/.lihringer in diese Rolle hineinwaclısen können. Berthold V. tat entschiede-
ne Schritte dahin, aber mit ihm starb das Geschlecht 1218 aus. Die Ausgangs-
position der Habsburger war offensichtlich zu schwach. lm benachbarten
Schwaben war die Situation teilweise ähnlich. Auch dort gab es eine Vielzahl
von Herrschaften, und die Städtedichte war groß, auch dort fehlte ein natürli-
3í_ II. Mittílalt_erlifhıíWurzeln __ ,_ _ __ __
lichst mehrere Bezirke an sich zu bringen und so ihren Einfluß zu steigern, und
die besonders mächtigen unter ihnen setzten sich ohne weiteres über die Be-
schlüsse des Allthings hinweg, wenn sie ihnen nicht paßten. Schließlich rangen
nur noch zwei Sippen um die Macht, das Gemeinwesen war erkennbar auf dem
Wege zur Monarchie. Dabei war es keineswegs so, daß die Isländer nur das
Schwert führen konnten. Es gab immerhin zwei Dom- und mehrere Kloster-
schulen, und das Geistesleben blühte. Die ständigen Fehden erschütterten das
Land immer wieder. So konnte der norwegische König Haakon der Alte
schließlich erreichen, was manche seiner Vorgänger vergeblich versucht hatten:
Die Isländer leisteten 1262 den Eid auf ihn. Sie versprachcn ihm in dieser soge-
nannten Alten Vereinbarung Treue und Dienste und bedangen sich dafür die
Wahrung des Friedens und isländische Gesetze aus. Sie verstanden den Eid al-
so nicht als Anschluß an Norwegen, sondern nur als Annahme des norwegi-
schen Königs zum Herrn über Island. Die Überwindung der bürgerkriegsähn-
lichen Zustände gelang schnell. Aueh blieb das Allthing weiterhin das
Gesetzgebungsorgan, jedoch dergestalt, daß es durch die ihm obliegende Ver-
kündung norwegische Gesetze nach Island übertrug. Die isländische Selbstän-
digkeit wurdc so allmählich abgebaut, aus der von den Isländern gewollten
Personal- wurde eine Rcalunion, die Insel so in die Hauptlinie der europäi-
schen Verfassungsentwicklung einbezogen.
\X/ANı›LuN(;ı-:N uv um Mownımıııe
Die weitaus überwiegende Form von Herrschaft war in Europa wiihrend des
Mittelalters die Monarcliie. Allerdings trafen die Fürsten die wesentlichen Ent-
scheidungen nicht allein, sondern ıııit Rat der Großen ihres Landes. Der Ur-
sprung dieser Praxis lag weit zurück, inı Lehnssystenı wurde sie noch gefestigt,
waren Herr und Vasall doch zu cinvernehmlichem Handeln und die Lchns-
männer zu Rat und Hilfe verpflichtet. Allerdings war nicht normiert, wie der
Rat zu erstatten sei. Ihre Rechte hatten die Lelmsnehıner aus Verleihung, es
handelte sich also um abgeleitetes Recht. Die anfängliche Vorstellung, jedes
verliehene Recht sei jederzeit riicknehmbar, erwies sich sehr schnell als illu-
sionåir. Was zunächst eine Einıt~1fallregeIung sein mochte, die Erblichkeit eines
Lebens, wurde bald zur allgemeinen Praxis. Die mit dem Lehen verbundenen
Befugnisse wurden so zu Gcwalten, die die Inhaber aus eigenem Recht aus-
zuuben schienen und je länger desto mehr auch zıusübten. Die Gewohnheit
»übermannte den Eigentumsvorbehalt: verlielıener Lehensbesitz wurde erb-
liches Eigeınunı ritterlicher, klösterlicher, städtischer lnliaber«›'“'. Der Perso-
38 ll. Mittelalterliche Wurzeln
ST.i='iNt›i;west-;t\ı
Nirgends konnte der staatliche Neubau einfach von oben verfügt werden. We-
der die Weiterbildung des Rechts durch Setzung noch der Zugriff auf Abgaben
und Leistungen konnte der Monarch allein vornehmen, das war unstrittig. Der-
lei Eingriffe in das Eigentum waren nur mit Zustimmung der Betroffenen mög-
lich. Selbstverständlich mußte Philipp II., als er wegen seiner Reformen zusätz-
liche Finanzmittel erschließen mußte, darüber Verhandlungen mit den
Vertretern individueller Rechtsträger, mit herrschaftlichen und genossenschaft-
lichen Lokalgewalten, führen. So geschah es auch andernorts. Die ständische
Organisation, der eigenmächtige, auf die Wahrung der jeweiligen Interessen zie-
lende Zusammenschluß von natürlichen oder juristischen Personen, die aufbe-
stimmte Weise miteinander verbunden waren, war die Antwort von Adligen,
Klerikern und Bürgern, die nicht zu eigener Herrschaft gekommen waren, auf
die Anforderungen der Monarchie und mithin »mit dem Emporkommen des
modernen abendländischen Staates im I3. Jahrhundert innerlich verbunden«*3,
es war, wie das Fürstentum, autonom, trat diesem eigenständig entgegen. Das
kam klar dadureh zum Ausdruck, daß die beiden Grólšeıı ihr Verhältnis durch
Herrsehaftsvertrag regelten und damit Staatsrecht schufen. Verträge dieser Art
kamen vielfach zustande: schon 1188 mit der Carta magna leonesa im König-
reich Leon, 1215 mit der Magna (Iarta in England, I222 mit der Goldenen Bul-
le in Ungarn, 1283 und 1287 mit den aragonesischen Privilegien in Aragon, 1356
mit der _|oyeuse Iintree in Brabant, 1472 mit dem Vergleich des Markgrafen
Albrecht mit den Ständen in Brandenburg, 1514 mit dem Tübinger Vertrag in
Württemberg, um nur die bekanntesten zu nennen. Die dynastische Seite war
nicht nur fruher da als die standische, sie war an sich auch stlirker. So kamen die
Herrschaftsvertragc nicht selten in Zeiten monarchischer Schwache zustande.
Ifin immer wieder genutzter Anlaß zu Vereinbarungen war ein Rcgierungsan-
tritt. Vor tler Huldigung bestätigte der neue Monarch den Ständen ihre Rechte
und Freiheiten. und oft wurde dabei von den Ständen die Gelegenheit wahrge-
nommen, Veriinderungen zu erreichen.
Im Reich wurde die ständisehe Mitwirkung unter Zustimmung der Fürsten
durch den Wormser Reichsspruch Heinrichs (VII.) vom 1. Mai 1231 verbrieft.
Danach sollte kein Landesherr neue Verordnungen und Gesetze erlassen, ohne
vorher die Zustimmung meliorum et maiorum terrae, der Vornehmen und
Grolšen seines Landes, eingeholt zu haben. Die Klärung der damit entschiede-
nen Frage war auf einem fruheren Hoftag beantragt worden, und zwisehen
Weistunısfindung und Ausfertigung der Urkunde lagen etliche Monate. Eben-
falls am I. Mai 123! stellte der junge König auf Betreiben der Fürsten das im
folgenden jahr von Kaiser Friedrich II. im Interesse seiner Italienpolitik be-
stätigte Statutum in favorem principum aus, das zum Teil Rechte neuerlich fi-
f10 1\/1_ittelalterliclE_Wurzeln H _* _* A
xierte, die schon früher in Einzelprivilegien gewährt worden waren. Die Initia-
toren des Gesetzes wollten damit erreichen, daß die Städte sich ihrer Territori-
albildung nicht mehr entgegenstellen konnten; die Mehrheit der Paragraphen
war im Anschluß an ähnliche frühere Regelungen ausgesprochen städtefeind-
lich. Darüber hinaus erlangten die Fürsten weitere Konzessionen. Ihre Territo-
rialpolitik tat also einen großen Schritt nach vorn.
Folgt man Otto Hintze, so wurde die Intensivierung des staatlichen Lebens
von den Monarchen vornehmlich mit Blick auf die auswärtigen Beziehungen
betrieben: Ihnen ging es nach seiner Einschätzung immer auch um eine erhöhte
Machtgeltung in dem sich formierenden Staatensystem. In seinem Aufsatz über
die weltgeschichtlichen Bedingungen der Repräsentativverfassung wagte er so-
gar ››die Behauptung ..., daß ohne dieses Staatensystem und seine Tendenz zu
beständigen Rivalitätskämpfen und ohne die damit zusammenhängende Moder-
nisierung, d.h. Intensivierung und Rationalisierung des Staatsbetriebes auch ci-
ne ständisch-repräsentative Verfassung nicht in Erscheinung getreten sein wür-
de.«43 Dagegen könnte man einwenden, daß sich das europäische Staatensystem
erst zu einem Zeitpunkt bildete, als das Ständewesen schon geraume Zeit be-
stand, nämlich seit der Mitte des 15. Jahrhunderts. Aber das wäre ein sehr for-
males Argument. Selbstverständlich agierten die Staaten auch vorher nicht nur
in ihrem eigenen Bereich. Nichts macht das so deutlich wie die Situation im Ju-
li 1214, als gleichzeitig über den deutschen Thronstreit zwischen Friedrich II.
und dem Welfcn Otto IV. und über das englisch-französische Verhältnis ent-
schieden wurde. Am 2. Juli schlug der französische Thronfolger den englischen
König Johann Ohneland an der Loire, am 27. Juli siegte Philipp II., der mit
Friedrich II. verbündet war, bei Bouvines etliche Kilometer südöstlich Lille
über ein starkes englisches Heer unterJohanns Bruder und den mit den Englän-
dern verbündeten Welfen nebst seinen Truppen aus dem Reich. Die Niederlage
Johanns mehrte die Unzufriedenheit der englischen Barone. So führte ein gera-
der Weg von Bouvines bis zum Themseufer bei Runnymede, wo die am 19.Ju-
ni 1215 von Johann unterzeichnete Magna Carta Libertatum ausgehandelt wur-
de. Unzweifelhaft wirkten die außenpolitischen Verhältnisse immer wieder auf
das Ständewesen zurück; Runnymede ist nur das sprechendste Beispiel. Aber
mit seiner These, die permanente Staatenrivalität sei eine unerläßliche Bedin-
gung für die Entstehung der ständischen Verfassung gewesen, schießt Hintze
weit über das Ziel hinaus. Die mannigfachen Wandlungen auf demographi-
schem, sozialem und wirtschaftlichem Gebiet gaben die Veranlassung zur In-
tensivierung der Staatstätigkeit, und so wird das Aufkommen der Stände mit
gutem Grund denn auch vornehmlich von hier aus erklärt. Von den auswärti-
gen Beziehungen gingen nur zusätzliche Impulse aus.
Die ständischen Verhältnisse waren von Land zu Land unterschiedlich und
änderten sich im Laufe der langen Zeit, die sie bestanden - immerhin vom 13.
bis zum 19. Jahrhundert - vielfach. Meistens gehörten der Adel, die Geistlich-
Ständewesen 41
keit und die Städter zu den Ständen, oft allerdings nicht mit gleichem Gewicht.
Manchmal bildeten auch die Bauern einen Stand, mitunter gab es nur zwei Stän-
de, gelegentlich auch nur einen einzigen. Auch waren die ständischen Rechte
hier weiter, dort enger ausgelegt. Angesichts dieses Variantenreichtums hielt
Günter Birtsch es geradezu für »ein Wagnis, von der landstänclischen Verfas-
sung zu sprechen«, und meinte, daß »die Definitionsfeindlichkeit des Ständi-
schen« für jeden Versuch einer auf strukturelle Gemeinsamkeiten gerichteten
Betrachtung ein nicht zu unterschätzendes Faktum sei“. Da ist die Skepsis viel-
leicht etwas weit getrieben. Allgemein ist man sich darin einig, daß man nicht
mit anachronistischen Begriffen an die Sache herangchen und insbesondere die
Stände nicht als Vertretung des Landes ansehen darf. Weitgehend ist anerkannt,
daß die Stande das Land sind. Vor allem Otto Brunner arbeitete das mit seinem
erstmals 1939 erschienenen Buch ›Land und Herrschaft« am österreichischem
Beispiel deutlich heraus. Freilich war seine seither vielfach zitierte Bemerkung
»die Stände ›vertreten« nicht das Land, sondern sie ›sind< es«, nicht ganz scharf.
Wenige Seiten davor sagte er genauer: »Landesherr und Landstände zusammen
sind das Land im vollen und ursprünglichen Sinn. Sie beide verfügen gemein-
sam über die Gesamtheit der Herrschaftsrechte, die im Lande geübt werden.«*5
ln der älteren Zeit - im l4.].1hrhundert und früher - sah Brtınner dabei das
Hauptgewicht auf dem Zusammenwirken liegen, beide Faktoren handelten sei-
nes Erachtens zunäehst überwiegend gemeinsam. Daneben gab es auch schon
das Verhandeln miteinander, und dies rückte im Laufe der Zeit mehr nach vorn.
Allmählich wurde so der Gegensatz und die Abgrenzung der Sphären stärker
als die Gemeinsamkeit der älteren Zeit. Dabei erhielt »das Land« einen neuen
Sinti, es wurde nun als handlungsfähige Korporation gewertet und dem Fürsten
gegenübergestellt; nach dem (isterreichisclıen Material war das im I5. Jahrhun-
dert der Fall. Den standisclıerı Dualismus, den andere Autoren von Anfang an
für gegeben hielten, sah Brunner so erst l1cr.ınwachseıt.
Die Dualität des Stliiıdesysteins wurde von Otto von Gierke schon 1868
scharf heratısgearbeitet und damit in die Literatur eingeführt. l".r Sah Landes-
herrn und Laıidscliaft als »zwei von einander unabhängige MÄicl1te<-4“, von de-
nen keine ihr Recht von der anderen ableitete. Damit fand er breite Resonanz.
Hintze etwa sagte. es sei ein doppelpoliges System. und Näf sprach von einer
››7.weiheit der steıatsfaliigeıı Elemente« und erkannte darin eine »elliptische
Strtıktur«-“_ Der langwierige und zeitweilig aullcrst heftig ausgetragene Konflikt
zwischen Kaisertum und Papsttum war, wie schon erwähnt, ein weltgeschicht-
licher Faktor hohen Ranges. lm Reich wurde in ottonisch-salischer Zeit ein
straffes Reichskirchensysteni aufgebaut. Die Könige betrachteten die Bischöfe,
die ihre Stellung ia nicht vererben konnten, als Gegengewicht gegen die inzwi-
schen erblich gewordenen weltlichen Feudalgewalten und begünstigten sie viel-
fach, womit sie die Grundlage für die geistlichen Fürstentümer schufen._,Aber
dieses Gegengewicht war nur zuverlässig, wenn die Herrscher das entscheiden-
§2 g W _ ill. Mittelalterlighe Wurzeln g 4_ _? f
Mit dieser Stellung der Kirche waren zahlreiche Mißstände verbı.ınden. Die
kirchliche Disziplinargewalt über den niederen Klerus litt, tler Zölibat war
kaum noch durchzusetzen, und die Simonie nahm zu, also die Bereitschaft, die
Erlangung kirchlicher Ämter mit Zahlungen an denjenigen zu fördern, der sie
zu vergeben hatte. Gegen diese Übelstände wurden früh Reformbestrebungen
laut. Sie wurden vor allem im Mönchtum formuliert, und am gewichtigsten
wurde dabei die auf das Anfang des 10. Jahrhunderts gegründete Kloster Cluny
zurückgehende Bewegung. In der Mitte des ll. Jahrhunderts nahm auch die
Kurie diese Tendenzen auf. Hier ist zunächst der von Kaiser Heinrich Ill. auf
den Stuhl Petri gebrachte Papst Leo IX. zu nennen. aus dem Kreise seiner Mit-
streiter sodann der Kardinal Hunıbert von Silva Candida, der in seiner Schrift
›Adversos Simoniacos« von 1057/58 mit schweren Schlägen auf die Simonisten
eindrang und den Begriff dabei weit faßte. Die Laieninvestitur bezog er in voll-
em Umfang mit ein, sei es die durch einen Grundherrn in seiner liigenkirche,
Sei es die durch die Könige. All dies erschien ihm als Wirken des Antichrist, er
sah eine falsche in der wahren Kirche entstanden und forderte die gründliche
Beseitigung der Mißstande.
Mit großer Entschlossenheit machte sich auch Gregor Vll., der von 1073 bis
1085 Papst war, aber schon seit den 50er_]ahren nialšgeblichen Einfluß in Rom
hatte. den Kampf gegen Simonie, Priesterelıe untl Laieninvestitur zur Aufgabe.
Seine Ziele gingen jedoch weit über derartige Reformen hinaus. ln seinem zwei-
ten Pontifikatsjahr stellte er 1075 iıı 27 knappen Sätzen, dem sogenannten Dic-
tatus papae, die Rechte des Papstes zusammen. Das geschah vielfach unter
Rückgriff auf ältere Formulierungen, aber die Katalogisierung der bisher ver-
streuten Aussagen in einem einzigen Schriftstück gab dem so vorgetragenen
Programm - um mehr handelte es sich einstweilen nicht - besonderen Nach-
druck. Nach dem Dictatus papae stand der Papst ganz im Zentrum der Kirche.
Geistliche und weltliche Macht 43
Der Grundsatz, daß ein König, der einen Höheren nicht anerkenne, imperator
in regno suo sei, fand verständlicherweise große Resonanz und wurde schließ-
lich auch auf kleinere Territorien angewandt.
dürfnis. Sie war der rechtliche Ausdruck des eben erwähnten Bevölkerungsan-
stiegs und der damit verbundenen Verdichtung der Lebensverhältnisse. Der
frühmoderne Staat begann sich zu formieren.
heben. Ein solcher Schritt war für Thomas von Aquin kein Treuebruch, über-
tragene Gewalt unter bestimmten Bedingungen widerrufbar. Den Tyrannen-
mord lehnte er ab. Hülfen keine anderen Mittel, so bleibe schließlich nur das
Vertrauen auf Gott.
Thomas war der Ansicht, daß eine ungerechte Herrschaft nicht von sehr lan-
ger Dauer sein könne, Die Tyrannis sei der Menge verhaßt, »und nichts, was ge-
gen die Wünsche der vielen ist, kann sich auf die Dauer behaupten.«53 Anson-
sten hielt er von der Beteiligung breiter Kreise der Bevölkerung an der
Entscheidungsbildung wenig. Die Demokratie beargwöhnte er als Unter-
drückung durch die Macht der Menge und fürchtete gar, das ganze Volk könne
zum Tyrannen werden. Und von Repräsentation war nicht die Rede. Vielfach
wird darauf verwiesen, daß Thomas sich für eine Mischverfassung ausgespro-
chen habe, indessen sind hieran erhebliche Zweifel anzumelden, sollte das Volk
doch nur in Ausnahmesituationen wirksam werden, nicht aber regelmäßig.
Das Staatsbild des Thomas von Aquin war weit entfernt von Autonomievor-
stellungen im modernen Sinne. Hier wurde Politik nicht individualistisch ge-
dacht. Für Thomas stand die Gesellschaft über dem Individuum, in sie war es
eingebunden und auf sie bezogen, seine irdischen Güter hatte es nur nach Maß-
gabe des Gemeinwohls. Der Inbegriff dieses bonum communc war der Frieden
in einem umfassenden Sinne, nicht nur als Fehlen von Krieg, sondern als Ruhe
und Gerechtigkeit im Innern des Staates und als ein Zustand, in dem der
Mensch sich voll entfalten und auf seine wahren Ziele richten konnte. Dazu
gehörte auch die Hinordnung auf das höchste Gut, auf Gott. Ein christlicher
Herrscher durfte das nicht unbeachtet lassen.
Von der eben skizzierten Positionen war es noch ein sehr weiter Weg zum Ver-
fassungsstaat. Indem Thomas, der rnit seiner Theologie und Philosophie lange
'/.eit einen außerordentlichen großen Einfluß hatte, Aristoteles aufnahm und in-
dem er eingehend darüber sprach, daß das Volk unter bestimmten Umständen
über die Herrschaft verfügen konnte, wirkte er wegweisend.
Sehr viel weniger bekannt als Thomas von Aquin wurde der etwa eine Genera-
tion iüngere französische Doıninikaner johannes Quidort, auch johannes von
Paris genannt, der mit seiner 1302/03 entstandenen Schrift De potestate regia et
papali in den Streit zwischen Philipp dem Schönen und Bonifaz VIII. eingriff
und dabei mit aller Entschiedenheit auf die Seite des französischen Königs trat.
johannes von Paris 47
Er wandte sich gegen das kurz zuvor erschienene Werk De ecclesiastica pote-
state des Kurialisten Aegidius Romanus, in dem dem Papst die höchste Verant-
wortung auch für alle weltliche Herrschaft zugewiesen wurde, und gegen die
darauf beruhende Bulle Unam sanctam. Die breit entwickelte antipapistische
Gedankenführung Quidorts muß in der Folge nur am Rande berührt werden.
Es kommt einzig auf den Ertrag der Schrift für das staatliche Leben an.
johannes betonte nachdrücklich und so kompromißlos wie niemand vor ihm
die Eigenständigkeit des Staates. Er eröffnete seine Abhandlung mit einem Ka-
pitel über Wcsen und Ursprung des Königtums und schloß dabei in breiten
Passagen wörtlich oder sinngemäß an Thomas und Aristoteles an, allerdings ar-
gumentierte er realistischer als diese. Auch er definierte den Menschen als so-
ziales und politisches Wesen, das naturgemäß den Zusammenschluß mit sei-
nesgleichen suchte. Es sei klar, »daß es für den Menschen notwendig und
nützlich ist, in einer Menge zu leben und ganz besonders in einer Menge, die
sich für das ganze Leben selbst genügen kann, wie es der Staat oder ein Ge-
bietsverband ist, und vorzugsweise unter einem im Interesse des Gemeinwohls
allein I-Ierrschenden, den man König ııenııt.«-"-I In diesem Zusammenhang
begegnete unter Rückgriff auf Aristoteles, Orosius und Cicero »zum ersten
Mal in der Geschichte der europäischen Staatstheorie der Gedanke des Urztı-
standes.“«- Die These des Aegidius Romanus. daß der Papst der Oberherr allen
Eigentums sei, wies johannes zurück: Die äußeren Güter des Lebens seien
nicht einer Gemeinschaft gegeben wie die Kirchengüter, »sondern von Einzel-
personen durch ihre eigenen Fähigkeiten, ihre eigene Mühe und ihren eigenen
Fleiß erworben worden; und so haben auch die Einzelpersonen als solche an
diesem Besitz volle Rechtsgewalt und wahre Herrscl1~.1ft.«” An dieser Verfü-
gungsgewalt andere die Schaffung eines Gemeinwesens nichts, ja, die Eigen-
tunısverlıaltnisse machten die Aufriclıtung von Herrschaft geradezu notwen-
dig, führten sie doch zu Unfrieden. Der Fürst sei »vom Volk als Herrscher
eiııgeset7.t«. um wie ein Richter über Recht und Unrecht zu entscheiden, Uıı-
rceht zu .ıhnden und ein gereclıtcs Maß bei den Abgaben zu setzen, ›-die er von
den einzelnen zu enıpfangen hat im rechten Verhaltnis zum Bedürfnis und
Nutzen der Gcıncinscl1aft.«- 5"
Hatte Thomas gelehrt, daß Privateigentunı dem Naturrccht nicht wider-
sprach, so trug; johannes nun mit aller Klarheit den Gedanken der Eigentünier-
gesellschaft vor und unterschied ohne jede Iiiııschriinkung zwischen Eigentum
und Funktionen des llerrschers. Iir ging dabei auch über die Feudalordnung
hinweg. Durcligehend betonte er, daß Herrschaft »durch menschliches Einver-
ständnis« verliehen und wieder entzogen werde", er griff an der zitierten Stelle
auf eine kurze Bemerkung von Acgidius Romanus zurück, die dieser in seinem
I<`ı'ı{ıI1werk De regimine prineiptım, einem vielgelesenen Fürstenspiegel, gemacht,
eine Vierteljahrhundert spater in seiner Papstschrift aber natürlich nicht wieder
kI.UI'igCI`IOIIIIIIL'II IIÄIIIC.
48 ll. Mittelalterliche Wurzeln in _ “_ f
Nirgends im politischen Schrifttum des 13. und frühen I4. Jahrhunderts finden
sich so viele zukunftsweisende Gedanken wie bei johannes von Paris: Eigen-
ständigkeit des Staates, Sinnhaftigkeit vieler Staaten mit ihren Gegebenheiten
entsprechenden Ordnungen, Eigentümergesellschaft, Mischverfassung mit De-
legation von unten nach oben, Pmsätze zur Volkssouveränität.
Marsilius von Padtfi _ 49
Der Fortgang der Diskussion muß hier nicht besprochen werden. Nur auf ei-
nen Autor ist noch einzugehen, auf den Generationsgenossen von Quidort
Marsilius von Padua und auf seine im Sommer 1324 abgeschlossene Schrift
Defensor Pacis. Marsilius dei Mainardini, wie der volle Name lautete, war Arzt
und Magister Artiuın an der Pariser Universität mit ausgesprochenem Interesse
für Politik. Den Defensor schloß er Mitte 1324 ab und widmete ihn Ludwig
dem Bayern. Als seine Autorschaft 1326 bekannt wurde, verließ er Paris und
begab sich zum Kaiser, bei dem cr zeitweilig eine wichtige Beraterrolle spielte
und an dessen Hof er bis zu seinem Tode im Winter 1342/43 als Arzt wirkte.
lm ersten Teil seiner Schrift gab er eine sehr eigenständige Paraphrase der »Poli-
tik« des Aristoteles, wiihrend der zweite und weit umfangreichere sich mit den
Beziehungen von geistlicher und weltlicher Gewalt beschäftigte und der dritte
eine thesenartige Zusammenfassung brachte. Es ging dem Autor also nicht um
eine Staatstheorie an sich, sondern um die Bestimmung des richtigen Verhalt-
nisses von Staat und Kirche. Dabei betonte er die Autonomie des Staates gegen
die klerikalen Ansprüche auf Oberherrsclı-.ıft und sah ihn auch berechtigt, die
Kirche für seine Zwecke in Dienst zu nehmen und deshalb auf ihre äußere Ge-
stalt eiıızuwirketı, etwa auf die Stellung der Priesterschaft. Nur die rein spiritu-
ellen Fragen gingen ihn nichts an.
Die soziale Ordnung sah Marsilius von der Hausgemeinschaft über die Dorf-
gemeinschaft zum Staat ansteigen. Erstere lebte unter patriarchalischem Regi-
ment. So brauchte sie keine Rechtsverhältnisse. Das Privatwohl des Hausherrn
und seiner' Familie waren identisch. Die Dorfgemeinschaft war komplizierter.
Hier gaben Billigkeit und gesunder Menschenverstand den Rahmen, in dem der
oder die Dorfiiltesten agicrten. Auf der dritten Stufe dagegen, im Staat, war ge-
set'/.tes und fur jedermann geltendes Recht unabdingbar. Kein Herrscher und
kein Richter sollte iiber die Angelegenheiten der liinwohnerschaft ohne Bezug
auf ein Gesetz entscheiden. Anders konnte der Staat keine gute Ordnung und
damit Frieden haben. Gesetzlich zu regeln war jede Norm, von deren richtiger
Aufstellung das befriedigende Dasein der Allgemeinheit .ıbhing und aus deren
verfehlter Formulierung Schaden für sie entstehen konnte. Ein Gesetz mußte
mithin anı Gemeinwohl orientiert und gerecht sein. Formal definierte Marsilius
Gesetz von Erzwingbarkeit aus. Von dort ging er zur Frage nach dem Gesetz-
geber iiber. Im Anschluß an Aristoteles stellte er fest: »Gesetzgeber oder erste
und spezifische bewirkende Ursache des Gesetzes ist das Volk oder die Ge-
samtheit der Burger oder deren Mehrheit durch ihre Abstimmung oder Wil-
lensaußerung, die in der Vollversammlung der Burger in einer Debatte zum
Ausdruck gekommen ist.'›'~l« Die Neigung des Autors zur Redundanz verhin-
derte hier wie an vielen anderen Stellen die nötige Klarheit. ›Das Volk« wurde
§9 II. híittelalterlicheyrví/urzän f †¬_ !__` WW _ Wf `
tionen für Konfliktsituationen. Der Regelfall war die Legislative durch alle Bür-
ger, durch alle freien Männer.
Das Gesetz stand für Marsilius im Mittelpunkt des staatlichen Geschehens.
Es war eine rein menschliche Schöpfung, also ausschließlich positives Recht,
wurde unter Mitwirkung aller Bürger und im Interesse aller erlassen und band
alle gleichermaßen, jeden Bürger und jeden Amtsträger, der zugleich ja auch
Bürger war. Für eine transzendentale Rechtsquelle blieb kein Raum.
Der Gesamtheit der Bürger schrieb Marsilius es auch zu, die Regierung ein-
zusetzen, sie zu tadeln oder sie, falls das Gemeinwohl es gebot, abzuberufen. Er
diskutierte die versehiedenen Staatsformeıı und sah die Politie dadurch ausge-
zeichnet, daß in ihr jeder Bürger entsprechend seiner sozialen Stellung und sei-
nen Fähigkeiten am politischen Leben beteiligt war. Auch minder Wohlhaben-
de sollten Regenten werden können. Die Wahlmonarchie zog er der
Erbmonarchie eindeutig vor. jede Regierung, sei es nun ein einzelner Monarch
oder seien es mehrere, durfte nur im Rahmen der Gesetze handeln und nichts
Wichtiges ohne Zustimmung des Volkes tuıı, »denn auf dem klar ausgesproche-
nen Volkswillen ruht Kraft und Autorität der Regierung«“°. Es ist unbezweifel-
bar: Das als Bürgerschaft organisierte Volk war für Marsilius Ursprung und
Träger der politischen Gewalt.
Was Marsilius über das staatliche Leben sagte, führte er entsprechend auch
für den kirchlichen Bereich aus. Mit äußerster Entscliiedenheit hekiimpfte er die
seines Erachtens angemaßte Gewaltfülle des Papstes. Hier war die Basis allen
Geschehens der glíiubige menschliche Gesetzgeber, der keinen höheren über
sich hatte, und nur er hatte das Recht, ein allgemeines Konzil für die einzelnen
wichtigen lintscheidungen einzuberufen. Das ist hier nicht weiter auszuführen.
Marsilius baute auf einem breiten Sockel von Vorarbeiten vieler anderer Ge-
lehrter auf, aber was er schließlich vortrug, war in dieser Geschlossenheit noch
.tn keiner anderen Stelle gesagt worden. Mit gutem Grund konnte man ihn den
ersten laizistisclieıı Denker nennen. Gewiß: Die dichte Annäherung an das neu-
zeitliche Ron'/.ept der Volkssouveränität fand sich schon bei johannes Quidort,
aber viel stärker als jener rückte der Paduaner den Reclıtsetzuıigsakt in das Zen-
trum staatlichen (šesclielıens, wiihrend johannes Regieren noch überwiegend als
Rechtspflege gesehen hatte. So ging Marsilius einen großen Schritt weiter in
Richtung Moderne. Sein Ansehen war nicht nur bei den Zeitgenossen groß, er
hatte auch langfristig erheblichen Einfluß.
Anfang 1328 ließ sicli Ludwig der Bayer in Rom vom ›Volk< der Stadt zum
Kaiser wählen und von einem l..ıien die Krone aufsetzen. An diesem im Mittel-
alter einmaligen Vorgang hatte Marsilius erheblichen Anteil, aber bei dem Ge-
schehen handelte es sich doch uın nicht mehr als eine Arabeske. Im Flächenstaat
jener Zeit war die Theorie vom Bürger als Gesetzgeber und vom Urheber jeder
Regierung noch sehr weit von der Wirklichkeit entfernt. Die konkreten Bezüge
im ›Defensnr Paeis« verweisen auf die Stadt. Marsilius griff nicht nur auf die
52 II. Mßlalterliclııe Wupzeln Ju V V _
Lehren des Aristoteles zurück, sondern verarbeitete auch Erfahrungen aus sei-
ner Heimat Padua und aus anderen oberitalienischen Städten. Dabei hielt er sich
freilich nicht an die tatsächliche Lage, sondern zeichnete die Verhältnisse so, wie
sie seines Dafürhaltens sein sollten.
Hier sei der Blick auf die Geistesgeschichte abgebrochen. Der Weg zum mo-
dernen Verfassungsstaat wurde nicht so sehr im Reich der Gedanken, sondern
mehr auf dem Felde der realen Politik gefunden. Aber die geistigen Leistungen
dürfen doch nicht unterschätzt werden. Männer wie Quidort und Marsilius hat-
ten beträchtliche Fernwirkungen.
III. DER WEG ZUM VERFASSUNGSSTAAT IN
ENGLAND
Als König Eduard der Bekenner von England im Januar 1066 kinderlos starb,
hatte Herzog Wilhelm von der Normandie, der als Wilhelm der Eroberer in die
Geschichte einging, gut begründete, aber keineswegs unbestrittene Erbansprüche
auf das Königreich. Jedoch boten die Großen dem mächtigsten Mann im Lande,
Harold Godwinson. die Krone an. Wilhelm bereitete sogleich die Invasion vor,
landete im September an der Südküste der Insel in der Nähe von Hastings und
besiegte dort am 14. Oktober in blutiger Schlacht das angelsächsische Heer. Bis
1070 brachte er in teilweise sehr heftigen Kämpfen das ganze Land in seinen Be-
sitz. Der Herrschaftswechsel war, da der einheimische Adel mit Harold an der
Spitze in diesen Kämpfen größtenteils sein Leben verlor, zugleich ein Eliten-
wechsel großen Ausmaßes. Wilhelm verband damit auch einen tiefgreifenden Sy-
stemwechsel. Er übertrug das normannische Lehnssystem nach England und be-
handelte die ganze Monarchie als Terra Regis. Aller Grund und Boden unterstand
ihm entweder direkt, als Krondomäne, oder indirekt als Teil des Lehensverban-
des. Der neue König hatte damit eine sehr gute Ausgangsbasis für den Aufbau ei-
nes starken, auf ihn zentrierten Staates. Der Gefahr, durch die Kronvasallen von
den Untervasallen ferngehalten zu werden, begegnete er, indem er 1085 in Salis-
bury einen allgemeinen Treueid verlangte. Im übrigen traf er Vorsorge, daß kein
Lehnsnehmer zu stark wurde. Administrativ und steuerpolitisch knüpfte er an
die älteren Verhältnisse an, eine hochbedeutende rechtspolitische Neuerung war
die Einführung von Geschworenengerichten nach normannischem Vorbild.
Daß die starke Position des Königtums nicht voll aufrechterhalten werden
konnte, war Folge menschlicher Schwäche und genealogischer Zufälle. Der drit-
te Normannenkönig, Heinrich I., kam unter Umständen auf den Thron, die es
wahrscheinlich erscheinen ließen, daß er beim Unfalltod seines Vorgängers und
Bruders Wilhelm II. die Hand im Spiel hatte; er beeilte sich deshalb, den
Großen in seinem Krönungseid zu versichern, daß Änderungen der Gesetze nur
mit dem Rat der Barone erfolgen sollten und daß er zum Rechtszustand unter
Eduard dem Bekenner zurückkehren wolle, Zusagen, an die er sich durchaus
nicht immer hielt. Bei seinem Tode war die Nachfolgefrage problematisch, da es
keinen erbberechtigten Sohn gab.
So folgten zwei Jahrzehnte der Schwäche, ehe 1154 mit Heinrich II. Planta-
genet, dem Herzog der Normandie und Aquitaniens, wieder ein starker Mann
êff HLDßfjveg_%utf1..V@ff@SS\ff1s§§2===inEflßlsfıi , .Lt __,
auf den Thron kam, auch er nach bewaffneter Invasion. Da ihm ein großer Teil
Frankreichs gehörte, war er neben Friedrich Barbarossa der mächtigste Mann
der Christenheit. Er arbeitete konzentriert daran, das Gewicht der Krone zu
stärken sowie den Frieden im Lande wiederherzustellen und dauerhaft zu si-
chern. Er ließ ein neues Besitzverzeichnis ähnlich dem Domesday Book des Er-
oberers von 1086 aufstellen, um alle Untervasallen namentlich zu erfassen, wan-
delte die persönliche Dienstleistung in Schutzgeld um, fiskalisierte also das
Wehrwesen und ging zu besoldeten Truppen über, belebte andererseits aber das
angelsächsische Heeraufgebot neu, um ein Gegengewicht gegen den Hochadel
zu erhalten, und entwickelte die königliche Curia, von der er sich beraten ließ,
zu einem Zentralgericht mit umfassenden Vollmachten. Zugleich verbesserte er
das Institut der schon von Heinrich I. geschaffenen Reiserichter nachhaltig.
Diese Männer hatten die Sheriffs und die Arbeit der Untergerichte zu prüfen,
sie hatten Zutritt zu allen Gerichtsverhandlungen der Barone und konnten alle
Fälle an sich ziehen. Die Hochgerichtsbarkeit blieb ausschließlich dem König
vorbehalten. Ihre Informationen erhielten die Reiserichter von Juries, die pro
Hundertschaft aus zwölf mit den Verhältnissen besonders vertrauten und dem
König durch einen Treueid verbundenen Freien bestanden. Durch Verträge mit
den Baronen machte Heinrich II. es möglich, daß jeder Freie ein königlichcs
Gericht anrufen konnte. Auch verbesserte er das Verfahrensrecht. Tatsachen-
feststellung und Beweiserhebung wurden (1179) Geschworenenbänken zuge-
wiesen. Durch diese Reformen wurde das Recht nationalisiert, es entstand das
Common Law. Wenn das Feudalwesen auch äußerlich erhalten blieb, so wurde
es der Sache nach doch weitgehend ausgehöhlt.
Die letzte Phase von Heinrichs fünfunddreißigjähriger Herrschaft war von
Rivalitäten der Söhne untereinander und Empörungen gegen den Vater gekenn-
zeichnet. Gleichwohl ging die Krone im juli 1189 glatt auf Richard Löwenherz
über. Hatte Heinrich II. 1154 seinen Amtsantritt noch durch Akklamation der
Barone absegnen lassen und damit dem Gedanken an das Wahlkönigtum nomi-
nell gehuldigt, so geschah jetzt nichts dergleichen. England war unbestritten
Erbmonarchie. Wie stabil die Institutionen inzwischen waren, zeigte sich dar-
an, daß Löwenherz fast seine gesamte Regierungszeit außerhalb Englands ver-
brachte, ohne daß die Arbeit des Staatsapparates davon beeinträchtigt worden
wäre. Einen Erhebungsversuch von Richards jüngerem Bruder Johann schlug
der Erzbischof von Canterbury 1193/94 mit Hilfe des niederen Adels und der
Londoner Bürgerschaft nieder. Wenige jahre später, 1199, folgte ]ohann Rich-
ard auf dem Throne nach, seinen Beinamen Ohneland hatte er, weil sein Vater
ihm bei der ursprünglichen Erbteilung Irland zugewiesen hatte, wo sich engli-
sche Herrschaft noch kaum realisieren ließ. Auch Johann, der von den Zeitge-
nossen als grausam, treulos und unfähig empfunden wurde, wandte sein Inter-
esse überwiegend dem Festland und namentlich Frankreich zu, konnte dort
aber schwere territoriale Einbußen nicht verhindern; er verlor die Normandie
W *ffir gg f Wi www* if Zur Entwicklung des Parlaments A_fi7§§
den Thron gelangt war und seit 1227 eigenständig regierte, für den Juni 1258 ei-
nen Ausschuß nach Oxford berief, dessen 24 Mitglieder zur Hälfte von ihm be-
stimmt, zur anderen Hälfte von den Magnaten gewählt werden sollten. Der Kö-
nig mußte beschwören, daß er sich den Mehrheitsentscheidungen dieses
Gremiums beugen werde. Das Ergebnis der Beratungen waren die Oxforder
Provisionen, denen zufolge jährlich drei Parlamente stattfinden sollten. Zudem
wurde das schon früher vorhandene Amt eines Justitiars als oberste, von der
Krone unabhängige Appellationsinstanz wiederhergestellt. Diese Behörde soll-
te ebenso dem Rat verantwortlich sein wie Schatzmeister und Kanzler, die kei-
ne Befehle mehr vom König annehmen durften. Schließlich sollten die Sheriffs
nur noch für ein Jahr ernannt und dem Kreis der jeweiligen großen Grundher-
ren entnommen werden. Auch wurde ein Kontrollorgan aus 16 Räten gebildet,
dessen Beschlüsse für den Monarchen verbindlich sein sollten. Natürlich war
Heinrich III. nicht bereit, sich derart beschränken zu lassen. 1262 widerrief er
die Provisionen von Oxford und setzte sich in dem nun ausbrechenden bewaff-
neten Konflikt bis 1265 mit seinem Standpunkt durch. Er verzichtete in der
Folge jedoch nicht darauf, regelmäßig Parlamente zu berufen, um sich in Fra-
gen der Justiz und der Verwaltung von den Baronen oder von denjenigen bera-
ten ıu lassen, an deren Urteil ihm gelegen war. Auch unter Eduard 1. (1272 bis
1307), Eduard ll. (1307-1327) und Eduard III. (1327-1377) fanden regelmäßige
Parlamente statt; schon unter Eduard I. wurden sie zu einer festen Einrichtung,
und Vertagungen wurden stets mit dem Hinweis auf das nächste Parlament aus-
gesprochen.
Anfänglich hing die Zusammensetzung dieser Parlamente noch ganz vom
Willen des Königs ab, bei der Einberufung blieb es immer so. Die größte Be-
deutung für die Zusammensetzung hatte das sogenannte Modell-Parlament von
1295, zu dem 12 Earls und 41 Barone namentlich, etwa 70 Äbte und Priore, pro
Bistum einige führende Geistliche und je zwei Vertreter des niederen Klerus,
pro Grafschaft zwei Ritter und für jede Stadt zwei besonnene und mitwir-
kungsfähige Bürger geladen wurden; alle diejenigen, die für eine Korporation
sprechen sollten - und das waren die meisten - sollten eine Vollmacht vorlegen.
Anwesend waren schließlich etwa 100 Prälaten und 150 Vertreter des niederen
Klerus, über 100 Earls und Barone, 74 Grafschaftsritter und rund 200 Vertreter
der Städte sowie etwa 50 Angehörige von Regierung und königlichem Haushalt.
Der königliche Rat war also ganz außerordentlich ausgeweitet. Darin drückte
sich die Überzeugung aus, daß das, was alle anging, auch von allen gebilligt
werden sollte. Der auf Justinian zurückgehende Satz ›Quod omnis tangit, ab
omnibus approbetun hatte im Laufe des 13. Jahrhunderts überall Anerkennung
gefunden. Namentlich die Bewilligung von Steuern gehörte hierher.
Bei den Parlamenten hatten allein der König oder die von ihm Beauftragten
das Fragerecht. Verhandelt wurde hauptsächlich mit den Magnaten, aber seit
1290 wurde von allen Versammelten, die nicht Magnaten waren, Konsens zu
__* __ Zur Entwicklung des Parlatnegntsr 57
dem verlangt, was mit den Großen abgesprochen worden war. 1297 erkannte
Eduard l. in der Confirmatio Cartarum das Steuerbewilligungsrecht des Parla-
ments ausdrücklich an. Das hing mit der damals sehr schlechten militärischen
Lage des Königreiches zusammen, in der die herkömmlichen Einkünfte des
Monarchen bei weitern nicht ausreichten. Im Jahre 1311 wurde festgelegt, daß
nur im Parlament Beschwerden gegen königliche Beamte vorgetragen werden
dürften, nachdem schon 1305 entschieden worden war, daß jede derartige Peti-
tion beantwortet werden mußte. In der Folge setzte es sich schnell durch, daß
die statutarische Gesetzgebung, die in strikter schriftlicher Form erfolgen muß-
te. auf die vielfältigen Petitionen reagierte. Das statutarische Recht nahm quan-
titativ stark zu - mit dem Gewohnheitsrecht allein ließen sich die anstehenden
Probleme in dieser Zeit eines raschen Bevölkerungsanstiegs nicht mehr bewälti-
gen.
Anfang des 14. Jahrhunderts verfestigte sich zudem die Zusammensetzung
des Parlaments. Es waren jetzt 52 geistliche und 77 weltliche Lords, 74 Graf-
schaftsritter und 160 Bürger. Die Vertreter des niederen Klerus schieden 1330
auf eigenen Wunsch aus und tagten in eigenen Konvokationen. 1321 erging ei-
ne Art Geschäftsordnung, der Modus Tenendi Parliamentum. Hier wurde fest-
gelegt, daß der König zwar Parlamente ohne Lords halten konnte, wenn diese
nur pünktlich geladen waren, ııicht aber ohne Commons. Es wurden Diäten
vcrbürgt und Strafgclder für das Versäumen von Tagungen vorgeschrieben. Bei
Abwesenheit des Monarchen konnte ein Parlament nicht stattfinden. Wenig
später wurde der Satz Quod omnis tangit gesetzlich fixiert. Im Statut von York
hieß es 1322: »Die Dinge, die für den Bestand von Königreich und Volk zu re-
geln sind, sollen im Parlament, beraten. beschlossen und durchgesetzt werden,
durch unseren Herrn, den König, und mit Zustimmung der Prälaten, Grafen
und Barone sowie der Gesamtheit des Königreichs, wie es seit langem in Übung
gewesen ist«7~`.
1341 wurden die Grafschaftsritter mit den Städtevertreterıı zusammengefaßt
und als Commoners den Magnaten gegenübergestellt. Das war die Geburts-
stunde des Unterhiıuses. lm Jahre 1353 schieden alle Gewählten aus dem
Großen Rat aus. Damit waren Council und Rat definitiv getrennte Größen. Die
liinrichtung des Sprechers entstand im Jahre 1376. 1391 schließlich fiel das
Schwergewicht bei der Stetıergcsctzgebung den Commons zu, die Lords be-
hielten jedoch das Zustimmungsrecht zu diesen Beschlüssen. Das größere poli-
tische Gcwicht lag ohnehin weiter bei den Magnaten, wenngleich die Commons
immer wieder darauf verwiesen, daß sie ihre Beteiligung an der Ausbildung des
statutarischen Rechts nicht vornehmlich in der Vorlage von Petitionen sähen.
Das 15. Jahrhundert war durch die Ausgestaltung des Wahlrechts gekenn-
zeichnet. Mehrheitsentscheidungen bei den Commons galten jetzt als einge-
führte Regel, und schließlich wurde höchstriclıterlich bestätigt, daß die Gesetz-
gebung durch die Commons alle Untertanen band. Das Parlament war nach wie
58 _ Illgr Wegflm Verfassungsstaat in England i
vor im wesentlichen eine Beschwercleinstanz, und der König hatte in allen Fäl-
len die Letztentscheidung. Aber ein königlicher Absolutismus war doch nicht
mehr möglich. Richard II., der das in seinen letzten Regierungsiahren versuch-
te, verlor 1399 sein Amt. An seiner Abdankung war das Parlament beteiligt, und
es wählte den Nachfolger. jetzt, unter dem Hause Lancaster, das bis 1461 rc-
gierte, stand das Parlament auf dem Höhepunkt seiner Macht, da diese Dynastie
ständige Finanznöte hatte und ihre Legitimität nicht völlig unanfechtbar schi-
en. Für einige Zeit wurde das monarehische Veto fast obsolet. In den 1455 aus-
brechenden Rosenkriegen trat das Parlament mehr in den Hintergrund. Als
Heinrich Tudor sich 1485 machtmiiíšig durchgesetzt hatte. berief er es erst nach
seiner Krönung - als Heinrich VII. - ein, um damit zu demonstrieren, daß er
nicht ihm seine Herrschaft verdanke.
Hier sei kurz innegehalten. Das englische Parlament, das ist nachdrücklich zu
unterstreichen, war nicht ståindischen Ursprungs. Seine Mitglieder traten dem
Monarchen nicht, wie das oben als charakteristisch für das beginnende Stände-
wcsen bezeichnet wurde, aus eigenem Recht und als autonome Korporation ge-
genüber. Es war vielmehr eine ursprünglich königliche Einrichtung und ent-
wickelte sich kontinuierlich aus dem Großen Rat heraus. Schon an der Wende
vom 13. zum 14. jahrhundert war es ein unentbehrlicher Faktor und es baute
seine Position in der Folge weiter aus. Dabei wa ren die vielen auswärtigen Ver-
wicklungen der Könige, insbesondere in Frankreich, sehr hilfreich. Die dafiir
nötigen Finanzmittel ließen sich nur mit der Zustimmung derer. die sie aufbrin-
gen mußten, bereitstellen. Mit vollem Recht konstatierte der Rechtslehrer Sir
john Fortescue in seinem in der Mitte des 15. jahrhunderts geschriebenen Dia-
log De Iaudibus legum Angliae, daß der König dem Lande von sich aus oder
durch seine Minister ebensowenig Abgaben oder irgendwelche anderen Lasten
auferlegen noch Gesetze ändern oder erlassen könne, ohne dafür die Zustim-
mung seines ganzen sich im Parlament verwirklichenden Reiches zu haben.
Aber immer noch war das Parlament ein Hilfsorgan des Königs, das grundsätz-
lich nicht anders wollen konnte als der Monarch.
Über den eben beschriebenen Zustand herrschte in der Tudorzeit seit den 30er
Jahren des 16. Jahrhunderts Einverständnis. Eine neue Situation trat ein, als im
Jahre 1603 die Dynastie der Stuart auf den englischen Thron gelangte. Der erste
König aus diesem Hause, Jakob I., damals in seinem vierten Lebensjahrzehnt ste-
hend und seit langem schottischer König, hatte ein anderes Herrschaftsverständ-
nis. In seinen Augen war das Parlament nur der Rat des Monarchen, mehr nicht.
Das Schwergewicht des politischen Lebens sollte damit wieder ganz eindeutig zur
Krone hin verlagert werden. In manchen Zügen des Hoflebens kam diese rück-
wärtsgewandte Sehweise deutlich zum Ausdruck. Das führte in der politischen
Schicht Englands zu manchem Unmut, aber es dauerte noch eine ganze Weile,
ehe die Unzufriedenheit sich so steigerte, daß es zu offenen Spannungen kam.
Strittig wurden schließlich drei Bereiche, das Finanzwesen, die Außenpolitik, die
eindeutig zu den Prärogativen der Krone gehörte, und die Kirchenpolitik.
Zwischen den Einkünften der Krone und den Ausgaben bestand seit länge-
rem eine empfindliche Diskrepanz. Die Einnahmen wuchsen nicht so schnell
6O _ ILDU Weg zuı1Verfassungsstaat7in Englancl_ __
wie die Anforderungen an die Staatskasse, und manche gingen auch relativ
zurück, so die aus den Krondomänen. Die Lücke mußte geschlossen werden.
Ein Einigungsversuch mit dem Parlament scheiterte 1610. In der Folge ver~
mehrten Jakob I. und ebenso Karl I. die Einkünfte ohne Mitwirkung des Parla-
ments, durch neue Einfuhrzölle, durch Anleihen im Vorgriff auf künftig zu be-
willigende Steuern, durch Verkauf von Ämtern, durch die Vergabe von
Monopolen und dtırch die Wiederbelebung von längst erledigt gedachten lehns-
rechtlich begründeten Forderungen. Diese Praktiken riefen bei den Commons
wachsenden \l(/iderspruch hervor. mußten sie doch fürchten, daß sie auf die
Dauer ganz beiseitegeschoben würden - im allgemeinpolitischen Bereich ver-
legte sich die Krone zunehmend auf die Reehtsetzung durch Proklamationen.
Schon 1621 protestierte das Unterhaus scharf, und Edward Coke, bis 1616 ho-
her Richter, seit 162O Parlamentsmitglied und der einflußreichste Führer der
Opposition, erklärte Monopole für unvereinbar mit dem Common Law und
der Freiheit der Engländer. Ganz konsequent setzte das Parlament 1624 ein Ge-
setz durch, das die Vergabe von Moııopolen stark einschränkte. lm jahre darauf
ging es noch weiter und bewilligte dem Monarchen. seit März 1625 Karl I., die
Wein- und Wollzölle abweichend von der seit langem eingeführten Praxis nur
für ein jahr. Auch griff es im Kampf gegen die Korruption auf das längst nicht
mehr praktizierte Impcachment zurück - in diesen Verfahren fungierte das Un-
terhaus als Kläger, das Oberhaus als Richter.
Die Finanzstreitigkeiten gewannen in der zweiten Hälfte der 20er].ıhre auch
deshalb an Bedeutung, weil jetzt die Außenpolitik strittig wurde. Der Dreißig-
iährige Krieg ließ viele Englåinder nicht unintercssiert. Viele sahen das Land als
Vormacht des Protestantismus an. Auch war jakob 1. der Schwiegervater des
Kurfürsten Friedrich V. von der Pfalz, der 1619 zum böhmischen König gc-
wählt worden war, sich dort aber nicht hatte behaupten konnen und nach der
Niederlage am Weißen Berg bei Prag im November 1620 ins holländische Exil
hatte gehen müssen. Der Monarch war indessen lange nicht willens, einzugrei-
fen. Erst 1624 unternahm er einen halbherzigen Interventionsversuch. Bis 1630
wurde der Krieg mit Spanien mit wenig Entschlossenheit und geringer militäri-
scher Kompetenz geführt. Das verletzte den nationalen Stolz, und es war nicht
einzusehen, warum man die hohen Kosten für das Militär aufbringen sollte,
wenn damit nichts bewirkt wurde.
Der Gegensatz zwischen dem Hof und großen Teilen der politischen Klasse ~
das waren die zusammenfassend .ıls Gentry bezeichneten Angehörigen des
niedrigen Adels und sonstige Gentlemen, das Bürgertum und die freiberuflich
Tätigen - wurde immer schärfer. Der Hof begann sich vom Lande zu isolieren,
während die politische Klasse sich immer eindeutiger als Sprecher des Landes
sah und zunehmend auch aus der Bevölkerung Anregung und Unterstützung
erhielt - immerhin besaßen ein Viertel bis zwei Fünftel der Männer das Wahl-
recht, und als Steuerzahler waren diese Leute natürlich an der staatlichen Fi-
Erste Phase der Stuart-Herrschaft 61
nanzlage interessiert. Besonders im dritten Parlament Karls I., das von 1627 bis
1629 tagte, spitzte sich der Gegensatz zu und führte schließlich zum offenen
Bruch. Mit der Petition of Right - ganz bewußt wurde der Singular gewählt, um
zu dokumentieren, daß es nicht um einzelne Rechte, sondern um das Recht
schlechthin ging ¬, monierten die Commons 1628 die Finanzpolitik der Krone,
die Verhaftung oder sonstige Belästigung von Steuerverweigerern, die Einquar-
tierung von Soldaten in Südengland und die Anwendung des Kriegsrechts. All
dies erachteten sie, da nicht durch Parlamentsbeschlüsse gedeckt, als rechtswid-
rig. Den Verzicht auf diese Praktiken erbaten sie »als unsere Rechte und Frei-
heiten in Übereinstimmung mit dem Recht und den Gesetzen des Königrei-
ches.« Die Petition schloß mit dem Wunsch, »daß es Euerer Majestät ebenfalls
gnädigst gefallen wolle, für das fernere Wtıhlbefinden und die Sicherheit Eures
Volkes es als Euren königlichen Willen zu erklären, daß in den vorgenannten
Dingen alle Eure Beamte und Diener Euch in Übereinstimmung mit dem Recht
und den Gesetzen dieses Königreiches dienen sollen, wenn sie die Ehre Eurer
Majestät und das Glück dieses Königreiches achten.« Die von Coke verfaßte
Petition pochte also auf die Suprematie des Rechts. Coke war es auch, der die
Lords dazu bewegte, auf die Forderung nach Anerkennung der souveränen Ge-
walt des Königs zu verzichten. Unter dem Druck beider Häuser sah Karl 1. sich
schließlich am 7. juni genötigt, die herkömmliche Zustimmungsformel auszu-
sprechen: »Es soll das Recht gehalten werden, wie gewünscht ist«7*.
Eine Änderung der Regierungspraxis trat nicht ein. Deshalb meldeten sich die
Commons im März 1629 erneut zu Wort, diesmal mit einer Protestation. Sie
wandten sich nicht mehr, wie noch ıııit der Petition, an den Monarchen, son-
dern an das ganze Land und eröffneten damit eine neue politische Dimension.
Zuın Hochverräter wurde erklärt, wer religiöse Neuerungen cinführte und den
Papismus begünstigte und wer zur Erhebung von Tonnen- und Pfundgcldcrn
ohne parlamentarische Bewilligung riet oder die Hand reichte, zum Verräter,
wer eine solche ungesetzliche Zahlung freiwillig leistete. Dem König wurde da-
mit die Suprenıatie in Kirchcnangelegenheiten bestritten, und es wurde zur
Steuerverweigerung aufgerufen. Allerdings handelte es sich nicht um einen
rechtlich einwandfrei zustande gekommenen Akt, da der Speaker gewaltsam
daran gehindert worden war, die Sitzung zu schließen, als die Protcstation zur
Sprache kommen sollte. Karl l. wies denn auch darauf hin, daß es sich um nichts
weiter als einen tumultuösen Vorgang handle, und kündigte an, daß er vorerst
Parlamente nicht mehr halten werde.
Die parlamentslose Ära dauerte elfjahre. In dieser Zeit schwelten die stritti-
gen Fragen weiter und verschärften sich dabei, so als 1635 das herkömmliche
Schiffsgeld, eine Ablösesumme für Kauffahrteischiffe für den Dispens vom et-
waigen Kriegseinsatz, in eine allgemeine Vermögenssteuer umgewandelt wur-
de. ln den 30er jahren wuchs auch die Bedeutung der Kirchenfrage; den größ-
ten Einfluß auf den König hatte dabei William Laud, seit 1625 Bischof von
ó2 lll. Der Weg mim Verli3ungsst_aat in Eıigland †_* _ A _
London, seit 1633 Erzbischof von Canterbury. Karl I. und Laud wollten die im
Act of uniformity von 1559 gesetzlich geforderte Einheit des Anglikanismus
im hoehkirehlich-episkopalen Geist wiederherstellen und deshalb das Gewicht
cler Laien auf eine bloß passive Rolle zurückführen. Das traf namentlich die
Puritaner, also die streng Religiösen, denen es auf Frömmigkeit und Besserung
von innen ankam, die deshalb der Predigt großen Wert beimaišen und mit den
hochkirchlichen liturgischen Formen nichts anfangen konnten. Von großen
Teilen der Öffentlichkeit wurde die Laudsche Politik dahin ausgelegt, daß eine
Rekatholisierung beabsichtigt sei. Der Kampf gegen die Puritaner - diese
zunächst polemisch gemeinte Bezeichnung kam um 1560 auf - wurde rück-
sichtslos mit vielfältigen repressiven Mitteln geführt. mit Zensur, Konfiskation,
Verhaftung, Ausweisung. Das führte zu viel Giirung, ein Teil der Spannung
entlud sich aber in einer umfangreichen Auswanderung von Puritanern nach
Nordamerika.
Mit den sogenannten Bischofskriegen und den durch sie veranlallten Parlamen-
ten begann eine ein halbes Jahrhundert andauernde Zeit stürmischcr Entwick-
lungen und vielfältiger Rechtsbrüche, eine wahrhaft revolutionäre Epoche. In
den Auseinandersetzungen ging es stets um die politische Grundordnung, um
die Machtvcrteilung zwischen Krone und Parlament. Insofern hatte dieser Zeit-
raum eine innere Einheit. Dementsprechend nannte Ranke ihn zusammenfas-
7 _ Das Crstebhrzehnt dcr Revolution 63
send die englische Revolution. Diese Revolution schien ihm in vier Abschnitte
zu zerfallen, nämlich die Rebellion der 40er jahre, die Zeit der Republik unter
Oliver Cromwell, die Restauration 1660 und die darüber ausbrechcnden Kämp-
fe und schließlich die endgültige Umwälzung der jahre 1688/89. Spätere Histo-
riker schlugen eine andere Einteilung vor. So betrachtete Lawrence Stone die
hundert jahre zwischen 1621 und 1721 als einheitliche Epoche und sah darin
vier größere Erscliütteruıigen und ein schweres Erdbeben. Die Krise der jahre
1627/29 bezeichnete er als erste Ersclıütterung, die beiden jahrzehnte von 1640
bis 1660 als das Erdbeben und als Englands einzige große Revolution, denn in
dieser Zeit stürzten alle wichtigen Gebäude des âlten Systems ein. Es folgten
drei leichtere Stöße, die lixclusion Crisis der jahre 1678 bis 1681, die Glorious
Revolution von 1688/89 und schließlich die hannoversche Erbfolgekrise 1712
bis 1715. Es ist unııötig, weitere (šliederuııgsvorsclıläge vorzustellen. Eindeutig
ist. daß man nicht den gesamten Zeitraum von 1639 bis 1689 als eine Revoluti-
on werten kann. Es ist von '/.wei Revolutionen zu sprechen, deren erste und
weitaus heftigere die 40er und 50er jahre füllte, während die zweite, 1688/89,
wesentlich gliınpflicher verlief. aber die entscheidenden \X/eichenstcllungen
brachte.
Das Parlaıneıit vom Novcınbcı' 1640 ging als das lange in die Geschichte ein,
da es bis zum Mlir'/, 1660 ','.us.ıınınenblieb, freilich mit Unterbrechuııgen und cr-
heblichen personellen Veríinderungen. Es machte sich sofort entschieden daran,
das .ıutokratisclıe Regiment des Königs zu beseitigen. Das erste Angriffsziel da-
bei war Earl of Strafford, der neben Laud seit langem der wichtigste Ratgeber
des Monarchen war. Schon eine \l(*'oclıe nach der Parlamentseröffnung erhoben
die Commons gegen ihn Anklage wegen llochverrats, weil er für den Krieg und
fiir die Untergrabung der Verfassung eingetreten sei. Ein Schuldspruch durch
das Uberhaus schien fraglich, da verurteilte ihn das Unterhaus durch ein aufšer-
ordentliches Parlanıentsgcsctz - Bill of .ıttainder - zum Tode, und Lords und
Kiiııig traten unter dem Druck der Öffc'tıtlichkcit bei. Die Hiıırichtutig erfolg-
te am 10. Mai 1641. Diesen rechtswidrigen Vorgang kann man als Ausbruch der
Revolution ansehen.
Das Parlament erlielš nun in rasclıer Folge eine Reihe wichtiger Reformgesct-
ze. Es heseitigte etliche (lericlitslıöfe, hand die Wein- und Wollstcuer an seine
Bewilligung und ergriff atıch sonst etliche Maßnahmen. die die bisherigen Fi-
ıianzierungspraktiken der Krone fiir illegal erkllirtcn oder sehr erschwerten. Es
wies sich .sclhst Periotlizitlit zu - alle drei jahre sollte ein Parlanıent stattfinden,
notfalls auch olıne königliche Berufung - und machte jede längere Vertagung
von seiner Zustimmung abhaııgig. Karl l. sah sich genötigt. all das anzuerken-
nen. Die Ctııiiiiıtiııs hatten also grolie Erfolge 7.u verzeichnen. Der Führer der
Unterhausmehrheit, john Pym, suchte nun einen Ausgleich mit dem Monar-
chen, wobei Vertrauensleute der Opposition in die Regierung aufzunehmen gc-
wesen waren. Eine lfinigung dariiber kam aber nicht Zustande.
6%. ,lu-f_>f=fW°sjf-*fm Vsff=sWfls§&seif1_E2s1aLd_ _.. _ ._
Im Gegenteil verschärfte sich die Lage im Winter 1641/42 sehr, als es in Irland
zu einem Aufstand kam, der unter den Protestanten erhebliche Opfer forderte.
Daß dort eingegriffen werden müsse, war klar, aber durfte man dem König dazu
ein Heer geben? Der Versuch Karls, Pym verhaften zu lassen, schlug fehl. Der Kö-
nig verließ nun London, sammelte in York und später in Oxford die gemäßigten
Abgeordneten als wahres Parlament um sich und begann, gegen das rebellische
Parlament in Westminster zu rüsten, während das Parlament selbst Truppen auf-
stellte. Es vertrat die Ansicht, daß der königliche Wille durch das Parlament in
höherer und verpflichtenderer Weise zum Ausdruck komme als durch einen per-
sönlichen monarchischen Akt, hielt also noch an der Vorstellung des King-in-Pan
liament fest. Dabei sucht es freilich mit den Nineteen Propositions vom 1. ju-
li 1642 die Gewichte erheblich zu seiııen Gunsten zu verschieben; der Sache nach
lief diese Politik auf ein parlamentarisches Regierungssystem hinaus.
Das Land war gespalten, aber London und die meisten Küstenstädte traten
auf die Seite des Parlaments in Westminster und gaben ihm damit eine wichtige
Stütze. Militärisch hatten die Commons zunachst die schlechteren Karten, und
auch politisch schien der König die Vorhand zu gewinnen. je entschiedener die
Revolution wurde - in London gab es etliche Massenbewegungen mit vor-
nehmlich religiösen Zielsetzungen -, desto mehr wandten sich die Gemälšigten
ihm zu. Die Wende bahntc sich 1644 an, als Cromwell, langjähriges Parla-
mentsmitglied und entschiedener Puritaner, jetzt Reiterführer, zwei wichtige
Siege erzielte. Auf die Neuordnung des Heeres hatte er großen Einfluß, und mit
der reorganisierten Armee entschied er iın juni 1645 den Feldzug. lm April des
folgenden jahres, kurz vor dem Ende des Krieges, floh Karl l. nach Schottland,
wurde von dort aber 1647 an das Parlament ausgeliefert.
Kurz danach brachte die Armee den wertvollen Gefangenen in ihre eigene
Verfügungsgewalt und besetzte London. Damit war sie der dominierende Fak-
tor im Lande. Sie war viel radikaler gestimmt als das Parlament, in ihr hatten
Anhänger der kirchlichen Linken, die sogenannten Independentisten, großes
Gewicht, und es wurde eine intensive verfassungspolitische Debatte geführt, bei
der namentlich die Gruppe der Levcllers untcrjohn Lilburne entschiedene For-
derungen gegen König, Aristokratie, Landadel und das Parlament anmeldete.
Karl l. konnte zwar im November auf die Insel Wight fliehen, wurde dort ic-
docb vom Gouverneur erneut festgesetzt. Das jahr 1648 war gekennzeichnet
durch royalistische Aufstiinde in England, eine Erhebung in Wales und Kämp-
fe mit den Schotten, die das Heer bis nach Schottland führten. Verhandlungen
zwischen dem König, der sich jetzt zu Konzessionen bereit zeigte, hatten kein
Resultat. Anfang Dezember bemächtigte sich die Armee erneut des Monarchen,
schloß die presbyterianischen Abgeordneten aus dem Unterhaus aus, wodurch
dieses zum Rumpfparlament wurde, und erhob im januar 1649 Anklage gegen
Karl I. wegen Hochverrats; er wurde zum Tode verurteilt und wenige Tage spa-
ter, am 30. januar, hingerichtet.
England als Republik 65
Am 17. Marz wurde unter Hinweis auf die Hinrichtung Karls I. gesetzlich ver-
fügt, daß hinfort das Amt eines Königs in der Nation nicht mehr bestehen solle,
zwei Tage später wurde auch das Oberbaus förmlich beseitigt. Den Abschluß
der Entwicklung brachte das Gesetz vom 19. Mai, »wodurch das Volk von Eng-
land sich als Republik und Freistaat er1t1ärt«. England sollte hinfort »durch die
höchste Autorität der Nation, nämlich durch die Vertreter des Volkes im Parla-
ment, regiert werden, sowie dureh diejenigen, die diese zum Besten des Volkes
als ihnen unterstellte Beamte und Minister ernennen und zwar ohne König und
Unterhaus«75. Das Parlament berief sich also auf die Volkssouveränität. Die Re-
gierung sollte ein jährlich zu wählender Staatsrat wahrnehmen, unter dessen 41
Mitgliedern Angehörige des Londoner Großbürgertums schnell erheblichen
Einfluß erlangten. Das wichtigste Mitglied war Cromwell. Der Prinz von Wales
war inzwischen in Irland als Karl 11. zum König proklamiert und auch in Schott-
land anerkannt. Es bedurfte mehr als zweijähriger Kämpfe, ehe Cromwell den
Krieg im September 1651 definitiv für die Republik entscheiden konnte. Karl 11.
ging nach Frankreich. Wenig splileı' k.ıııı es zum Krieg mit den Niederlanden, er
erbrachte zwar in den beiden folgenden jahren Siege zur See, aber keinen end-
gültigen Erfolg über den Gegner. Das schwächte die Position von Parlament und
Staatsrat, und als das Parlament auch noch eine Verkleinerung der Armee an-
strebte und sich Cromwells Forderung nach Neuwahlen widersetzte, lielš er es
im April 1653 militärisch atıseinaııtlcrtrcibcn und löste den Staatsrat auf.
England war jetzt eindeutig eine Militåirdiktatur. Die neue staatliche Organi-
sation vereinbartc Cromwell mit einem ()ffizicrSrat im Dezember 1649. Durch
dieses lnstrument of Government erhielt Cromwell die oberste Zivilgewalt in
der monarchenlihnlichcn Stellung eines Lordprotcktor auf Lebenszeit. ln seinen
Entscheidungen wurde er gebunden an die Zustimmung eines etwa zwanzig
Personen umfassenden Staatsıılts, der vornehmlich aus Militärs bestand. Es
wurde bestimmt, dalš Geselle nicht ohne Zustinınıuııg des Parlaments geändert,
suspendiert, aufgehoben, widerrufeıı werden durften, ebenso wurden neue Ge-
setze, Steuern und Abgaben .ın die Iíiııwíiiigung des Parlaments gebunden.
Cromwell lielš die Wahlen um einige Monate verzögern und nutzte diese Zeit
zur Rechtset'/.ung auf dem Vcrordnuııgswege.
Mit dem P.ırl.ıment hatte Cromwell große Schwierigkeiten, da es wiederum die
Macht der Armee ztırück'/.udriingen suchte. So löste er es Anfang 1655 auf, muß-
te sich aber andertlialb jahre spater zur Bemfung eines neuen entschlielšen, als er
Geld fiir den inzwischen mit Spanien ausgebrochenen Krieg benötigte, in dem es
namentlich um koloniale Positionen in Westindien ging. Auch dies Parlament von
1656 war nicht einfach gefügig und mußte deshalb eine kräftige personelle Säube-
rung über sich ergehen lassen. Nach einem Attentat auf Cromwell kam im januar
66 _ lll.7Der%g zum Yerfasftıngsstaamlšngland T A A
1657 die ldee auf, der Lord-Protektor möge die Regierung nach der alten Verfas-
sung übernehmen; hierin schien den Vertretern dieses Gedankcns die beste Ge-
währ für die innere Ruhe zu liegen. ln den Debatten darüber in den folgenden
acht Wochen ging es um eine genaue Abwägung des Verhältnisses von Staatsober-
haupt und Parlament. um die Wiederherstellung des alten Wahlrechts, um die
Schaffung einer Art von Oberhaus, dessen Mitglieder Cromwell berufen sollte,
und um verschiedene Maßnahmen zur Wiederherstellung des inneren Friedens.
Ende März faßte das Haus mit deutlicher Mehrheit den Beschluß, den Lord-Pr0-
tektor zu ersuchen, er möge die Würde eines Königs von England, Schottland und
Irland annehmen. Dazu konnte er sich jedoch nicht entschließen. Nach längerer
Bedenkzcit lehnte er das Angebot Anfang Mai endgültig ab. Die übrigen Reform-
vorschläge wurden in Geltung gesetzt, die Macht der Armee damit verringert.
Nach Cromwells Tod im September 1658 konnte der Sohn und Nachfolger sich
nicht in der Macht behaupten. Schon im Mai 1659 legte er auf Druck der Armee
seine Würde nieder. Das war nichts weniger als ein Staatsstreich, bei dem die Ge-
neräle Fleetwood und Lambert die Führung hatten. Das Rumpfparlament wurde
einberufen, bald aber wieder nach Hause geschickt, da es die Suprematie über die
Armee beanspruchte. Lambert und Fleetwood ergriffen im Oktober gänzliclı die
Macht. Dagegen wandte sich der in Schottland kommandicrende General Monk.
ein gemälšigter Puritaner. Lambert suchte ihm cntgegenzutretcn, aber seine Trup›
pen fielen zu einem erheblichen Teil von ihm ab. Monk erreichte im Februar 1660
London. Vielfach war er auf seinem Wege nach Süden mit Begeisterung begrüßt
worden. Auf seine Anordnung nahm das Rumpfparlamcnt alle noch lebenden
früheren Mitglieder wieder auf uııd stellte damit das Lange Parlament wieder her.
Dieses schrieb Wahlen zu einer Konvention aus und löste sich danach im Marz
1660 auf. Der Wahlkampf wurde wesentlich über die Rückkehr Karls II. ausge-
fochten. Eine Delegation hatte inzwischen Verhandlungen mit dem Thronpräten-
denten aufgenommen und eine lirltlärung - die Deklaration von Breda vom 4.
April - erwirkt, demzufolge Amnestie für alle Vorgänge seit 1640 gewährt werden,
Gcwisscnsfreiheit gelten und ein neues Parlament gewählt werden sollte. Das am
25. April 7.usammcntrctcnde Convention Parliament hatte eine deutliche royalisti-
sche Mehrheit. lis beschloß sogleich die Wiederherstellung der Macht der Monar-
chie. Als Karl ll. im Mai in England landete, wurde er triumphal empfangen.
ten dämpfen, den König jedoch nicht hatten stürzen wollen und die selber im
Laufe der Entwicklung für geraunıe Zeit von radikaler Gesinnten an den Rand
gedrängt worden waren. Die Situation war jetzt aber ganz anders als damals.
Der König war nicht aus eigener Macht aus England zurückgekehrt, sondern
auf Beschluß der Konvention. Die Stellung des Parlaments war deshalb erheb-
lich stärker als zwanzig jahre zuvor, und demzufolge wurden auch die Refor-
men von 1641 nicht rückgängig gemacht, vielmehr wurden sie in gewisser Wei-
se noch weitergeftihrt. Namentlich bei Finanzfragen wurde die Rolle des
Parlaments unterstrichen. Strafford wurde rehabilitiert, die 1641 ausgeschlosse-
nen Bischöfe wurden wieder in das Oberhaus aufgenommen.
Die Konvention tagte bis zum Herbst. Im Frühjahr 1661 fanden Neuwahlen
nach dem alten Wahlrecht statt. Sie erbrachten eine konservative Mehrheit und
zeigten damit, wie ausgeprägt der Wunsch nach Ruhe war. Dieses sogenannte Ka-
valiersparlament blieb 18 ]ahre bestehen und wurde nur durch Neuwahlen er-
gänzt; es war dem König durchaus nicht bequem. Die Gesetzgebung hatte vor al-
lem mit Kirchensachen zu tun, wobei der Anglikanismus gestärkt, der
Puritanismus geschwäclıt wurde. Wichtig war das Corporation Act von 1661, das
alleıı städtischen Amtstragern den Abendmahlbesuch in der Church of England
zur Pflicht machte. Es folgen noch wcilcre Maßnahmen gegen die Nonkonformi-
sten. Die Uniformitätsakte vom Mai 1662 wies die Geistlichen an, dem Presbyte-
rianismus abzusagen; dazu waren etwa 10% der Pfarrer nicht bereit. Die streng
staatskirclıliche Politik des Parlaments unterlief cler König 1672 mit der Declara-
tion of Indulgance, mit der er Dissenter und Katholiken von den Strafen dispen-
sierte, die sie an sich mit der Nichtteilnahme am anglikanischen Gottesdienst ver-
wirkt hatten. Das trug ihm leblıaften Widerspruch ein. So konnte er diesen Kurs
nicht durchhalten, sondern mußte dem Parlament 1673 die Testakte zugestehen,
derzufolge jeder zivile und militärische Amtsträger das Abendmahl nach anglika-
nischen Ritus nehmen und vor einem öffentlichen Gericht einen kirchlichen Su-
preınatseid leisten mußte; fiinf _|ahre später, 1678, wurde dies Gesetz noch ver-
schärft, fortan durften katholische Lords nicht mehr im Oberhaus sitzen.
Karl ll. hatte ausgeprägt katholische Neigungen und dachte zeitweilig über ei-
ne Rekatholisierung F.nglands mit Hilfe des französischen Königs nach. Sein
Bruder und Thronfolger. Jakob, ller'/.og von York - der König hatte keine legi-
timen Kinder -, trat 1671 zum Katlıoli'/.ismus über und nahm wenig später in
zweiter lilıe eine Katlıolikin zur Frau. So wuchs in der Öffentlichkeit allmählich
eine ausgeprägt antikatholischc Stimmung heran, und es begann eine Debatte
darüber, ob nicht Jakob von der Throııfolge auszuschließen sei - dann wäre die
Krone seiner Tochter Maria aus der ersten Ehe zugefallen, die seit 1677 mit Wil-
helm von Uranien verheiratet war. Die Besorgnis steigerte sich zur Hysterie, als
ein ehemaliger jesuitenzogling und nunmehrigcr anglikanischer Kaplan, Oates,
eine katholische Verschwörung behauptete, die freilich nur in seinem Kopf exi-
stierte. Man glaubte ihm freilich um so lieber, als einer der von ihm genannten
6S Ill. Lleršxfcg zum_`§/earrfassungsstaíirı England
Als Karl II. im Februar 1685 starb, kam es hier und da zu Revolten. In diesem
Zusammenhang wurde der whiggistische Thronprätendent, Jakob von Mon-
i g _ _ Die Glorious Revolution 69
mouth, ein illegitimer Sohn des Königs, hingerichtet. lnsgsamt verlief der Herr-
schaftswechsel ohne Schwierigkeiten. Bei den Wahlen fand der neue Monarch
jakob ll. eine ihm genehme Mehrheit von Tories. Seine betont katholiken-
freundliche Politik - entgegen der Testakte berief er zahlreiche katholische Of-
fiziere und zivile Amtsträger -, seine Bemühungen, die anglikanisehe Kirche ei-
ner straffen Kontrolle zu unterstellen, und die von ihm vorgenommenen
Heeresvermehrungen trugen ihm aber eine wachsende Opposition ein. Dagegen
suchte er seine Basis in der Bevölkerung zu verbreitern. Im April 1687 erließ er
eine Declaration of Indulgance, die alle religiösen Diskriminierungen beseitigte.
Dabei zielte er auf die Nonkonformisten. Einige Monate später löste er das Par-
lament auf und betrieb mit der Toleranzfrage einen intensiven Wahlkampf. Er
verlangte, daß eine zweite Indulgenz~Erklärung, die inhaltlich mit der ersten
übereinstiınmte, in allen Kirchen von den Kanzeln verlesen würde. Dagegen
machte der Klerus Front. Sieben Bischöfe wurden wegen ihres Widerstands vor
Gericht gestellt, allerdings freigesprochen.
Den letzten Ausschlag für die Bildung einer parteiübergreifenden Opposition
gab vermutlich, daß deın Königspaar am 10. juni 1688 ein Sohn geboren wurde.
Damit wurde die Erwartung hinfällig, daß die protestantische Maria dereinst die
llerrschaft antreten werde. jetzt taten sich einige Whig- und Toryführer zu-
sammen und luden Wilhelm von Oranien zum Eingreifen ein - der Holländer
hatte diskret wissen lassen, daß er einer solchen Anregung wohl entsprechen
werde.
Sein wesentliches Motiv dafür ergab sich aus der gesamteuropäischen Lage.
Seit rund zwanzig jahren galt es, den Expansionsbestrebungen des ludovikani-
schen Frankreich zu widerstehen. 1667 und 1668 war der Devolutionskrieg ge-
führt worden, 1672 bis 1679 der Holliindische Krieg, und soeben war der Pfäl-
zische Krieg ausgebrochen. Da war es gut. England nicht im gegnerischen,
sondern im eigenen Lager zu haben, und das ließ sich am sichersten durch An-
nahınc dcs aus London gekommenen Angebots erreichen. Das Unternehmen
war freilich riskant, denn Jakob ll. verfügte über eine zahlenmäßig starke Ar-
mee. Oranien minderte die Gefahr, indem er seine Invasion erst spät durch-
führte, .ıls niemand auf der gegnerischen Seite mehr damit rechnete. Anfang
November landete er mit 15 O00 Mann in Cornwall. jakob ll. wagte eine offe-
ne Konfrontation nicht. Die Zuverliissigkeit seiner Truppen schätzte er nicht
hoch ein. Sie fielen in der Tat in großer Zahl von ihm ab. So begann er Ver-
handlungen, entschloß sich aber bald. nach Frankreich ins Exil zu gehen.
Ende Dezember war Wilhelm von Oranien in London. Da ein Parlament
nicht bestand, berief er eine Notabeln-Versammlung ein und schrieb auf ihren
Rat die Wahl eines Konventionsparlaments aus - weiter konnte er nicht gehen,
da cr noch kein König war. Dieser Konvcnt erklärte sich in einem souveränen
Akt zum regulären Parlament und nahm die Wiederherstellung geordneter Ver-
fassungszustände in die Hand.
70 III. Der Weg zum Verfassungsstaat in England
Am 28. januar 1689 wurde in einer Resolution das Ende der Herrschaft Ja-
kobs II. förmlich festgestellt. Der bisherige König habe den Vertrag zwischen
ihm und dem Volk gebrochen und durch seine Verletzung der Fundamental
Laws sowie seine Flucht der Krone entsagt, damit sei der Thron vakant. Für die
Nachfolge verständigte man sich dahin, daß Wilhelm und Maria, Prinz und
Prinzessin von Oranien, gemeinsam die Souveränität des Landes innehaben
sollten. Ehe beide die Krone erlangten, mußten sie am 13. Febnıar die Bill of
Rights annehmen.
In diesem Gesetz zur Erklärung der Rechte und Freiheiten der Untertanen und
zur Festlegung der Thronfolge wurden zunächst die Vorwürfe zusaınmenge-
stellt, die man dem »ehemaligen König Jakob II.« ınachte. Fir habe mit Hilfe
schlechter Ratgeber, Richter und Diener versucht, »die protestantische Religion
untl die Gesetze und Freiheiten dieses Königreiches zu untergraben und auszu-
rotten.« Das wurde mit zahlreichen Einzelaussagen konkretisiert, sodann wur-
de festgestellt: ››All das steht im äußersten und direkten Widerspruch zu den be-
kannten Gesetzen und Statuten und der Freiheit dieses Reiches« Nochmals
wurde die numnehrige Vakanz des Thrones betont, danach der historische Ab-
lauf seit der F.inladung des Oraniers skizziert. Infolgedessen, so hielš es weiter,
haben sich die geistlichen und weltlichen Lords und die Gemeinden »in voll-
zähliger und freier Vertretung der Nation versammclt.« Sie erklärten das Fol-
gende: Es sei ungesetzlich, kraft königlicher Autorität und ohne Zustimmung
des Parlaments Gesetze vorübergehend außer Kraft zu setzen oder ihre Befol-
gung zu verhindern, und es sei ungesetzlich, aulšerordentliehe Gerichtshöfe zu
errichten und Gelder zum Nutzen der Krone ohne Erlaubnis des Parlaments zu
erheben. Ausdnåcklieh wurde bestätigt, daß alle Untertanen dem König Petitio-
nen einreichen durften und dalš es gesetzwidrig sei, sie deshalb zu verfolgen.
Das Parlament bezeichnete es als unrechtmälšig, ohne seine Zustimmung in
Friedenszeiten ein stehendes Heer zu unterhalten. Alle Untertanen protestanti-
schen Glaubens durften ihrer Stellung gemäß und entsprechend den Gesetzen
\X/affen zu ihrer Verteidigung führen.
Die Wahl der Parlamentsmitsglieder sollte frei sein, die Freiheit der Rede und
der Inhalt der Verhandlungen im Parlament durften an keinem Ort außerhalb
des Hauses unter Anklage oder in Frage gestellt werden. Übermlißig hohe
Bürgschaften oder Geldstrafen oder grausame und ungewöhnliche Strafen durf-
ten nicht mehr gefordert oder verhängt werden. Die Gesehworenen mußten in
g W* __ññ____ WW Äfl _ Dig Bill of Right_s__ 7_1
Fragt man nach den sozialen Kräften, die die verfassungspolitische Entwicklung
in England im 17. Jahrhundert vorantrieben, so fällt auf, daß die industriell und
gewerblich fortgeschrittenen Gebiete des Südens und Ostens stärker puritanisch
72 _ III. Der Weg zum Verfassungsstaat in England V
gesinnt waren als der Rest des Landes und auf der Seite des Parlaments standen
und daß das Londoner Bürgertum zeitweilig eine sehr bedeutende Rolle spielte.
Es wäre aber verfehlt, die beiden Revolutionen von 1640 bis 1660 und von
1688/89 als primär bürgerliche Ereignisse zu sehen. Führend in der Bewegung
war die Gentry, also dieses eigentümliche Gebilde aus Landadel und anderen
Gentlemen, das mit dem Bürgertum in enger Verbindung stand. Die Initiative
lag häufig bei begüterten Kreisen, bei Persönlichkeiten, die sich bewußt vom
Hof fernhielten und gerade wegen dieser Distanz vom Hof in der Lage waren,
die von der I-Iocharistokratie aufgegebene Rolle eines Gegengewichts gegen die
Krone auszufüllen. In diesen Kreisen hatten verfassungspolitische Erwägungen
großes Gewicht, aber die Entwicklung war keineswegs nur von hier aus be-
stimmt. Die Bedeutung religiöser Motive darf nicht unterschätzt werden, sie
war in der letzten Phase dieses halben Jahrhunderts merklich größer als zu Be-
ginn. Daneben spielten auch materielle Motive eine Rolle, namentlich in den
40er Jahren und im Parlamentsheer, darüber hinaus aber auch in breiteren städ-
tischen Krcisen. Im Gesamtverlauf waren das aber Untertöne, die entscheiden-
den Träger der Bewegung waren Angehörige der Elite. Um 1660 gab es eine ge-
wisse konservative Wende. Die radikalen Kräfte hatten sich erschöpft, zugleich
näherten sich Teile der Hocharistokratie in ihrer Gesamthaltung der Gentry an.
Das schuf den Boden für die restaurierte Monarchie. Die Glorious Revolution -
glorreich deshalb, weil sie kein Blut kostete - schließlich war eine vornehmlich
von Katholikenfurcht bestimmte gemeinsame Aktion von Whigs und gemäßig-
ten Tories.
Die bewegte Geschichte der fünf Jahrzehnte zwischen 1640 und 1689 wurde na-
turgemäß von einer äußerst lebhaften literarischen Diskussion über die Grund-
fragen der Politik begleitet. Dabei wurden die vielfältigsten Positionen einge-
nommen. So erklärte Henry Parker 1642, daß die Souveränität dem Parlament
allein zustehe, und zwar auch über das Recht. Volk und Parlament seien iden-
tisch, ein neuer Rekurs auf das Parlament sei nicht erforderlich. Hinsichtlich der
Gewaltausübung sprach Parker sich für eine gewaltenteilige Staatsorgansisation
aus. Ebenfalls für einen gewaltenteiligen Staatsaufbau votierte John Sadler in
seinen ›Rights of the Kingdom« von 1649. Bedeutsam wurde sodann George
Lawson mit seiner ›Politica Sacra et Civilis< von 1660 und einer Gegenschrift zu
Hobbes' Leviathan von 1657. Lawson trat für eine parlamentarisch kontrollier-
te Monarchie ein. Er bezeichnete die community, die Gesamtheit der Bürger, als
* g _, _U N _l)3litische Theorie ingder Revolutionszeit 73
Inhaber der majestas realis, sah diese Grundgewalt aber als ruhend an, nachdem
die community Regeln für die Ausübung der majestas personalis durch eigens
dazu geschaffene Organe aufgestellt hatte; nur im Widerstandsfall konnte sie re-
aktiviert werden. Die majestas personalis stand dem König, den Lords und den
Commons gemeinsam zu. Lawson schied ihre Rechte und Aktivitäten in die
Regelung der Außenbeziehungen, dies eine Sache des Königs, und in die der in-
neren Verhältnisse, wobei er legislative, exekutive und judikative Funktionen
trennte. Bei der Gesetzgebung hatte sich die Gemeinsamkeit der drei in der ma-
jestas personalis zusammengefaßten Faktoren besonders zu bewähren. Da sie
neues Recht setzen durfte, stand die majestas personalis über dem positiven
Recht, aber natürlich war sie an göttliches und natürliches Recht gebunden.
Von den republikanischen Autoren sei zunächst John Milton genannt, der
sich zwischen 1649 und 1660 wiederholt sehr deutlich politisch äußerte. Schon
seine erste Schrift enthielt eine entschiedene Verteidigung des Rechts zur Revo-
lution. In seinem ›First Defense of the People of England< von 1651 führte er
das weiter aus und legte dar, daß ein Commonwealth, wie es jetzt aufgerichtet
war, der Monarchie überlegen sei, da königliche Gewalt notwendig zur Tyran-
nei entarten müsse. Sehr wichtig war ihm, daß die Tugendsamen die Herrschaft
erlangten. Nur die tugcndsame Minderheit, die er in Cromwell und seinem
Umkreis gegeben sah, hatte seines Erachtens das Recht zur Revolution. Auf
dieser Linie lag auch seine letzte politische Schrift. Er schlug die lebenslange
Herrschaft eines Senates der Befähigsten vor und meinte, daß diese Leute nur
aus der Oberklasse kommen könnten. Jedes County sollte ein kleines Com-
monwealth sein, in dem die Gentry die Verwaltung führte und die Zivilge-
richtsbarkeit wahrnahm.
Der bedeutendste republikanische Schriftsteller war James I-Iarrington, und
seine wichtigsten Schriften waren der Staatsroman ›Oceana< aus dem jahre 1656
- gemeint war natürlich England - und ›The Art of Law-giving« von 1659. Als
entscheidenden Faktor der Politik sah er die Verteilung des Eigentums und na-
mentlich die des Grundbesitzes an, denn davon hing seines Erachtens die Ge-
wichtung der politischen Macht ab. Gab es nur einen einzigen Landlord oder
einen Mann von übermäßig großem Besitz, so war die absolute Monarchie die
Folge, hatte nur eine Minderheit Land, ergab sich eine aristokratisch modifi-
zierte Monarchie. Zu einem Commonwealth mußte es kommen, wenn Landbe-
sitz breit im Volk gestreut war. Harrington lehrte also, daß Bodenverteilung
und Herrschaftssystem zueinander passen müßten, wenn in einem Land ruhige
Verhältnisse bestehen sollten. Den englischen Bürgerkrieg erklärte er geradezu
daraus, daß die monarchische Form nicht mehr zur ökonomischen Situation
paßte. Dabei sah er den Beginn dieser Diskrepanz schon in der frühen Tudor-
Zeit. Die 1649 aufgerichtete Republik hielt er für das natürliche Resultat der im
15. Jahrhundert eingeleiteten Entwicklung, für eine historische Notwendigkeit.
Er war überzeugt davon, daß diese Staatsform die Geltung des Rechts am si-
7_4M III. Der Weg zum Verfassungsstaat in England f
]oHN Locke
Nachhaltigere Wirkungen als die bisher genannten Autoren erzielte john Locke
mit seinen 1690 publizierten -Two treatises of Civil Government<, freilich erst
im 18. Jahrhundert. In den ersten jahren nach dem Erscheinen wurden die bei-
den Studien wenig beachtet, während sich die postum gedruckten ›Discourses
concerning Government- Algernon Sidneys (1698) mit ihrer Besorgnis wegen
der korrumpierendcn Wirkung der Macht und dem Bemühen um eine sinnvol-
le Organisation des Staates in den damaligen Whig-Kreisen hoher Wertschät-
zung erfreuten. Locke, 1632 geboren und dem Kaufmanns- und Juristenmilieu
entstammend, studierte Medizin, Philosophie und klassische Literatur und wur-
de durch Shaftesbury gefördert, in dessen Haushalt er seit 1667 lebte und mit
dem er eng zusammenarbeitete.
Seine beiden Abhandlungen über dic bürgerliche Regierung entstanden auf
Anregung Shaftesburys 1679 in der Anfangsphase der Exelusion Crisis. Sie wa-
ren gcrichtet gegen die spätestens 1642 vcrfaßte, damals noch ungedruckte,
aber in Abschriften kursierende und viel gelesene Schrift des 1653 verstorbe-
nen Sir Robert Filmer ›Patriarcha: or The Natural Power of Kings<. Filmer
hielt die Ansicht für Unsinn, daß die Menschen durch Vertrag aus dem Natur-
zustand hcrausgetreten seien. Politische Gewalt sei nichts weiter als die väter-
liche Gewalt über die Familie. Alles Königtum sei von Gott, und die Könige
seien die Vater ihrer Völker, mochten sie ihre Gewalt nun ererbt oder usurpiert
haben.
__ ___ ___ ___, ___ _ __ J0hf1L°_Cl<@ _ 75
In der ersten seiner beiden Abhandlungen, die nur teilweise erhalten ist, setz-
te sich Locke mit den falschen Prinzipien Filmers auseinander. Die zweite Ab-
handlung war eine Untersuchung über den Ursprung, die Ausdehnung und den
Zweck der bürgerlichen Regierung. Der Autor ging davon aus, daß politische
Gewalt das Recht sei, Gesetze über die Handhabung und Erhaltung des Eigen-
tums zu machen und deren Einhaltung selbst mit der Androhung der Todes-
strafe zu erzwingen, wie auch das Recht, den Staat gegen von außen kommen-
des Unrecht zu schützen, beides freilich nur zugunsten des Gemeinwohls.
Sodann legte er die Entstehung der politischen Gewalt dar. Er verwies auf den
Naturzustand völliger Gleichheit und Freiheit und betonte, daß gleichwohl kei-
ne Zügellosigkeit geherrscht habe, daß die Menschen vielmehr dem Naturgesetz
unterworfen gewesen seien. Dadurch seien sie nicht nur zur Selbsterhaltung,
sondern auch zur Arterhaltung verpflichtet gewesen, und deshalb habe die
Selbsterhaltung der Mitmenschen geachtet werden müssen.
Für Locke war der Naturzustand überhaupt recht weit entwickelt. Schon hier
wurde der Mensch zum Eigentümer, indem er sich durch Arbeit aus dem ur-
sprünglichen Gemeineigentum aneignete, was er zum Leben brauchte. Die Ar-
beit als Basis des individuellen Eigentums unterstrich Locke sehr kräftig, sie ha-
be neun Zehntel des Wertes aller Güter geschaffen. Sinnvollerwcise konnte der
Mensch sich freilich nur aneignen, was er nutzen konnte. Der Verderb setzte
dem Erwerb also früh eine Grenze. Um diese Grenze ausdehnen zu können,
wurde das Geld entwickelt. Mit dieser nicht-verderblichen und deshalb beliebig
vermehrbaren Sache konnte man im Bedarfsfall jedes notwendige Gut eintau-
schen. All das vollzog sich nach Locke schon im Naturzustand, und ebenso bil-
deten sich schon damals Koalitionen von Individuen zur gemeinsamen Wah-
rung ihrer Rechte.
Mit der Vermehrung des Eigentums wurde der Naturzustand freilich immer
gefährdeter. Es kam zu Kriegen, und so entschlossen sich die Menschen denn
zu einem festeren Zusammenschluß in einem Staat, um ihr Eigentum besser si-
chern zu können. Unter Eigentum - property - verstand Locke dreierlei, näm-
lich Leben, Freiheit und Vermögen, life, liberty, estate. Zugunsten des nun er-
richteten festeren Gemeinwesens verzichteten die Menschen auf die Freiheit,
von sich aus alles für die Selbsterhaltung Nötige zu tun.
Am Anfang dieses Gemeinwesens Staat stand ein einstimıniger Gesellschafts-
vertrag, nach diesem Gründungsvotum galt jedoch das Mehrheitsprinzip, da der
Staat sonst nicht handlungsfähig wäre - auf die Begründung dessen verwandte
Locke verhältnismäßig viel Raum. Er hielt es für uneinsichtig, daß die Men-
schen in ihrem Vertrag über die wechselseitige Garantie von Leben, Freiheit
und Vermögen nur einem einzelnen oder wenigen Individuen die gesamte
Macht gegeben haben sollten. Auf jeden Fall seien Methoden zu entwickeln, mit
denen Übergriffe der Regierenden verhindert werden konnten. Dies Problem
sah er am besten gelöst durch ein Gleichgewicht der Regierung, indem ihre ein-
76 _ III. Der Weg zum Ve/rfassungsstaat in England 7 ,_ _ WM på
zelnen Teile in verschiedene Hände gelegt würden. In einem gut geordneten po-
litischen System sei die Teilung von Legislative und Exekutive geboten. Von
letzterer, deren Aufgabe allein die Vollstreckung der Gesetze im Innern sei,
schied er klar die Föderative genannte auswärtige Gewalt, die wie die Exekuti-
ve in der Hand des Monarchen liegen sollte. Die begriffliche Trennung hielt er
für unumgänglich, da Außenpolitik nicht mit Gesetzen, sondern nach den im
Naturzustand herausgebildeten Regeln betrieben werde. Mit Exekutive und Fö-
derative, mit seiner Gestaltungsfreiheit im Rahmen der Gesetze und mit seinem
Anteil an der Gesetzgebung durch das Veto habe der Monarch eine beachtliche
Stellung, aber er dürfe sie nur für das Gemeinwohl einsetzen, auch sei er, wie
Locke deutlich unterstrich, stets der obersten Gewalt, der Legislative, unterge-
ordnet. Locke betonte zudem, daß die Legislative keine unbegrenzte Entschei-
dungsfreiheit habe. Ihr Handeln sei gebunden an die Zwecke des Menschen. So
könne Eigentum nur mit Zustimmung der Eigentümer angetastet und den Men-
schen ebensowenig das Recht auf Unversehrtheit ihrer Person genommen wer-
den.
Zur Rechtsprechung sagte er, daß sie durch unabhängige und aufrechte Rich-
ter auszuüben sei, die sich allein auf das Gesetz stürzten. ]ede Herrschaft gegen
das Recht nannte er Tyrannei, gegen die Widerstand erlaubt sei. Und über-
schreite die Legislative, die höchste Gewalt im Staate, die ihr gesetzten Gren-
zen, könne das Volk sie abberufen. \Y/ann das Widerstandsrecht zu greifen be-
gann, sagte er nicht. Hier helfe nur Gottvertrauen, wobei Gott der gerechten
Sache den Sieg verleihen werde.
Doch zwischen Idee und Wirklichkeit klaffen vielfach Diskrepanzen. Das war
auch in England so. Daß das Land mit der Bill of Rights zur konstitutionellen
Monarchie geworden war, mußte von dem neuen Monarchenpaar erst verinner-
licht werden, und das war ein längerer Prozeß. Wilhelıii III. war gewiß kein
überzeugter Anhänger des neuen Systems, und für die Engländer blieb er im-
mer ein Fremder, eine Position, die durch den frühen Tod von Königin Maria
Ende Dezember 1694 gewiß noch verstärkt wurde. Am liebsten hatte er
Holländer in seiner Umgebung, den Auseinandersetzungen von Whigs und To-
ries vermochte er nichts abzugewinnen, und der Hochkirche stand er mit Di-
stanı gegenüber. Da er von Angriffen nicht verschont blieb, dachte er gelegent-
lich daran, die Krone niederzulegeıı. Am intensivsten beschäftigte ihn die
Außenpolitik, mit gutem Grund, denn die Auseinandersetzungen mit Frank-
reich gingen ja weiter. Der Pf;il'z.isclıe Krieg endete erst im Herbst 1697, nicht
ganz vier jahre spater begann der Spanische Erbfolgekrieg, von deın Wilhelm
Ill. sich nicht fernhalten konnte; die englische Öffentlichkeit wurde für den
Krieg gewonnen, da Ludwig XIV, ııııverzüglich nach dem Tode Jakobs II. im
französischen Exil im September 1701 dessen 1688 geborenen Sohn als jakob
Ill. und damit als Thromınwiirteı' anerkannte.
'Wegen der kriegerischen Zeiten benötigte Wilhelrn III. fortlaufend viel
Geld. Das Unterhaus nutzte das geschickt aus. 1694 wurde die Erneuerung
des Triennial Act erreicht. und zwar iıı der neuen Form, daß ein Parlament
höchstem drei jahre dauern durfte. daß es aber auf jeden Fall alle drei jahre
zusammentreten mußte. Am Vorabeııd des Spanischen Erbfolgekriegs mußte
der König sich auch dazu bequeıneıı. das Act of Settlement anzunehmen ~ die
in der Bill of Rights getroffenen lirbfolgeregelungen waren mit Ausnahme der
Wilhelm selbst betreffenden in"ı_wisc|ıen hinfällig geworden. da Wilhelm und
Maria kinderlos geblieben und die Kinder von Prinzessin Anna gestorben wa-
ren. Nun wurde festgelegt, daß die Kurfürstin Sophie von Hannover, eine En-
kelin Jakobs I., und ihr Haus erbberechtigt sein sollten. Das Parlament ent-
78 111. Der Weg zum Verfassungssíaíin Eılglaiıd _ 7 _
schied also selbständig und gegen den widerstrebenden Monarchen über die
Thronfolge und unterstrich damit sehr eindringlich, welchen Rang es inzwi-
schen hatte.
Das Gesetz formulierte zudem die Bedingungen, die ein englischer Herrscher
erfüllen mußte, so seine Zugehörigkeit zur anglikanischen Kirche. Festgelegt
wurde, daß die Monarchie nicht in Kriege verwickelt werden durfte, die den
König persönlich betrafen, also der Sicherung von Gebieten dienten, die ihm
zwar gehörten, aber nicht mit der Krone Englands verbunden waren. Auch
wurden Maßregeln gegen die sogenannten placemen getroffen, gegen Abgeord-
nete, die von der Krone abhängig waren, mit deren Hilfe also der Parlaments-
wille manipuliert werden konnte. Zudem wurde neuerlich die Unabhängigkeit
der Gerichte festgestellt. Abschließend hieß es unter Hinweis auf die gesamte
bestehende Gesetzgebung, daß »alle Konige und Königinnen, die den Thron
dieses Reiches besteigen werden, die Regierung desselben nach eben diesen Ge-
setzen führen werden«”. In dem unter Königin Anna 1707 verabschiedeten Re-
gency Act - Wilhelm III. war 1702 gestorben - wurde verfügt, daß zur Siche-
rung der 1701 festgelegten Erbfolge Kronrat und Parlament beim Tode Annas
weiterbestehen sollten. Zur Wahrnehmung der Interessen des Thronfolgers
wurde ein Rat von sieben Richtern bestellt.
Seit dem letzten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts fanden Wahlen in sehr kur-
zen Abständen statt, wenngleich von Wahlen im vollen Sinne nur dort gespro-
chen werden kann, wo sich zwei Kandidaten gegenüberstanden. Das war längst
nicht in jedem Wahlkreis der Fall. Diese Zeit war in besonderem Maße durch
Parteikampfe geprägt. Whigs und Tories, die freilich beide noch keine feste Or-
ganisation hatten, waren klar gegeneinander abgegrenzt. Die Whigs standen
zum Hof, dachten in den Kategorien der Vertragstheorie und des gewaltentei-
leııden Staates und hatten enge Beziehungen zu Handels- und Finanzkreisen.
Religiös neigten sie zur Low Church. Die Tories hatten zum Teil noch Jakobi-
tische Sympathien, sie dachten sich den Staat obrigkeitlicher und patriarchali-
scher, standen der High Church nahe und waren dem landed interest eng ver-
bunden.
In der Exekutive verschob sich das Gewicht deutlich von Krone und Hof zu
Regierung und Verwaltung hin. Das System der Kabinettsregierung begann sich
herauszubilden. Umfang und Bedeutung der Zentralbehorden nahmen kräftig
zu. Das war wesentlich Folge der Kriegszeit. Die Flotte wuchs zur stärksten der
Welt heran, und die Armee umfaßte, für lingland höchst ungewöhnlich, zeit-
weilig deutlich mehr als 100 O00 Mann. Das bedingte eine leistungsfähige Ver-
waltung. Sowohl Wilhelm 111. wie Anna suchten über den Parteien zu stehen,
aber die Regierungen waren doch eher von den Whigs bestimmt. Nur in den
wenigen Jahren von 1710 bis 1714 waren die Tories. getragen von der weitver-
breiteten Kriegsmiidigkeit, die bestimmende Kraft.
_ _ llP°rs§§11¶f2¬ HM H3w~¬=r ,_ 7?
ÜBı±Rt;ANG ZUM HAUS HA1\t.\ıove1t
Diese Verwieklungen boten Krone und Regierung nun die günstige Gelegen-
heit, den 'l"or_\'-liinflulš entsclıietlen zurückzudríingen. Viele Tories verloren
ihre Ämter. Das kriiltigte die Stellung der \lC'l1igs weiter. Sie hielten sich fürlahr-
zehnte .in der Mıclit - Georg ll. sah .ib 1727 keinen Grund, an den Verhältnis-
sen etwas zu .itıtlern -, untl nutzten tlalıei alle Mögliclıkeiten der Pııtronage und
der \X-lalilbeeinflussung .ttıs. Die Unbequemliehkeiten und hohen Kosten des
80_ í III. Der Weg zum Verfassungëtaat iiı_Engluıí _ 7
Wählens suchten sie tunlichst zu reduzieren. Dem diente das 1716 verabschie-
dete Septennial Act, demzufolge nur noch alle sieben ]ahre Wahlen abgehalten
werden mußten. Die Weiterentwicklung des politischen Systems war für sie
kein Thema, ihre lange Regierungszeit war im Gegenteil durch deutliche Ten-
denzen der Oligarchisierung gekennzeichnet. Das Gewicht des Adels nahm
merklich zu und war bald größer als während des 17. Jahrhunderts.
Der Adel war zwar ökonomisch längst nicht mehr führend, da er allenfalls ein
Sechstel des Volkseinkommens erwirtschaftete, aber er hatte die entscheidende
Stellung im politischen Bereich. Er besetzte die meisten Positionen in der zen-
tralen Administration und in der lokalen Selbstverwaltung sowie ganz überwie-
gend die Offiziersstellen in Flotte und Heer, und er beherrschte die Legislative.
Das Oberhaus war weitgehend die Domäne des Hocbadels, hier hatte aber auch
die Krone durch ihre Berufungspolitik die Möglichkeit breiter Einllußnahme.
Mandate im Unterhaus waren wegen der hohen zensitären Schranken für die
Wählbarkeit ohnehin nur einem kleinen Kreis zugänglich, eben dem Adel und
Angehörigen der bürgerlichen Oberschicht. lm übrigen hatten Krone, Nobility
und Gentry auf die Vergabe eines großen Teils der bis 1801 558 Unterhausman-
date erheblichen Einfluß und konnten vielfach den oder die Abgeordneten ein-
fach nominieren. ln mehr als der Hälfte der Wahlkreise fand zu Beginn des 18.
Jahrhunderts ein Wahlkampf gar nicht statt, da diese Sitze nicht bestritten wur-
den.
Das aktive Wahlrecht war nicht sehr ausgedehnt. Kurz nach 1700 besaßen es
in England und Wales etwa 6% der Bevölkerung, und in der Folge ging der
Hundertsatz wegen der starken sozialen Veränderungen und demographischen
Verschiebungen noch weiter zurück. Es war eine zunehmende Urbanisierung
zu verzeichnen, uncl gerade die größeren städtischen Zentren waren im Unter-
haus unterrepräsentiert, weil es seit dem Mittelalter eine Veränderung der Wahl-
kreiseinteilung nicht mehr gegeben hatte. Das flache Land, counties und
boroughs, war eindeutig bevorzugt. Die Verzerrungen waren schließlich so
groß, daß etwa 20 O00 Wähler, also ein sehr kleiner Teil des Elektorats, über
rund die Hälfte der Mandate entschieden.
Nach Schaffung der Finalunion zwischen England und Irland zum 1.januar
1801 wurde das englische mit dem irischen Parlament verschmelzen. Dieser
Schritt erfolgte, weil die Regierung irischem Unabhängigkeitsstreben so besser
entgegentreten zu können meinte. Fortan umfaßte das Unterhaus 658 Abge-
› __ V [)as_Mach_tgefüge im 18. Jahrhundert 81
ordnete. Davon verfügte die Hocharistokratie über ein knappes Drittel. Etwa
die gleiche Zahl nahmen die unabhängigen country gentlemen ein, politisieren~
de Großgrundbesitzer, die ihr Mandat aus eigener Kraft erwarben. Bis zu 125
Parlamentarier verdankten ihren Sitz der Krone und waren ihr mithin ver-
pflichtet, die übrigen kamen aus den Städten. Die im 17. Jahrhundert aufge-
kommenen Parteibezeichnungen der Whigs und Tories waren nach wie vor im
Gebrauch, aber doch sehr verblaßt. Das Unterhaus war im 18. und im frühen
19. Jahrhundert ein vielfach fraktioniertes Parlament, in dem das Stimmverhal-
ten nicht leicht zu berechnen war und die Praxis des clo ut des große Bedeutung
hatte. Besonders umworben waren dabei die unabhängigen Landedelleute.
Die Machtverteilung im Lande kann man als ungefähre Balance zwisehen Kro-
ne, Nobility und Gentry bezeichnen. Die Könige aus dem Hause Hannover
waren wenig geneigt, sich in enge konstitutionelle Schranken einsperren zu las-
sen, sondern wollten so viel Macht wie möglich selbst ausüben. Ihr wichtigstes
lnstrumeııt dabei war das Recht zur Vergabe von Amtern. Sie beanspruchten,
eine überparteiliche Regierung zu führen. Vor allem Georg III., cler 1760 mit 22
jahren auf den Thron gelangte, suchte in diesem Sinne die Stellung der Krone
zu stärken; er war dabei von Bolingbrokes Bild eines Patriot King oberhalb al-
ler Faktionen beeinflußt. Er stellte sich gleich bei Antritt der Herrschaft als bri~
tischer Patriot dar, den die Stamnılande in Deutschland nur mehr am Rande in»
teressierteıı. (Das hinderte ihn freilich nieht, sich persönlich sehr intensiv an den
Versuch zu machen, das Bistum Osnabrück an das Welfenhaus zu bringen).
'/.wischen den späten (ıOer jahren und dem Ende des Krieges mit Amerika war
seine politische Stellung am stärksten.
In der Öffentlichen Meinung, die in England sehr lange eine gewichtigere Rol-
le spielte als auf dem Kontinent, mehrte sich im letzten Drittel des jahrhunderts
die Kritik an den Verhliltnissen, namentlielı .ım Wahlreelıt. Hier entschiedene
Abhilfe zu sclmffeıı, war das '/.iel der Anfang 1769 von Anhängern john Wilke-s`
gegrütıdeteıı Society of the Supporters of the Bill of Rights - Wilkes lag seit
l763 mit Krone und der Mehrheit des Unterhauses in einem Dauerkonflikt, der
die Öffentlichkeit vor .ıllem l,ondons sehr bewegte. Es entwickelte sich eine
lautstarke und gewiclnige Bewegung. die die Alıstellung der Milšstände im
Wahlrecht verlangte. Vor allem sollten die vielen allzu kleinen Borough-Wal1l-
kreise kassiert und die dadurch freiwerdenden Sitze den großen Städten zuge-
wiesen werden. Der sich bald ahspaltende radikale Flügel dieser Strömung for-
derte eine durchgreifende Erneuerung der Verfassung überhaupt. Die Praktiken
des königlichen Fjnflusses wurden selbstverständlich in die Erörterungen ein-
bezogen. Die Reformbewegung erzielte einen Überraschungscrfolg, als das Un-
terhaus im April 1780 mit knapper Mehrheit eine Resolution atıııalıııı, derzu-
folge der Einfluß der Krone zu verringern sei, sie erlitt einen Rückschlag, als es
einige Wochen später im Zusammenhang mit den Diskussionen über die Bes-
82 _ III. Der Weg zum Verfassungsstaat in England
Die Entwicklung in Virginia sei als pars pro toto etwas näher betrachtet. Die
Kolonie wurde durch eine Gesellschaft finanzkräftiger wirtschaftlicher Interes-
senten begründet, die 1606 von Jakob I. eine Charta erhalten und sogleich in-
tensiv für die Auswanderung in ihre Besitzung geworben hatte - das Land soll-
te ja erschlossen werde. Nach ersten Rückschlägen fing Virginia tatsächlich bald
an zu blühen. Es entwickelte sich ein lukrativer Tabakanbau. Politisch hatte die
Gesellschaft einen großen Handlungsspielraum. Selbst der Gouverneur hing
von ihr ab. Die Meinung, man könne über die Entwicklung auch im Detail in
London entscheiden, erwies sich als Illusion. So wurde der vom Gouveneur ge-
schaffene Zustand im Juli 1621 durch Verordnung der Gesellschaft genehmigt.
Danach bestand in Virginia ein Supreme Council, der sich aus dem Staatsrat -
der Gouverneur und 19 andere Mitglieder - und der Allgemeinen Versammlung
zusammensetzte, zu der jede Kommune und jede Plantage zwei Vertreter ent-
sandten. Rat und Assembly tagten gemeinsam. Sie hatten das Recht, über alle
das Gemeinwohl betreffenden Fragen zu beraten, und die Versammlung konn-
te alle erforderlichen Gesetze beschließen, freilich gemäß dem in England gel-
tenden Recht und unter dem Vorbehalt der Ratifizierung durch einen engli-
g 7 V _ 7 Die britischen Kolonien __ SS
schen Gerichtshof. Schon 1623 beanspruchte die Versammlung für sich auch das
Recht der Besteuerung. An den Institutionen änderte sich nichts, als Virginia
1624 Kronkolonie wurde, erst Ende der 40er jahre wurden Rat und Assembly,
jetzt House of Burgesses genannt, voneinander getrennt, der Rat entwickelte
sich damit zum Oberhaus. Die seit 1624 amtierenden Gouverneure suchten,
ganz im Sinne der Krone, ihre Stellung gegenüber der Versammlung zu stärken,
hatten damit aber nur gewisse Erfolge. Die Zeit der Revolution brachte bei die-
sen Bemühungen einen Rücksehlag.Zwischen 1640 und 1660 war die Kolonie
vielfach sich selbst überlassen. So geriet der Gouverneur in die Abhängigkeit
der Versammlung und wurde ab 1649 sogar von ihr gewählt.
Um 1660 war das House of Burgesses, für das jahrzehntelang - bis 1655 - das
allgemeine und gleiche Wahlrecht galt, auf dem Höhepunkt seiner Macht. Dann
aber trat eine Wende ein. Der nunmehrige Gouverneur begab sich entschieden
daran, sich eine starke Position zu verschaffen. Er griff zu \X/ahlmanipulationen,
zur Äınterpatronage und zur Einsehüchterung von Abgeordneten und zögerte
anstehende \X/ahlen hinaus. Diese gegenüber der bisherigen Entwicklung völlig
veränderte Praxis sowie die infolge hoher britischer Tabakzölle sich verschlech-
ternde Wirtschiıftslage riefen viel Unmut hervor. 1676 kam es sogar zur offenen
Rebellion. gegen die der Gouverııeur mit aller Strenge vorging. Diese Härte
wurde allerdings von London genıildert. der Gouverneur abberufen. ln der Fol-
ge arbeiteten die Gouverneure und das House of Burgesses. in dem die
Pflanzeraristokratie den größten Einfluß hatte. bis zur Mitte des 18. jahrhun-
derts einträclıtig zusammen. Dann entwickelten sich allmählich Spannungen mit
dem Mutterland.
Die achtzehn Familien mit 102 Personen, die meisten von ihnen strenge Purita-
rıer, die im September 1620, versehen mit einem Patent der Virginia Company,
nach Amerika auf-brachen, landeten vermutlich nicht ganz unbeabsichtigt we-
sentlich weiter nördlich in der Massaclıusctts Bay, also außerhalb des Geltungs-
bercichs der Virginia Charter. Noch auf dem Schiff unterschrieben die 41 er-
waclisenen Männer den sogenannten Mayflower Compact. Darin verbanden sie
sich im Namen Gottes »zu einer btirgerlich-politischen Körpersehafw, um ihre
Ziele, allen voran die Verhcrrlicliung Gottes, besser erreichen zu können und
um »angemessene und gerechte Gesetze, Verfügungen, Akte, Verfassungen und
Ämter schriftlich niederzulegen, zu konstituieren und zu schaffen<~. Sie ver-
sprachen in allem gebülırende Unterordnung und Gehorsam.7**
Diese Übereinkunft, nötig wegen des Fehlens eines gültigen Freibriefes für
die I'l_vmouth Plantation, wurde von der späteren Naturrechtstheorie als Bei-
spiel eines Gesellschaftsvertrages schlechthin verstanden. Die Siedler organi-
sierten sich in Bruderschaften, lebten nach strikt religiösen Regeln und
entwickelten ihre kleine Niederlassung kontinuierlich. 1691 ging Sie im benach-
barten Massacliusetts auf.
86 IV. Nordamerika bis zur Gründung der lgfioh
Diese Kolonie beruhte auf einer Charter von 1629. Zwischen 1630 und 1640
konnte sie einen außerordentlichen Zustrom von zumeist gemäßigten Purita-
nern verzeichnen, so daß hier bald der Schwerpunkt der britischen Sied-
lungstätigkcit lag. Sehr früh wurde hier über einen Gesetzeskatalog gespro-
chen. So wurde 1641 eine 98 Artikel umfassende Zusammenstellung der
›Liberties of the Massachusetts Colony in New England« veröffentlicht, die in
vielem schon Grundrechtscharakter hatte. Als ein gewisser Dr. Child einige
jahre später Klage darüber führte, daß die einem Engländer zustehenden Rech-
te in Nordamerika nicht gesichert seien, und Abhilfe verlangte, publizierte der
General Court der Kolonie einen Vergleich des in England und Massachusetts
geltenden Rechts, mit dem er klar herausstellte, daß die Beschwerde des Dr.
Child unberechtigt sei. Zwei ]ahre später wurde das gesamte Recht der Kolonie
in den ›Laws and Liberties of Massachusetts« kodifiziert. Das war noch keine
Verfassung im modernen Sinne, aber doch eine umfassende Landesordnung.
Eher als Verfassung zu werten sind die genossenschaftlich vereinbarten ›Fun-
damental Orders« von Connecticut vom 14. November 1639. Damit war die
Idee einer aus dem Willen des Volkes hervorgegangenen Verfassung erstmals
realisiert, und zwar wie im Falle der Plymouth Plantation, ehe eine königliche
Charter erging. Die Fundamental Orders regelten vor allem die Stellung der
Repräsentation.
In Carolina, das später in Nord- und Südcarolina geteilt wurde, und in
Pennsylvanien wurden die Eigentümer dieser Kolonien durch eine in lehens-
rechtlicher Form vorgenommene Privilegierung dazu ermächtigt, Grundord-
nungen zu erlassen. Das geschah, natürlich in Orientierung am damaligen
modernen Verfassungsdenkerı. Die Landessatzung für Carolina von 1669 war
ein von john Locke redigierter Text von 120 Artikeln unter dem Namen
»Fundamental Constitutions<. Der letzte dieser Verfassungssätze verdient be-
sonderes lnteresse. Hier hieß es, daß diese Fundamental-Artikel insgesamt und
jeder von ihnen für immer die heilige und unantastbare Regierungsform dar-
stellten.
Einen bedeutenden Schritt nach vorn tat die Grundordnung von West New
jersey vom 3. März 1677, die ›Concessions and Agreements of the Proprietors,
Freeholders and lnhabitants of West New jersey« Darin wurde nämlich nicht
nur über die politische Willensbildung gesprochen, vielmehr wurde ein eigener
Abschnitt mit 11 Artikeln unter der Überschrift ›Fundamental Laws< formu-
liert. Der erste dieser 11 Artikel- Art. 13 der Gesamtzählung - besagte, daß die
folgenden Vorschriften die fundamental rights der Kolonie seien und selbst von
der Legislative nicht abgeändert werden dürften. Darüber hinaus wurde die ge-
setzgebende Versammlung ausdrücklich dazu verpflichtet, nur solche Gesetze
zu machen, die mit den fundamental rights übereinstimmten. Hier war der
Schritt zum Vorrang der Verfassung und zur Unantastbarkeit der Grundrechte
getan.
Bengiamin Franklin LÄS?
Die Rechtsstellung der Kolonien mit ihren am Ende der britischen Zeit gut 2
Mill. weißen Einwohnern war verschieden. Schließlich gab es acht königliche
Kolonien, drei Eigentümer-Kolonien und zwei Charter-Kolonien. ln ersteren
wurde der Gouverneur vom König ernannt, in den Eigentümer-Kolonien von
den Eigentümern. Die beiden Charter-Kolonien Conneeticut und Rhode ls-
land regierten sich selbst. Überall stand den Gouverneuren ein ernannter Rat
zur Seite, und überall gab es eine gesetzgebende Versammlung, die nach einem
mäßigen Zensus gewählt wurde und im Rahmen des englischen Rechts Geset-
ze gab sowie das Besteuertıngsrecht ausübte. Die Tätigkeit der Parlamente in
den königlichen Kolonien wurde vom Privy Council und vom Board of Trade
in London überwacht, während die anderen Kolonien mehr Bewegungsfreiheit
hatten. Der in Britisch-Nordamerika schon im Laufe des 17. Jahrhunderts
erreichte Zustand ist mit Verf~.issungsstaatlichkeit richtig gekennzeichnet.
Die verfassungspolitisclien Iintwicklungen und Diskussionen im Mutterland
wurden von den gebildeten Kolonisten selbstverständlich fortlaufend wahrge-
nommen. lın 18. Jahrhundert wurden Coke, Locke und Blackstone viel gele-
sen.
Besitz. Die französische Nord-Süd-Expansion und die von den britischen Ko-
lonien nach Westen gerichtete Ausdehnung mußten sich auf die Dauer über-
schneiden. Es bestand die Gefahr, daß die Indianer auf die französische Seite
treten würden. Deshalb wies das britische Handelsministerium den Gouver-
neur von New York und Bevollmächtigte der anderen Kolonien an, sich mit
den Indianern ins Benehmen zu setzen und deren Beschwerden anzuhören.
Diese Konferenz fand im juni 1754 in Albany zwischen den Irokesen auf der
einen, New York, Pennsylvanien, Maryland und den Neuengland-Besitzungen
auf der anderen Seite statt. Die Vertreter der Kolonien zeigten sich bereit, die
Gründe für die indianischen Beschwerden abzustellen. Dann taten sie einen
Schritt, den man in London nicht erwartet hatte. Sie erklärten, daß ein Zusam-
menschluß der Kolonien für deren weiteren Fortbestand unentbehrlich sei,
und nahmen den von Benjamin Franklin entworfenen Bundesplan von Albany
an.
Franklin war einer der führenden Aufklärer der Kolonien. Als Sohn eines Sei-
fensieders war er zunächst im väterliehen Geschäft tätig und wirkte dann mit
großem wirtschaftlichen Erfolg als Drucker, journalist und Schriftsteller. Er
verfocht ein möglichst freies Unternehmertum. Nach seinen verfassungspoliti-
schen Vorstellungen war er ein ausgesprochener Mann des Fortschritts. Er trat
für das allgemeine Männerwahlreclıt und für ein jährlich zu erneuerndes Ein-
kammerparlament ein. In Albany schlug er vor, daß die britischen Besitzungen
in Nordamerika durch Gesetz des Parlaments in Westminster zu einem Gene-
ralgouvernement zusammengefaßt werden sollten, und zwar so, daß jede Kolo-
nie abgesehen von den gemeinsam zu regelnden Fragen ihre bisherige Verfas-
sung behielt. Das Generalgouvernement sollte durch einen vom König
ernannten Generalpräsidenten gemeinsam mit einem von den Kolonialparla-
menten gewählten Delegiertenrat regiert werden. Dieser Große Rat, bestehend
aus 48 Mitgliedern, sollte so bald wie möglich in Philadelphia zusammentreten,
alle drei jahre danach sollte eine Neuwahl stattfinden, der Generalprasident die
Beschlüsse ausführen. Der Bund sollte vor allem für die Beziehungen zu den In-
dianern zuständig sein, zudem für die Errichtung und Überwachung neuer An-
siedlungen, solange sie von der Krone noch keine eigene Regierung erhalten
hatten.
Franklin wollte also einen nordamerikanischen Bundesstaat in lockerer An-
bindung an England, seine Vorstellungen nahmen vorweg, was mehr als hun-
dert jahre später, mit dem am 1. juli 1867 in Kraft gesetzten British North
America Act, für das Verhältnis von Großbritannien und Kanada festgelegt
wurde, den Dominion-Status. Sein wohldurchdachter Plan blieb sogleich
stecken, weil die Kolonien nicht daran dachten, sich in die von ihnen bean-
spruchte Kompetenz hineinreden zu lassen. Wäre der Bundesplan von Albany
verwirklicht worden, so hätten sich die britisch-nordamerikanischen Beziehun-
gen mit Sicherheit anders als tatsächlich entwickelt.
W f 7 f W 7 W WVlšritisch-amerikanische Reibungen* 89
BRITISCH-AMERIKANISCHE REIBUNGEN
- auch das war ja eine Art Steuer. Der Unmut erreichte seinen Höhepunkt mit
dem Stempelsteuergesetz. Danach mußten alle Zeitungen, Plakate und Bro-
schüren, alle Erlaubnisscheine, Verträge und gesetzlich vorgeschriebenen Ur-
kunden mit Stempelmarken versehen werden. Die anfallenden Gebühren waren
nicht sehr hoch, aber es handelte sich um die erste direkte Steuer, die London
für die Kolonien verfügte. Daß die deshalb zu errichtende Verwaltung nur mit
Amerikanern besetzt sein sollte, wurde als wenig tröstlich empfunden.
Es kam zu einer breiten Protestbewegung. Auf Antrag des Pflanzers und
Rechtsanwalts Patrick Henry verabschiedete das Abgeordnetenhaus von Virgi-
nia am 30. Mai 1765 eine Reihe von Resolutionen. Die wichtigste Feststellung
war, »daß die Generalversammlung dieser Kolonie das einzige und völlig aus-
schließliche Recht« besitze, ››den Einwohnern Steuern und Abgaben aufzu-
erlegen«. Werde dies gleichwohl von anderer Seite versucht, so sei ein solcher
Schritt geeignet, »sowohl die britische als auch die amerikanische Freiheit zu
zerstören«79. Auch andere Repräsentantenhäuser äußerten sich, und das von
Massachusetts forderte alle Kolonien auf, Delegierte nach New York zu entsen-
den, um gemeinsam über das Stempelsteuergesetz zu beraten.
Im Oktober 1765 traten schließlich neun Delegationen zusammen. In der
nach lebhaften Debatten verabschiedeten Resolution wurden die wichtigsten
Rechte und Freiheiten der Kolonien zusammengestellt. Man schulde dem Kö-
nig Ergebenheit, dem Parlament Gehorsam, habe aber auch alle Rechte und
Freiheiten der in Großbritannien selbst geborenen Untertanen. Es sei unzwei-
felhaft das Recht der Engländer, »daß ihnen Steuern nur mit ihrer eigenen, per-
sönlich oder durch ihre Vertreter erteilten Zustimmung auferlegt werden.« Die
Bevölkerung der Kolonien aber sei im Unterhaus nicht vertreten und könne
dies wegen der großen Entfernung auch nicht sein. Zur Steuerleistung könne sie
mithin nur durch ihre eigenen gesetzgebenden Körperschaften verpflichtet wer-
den. Mit der Stempelsteuerakte und verschiedenen anderen Maßnahmen werde
offenbar versucht, die Rechte und Freiheiten der Kolonisten umzustürzen. Die
geforderten Abgaben seien außerordentlich drückend, auf der anderen Seite lei-
steten die Kolonisten aber einen sehr großen Beitrag zu den Geldbedürfnissen
der Krone, ››da die Gewinne aus dem Handelsverkehr der Kolonien letztlich in
Großbritannien zusammenfließen« und da die Kolonisten die von ihnen
benötigten Fabrikate nur von dort beziehen dürften. Abschließend wurde be-
tont, daß das Wachstum und Wohlergehen der Kolonien vom uneingeschränk-
ten Genuß ihrer Rechte »sowie von einem gegenseitig freundschaftlichen und
gewinnbringenden Verkehr mit Großbritannien abhängen«, und die Zurück-
nahme des Stempelsteuergesetzes und der anderen in der Adresse genannten
Maßnahmen erbeten“.
Die Öffentlichkeit reagierte weniger moderat als die Parlamente. Es bildeten
sich Geheimorganisationen, die die Einziehung der Stempelsteuer aktiv
bekämpften und sich bald unter dem Namen ›Bund der Freiheitssöhne< zusam-
, WJ? _ *__ ,___ _Britisch~ir2erikanis†ehe Reèungen gr 91
stiger als die Sehmuggler anzubieten, entstand eine neue Protest- und Boykott-
Welle. Die Vertragspartner der Gesellschaft wurden vielfach gezwungen, ihre
Abnahmezusagen zu widerrufen. Der Höhepunkt des Protestes war die soge-
nannte Boston Tea Party am 16. Dezember 1773, als radikale Patrioten die La-
dung von drei Teeschiffen der East India Company vernichteten.
jetzt griff London hart durch. Der Hafen wurde gesperrt, bis der so ange-
riehtete Schaden bezahlt war. Die Verfassung von Massachusetts wurde weitge-
hend ausgehöhlt. Die Mitglieder der Volksvertretung und alle Amtsträger sowie
die Geschworenen sollten künftig vom Gouverneur berufen und nicht mehr ge-
wählt werden. Auch andere Zwangsmaßnahmen wurden verfügt. Diese Reakti-
on war für die Kolonisten empörend genug, verschärfend kam hinzu, daß im
gleichzeitigen Quebec-Akt die Grenzen dieser neuen Besitzung bis zum Mis-
sissippi und zum Ohio ausgedehnt wurden, womit der Mehrzahl der alten Ko-
lonien endgültig die Ausdehnungsmöglichkeiten nach Westen genommen wa-
ren. Daß es noch zu einem Ausgleich zwischen dem Mutterland und den
Nordamerikanern kommen könne, war schwer vorstellbar. Tatsächlich ergab
sich einen breite Solidarisierung mit Massachusetts. In Philadelphia fand am
I8. juni 1774 unter Leitung des Bürgermeisters Thomas Willing eine von
8 O00 Personen besuchte Demonstration statt. Hier wurde festgestellt, daß die
Schließung des Hafens von Boston ungesetzlich und daß ein Kongreß von Ver-
tretern der einzelnen Kolonien das beste Mittel sei, »um unseren ııotleidenden
Brüdern Hilfe zu bringen« sowie »Behebung der Beschwerden Amerikas, Si-
cherung unserer Rechte und Freiheiten und Wiederherstellung von Frieden und
Eintracht zwischen Großbritannien und diesen Kolonien auf einer Grundlage
der Verfassung zu erreichen«. Ein Komitee sollte mit den Schwesterkolonien al-
le notwendigen Schritte vereinbaren“.
Der so angeregte Kongreß tagte drei Monate später vom 5. September bis zum
26. Oktober mit insgesamt 55 Teilnehmern in Philadelphia. Vertreten waren mit
Ausnahme von Georgia alle alten Kolonien, nicht aber die erst 1763 erworbe-
nen. Zwei Gruppen standen sich gegenüber, die Radikalen, die für einen konse-
quenten Kampf gegen die britischen Positionen waren, und die Gemäßigten, die
nach Wegen zu einem Ausgleich suchten. Unter den Radikalen glaubte man-
cher, daß das Band zu England schon zerschnitten sei. Patrick Henry beispiels-
weise meinte: »Die Regierungsgewalt ist aufgelöst. Wir befinden uns im Na-
turzustand«<33.
Der erste Kontinentalkongreß 93
Die Grundsatzcrklärung, auf die man sich schließlich nach Vorschlag von
John Adams verstšindigte, ging so weit nicht. Einhellig wurde am 1. Oktober
unter Berufung auf die unveränderlichen Gesetze der Natur, auf die Grundbe-
griffe der englischen Verfassung und auf die einzelnen Freiheitsbriefe und Ver-
träge festgestellt, daß die Amerikaner berechtigt seien »zu Leben, Freiheit und
Eigentum« und daß sie »niemals irgend einer fremden Macht ein Recht darauf
abgetreten« hätten, ››ohne ihre Zustimmung über eines dieser drei Güter zu ver-
fügen«. daß ihre Vorfahren zur Zeit ihrer Auswanderung aus dem Mutterland
»zu allen Rechten, Freiheiten und Vorrechten freier und geborener Untertanen
innerhalb des Reiches England« berechtigt gewesen seien und daß ihr Recht auf
Vertretung allein in den verschiedenen Provinzkörperschaften bewahrt werden
könne. Das alles klang schon sehr wie die spätere Unabhängigkeitserklärung,
jedoch wurde hinzugefügt, daß man sich dem Veto des Souveräns gegen eigene
Beschlüsse derart fügen wolle, »wie es bisher... Brauch wan« Auch sollten Akte
des britischen Parlaments hinsichtlich »unseres Aufšenhandels« zur Sicherung
der Handelsvorteile des Gesamtreiches in Wirkutig treten können“.
Das war nur noch ein lockeres Band mit der Metropole. Der Vorschlag des
Pennsylvaniers Galloway, auf eine Union ınit England hinzuarbeiten - das wä-
re die Wiederaufnahme dcs Plans von Albany gewesen -. war kurz zuvor abge-
lehnt worden. Des weiteren einigte man sich auf einen stufcnweisen Handels-
boykott ab 1. Dezember, auf die Einstellung der Sklaveneinfuhr und auf die
Bildung einer Continental Association zur Unterstützung der Neuengländer.
Dann vertagte man sich auf den Mai des folgenden Jahres.
Die Association bereitete sich auf einen bewaffneten Kampf vor. Ein zur
Aushebung eines Waffenlagers von britischen Truppen ins Hinterland von Bo-
ston unternotnmener Vorstoß führte am I9. April 1775 zum Gefecht von Le-
xington, bei dem die amerikanische Miliz die Briten in die Flucht schlug. Wer
den ersten Schuß tat, blieb strittig. Weııigstens für die Radikalen war das der
Ausbruch des entscheidenden Kampfes. Als der Zweite Kontinentale Kongreß
im Mai zusammentrat, waren nicht nur die Vorbereitungen der Kolonien auf
den Krieg, sondern dieser selbst schon im vollen Gange. Die Versammlung be-
kräftigte die Entschlossenheit der Amerikaner, »die Waffen, die zu ergreifen un-
sere Feinde uns gezwungen h.1ben«, in Festigkeit und Ausdauer »zur Bewah-
rung unserer Freiheiten« zu gebrauchen, »einmütig entschlossen, lieber als Freie
zu sterben, denn als Sklaven zu leben«-**". Zugleich bekundetc man aber, daß ci-
ne Trennung von England nicht beabsichtigt sei. Das entsprach der Meinung
zahlreicher Amerikaner. Es gab viele Gemäßigte und viele, die loyal zu England
stehen wollten. König Georg lll. war nicht geneigt, den Passus der Kongreßre-
solution für bare Münze zu nehmen, man wünsche die Verbindung mit England
aufrichtig wiederhergestellt. Am 23. August bezeichnete er die Entwicklung in
den Kolonien als offene Rebellion und forderte alle Offiziere und Beamten so-
wie die loyal gebliebenen Amerikaner dazu auf, die Erhebung mit allen Kräften
94_ No_ı'<:lai_rnerika llis zur Gründung der U_nion_ ___ __ _
UN/tısnawoıcııtEı'ı*sERıti.ARuNc;
rung einzusetzen, die auf solche Grundsätze gegründet, und deren Macht und
Gewalt solchergestalt gebildet wird, als ihnen zur Erhaltung ihrer Sicherheit
uncl Glückseligkeit am schicklichsten zu sein dünket.«
Man solle, so weiter, von alters her bestehende Regierungen nicht aus gering-
fügigen oder vorübergehenden Anlässen ändern. Wenn aber eine lange Kette
von Übergriffen die Absicht klar erkennen lasse, die Menschen unter eine un-
beschränkte Herrschaft zu bringen, dann sei es nicht nur Recht, sondern Pflicht,
eine solche Regierung abzuwerfen und sich für die künftige Sicherheit neue
Wächter zu suchen.
Dann folgte eine lange Liste von Vorwürfen gegen den britischen König. Ge-
org III. wurde als wahrer Tyrann geschildert, während die Amerikaner in jeder
Phase des Konflikts verständigungsbereit gewesen seien. Das Fazit war, daß ein
solcher Mann nicht geeignet sein konnte, über ein freies Volk zu herrschen. ››In-
dem derohalben Wir, die Repräsentanten der Vereinigten Staaten von Amerika,
im General-Congreß versammelt, uns wegen der Redlichkeit unserer Gesin-
nungen auf den allerhöchsten Richter der Welt berufen, so Verkündigen wir
hiermit feierlich, und Erklären, im Namen und aus Macht der guten Leute die-
ser Kolonien, Daß diese Vereinigten Kolonien Freie und unabhängige Staaten
sind, und von Rechtswegen sein sollen; daß sie von aller Pflicht und Treuerge-
benheit gegen die Britische Krone frei- und losgesprochen sind, und daß alle
politische Verbindung zwischen ihnen und dem Staat von Großbritannien hier-
mit gänzlich aufgehoben ist, und aufgehoben sein soll...«8°.
Die Erklärung enthielt in ihrem ersten Teil das Credo der aufgeklärten Na-
turrechtslehre, sie bediente sich zugleich aber auch alter Formeln zur Begrün-
dung des Widerstandes, nicht aus der inneren Überzeugung der Autoren her-
aus, sondern um sie mit dieser traditionalistischen Argumentation auch für
diejenigen einsichtig zu machen, die dem modernen Naturrechtsdenken weni-
ger verbunden waren.
bot alle Privilegien und bestimmte, daß Beamten- und Richterstellen weder erb-
lich noch übertragbar sein dürften.
Art. 5 schrieb eine gewaltenteilige Staatsorganisation und häufige Wahlen vor.
Art. 6 verbürgte die Freiheit der Wahlen; »alle Männer, die ihr ständiges Inter-
esse an der Gemeinschaft und ihre dauernde Anhänglichkeit an sie hinlänglich
unter Beweis gestellt haben, genießen das Wahlrecht und können ohne ihre Ein-
willigung oder die ihrer so gewählten Vertreter weder zugunsten der öffentli-
chen Hand besteuert oder enteignet noch irgendeinem Gesetz unterworfen
werden, dem sie nicht in gleicher Weise in Ansehung des öffentlichen \X/ohls zu-
gestimmt haben.« Naeh Art. 7 war die Ausübung öffentlicher Gewalt ohne Bil-
ligung der Volksvertretung unzulässig.
Art. 8 brachte wesentliche Fragen der Strafrechtspflege zur Sprache. Bei
Strafsachen hatte jedermann das Recht, Grund und Art der Anklage zu erfah-
ren, Anklägern und Zeugen gegenübergestellt zu werden und Entlastendes vor-
zubringen, ihm wurde ein unverzügliches Verfahren vor einem unparteiischen
Gerichtshof von zwölf Geschworenen aus den Reihen seiner Mitbürger zuge-
sagt, und nur mit deren einstiınmigeın Spruch konnte er fiir schuldig befunden
werden. Zu Aussagen gegen sich selbst durfte cr nicht gezwungen werden, und
seiner Freiheit konnte er nuı' .luf Grund der l,.ırıdesgesetze oder eines Urteils-
spruehs von seinesgleiclıen beıınibt werden. Art. 9 verbot unbillig hohe Bürg-
schaften, überınälšiige Geldstnıfeıı und grziusaıne und ungewöhnliche Strafen.
Art. IO erklärte Durelistıclitııigv und Verhaftungsbefehle ohne stichhaltigen
Grund für recl1tswidri;:_. Bei Veı'ınögeıısstreitigkeiten und Privntklagen sollte
nach Art. ll die alte I°rozel§forın der (jeschworenenverh.ındlung ieder anderen
vorgezogen werden und un.1nt;istl›.ir sein.
Art. 12 t;.ır;ııitierte die Pressefreilieit. »Die Pressefreiheit ist eines der stärk-
sten Bollwerke der lireiheit und kann niemals, außer durch despotische Regie-
rungen, eingesclirliııkt wcrden.«- /\rt. I3 bezeichnete eine wohldisziplinierte Mi-
liz aus den Reihen der Biirgersclmft als den geeignetsten Schutz des Landes,
verbot stehende Heere in Friedenszeiten .ıls der inneren Freiheit gefährlicli und
ordnete an, dalš dns Militär »unter allen Umständen der Zivilgewalt klar unter-
geordnet sein und von ihr beherrscht werden« sollte.
Art. 14 gewiihrleistete dem Volke eine einzige und einheitliche Regierung.
Art. 15 stellte fest, dalš eine freie Regierung und überhaupt die Segnungen der
Freiheit einenı Volk nur durch strenges Festhalten an den Idealen der Gerech-
tigkeit, Mälšigung, l¬`.nt|ı;tlts.tınkeit. Bescheidenheit und Tugend und durch ein
ständiges Besinnen .ıuf die grundlegenden Prinzipien bewahrt bleiben könnten.
Art. 16 schlielšlich g_.ır.intierte die Freiheit der Religionsxıusübung und ver-
pflichtete alle, »christliche Vergebung, Liebe und Barmherzigkeit untereinander
zu üben«“7.
Die Rechteerklärunt; von Virginia war eine Mischung von staatsorganisatori-
schen Postulaten n.ıturı'echtliclıer Prägung, individuellen Grundrechten, wobei
f Bayarlsdıe `
81nn†nhlš¬|lf›thnl
Ä V Üordamerirkabis ztıgr Gründurıggdfier Union
V N g ___* í
Überall galt das Prinzip der Gewaltenteilung. Die Unabhängigkeit der Justiz
wurde dabei durch eine unbeschränkte Amtszeit der höheren Richter gefe-
stigt - auf den unteren Ebenen war, wie bei allen Ämtern, ein häufiger Wechsel
vorgesehen. Die Legislative war mit Ausnahme von Connecticut, Rhode Island,
Pennsylvania und Georgia zweigeteilt. Es gab also überall ein Repräsentanten-
haus, das beim aktiven Wahlrecht nur mit niedrigen Zensusschranken umgeben
war. Für die neun Senate war bei der Wählbarkeit eine hohe finanzielle Hürde
vorgeschrieben. Die Annahme des Zweikammersystems wurde vornehmlich
damit begründet, daß das Eigentum gegen Mehrheitsentscheidungen geschützt
werden müsse. Beide Häuser mußten sich über jeden Gesetzesbeschluß ver-
f __ DE Korflfíderanflsakte __“ 99
ständigen, die Senate hatte also Vetomöglichkeiten. Die Mandatsdauer der Re-
präsentanten war vielfach nur ein jahr, die der Senatoren reichte bis zu fünf jah-
ren. Auch die Gouverneure, die I-Iäupter der Exekutive, wurden nur für ein
jahr gewählt; ihnen war in den meisten Staaten ein Exekutivrat beigegeben, der
in Personalfragen mitzuspreehen hatte. Die Exekutive war der Legislative klar
untergeordnet. Verfassungsiinderungen waren selbstverständlich möglich, rund
die Hälfte der Verfassungen sah dafür ein besonderes Verfahren vor. Insgesamt
konstituierten sich die dreizehn Gründerstaaten als liberale, aber noch nicht als
eindeutig deınokratische Gemeinwesen. Strukturell war der Fortschritt gegenü-
ber dcr Kolonialzeit nicht sehr groß, nur waren die Eingriffsmöglichkeiten der
Krone jetzt beseitigt, die Institutionen sehr viel besser abgesichert.
In der Unabhangigkeitserkliirung war iın Schlulšabselınitt die Rede von den Re~
präsentanten der united States of America. Das war nicht als Staatsname ge-
meint- das Wort ›united< wurde klein geschrieben. In vielen Wendungen wur-
de betont, daß die Vereinigten Kolonien freie und unabhängige Staaten seien,
mit allen Rechten solcher Gemeinwesen. Dabei stand das Wort ›United< in
Grolšschreibung, so daß man inıınerhin an eine amtliche Bezeichnung denken
konnte. Tatsíichlich war die Neigung zur Schaffung einer neuen Zentralgewalt
1776 nicht sonderlich grolš. Die Kolonien hatten seit jahren je für sich um ihre
Rechte gekämpft- erst die I.ondoner Reaktion auf die Tea Party hatte eine um«
lassende Solidarisierung gebracht. Nun, im Augenblick der Unabhängigkeit,
wollten sie nicht sogleich wieder auf die volle Souveränität verzichten. Zwar be-
stand Einigkeit darüber, dalš ein Staatenverband zu bilden sei, aber cr sollte
doeh nicht allzu straff werden. Iiinstweilen gab es neben dem Zweiten Konti-
nentalkongreli nur eine genıeinsame Aı'rrıce unter einem Überkomn1andieren~
den, nämlich W':ıshington. Da die Unabhängigkeit Während des Krieges mit
Iflngland ausgesprochen wurde, war eine derartige Institution unabdingbar.
Über die Art der näheren Verbindung unter den bisherigen Kolonien wurde
in den folgenden jahren lebhaft diskutiert. Den Erorterungen lag ein im Zwei-
ten Kontinentalkongrelš von einem Ausschuß erarbeiteter und schon im ju-
li 1776 vorgelegter Verfassungsentwurf zugrunde, an dessen Formulierung der
Pennsylvanierjoh n I)iekinson. ein Gemäßigter, großen Anteil gehabt hatte. Die
Hauptstreitptınkte waren im Kongreß wie in der öffentlichen Diskussion die
Zuwendungen zur Bundeskasse, die die einen nach der Fläche, die anderen nach
der Einwohnerzahl der (iliedstaaten bemessen haben wollten, sodann die Frage
IQO IV. Nordamerika bis zur Gründung der Union _
nach Gebietsansprüchen im Westen und schließlich das Ausmaß der dem Bun-
de zu übertragenden Kompetenzen. Dabei setzten sich die Verfechter einer
weitgehenden Einzelstaatssouveränität durch.
Die Konföderation erhielt nur eine Kammer, in der die Staaten zwischen zwei
und sieben jederzeit abberufbare Delegierte hatten, die ein gemeinsames Votum
abgeben mußten. Konnte eine Delegation sich nicht einigen, so entfiel die Stim-
me des betreffenden Staates gegebenenfalls. jeder Staat hatte nur eine Stimme.
Die Kompetenzen der Konföderation waren eng begrenzt. Sie betrafen die
Schlichtung von Konflikten zwischen den Bundesgliedern, die Regelung von
Währungsfragen, die Aufstellung von Land- und Seestreitkriiften sowie Kriegs-
erklärung und Friedensschluß, das Recht zum Abschluß von Verträgen, wobei
die unterschiedlichen Einfuhrzölle der Einzelstaatcn nicht beeinträchtigt wer-
den durften, sowie das Recht, die Iiinzelstaaten um Finanzbeiträge entspre-
chend der Zahl ihrer Einwohner zu bitten. Sonst aber behielt jeder Staat aus-
drücklich seine Souveränität, Freiheit und Unabhängigkeit. Die Entscheidungen
des Kongresses mußten mit Zweidrittelmehrhcit getroffen werden, also wenig-
stens 9 Stimmen erhalten. Die Annahme und die Abänderung der Konfödcrati-
onsartikel bedurfte der Zustimmung aller Einzclstaatsparlamentc. Des weiteren
sagten sich die dreizehn Bundesglieder die volle Freizügigkeit aller Einwohner
und eine umfassende Rechtshilfe zu, sie verpflichteten sich, ohne Zustimmung
des Kongresses keinen Botschafter zu einer anderen Macht zu schicken oder
von dort anzunehmen oder Verträge abzuschließen, sich an Kriegen zu beteili-
gen oder Bündnisse untereinander einzugehen.
Angesichts dieses lockeren Gefüges kann man die Konföderation kaum als
Staatenbund bezeichnen, es ging nicht um eine staatsrechtliche Verbindung,
sondern um einen völkerrechtlichen Vertrag. Man wollte, wie es in Art. III hieß,
einen festen Bund der Freundschaft schließen, der der gemeinsamen Verteidi-
gung, der Sicherung der Freiheit und der wechselseitigen Förderung der Wohl-
fahrt diencn sollte.
Die Ratifikationsdebatte zog sich mehr als drei jahre hin. Aueh dabei bildete
die Landfragc das entscheidende Hindernis. Über die Stellung der weiten Terri~
torien im Westen sollte der Kongreß entscheiden, und dem Bund sollte der Er-
lös aus dem Verkauf der dortigen Ländereien zufallen. Für diejenigen Staaten,
die nach ihren kolonialen Gründungsurkunden Ausdehnungsmöglichkeiten
jenseits der Appalachen besaßen, war das ein schweres Opfer, aber die Küsten-
staaten beharrten unbeugsam darauf. Erst als New York seine Ansprüche im
Westen auf den Kongreß übertrug, fand sich auch Maryland als letzter Staat zur
Billigung der Konfödcrationsartikel bereit.
Sie traten am 1. März 178] in Kraft, fast fünf jahre nach der Unabhängigkeit-
serklärung und zu einem Zeitpunkt, als über den Ausgang des Krieges mit
Großbritannien noch nicht entschieden war. Zwar hatten die Amerikaner, die
den Kampf wegen ihrer materiellen Unterlegenheit am liebsten in Guerilla-Ma-
____ 7_ _ Der Charakter der arnerikjnischen Revolution
nier führten, im Oktober 1777 bei Saratoga in offener Schlacht einen großen Er-
folg erzielen können, aber damit waren die Engländer noch nicht besiegt. Erst
als ein britisches Heer itn Oktober 1781 bei Yorktown eingekreist, von der Ver-
bindung mit der Flotte abgeschnitten wurde und deshalb kapitulierte, setzte
sich in London der Zweifel daran durch, daß der Krieg noch zu gewinnen sei.
Ende Februar 1782 versagte das Unterhaus dem Kabinett die weitere Gefolg-
schaft. Es gab noch etliche Nachgeplänkel und ab April längere Friedensver-
handlungen.
Im November 1782 wurde der Präliminarfriede abgeschlossen, am
15. April 1783, fast genau acht jahre nach Lexington, vom Kongreß gebilligt.
Das Inkrafttreten des Friedensvertrags war aber an eine Verständigung auch
zwischen Frankreich, das seit 1778 am Kriege beteiligt war, und Großbritanni-
en gebunden. Erst nachdem sie zustande gekommen war, wurde der Friedens-
vertrag am 3. September 1783 in Paris unterzeichnet. Er bestätigte die Unab-
hängigkeit der Vereinigten Staaten und wies ihnen alles Gebiet zwischen den
Appalaehen und dem Mississippi zu. Kanada blieb britisch, Florida spanisch.
Der Kongreß verpflichtete sich. bei den Einzelstaaten auf die Entschädigung
enteigneter und vertriebener Amerikaner, der sogenannten Loyalisten, hinzu-
wirken.
Die Zeitgenossen empfanden die Entwicklung der 70er jahre als Revolution,
und nach einem angemessenen Begriffsverständnis war sie dies auch. Einen um-
fassenden Konsens darüber, was unter Revolution zu verstehen ist, gibt es frei-
lich nieht. Crane Brinton, der 1938 als einer der ersten umfassende Reflexionen
über das Wesen von Revolutionen vorlegte, meinte, es handle sich dabei um
»die drastische, plötzliche lirsctzung einer mit der Lenkung einer politischen
Gebietseinheit betrauten Gruppe durch eine andere«, entweder im Wege eines
gewaltsamen Aufstandes oder mittels eines sonstigen Gewaltaktes“. Ob es bei
einer Revolution notwendig auf Gewalt ankommt. stehe dahin. im 18. Jahrhun-
dert wurde dieser Aspekt weniger stark betont als später; für die lincyclopedia
Britannica jedenfalls bedeutete Revolution 1771 viel allgemeiner einen großen
Wandel in der Regierung, und als eindeutigstes Beispiel dafür erschien die Glo-
rious Revolution von 1688/89.
Daß die Amerikaner mit dem Übergang von der britischen Herrschaft zur
Unabhängigkeit einen großen Wandel erlebten, steht ganz außer Frage. Allein
dies gestattet es aber nicht, von Revolution zu reden, es kommt vor allem dar-
122 IV. Nordamerika bis 7._ur Gründung der Ui1_itJgn 7 i _* __
auf an, wie dabei bisheriges Recht behandelt wird. In einer Revolution wird, so
könnte man in aller Kürze sagen, unter Hinwegschreiten über das alte Recht ein
entschiedener Neuanfang gemacht, und zwar innerhalb einer relativ kurzen
Zeit. Das geschah in Nordamerika seit 1773. Die jahre der Unruhe ab 1763 sind
als vorrevolutionâre Phase zu verstehen, in ihr baute sich die Stimmung auf, die
für den Erfolg der Revolution erforderlich war. Das deutlichste Vorzeichen war
die Inbrandsetzung des Zollschoners im juni 1772. Samuel Adams schuf in die-
ser Zeit mit der umfassenden Ausbildung der Korrespondenzaussclıüsse für den
politischen Bereich auch die nötigen organisatorischen Strukturen. Als die Re-
volutionäre sich stark genug wähnten, setzten sie mit der Tea Party das Zeichen
für den Ausbruch der Revolution.
Das jahr 1774 war in umfassenden Maße durch das Hinweggehen über bishe-
riges Recht gekennzeichnet. Der Erste Kontinentale Kongreß hatte ebensowenig
eine legitime Basis wie die Kongresse oder Konvente, die in sieben Kolonien ge-
bildet wurden, uın nicht auf die Berufung der Repräsentantenhäuser durch die
Gouverneure angewiesen zu sein. In der Folge entstand ein Netz von Ausschüs-
sen, das für die Durchsetzung der von diesen Gremien gefaßten Beschlüsse sorg-
te. Iis bildete sich also eine breit fundierte Gegengewalt, die bisherige staatliche
Autorität wurde unterhöhlt, ihre Ausübung auf jeden Fall sehr erschwert.
Daß .ıll das auf eine Trennung von England hinauslaufen würde, war noch
längst nicht ausgemacht. Nicht einmal in den 1775 beginnenden Kämpfen
sprach sich das aus. Entschiedene Parteigänger der Bewegung wie Samuel
Adams wollten das, dieser schon seit 1768, andere hatten Bedenken oder waren
ausgesprochen dagegen und sannen auf einen Ausgleich mit dem Mutterland. Es
ging zunächst nicht um Separation, aber auch nicht einfach um die Wiederher-
stellung verletzten Rechtes durch die Rückkehr zum status quo von 1763. Die
Akteure hatten Weitergesteckte politische Ziele, sie wollten strittige Verfas-
sungsfragen in ihrem Sinne klären und den Rechtszustand, unter dem sie zu le-
ben wünschten, definitiv sichern, sie wollten unanfechtbar dieselben Rechte ha-
ben wie leder Bürger des Mutterlandes. Erst im Frühsommer 1776 fand der
Wunsch nach Unabhängigkeit eine deutliche Mehrheit.
Es handelte sich also eindeutig um eine Vcrfassungsrcvoltıtion. Soziale Mo-
mente spielten dabei keine Rolle. i/.war gab es ein gewisses Maß an Besitzum-
schichtungen, aber das war nur ein Nebeneffekt. ln den Kolonien lebte eine be-
achtlich große Zahl von Menschen, die die entschiedene Konfrontation mit dem
Mutterland nicht wollten, die sogenannten Loyalisten. Sie gerieten in der Hoch-
phase des Konfliktes, nach Ausbruch des Krieges, ganz erheblich unter Druck.
Vielfach entschlossen sie sich, diesen Pressionen auszuweichen, und gingen nach
Kanada oder Großbritannien. Das Vermögen dieser rund 100 O00 Emigranten
wurde zum Teil konfisziert und verkauft, wobei die Güter der Loyalisten größ-
tenteils in die Hände von Angehörigen der Oberschicht gelangten. Religiöse
Motive hatten für die amerikanische Revolution überhaupt kein Gewicht.
Die nordamerikanischen Freistaaten 103
Läßt sich der Ausbruch der Revolution mit der jahreswende 1773/74 sicher
datieren, so ist ein eindeutiges Datum für ihr Ende weniger leicht zu benennen.
Es empfiehlt sich, hierfür den Zeitpunkt zu wählen, an dem wieder ein sicherer
Rechtsboden erreicht war. Das war vc-rfassungspolitisch mit dem Inkrafttreten
der Konföderationsartikel am 1. März 1781 der Fall, in den Einzelstaaten schon
fn`iher. Gesamtpolitisch war dieser Punkt aber erst gewonnen, als keine Gefahr
mehr bestand, daß der Ertrag der Revolution wieder beseitigt würde. Das war
im April 1782 erreicht. Naeh diesen Überlegungen hätte die Amerikanische Re-
volution ein knappes jahrzehnt ausgefüllt.
Der mit der Konfödemtionsakte gewonnene Rahmen erwies sich als unbrauch-
bar zur Bewältigung der Probleme, die die Schlußphase des Krieges und die
Nachkriegszeit stellten. Weiler konnte der Kongreß die Kriegsfinanzierung an-
gemessen bewerkstelligen ııoch die Kosten der Demobilmachung aufbringen
oder die Nachkriegsdepression wirksam bekämpfen. Nur die westliche Land-
frage wurde im juli 1787 sinnvoll geregelt. Nach der Nordwest-Verordnung
wurde dies Gebiet. in dem daınals schon gut 100 O00 Menschen lebten, von ei-
nem Gouverneur verwaltet, während die justiı vom Kongreß bestellten Rich-
tern oblag. Sobald eine größere Region 5 O00 Männer im wahlfahigen Alter
zählte, sollte sie eine '/.wei-K\.ııııınei>Legislative erhalten und einen nicht stimm-
berechtigten Delegierten iıı den Kongreß entsenden. \\'/ar sie auf 60 O00 Ein-
wohner angewachsen, so konnte sie durch Kongrcßbeschluß mit den gleichen
Rechten wie die Grüııderstmtcn in die Union aufgenommen werden. Der Be-
völkerung des Nordwestterritoriums wurden zudem die bürgerlichen Rechte
gewährt, jede Art von Knechtschaft und Sklaverei verboten. Langfristig sollte
das Gebiet in drei bis fünf Staaten aufgeteilt \verden. Die anderen Probleme
blieben ungelöst. Wetler kam es zu gemeinsamen Streitkräften noch zu einer
einheitlichen \X/Lihrungspolitik, und manche Staaten betrieben auch eine eigene
Außenpolitik. Die Konfoderations.ıkte blieb so zu guten Teilen auf dem Papier.
Ebenso bot die lnnenpolitik der dreizehn Staaten Anlaß zur Sorge. Das Prin-
zip der kur:/.en Aiiıtszeiteıi erwies sich als höchst nachteilig. Die Parlamente wa-
ren der Fntektıtive in un7.umuth.ırem Maße überlegen, und sie machten es teil-
weise auch der judikative durch den häufigen Wechsel von Richtern schwer,
sich unabhäııgig zu erıtfalteıı. fis gab eine deutliche Neigung zum Parlaments-
absolutismus, und dadurch wurde die Gewaltenteilung in Frage gestellt. Es fehl-
IO4 IV._Nordamerika bis zíçiründung der Union
te in der Politik an Ausgewogenheit und Stetigkeit, und hier und da wurde die
Stellung von Minderheiten schwierig.
Mit großer Sorge wies etwa der aus Virginia stammende Politiker james Madi-
son auf die Entwicklung hin. Die sinnvollste Abhilfe schien ihm eine Schwächung
der Zentralgewalt zu sein; am besten sei es, wenn die Zentralgewalt ein Vetorecht
gegen einzelstaatliche Parlamentsbeschlüsse erhalte. Auch andere Politiker äußer-
ten sich besorgt. john jay, damals Sekretär des Kongresses für Auswärtiges, mein-
te im Juni 1786 in einem Brief an Washington, daß die öffentlichen Angelegen-
heiten einer schweren Krise entgegentrieben, und fürchtete eine Revolution -
tatsächlich kam es wenige Wochen später in Massachusetts zu einem Aufstand
verschuldeter Bauern, der erst nach Monaten niedergeworfen werden konnte. Jay
hielt es nicht für ausgeschlossen, daß die strebsamen und ordentlichen Leute
»durch die Unsicherheit des Eigentums, den Verlust des Vertrauens in die, die sie
regierten, und mangelnde öffentliche Glaubwürdigkeit und Rechtschaffenheit«
dahin gebracht würden, »die Vorzüge der Freiheit für eine Illusion zu halten«3°.
Washington mochte in seiner Antwort das Verlangen nach einer monarchischen
Restauration nicht ausschließen. Der virginische Kongrcßdelegierte Lee schließ-
lich meinte mit Blick auf die Rebellion in Massachusetts, die Zeit scheine sich
rasch zu nähern, in der das Volk der Vereinigten Staaten sich entscheiden lllüsse,
ob es eine dauerhafte und handlungsfähige Regierung haben oder sich dem
Schrecken der Anarchie und der Zügellosigkeit unterwerfen wolle. Die Bereit-
schaft zu einem gründlichen Neubeginn war also allenthalben spürbar.
Die erste Plattform dafür fand sich im September 1786 in einer Konferenz in
Annapolis, zu der Virginia wegen ständiger Reibereien mit Maryland um die
Schiffahrt auf dem Potomac eingeladen hatte. Anwesend waren die Vertreter von
fünf Staaten. Hier gelang es dem New Yorker Anwalt Alexander Hamilton, der
schon seit jahren für eine Verbesserung der Bundesverhältnisse eintrat, die Anwe-
senden davon zu überzeugen, daß der Ernst der Lage Besprechungen in einer
Körperschaft verlange, die repräsentativer sei als die gegenwärtige. Auf seinen
Vorschlag hin wurden alle dreizehn Staaten aufgefordert, im Mai 1787 Delegierte
nach Philadelphia zu entsenden, die Vorschläge für eine angemessene Einrichtung
der Union machen sollten. Hamilton, ein eher konservativer Mann, gab damit den
entscheidenden Anstoß zur dauerhaften Konstituierung der Vereinigten Staaten.
Der Kongreß nahm die in Annapolis gemachten Vorschläge auf und bat die
Gliedstaaten um Beschickung des Verfassungskonvents. Die weitere Entwick-
Der Verfassufigskonvent in Philadelphia _ _lQ5
lung war damit rechtlich klar abgesichert. Die Federation Convention umfaßte
bei ihrem Zusammentreten itn Mai 1787 zwölf Delegationen mit anfänglich 55
Mitgliedern ~ das kleine Rhode Island beteiligte sich nicht -, sie sah die politi-
sche Elite des Landes in ihren Reihen. Die Verhandlungen fanden unter dem
Vorsitz von Washington bei strikter Geheimhaltung statt und dauerten bis Sep-
tember. Die Delegation aus Virginia brachte sogleich den Vorschlag ein, einen
Bundesstaat zu schaffen. Damit fand sie Zustimmung. Der Konvent ging also
von Anfang an über den ihm erteilten Auftrag hinweg, die Konföderationsakte
zu revidiercn. War man sich auch generell darüber einig, daß sich die bisherige
Konföderation souveräner Staaten nicht bewährt hatte und daß ein neues Re-
gienıngssystem geschaffen werden mußte, »das nicht auf der Ebene der Einzel-
staaten operiert, sondern ohne deren Zwischcnschaltung auf der Ebene der In-
dividuen, aus denen sich diese zusanimensetztenfic, so gingen die Auffassungen
doch weit auseinander, wie dies Ziel am besten zu erreichen sei. Die Verfechter
einer konsolidierten nationalen Regierung standen gegen die vornehmlich aus
den kleineren Staaten und aus New York gekommenen Vorkämpfer der Einzel-
staatsinteressen, Zentralisten gegen Föderalisten.
Um die Machtverteilung zwischen Union und Gliedstaaten, um die Berück-
sichtigung der untersclıiedliclien Interessen der einzelnen Teile der Union, um
die Zusammensetzung des Kongresses und um eine angemessene Konstruktion
und Stellung der Exekutive wurde sehr intensiv gerungen. Man gelangte stets zu
einer Einigung, wenn auch oft erst nach langen Diskussionen. Ende ]uli war der
notwendige Konsens hergestellt. Nun wurde ein Ausschuß für die Formulie-
rung des Entwurfs eingesetzt, vom August ab fand bis Mitte Dezember die De-
tailberatung statt. Das fertige Werk erhielt die Zustimmung aller zwölf Delega-
tionen und von mehr als neun Zehnteln der Konventsmitglieder; es trägt das
Datum vom I7. September 1787.
Daß etwas gründlich anderes ins Leben treten sollte als der bisherige lockere
Bund, zeigten schon die ersten Worte des Textes. Hatte die Konföderationsak-
te noch alle Gliedstaaten aufgezahlt, so hieß es nun in der Präambel: ››Wir, das
Volk von Amerika, von der Absicht geleitet, unseren Bund zu vervollkommnen,
die Gerechtigkeit zu verteidigen. die Ruhe im Innern zu sichern, das allgemeine
Wohl zu fördern und das Glück der Freiheit uns selbst und unseren Nachkom-
men zu bewahren, setzen und begründen diese Verfassung für die Vereinigten
Staaten von Amerika.-«`" Damit war die Ebene der Gliedstaaten außer acht ge-
lassen, es waren die Individuen, die Amerikaner, die handelten. Die Union wur-
de insgesamt kräftig gestarkt. Ihr wurde der Gesamtbereich der Außenpolitik
einschließlich der Außenhandelspolitik zugewiesen, sie erhielt das Recht der
Steuereinziehung und der Zollerhebung, sie durfte die Milizen der Einzelstaaten
kontrollieren und gegebenenfalls requirieren, und sie konnte alle diejenigen Ge-
setze erlassen, die sie für notwendig und angemessen hielt, um die ihr durch die
Verfassung vorgeschriebenen Aufgaben zu erfüllen. Den Gliedstaaten wurden
116 IV. Nordaräilia bis zur Gründung der Unifli _ _ 7
Dir. Rf\TıFiit/\'i'ıoNsnı«;ßA'i'ı*ia
Die Verfassung sollte nach Ratifizierung durch eigens dafür gewählte Staats-
konvente in Kraft treten. Hatten neun dieser Gremien ihre Zustimmung erteilt,
_H _ gig Die Ratifikationsdebatte 4 102
so galt sie für die betreffenden Staaten. Sogleich nach Bekanntwerden des Tex-
tes setzte eine lebhafte öffentliche Diskussion ein, die ein knappes Jahr dauerte.
Die Befürworter der Vorlage nannten sich Federalists. Sie trugen ihre Be-
zeichnung zu vollem Recht, da sie eine ausgewogene föderalistische Ordnung
an die Stelle des lockeren bisherigen Verbandes setzen wollten. Zentralisten wa-
ren sie nicht, ließen sie den Gliedstaaten doch weitgesteckte Kompetenzen.
Ihren Anhang hatten sie vor allem in den küstennahen Gebieten und in den
Städten, ihre geistigen Häupter waren Alexander Hamilton und James Madison.
Beide legten zusammen mit John ]ay unter dem Pseudonym Publius in mehre-
ren New Yorker Zeitungen eine 1788 unter dem Titel ›The Federalist< auch als
Buch publizierte Serie von 85 Artikeln vor, in der sie für den Entwurf warben
und ihre Sicht der Verfassungsprobleme eingehend begründeten. Der wichtig-
ste Beiträger zu diesem Klassiker der amerikanischen Literatur war Hamilton.
Die drei Autoren betonten, daß die Union mit den Konföderationsartikeln
zerbrechen werde und daß die Annahme der Vorlage unerläßlich sei. Nur eine
kräftige Zentralgewalt könne die innere und äußere Sicherheit garantieren und
das wirtschaftliche Wohlergehen fördern. Mit großer Wärme traten sie für das
repräsentative System ein, der direkten Demokratie konnten sie nichts abge-
winnen. In einem solchen System werde die Mehrheit fast immer von einer gc-
meinsamen Leidenschaft gepackt, und die Neigung sei groß, die schwächere
Partei den eigenen Interessen zu opfern, schrieb Madison im zehnten Essay. Di-
rekte Demokratie sei von jeher der Schauplatz von Konflikten und Unruhen ge-
wesen. Dagegen stellte Madison cin idealistisches Bild der repräsentativen Re-
publik. Durch die Delegierung der Herrschaftsgewalt an eine kleine Zahl von
den Übrigen gewählter Bürger werde der Horizont der öffentlichen Meinung
erweitert, weil die Repräsentanten auf Grund ihrer Kenntnisse und Erfahrun-
gen das wahre Interesse des Landes besser erfassen könnten als die Wähler. Die
Repräsentativvcrfassung eröffne zudem die Möglichkeit, ein größeres Territori-
um zu organisieren. Damit seien auch vielfältigere Interessen zu berücksichti-
gen. Und gerade diese Interessenvielfalt schien Madison und seinen Mitstreitern
den Zwang zum gesellschaftlichen Kompromiß zu enthalten und damit der Ge-
rechtigkeit, also dem zentralen Anliegen jeden Staates, am besten zu dienen.
››In der großflächigen Republik der Vereinigten Staaten«, so schrieb Madison
im einundfünfzigsten Essay, im dem er Sinn und Funktionsweise der Gewal-
tenteilung darlegte, ››und bei der großen Vielfalt an Interessen, Parteien und
Sekten, die in ihren Grenzen existieren, kann sich eine Mehrheitskoalition der
ganzen Gesellschaft nur ganz selten auf der Basis anderer Grundsätze ergeben
als denen der Gerechtigkeit und des Gemeinwohls«93. Die Gewaltenteilung war
für die Federalist-Autoren ein wesentliches Moment zur Erhaltung der Freiheit,
sie warnten davor, sie allzu starr zu organisieren, und sprachen sich mithin für
Gewaltverschränkung aus. Einen Grundrechtskatalog hielten sie nicht für nötig,
da dies ja schon in den einzelstaatlichen Verfassungen stehe.
103 IV. Nordamerika bis zur Gründung der Union
Die Antiföderalisten - dies die ihnen von den Federalists beigelegte Bezeich-
nung - sahen in dem ganzen Vorgang der Verfassunggebung einen klaren
Bruch der Konföderationsakte. Ihnen schien die Union jetzt zu viele Kompe-
tenzen und ein zu großes Gewicht zu erhalten, und sie hielten die Gewalten-
teilung nicht für sorgfältig genug ausgearbeitet. Eine angemessene Repräsenta-
tion der verschiedenartigen Interessen werde nicht erreicht werden, im
Gegenteil würden die Mandate der Oberschicht zufallen. Über kurz oder lang
würden sich Präsident, Repräsentantenhaus und Senat gegen das Volk verbün-
dcn. »Dieses Regierungssystem wird als eine gemäfšigte Aristokratie begin-
nen«, meinte George Mason, der 1776 die Virginia Bill of Rights entworfen
hatte, ››heute ist es unmöglich vorauszusehen, ob es, wenn es erst funktioniert,
eine Monarchie oder eine kormpte Aristokratie hervorbringen wird«“". Die
Argumentation der Anti-Föderalisten war also stark von der Sorge um die De-
mokratie bestimmt.
Im jahre 1519 ließ der französische Jurist und Hofhistoriograph des 1514 ver-
storbenen Königs Ludwig XII. Claude de Seyssel seine wahrscheinlich offiziö-
se Schrift ›La grande monarchie de I"rance< erscheinen, ein Buch, das auf weite
Strecken die damalige Verfassungswirklichkeit nachzcichnete. Der Autor stellte
den Monarchen als den lirwiihlten Gottes und nur ihm verantwortlich dar und
erklärte, daß der König die volle Gewalt habe, zu tun, was er wolle. Es ware in-
dessen falsch, das Werk als frühe Verteidigung des Absolutismus zu lesen. Seys-
sel betonte, daß die königliche Macht desto aehtungswürdiger sei, ie gemäßigter
sie gehandhabt werde. Gerecht sei die Herrschaft nur dann, wenn sie sich in die
durch die Religion, die Justiz und die herkömmliche Ordnung gezogenen
Grenzen einfüge.
Nachdrücklich verwies er auf die Bedeutung der Justiz und auf ihr oberstes
Organ, das Parlament, das hauptsächlich geschaffen worden sei, um eine etwai-
ge Neigung des Monarchen zur absoluten Machtausübung zu zügeln. Zwar
könne das Parlament die Gesetzgebungsgewalt des Königs nicht mindern, aber
es könne doch prüfen, ob er sie im herkömmlichen Rahmen ausübe. So war das
Parlament zugleich Wächter der überlieferten Ordnung, der Grundgesetze des
Königreichs, und hatte damit im Staat eine bedeutende Stellung. Daneben be-
nannte Seyssel Beratungsorgane, spezielle Räte und vor allem den Allgemeinen
Die Parlamente 111
Rat, der sich aus den hervorragenden und angesehenen Persönlichkeiten der
verschiedenen Stände und aus hohen Würdenträgern zusammensetzen sollte,
also eine Notabelnversammlung war. Den Generalständen maß er keine große
Bedeutung bei.
Dıt. PAıti„\1~1t:.\ırt;
Zwar hatten sich die Stände im 15. Jahrhundert zu einer Vertretung des König-
reichs entwickelt, die nach bestimmten Regeln in den drei Ständen Klerus,
Adel und Dritter Stand gewählt wurden - das Wahlrecht der Tiers war ausge-
dehnt, da es fast alle männlichen Bewohner der Städte und diejenigen Bauern
umfaßte, die eine direkte Steuer z..ıhlten -, aber es bestand kein Zwang zur re-
gelmäßigen Berufung. Die Neigung dazu war zur Zeit Seyssels nicht mehr
sehr ausgeprägt. Vom späten 15. ].ıhrlıtındert bis 1614 wurden die General-
stände nur .lchtmal zum i/.tısaınıııcntrcten aufgefordert und damit sehr an den
Rand gedrängt. Da der König die alleinige Gesetlgebuıigsgewalt hatte, moch-
te das angehen, wenn keine besonderen Finanzprobleme auftraten: Die Steu-
erbewilligung war das wichtigste Recht der Stände. Daneben konnten sie Be-
schwerden vortragen - dazu erhielten die Ständevertreter seit H68 mit den
cahiers de doléance von ihren Atıftraggeberıı schriftliche Mandate ınit auf den
Weg.
Anders als die Stände konnten die Parlamente nicht zurtickgedrangt werden,
da sie für die Rechtspflege unersct'/.lich waren. Das Pariser Parlament war zu
Beginn des I3. Jahrhunderts .tus ;_{an'/ praktischen Gründen aus der curia regis
.ıligespalteıi worden und ltihrte »einen Namen seit I239. Zunächst war es der al-
leinige oberste Gerichtshof I'r.ıı1kreiclıs. lm líjahrhundert wurden dann wei-
tere Parlamente in ein'ı,clnen Teilen der Monarchie gebildet oder, in neuerwor-
benen Gebieten, beibehalten und dem in Paris gleichgestellt, so daß es im IS.
_]ahrhundert schließlich vierzelın P.ır|.ınıente gab. Der Sprengel dessen von Paris
war am atısgedelintesten untl deckte etwa ein Drittel Frankreiclıs ab; nur als
Pairshol' war Paris für die gesamte Monarchie zuständig. jedes Parlament be-
stand aus mehreren Kammern, und die Konıpeten'/.en waren weitgesteckt. Das
Personal, die Parlamentsräte, mußte juristische Fachkenntnisse haben und stand
in einem reinen Dienstverliíáltnis ı,tım König. Indessen trat im Laufe der Zeitei-
ne Verkrusttıng ein. Durch Äıiıterkatıf und Weitergabe der erworbenen Ämter
an Söhne und Sclıwiegcrsöhne bildete sich eine eng versippte adlige juristcnka-
ste heraus, die mit dem Übrigen Aıntsatlel vielfältig verbunden war, ganz sicher
keine juristische Leisttıngselite tl.ırstellte_ aber ein ausgesprochenes Selbstbe-
›l†12 V. Dasfrühneuzeitliche Kontinentaleuropa
wußtsein hatte. Über die Rechtspflege hinaus hatten die Parlamente auch admi-
nistrative Befugnisse. An erster Stelle ist hier das Recht der Gesetzesregistrie-
rung zu nennen, das ihnen von der Krone ausdrücklich als Pflicht auferlegt
worden war. Es sollte eine Stelle bestehen, an der alles geltende Recht aufbe-
wahrt wurde. Zusammen mit der Registrierungspflicht war dem Parlament ge-
boten worden, sich auch materiell zu den Gesetzen zu äußern. Das geschah
durch sogenannte Remonstranzen, die nach Ansicht der Krone freilich unver-
bindlich waren. Was zunächst als schlichte Dienstaufgabe gemeint war, wurde
in den Augen der Parlamentskaste bald zum wichtigen Vorrecht. Es entwickel-
te sich die These, daß die Registrierung unerläßlich für die Rechtskraft eines
Gesetzes sei, also der Promulgation, der öffentlichen Kundmachung, entspre-
che. Mit der Kombination von Remonstranz und Registrierung sahen sich die
Parlamente letztlich als Mitgesetzgeber. Gewiß, der König mußte ihm vorgetra-
gene Bedenken nicht aufnehmen - oft tat er es -, er konnte dem Parlament ei-
nen Gehorsamsbefehl erteilen und, wenn auch danach die Registrierung nicht
erfolgte, persönlich im Parlament erscheinen und in feierlicher Sitzung, durch
ein lit de justice, die Registrierung erzwingen. Selbst das gelang nicht immer,
und auf jeden Fall fügten die Parlamente einer derart erzwungenen Verzeich-
nung einen besonderen Hinweis darauf bei. Derartiges Recht galt als minder-
rangıg.
Die zentrale Stellung der Parlamente hatte zur Folge, daß ein reiches Schrifttum
über sie entstand und daß sie selbst auch ihre Stellung häufig präzisierten, so bei
der Begründung von Remonstranzen. 1549 etwa hielt der Parlamentspräsident
Olivier König Heinrich II. vor, daß das Parlament ursprünglich eine Versamm-
lung gewählter und vom König bertıfener Männer gewesen sei, die über alle we-
sentlichen Staatsangelegenheiten beschlossen habe. Auch jetzt noch sei es der
wahre Senat des Königreiches. Der Humanist Etienne Pasquier stellte in seinen
›Recherches de la France< 1565 das Parlament als Gegengewicht zur Krone dar,
das seinen Ursprung in der Zeit der Merowinger habe. Für ihn war es unbe-
stritten, daß die Willensakte des Königs erst Gesetzeskraft hatten, wenn sie von
dieser Körperschaft beglaubigt waren. Erst dann werde das Volk dem vom Kö-
nig gesetzten Recht ohne Murren folgen. In zum Teil enger Anlehnung an Seys-
sel und Pasquier, in der Gesamtsicht aber durchaus eigenständig, argumentierte
DuHaillant in seinem Buch ›De l'Estat et succez des affaires de France< 1570.
Ftir ihn hatte Frankreich eine gemischte Verfassung. Das monarchische Element
wurde durch den König repräsentiert, der die alleinige Rechtsquelle war, das
aristokratischc durch die verschiedenen Räte des Herrschers, die Parlamente,
die Oberrechnungskammern und durch andere hohe Amtsträger, das demokra-
tische durch die General- und Provinzialstände sowie die städtische Selbstver-
waltung.
f _, __* _] W W __ Die Monarchomachen W113
Das Übergreifen der Reformation auf Frankreich, von Genf aus und im Geist
Calvins, akzentuierte die Verfassungsdiskussion. Die Bewegung begann in den
30er Jahren und erreichte ihren Höhepunkt um 1560, sie erfaßte den Süden sehr
viel stärker als den Norden und fand im Adel und in der städtischen Oberschicht
beachtliche Resonanz; der Übertritt eines Grundherren zum neuem Glauben be-
deutete vielfach, daß auch die jeweilige Bevölkerung diesen Schritt tat.
Um 1560 dürfte etwa jeder vierte Franzose Protestant gewesen sein. Staatliche
Verfolgungsmaßnahmen begannen schon 1538, aber je mehr sich die Bewegung
ausbreitete, desto weniger griffen sie. Die Einheit Frankreichs schien bedroht.
Die gespannte Situation entlud sich in vielerlei Gewalttaten, deren schrecklich-
ste die ›Pariser Bluthochzeit< im August 1572 war, und in insgesamt acht Religi-
onskriegen, die mit großer Härte geführt wurden. Der erste begann 1562, der
achte und längste endete 1598. Erst dann konnte Heinrich IV., lange das Haupt
der Protestanten, König seit 1589, Katholik seit 1593, die Beruhigung erreichen.
Das bedeutendste Dokument hierbei war das im April 1598 erlassene Edikt
von Nantes. Allerdings war das Problem damit nicht gänzlich ausgeräumt, bis
1629 spielte es noch wiederholt eine wichtige Rolle. Die konfessionellen Ge-
gensätze im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts gewannen noch dadurch an Ge-
wicht, daß sie sich mit den Rivalitäten innerhalb des Hochadels, der Krise der
Dynastie Valois und außenpolitischen Problemen vermengten.
Die MONARCHQMACHEN
Calvin lehrte, daß Gottes Wort die Menschen zum Gehorsam auch gegen Für-
sten verpflichtete, die nichts weniger als ihre Pflicht täten. Die ››Züchtigung ei-
ner zügellosen Tyrannei« sei ››ein Werk der Rache Gottes«, keinem Privatmann
sei dies aufgetragen, er habe zu gchorchen und zu leiden. Gab es aber irgendwo
Volksvertretungen, ››die eingesetzt wurden, die Willkür der Könige einzu-
schränken, wie bei den Römern die Volkstribunen oder in unseren Königrei-
chen die Stände«, so sei es deren Pflicht, ››dem Übermut der Regenten zu wi-
derstehen«. Gäben sie nach, so verrieten sie die Freiheit des Volkes, zu deren
Schutz sie doch nach Gottes Willen bestellt seien95.
Calvins Schüler konnten sich also auf eine große Autorität berufen, wenn sie
für Widerstand eintraten, aber sie schöpften in weit stärkerem Maße aus der
ständischen Literatur des 16. Jahrhunderts. Diese Autorengruppe wurde von
l14_ V. Das frührıeuzeitliche Kontinentaleuropa
Die ständische Literatur erreichte ihren letzten Höhepunkt in der Mitte des 17.
Jahrhunderts während der vierjährigen heftigen Auseinandersetzung, die be-
L6 V. Das frühngu_zcitliehe Kontinflıtaleuropa _ _ _ *_ _?
trächtliche Teile des Adels unter Fühnıng von Angehörigen des Hochadels und
des Parlaments von Paris zwisehen 1648 und 1652 mit der Krone ausfochten, in
der sogenannten Fronde. Die Bewegung richtete sich gegen die machtvolle Stel-
lung des aus Sizilien stammenden Kardinals Mazarin, der seit 1641 als Nachfol-
ger Richelieus und Erster Minister die Staatsgeschäfte leitete und heimlich mit
der Regentin Anna, der Mutter des minderjährigen Königs Ludwig XVI., ver-
heiratet war, gegen die Finanzpolitik - 1648 war Frankreich zum Staatsbankrott
gezwungen _ und gegen die Steuerpächter, sie konnte damit auch viel städti-
schen Unmut mobilisieren, namentlich in Paris.
Den Anführern ging es aber vor allem darum, die seit Heinrich IV. kräftig in
Gang gekommene Entwicklung zum Absolutismus wieder umzulenken zu ei-
ner ständisch beschränkten Monarchie. Der Kampf wurde wesentlich in und
um die Hauptstadt ausgefochten, wiederholt gewaltsam, stets publizistisch, und
er wurde schließlich im Oktober 1652 militärisch zugunsten der Krone ent-
schieden - Bordeaux kapitulierte erst im juli 1653.
In diesen wenigen jahren entstand ein breites Schrifttum für die eine oder die
andere Seite. Das Parlament reklamierte für sich das letzte Wort in Staatsangele-
genheiten. In einer im Sommer 1648 vorgelegten Charta verlangte es gemeinsam
mit den anderen hohen Gcrichtshöfen Frankreichs, daß künftig keine Steuer oh-
ne seine Zustimmung erhoben, kein Amt ohne seine Billigung errichtet oder auf-
gelöst werden dürfte, cs forderte weitgehende finanzpolitšschf: Mitwirkungs-
rechte, die Kontrolle über die Vergabe und den Widerruf von Privilegien und
anderes. Eine Flugschrift von 1652, die ›Véritables Maximes< eines anonymen
Parlamentsrates, faßte die Argumentation bündig zusammen und beharrte dar-
auf, daß das Parlament der Sache nach Generalstände auf kleinem Fuß sei. Die
grundsätzlichste Flugschrift der Fronde legte wohl Claude joly vor, sie war
überschrieben als ›Recueil de maximes véritables... pour l`institution du roi<. jo-
l_v bejahte zwar die göttliche Fundierung der Macht, bestritt aber das göttliche
Recht des Monarchen. Herrschaft beruhe auf Vertrag, und das Volk könne die
verliehene Macht wieder entziehen, wenn der Monarch die von ihm übernom-
mene Verpflichtungen - Gerechtigkeit und Schutz - nicht erfülle. Der Gehorsam
des Volkes gegenüber dem Herrscher entspringe dem Gehorsam des Königs ge-
genüber denı Gesetz, ein Gesetz aber sei, als Vertrag, nur gültig, wenn das Parla-
ment es registriert habe. Der König sei verpflichtet, den Einwendungen des Par-
laments sich zu beugen. Auch fürjoly hatte Frankreich eine Mischverfassung.
Die Frondc stand zeitlich in genauer Parallele zu den schwersten Kriseniah-
ren Englands um 1649, und von der englischen Entwicklung gingen auch lm-
pulse zur Formierung der Opposition aus. Es ist aber festzuhalten, daß die
während dieses heftigen Konflikts der Krone entgegengehaltene Argumentati-
on auf der seit Claude de Sevssel ausgebauten Selıweise beruhten. Zur erfolgrei-
chen Revolution entwickelte sich die Fronde nicht. Sie blieb ein revolutionärer
Ansatz. Das lag nicht daran, daß sie konzeptionell weniger gewollt hätte als das
L šrlelt›_n_ ___1_1_Z
Unterhaus - die Ansprüche der Parlamente waren weit gesteckt. Die unter-
schiedliche Entwicklung auf beiden Seiten des Kanals ergab sich aus der ver-
schiedenartigen Trägerschaft der Bewegung. In England wurde die Opposition
von großen Teilen der Elite getragen und fand deshalb überall im Lande Rück-
halt, in Frankreich war das soziale Einzugsfeld der Parlamentskaste und des
Hochadels naturgemäß weniger ausgedehnt. Ein gewichtiger Unterschied war
zudem, daß die Fronde weniger energische Führer fand als die britische Revo-
lution. Das war vor allem darin begründet, daß es eben nicht ein Parlament,
sondern mehrere gab, daß Einheitlichkeit der Aktion sehr viel schwerer herzu-
stellen war und daß die Parlamente nur Gerichtshöfe waren.
Der Ausgang der Fronde leitete eine erhebliche Schwächung der Parlamente
ein. Schon im juli 1652 hieß es in einer königlichen Verordnung, daß alle Macht
dem König gehöre, sie stamme von Gott und niemand habe Anteil an ihr. In der
Folge betonte die Krone ihr göttliches Recht sehr und baute ihre Stellung unter
Inanspruchnahme voıı aus dem Notstand begründeten außerordentlichen Be-
fugnissen stark aus. Seit 1665 durften sich die Parlamente nicht mehr Souveräne
Höfe nennen, sondern mußten sich mit der Bezeichnung Hohe Höfe begnügen,
bis 1673 wurde die Rcgistrierungspflicht durchgesetzt. Der immer wieder gegen
diese Entwicklung eingelegte Widerspruch half nichts, aber die Kritik ver-
stummte doch nicht, wenngleich auf der anderen Seite viel Kraft darauf ver-
wandt wurde, den Absolutismus theoretisch zu untermauern.
Harte Kritik am Absolutismus kam zunächst von Emigranten, namentlich in
Zusaınmcnhang mit dem Ausbruch des Pfälzischen Krieges. Hier sind vor al-
lem die 1689 erschienenen ›Soupirs de la France< von Michel Le Vassor zu nen-
nen, die mit dem Hinweis auf das glückliche Ereignis der Glorious Revolution
in England begannen. Das müsse in allen guten Franzosen den Wunsch nach
Rückkehr zur Freiheit wecken. Breit trug der Autor seine Kritik vor, im An-
schluß daran entwickelte cr den Gedanken, daß die gegenwärtige Regierungs-
weise, eine oricıitalisclu: Despotic. der französischen Verfassung fremd sei und
daß Besserung nur eintreten werde, wenn Frankreich entschlossen zu seiner al-
ten Ordnung zurückkehre, also zu den Grundsätzen, daß der König vom Volk
gewählt und seine Macltt beschrlinkt sei. Lc Vassor setzte nicht auf die Parla-
mente, die ihm personell nicht mehr geeignet schienen, ihrer wahren Aufgabe
zu entsprechen, sondern auf die Gcneralstände.
Fi†.Ni-;ı.t›N
Auch in Frankreich selbst gab es eine Reihe von Schriftstellern, die sich in die-
sem Sinııe äußerten. Den größten Einfluß hatte Fenelon, François de Salignac
118 V. Das frühneuzeitliehe Kontinentaleuropa
de la Mothe, ein Geistlicher, der 1689 zum Lehrer der Enkel Ludwigs XIV. und
1695 zum Erzbischof von Cambrai ernannt wurde. Königliche Ungnade zog er
sich zu, als 1699 sein Roman ›Les aventures de Télémaque<, ein Fürstenspiegel,
der mit gutem Grund als Kritik an der Regierung des Sonnenkönigs verstan-
den wurde, gegen seinen Willen veröffentlicht wurde. Fénelon band alles poli-
tische Handeln ausschließlich an die Orientierung am Staatswohl und erinner-
te an die wahre Form des Königreiclıes. Er verlangte die Wiederherstellung der
Generalstände und deren Berufung alle drei Jahre, also Periodizität; sie sollten
eine umfassende Beratungskompetenz erhalten. Das war die Forderung nach
cler konstitutionellen Monarchie. allerdings sollte die Dreiteilung der Stände
dabei nicht angetastet werden. Immerhin trat er für den Abbau zahlreicher Pri-
vilegien ein und warb auch sonst für eine nachhaltige Modernisierung Frank-
reichs. Große Wirkungeıı erzielten auch seine ›Directions pour la conscience
d'un roi< von 1710, die nach ihrer Publikation in Amsterdam 1734 in Frank-
reich sogleich für Jahrzehnte unterdrückt wurden, aber zahlreiche Auflagen er-
lebten.
Währentl der Auseinandersetzung um die gegen den Jansenismus gerichtete
Bulle Unigenitus von 1713 meldeten die Parlamente ihre Ansprüche erneut an,
und einen Tag nach dem Tode Ludwigs XIV. erklärte das Parlament von Paris
am 2. September 1715 auf Wunsch des Herzogs Philipp von Orleans die testa›
mentarischen Bestimmungen Ludwigs über die Einsetzung eines Regentschafts-
rates für ungültig, da sie den Grundgesetzen der Monarchie nicht entsprachen.
Nur so konnte Philipp selbst für den erst fünfjährigen Ludwig XV. die Regent-
schaft erlangen. Dieser Vorgang ermutigte das Parlament dazu, seine alte Stel-
lung wieder zu behaupten. Im juli 1718 sprach es erstmals seit jahrzehnten da-
von, es sei der einzige Kanal, durch den die Stimme des Volkes vor den König
gelangen könne, und in der Folge ging es davon aus, daß es die Letztentschei-
dung über die Registrierung habe. Der Regent und spater der junge König
kämpften dagegen an, ohne doch die Entwicklung bis zu dem Punkt zurück-
fiihren zu können, bis zu dem Ludwig XIV. 1773 gelangt war. Dennoch blieb
das Verhältnis zwischen Krone und Parlament erträglich.
Die Ansprüche des Parlaments wurden auch in der politischen Literatur ge-
legentlich vorgetragen und manchmal sogar in der Akzentuierung wie zur Zeit
der Fronde. In seiner Geschichte der französischen Pairschaft sprach Le La-
boureur 1740 davon, daß das Pariser Parlament als Pairshof, nicht als oberstes
Gericht, die Nation und ihre alte Verfassung reprasentiere und dalš es nicht die
Generalstande vertrete, sondern über ihnen stehe. Der Autor stürzte seine Ar-
gumentation ınit dem Rückgriff auf die fränkische Zeit: Der Adel, für ihn iden-
tisch mit den Franken, habe beider Einwanderung nach Gallien das Institut des
Marsfeldes aus Deutschland mitgebracht, die Vorform des Parlaments sei mit-
hin nur einen Augenblick junger als das Königtum. Dabei lehnte er sich eng an
die Thesen des Grafen Henri de Boulainvilliers an, der in mehreren erst nach
_ Montesquifru _* 119
Mo.\n'tsQUıF.U
Recht, alles zu run, was die Gesetze nicht verboten, mußte stets sorgfältig gesi-
chert werden, indem man Schranken gegen den Mißbrauch der Macht errichtete.
Damit kam Montesquieu zur Gewaltenteilung. Wie Locke kannte er die Ge-
setzgebung, die Exekutive in inneren Angelegenheiten und die Exekutive hin-
sichtlich der auswärtigen Beziehungen, schließlich die Judilsative. Wären die
drei Gewaltcn in einer Hand vereinigt, so wäre die Sache der Freiheit völlig
verloren, sie müssen vielmehr geteilt sein - hier ist die Rede von distribution ~
und zwar dergestalt, daß sie nicht schroff nebeneinanderstehen, sondern inein-
andergreifen und sich ergänzen. Nur die Rechtspflege nahm Montesquieu
deutlich aus der Gewaltverschränkung heraus. Wenn die richterliche Gewalt
››n'est pas séparée« von der gesetzgebenden und der vollziehenden Gewalt,
kann Freiheit nicht existieren“. Nur an dieser Stelle redete Montesquieu von
›séparation<. Diese terminologische Handhabung zeigt, wie wichtig ihm die
Sonderstellung gerade der Justiz war. Hinsichtlich der sinnvollsten distributi-
on orientierte er sich an England, dessen politische Verhältnisse er ja zwei Jah-
re aus der Nähe beobachtet hatte. Sie beschrieb er im sechsten Kapitel des
elften Buches, freilich in idealistischer Stilisierung. Die eigenständige Stellung
der Krone mit Vetorecht bei der Gesetzgebung und ein die Exekutive kon-
trollierendes Zweikammerparlament waren für ihn die entscheidenden Ele-
mente der Gewaltenteilung. Er verwies darauf, daß die drei Organe drei ge-
sellschaftlichen Ebenen entsprächen, König, Adel und Volk. Die Rolle der Ari«
stokratie hob er besonders hervor, da sie den Ausgleich zwischen den beiden
anderen Faktoren am besten bewirken konnte. Das Vorhandensein einer sol-
chen Zwischengewalt garantierte den Bestand einer Monarchie seines Erach~
tens am besten und konnte ihr Umschlagen in eine Despotie am ehesten ver-
hindern.
Montesquieus persönliche Position ist nicht ganz leicht zu bestimmen. Man hat
in ihm wiederholt selbst einen Republikaner sehen wollen, weil er die antiken
Republiken eingehend behandelte, es ist aber viel plausibler, daß er der konsti-
tutionellen Monarchie zuneigte, ohne das doch ausdrücklich zu sagen. Immer~
hin sprach er sich gerade im Zusammenhang mit der englischen Verfassung über
die freiheitssichernde Funktion der Gewaltenteilung aus. Auf die Freiheitssi-
cherung aber kam es ihm vor allem an. So referierte er in diesem eingehenden
Kapitel nicht nur neutral eine denkbare Position, sondern erörterte einen Sach-
zusammenhang, der ihm sehr empfehlenswert erschienen sein muß. Das große
Ansehen, das er genoß und immer noch genießt, entsprang aber natürlich nicht
allein dem England-Kapitel im ›Geist der Gesetze<, sondern galt dem gesamten
breit angelegten Buch, das viel mehr erhält, als hier erwähnt werden mußte, und
war schon durch seine älteren Arbeiten begründet. Verfassungspolitisch sagte er
nichts, was nicht längst vor ihm schon vielfach von anderen dargelegt worden
war.
Parlamentspublizistik 121
Die ENCYcLoPF.ı›ıt1
Eines der wichtigsten Medien für die Werbung zugunsten einer gemäßigten
oder gar konstitutionellen Monarchie nach englischem Vorbild war die von De-
nis Diderot zwischen 1751 und l78O herausgegebene ›Encyclopédie<, ein um-
fassendes Lexikon der Wisseııschaften, Künste und Gewerbe. Wer hier politi-
sche Stichwortc nachschlug, erfuhr, daß der Mensch frei geboren, die Gleichheit
vor dem Gesetz geboten sei, die des Besitzes dagegen nicht, daß das Eigentum
geschützt werden müsse, daß die Regierung gesetzmäßig zu handeln habe und
auch der Monarch den Gesetzen unterworfen sei, daß Freiheit nur im Rahmen
der Gesetze bestehen könne und daß Herrschaft entweder auf Vertrag oder, we-
niger empfehlenswert, auf Usurpation beruhe, nicht aber auf transzendentaler
Legitimation. Die wichtigsten politischen Artikel wurden von Diderot selbst
und von Louis de jaucourt geschrieben, sie waren den Ansichten des 1748 ver-
storbenen schweizerischen Rechtsgelehrten jean-Jacques Burlamaqui vielfach
verpflichtet; über diesen Mann ist weiter unten zu handeln.
Die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts wieder sehr lebhaften innenpolitischen
Auseinandersetzungen wurden sehr breit rezipiert, uııd viel Beachtung fand
spater auch die amerikanische Revolution. All das bot viel Lehrmaterial für mo-
dernes politisches Denken.
Der oben schon kur'/_ erwalınte Unigeııitus-Streit, in dem es ganz kurz gesagt
um das Verhältnis von geistlicher und weltlicher Gewalt ging, zog sich durch
jahrzehnte hin und wurde zeitweilig mit erheblichem publizistischen Aufwand
ausgcfochten. Vl/Lihrend die Rcgicruııg sich schon l7l3 mit der Kurie verstän-
digt hatte, blieben die P.1rl.ımente hei ihrer kompromiíšloscn Verteidigung des
Rechts der weltlichen Obrigkeit und bckämpften die Bulle Unigenitus beharr-
lich. Um 1750 eskalierte der Streit und führte 1753 zur Verbannung des Pariser
Parlaments, was dessen Popularitiit erheblich steigerte.
Neuerlich wurden Schriften vorgelegt, die die Stellung der Parlamente in dem
oben referierten Sinne bespracheıı. ln ›Lettres historiques< zu diesem Thema,
die wahrscheinlich von dem Anwalt Le Paige stammten, wurde unter anderem
die auch frtiher schon .ıngeklungene These entschieden verfochten, daß alle Par-
lamente eine Einheit bildeten. Dieser Gedanke fand große Resonanz, und die
Parlamente machten ihn sich ganz zu eigen. Zwar gaben sie zu, daß der König
I22 W V. Das frühneiE§tlicheilíontingerıtaleuropa rf J V
seine Gewalt von Gott habe - was ein Operieren mit der Vertragslehre dann
aber nicht ausschloß - und alleiniger Gesetzgeber sei, aber sie beharrten auf ih-
rer Mitsprache durch Prüfung und Registrierung, da sie als Nachfolger der alten
Reichsversammlungen die Nation vertraten. Diese Sehweise wurde in vielen
Remonstranzen dargelegt, die häufig eine breite Leserschaft fanden. Das Pariser
Parlament betonte 1753, daß sich alle Gesetze an den Grundgesetzen auszu-
richten hätten und daß diese Grundgesetze auf Vertrag zwischen König und
Volk beruhten. In der Folge wurden diese Grundgesetze genauer definiert, und
dabei wurden auch individuelle Grundrechte genannt.
In den frühen 70er Jahren erreichte die Diskussion über die Parlamente einen
Höhepunkt. Kanzler Maupeou suchte eine gänzlich neue Gerichtsorganisation
mit besoldeten Richtern zu schaffen. In den Remonstranzen dazu hieß es unge-
scheut, die gegenwärtige Regierung strebe ein Willkürregiment an. Die Parla-
mente betonten, daß die Aufgabe jeder Regierung darin bestehe, den Völkern
das größtmögliche Maß an Glückseligkeit zu verschaffen. Sie sollten »ihren Un-
tertanen das Leben, die Freiheit, den ungestörten Genuß ihres Eigentums und
ihrer Güter sichern«, wie es 1771 in der Remonstranz des Cour des Aides
hieß“. In ihrem Widerstand gegen die monarchischen Ansprüche verwiesen die
Parlamente zunehmend darauf, daß die Nation sich durch Generalstände
äußern müsse. Der in dieser Diskussionsphase eintretende Politisierungsschub
war sehr stark, und die sehr lange ständisch geprägte Argumentation wurde zu-
nehmend mit liberalen Vorstellungen angereichert. Der Druck der Öffentlich-
keit zugunsten der Strukturen, die die Parlamente als Verfassung Frankreichs
darstellten, wurde so stark, daß Ludwig XVI. es 1774 bei seiner Thronbestei-
gung für richtig befand, die Reform von 1771 aufzuheben. Die Parlamente hat-
ten sich einstweilen behauptet.
Die Politisierung erhielt durch die amerikanische Revolution weitere Impulse. Seit
1776 erschien eine Zeitschrift ›Affaires de L'Angleterre et de l'Amerique<. Zwi-
schen 1776 und 1785 wirkte Benjamin Franklin als Agent und, nach Abschluß des
Allianzvertags im Februar 1778, als Bevollmächtigter der nordamerikanischen
Freistaaten in Frankreich und gewann großen Einfluß auf die reformwilligen
Kräfte, namentlich auf den Grafen Mirabeau, der schließlich mit einer Sammlung
politischer und philosophischer Schriften über Nordamerika hervortrat.
Franklins Nachfolger wurde Thomas Jefferson. Dieser arbeitete eng mit dem
Marquis de Lafayette zusammen, der als Freiwilliger von 1776 bis 1779 und
Rousseau, Burlamaqui und Vattcl 123
Blicken wir nun kurz auf die politisclıen Vorstellungen von Jean-Jacques Rous-
seau. Der gebürtige Genfer verbrachte seine Kindheit in seiner Vaterstadt, seine
Jugendjahrc vornehmlich in S.ıvo_\'en, bis er zu Beginn der 40er Jahre nach
124 _V. Das friihneuzeitliche Kontinentaleuropa A
strich die Volkssouveranität kräftig: Nur die Nation kann die Verfassung auf-
stellen, schützen und verbessern, nur sie kann nach eigenem Belieben alles re-
geln, was die Regierung betrifft. Und nur für die Nation, ihre Wohlfahrt und
ihr Glück ist die Regierung da.
Atrnusıus
Unter den politischen Theoretikern in Deutschland ist als erster der Herborner
Rechtsgelehrte johannes Althaus zu nennen, mit latinisiertem Namen Althusi-
us. Er veröffentlichte 1603 seine ›Politica methodice digesta<. Diese ›Politik< war
konsequent von einem nicht-absolutistischen Gemeinwesen aus konzipiert.
Vom Wirkungsort des Verfassers her war das nahe-liegend. Herborn war die
Hochschule der reformierten Grafschaft Nassau-Dillenburg, gedacht als Aus-
bildungsstätte für die Beamten und Pfarrer aller reformierten Stände im Reich,
und der Gründer, Graf johann, war der Bruder 'Wilhelms von Oranien, dcr von
1567 ab bis zu seiner Ermordung 1584 der wichtigste Anführer des niederländi-
schen Widerstandes gegen die Spanier war.
Aus der jungen Republik der Niederlande bezog Althusius ebenso Anregun-
gen wie aus der Verfassungswirklichkeit des Reiches. Aber seine Darlegungen
hatten keinen deskriptiven Zweck, sie waren normativ. Für Althusius war der
Mensch ganz selbstverständlich homo politicus, der nur in Gemeinschaft leben
konnte. Die umfassendste öffentliche Lebensgemeinschaft war der Staat, darun-
ter standen das Land und die Gemeinden. Jede dieser Lebensgemeinschaften
hatte eine Obrigkeit, sie war für deren Lenkung verantwortlich und handelte
dabei im Auftrag Gottes, dem allein die höchste Gewalt zukam. Die Staatsge-
walt war die höchste Gewalt auf Erden, sie war Eigentum des Staatsvolks und
zerfiel in zwei Teile, den sumnıus magistratus und die Ephoren. Ersterer reprä-
sentierte die Einheit des Staates, letzterer seine Glieder. Aufgabe der Ephoren
war es, den summus magistratus zu wählen und ihm die Herrschaft unter Bin-
dung an die Gesetze, die Orientierung an der Gerechtigkeit und an etwaige son-
stige Bedingungen zu übertragen, also im Namen des Volkes einen Herrschafts~
vertrag abzuschließen. Sie hatten des weiteren über die Rechte des Volkes zu
wachen und gegebenenfalls die höchste irdische Gewalt abzusetzen, wenn die-
se zur Tyrannis entartet sein sollte. Der summus magistratus war nicht nur Lei-
ter der Exekutive, er war auch Gesetzgeber, allerdings nur mit Zustimmung der
Ephoren. Da die Ephoren die Repräsentanten der Glieder des Staates waren, ka-
men sie durch deren Beschluß ins Amt. Die öffentliche Gewalt baute sich also
ganz konsequent von unten nach oben auf.
7 _ Vorbild England
Althusius` System beruhte auf der Volkssouveränität, aber alle Macht war von
Gott abgeleitet. Der summus nıagistratus konnte eine Person sein - dann be-
stand die Monarchie, und die Wahl war auf die Erbfolge reduziert -, oder ein
Kollegium - dann existierte eine Aristokratie - oder eine auf bestimmte Zeit ge-
wählte Personengruppe, so daß eine Demokratie bestand. Diesen drei Regie-
rungsformen stand Althusius neutral gegenüber, da sie alle auf der Volkssouver-
iinität beruhten.
In der Diskussion über die Gestalt des Reiches fanden die Kategorien des Al-
thusius einige Rcsoııaıız. Dabei wurde durch Hermann Kirchner die Begriff-
lichkeit von ınajestas realis, die der Allgemeinheit verblieb, und maiestas perso-
nalis, die beim summus magistratus lag, entwickelt. Über all das wurde im 17.
und 18. Jahrhundert eine ausgedehnte und vielschichtige Diskussion geführt,
die aber ganz im akademischen Bereich blieb, so daß Johann Jakob Moser sie
schließlich 1766 mit Recht ein unnützes Schulgezänk nannte. Viele Autoren de-
finierten das Reich dabei mit den Kategorien der Mischverfassung. Das Kon-
zept der Volkssouveríinitlit verlor schnell an Boden, und es gab eine ausgepräg-
te Neigung zur Sumınierung der Gewalten; das summum imperium sollte
möglichst ungctcilt in einer ll.ıııtl liegen. Jeder .ınders konstruierte Staat galt Sa-
ınuel Pufendorf beispielsweise 1667 als krank, als res publica irregularis. Der
starke Staat fast/.inierte die Melırlıeit der Diskussionsteilnehmer. Das entsprach
genau den Realitäten der staatliclıcn lfııtwicklung. Die Herrscher in den einzel-
nen Territorieıı gewannen an Boden, die Stände verloren allmahlich an Bedeu-
tung. Allerdings waren die Verlıiiltııissc iıı den vielen Gliedern des Reichs so un-
terschiedlich, dafš es kaum nıogliclı ist, einen Generalneııner zu fornıulieren.
Voıu±ıi.ı›I¬1.\it;ı_A.\iı›
Die Diskussion uber offentliche Dinge blieb natürlich nicht auf akademische
Kreise und wissenscliaftliclie l.iter.ıtur beschränkt. Die '/.eitlliufe wurden auch
ptıblizistiscli beobachtet. Dem dienten liiııblattdrucke, Flugschriften, die frühen
'/.eittıngen - in Leip'/,ig erschien 1650 die erste Tagesıeitııng Europas - und Zeit-
schriften, so das ab 1635 in lir.1nkfuı*t publizierte Theatrum Euopacum. In dic-
sen Medien fand die englische Revolution ein außerordentlich breites Echo.
Außer dem Dreilšigililirigen Krieg und den Türkeniügcn wurde im mittleren
J.ıhrhundcrtdrittel kein Thema so hiiufig angesprochen wie dieses. Dabei inter-
essicrten die Motive der Rcvolutionlire weniger als die Auffassungen des Ko-
nigs, und das Urteil über das Jahr io-49 war besonders negativ. ln der Folge gab
128 7 V.ADas frühneuzeitliche Kontinentaletıropa _» g _ _ _
Eine sehr wichtige Rolle für die Ausbreitung modernen politischen Denkens
spielte Christian Wolff, Professor in Halle, Marburg und dann wieder Halle
und unter seinen Zeitgenossen hochangesehen. Mit vollem Recht wurde dieser
Mann vor zwei Jahrzehnten von Marcel Thomann als früher Verfechter des frei-
heitlichen Rechtsstaates in Deutschland bezeichnet. Er war der wichtigste
Gründervater des deutschen Liberalismus, wenn er dies Konzept auch nicht
groß plakatierte, sondern es eher liebevoll andeutete und sich im übrigen hinter
dem akademischen Schreibtisch hielt; er agierte als Gelehrter, nicht als politi-
scher Schriftsteller.
Wolff vertrat die üblichen naturrechtlichen Vorstellungen; die Menschen sei-
en moralische Wesen, absolut frei und gleich, die Staatsbildung solle ihnen das
moralische Leben gewährleisten und diene der Förderung der Glückseligkeit.
lm Staatsvertrag erhalte der Herrscher nur zugebilligt, was er sich ausbedinge,
der Mensch habe angeborene Rechte, die ihm niemand nehmen könne, hierher
gehörten Freiheit und Eigentum.
In der Staatsformenlehre übernahm Wolff den klassischen Katalog des Aristo-
teles, sprach also von den positiven Formen Monarchie, Aristokratie und Poli-
teia, von den Entartungsformen Tyrannis, Oligarchie und Demokratie. Mit be-
130 V. Das frühneuzeitliche Kontinentaleuropa
sonderer Wärme verweilte er bei der Politeia, die er als gemäßigte Monarchie
mit zahlreichen Herrschaftsteilnehmern beschrieb. Er nannte sie auch die ge-
mischte Regierung. In seiner Schrift ›Vernünfftige Gedanken von dem gesell-
schaftlichen Leben< aus dem Jahre 1721, der sogenannten Deutschen Politik, ei-
nem deutsch geschriebenen, also nicht an die wissenschaftliche Welt, sondern an
breitere Leserkreise gerichteten Buch, sagte er in § 262, nirgends sei die Freiheit
weniger als in einem solchen Gemeinwesen eingeschränkt. Hier werde sowohl
die bürgerliche Freiheit des Volkes als auch die natürliche Freiheit des einzelnen
geschützt. Die Politie sei deshalb die einzige moralische Staatsform.
Die Willensbildung dachte er sich so, daß alle Stände ihre tugendhaftesten
Männer in eine Repräsentation wählten, die dann im Namen aller zu be-
schließen hatte; der Herrscher sollte diese Entscheidungen nur bestätigen. Das
Wahlrecht wollte er breit auslegen, aber doch nicht so sehr, daß man von De-
mokratie sprechen mußte. Diese Staatsform hielt er für wenig geeignet, Sicher-
heit und Wohlfahrt zu gewährleisten, ››da der gemeine Mann nicht Verstand ge-
nug hat, zu urteilen, was dienlich oder schädlich ist«1°3. Eine Politie sah Wolff in
die Demokratie umschlagen, »wenn es bloß nach dem gehet, was der gemeine
Pöbel ihm vorteilhaft zu sein erachtet, mit Hintansetzung der gemeinen Wohl-
fahrt und Sicherheit«1°4.
Die Machtverteilung wollte er so geordnet sehen, daß ein Mißbrauch unmög-
lich war. Er plädierte deshalb dafür, den Landesherrn nicht nur durch die Re-
präsentation im Zaum zu halten, sondern ihm auch den Oberbefehl über das
Militär zu versagen und dafür einen Feldherrn zu bestellen. Dieser sei zum Ge-
horsam dann nicht verpflichtet, wenn der Herrscher ihm etwas befehlen sollte,
was den Grundgesetzen des Staates zuwider sei. Auch hielt er es für geboten,
den Monarchen auf die Grundgesetze zu vereidigen. Selbst ein Mann, dem ein
religiöser Eid an sich nicht viel bedeute, werde mit Blick auf die öffentliche
Meinung vor einer Eidesverletzung zurückschrecken.
Im übrigen räumte Wolff den Bürgern das Widerstandsrecht gegen rechts-
widrige Befehle ein. Die Rechtspflege hielt er für das Fundament des gesamten
Staatslebens. Die Regierung hatte deshalb für eine unvoreingenommene und
schnell arbeitende Justiz zu sorgen. Sie hatte die Unabhängigkeit der Richter zu
gewährleisten und diesen Personenkreis zu beaufsichtigen. In seinen späteren,
lateinisch geschriebenen Werken, im achten Buch des Naturrechts von 1748 und
in den ›Institutionen< von 1750, die in seinem Todesjahr 1754 auch auf deutsch
herauskamen, behandelte Wolff die Freiheitsrechte systematischer als in der
knappen Deutschen Politik und rückte sie mehr in den Mittelpunkt.
Eng an Wolff schloß Michael Christoph Hanov an, seit 1727 Professor am
Gymnasium in Danzig. Er schrieb 1756 bis 1760 eine vierbändige ›Philosophia
civilis seu Politica< und lieferte darin eine ausführliche Analyse der in Deutsch-
land vorhandenen Regierungsformen, wobei er 1757 im zweiten Band die
Mischformen besprach. Er betonte, daß das Volk der Freiheit äußerst zugetan
Justi 131
sei und erklärte, daß Monarchien und Aristokratien nur dann freiheitlichen
Charakter gewinnen könnten, wenn sie dem Volk Mitspracherechte einräumten.
Als Idealbild einer derartigen Monarchie sah er es an, daß die Exekutive beim
Monarchen, die Legislative und die judikative beim Adel, die Steuerbewilligung
beim Volk lägen. Allerdings sollte das Volk nicht ganz von der Gesetzgebung
ausgeschlossen sein, er wollte es vielmehr über Anhörungen beteiligen.
]UsTı
Auf weitere Stimmen aus der breiten deutschen Diskussion sei hier nicht einge-
gangen, nur auf Johann Heinrich Gottlob von Justi muß noch verwiesen wer-
den. Dieser Kameralist galt lange als führender Theoretiker des aufgeklärten
Absolutismus. In der letzten Zeit wurde aber deutlich gezeigt, daß er seine Auf-
fassungen in den letzten anderthalb jahrzehnten seines Lebens in wichtigen
Punkten änderte.
1756 begann Justi sich mit Montesquieu auseinanderzusetzen, und ebenso
kannte er die einschlägigen Äußerungen von Locke und Wolff. In der zweiten,
stark erweiterten Auflage seiner ›Staatswirtschaft< von 1755 rückte er 1758 den
Begriff der Freiheit ganz nach vorn und erklärte die Sicherung der Freiheit
zum logisch und sachlich primären Staatszweck. In diesem Zusammenhang
diskutierte er erstmals eingehend auch die Gewaltenteilung - in späteren Ar-
beiten kam er darauf zurück. Justi erklärte, die beste Regierung sei diejenige,
die sich ohne Beeinträchtigung des Endzweckes der Staaten, Wohlfahrt und Si-
cherheit, der natürlichen Freiheit am meisten nähere. Er unterschied die unein-
geschränkte von der eingeschränkten Gewalt. Von der ersten verlangte er, daß
sie sich nach bestimmten Grundregeln selbst mäßige. Seine deutlich erkennba-
re Vorliebe galt aber der eingeschränkten obersten Gewalt, also dem gewalten-
teilenden Staat. Dabei unterstrich er die Notwendigkeit der Gewaltverschrän-
kung sehr deutlich. Die Exekutive müsse die Legislative einberufen und
auflösen und gegebenenfalls gegen ihre Beschlüsse auch ein Veto einlegen kön-
nen.
Mit Klarheit entwickelte justi das frühkonstitutionelle Verfassungsmodell
und übertrug es auch auf die kommunale Selbstverwaltung. Das Wahlrecht
wünschte er möglichst ausgedehnt. Die unverjährbare Grundgewalt im Staat lag
nach seiner Überzeugung beim Volk. ]usti bekannte sich also zur Volkssouver-
änität. Er trat dafür ein, daß die Art und Weise der Ausübung der obersten Ge-
walt, die Pflichten und Rechte der Regierenden und Regierten, in Grundgeset-
zen festzulegen seien. Unantastbare Grundgesetze waren ihm das vornehmste
132 V. Das fñihneuzeitliche IšAt)niinentaleurot1.1›__Ä W
]Us'ı'Us Lıesıus
Lipsius war ein Späthumanist und Stoiker. Die ratio mußte seines Dafürhal-
tens alle menschlichen Handlungen bestimmen, freilich in enger Verbundenheit
mit der Frömmigkeit, während die Leidenschaft zu schweigen hatte - über die-
se Ansichten äußerte Lipsius sich in einem Buch ›Constantia<, das von 1584 bis
1783 insgesamt fünfundsiebzig Auflagen erlebte, also ebenfalls sehr häufig gele-
sen wurde.
Lipsius bekannte sich eindeutig zu einem gemäßigten Absolutismus. Er be-
handelte zunächst das fürstliche Regiment als sittliche Ordnung, besprach dann
den Staat als Herrschaftsgefüge und setzte sich danach mit den auswärtigen Be-
ziehungen auseinander. Den Herrscher wies er eindringlich auf das Gemein-
wohl hin: Herrschaft bestehe der Menschen wegen, Macht und Mäßigung
gehörten zusammen. Nur der herrschaftliche Staat könne Frieden und Eintracht
sichern und damit dem Gemeinen Besten wirklich dienen. Selbstverständlich
hatte der Herrscher allein nach den Gesetzen zu handeln, und das galt ebenso
für alle diejenigen, deren er zur Ausübung der Staatsgewalt bedurfte, also für
seine Räte und Beamten. Dem Volk traute Lipsius nicht, er hielt es für unver-
nünftig, mißgünstig, leichtgläubig und also leicht verführbar und für eigennüt-
zig. So war es in seinen Augen zur Teilhabe an der Macht in welcher Form auch
immer ungeeignet. Stände kamen bei ihm nicht vor.
Breiten Raum widmete er militärischen Fragen. Er gab zu, daß Kriege unver--
meidlich seien, betonte aber, daß die Fürsten sie tunlich meiden sollten - des-
halb sollten sie sich gegen diejenigen wenden, die zum Kriege trieben - und daß
jeder Krieg der baldigen Wiederherstellung des Friedens zu dienen hatte. Das
Stehende Heer sollte klein und wohldiszipliniert sein, eine gutausgebildete Re-
serve zur Verfügung stehen. Ein Widerstandsrecht kannte Lipsius nicht, er for-
derte die Untertanen zu Gehorsam und Geduld auf. Insgesamt lief sein Pro-
gramm auf einen patriarchalischen Absolutismus hinaus.
Natürlich stützte Lipsius sich vielfach auf andere Autoren, wie er denn auch
sehr häufig zitierte. Er lieferte mithin die erfolgreichste Bündelung weitverbrei-
teten Gedankengutes und wirkte damit nachhaltig, namentlich in Deutschland,
wo er an den Universitäten zahlreiche Schüler hatte. Genannt seien nur Samuel
Pufendorf und Christian Thomasius. Auch auf die Staatspraxis hatte er deutlich
erkennbaren Einfluß, so in Brandenburg.
das ging schließlich so weit, daß man fragen konnte, ob es sich dabei vielleicht
nur um einen Mythos gehandelt habe. Damit wird gewiß über das Ziel hinaus-
geschossen. Auch dürfte der Begriff so etabliert sein, daß er nicht leicht zu er-
setzen ist.
Hier ist der Punkt erreicht, an dem von der Geistes- zur politischen Geschich-
te überzugehen ist. Oben wurde kurz Wilhelm der Schweiger als wichtigster
Führer des niederländischen Aufstandes gegen die spanische Herrschaft
erwähnt. Dieser vielgestaltige und an Städten reiche Komplex von siebzehn
Provinzen im Nordwesten des Reiches war 1556 beider Teilung des habsburgi-
schen Besitzes an Philipp II. von Spanien gefallen, aber natürlich im Reichsver-
band verblieben. Schon bis dahin war dort eine rigorose Ketzerpolitik betrieben
worden. Das Problem wurde noch drückender, als der Calvinismus in den 60er
Jahren schnell große Verbreitung fand. Eine Bittschrift, die dreihundert bewaff-
nete Adlige, die spöttisch so genannten Geusen, inı April 1566 der Schwester
Philipps II. und Statthalterin der Niederlande Margarete von Parma übergaben,
verlangte eine milderc Religionspolitik. Der von Geistlichen geführten calvini~
stischen Volksbewegung war das nicht genug, sie schritt kurz danach in weiten
Teilen der siebzehn Provinzen über das geltende Recht hinweg, griff zur Selbst-
hilfe und organisierte sich eigenständig in Gemeinden. Dies \var nichts weiter
als eine religiös motivierte Revolution.
Allerdings wurde die Bewegung bis zum Jahresende weitgehend unterdrückt.
Den Widerstand vollends auslöschen Sollte der mit Sorıdervollmachterl ausge-
stattete Herzog von Alba, der im Hochsommer 1567 an der Spitze eines Heeres
in den Niederlanden eintraf und eine harte Pazifizierungspolitik betrieb. Tau-
sende von Anklagen wurden erhoben, die zumeist auch zur Verurteilung führ-
ten, und etwa I O00 Menschen wurden hingerichtet. Dieses brutale Vorgehen
entfremdete das Land seinem Herrn. Gleichwohl trat zunächst Ruhe ein.
Neuer Widerstand regte sich, als die Steuergesetzgebung verschärft wurde.
Im April 1572 kam es zu einer neuerlichen Erhebung, gegen die der Machthaber
mit aller Härte einschritt, und zu einem langandauernden Krieg. Die Provinzen
Holland und Seeland wählten Wilhelm von Oranien eigenmächtig zum Statt-
halter, im September 1576 erhoben sich auch die südlichen Provinzen. In Brüs-
sel traten die Generalstände zusammen und organisierten den Kampf gegen die
Spanier, einige Wochen später veranstalteten spanische Truppen in Antwerpen
ein schreckliches Blutbad mit 8 000 Toten. Das führte in der Pazifikation von
__ _ Die Republik der Niederlande _ 135
Gent und der Union von Brüssel zum Zusammenschluß des Südens mit dem
Norden. Dieser Verband hielt allerdings nur wenige Wochen und brach im Mai
1577 wieder auseinander.
Im Januar 1579 verbanden sich die Provinzen Holland, Seeland, Friesland,
Utrecht und Gelderland unter Wilhelm von Oranien zu einer engeren Union.
Sie dachten dabei nicht schon an die Ablösung von Philipp II. oder gar an eine
eigene Staatsgründung, sondern nur an eine Defensivallianz, um sich in dem
Konflikt besser behaupten zu können. Da aber die spanische Seite keine Kon-
zessionen machte, war die Verselbstíindigung schließlich das natürliche Ergebnis
der Entwicklung. Oranien regte an, Franz von Aniou, dem Bruder des prote-
stantenfreundlichen französischen Königs Heinrich III., die Herrschaft über die
Niederlande anzutragen, denn nur mit französischer Hilfe meinte er dauerhaft
gegenuber Spanien bestehen zu können. Nachdem Franz im September 1580 in
einem Vertrag erhebliche Zugeständnisse hinsichtlich seiner künftigen Religi-
onspolitik und der ståindisehen Mitwirkung gemacht hatte, wurde er am 23. ja-
nuar 1581 von seinen Vertragspartnern als Prince et Scigneur der Niederlande
anerkannt.
Danach war die formelle Absage an Philipp ll. unabdingbar. Die General-
stände setzten Ende Mai eine _]uristenkonnnission für die Fornıulieruııg einer
Lossage-Erklliı-ung ein und verabschiedeten deren Vorlage am 26. juli 1581.
Dieses sogenannte Plaecaet van Verlatinghe stellte fest, daß ein Fürst um des
Volkes willen da sei, und dalš er seine Untertanen mit Recht und Billigkeit zu
regieren und treu über sie zu walten habe wie ein Hirt über seine Herde. Tue er
das nicht, behandle er sie wie Sklaven, »dann hört er auf, ein Fürst zu sein, und
ist ein T_vrann. Die Untertanen haben das Recht. nach gesetzlichem Beschluß ih-
rer Vertreter, der Stande, wenn kein anderes Mittel mehr übrig ist und sie durch
keine Vorstellung ihrer Not irgendwelche Versicherung der Freiheit für Leib
und Gut, für \Veib und Kind von dem Tyrannen erlangen können, diesen zu
verlassen.-< Unter dem Voı'\\'.1ı1d der Religion habe der spanische König eine Ty-
rannei einzurichten versucht und, ohne auf irgendeine Vorstellung des Landes
zu hören, dessen Privilegien verletzt und den Eid gebrochen, den er auf deren
Erhaltung gesehworen habe. »Und so erklären wir denn jetzt den König von
Spanien vcrlustig jeden Anspruclıs auf die Herrsclıtıtt iıı den Niederlanden, wir
entbinden hiermit alle Amtsleııte. Obrigkeiten, Herren, Vasallen und Einwoh-
ner von dem einst dem König von Spanien geleisteten Eid des Gehorsaıns tınd
der Treue und befehlen allen Beamten, fortan den Namen, die Titel und die Sie-
gel des Königs von Spanien nicht mehr zu gebrauchen und einen neuen Eid ab-
zulegen des Inhalts, uns treu zu sein gegen den König von Spanien und alle sei-
ne /\ıihLn1ger«"3“. So gesclıali es im Namen von Brabant. Geldern, Flandern,
Holland, Seeland, Friesland, Mecheln und Utrecht.
Die Erklärung war von reinstem monarchomachisclıem Geist, und Duples-
sis-Mornaıv. der Mitverlasser der ›\/indieiae contra t_vrannos«, war auch ge-
136 V. Das frühneuzeitliche Kontinentaleuropa
I-Iilfstnıppe unter dem Grafen Leicester, der kurze Zeit, bis 1587, als Landvogt
agierte, lehnte aber die Oberhoheit ab.
Da die Generalstände oder in älterer Diktion Generalstaaten keinen neuen
Landesherrn fanden, wurden die Niederlande gleichsam zwangsläufig Republik.
Aber in den Provinzen, die ja alle ihre bisherige ständische Verfassung beibe-
hielten, gab es nach wie vor Statthalter des nicht mehr vorhandenen Monarchen.
Es wurde sogleich üblich, dieses Amt überall einem und demselben Mitglied des
Hauses Oranien zu geben, zunächst Moritz, dem Sohn des Schweigers; nur See-
land machte eine Ausnahme.
Der Statthalter hatte die christliche Religion zu wahren, also die evangelische,
er hatte für geregelte Justiz zu sorgen und die Kommunen zu überwachen, wo-
zu auf Grund städtischer Vorschlagslisten auch die Neubildung der Magistrate
gehörte. Als Provinzkapitän sowie Generalkapitän und Generaladmiral hatte er
auch militärische Kompetenzen, dies zum Teil mit ständischen Beiräten. Ein
wichtiges Amt war daneben das des Ratspensionärs. Dies war der Wortführer
der holländischen Vertretung und in Personalunion der Vorsitzende der dorti-
gen Provinzialstände. In der Republik hatte er die Auslandskorrespondenz zu
führen, war also eine Art Außenminister. Des weiteren gab es einen Staatsrat,
der 1584 als Regierungsausschuß gebildet worden war und aus den Statthaltern
sowie zwölf weiteren Vertretern der Provinzialstände bestand, aber nie zu einer
wirklichen Regierung wurde. Seine Kompetenz betraf den Staatshaushalt, die
Aufsicht über das Landheer und die Rechtsprechung bei Hoch- und Landes-
Verrat sowie bei Disziplinarverfahren gegen Beamte der Generalstände. Politik
in der Republik der Niederlande war ein kompliziertes Geschäft im Viereck
von Provinzialständen, Generalständen, Statthalter und Ratspensionär.
Die Stände setzten sich aus dem Adel und den Vertretern der Städte zusam-
men, während die Geistlichkeit mit der Reformation ausgeschieden war. Im Sü-
den spielte der Adel eine größere Rolle als im ganz städtisch geprägten Norden,
und in Friesland gab es ihn gar nicht. Die geringe Bedeutung des Adels hatte
geographische Gründe. In dem von so vielen Gewässern durchsetzten Land
hatte eine Ausbildung von Großgrundbesitz nicht stattfinden können. Es kam
auf jedermann an, man mußte zusammenarbeiten, wenn man im Kampf mit
dem Wasser bestehen wollte, Selbstverwaltung war wichtig. So gab es zwar
Adel, aber er war durchweg nicht sonderlich reich und infolgedessen zur
Machtbildung wenig geeignet. Viel mehr Gewicht hatten die zahlreichen Städte
und in ihnen natürlich die Kaufleute. Auch diese Schicht war nicht übermäßig
wohlhabend, aber sie war zahlreich und ziemlich gleichmäßig über das Land
verteilt. Im Laufe der Zeit entwickelte sich daraus ein Magistratenstand, der sich
den öffentlichen Geschäften widmete, ohne sich von den privaten ganz zu tren-
nen, ein Patriziat, die sogenannten Regenten. Der Aufstieg unter diese Regenten
war möglich, aber nicht leicht - es gab eine deutliche Neigung zu oligarchischer
Verkrustung. Die Republik war, so sagte vor Jahrzehnten der niederländische
E l._Das frühneuzeitliche lšorıtinentaleuropa _
Dieses sonderbare Bauwerk ermöglichte eine Politik, die sich deutlich von der
der meisten anderen europäischen Staaten unterschied. Sowohl die innere wie
die äußere Politik war hier ganz eine Funktion des bürgerlichen Interesses.
Nach dem faktischen Ende des Krieges gegen Spanien, lange vor dem förmli-
chen Friedensschluß 1648, war Frieden das zentrale Ziel. Nur so konnte der
Handel gedeihen, von dem das Land im wesentlichen lebte. Expansive Bestre-
bungen kannten die Niederlande nicht - angesichts der komplizierten Verfas-
sungsstruktur wären sie auch schwer durchsctzbar gewesen. Man trieb eine
nüchterne Politik der Zurückhaltung, solange es irgend ging. Charakteristisch
war des weiteren, daß der Abstand zwischen Regierenden und Regierten kleiner
war als sonst in Europa, wie es denn auch kaum Standesschranken gab, und daß
die Bevölkerung sich vergleichsweise stark für Politik interessierte und sich
auch daran beteiligte. Der Bildungsstand war überdurchschnittlich hoch. Fest-
zuhaltcn ist schließlich, daß die städtischen Oligarchien zwar dominierten, daß
ihr politisches Handeln aber keineswegs auf reine Interessenverfolgung hinaus-
lief, sondern fiirsorgliche Züge für die Gesamtbevölkerung mit einschloli. Lip~
sius wurde natürlich auch hier gelesen. Das sonderbare Bauwerk ermöglichte al«
so insgesamt eine Prägung des politischen Lebens, die der europäischen
Entwicklung voraus war. In politischer, wirtschaftlicher und geistiger Hinsicht
waren die Niederlande im 17. Jahrhundert ein Modellstaat Europas, an dem
man sich vielfach orientierte.
Das dritte Viertel des 17. ]:ıhrhunderts war die sogenannte Erste Statthalter-
lose Zeit von 1651 bis 1672. Wilhelm ll., ein Enkel des Schweigcrs, hatte ver-
sucht, seine Stellung zu der eines wirklichen Monarchen auszubauen. Auch hat-
te er hinsichtlich der Außenpolitik andere Vorstellungen als die Regenten. Als
er Ende 1650 überraschend starb, beschloß eine erweiterte Versammlung der
Generalstande. die Große Versaınınlung. das Amt nicht mehr zu besetzen. Das
hatte eine deutliche Stärkung der Provinzen und der Regeııtenschicht zur Folge.
Die 1668 einsetzenden und bis 1713 reichenden ludovikanischen Kriege be-
wirkten eine tiefgreifende Veränderung der gesamtpolitischen Lage der Nieder-
lande. Mit Blick auf den offensichtlich unmittelbar bevorstehenden Krieg,
den Holländischen, wurde Anfang 1672 der junge Wilhelm lll., geboren eine
Woche nach dem Tode seines Vaters, zum Generalkapitíin ernannt. ln der Fol-
gc konnte er wieder mehrere Stattlıaltersclıaften auf sich vereinigen und wurde
der wichtigste europäische Führer gegen Ludwig XIV. Seit 1689 war er auch
König von England. Die Kriegszeiten beeinträchtigten die wirtschaftlichen Ver-
hältnisse sehr, und die Provinzen mußten eine hohe Verschuldung auf sich neh-
mn 'W 7 _? g VPoIen 7 139
men. Es gab viel Unmut. Nach dem Tode Wilhelms III. wurde die Statthalter-
schaft nicht erneuert.
Die Zweite Statthalterlose Zeit dauerte fast ein halbes Jahrhundert und war
durch lebhafte Spannungen und eine wachsende Unzufriedenheit mit der Re-
gentenschicht gekennzeichnet. Eine neuerliche Große Versammlung sollte
1716/17 eine Verfassungsreform bewirken, ging aber ergebnislos auseinander, da
die Provinzen ihre Stellung nicht schmälern lassen wollten. Als Frankreich
während des Österreichischen Erbfolgekrieges 1744 auch die Niederlande an-
griff, setzte eine das ganze Land erfassende Volksbewegung 1747 die Wieder-
herstellung der ab jetzt erblichen Statthalterwürde durch, und erstmals waren
nun alle Statthalterschaften in einer Hand vereinigt - das Amt fiel an Wilhelm
IV. von Nassau-Dietz. Die weitergehenden Forderungen der Bewegung wurden
nicht erfüllt - verfassungspolitisch zielten sie auf mehr Mitsprache in der Poli-
tik. So artikulierte sich die Opposition weiter, und ihre Wortführer bedienten
sich zunehmend auch naturrechtlicher Argumente. Dabei wirkte die amerikani-
sche Revolution stimulierend. In den 80er Jahren verdichteten sich die Reform-
fordenıngen zur Patriotenbewegung, die in sich freilich nicht einheitlich war. Es
gab einen eher konservativen Regenten-Flügel und die Radikalen, denen es um
eine gründliche Modernisierung des Landes und um eine Volksrepräsentation
ging. Außenpolitische Rückschläge ließen die Bewegung sich verdichten. Es bil-
deten sich patriotische Vereinigungen: sie schlossen sich 1785 in einer Föderati-
on zusammen. In Holland erlangten die Radikalen das Übergewicht und setzten
Wilhelm V. ab. Mit preußischer militärischer und englischer politischer Unter-
stützung konnte der Statthalter sich schließlich im Herbst 1787 auf den alten
Stand bringen. Im Juni 1788 mußten die Stände schwören, daß sie künftig an
den Verfassungsverhältnissen nichts mehr ändern wollten. Preußen und Groß-
britannien garantierten die restaurierte Republik - sie war nicht weit von einer
dualistischen Monarchie entfernt.
POLEN
Sicht. Sie verwiesen auf den hier permanent praktizierten Vertrag zwischen dem
Herrscher und der Nation sowie auf die in der Nation bestehende Freiheit und
Gleichheit, wobei Nation freilich nur der adlige Bevölkerungsanteil war. Rous-
seau jedenfalls war von den polnischen Verhältnissen, mit denen er sich zwi-
schen 1768 und 1772 eingehender beschäftigte, so angetan, daß er zeitweilig er-
wog, nach Polen überzusiedeln.
Blicken wir auf die anderen Republiken Europas, so kann von Venedig gänzlich
abgesehen werden. Seit dem Hochmittelalter galt hier einc aristokratisch-olig-
archische Verfassung, die nur einen kleinen und strikt abgcgrenzten Kreis von
Familien zum Großen Rat zuließ. Auch die schweizerischen Kantone waren
von starken Oligarchisierungstendenzen gekennzeichnet. Überall waren nur
wenige patrizisclıc Familien bestimmend, die sich nach unten abkapselten und
den von der Bürgerschaft gewählten Großen Rat zu schwächen suchten. In der
Regel ließ sich dieses Gremium aber ebensowenig aus der Gesetzgebung ver-
drängen wie aus der Verfügung über wichtige Ämter. In den katholischen Städ-
ten Freiburg, Luzern, Solothurn und im reformierten Bern, das über ein sehr
ausgedehntes Landgebiet verfügte, konnte sich das städtische Patriziat am feste-
sten abschließen. Von einer Entwicklung zum Vcrfassungsstaat kann hier kei-
ne Rede sein, und der Göttinger Historiker August Ludwig von Schlözer, einer
der großen Vorkämpfer liberalen Denkens in Deutschland, bezeichnete die
Schweiz nach dem Hexenprozeß von Glarus 1782 sogar als einen der unaufge-
klartesten Staaten Europas und witterte überall die Schrecken einer oligarchi~
schen Despotie. ln seinen vielgelesenen ›Staatsan7_cigen« versaumte er keine Ge-
legenheit, sich gegen eine derartige Patrizierherrsclıaft zu wenden. Damit tat er
der in Deutsclıland im I8. Jahrhundert vorhandenen Schweiz-Begeisterung er-
heblichen Abbruch. Besonders cmpörte ihn die Entwicklung in Genf.
Hier war das 18. Jahrhundert durch immer wieder aufflammentlc Auseinan-
dersetzungen zwischen Anitspatriziat und Unternehmern gekennzeichnet, in
die sich schließlich auch die Nichtbürger einschalteten. 1781 verstlindigten sich
die beiden letztgenannten Gruppen, die Représentants und die Natifs, auf eine
Repriisentativverfassung und stürzten die patrizischen Machthaber im April des
folgenden Jahres. Diese riefen Frankreich, Savoven und Bern zu Hilfe, und ein
massives Truppenaufgebot stellte die alte Ordnung in der Stadt wieder her. Der
Verfassungsstreit, in dem der gebürtige Genfer Rousseau zeitweilig eine wichti-
ge Rolle spielte, wurde natürlich auch auf literarischem Felde ausgetragen. Die
_ iV. l>)afs früh_ricıi:itliche Rontineltaleurtıpa g
Konsıiux
Korsika, seit 1299 ganz im Besitz Genuas, befand sich seit 1729 im Aufstand ge-
gen die genuesische Kolonialherrschaft. Die Korsen konnten, gestützt auf die
von Genua nicht wesentlich angetasteten lokalen Strukturen, 1731 eine Art Na-
tionalversammlung einrichten, die von den örtlichen Notabeln beschickt wurde.
Diese Consulta tagte regelmäßig und umfaßte, wenn sie gut besucht war, etwa
1% der ca. IOO O00 Korsen. 1735 sprach eine solche Versammlung die ewige
Trennung von Genua aus. Der 1736 unter englischer Flagge an der Spitze einer
kleinen Gefolgschaft ins Land gekommene deutsche Baron Theodor v. Neuhof
erwarb sich so großes Ansehen. daß er zum König berufen wurde. Er konnte
sich jedoeh nicht behaupten. Mit französischer Unterstiitzung konnte Genua
die Erhebung 1739 weitgehend niederwerfen. Die Führer der Korsen gingen ins
Exil, unter ihnen der General Giacinto Paoli. Er wandte sich nach Neapel und
nahm seinen damals vierzehnjiihrigen Sohn Pasquale mit. Die Känıpfe auf der
Insel erneuerten sich bald, und 1755 kehrte Pasquale Paoli, bis dahin neapolit-a-
nischer Offizier, in sein Heimatland zurück und wurde vom Großen Rat zum
General mit unbeschränkter Vt›llmacl1t ernannt. ln seinem Handgepäck hatte er
ein Exemplar von Montesquieus ›Geist der Gcsetzm - das Buch hatte er sorg-
fältig studiert, wie er sich auch sonst ıııit aufgeklärten Gesinntıngen erfüllt hat-
te. lm November nahm eine von ihm eigens dafür berufene (Ionsulta ein unge-
wöhnliches Dokument an. eine von Paoli niedcrgeschriebene Verfassung, die
allerdings nicht gedruckt wurde und deshalb keinen großen Bek.ınntheitsgr.ıd
erlangte. Der Text begann mit tler Feststellung. daß die allgemeine Versamm-
lung des Volkes von Korsika, das der legitime Herr seiner Geschicke sei, ord-
nungsgemäß durch den General Paoli einberufen worden sei. Sie wolle nach der
Wiedererlangung der Freiheit eine dauerhafte und beständige Regierungsform
schaffen, die die Glückseligkeit der Nation erıııögliche. Danach folgten die ein-
zelnen Vorschriften. Dicse Präambel vom |8. November 1755 stünde, wäre sie
damals publiziert worden, gleichberechtigt neben den Fingangsworten der um
mehr als dreißig jahre jüngeren Verfassung der Vereinigten Staaten vom 17. Sep-
_ i _ __ __ 7 Mana A 143
tember 1787, sie war ähnlich selbstbewußt und von derselben getragenen Spra-
che. Unmißverständlich wurde die Volkssouveränität in Anspruch genommen
und ganz eindeutig der Staatszweck umschrieben: Gewährleistung der Glück-
seligkeit der Nation. Die Prinzipien, nach denen der Staatsbau aufgeführt wer-
den sollte, waren höchst modern: ein zum größten Teil durch das allgemeine
Mannerwahlrecht bestimmtes Parlament als Legislative, ein von ihm nominier-
ter und kontrollierter Exekutivausschuß unter einem Staatschef. Allerdings
wurden die Mitglieder dieses Rates nicht befristet, sondern auf Lebenszeit in ihr
Amt gewählt. Auch war die Gewaltenteilung nicht sauber durchgeführt. Der
Oberste Gerichtshof hatte neben seinen justiziellen auch einige politische Funk-
tionen. In der Praxis überwogen letztere, da die Masse der Rcchtsfälle gar nicht
an ihn kam.
Zeitgenössische Beobachter waren sich einig: Hier war eine demokratische
Regierungsform geschaffen. Der englische Sclıriftstellerjames Boswell fuhr ei-
gens nach Korsika, um den von ihm bewunderten Paoli kennenzulernen, und
pries in seinem Reisebericht die korsische Verfassung als das beste Modell der
Demokratie, das jemals existiert habe - dieses Buch wurde auch ins Deutsche
übersetzt. Und Rousseau meinte in seinem ›Contrat social<, es gebe in Europa
nur ein Land, das für einen Gesellschaftsvertrag reif sei, eben Korsika. Auf kor-
sisclien Wunsch arbeitete er 1765 eigens einen Verfassungseııtwurf für die Insel
aus.
Die Wirklichkeit stand dem entgegen. Die korsische Gesellschaft war noch
keineswegs reif für demokratische Strukturen. Politik hatte hier noch einen aus-
gesprochenen Notabeln-, wenn nicht Clan-Charakter. Paoli legte seine Kompe-
tenzen weit aus, konzentrierte alle Macht auf sich und agierte ie länger desto
mehr als aufgeklärter Absolutist. Anders wäre er kaum mit den parochialen
Strukturen der korsischen Politik fertig geworden. Sein Experiment kam zu ci-
nem Ifinde, als Genua die Insel 1768 an Frankreich verkaufte. Als die Franzosen
Korsika besetzten und es bis zum Frühialır 1769 ganz eroberten, fanden sie un-
ter den Notabeln viele Kollaborateure. Das waren die Leute, die Paoli das Le-
ben schwer gemacht hatten. Paoli ging in das englische Exil.
Das Verfassungsproiekt für die Toskana wurde von Großherzog Leopold, dem
dritten Sohn von Kaiser Franz I. und Maria Theresia uncl späteren deutschen
Kaiser, persönlich betrieben. l747 geboren, erlangte er mit achtzehn jahren die
großhcrzogliche Würde in dieser habsburgischen Sekundogenitur und leitete
141 V V Das frülieuäitliche Koritinentaleuropi _
auch nicht das bestehende Regierungs- und Verwaltungssystem und das Straf-
und Zivilrecht ändern, keine Steuern und Abgaben auflegen oder Zölle erhöhen,
keine öffentlichen Arbeiten größeren Umfangs in Angriff nehmen lassen, wenn
die Stände nicht eingewilligt hatten, er verpflichtete sich zur Rechnungslegung
für die öffentliche Ausgaben und sagte zu, nicht in die Rechtspflege einzugrei-
fen. Die Stände sollte das Petitionsrecht haben und folglich auch den Wunsch
nach bestimmten Gesetzen anmelden können, sie sollten über die Gesetzesvor-
schläge des Herrschers beraten und sie entweder annehmen oder verwerfen. Es
war also ein gewaltentciliges modernes Staatswesen beabsichtigt, und immer
wieder war auch von natürlichen Rechten die Rede.
Leopold war fest davon überzeugt, daß die gegenwärtigen Regierungssyste-
me nicht mehr sehr lange fortbestehen konnten. Trotzdem ließ er das Verfas-
sungsgesetz für die Toskana nicht in Kraft setzen, sondern stellte es für jahre
zurück. 7.un1:ichst mußte die Kommunalreform abgeschlossen sein. Als das der
Fall war, entstand 1787 eine etwas modifizierte Fassung. Nun wollte der
Grolšherzog aber noch die Entwicklung in Frankreich beobachten und zögerte
mit der Inkraftsetzung. Immerhin ließ er das Vorhaben von Gianni, der inzwi-
schen zu einem überzeugten Befürworter der Verfassung geworden war, publi-
zistisch vorbereiten. Am 5. Mai 1789, als in Versailles die Generalstände zusam-
mentratcn, erschien eine entsprechende Schrift aus dessen Feder. Auf die neue
Situation in Frankreich setzte Leopold grolše Hoffnungen. Wenn der König sei-
ne Exekutivgewalt besclıränkc, die Legislative der Vertretung der Nation über-
lasse, ebenso das Steuerbewilligungsrecht der Stände anerkenne, diese regel-
mlilšig berufe, einschneidende Reformen iıı der Justiz und beim Steuerwesen
vornchmc und zusichcre, daß das Militär nur der Landesverteidigung diene,
dann werde Frankreich der mächtigste Staat Ifuropas und seinen Bürgern ein
wirkliches Vaterland, so schrieb er am 4. juni 1789 nieder. Von einer derartigen
Regeneration Frankreichs erwartete cr starke Impulse auch für das übrige Eu-
ropa.
Als der Grolšherıog der Toskana Ende Februar 1790 die Nachfolge seines
Bruders Joseph ll. in den Erbländern antrat - im September wurde er als Leo-
pold ll. auch deutscher Kaiser -hatte er den Plan, seinem Sohn Ferdinand nach
wenigen Monaten die grolšherzogliche Würde in der Toskana zu übergeben und
dabei auch die Verfassung zu publizieren. Da kam es im April zu einem vom
Klerus .ıngefülırten konservativen Aufstand gegen die bisherige Reformpolitik.
Leopold war sehr enttäuscht und stellte sein Verfassungswerk erneut zurück. In
der Folgezeit nahmen die großen politischen Fragen der Zeit seine Aufmerk-
samkeit gam. in Anspruch. Zwei jahre spater starb er, nicht ganz fiinfundvierzig
jahre alt.
Als Ludwig XVI. am 10. Mai 1774 im Alter von nicht ganz zwanzig jahren auf
den französischen Thron gelangte, war er, geprägt von den Vorstellungen Fene-
lons, voll des besten Willens, für das Glück seiner Untertanen zu arbeiten, fühlte
sich seinem Amt aber noch nicht voll gewachsen. S0 suchte er sich einen Mentor
und fand ihn im dem Grafen Maurepas, einem gemäßigt-fortschrittlichen Ansich-
ten lıuldigenden Mann von dreiundsiebzig jahren. Dieser setzte die Entlassung der
bisherigen Reformminister Maupeou und Terray durch und erreichte nach einem
halben jahr im Übereinklang mit starken Strömungen in der öffentlichen Meinung
auch, daß der König am 12. November in einem Lit de justice die 1771 von Mau-
peou beseitigten Parlamente wieclerlıerstellte. Das war eine Liıtsclıeidtıiıg von fa-
talen Folgen, wurde damit doch eine innenpolitische Kraft neu eingesetzt, die bei
der nötigen Reformpolitik sehr liinderlieh sein konnte, jedenfalls dann. wenn die
Interessen dieser sehr einflulšreiclien Richterkaste davon betroffen waren. Da die
Parlanıente sich in der Vergangenheit immer wieder als Verteidiger der Freiheit des
Volkes gegen die .ıbsolutistischen Tendenzen der Krone gegeben hatten, wurde
diese Konsequenz des 12. November in der Öffentlichkeit allerdings nicht gese-
hen. Aber auch Ludwig XVI. und Maurepııs erkannten nicht, welche langfristige
Belastung die kurzfristig erreichte iıınenpolitisclie Entspannung zur Folge haben
konnte. Die Wiederherstellung der Parlamente war eine wichtige Weichenstellung
für den Problemstau, aus dem heraus es knapp anderthalb jalirzehnte spater zur
Revolution und damit zu jenem Ereignis kam, das für ganz Europa eine
annähernd fünfundzwanzigjåihrige Phase schwcrster Erschütterungen und tief-
grcifender Umstrukturierungen hervorrufen sollte.
Frankreich steckte damals in einer tiefen Finanzkrise. Die staatliche Schul«
denlast war mit mehr als l Mrd. Livres, also dem Wert von etwa 50 O00 t Silber,
ganz. enorm. Sie war zustandegekommen, weil man jahrzehntelang weder auf
Ausgabendisziplin noch darauf geachtet hatte, die Einkünfte an die steigenden
Aufwendungen anzupassen. Man hatte deıı schwierigen Weg der Iiinnahmestei-
gerung über neue Steuern gescheut und stattdessen auf Anleihen zurückgegrif-
fen - es gab im Lande leicht zu mobilisierendes Kapital.
Diese Praxis konnte allerdings nicht nach Belieben fortgesetzt werden. Un-
verkennbar war ein gründlicher Kurswechsel nötig. Darüber war sich der neue
148 _ vi.1=mnkmehı7s7-1314 _
Die Versammlung der Notabeln trat am 22. Februar 1787 zusammen. Ihre 144
Mitglieder waren indessen fast ausschließlich Privilegierte. So war es gar nicht
sicher, ob sie mutig an der Beseitigung von Vorrechten mitwirken würden. lm-
merhin fand Calonne Zustimmung zur Beseitigung der Frondienste, zur Frei-
gabe des Getreidehandels und zur Einführung von Provinzialversammlungen,
nicht aber für die gewünschte Grundsteuer. Das sei, so die Notabeln, Sache von
Generalständen. Der König wandte sich nun, nachdem er Calonne unter dem
Druck der öffentlichen Meinung durch den Erzbischof von Toulouse, Lomenie
de Brienne, ersetzt hatte, an das Parlament in Paris. Mehrere Edikte wurden
dort ohne Widerstand registriert, nicht aber die Grundsteuer - man wollte die
Notwendigkeit neuer Steuern durch die Vorlage der Einnahme- und Ausgabe-
register nachgewiesen haben. Schließlich vertrat das Parlament in schärfster Kri-
tik an der bisherigen Finanzpolitik den Standpunkt, daß der geforderte Betrag
durch Sparmaßnahmen erwirtschaftet werden könne, und verwies ebenfalls dar-
auf, daß die Bewilligung neuer Steuern Sache der Generalstiinde sei.
Am 6. August hielt Ludwig XVI. ein Lit de justice und erzwang die Regi-
strierung, aber am Tage darauf erklärte das oberste Gericht vor einer riesigen
Mensehenmenge den Vorgang für nichtig und forderte die Einberufung der Ge-
neralstande. Iis verbot die Verbreitung der königlichen Edikte, bestritt das
Recht, Adel und Klerus einer gemeinsamen Steuer zu unterwerfen und machte
die Steuereinnelımer darauf aufmerksam, daß sie nachteilige Folgen zu erwar-
ten hatten, wenn sie rechtswidrig Steuern erhoben. Das war ein offen revolu-
tioniirer Schritt. Auf Rat von Brienne schickte der Konig die Parlamentsräte
nach Troyes in die Verbannung, bewirkte damit aber nur eine wutende publixi-
stischc Polemik von Raten aus 7.ahlreichen Parlamenten und Unruhen an den
Parlamentssitzcn. Brienne muíšte nachgeben. Die meisten Edikte wurden wi-
derrufen, das Parlament durfte nach Paris zurückkehren. Immerhin bewilligte
es jet'/.t einige Finanzmittel. In langwierigen Verhandlungen ging es danach um
weitere finanzielle Konzessionen. Als Gegenleistung verlangte das Parlament
die Vorlage alljahrlicher Einnahme- und Ausgabeberichte, den Verzicht auf die
lettres de eachet und Generalstände im jahre 1790.
Erneut ergriff der König die Flucht nach vorn. In einer kurzfristig anbe-
raunıten Sitzung griff er das Parlament am |9. November scharf an. Zugleich
lielš er mitteilen, daß die Generalstände auf keinen Fall besehlielšenden Charak-
ter haben wurden. Die Einregistrierung einiger Ediktc wurde befohlcn, der
Herzog von Orleans, der das Vorgehen des Monarchen als ungesetzlich be-
zeichnete, aus der Hauptstadt verbannt. zwei Parlamentsräte wurden verhaftet.
Die Folge war ein neuer Sturmlauf der Öffentlichkeit gegen den angeblichen
Despotismus des Herrschers, angeführt von den Parlamenten, betrieben mit den
150 _VI›. Frankreich 17871@14
Parolen ›Freiheit der Person<, ›Freiheit der Presse«, ›Verfassung<. Das Pariser Par-
lament erklärte in einer Remonstranz im Februar 1788: »Der Mensch ist frei ge-
boren, und sein Glück hängt ab von der Gerechtigkeit. Die Freiheit ist ein un-
verjährbares Recht, sie besteht in der Möglichkeit, gemäß den Gesetzen leben zu
können«'°“'. Ganz naturreehtlich hieß es hier, daß jede Unterwerfung freiwillig
sei und daß der Mensch zu nichts verpflichtet werden könne, was der Vernunft
widerspreche. Dies sei die französische Verfassung. Die Parlamente bedienten
sich liberaler Auffassungen. Einigen Räten war das Überzeugungssache, für an-
dere - die Mehrheit - war es nur die Benutzung populärer Argumente.
Die Krone führte ihren Gegenschlag am 8. Mai 1788. In einem neuerlichen
Lit de justice wurde wiederum eine Reihe von Edikten einregistriert. Damit ver-
loren die Parlamente ihr Registrierungsrecht, und ihre Kompetenzen wurden
auch sonst beschnitten. Zugleich wurde aber versichert, daß die Generalstände
spätestens 1792 zusammentreten und künftig immer dann tagen sollten, wenn
Bedarf bestand. Diese Konzession bewirkte nichts, zumal im Verlauf der Sit-
zung auch diesmal zwei Räte verhaftet wurden. Wie inı August 1787, so erklar-
te das Parlament auch jetzt den königlichen Akt für nichtig. Wieder erhob sich
ein Proteststurm, der auf breite Resonanz stieß, und wieder kam es zu Unm-
hen. Erneut brandmarkte die Parlanıentspublizistik das königliche Vorgehen als
Willkür und fand damit weithin Gehör. Freilich gab es auch Stimmen, die an-
ders urteilten. Condorcet etwa warnte, bei einem Sieg der Parlamente werde die
Freiheit alles verlieren. Der Richtcrkaste gehe es nicht um die Freiheit des
Volkes, Frankreich müsse sich vielmehr von dieser Aristokratie befreien. Wenn
der König Reformen wolle, das Parlament sie aber bekampfe, dann solle man
nicht von Willkür reden.
Die Regierung war vollig in der Defensive. Am 20. juni bezeichnete ein Erlaß
das Verhalten der Parlamente als aufrührerisch. Das schreckte sie aber nicht von
weiteren Protesten ab, zumal sie von den noch in etlichen Provinzen vorhande-
nen Stlinden unterstützt wurden. Am 8. August machte die Regierung die ent-
scheidende Konzession und kündigte für den Mai 1789 Generalstiinde an, ohne
sich über deren Zusammensetzung uııd Verfalirensweise, die beide gesetzlich
nicht festgelegt waren, auszusprcchen. Brienne ließ den Staatsbankrott erklären
und trat zurück. Erneut wurde Necker Generalkontrolleur, jetzt auch im Rang
eines Staatsministers, Wiewohl er Ausländer uııd Protestant war. Das Ministeri-
um gab auf der ganzen Linie nach: Ende September wurden den Parlamenten
alle ilıre herkommlichen Rechte bestätigt.
jetzt begann eine vielschichtige Diskussion darüber, wie die Generalstande zu-
sammengesetzt sein und wie sie arbeiten sollten. Dabei verlor das Pariser Parla-
ment, bis dahin der gefeierte Wortführer der Opposition, sehr schnell und un-
wiederbringlich an Popularitiit, da es sich dafür aussprach, die Generalstiinde
nach dem Modus von 1614 zu berufen und beraten zu lassen. Dies war für den
Dritten Stand die ungünstigste Lösung, da seine Abgeordneten sich damals fast
_ _ __ f 7 _ g Sieyes 151
ausschließlich aus Privilegierten rekrutiert hatten, zum guten Teil aus der Magi-
stratur, die in den Parlamenten saß. Eine Gruppe entschiedener Publizisten um
Condorcet und Brissot trat zwar für die Abgeordnetenwahl strikt nach Ständen
und für getrennte Beratungen ein, beharrte aber darauf, daß jeder Beschluß von
allen Ständen angenommen werden müsse und keiner überstimmt werden dürfe.
Viel Aufsehen erregte die Denkschrift des Grafen d`Antraigues, in der es klipp
und klar hieß, der dritte Stand sei das Volk, und dieses sei der Staat selbst. Dann
aber sprach sich der Autor für den Modus von 1614 aus. Graf Kersaint dagegen
entwickelte in seinem ›Bon sens« das Modell einer konstitutionellen Monarchie,
und der Advokat Target, der für die Gesellschaft der Dreißig sprach, warb dafür,
daß die Nation in der kommenden Versammlung frei, gleich und allgemein ver-
treten sei. Wenigstens sollte diese selbst über ihre Arbeitsweise beschließen kön-
nen. Target war für gemeinsame Beratung, und er meinte, daß auf zwei Abge-
ordnete der oberen Stände drei des Dritten Standes kommen müßten. Der
Gesellschaft der Dreißig gehörten einige forsehrittliehe Parlamentsrate und
Hochadlige an, ferner Lafayette, Mirabeau, die Grafen d'Antraigues und Ker-
saint, Target, der Physiokrat Dupont de Nemours und der Abbe Sieyes.
Target verwies in seiner Schrift auf das Beispiel der Dauphine. Die dortige
Provinzialversammlung - derlei Gremien waren ftir das ganze Land angeordnet
- hatte im ]uli 1788 die Verdoppelung des Dritten Standes, in dem nur Nicht-
privilegierte sitzen durften, die gemeinsame Beratung und die Abstimmung
nach Köpfen festgesetzt. Als die Regierung das finde September genehmigte,
schuf sie damit Priiiudizien für das ganze Land und auch für die Generalstände.
Definitiv dazı.ı bekannte sie sich aber nicht. Der Staatsratsbeschluß vorn 27. De-
zember sah nur die Verdoppelung des Dritten Standes vor, sagte jedoch nichts
über die Modalitäten der Abstimmung.
So ging die öffentliche Diskussion uber diese Fragen weiter. Inzwischen wur-
de auch ein lebhafter Wahlkanipf gefuhrt uııd schließlich die Wahlen abgehalten.
Zum Dritten Stand hatten alle Manner ab 25 Jahren, die einen Standigen Weihn-
sitz besaßen und Steuern zahlten, das Wahlrecht. Die Abgeordneten hatten ein
imperatives Mandat, die ihnen mitgcgebenen Auftrage wurden in Tausenden Be-
schwerdelieften, den cahiers de doléances, schriftlich niedergelegt. Die Franzo-
sen waren in diesen Monaten in einem ganz ungewöhnlichen Maße politisiert.
Aiuii11Sı+.YF:s
Die Auffassung, daß der Dritte Stand die Nation sei, gewann fortlaufend an Bo-
den. Sehr großen Einfluß erlangte dabei die Anfang januar 1789 publizierte
l_52 VI . F rankreich 17??-1814 f
Schrift des Abbé Sieyès, Generalvikar des Bischofs von Chartres, ›Was ist der
Dritte Stand?<, die innerhalb kurzer Zeit mit mehr als 30 O00 Exemplaren ver-
kauft wurde. Ihre große Resonanz verdankte die Broschüre nicht der Tatsache,
daß sie viele neue Gedanken vorgetragen hätte - was sie sagte, war in der lang-
wierigen Diskussion vorher auch an anderen Stellen geäußert worden. Aber sie
präsentierte diese Gedankengänge auf eine faszinierende Weise, in zwingender
Deduktion, unter Verzicht auf jede historische Argumentation, von der Sieyès
gar nichts hielt.
Gleich in den ersten Sätzen machte er in kürzester Form die zentralen Aussa-
gen: »Der Plan dieser Schrift ist ganz einfach. Wir haben uns drei Fragen vor-
zulegen: 1. Was ist der Dritte Stand? Alles! 2. Was ist er bis ietzt in der politi-
schen Ordnung gewesen? - Nichts! 3. Was verlangt er? Etwas zu sein«"°. Das
führte der Autor im einzelnen aus: Der Dritte Stand ist identisch mit der Nati-
on und damit alles, und nahme man die Privilegierten, die ia nur ein verschwin-
dend geringer Teil der Bevölkerung sind, hinweg, so wäre er nicht weniger, son-
dern etwas ınehr. Er leistet alle mühsame Arbeit, den Privilegierten geht es nur
um Versorgung, ohne sie wäre der öffentliche Dienst viel besser besetzt. Na~
mentlich der Adel ist nur eine Last für die Nation und steht durch seinen
Müßiggang außerhalb von ihr. Die Stellung der Privilegierten beruht auf Usur-
pation, aber das Reich der Vernunft breitet sich aus und verlangt die Rückgabe
der angemaßten Rechte an die ursprünglichen Eigentümer. Alle »gotischen Ab-
surditaten« im Bau Frankreichs müssen verschwinden.
Sieyès prüfte sodann die verschiedenen Verfassungsvorschlage und vertrat ihnen
gegenüber kategorisch seine eigene Sicht. Das englische Modell verwarf er aus-
drücklich. Er verlangte in der schwebenden Verfassungsfrage clen Appell an die
Nation: Nur sie kann für sich selber wollen. Sie ist vor allem anderen da und der
Ursprung von allem, ihr Wille ist immer gesetzlich, sie ist das Gesetz selbst. Vor
ihr und über ihr gibt es nur das natürliche Recht. Aus ihrem Willen entspringen
zunächst die Grundgesetze, an die die Körperschaften, die durch sie existieren,
dann nicht mehr rühren dürfen. Die eigentlichen positiven Gesetze sind das Werk
des durch die Grundgesetze definierten gesetzgebenden Körpers. Eine politische
Gesellschaft kann nur die Gesamtheit der Gesellschafter sein. Also kommt es in
der ordentlichen oder besser außerordentlichen Vertretung der Nation, die jetzt
zu bilden ist, nur auf die Zahl der Köpfe an. Die verfassunggebende Vertretung
muß sich ohne Rücksicht auf die Unterscheidung nach Ständen bilden.
Abschließend beschwor Sieyes seine Leser, der Dritte Stand möge von den
beiden anderen nicht die Wiederherstellung seiner Rechte erwarten. Es sei zu
spät, an der Versöhnung der Parteien zu arbeiten. Den Privilegierten und na-
mentlich dem Adel sagte er den entsehiedensten Kampf an. Das Volk habe allen
Grund, keine Aristokraten zu wollen, und ›Keine Aristokratie« müsse deshalb
der Sammlungsruf aller Freunde der Nation sein. In diesem Zusammenhang be-
kam auch Montesquieu einen Hieb ab, dessen imponierende Autorität von der
Sieyes 153
mit ein. Immerhin ist zu erwiigen, ob davon in dem zitierten Satz von Sieyès
nicht schon etwas mitschwang. Die rund anderthalb jahre vom Februar 1787,
als Calonne die nötigen Reformen von einer Notabelnversammlung unterstützt
haben wollte, bis zum August 1788, als die Regierung Generalstände für den
Mai 1789 ankündigte, waren voller Leidenschaft und Bewegung, in ihnen gab es
wiederholt tumultuarische Gewalt und mehrfache Rechtsbrüche.
All das sucht der heute übliche Ausdruck ›Vorrevolution der Privilegiertem
zu erfassen, aber es spricht viel dafür, daß dies schon die erste Phase der Fran-
zösischen Revolution war. Nur für ihre eigenen Standesinteressen hatte die
Richterkaste die Öffentlichkeit nicht so mobilisieren können, mochte sie sich
auch noch so geschickt liberaler Positionen bedienen. Das Publikum wollte
schon in dieser Zeit eine grundlegende Reform des Staates, deshalb engagierte
es sich lesend, diskutierend, demonstrierend oder auch schreibend mit großer
Leidenschaft. Die Intensität der Erörterungen nahm noch zu, als klar war, daß
die Generalståinde kommen würden, als also über deren Zusammensetzung und
Verfahrensweise gesprochen werden mußte. Sieyès selbst gab selır konkrete Re-
volutionsanwcisungen, als er sagte, der Dritte Stand solle sich als Nationalver-
sammlung konstituieren und die bis dahin ungerechtfertigt Privilegierten erst
dann in die Nation aufnehmen, wenn sie auf ihre Vorrechte verzichtet hatten.
Zu beachten ist auch, daß die materielle Situation vieler Franzosen schwierig
war. Das Textilgewerbe war wegen des französisch-englischen Handelsvertra-
ges in eine Krise geraten, 1788 hatte es eine Mißernte gegeben, der Preissteige-
rungen gefolgt waren, und der strenge Wiıiter 1788/S9 verschärfte die Krise
noch. Es gab in der Hauptstadt zahlreiche Arbeitslose und viele geringfügig Be-
schäftigte, es gab 1)emonstrationen, Plünderungen und Übergriffe. Diese Hun-
gerrevolten waren an sich unabhangig von der verfassungspolitisch bedingten
Erregung, aber da bei den lebhaften Diskussionen über die Zukunft Frankreichs
die Autorität der amtierenden Regierung vielfach angegriffen oder grundsätz-
lich in Frage gestellt wurde, sind Einwirkungen von der verfassungspolitischen
auf die sozialpolitische Ebene sehr wohl denkbar; bei der weiteren Entwicklung
wurde dieser Faktor sehr gewiclıtig.
Abgeordneten gehörten 245 zum niederen und 46 zum höheren Klerus, 270
zum Adel und 578 zum Dritten Stand, darunter waren rund 200 Advokaten.
Ludwig XVI. bezeichnete die Generalstände zwar als Glücksquelle der Nation,
aber Neckers Rede ließ kein klares Programm erkennen und machte nicht deut-
lich, daß große Konzessionen zu erwarten waren. Von einer neuen Verfassung
war nicht die Rede, aber die Regierung brachte umfangreiche Finanzforderun-
gen vor; in diesem Zusammenhang wurde die steuerliche Gleichbehandlung der
drei Stände zugesagt. Das Abstimmungsverfahren blieb weiterhin offen. Darü-
ber und über die Mandatsprüfung wurde wochenlang verhandelt. Der Dritte
Stand verlangte, daß schon die Mandatsprüfung gemeinsam stattfinden sollte.
Als er sich damit nicht durchsetzte, begann er das Unternehmen allein. In der
Folge traten 19 Abgeordnete aus anderen Ständen zu ihm über, zumeist Geist-
liche. Die so etwas vergrößerte Versammlung dieses Standes erklärte sich am 17.
juni auf Antrag von Sieyès und ganz im Sinne seines im januar publizierten
Programms zur Nationalversammlung.
Die Mehrheit der Geistlichen und 80 Angehörige des Adels schlossen sich
zwei Tage später der Nationalversammlung an - ausgeführt wurde diese Ent-
scheidung am 22. juni. Gegen den Willen Neckers versuchte der König es
zunächst mit Widerstand. Er ließ den Sitzungssaal des Dritten Standes ver-
schließen und verschärfte damit die Situation. Die Abgeordneten begaben sich
nun, am 20. Juni, in den Ballhaussaal und verpflichteten sich in einem von
Sieyès redigierten feierlichen Eid, ››sich niemals zu trennen und sich überall, wo
die Umstände es notwendig machen, zu versammeln, solange bis die Verfassung
des Königreichs geschaffen und auf feste Grundlage gestellt worden ist«'”.
In der Königlichen Sitzung am 23. juni machte Ludwig XVI dem Dritten
Stand wichtige Zugeständnisse, so die Garantie der individuellen Freiheit und
der Pressefreiheit, die Regelmäßigkeit der Steuerbewilligung und die Budget-
kontrolle, er weigerte sich jedoeh, die Abschaffung der Feudalrechte zuzusagen
und die Nationalversammlung anzuerkennen. Er befahl, daß jeder Stand in dem
ihm zugewiesenen Saal tage. Die Konstituienıng der Nationalversammlung sei
verfassungwidrig und nichtig.
Eindruck machte das auf die Anwesenden nicht. Mirabeau erklärte, die Ver-
sammlung sei durch die Wahl des Volkes hier und werde sich nur der Gewalt
beugen. Auf seinen Antrag beschloß die Assemblée Nationale die Unverletz-
lichkeit ihrer Mitglieder. Während dieser Vorgänge kam es zu Unruhen vor dem
Schloß, wobei sich die Gardisten mit dem Dritten Stand solidarisierten und sich
als Armee der Nation bezeichneten. Nun gab der König, gedrängt von Necker,
seinen Widerstand auf und verlangte aın 27. Juni von den in den beiden ersten
Ständen noch Widerstrebenden, sie möchten sich der Nationalversammlung
anschließen. Damit legalisierte er die Entscheidungen seit dem 17. juni.
Das war in seinen Augen freilich noch keine Anerkennung der Tatsache, daß
die Entwicklung über die Generalstände hinweggegangen sei, er meinte, nur die
l56 Vl. lirankreich 1787-1814
Abstimmung nach Köpfen konzediert zu haben. Das wurde wenig später sehr
deutlich. Am 8. Juli setzte die Nationalversammlung einen Ausschuß zur Aus-
arbeitung einer Verfassung ein, und am folgenden Tage nahm sie die Bezeich-
nung Verfassunggebende Nationalversammlung an. Der König war nicht bereit,
das anzuerkennen. Auf Drängen der Königin und seiner aristokratischen Um-
gebung ließ er sogleich Truppen in beachtlicher Anzahl um Versailles zusam-
menziehen, namentlich deutsche und schweizerische Regimenter, denn an der
Loyalität französischer Einheiten bestanden inzwischen beträchtliche Zweifel.
Den Wunsch der Nationalversammlung nach Zurücknahme der Streitkräfte
wies er am 10. juli zurück, und einen Tag später entließ er den vernıittlungsbe-
reiten Necker.
Manche Historiker nennen diese Wochen im juni und juli die juristische Revo-
lution, da die Deputierten über die bisher geltenden Rechtsgrundlagen hinweg-
gingen. Nun ist Rechtsbruch das Kennzeichen ieder Revolution. So besagt die-
ses Beiwort doch viel weniger als es soll, ia, es vcrschleiert die Dinge. Denn
schon in dieser frühen Phase war die Auseinandersetzung keineswegs auf den
Austausch von Rechtsstandpunkten beschränkt. Die Unruhen vor dem Schloß
am 23. juni und die Solidarisierung der Gardisten mit dem Dritten Stand be-
zeichneten eine andere Dimension. Die Abfolge der Ereignisse seit dem 17. ju-
ni war der Höhepunkt und Abschluß des doch wohl 1787, spätestens aber im
Sommer 1788 einsetzenden ersten Abschnitts des revolutionären Prozesses.
Der ll. juli markierte auf jeden Fall eine tiefe Zäsur. Durch Hinnahıne der Tat-
sache, daß sich Frankreich auf dem Wege zur Konstitutionellen Monarchie be-
fand, hätte Ludwig XVI. die Stimmung beschwichtigen und einen kontinuierli-
chen Ubergang vom alten in den neuen Zustand bewirken konnen. Mit der
Drohgebärde durch die Zusanınıenıiehung von Truppen und der Entlassung
Neckers und der anderen reformwilligen Minister tat er das Gegenteil: er goß
Öl in das Feuer. Allenthalben kam nun die Befürchtung auf, es sei ein Zugriff
auf die Nationalversammlung geplant, und es stehe eine neue Bartholomäus-
Nacht bevor. Die Folgerung daraus war klar: das Volk mußte sich wehren und
brauchte also Waffen. Namentlich die iın Hause des Herzogs Louis-Phillipe
von Orleans, dem Palais Royal, tagenden entschiedenen Revolutionäre agierten
in diesem Sinne. Sie hatten damit durchschlagenclen Erfolg. Die Pariser be-
Der Bastillesturm 157
Der Bastillesturm machte überall iıı Europa Eindruck, er wurde von einer ziel-
strebigen Propaganda schnell zum Mytlıos der Revolution überhaupt stilisiert.
Damit wurde dem eher zufälligen Ereignis jedoch zuviel Ehre angetan. Die
Einnahme der Bastille war keine entscheidende Weiclıenstellung wie der 17. ju-
ni, und sie bewirkte auch nichts, was sich ııicht ohnehin ergeben hätte, aber der
Vorgang beschleunigte den revolutionären Prozeß für eine Weile doch erheb-
lich und ließ so etwas früher und unter stärkeren Konvulsionen eintreten, was
binnen kurzem sowieso geschehen wiirc. Das Beispiel von Paris gab den An-
stoß zu der das ganze Land umfassenden sogenannten Kommunalrevolution.
Überall zogen die Bürger die Administration an sicli uııd bauten eine gemein-
hin leistungsfiihige Selbstverwaltung auf. Die Stellung der Krone wurde da-
durch ganz erheblich geschwächt. Auch das flache Land blieb nicht ruhig.
Schon im Frühjahr hatten die B.iueı'n vielerorts die Leistung der Feudalabga-
beit verweigert, in der Provence und in der Picardie hatte es Aufstände gegen,
und jetzt, seit Mitte juli, erfaßten diese Unruhen weite Teile der Monarchie.
Vielfach wurden Ilcrrensitzc .uıgegriffen und die Archive mit den dort vor-
handenen Unterlagcn über die zu erbringenden Leistungen vernichtet, und
überall bewaffnete man sich gegen einen vermeintliclı bevorstehenden Angriff
der bisherigen Machthaber - dies war die sogenannte Grande Peur. Das ländli-
che Geschehen war zum Teil unmittelbare Reaktion auf die materielle Not, es
speiste sich des weiteren aus der Enttäuschung darüber, daß der König in seine
Konzessionen nicht auch die Beseitigung der Feudallasten einbezogen hatte -
über die Entwicklung in Paris und Versailles war man gut informiert -, und
mati wollte Nationalversammlung und Regierung zur Berücksichtigung der
agrarischen Belange bringen. Die Revolution gewann so eine deutlich soziale
Dimension.
158 g „VI.Frankreich1787-181í__ _ g_à_ ___, _ __*
Der nächste wichtige Schritt war die Erklärung der Menschen- und Bürger-
rechte. Über einen derartigen Rechtekatalog hatte man seit längerem diskutiert,
und namentlich Lafayette hatte darauf hingewirkt. Es lagen Dutzende von Ent-
würfen vor, und der aus der Feder Lafayettes war Anfang des jahres von
Franklin korrigiert worden. Die Erklärung sollte das Fundament des Verfas-
rfirmμ V rg W V *Dic Erkläiung der Menschen- und Bürgerrechte 7 152
verabschiedeten Textes, wie die Präambel klar ausweist, die Franzosen, was in
der Folge nicht ausschloß, daß von den Menschen schlechthin gesprochen wur-
de, daß die hier angemeldeten Forderungen also universell gelten sollten. Nicht
anders verhielt es sich jedoch mit der dreizehn Jahre älteren Virginia Bill of
Rights; auch dort war in der Präambel die Rede von den Virginiern und ihren
Nachkommen, im Text sodann von allen Menschen. Ähnlich war die amerika-
nische Unabhängigkeitserklärung angelegt: ganz eindeutig wurden hier univer-
selle Aussagen gemacht. Man kann mithin nicht davon sprechen, daß die Ent-
wicklung der Menschenrechte mit dem 26. August 1789 auf eine neue Stufe
gelangt ware.
Mit der Ausfertigung der auf den Beschlüssen vom 4./5. August beruhenden
Gesetze ließ der König sich viel Zeit, während die Nationalversammlung lang-
Wierig darüber diskutierte, ob der Monarch überhaupt ein Veto habe - schließ-
lich gestand man ihm ein suspensives zu, das er sogleich gegen die Abschaffung
der Feudalordnung einlegen wollte, ehe er sich zu einer einfachen Veröffentli-
chung durchrang. Dieses Hin und Her, reaktionäres Verhalten am Hof, Versor-
gungsschwierigkeitcn in der Hauptstadt und der Befehl an ein nordfranzösi-
sches Regiment, nach Versailles zu marschieren, sorgten in Paris für viel Unmut.
Am 5. Oktober machten sich Tausende von Frauen von dort auf den Weg nach
Versailles, um König und Nationalversammlung in die Hauptstadt zu holen -
selbstverständlich kam es nicht spontan zu diesem Marsch; er war wohlbedacht.
Die Deputierten verloren, als sie nach Paris übersiedelten, viel Bewegungsfrei-
heit und Unabhängigkeit; sie mußten fortan stets damit rechnen, daß die Straße
auf ihre Entscheidungen Einfluß zu nehmen suchte. Insofern war der 5. Okto-
ber ein wichtiges Datum der Revolution.
die sogenannten Assignaten, als durch die als Nationalgüter bezeichneten bis-
herigen kirchlichen Grundstücke gedeckt zu erklären. Das war angängig, solan-
ge man die Assignaten auf den Wert der Nationalgüter begrenzte. Da es aber an
dieser Disziplin mangelte, wurden die Assignaten schnell entwertet.
Ebenfalls noch im Herbst 1789 wurden Pläne für eine durchgreifende Mo-
dernisierung der administrativen Strukturen Frankreichs ausgearbeitet und im
Februar 1790 von der Nationalversammlung gebilligt. Die Monarchie wurde
nach geographischen Gesichtspunkten in 83 ziemlich gleichgrolše Verwaltungs-
bezirke eingeteilt, die Departements, die wiederum in Distrikte, Kantone und
Gemeinden untergliedert wurden. Alle diese Einheiten erhielten das Recht der
Selbstverwaltung, auszuüben durch von den Bürgern gewählte Ratskollegien,
die ihrerseits zur Handhabung der jeweiligen Exekutive Direktorien von vier
bis acht Mitgliedern wählten. Damit waren die Grundstrukturen des bis heute
bestehenden Verwaltungssystems geschaffen, allerdings blieb die ausgeprägte
Selbstverwaltung nicht lange bestehen. Gleich zu Beginn der Republik wurde
sie einer straffen Staatsaufsicht unterworfen. die viel schärfer durchgriff als in
der alten Monarchie. In den frühen 1790er jahren jedoch war Frankreich in ge-
wisser Weise eine Föderation von Departements mit sehr großem Handlungs-
spielraum. Staatliche Beamte gab es in ihnen nicht, allerdings konnte der König
Verordnungen der Departements aufheben - gegen eine solche Maßnahme war
Berufung an die Nationalvcrsaınnılung möglich. Alle bisherigen Behörden wur-
den beseitigt. Die Parlamente, deren Widerstand gegen die staatliche Moderni-
sierung den gesamten revolutionären Prozeß in Gang gesetzt hatte, wurden
schon in November 1789 beurlaubt, im Anschluß daran wurde das Gerichtswe-
sen gründlich neugcordnet. In Strafsachen sprachen nun Geschworene Recht,
ansonsten Friedensrichter. Der Oberste Gerichtshof war von der Krone unab-
hangig, aber die Natitmalversammlung hatte Einfluß auf ihn, da nur sie das
Recht der Anklage hatte.
Auch die Stellung des Königs wurde gründlich geändert. Die Gottesgnaden-
formel in seinem Titel wurde zwar beibehalten, aber ein Bezug auf die noch gar
nicht fertiggestellte Verfassung lıiııztıgefiigt. Beging er Hochverrat oder verließ
er das Land ohne Erlaubnis der Nationalversammlung, konnte er abgesetzt
werden. Er hatte nach wie vor das Recht, seine Minister nach eigener Entschei-
dung zu berufen, aber diese waren der N~.ıtionalversamm|ung verantwortlich
und hatten ihr auch monatlich über ihr Finanzgebaren zu berichten. Kein kö-
niglicher Akt hatte Gültigkeit, wenn er nicht von einem Minister unterzeichnet
war. Die Krone war ihrer alten Macht also weitgehend entkleidet. Da die Mini-
ster nicht Mitglied der Nationalversaııımlung sein durften, konnten sie keine
neue feste Machtbasis gewinnen, auch sie waren mithin schwach.
Die Stellung der Geistlichkeit wurde durch die Zivilkonstitution des Klerus
vom 12.Juli 1790 neu gefaßt. Pfarrer und Bischöfe gingen fortan aus Wahlen -
durch Wahlmiinnerkollegien resp. Departementsräte - hervor, und alle kirchli-
Fortgang der Revoluti_on_ 163
chen Amtsträger mußten einen Eid darauf ablegen, daß sie der Nation und dem
König treu sein wollten und mit aller Kraft für die von der Nationalversamm-
lung beschlossene Verfassung eintreten würden. Wer diesen Eid nicht leistete,
verlor sein Amt - es gab eidverweigernde Priester in großer Zahl, zumal der
Papst im April 1791 die Eidesleistung verbot.
Innerhalb nur eines jahres waren die Strukturen Frankreichs völlig verandert.
Keine der früheren Revolutionen hatte so gründliche Arbeit geleistet wie die
französische in ihrer zweiten, 1789 einsetzenden Phase. Die Radikalität, mit der
die von Sieyès so genannten gotischen Absurditäten beseitigt wurden, machte
auf die europäische Öffentlichkeit tiefen Eindruck und trug erheblich dazu bei,
daß der Mythos entstehen konnte, dies sei die Revolution schlechthin, die tiefe
Scheidelinie zwischen Ancien régime und Moderne. Einzig die englische Revo-
lution unter dem bestimmenden Einfluß Croınwells ab 1648 könnte hinsicht-
lich der Entschlossenheit ihrer Träger neben die Entwicklung in Frankreich ge-
stellt werden, allerdings hatte sich der Wille zur Neuordnung damals auf ein
wesentlich schmaleres Feld beschränkt.
In dieser zweiten Phase der Revolution war die Nationalversammlung das ent-
scheidende Machtzentrum Frankreichs. Sie verfügte ohne weiteres auch über
die Exekutive. Allerdings war dieses für eine straffe parlamentarische Arbeit viel
zu große Gremium, das zudem nicht einmal eine klare Geschäftsordnung besaß
und deshalb sehr umständlich zu Werke ging, keine Einheit. Die Nationalver-
sammlung zerfiel in deutlieh unterscheidbare Großgruppen, die wir Parteien
oder Fraktionen nennen dürfen, .nıclı wenn sie instittıtionell noch nicht ver-
dichtet waren.
Die Mehrheit des Hauses saß links. Dies waren etwa 700 Abgeordnete, die
sogenannten Patrioten. Ibr bekanntester Politiker war Mirabeau. Der größere
Teil der Gruppe muß als entschieden liberal verstanden werden; Vordenker die-
ser vergleiclısweise gemäßigten Unterfraktion waren Sieyes, Talleyrand und
Lafayette. Letzterer genoß als Teilnehmer am amerikanischen Unabhängig-
keitskrieg große Popularität und hatte 1789 und 1790 einigen Einfluß auf den
König. Neben den liberalen gab es, nach links hin, auch radikale Patrioten und
zudem die von Robespierre geführte äußerste Linke. ln der rechten Mitte saßen
die sogenannten Anglomanen oder Monarehisten, deren bedeutendster Vertre-
ter bis zu seinem Exil schon Ende 1789 Mounier war. Sie erstrebten eine Mon-
archie nach englischem Vorbild, dachten sich die Krone also sehr viel starker als
die Mehrheit des Hauses und maßen auch dem Adel eine besondere politische
Rolle bei. Auf der Rechten befanden sich die Aristokraten oder Schwarzen, de-
nen die Interessen des Adels besonders am Herzeıı lagen, die aber keineswegs
nur aus Adligen bestanden. Sie waren konservativ in ständiseher Prägung, woll-
ten also einen nur vorsichtigen Umbau Frankreichs. Die Augustbeschlüsse gin-
gen ihnen zu weit.
†l_64 Vl. l'irankreichAl78_7-E4 V _
Potırıscnıı Ktußs
DIE VliRlfASSUNGSARBF.lT
Bei der Ausarbeitung der Verfassung in dem von der Nationalversammlung ein-
gesetzten Ausschuß waren die Abgeordneten Mounier und Sieyes führend. Bei-
Verfassungsarbeit 165
Der Verfassung vorangestellt war die Erklarung der Rechte vom 26. August
1789. Unter Bezug darauf hieß es sodann, daß die Nationalversammlung nun
unwiderruflich die Einrichtungen abschaffe, die die Freiheit und Gleichheit der
Rechte verletzten. Es gebe keinen Adel mehr, keine erblicheıı oder Standesun-
terschiede, keine Privilegien, keinen Ämterkauf, keine '/.ünftc und sonstigen
Körperschaften - diese waren gesetzlich einige Monate zuvor beseitigt worden
~, keine geistlichen Gelübde oder andere Verbindlichkeiten, die den natürlichen
Rechten oder der Verfassung entgcgenstünden.
Titel I benannte nochmals die Grundpositionen, also die wesentlichen Men-
schenrechte, die Unverletzliclıkeit des Eigentums. die Garantie der National-
güter, die Öffentlichkeit des Schulwescns. Titel II behandelte die neue Verwal-
tungsorganisation und das Bürgerreclıt. Hier hieß es einleitend: »Das König-
reich ist einheitlich untl unteilbar« - une ct indivisiblc'”. Titel III regelte die
Öffentliche Gewalt. Alle Gewalt staııımt von der Nation, wird aber durch Dele-
gation ausgeübt. Die französische Verfassung ist rcpråisentativ, die Repräsentati-
ten der Nation sind der Gesctzgebende Körper und der König; der Monarch
wird also als Staatsorgan definiert. Die gesetzgebende Gewalt, die Nationalver-
sammlung, wird vom Volk frei und auf Zeit gewählt. Die Exekutive steht dem
König zu, ist aber durch Minister und andere verantwortliche Beaıııte nach den
Vorschriften der Verfassung zu handhaben. Die richterliche Gewalt ist den
durch das Volk auf Zeit benannten Richtern übertragen.
Die Verfassung vom 3.9.1791 167
In etlichen Kapiteln und Abschnitten wurden sodann die drei Gewalten de-
tailliert abgehandelt, einschließlich des Wahlrechts, über das man sich schon En-
de 1789 gesetzlich verständigt hatte. Die auf zwei jahre gewählte und nicht auf-
lösbare Nationalversammlung sollte 745 Abgeordnete haben, die indirekt nach
Steuerleistung, Fläche und Bevölkerung der Departements durch alle Aktivbür-
ger gewählt werden sollten. Aktivbürger war, wer eine Steuer im Wert von drei
Arbeitstagen zahlte und Mitglied der Nationalgarde war, er mußte 25 Jahre alt
sein und durfte nicht dem Bedientenstand angehören. Es gab rund 4,3 Mill. Ak-
tivbürger und 3 Mill. nicht wahlberechtigte Passivbürger. Somit hatten drei
Fünftel der männlichen erwachsenen Franzosen das Stimmrecht. Diese recht
breite Auslegung wurde aber durch das indirekte Wahlverfahrcn sogleich emp-
findlich eingeschränkt. W-ahlmann konnte nur werden, wer ein Vermögen be-
saß, das je nach Region dem Ertrag von hundertfiinfzig bis vierhundert Ar-
beitstagen entsprach. Das war ein sehr kleiner Personenkreis, und es war
anzunehmen, daß diese Leute die Parlamentarier aus den eigenen Reihen aussu-
chen würden. Die Abgeordneten mußten Aktivbürger sein. Es bestand Inkom-
patibilität von Amt und Mandat, auch für Richter. Eine einmalige Wiederwahl
war zulässig, dann mußte bei der Wahrnehmung eines Mandats eine Pause von
zwei jahren eintreten.
Das Königtum war erblich und unverletzlich. Ausdrücklicli wurde festge-
halten, dalš auch die Autorität des Monarchen unter dem Gesetz stand. Er ››re-
giert nur durch dieses. Und nur im Namen des Gesetzes kann er Gehorsam
\'erlangen.« Der König hatte einen Vcrfassungscid zu leisten. Sein Privatbesitz
wurde mit den Nationalgütern vereinigt, dafür erhielt er eine Zivilliste. Der
König wurde, wenn man so will, enteignet und verbeamtet. Er allein hatte die
Minister zu berufen und zu entlassen, aber sie durften keine Abgeordneten
sein. Alle königlichen Akte bedurfteıı der Gegenzcichnung. Allein die Legisla-
tive hatte das Recht der Gesetzcsinitiatix-'e, und nur sie hatte über Gesetze,
Steuern oder Kredite zu bt-sclilielšen. Ihre Zustimmung war auch fiir Krieg-
fülirtııig und Friedensschlulš vonnöten. Bei Gesetzesbeschlüssen hatte der Kö-
nig ein llingstens über zwei Legislaturperioden reichcndes suspensivcs Veto.
Verfassungsäntlcrungen, Beschlüsse über innere Sicherheit, Fragen des Wíihlens
und des Steuerwesens bedurften keiner Bestätigung. Selbstverständlich konnte
tlie Nationalversaınmlung vollig frei über ihre eigenen Angelegenheiten ent-
scheiden.
Die Titel IV bis VI behandelten die Streitkräfte, die öffentlichen Ausgaben
und die auswärtigen Beziehungen, der Titel VII regelte den modus procedendi
bei Verfassungsänderungen. Eine Anderung mußte in drei Legislaturperioden
gefordert werden, in der vierten, also nach wenigstens sechs jahren, sollte dann
eine Revisionsversammlung gebildet werden, indem zu den 745 Abgeordneten
nochmals 249 hinzugewählt wurden; diese Versammlung sollte auf dem Wege
der Normalgesetzgebung über den Anderungsvorschlag befinden.
168 V VI,Fíankreich lälz-1814 ††_ g A A 1 _
Das Verfassungswerk war nicht wirklich gelungen. Es war viel zu detailliert und
enthielt zahlreiche Vorschriften, die in ein Grundgesetz nicht hineingehörten -
über eine recht lange Strecke war es nichts weiter als eine Wahlordnung. Die in
der zweijährigen Bearbeitungszeit festgelegten Vorschriften enthielten manche
Schwächen. Trotz der vielfachen Mahnungen derer, die sich mit der Gewalten-
teilung beschäftigt hatten, es komme auf die Gewaltverschränkung an, lag in
diesem Punkte ein Hauptmangel. Die Abgeordneten hatten sich viel zu sehr
von Mißtrauen gegen die Exekutive leiten lassen und Exekutive und Legislative
strikt getrennt. So konnte die Regierung, die die legislativen Bedürfnisse ver-
mutlich genauer kennen würde als die nur kurzfristig tätigen Abgeordneten,
von sich aus keinen Gesetzesentwurf auf den Weg bringen. Ebenso nachteilig
war, daß kein Abgeordneter Minister sein durfte - somit wurde eine konstruk-
tive Zusammenarbeit von Legislative und Exekutive erschwert. Minder gravie-
rend war angesichts der kurzen Legislaturperiode die fehlende Auflösungsmög-
lichkeit. Die Kürze der Wahlperiode und das Verbot der Wiederwahl nach vier
Jahren - auf Anregung von Robespierre -waren problematisch, ebenso die
große Selbständigkeit der Verwaltung im lokalen Bereich. Es gab gute Gründe
zum Zweifel, ob Frankreich mit dieser Verfassung wurde leben können.
Nachdem der König die Verfassung am 13. September gebilligt und am Tage
darauf den Eid auf sie abgelegt hatte, löste sich die Nationalversammlung Ende
des Monats in der Überzeugung auf- so jedenfalls ihr Präsident -, Frankreich
diejenige Regierungsform gegeben zu haben, die dem Lande am besten entspre-
che und gleicherweise Königtum und Freiheit garantiert-_
Die Wahlmänncr-Wahlen fanden noch vor dem Fluchtversuch des Königs
statt. die der Abgeordneten danach. Die neue Nationalversammlung war mit
745 Mandatsträgern kleiner als ihre Vorgängerin, aber immer noch zu groß. Die
meisten Parlanmntarier hatten in den zurückliegenden beiden jahren intensive
politische Erfahrungen gesammelt. viele in den überall in Frankreich bestehen-
den jakobinerklubs. Insgesamt stand der Gesetzgebende Korper - dies war die
in der Verfassung am häufigsten auftauchende Bezeichnung des Gremiums -
deutlich weiter links als die bisherige Konstituante. Die Feuillants bildeten jetzt
die Rechte, sie stellten 264 Abgeordnete. Sie betrachteten den erreichten Verfas-
sungszustand uneingeschränkt als befriedigend, wollten die Entwicklung also
nicht mehr weiter vorantreiben. Eür die I36 Angehörigen der Linken war hin-
gegen am 3. September nur eine Etappe erreicht, von der aus es weiter voranzu-
Die letzte Phase der Monarchie 1791/92 169
schreiten galt. Hier auf der Linken saßen auch die Vertreter der Gironde, die
mit anderen Gesinnungsfreunden schnell eine besondere Rolle spielten. Mehr
als 300 Deputierte waren politisch noch nicht genau festgelegt, die Verhältnisse
waren also noch fließend und nicht genau berechenbar. Die frühere Mitte und
die alte Rechte waren ausgeschieden, und zahlreiche dieser Männer waren schon
in der Emigration. Die ausgeprägte Linksverschiebung bei den Wahlen ergab
sich aus dem landesweit hohen Organisationsgrad derjakobiner, aus dem ihnen
zugcwachsenen großen Einfluß auf die öffentliche Meinung, aus ihrem ge-
schickten Agieren bei der Präsentation der Wahlmänner und aus der Tatsache,
daß Andersdenkende es angesichts des jakobinischcn Meinungsdrucks vorze-
gen, sich politisch zurückzuhalten und zu schweigen. Mit Sicherheit entsprach
die Zusammensetzung des Gesetzgebenden Körpers der politischen Stimmung
im Lande nur ungenau. Die Linksverschiebung setzte sich in der Folge fort, im
Parlament wie in der Öffentlichkeit. Die Bedeutung des jakobinerklubs nahm
zu, die der Feuillants ab. Wenig Gewicht hatte zunächst auch der streng repu-
blikanisch-demokratische Klub der Cordcliers, der auf die von Georges Dan-
ton gegründete Gesellschaft für Menschen- und Bürgerrechte zurückging.
Der König fand die Verfassung schrecklich, aber er beugte sich den Verhält-
nissen. Bei der Personalpolitik nahm er durchaus Rücksiclit auf die Zusammen-
setzung der Legislative. Schlielšlich bildete er ein ausgesprochenes Gironde-Mi-
nisterium, auf das der journalist jean Pierre Brissot den größten Einfluß hatte.
Er hoffte freilich auf einen Wandel der Dinge. Das Volk werde von der radika-
len Führung bald genug haben, so meinte er, und setzte auch auf die europäi-
sche Solidarität ınit der französischen Kroııe. Von einem Kongreß der
Grolšmächte, der von der Bereitstellung einer beachtlichen Streitmacht begleitet
sein sollte, erwartete er eine Wende. Darum ging es in seiner privaten Auslands-
konferenz. An die französische Öffentlichkeit drang davon nichts, aber es lie-
fen doch allerlei Gerüchte um, zumal die Emigranten, unter ihnen die Brüder
des Königs, ganz aktiv auf eine Intervention hinarbcitcten; im Winter 1791/92
begannen sie im Kurfürstentum Trier nıit der Aufstellung einer Exilarmce.
Unter denjenigen Franzosen, die einen Krieg mit den europäischen Mächten
für notwendig hielten, wirkte Brissot am eifrigsten in diesem Sinne. Üabei mo-
tivierte ihn ein idealistisches Senclungsbewulštsein: er wollte den Ertrag der Re-
volution nach aulšen tragen. Zudem erwartete cr, daß ein Krieg die Situation in
Frankreich stabilisieren werden. Andere, die ebenfalls an einen Krieg dachten,
verbanden damit auch materielle Interessen oder argumentierten mit machtpo-
litischen Erwägungen. Brissot kam immer wieder auf das Thema zurück. Dabei
bot ihm die Emigrantenfrage die beste Argumcntationshilfe. Diese Räuberban-
de müsse, so rief er am 16. Dezember 1791 aus, vernichtet werden. Geschehe
das nicht, so müsse man sich in Frankreich mit der Fortdauer von Parteiungen,
Verschwörungen und Brandstiftungen, die er alle als von außen in das Land
hineingetragen ansah, abfinden. Mit einem einzigen Schlag gegen Koblenz, die
170 VI. Frankreich 1787-1814
Hauptstadt des Kurfürstentums Trier, könne all das beseitigt. die Unzufrieden-
heit in Frankreich vernichtet werden. Auch der König war je länger desto we-
niger einer bewaffneten Auseinandersetzung abgeneigt. Ging sie für Frankreich
günstig aus, so würde das das Prestige der Krone stärken, endete sie unglück-
lich, so würden die Sieger über Frankreich entscheiden, also die Revolution nie-
derwerfen und den Monarchen wieder in seine alten Rechte einsetzen.
Dabei unterschätzte er freilich die Konfliktbereitschaft der Mächte. In ihrer
Erklärung von Pillnitz sagten Leopold Il. und der preußische König Friedrich
Wilhelm Il., daß die Situation, in der sich der König von Frankreich befinde, al-
le Monarchen von Europa interessieren müsse. Sie hofften, daß die europäi-
schen Mächte dieses Interesse anerkennen und sich in der Folge nicht weigern
würden, »gemeinschaftlich mit den unterzeichneten Maiestäten, gemäß ihren
Kräften, die wirksamsten Mittel anzuwenden, um den König in den Stand zu
setzen, in größter Freiheit die Grundlagen eines monarchischen Regiments zu
festigen, die gleichermaßen den Rechten des Souveräns als dem Wohl der fran-
zösischen Nation cntsprechen. Dann und in diesem Falle sind der Kaiser und
der König von Preußen entschlossen, sofort in wechselseitigem Verständnis mit
den notwendigen Hilfsmitteln zu handeln, um gemeinsam den erstrebten
Zweck zu erreichen. ln der Voraussetzung werden sie ihren Truppen die geeig-
neten Befehle erteilen, um sie in den Stand zu setzen, eitizuschreiten-<1“. In
Frankreich wurde das als offene Kriegsdrohung aufgefaßt, tatsächlich zielte die
Erklärung aber nur auf eine diplomatische Demonstration, die immerhin von
gewissen militärischen Vorbereitungen ergänzt werden sollte. Dem entsprach
es, daß die beiden Monarchen nicht bereit waren, eine Exilregierung des Grafen
von Provence anzuerkennen; dieser Bruder Ludwigs XVI., Ludwig-Stanislaus.
wollte für den seiner Handlungsfreiheit beraubten König die Regentschaft an-
treten. Mit der französischen Verfassung war Leopold ganz einverstanden. Für
eine diplomatische Intervention sah er nach ihrer Annahme durch Ludwig XVI.
keinen Anlaß mehr und teilte das den Mächten Mitte November in einer Zir-
kularnote auch mit.
In Frankreich steigerte sich die Kriegsbereitschaft dagegen bis Anfang April
1792 zur ausgesprochenen Kriegsbegeisterung breiter Kreise. Dabei spielte die
Eınigrantenfrage eine gewichtige Rolle, ferner die Tatsache. daß die deutschen
Fürsten, die im Elsaß Besitz hatten, ihre Rechte dort immer noch w.ıhrnahmen.
Einige Wochen nach dem Tode Leopolds ll. erklärte Frankreich Franz II. » die
Kaiserkrönung erfolgte allerdings erst im juli - den Krieg. Dieser Schritt wurde
mit der Weigerung begründet, eine Truppenreduzierung an der Grenze vorzu-
nehmen, ferner mit der fortdauernden Unterstützung der Emigranten durch
den Kaiser und mit seinem Eintreten für die Rechte der deutschen Fürsten itn
Elsaß. Die Nationalversamnılung erklärte, daß die französische Nation »die
Waffen nur zur Verteidigung ihrer Freiheit und Unabhängigkeit ergreift«, daß
sie also keinen Angriffskrieg mit der Absicht von Eroberungen führe“".
Die letzte Phase der Monarchie 1791/92 171
Anfänglich verlief der Feldzug für Frankreich schlecht. Das hatte für die
Stimmung im Innern sehr nachteilige Folgen. Sowohl auf der Linken wie auf
der Rechten versteifte sich die Haltung, die zahlreichen religiösen Unruhen, die
es im Westen und im Süden gab, steigerten sich, und es kam zu heftigen Span-
nungen zwischen dem König und der Regierung. Streitpunkte waren die Auf-
lösung der königlichen Garde und die von der Legislative gewünschte Deporta-
tion der eidverweigernden Priester. Dagegen legte Ludwig XVI. sein Veto ein.
Dies war ein Akt, den die jakobiner als Konterrevolution werteten. Als er zu-
dem noeh das girondistisehe Ministerium entlielš und die Nachfolger aus den
Kreisen der Feuillants wählte, veranstaltete die äußerste Linke auf Initiative von
Danton machtvolle Demonstrationen. Tausende von Sansculotten besetzten am
20. juni. dem Jahrestag des Ballhııusschwurs, das Tuilcrien-Schloß und mar-
schierten stundenlang durch die königlichen Gemiicher, wobei sie den Monar-
chen als Monsieur Veto beschimpften und ihn auch sonst verhölınten. An seiner
Haltung änderte das nichts.
Der Vorgang versetzte ganz Frankreich in neue, sich schnell steigerncle
Gärung. Cordeliers und Jakobiner entfalteten eine intensive Agitation gegen die
Krone. Die allmählich aus allen Teilen Frankreichs eintreffenden revolutionären
Delegationen - am 8. juni hatte die Nationalversammlung zu einem neuen Fö-
derationsfest geladen - schalteten siclı lebhaft in die Pariser Bewegung ein. Aııs
ihren Reihen und aus den Pariser Sektionsversamınlungen wurde immer wieder
die Forderung laut, daß die Nationalversammlung den Monarchen absetzen
und daß ein Nationalkonvent zusammentreten solle. Am 20. juli erklärten die
Föderierte-n, daß die Gefahr keineswegs an der Grenze drohe, sondern daß Pa-
ris sich unter Führung eines treulosen Hofes zum Sammelpunkt der Feinde des
Vaterlandes entwickelt habe. »Hier in Paris müssen wir siegen, und wir haben
geschworen, hier zu bleiben. Hier ist unser Posten, hier ist der Ort unseres Tri-
umphes, oder hier ist der Ort unseres Grabes«'3°. Bezeichnenderweisc wies
auch die von Robespierre und Brissot initiierte lirklärung der Nationalver-
sammlung vom ll._Iuli, daß das Vaterland in Gefahr sei, gleich einleitend auf die
vermehrten Anstrengungen der Feinde der Ordnung und das Unısichgreifen
von Unruhen in allen Teilen des Reiches hin, die das Gemeinwesen in Gefahr
bräehten und Zweifel am Gelingen der Erneuerung Frankreichs weckten; auch
sie stellte die innere Bedrohung des Staates an dıe erste Stelle.
Äulšerungen, die zur Besonnenheit mahnten, lösten heftigen Widerspruch aus
und verstärkten auf der Linken die Empfindung. daß eine konterrevolutionäre
Verschwörung in Gang sei. Lafayette etwa kam Ende juni von der Front in die
Hauptstadt und erklärte vor der Nationalversammlung, daß die Vorgänge des
20. juni den Unwillen aller guten Bürger hervorgerufen hätten, auch in der Ar-
mee. Man frage sich dort vielfach, ob man noch die Sache der Freiheit und der
gesetzlichen Ordnung verteidige. Es sei Zeit, »die Verfassung gegen Anschläge
zu schützen, welche Partei auch immer sich Mühe gibt, solche zu wagen, die
172 Ä Vl. Frankreich 178711811 _ _ 7 __, __
Diese Anstifter standen ganz im Mittelpunkt der Bestrebungen auf den Sturz
der Monarchie, allen voran Robespierre und Brissot. Sie sorgten dafür, daß der
Druck auf die Nationalversammlung sich ständig erhöhte, und bereiteten für
den Fall, daß die Pressionen nicht zum Erfolg führten, einen Aufstand vor. Un-
ter dem radikalen Meinungsdruck entschlossen sich fortdauernd Abgeordnete,
an den Beratungen des Gesetzgebendeıı Körpers nicht mehr teilzunehmen; der
Versuch, Lafayette unter Anklage zu stellen, sprach Bände. Mehr und mehr Pa-
riser Sektionen traten für die Absetzung des Königs ein. Schließlich stellten sie
der Nationalversammlung ein auf den 9. August befristetes Ultimatum. Als die
Legislative der Forderung nicht naclıkam, erhoben sich die Sektionen in der fol-
genden Nacht. Es bildete sich ein revolutionärer Stadtrat, der die Aktionen lei-
tete und insbesondere dafür sorgte, daß die N-ationalgarde keine Schwierigkei-
ten machte. Die Tuilerien wurden umstellt. Der König flüchtete in den Schutz
der Nationalversammlung. Am Nachmittag kaın es gleichwohl zum Kaınpf um
das Schloß. Dabei verloren etwa 100 Aufständische ihr Leben, und zur Rache
dafür wurden Hunderte von Schweizergardisten massakriert, viele erst, nach-
dem sie sich ergeben hatten. Wahrend der Kämpfe verließ der größere Teil der
Abgeordneten die Nationalversammlung, die verbleibenden etwa 300 Deputier-
ten der Linken bildeten eine provisorische Exekutive, in der Danton die Justiz
und die Funktionen eines leitenden Ministers übernahm, suspendierten den
Monarchen- er wurde mitsamt seiner Familie in einem mittelalterlichen Wach-
turm interniert - und kündigten die Auflösung der Legislative an. Das souver-
äne Volk einschließlich der bisherigen Passivbürger sollte einen neuen Natio-
nalkonvent berufen. Damit war die am 3. September 1791 verabschiedete
Verfassung aufgegeben, die Revolution lıatte eine neue Stufe erreicht.
Die revolutionäre Machtergreifung der Linken am 10. August forderte allein
in Paris etwa 1000 Menschenleben. Sie löste eine neue große Emigrationswelle
aus, denn nach der Entwicklung in den zurückliegenden acht Wochen war klar,
daß die neuen Machthaber, die nur für eine Minorität der Pariser und für eine
ik ††_ Die Sehreckenszeit 173
Dııa ScHRF.cıteNszeı'ı'
Der Koni-'ent sollte Frankreich eine neue Verfassung geben, er maß dieser Auf-
gabe angesichts des Krieges und der inneren Gegensätze aber keine Prioriät bei.
I74 Vl. Frankreich l7SZ-lSl4 7 _* _ g _
den. Dazu kamen die Opfer des Bürgerkriegs, der 1793 etwa zwei Drittel
Frankreichs erfaßte. Am heftigsten war der Widerstand gegen die in Paris ge-
machte Politik in der Vendée im weiteren Sinne, also dem Küstenstrich am At-
lantik von der Südgrenze der Bretagne bis nördlich der Gironde-Mündung. Die
Region erhob sich im März 1793, und erst im Dezember 1794 wurde ein Ende
der Kampfhandlungen vereinbart - sie flackerten später aber wieder auf und
waren erst Anfang 1800 völlig beendet. Die Regierungstruppen gingen mit
äußerster Brutalität vor. Im Dezember 1793 rühmte sich der hier kommandie-
rende General Westermann, er habe die Vendée in den Sümpfen von Savenay
begraben, keinen einzigen Gefangenen gemacht, die Kinder unter den Füßen
der Pferde zermalmt und die Frauen umgebracht. Er habe alles ausgelöscht, ei-
ne Behauptung, die nicht stimmte, denn der Krieg ging weiter. Etwa 5 O00 Men-
schen wurden in der Loire ertränkt. Bis 1800 muß man allein in der Vendée mit
etwa 120 000 Opfern des revolutionären Terrors rechnen. Dies war nicht mehr
Bürgerkrieg, sondern Völkermord.
Erstaunlich ist, daß das republikanische Frankreich nicht Mitte 1793 zusam-
menbrach, als die inneren Kaınpfe am heftigsten waren und die Mächte - in-
zwischen hatte sich eine europäische Koalition gebildet - große militärische
Erfolge crrangen. Das hing wesentlich mit der Schwerfalligkeit eincs Koaliti-
onskricges '/usanınıen.
Verfassungspolitiscb hatten diese zwei jahre keinen bleibenden Ertrag. Der
Konvent setzte im September 1792 einen Verfassungsausschuß cin, dem u.a.
Brissot, Danton und Condorcet angehörten. Der innerhalb weniger Monate fer-
tiggestellte Entwurf der neuen Verfassung war vornehmlich von Condorcet be-
stimmt. I)ie Macht der Legislative sollte deutlich gesteigert werden, die Regie-
rung nur noch ein F.xekutivausschuß sein. Nach dem Sturz der Girondisten
wurde das Papier zu den Akten gelegt. Die Bergpartei erarbeitete einen wesent-
lich kürzeren Text; einer der wichtigsten Wortführer war Antoine de Saint-]u-
ste. Der Konvent verabschiedete die insgesamt 124 Artikel am 24. juni 1793.
Vorangestellt war auch hier eine Erklarung der Menschen und Bürgerrechte.
Dabei wurde der Kanon von 1789 erweitert. Ziel der Gesellschaft sei das allge-
meine Glück, und die Regierung habe jedermann den Genuß von Gleichheit,
Freiheit, Eigentum und Sicherheit zu verbürgen. Deutlich betont wurde die
Gleichheit vor dem Gesetz. Die öffentliche Unterstützung Bedürftiger wurde
als heilige Pflicht bezeichnet, und damit der Schritt zu sozialen Gnmdrechten
getan. Die Bürger erhielten das Widerstandsrecht zugebilligt - angesichts der
längst im Gang befindlichen Verfolgung politischer Gegner und angesichts des
harten Vorgehens besonders in der Vendée war das ein ausgemachter Zynismus.
Der institutionelle Teil begann mit denı Hinweis auf die einheitliche und unteil-
bare Republik. Sodann wurde das Bürgerrecht definiert; man erlangte es mit 21
jahren. Alle Bürger wiihlten unmittelbar die Abgeordneten, über Wahlmänner
die Präfekten, Richter und Beamten. Zudem gab es noch Urversammlungen, in
1†76 »_ VI.Fıfínk_ı_'eiCh1Ã87-18lf_ M WWW _†V WW „_ W 7 _* __
denen die Bürger eines bestimmten Bezirks über Gesetze befinden sollten. Die
Demokratie war insofern auch als unmittelbar gedacht. Die auf ein jahr zu
wählende Nationalrepräsentation erhielt umfassende legislative Kompetenzen.
Die Regierung hieß Vollzugsrat und war nichts weiter als dies. Jedes Departe-
ment sollte einen Kandidaten benennen, und aus dieser 83 Namen umfassenden
Liste hatte die Nationalrepräsentation dann die 24 Mitglieder des Vollzugsrates
auszuwählen; das Kollegium sollte alle halbe Jahr je zur Hälfte erneuert werden.
Es war, so Art. 65, ››mit der Leitung und Überwachung der allgemeinen Ver-
waltung beauftragt« und konnte ››nur die Gesetze und Dekrete der gesetzge-
benden Körperschaft ausführen«'Z3. Darin sprach sich tiefstes Mißtrauen ge-
genüber einer eigenständig handelnden Exekutive aus. Politik sollte hier nicht
gemacht werden, das war Sache der Nationalrepräsentation.
Eine sinnvolle politische Führung wäre bei einer derartigen Konventsherr-
schaft nicht möglich gewesen. Indessen wurde die Verfassung zwar in einem
Volksentscheid angenommen, ihr Inkraftreten aber einstweilen vertagt. Nur 1,8
Mill. von 7 Millionen Stimmberechtigten erteilten ihr das Placet, die anderen
blieben zu Hause.
Dit DıREı<ToRıALHi;RRscHAFT
der politischen W'illensbildung konnten die Bürger, d.h. die Steuerzahler, in Ur-
versammlungen mitwirken. Auf je 200 Bürger war ein Wahlmann zu wählen.
Die Wahrnehmung eines solchen Amtes war an eine recht hohe Steuerleistung
gebunden; Wahlmänner mußten Eigentümer oder Nutznießer eines Gutes mit
einem Ertrag von je nach den örtlichen Verhältnissen 100 bis 200 Tagelöhnen
sein. Zum Abgeordneten konnte hingegen jeder Steuerzahler gewählt werden,
aber es war zu erwarten, daß das Korps der Wahlmänner nur die eigene Schicht
der Wohlhabenden berücksichtigen würde.
Die Gcwaltenteilung wurde auf ungewöhnliche Weise verwirklicht. Der Ge-
setzgebende Körper bestand aus zwei jeweils auf drei jahre gewählten Abtei-
lungen. Der Rat der Alten umfaßte 250 Männer, die wenigstens 40 Jahre alt, ver-
heiratet oder verwitwet sein und in den 15 jahren vor ihrer Wahl in Frankreich
gelebt haben mußten. Beim anderen Haus, dem Rat der Fünfhundert, waren
diese Grenzen auf 30 und IO jahre festgelegt. Nur der Rat der Fünfhundert hat-
te das Recht der Initiierung und Formulierung von Gesetzen. Der Rat der Alten
hatte sodann über diese Beschlüsse positiv oder negativ zu befinden. Die Exe-
kutive wurde einem Direktorium zugewiesen, von dessen fünf Mitgliedern je-
des jahr eines ausgetauscht wurde. Die Fünfhundert hatten für jede Stelle zehn
Kandidaten vorzuschlagen, die Alten trafen sodann die Wahl. Das Direktorium
berief die Minister, diese waren also nachgeordnete Beamte. Die lnkompatibi-
lität von Amt und Mandat war strikt vorgeschrieben. Eine Parlamentsauflösung
war nicht vorgesehen. Die Departements- und Gemeindeverwaltungen wurden
von den Urwíihlerversammlungen gewählt, ihre Kompetenzen wurden aber be-
grenzt, und sie wurden fortan durch staatliche Kommissare überwacht. Auch
die Richter wurden gewählt. Verfassungsänderungen waren ahnlich schwierig
wie 1791.
Noch stärker als ihre Vorgängerin vier jahre früher fordert diese Verfassung
des jahres Ill zur Kritik heraus. Es handelte sich um ein redseliges, dctailver~
liebtcs \l(/crk ohne Sinn für eine pragmatische Organisation des politischen Le-
bens. Nirgends fanden sich einfache und übersichtliche Regeln, überall zeigte
sich ein vervvirrender Konstruktivismus. Die Verdrängung der Gemaišigten aus
der Politik schon ab 1789 erwies sich auch hier als folgenrcich; die Struktur der
Vcrfassuııg war von der atnerikanisclieıi durch Welten getrennt. Man konnte
schwerlich erwarten, daß das Volk sich dies Werk zu eigen machen würde. Die
sehr geringe Beteiligung am Referendum darüber - nur jeder siebte Bürger gab
seine Stimme ab - sprach für sich.
Die führenden Thermidorianer hatten kein besonderes Verhältnis zur Verfas-
sung, und das konnte nach der Entwicklung Frankreichs in den letzten drei _]ah-
ren auch nicht anders sein. Der starke Mann im Direktorium war der Vieomte
Paul de Barras, ein harter jakobiner, freilich mehr aus Opportunismus als aus
Grundsatztreue, so daß er später ohne weiteres Royalist werden konnte. Wie
die meisten Männer des Thermidor hatte er keine Vorbehalte gegenüber der
178 Vl. Frankreich 1787-1814
Korruption, und seine Kollegen erhoben sich nicht sonderlich über sein Ni-
veau. Neureiche, Opportunisten, Glücksritter spielten in der jetzigen politi-
schen Klasse eine beachtliche Rolle - eine ausgeprägte Anpassungsfähigkeit hat-
te in den vergangenen Jahren das Überleben gewiß erleichtert. Die neuen
Männer wollten Ruhe und Frieden, und sie wollten ihren Status sichern - ange-
sichts des fortdauernden Krieges und der desolaten wirtschaftlichen Lage wa-
ren diese Ziele freilich schwer erreichbar. Auf Stabilisierung zielte auch die
Wendung gegen die Parteiungen. Dem Direktorium ging es um einen Mittel-
kurs, es machte also gleichermaßen nach links wie nach rechts Front.
Bei den ersten Drittelwahlen - alljährlich hatte jeder dritte Mandatsträger
auszuscheiden - siegten in beiden Kammern die Royalisten. Einem nun denk-
baren restaurativen Kurs kamen drei Direktoren, unter ihnen Barras, durch ei-
nen Staatsstreich zuvor, der die Rechte schwer traf und die beiden anderen Di-
rektoren verdrängte. Führende Royalisten wurden verhaftet, 177 Abgeordnete
ausgeschlossen, 68 von ihnen deportiert. Durch diesen festen Zugriff vom 18.
Fructidor, dem 4./5. September 1797, wurden die Kammern so eingeschüchtert,
daß das Direktorium ein diktatorisches Regime führen konnte. Gegen Wider-
stand in den Departements ging es ınit drakonischer Strenge vor. In der Folge
gelang eine gewisse Sanierung der Finanzlage. Da der Royalismus auf dem Lan-
de ersichtlich weiter Auftrieb hatte, suchte das Direktorium bei den nächsten
Drittelwahlen die Konservativen möglichst zu behindern. Das führte zu großen
neo-jakobinischen Wahlerfolgen, denen das Direktorium mit dem Staatsstreich
des 22. Floréal am 11. Mai 1798 entgegentrat - diesmal wurden 150 Wahlen an-
nulliert. Auch 1799 hatten die jakobiner große Wahlerfolge. Durch Dauersit-
zungen und drohende Beschlüsse zwangen die Kammern im juli drei Direkto-
ren zum Ausscheiden und beendeten damit die direktoriale Diktatur. Eine neue
Kammerherrschaft kündigte sich an, wiederum im Zeichen einer Dominanz der
Linken. Düstere Vorzeichen waren eine Zwangsanleihe gegen die Reichen oder
das Geiselgesetz, das unter bestimmten Voraussetzungen die Verhaftung und
Deportation politisch Verdächtiger und von Angehörigen der Emigranten er-
möglichte.
Angesichts dieser Lage richteten sich die Hoffnungen von immer mehr Men-
schen auf einen stabilisierenden Faktor. Barras dachte an die Rückberufung von
Ludwig Stanislaus, der seit dem Tode des Dauphins ab 1795 als Ludwig XVIII.
den Königstitel führte. Eine Restauration der Monarchie konnte aber nur zu
_* g g ____ mfg „l\lapol_eon Bonapegtíund sein Staatssireicll _ 179
Bedingungen erfolgen, die Ludwig nicht erfüllen würde. Es hätte sich auch an-
geboten, den höchst populären starken Mann der Armee, Napoleon Bonaparte,
in das Direktorium aufzunehmen, aber das konnte wegen der befristeten Amts-
zeit keine dauernde Besserung bringen, und außerdem hatte Bonaparte noch
längst nicht das vorgeschriebene Mindestalter von 40 Jahren erreicht.
1769 in eine korsische Kleinadelsfamilie hineingeboren, war er mit zehn Jah-
ren auf eine Militärschule gekommen. Schon Ende 1793 hatte er den Generals-
rang erreicht. Seine Karriere erfuhr mit dem Sturz Robespierres eine kurze Un-
terbrechung, da er der Bergpartei anhing. Im Herbst 1795 wurde er von Barras
mit der Niederwerfung des royalistischen Aufstands in Paris beauftragt und
nach erfolgreicher Erledigung dieser Aufgabe an die Spitze der Truppen des In-
nern gestellt. Wenig später wurde er zum Oberbefehlshaber der Italienerarmee
ernannt. In Italien agierte er militärisch sehr erfolgreich und politisch sehr ei-
genständig und brachte die Halbinsel zum großen Teil in französische Abhän-
gigkeit - diese Stellung ging im Zweiten Koalitionskrieg 1799 wieder verloren.
Als er im Dezember 1797 nach Paris zurückkehrte, war er, achtundzwanzig~
jährig, der mächtigste Mann Frankreichs. Er erwog einen Staatsstreich, war sich
des Erfolgs aber nicht sicher und nahm deshalb den im Februar 1798 von
Außenminister Talleyrand entwickelten Plan einer Besetzung Ägyptens auf. Im
Mai 1798 brach er dorthin auf, nachdem ihm völlige Handlungsfreiheit gewährt
worden war - er konnte jederzeit nach Frankreich zurückkehren, wenn er es für
geboten hielt. Das tat er im Herbst 1799, im Oktober landete er in Südfrank-
reich, während seine Truppen in Ägypten zurückblieben. Sein Beschluß war
einmal durch die militärische Lage bestimmt: Der durch das ägyptische Unter-
nehmen ausgelöste Zweite Koalitionskrieg bedrohte Frankreich inzwischen un-
mittelbar. Wichtig schien ihm aber auch, am Ort der Entscheidung zu sein, soll-
te es in Frankreich selbst zu Verändenıngen kommen.
Hier setzte Sieyès auf ihn, der seit kurzem Mitglied des Direktoriums war. Er
wollte das Direktorium durch Rücktritte handlungsunfähig machen und die Le-
gislative, notfalls unter militärischem Druck, zur Ausarbeitung einer neuen Ver-
fassung veranlassen. Das ließ sich nicht wie geplant verwirklichen. Die Fünf-
hundert mußten schließlich gewaltsam auseinandergetrieben werden. Eine aus
einigen Abgeordneten improvisierte Kammer proklamierte am Abend des 10.
November eine vorläufige Staatsspitze aus Bonaparte, Sieyès und Roger Ducos
und verlangte, daß in allen Teilen der Verwaltung Ordnung hergestellt würde.
Die neue Verfassung wurde sehr schnell ausgearbeitet. Maßgeblich war dabei
zunächst Sieyès. Er wollte die Exekutive stärken und die Macht auf drei Kon-
suln verteilen, deren einer das Innere, der zweite das Äußere, der dritte die Re-
präsentation übernehmen sollte - dieses ehrenvolle Amt dachte er Bonaparte
zu. Der aber wollte die Macht und nicht die Ehre, er lehnte es ab, ››ein königli-
cher Müßiggänger« zu sein. Bei den weiteren Beratungen sorgte er dafür, daß
der Erste Konsul das entscheidende Gewicht erhielt - dieses Amt konnte nur
180 Vl. Frankreich 1787-1814
ihm zufallen, da er die Armee hinter sich und die öffentliche Meinung für sich
hatte.
Die Verfassung des jahres VIII mit ihren nur 95 Artikeln war am 13. Dezem-
ber 1799 fertig und wurde wenig später in Kraft gesetzt. Erst danach erhielten
die Franzosen die Gelegenheit, sich in einem Plebiszit zu ihr zu äußern. An-
geblich gab es rund 3 Mill. Ja-Stimmen, tatsächlich dürften es 1,5 Mill. gewesen
sein, so daß sich vier Fünftel der Wähler nicht beteiligt hätten.
anderen Konsuln wurden namentlich genannt, sie hatten nach Art. 42 nur bera-
tende Stimme.
Die gesamte exekutive Gewalt war beim Ersten Konsul konzentriert. Er ver-
kündete nach Art. 41 die Gesetze, ernannte und entließ die Minister, die Ge-
sandten und andere hohe Beamte im auswärtigen Dienst, die Offiziere in Heer
und Flotte, die Mitglieder der Lokalverwaltung, die Regierungskommissare bei
den Gerichten sowie die Kriminal- und Zivilrichter außer den Friedensrichtern
und den Richtern aın Kassationsgerichtshof, die Richter konnte er nicht abbe-
rufen. Da er ganz über den Staatsrat verfügte, hatte er entscheidende Mitwir-
kungsrechte an der Gesetzgebung. Auch wenn er die Senatoren nicht persön-
lich berief, sondern sie durch seine Mitstreiter ernennen ließ, waren es doch
Gefolgsleute. Indem diese Männer Tribunat und Gesetzgebenden Körper zu-
sammensetzten, war sichergestellt, daß sich auch dort nur Anhänger Bonapartes
fanden. So war nicht anzunehmen, daß legislative Entscheidungen gegen den
Willen des Ersten Konsuls ausfallen würden.
Seine Gewaltfülle verglich Bonaparte selbst mit der Stellung des amerikani-
schen Präsidenten, brachte damit aber nur seine völlige Unkenntnis der Gege-
benhciten jenseits des Atlantiks zum Ausdruck. Das legal zustande gekommene
amerikanische System kannte zwar einen starken Präsidenten, aber dieser stand
einem starken Kongreß gegenüber, auf dessen Zustandekommen er keinen Ein-
fluß hatte, und mußte mit ihm einen modus vivendi finden. Außerdem mußte
er sich nach vier jahren den Wählern stellen.
Als Bonaparte den Franzosen die neue Verfassung Mitte Dezembeı' 1799 vor-
legte, behauptete er, sie beruhe auf den wahren Prinzipien der repräsentativen
Regierung und auf den geheiligten Rechten des Eigentums, der Gleichheit und
der Freiheit. Die von ihr eingesetzten Gewalten seien stark und würden deshalb
Dauer haben, wie es für die Garantie der Bürgerrechte und der Staatsinteressen
unabdingbar sei. Abschließend hieß es: ››Bürger, die Revolution ist auf die sie
auslösenden Prinzipien zurückgeführt und damit beendet«I35. Das waren große
und leere Worte. Sie trafen nur insofern zu, als die Revolution tatsächlich been-
det war. Fortan herrschten Ruhe und Ordnung. Mit den Prinzipien, von denen
die Revolution ausgegangen war, hatte die Verfassung des jahres VIII indessen
nichts zu tun, und nach dem Art. In der Menschenrechtserklärung vom 26.Au-
gust 1789 müßte man sogar bestreiten, daß es sich überhaupt um eine Verfas-
sung handelte. Die Rechte waren nicht mehr ausdrücklich garantiert, und nur
182 W VI. F__rankreich_12_8_7_-1814_ __ _ ____g __ 7 7 __?
einige von ihnen tauchten über den Text verstreut auf. Es war keineswegs aus-
gemacht, ob sie sich würden behaupten können. Der Gedanke, daß jeder Bürger
berechtigt sei, persönlich oder durch seine Vertreter an der Gestaltung der Ge-
setze mitzuwirken, war völlig denaturiert, und die Gewaltenteilung existierte
nicht mehr. Die Verfassung war durch einen auf den Ersten Konsul zugeschnit-
tenen Gewaltenmonismus gekennzeichnet. Sie gab Bonaparte eine größere
Macht, als sie der König bis 1789 besessen hatte, da die zahlreichen Zwi-
schengewalten, auf die der Monarch im Ancien régime hatte Rücksicht nehmen
müssen, verschwunden waren. Es ließ sich absehen, daß Tribunat und Gesetz-
gebender Körper in legislativen Fragen weniger Widerstand leisten würden als
die einstigen Parlamente mit ihrem Registrierungsrecht. Insofern war das in Pa-
ris kursierende Bonmot, in der Verfassung stehe nur ›Napoleon<, rundum be-
rechtigt.
Durch Gesetz vom 17. Februar 1800 wurde die Verwaltung straff zentrali-
siert. jede lokale Autonomie wurde beseitigt. Zwar blieben die Räte auf den
unteren Ebenen erhalten, ihre Mitglieder wurden aber ebenso wie die Beamten
vom Ersten Konsul ernannt, und ihre Kompetenzen wurden stark beschnit-
ten. Vor allem bei finanziellen Fragen hatten sie mitzuwirken, bei der Präfek-
tur übten sie auch die Verwaltungsgerichtsbarkeit aus. Paris wurde unter
besondere Aufsicht gestellt, das Polizeiwesen sehr verbessert, die Finanzver-
waltung neugeordnet. Mit der Kurie kam im Sommer 1801 nach langen Ver-
handlungen ein Konkordat zustande. Dieser modus vivendi befriedigte den
Staat sehr viel mehr als den Vatikan. Der Papst anerkannte den Verkauf der
Nationalgüter und erklärte sich bereit, die Bischöfe zum Rücktritt aufzufor-
dern. Fortan wurden sie vom Ersten Konsul ernannt und hatten ihm einen
Treueid zu leisten, dem Papst verblieb nur die kanonische Weihe. Mit Zustim-
mung der Regierung ernannten die Bischöfe die Geistlichen. Es blieb bei der
Verbeamtung des Klerus. Frankreich hatte also nach wie vor ein ausgepräg-
tes Staatskirchentum. In den im April 1802 erlassenen Organischen Artikeln
wurde das im Detail geregelt. Auch die Stellung der kleinen protestantischen
Kirche wurde neu festgelegt. Der Katholizismus war nicht mehr Staatsreligi-
on.
Verfassungspolitisch bedeutsam wurde dasjahr 1802, indem Napoleon -jetzt
nur noch mit dem Vornamen bezeichnet- durch ein Plebiszit mit 3,6 Mill. Ja-
Stimmen zum Konsul auf Lebenszeit berufen wurde. In diesem Zusammenhang
baute er seine Stellung noch etwas aus, indem er sich das Recht beilegte, ausge-
zeichnete Bürger in den Senat zu berufen. Der Senat durfte fortan mit einer
Zweidrittel-Mehrheit der Anwesenden alles regeln, was nicht in der Verfassung
festgelegt, aber für das Verfassungsleben wichtig war. Auch konnte er bei Ein-
treten ungewöhnlieher Umstände Tribunat und Gesetzgebenden Körper auflö-
sen und die Geschworenengerichte suspendieren. Napoleons Geburtstag, der
15. August, wurde zum Feiertag.
Verfassung und Verwítltung untír Napoleon 183
Als Napoleon 1804 nach der Krönung schwor, das Territorium Frankreichs zu
wahren, war dies längst nicht mehr das Gebiet von 1792, und es wuchs in den
folgenden Jahren noch weiter an. Es ist unmöglich, hier die vielen Wechselfälle
der zahlreichen Feldzüge seit der französischen Kriegserklärung an Franz II. im
April 1792 und die daraus sich ergebende Expansion nachzuzeichnen. Auf dem
Höhepunkt seiner Macht 1812 umfaßte das Grand Empire das gesamte alte
Frankreich, die österreichischen Niederlande, die Republik der Niederlande,
das linksrheinische Deutschland, Norddeutschland westlich der Linie Wesel -
Lübeck, Teile der Schweiz, Savoyen, Genua, Parma, die Toskana, Teile des Kir-
chenstaats und die Illyrischen Provinzen, also Teile der heutigen Staaten Slowe-
nien und Kroatien. Zugleich war Napoleon der Protektor des Rheinbundes, in
dem die deutsche Staatenwelt mit Ausnahme Österreichs, Preußens und Schles-
wig-Holsteins zusammengefaßt war und auf den er großen Einfluß hatte. Ab-
hängig von ihm waren das Großherzogtum Warschau, das weite Strecken Po-
lens umfaßte, die I-Ielvetische Republik und die Königreiche Spanien und
Italien, in denen Brüder Napoleons auf dem Thron saßen; sie waren allerdings
dem Kaiser als Chef des Hauses Bonaparte unterworfen und hatten seinen Wei-
sungen zu folgen. Spanien befand sich nur zum Teil unter französischer Kon-
trolle; dort tobten schwere Kämpfe.
Die Zusammenfügung dieses Machtbereiches hatte allein auf französischer
Seite Hunderttausende von Menschenleben gefordert, und der blutigste Feld-
zug, in Rußland, stand noch bevor. Den Kampf gegen diese Großmacht, die
sich seinen Wünschen so gar nicht fügen wollte, hielt Napoleon seit 1810 für
unvermeidlich, wollte er sein eigenes Imperium konsolidieren. Der Angriff er-
folgte im juni 1812, er führte in den Untergang der Großen Armee. Nach dem
Scheitern Napoleons an Rußland wandte sich seit Anfang 1813 auch Deutsch-
land gegen ihn, England stand ohnehin noch im Kriege, weitere Staaten schlos-
sen sich an. Gegen diese Koalition konnte das Empire sich nicht behaupten. Am
31. März 1814 zogen die Alliierten in Paris ein.
In Frankreich war Napoleons Popularität seit 1810 wegen der vielfältigen Be-
lastungen, die er dem Staat auflud, im Abnehmen begriffen, und im Oktober
1812 hatte es den Versuch eines Staatsstreichs gegeben. jetzt, nach der Nieder-
lage, entschlossen sich hohe Funktionsträger des Kaiserreichs, an der Spitze Tal-
leyrand, das Heil des Landes in einer Restauration der Bourbonen zu suchen.
Am 3. April setzte der Senat den Kaiser ab, und Napoleon fügte sich dem drei
Tage später, nachdem er hatte erkennen müssen, daß die Alliierten auch keine
Regentschaft zugunsten seines 1811 geborenen Sohnes dulden würden - seit
1810 war er mit einer Tochter von Kaiser Franz II. verheiratet. An demselben
Tage berief der Senat Ludwig Stanislaus auf den französischen Thron und ver-
abschiedete zugleich cine Verfassung, die Frankreich wieder zur konstitutionel-
len Monarchie machte.
L Lz. ,W L, ,___.- ,„i1Li=._M&
Fazır
Die Revolution wurde von den politisch Interessierten und von der Presse über-
all in Europa mit großer Aufmerksamkeit beobachtet und weithin begrüßt, auf
jeden Fall aber als tiefer Einschnitt empfunden. Die ›Mainzer Zeitung< schrieb
am 29.Juni 1789 über die Konstituierung der Nationalversammlung, daß mög-
licherweise wenige Tage für Jahrhunderte über das Schicksal Europas entschie-
den und daß jetzt ein Zeitalter anbreche, in dem die Nationen herrschten. Dabei
klang deutliche Sorge darüber mit, was den Nachbarn Frankreichs bevorstehe.
Der konservative Publizist Trenk von Tonder in Neuwied stellte wenig später
lapidar fest, die Revolution werde eine gänzliche Veränderung in der allgemei-
nen Politik Europas bewirken. ››Die Völker sind des Zwanges müde. Die jetzi-
ge Aufklärung führt sie zu der Freiheit im Denken und die freie Denkart zur
Unabhängigkeit«'2°. Für den schweizerischen Historiker Johannes Müller, da-
mals kurfürstlicher Bibliothekar in Mainz, war der Bastillesturm sogar ››der
schönste Tag seit dem Untergang cler römischen Weltherrschaft«'27. Die Be-
schlüsse des 4./5. August und die Menschenrechtserklärung wurden in nahezu
allen Zeitungen referiert und vielfach auch wörtlich abgedruckt. Zumeist wur-
den sie positiv kommentiert. In der Folge blieb die Berichterstattung über die
Französische Revolution sehr dicht und wohlwollend. Viele Blätter warnten vor
einer Intervention, und die Verfassung vom 3. September 1791 wurde gelobt.
Erst 1792 schlug die Stimmung spürbar um. Die Konservativen, von Anfang
an kritisch, gewannen an Boden, und viele, die die Revolution zunächst gefeiert
hatten, distanzierten sich von der nunmehrigen Entwicklung. Aus der jakobini-
schen Herrschaft wurde weithin der Schluß gezogen, daß Demokratie zu Anar-
chie und Tyrannei führe. Die entschiedene Ablehnung dieser Regienıngsform
blieb Jahrzehnte hindurch für das Denken breitester Kreise bestimmend.
Ähnlich wie in Deutschland war die Einstellung zur Revolution auch an-
dernorts. Der englische Radikale Romilly beispielsweise schrieb im Juli 1789 an
einen Pariser Freund, daß ››die Revolution hier eine sehr aufrichtige und ganz
allgemein verbreitete Freude hervorgerufen« habe. Sie sei Gegenstand sämtli-
cher Gespräche, und alle Zeitungen, auch die nicht sehr liberalen, stimmten in
das Lob der Pariser ein und brächten »ihre Freude über ein für die Menschheit
derart wichtiges Ereignis« zum Ausdruck - gemeint war der 14. Julim. Der
Briefschreiber verallgemeinerte die Stimmung in den Kreisen, denen er nahe-
_ J _ W *Pas Echo aufídic Französische Revolution V_ 187
stand, zu sehr. Auch die Whigs begrüßten die Entwicklung in Frankreich und
freuten sich, daß das Land seine Freiheit wiedergewonnen habe, aber sie beob-
achteten die Dinge doch von Anfang an mit einiger Skepsis und kommentierten
die Übergriffe und radikalen Tendenzen mit dem Hinweis, daß man das ange-
sichts der bisherigen Situation in Frankreich wohl verstehen könne. Im übrigen
wiesen sie vielfach darauf hin, daß es im Nachbarland jenseits des Kanals um
Dinge gehe, die England längst besitze. Es gab aber auch Whigs, die ihre Ab-
neigung gegen die Revolution von Anfang an unumwunden zum Ausdruck
brachten. Der bedeutendste dieser Männer war Edmund Burke, der den Whigs
lange Jahre Argumente geliefert hatte und sich nun mit seinen ›Betrachtungen
über die Revolution in Frankreich< zum Wortführer der entschiedenen Gegner
machte. Konsequenterweise trat er zu den Konservativen über.
RH-`ORMP()L1›I`lK IN D1-lUTS(Il1l.A.\I1_)
Tatsächlich hatten sich viele Territorien, an der Spitze Österreich und Preußen,
in den zurückliegenden Jahrzehnten nachhaltig und mit guten Erfolgen um eine
Modernisierung der Verwaltung in der Zentrale, bei den Außenbehörden und
in den Kommunen, um eine verbesserte Rechtspflege, nämlich um die Kodifi-
kation des geltenden Rechts und seine Anpassung an die Zeitverhältnisse sowie
die Humanisierung des Strafrechts und des Strafvollzugs, des weiteren um die
_* *_ _? __ _? __” __ _ Reformgpolitik in_Deutschlan_d†
Hebung der Landwirtschaft und des Gewerbes, um die Änderung der Rechts-
verhältnisse der Landbevölkerung, um eine Erweiterung der Bildungsmöglich-
keiten auf allen Ebenen, um die Förderung der religiösen Toleranz, um Refor-
men im kirchlichen Bereich und um eine verbesserte Wohlfahrtspflege bemüht.
Herausragende Zeugnisse dieser Bestrebungen waren in den habsburgischen
Ländern die durch Joseph II. veranlaßten Maßnahmen zugunsten der Landbe-
völkerung ab 1768, gipfelnd in der Aufhebung aller Formen der Leibeigenschaft
1781 - dies betraf vornehmlich Böhmen, Mähren, Österreichisch-Schlesien, Ga-
lizien und Ungarn.
Für Preußen ist namentlich auf das Allgemeine Gesetzbuch für die preußi-
schen Staaten zu verweisen, das im Frühjahr 1791 publiziert wurde und am 1.
Juni 1792 Gesetzeskraft erlangen sollte. Das Werk war schon zur Zeit Frie-
drichs d. Gr. in Angriff genommen worden und in langen Jahren vornehmlich
von Carl Gottlieb Svarez erarbeitet worden. Es sollte alle Rechtsbereiche mit
Ausnahme der Prozeßrechte enthalten und nach dem Publikationspatent ››in
der Sprache der Nation und dergestalt allgemein verständlich vorgetragen« wer-
den, »daß ein jeder Einwohner des Staats, dessen natürliche Fähigkeiten durch
Erziehung nur einigermaßen ausgebildet sind, die Gesetze, nach welchen er sei-
ne Handlungen einrichten und beurteilen lassen soll, selbst lesen, verstehen und
in vorkommenden Fällen sich nach den Vorschriften derselben gehörig achten
könne«'3°.
Das AGB enthielt auch Staatsrecht und sollte insofern als Ersatz einer Ver-
fassung dienen. Deshalb wurden hier die Rechte der Menschen aufgezählt, die
Majestätsrechte begrenzt. Gerade dies aber forderte konservativen Widerspruch
heraus. So wurde der Vollzug des Gesetzeswerks wenige Wochen vor dem In-
krafttreten suspendiert und, mit erheblichem zeitlichen Abstand, dem feder-
führenden Großkanzler Carmer die Weisung erteilt, alle das Staatsrecht und die
Regierungsform betreffenden Stellen und die aus den bisherigen Gesetzen
fließenden und zu ihrer Bestimmung nicht unbedingt erforderlichen Vorschrif-
ten zu tilgen. Nachdem diese Arbeit geleistet war, wurde das AGB im Februar
1794 als »Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten« verkündet. Auch
in dieser abgeschwächten Form war es noch ein hochrangiges Gesetzescorpus,
das das vorhandene Recht gründlich bereinigte und mit naturrechtlichen Prin-
zipien verband. Die Reformen waren überall das Werk einer aufgeklärten und
sehr qualifizierten Bürokratie. Wo Stände existierten, standen sie diesen Bestre-
bungen gemeinhin nicht im Wege, aber natürlich gab es hier und da Reibungen.
Über die Zukunft des Reiches wurde im späten 18. Jahrhundert eine ausge-
dehnte Diskussion geführt. Daß erhebliche Veränderungen bevorstanden, war
seit 1795 absehbar, als Preußen Frankreich im Sonderfrieden von Basel den Ge-
winn des linksrheinischen Deutschland zusagte und sich für die Gebiete, auf die
es dabei verzichten mußte, Kompensationen ausbedang; dabei war ausdrücklich
190 V11. Europa unter dem Dnıck der Revolution und Napoleons
von den Geistlichen Territorien die Rede. Andere Friedensverträge, die Frank-
reich schloß, enthielten ähnliche Klauseln, so Campo Formio. Bei den nicht zu
einem Resultat gelangten Friedensverhandlungen zwischen Frankreich und dem
Reich in Rastatt wurde 1797-1799 auch über konkrete Entschädigungen bera-
ten. Eine Lösung mußtc gefunden werden, nachdem der Frieden von Lunéville
1801 den Rhein völkerrechtlich zur deutschen Westgrenze gemacht hatte, die
nötige Gebietsbereinigung wurde ab Ende 1802 im wesentlichen nach französi-
schen und russischen Vorstellungen vollzogen, Monate vor der förtnlichen Ver-
abschiedung der Vorschläge durch die dafür zuständige Reichsdeputation im
Februar 1803.
Dieser Reichsdeputationshauptschluß leitete eine territoriale Revolution ein,
die Deutschland in wenig mehr als einem jahrzehnt grundlegend umgestaltete
und die Zahl der Territorien von über 300 auf ziemlich genau 40 reduzierte. Sie
nötigte diejenigen Staaten, die dabei vergrößert wurden, zu einer Anpassung ih-
rer Verwaltung an die neuen Verhältnisse. Dabei war das Vorbild in vieler Hin-
sicht Frankreich. Aber letztlich war dies nur eine neue Stufe der seit längerem in
Gang befindlichen Reformarbeit.
Dir. RHr;ıNsu=\ıı›-S'ı'm\'ı'r.N
Nach dem Sieg über Österreich und Rußland Ende 1805 steuerte Napoleon
zielstrebig auf eine Neuordnung Mitteleuropas hin. Er ließ mit 16 deutschen
Fürsten Verhandlungen über einen Rheinbund führen und schrieb ihnen, als
diese Bestrebungen Mitte juli 1806 zum Abschluß kamen, vor, bis zum 1. Au-
gust den Austritt aus dem Reich zu erklären. Wenig später nötigte er Fr.ınz ll.
ultimativ zur Niederlcgung der Kaiserkrone - dieser vollzog den Schritt so, daß
damit die Auflösung, des Reiches verbunden war. Der Zweck des Rheinbundes
war die wechselseitige Garantie des inneren und äußeren Friedens, Zudem
schlossen seine Glieder als Gesanıtheit und einzeln mit dem Empire eine Alli-
am. für jeden Kriegsfall. So war der Rlıcinbund vor allem ein Militlirbündnis.
und zu mehr entwickelte er sich .ıuch nicht. Napoleon übernalnn das Protekto-
rat, eine Stellung, die undefiniert blieb und in jeder Richtung ausgebaut werden
konnte.
Die innere Struktur der Rheiribuııdstaaten war ihm durchaus nicht gleichgül-
tig. Er wollte sie allmählich an das fraıızösisclıe Modell angeglichen sehen. Da-
bei setzte er vor allem auf die beiden Territorien, in deren Verhältnisse er als
Chef des Hauses Bonaparte ohne weiteres eingreifen konnte, auf das von sei-
nem Bruder Jéróme regierte Königreich Westfalen und auf das Großherzogtum
_ __ _ in V Die_Rheinbund-Staaten *W
Berg, in dem er seinen Schwager Murat auf den Thron gebracht hatte ~ ersteres
hatte er 1807 nach der Niederlage Preußens und dem Tilsiter Frieden gebildet,
als er in Norddeutschland nach Belieben schalten und walten konnte, letzteres
hatte er sich im März 1806 von Bayern abtreten lassen, das nach dem Sieg über
Österreich andernorts Zuwachs erfahren hatte.
Für Westfalen ordnete Napoleon im November eine ganz dem französischen
Modell nachgeahmte Verfassung an. Sie unterwarf, in Art. 7, den König und sei-
ne Familie dem kaiserlichen Familienstatut, engte die Souveränität des Landes
also erheblich ein. Es folgten einige Grundrechte (Gleichheit, Aufhebung von
Privilegien), der Adel wurde für fortbestehend erklärt, jedoch ohne Vorrechte.
Der Schwerpunkt des Staatslebens war der König. Er bereitete mit dem Staats-
rat die Gesetze vor, wobei allerdings schon Kommissionen des Parlaments ein-
bezogen wurden. Dieses Parlament, Stände genannt, bestand aus 70 Deputierten
der Grundbesitzer, 15 der Gewerbetreibenden und 15 der Bildungsbürger, die
in den Departements durch von König berufene Kollegien gewählt wurden. Ein
Selbstversammlungsrecht hatten sie ebensowenig wie die Gesetzesinitiative, und
ihre Beschlußkompetenz war auf Etatfragen und Grundsatzgesetze beschränkt.
Des weiteren schrieb die Verfassung die Übernahme des französischen Verwal-
tungs- und Gerichtssystems sowie des Code Napoleon vor und verbürgte aus-
drücklich die Unabhängigkeit der Richter. Sie war erheblich übersichtlicher als
ihr französisches Vorbild und enthielt somit positive Entwicklungsmöglichkei-
ten. Solange Napoleon jedoch der Oberherr war, konnten sie sich nicht entfal-
ten.
Die anderen Rheinbundstaaten blieben hinter Westfalen zurück, zumal die im
Norden - der Rheinbund wurde schnell über den ursprünglichen Gründerkreis
hinaus erweitert. In Süddeutschland konzentrierten sich Bayern, Württemberg
und Baden darauf, klare zentralistische Verwaltungsstrukturen zu schaffen und
ihren Gebietsstand so zu integrieren. Verfassungspolitik betrieben sie nur in
Ansätzen. Die bayerische Verfassung vom 25. Mai 1808 sah zwar eine Natio-
nalrepräsentation vor, wurde aber nur mit ihren Verwaltungsvorschriften wirk-
sam.
In Baden erhob der leitende Minister schon im September die Forderung
nach einer Verfassung und kam anderthalb Jahre später auf seinen Vorschlag
zurück. Man habe Ursache, ››eine Konstitution aufzuweisen, wenn man nicht
Gefahr laufen will, eine solche von fremder Hand« und nach dem Lande frem-
den Vorstellungen aufgezwungen zu bekommen'-“_ Der nun ausgearbeitete Ent-
wurf verdiente die Kennzeichnung ›konstitutionell« durchaus, da er die aus den
Höchstbesteuerten indirekt zu wählenden Stände dem Großherzog bei der Le-
gislative gleichgewichtig gegenüberstellte. Auch enthielt er einen ansehnlichen
Grundrechtskatalog: Sicherheit der Person, Freiheit des Eigentums, Gewissens-,
Religions- und Pressefreiheit. Das Vorrecht des Adels auf Ämter und Würden
und die Privilegien der Geistlichkeit sollten beseitigt, die Leibeigenschaft aufge-
19_2 Vll. Etiropa unter dem Druck der Revolution und Napoleons
hoben werden, sofern sie in einzelnen Landesteilen noch bestand. Bei der inn-
erbürokratischen Diskussion über den Entwurf ging es vor allem um die Zu-
sammensetzung und die Kompetenzen der Stände. ln einem Gutachten stand zu
lesen, eine Vertretung der Regierten werde die Verwaltung nur Zeit kosten und
wenig Gedeihliches leisten. Die Bürokratie wollte sich mehrheitlich das Heft
nicht aus der Hand nehmen lassen. So blieb das Projekt schließlich stecken.
Auch in Preußen gingen die Reformen nicht bis zur Neuverteilung der politi-
schen Gewichte, waren aber viel umfassender als im Süden, weil hier auch die
Sozialverfassung mit einbezogen wurde. Nach der Verkündung des ALR wur-
den für weitere Bereiche Reformen vorbereitet, wobei auch Eingriffe in die
Steuervorteile der Rittergutsbesitzer vorgesehen waren. Die Domänenbauern
bekamen ihre Ländereien als Eigentum, ihre Dienste wurden aufgehoben. Da-
neben kostete dic Neuorganisation Neuostpreußens, der bei der dritten polni-
schen Teilung erworbenen Gebiete, viel Kraft. ln dem für diese Provinz erlasse-
nen Ressortreglement wurde 1797 erstmals die Trennung von Justiz und
Verwaltung konsequent durchgeführt. In Ost- und Westpreußen wurde die
Neuordnung der Agrarverhältııisse iıı Angriff genommen oder doch vorberei-
tet.
Entschieden für Reformen auch in der Staatsspitze trat der im Herbst 1804 in
das Ministerium berufene Karl Frhr. vom Stein cin. lm Oktober 1805 äußerte
er sich zur finanziellen Vorbereitung eines wahrscheinlichen Krieges mit Frank-
reich, bezeichnete Napoleon dabei als gefährlichsten Mann Europas und ver-
langte, daß das Volk über den Ernst der Lage aufgeklärt werde. Ein halbes jahr
später übte er scharfe Kritik an der Praxis Friedrich \VilhelmS lll., alle wichti-
gen Entscheidungen mit seinen Kabinettsräten zu treffen und die Minister zu
ausführenden Organen zu degradieren. Er verlangte, daß die unmittelbare Ver-
bindung zwischen dem König und seinen obersten Beamten wiederhergestellt
werde, und drang auf eine moderne Organisation der Ministerialebene. Der
Monarch las das mit Unwillen. lm januar 1807 entließ er Stein nach einem neu-
en Konflikt höchst ungnädig. Dieser zog siclı auf seine Besitzungen nach Nas-
sau zurück, aber die Lage Preußens, das im Oktober 1806 von Napoleon
schwer geschlagen worden war und vor einem demütigenden Frieden stand, be-
schäftigte ihn weiter. An seinen früheren Ministerkollegen Hardenberg schrieb
er in dieser Zeit, es sei wichtig, die Fesseln zu brechen, durch die die Bürokra-
tie den Aufschwung der menschlichen Tätigkeit hindere. »Die Nation muß dar-
Ä _ f Die preußischen Reformen 193
an gewöhnt werden, ihre eigenen Geschäfte zu verwalten« und aus dem Zu-
stande der Kindheit herauszutreten, in dem die Regierung sie bisher zu halten
versucht habem. Er wollte den Obrigkeitsstaat ablösen durch ein Gemeinwe-
sen, an dem die Eigentümer aller Klassen tätigen Anteil hatten. Dadurch wollte
er, wie er in seiner Nassauer Denkschrift im Juni 1807 formulierte, den Kräften
der Nation die Richtung auf das Gemeinnützige geben.
Ähnlich dachten auch andere hohe Beamte - in der preußischen Bürokratie
gab es eine ausgeprägte Reform-Gruppe. Außenminister Hardenberg erklärte
im September 1807 in einer Denkschrift, das Schwache, Kraftlose und Veraltete
müsse überall beseitigt werden, uııd forderte eine Revolution im guten Sinne.
Altenstein, Mitglied der lmmediatkommission, die die inneren Geschäfte führ-
te, schrieb gleichzeitig, der Staat habe die Fesseln zu lösen, wenn der Zeitgeist
nach neuen Formen dränge, es müsse eine Umwälıung im Innern bewirkt wer-
den, doch ohne die wilden Zuckungen einer sich selbst auslösenden Revoluti~
on.
Als diese Sätze zu Papier gebracht wurden, hatte der konservative und ent-
scheidungsschwache König schon nachgegeben. Unmittelbar nach dem Tilsiter
Frieden im juli hatte Hardenberg an Stein schreiben können, der Monarch wol-
le ihm das Ministerium des lnnern und der Finanzen übertragen und ihm die
Sorge für die Wiederherstellung des Staates mit der Wahl der Mittel und Perso-
nen überlassen. Damit waren Stein umfassende Vollmachten in Aussicht gestellt.
Stein nahm das Angebot an, eine Erkrankuııg erlaubte ihm aber erst im Sep-
tember die Abreise nach Menıel, wo der König sich aufhielt. Dort traf er Ende
des Monats ein. Das erste der großen Reformedikte, ausgearbeitet unter Feder-
führung des ostpreußischen Provin7.i.1lministers Leopold Frhr. v. Schroetter, lag
schon fertig vor. Diese Magna Carta des Bauerntums wurde am 9. Oktober pu-
bliziert und gewährte die Freiheit des Güterverkehrs und die freie Berufswahl,
vor allem aber kündigte sie die Aufhebung der Gutsuntertlinigkeit bis zum ll.
November l8lO an. »Nach dem Martini-Tage l8lO gibt es nur freie Leute, so
wie solches auf den Üomfiinen in allen Unsern Provinzen schon der Fall ist«,
hieß es in § 12. Die Präaıiilüel sagte, cs sei eine unerläßliche Forderung der GC-
reehtigkeit und entspreche den Grundsätzen einer wohlgeordneten Staatswirt-
schaft, »alles zu entfernen, was den einzelnen bisher hindcrte, den Wohlstand
zu erlangen, den er nach dem Maße seiner Kräfte zu erlangen fähig« sei'-W. Mit
dieser Formel wurde der Grundsatz des Wirtschaftsliberalismus proklamiert.
Das geschah nicht aus der pragmatischen Erwägung, clalš nur so dem Staat wie-
der aufgeholfeıı werden könne - damit ließ sich immerhin gegenüber denen ar-
gumentieren, die dem Oktobcredikt skeptisch gegcnüberstanden -, viel wichti-
ger war für den Kreis der Reformer die naturrechtlich begründete
Überzeugung, daß Unfreiheit in keiner Form vertretbar sei. Mit dem Hinweis
auf die Gerechtigkeit wurde das inı Vorspruch des Edikts aber nur eben ange-
deutet.
194 W _\ıI;†Fatirop_eıı1nVter†denlDrtı_ck der Revolution und Napoleonsww 7 ,_
Das nächste große Gesetz war die Städteordnung vom 19. November 1808,
erlassen unmittelbar vor dem von Napoleon erzwungenen Ausscheiden Steins
aus dem Amt. Sie gab den Städten weitgehende Selbstverwaltung. Alle Bürger,
diejenigen, die Grundbesitz oder ein gewisses Vermögen hatten, wählten in ge-
heimer Abstimmung die Stadtverordnetenversammlung, diese wiederum die
städtische Verwaltungsbehörde, den Magistrat. Da damals fast alle Familien-
häupter in den Städten auch Grundbesitzer waren, war das Wahlrecht nahezu
allgemein. Mit Recht konnte man später sagen, es sei durch dieses Gesetz in den
Kommunen eine Demokratie der kleinen Leute geschaffen worden.
Durch das Publikandum über die veränderte Verfassung der obersten Staats-
behörden vom 16. Dezember 1808 erhielt auch Preußen die moderne Ministe-
rialorganisation. Als Beratungsorgan für den König wurde ein Staatsrat ge-
schaffen, hier saßen vornehmlich hohe Beamte. Der ganze Staat wurde
gleichmäßig in Regierungsbezirke eingeteilt, deren Leiter, die Regierungspräsi-
denten, die Verwaltung bei sich bündeln sollten. Für Verwaltungsaufgaben, die
über die Grenzen eines Bezirks hinausgingen, wurden Provinzen unter Leitung
eines Oberpräsidenten eingerichtet.
Die Wirtschaftsreformen wurden 1810 mit dem Gewerbesteueredikt fortge-
führt, das die Gewerbefreiheit erheblich ausbaute. Zugleich wurde das Steuer-
wesen modernisiert. Die vermögensrechtliche Auseinandersetzung zwischen
Bauern und Gutsbesitzern, durch die die Bauern ihre Höfe eigentümlich erwar-
ben, begann 1811 mit dem Regulierungsedikt. Das Bildungswesen wurde ab
1809 unter Wilhelm von Humboldt auf den drei Stufen Elementarschule, Gym-
nasium und Universität neugestaltet. Auch das Militärwesen wurde verbessert,
dabei 1809 das Adelsprivileg auf Offiziersstellen abgeschafft, 1813/14 die Land-
wehr und die allgemeine Wehrpflicht eingeführt.
Zwischen 1807 und 1814 vollzog so Preußen zunächst unter Stein, dann un-
ter Altenstein, schließlich unter Hardenberg eine tiefgreifende Modernisierung
seiner Strukturen; es ging dabei weiter als die süddeutschen Mittelstaaten. Nur
eine Nationalrepräsentation ließ sich nicht erreichen. Stein hatte selbstverständ-
lich Vertretungskörperschaften auf Provinzial- und Gesamtstaatsebene gewollt
- davon hingen Wohl und Wehe Preußens ab, erklärte er beim Ausscheiden.
Hardenberg dachte ähnlich. Es gelang ihm, Friedrich Wilhelm III. mit dem
Edikt über die Finanzen des Staats vom 27. Oktober 1810 auch ankündigen zu
lassen, der Könige behalte sich vor, ››der Nation eine zweckmäßig eingerichtete
Repräsentation sowohl in den Provinzen als für das Ganze zu geben«'-1“. Dem
Monarchen widerstrebte ein solcher Schritt aber sehr, und es gab viel konserva-
tiven Widerspruch. So konnte dieses Vcrfassungsversprechen nicht eingelöst
werden. Immerhin tagten 1811 eine Notabelnversammlung, 1812 und 1814/15
vom König berufene interimistische Nationalrepräsentationen. Sie waren indes-
sen so zusammengesetzt, daß von hier wenig fortschrittliche Impulse kamen. So
ließ Hardenberg sie weitgehend unbeachtet. Im Mai 1815 erwirkte er nochmals
7 H _ VW 7 ñ 7 _“ Dieponaumonarchie _ 19§
Dıfi DONAUMON/\RcH1E
Wäre Österreich längere Zeit von Leopold II. regiert worden - er starb, wie er-
wähnt, mit noch nicht ganz 45 jahren -, so hätte seine Geschichte wohl einen
anderen Verlauf genommen. Dieser Kaiser war überzeugt davon, daß auch ein
erblicher Fürst nur der Beauftragte seines Volkes sei, und er sah in der Regene-
ration Frankreich ein Vorbild für ganz Europa; alle Souveräne und Regierungen
würden dies Modell über kurz oder lang nachahmen müssen. Gleichwohl
machte er bei Regierungsantritt etliche Reformen seines Bruders als nicht wirk-
lich durchsetzbar rückgängig. Den harten Zentralismus Josephs II. hatte er stets
abgelehnt, nun gab er den einzelnen Teilen seines Reiches ihre historischen
Rechte zurück. Das war jedoch als die Schaffung einer Ausgangsbasis für Ver-
änderungen gedacht. In seinem letzten Lebensjahr beschäftigte er sich wieder
stärker mit seinen konstitutionellen Plänen. Er wollte die Stände überall durch
die stärkere Heranziehung von Bürgern und Bauern zu Volksvertretungen ent-
wickeln; entsprechende Pläne ließ er 1790/91 ausarbeiten und in hohen Beam-
tenkreisen diskutieren. Die Umsetzung in die Tat begann, sehr vorsichtig und
gleichsam als Experiment, in der Steiermark. Er war sich nicht sicher, ob er für
einen derartigen Schritt nicht doch bessere Zeiten abwarten sollte. Sein früher
Tod nahm ihm diese Entscheidung ab.
Sein Sohn, Franz II., war gerade 24 jahre alt, als er auf den Thron kam. Für
fortschrittliche Ideen war er nicht zu haben. Er war durch und durch konser-
vativ und von seinem Gottesgnadentum durchdrungen. Unter dem Eindruck
der sich schnell verschärfenden Französischen Revolution hielt er alle progres-
siven Kräfte für gefährlich. So tat er alles, um den status quo zu stabilisieren,
und blockierte damit die meisten Reformen. Der wohlwollende Absolutismus,
der ihm an sich vorschwebte, entwickelte sich dabei allmählich zu einem ausge-
prägten Polizeistaat. Dazu trug gewiß auch bei, daß er sehr mißtrauisch war
und sich ständig sorgte, er werde hintergangen. So entwickelte er in einem un-
gewöhnlichen Maße auch an Details der Verwaltung Interesse und zog viele
Entscheidungen an sich. Die Besetzung der höheren Beamtenstellen behielt er
sich selbst vor, und selbständig handelnde Persönlichkeiten lagen ihm nicht. An
solchen Männern war auch die habsburgische Spitzenbürokratie nicht arm. In
der Tradition des Josephinismus war das aufgeklärte Reformbeamtentum durch
Tüchtigkeit, Fleiß, Unparteilichkeit und Rechtlichkeit charakterisiert, und es
196 VII; Euríapa unter dem Druck dír Revolution und Napoleons
besaß eine hohe fachliche Kompetenz. Adelige wurden bevorzugt, aber auch
Bürgerliche konnten Karriere machen. Das ständige I-Iineingreifen des Kaisers
in einzelne Kompetenzen bewirkte auf die Dauer aber doch einen Rückgang an
Initiativkraft und Verantwortungsbewußtsein. 1807 beispielsweise klagte der
Außenminister Stadion darüber, daß der Kaiser alles selbst bewirken wolle. Das
habe eine Lähmung des Geschäftsgangs zur Folge, Schlaffheit und Mechanis-
mus ohne Geist, Mangel an Willen. Für die notwendige Modernisierung von
Staat und Gesellschaft waren das sehr ungünstige Bedingungen.
ltnmerhin ließ Franz II. die Kodifikation des bürgerlichen Rechts fortsetzen.
Federführend war dabei der 1790 in die Leitung der I-Iofkommission für Geset-
zessachen berufene Naturrechtler an der Universität Wien Karl Anton von
Martini, der seine Aufgaben ebenso sah wie Svarez in Preußen. Auch er wollte
Grundsätze über Recht und Staat in den Kodex aufnehmen und Menschenrech-
te formulieren; Leopold wies ihn indessen an, nur von Rechten des Bürgers zu
sprechen. Seine Absichten konnte er nıit dem im Februar 1797 in Westgalizien
eingeführten und im September auch auf den Osten des Landes übertragenen
Bürgerlichen Gesetzbuch für Westgalizien zum Teil verwirklichen. Die bürger-
liche Freiheit wurde umfassend aus naturrechtlicher Position definiert und der
Grundsatz der justizförmigen Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten niederge-
legt. jeder Bürger hatte Anspruch auf deıı Rechtsweg, so oft er sich durch ge-
setzwidrige Verfügungen in seinen Rechten gel-tränkt sah. Maclıtspruclıe des
Herrschers wurden untersagt. Bei der Umarbeitung dieses Gesetzes zum Allge-
meinen Bürgerlichen Gesetzbuch für die gesamten deutschen Erblander der
österreichischen Monarchie, das im jahre 1811 fertig und 1812 in Kraft gesetzt
wurde, nahm der nunmehrige Bearbeiter Franz von Zeiller die naturrechtlichen
Bestimmungen etwas zurück. Auch Zeillcr dachte in liberalen Kategorien. Er
hielt es für ein Gebot der Gerechtigkeit, die Freiheit dcr Untertanen nicht ohne
Not gesetzlich zu beschränken. Freie Tätigkeit sei das Charakteristikum eines
jeden vernünftigen Wesens, und ohne sie könne der Mensch Zufriedenheit und
Glückseligkeit nicht erlangen. Zwar sei der Gesetzgeber, so sagte er 1801 vor
der Hofkommission, der Vater seiner Untertanen, er dürfe sie aber nicht am
Giingelband führen. Zeillcr zielte mit deııı ABGB auf eine liberale Wirtschafts-
verfassung. Damit konnte er sich jedoch nicht voll durchsetzen, da das allge-
meine btirgcrliche Recht nur dann angewandt werden sollte, wenn ihm kein
ständischcs Sonderrecht entgegenstand.
Einen großen Teil seiner Besitzungen faßte Franz ll. 1804 im Kaisertum
Österreich zusammen, im Vorgriff auf den Verlust der Rcichskronc. Nur Un-
garn mitsamt seinem Nebenland Kroatien blieb als eigenes Königreich davon
unberührt. Der Kaisertitel wurde den gegebenen Verhältnissen gleichsam über-
gestülpt, die einzelnen habsburgischen Territorien wurden also nicht staats-
rechtlich verschmolzen. Im Patent vom 14.8.1804 hieß es ausdrücklich, daß die
sämtlichen Königreiche, Fürstentümer und Provinzen ihre bisherigen Titel, Ver-
Die Schweiz 197
Die Scnwiiız
Die Schweiz war längst, wie oben schon erwähnt, oligarchisch verkrustet. Viele
'/,eitgenössische Beobachter hielten sie gleichwohl wegen der republikanischen
Staatsforınen ihrer Glieder für eine Bastion der Freiheit, aber wer genauer hin-
blickte. urteilte klarer. So konnte man 1782 in Band II der ›Staatsanzeigen< des
weithin bekannten deutschen I..iberaIeı1 Schlözer lesen, daß die Schweizer Ter-
ritorien die am schlechtesten organisierten Staaten Europas seien, weil das Volk
nirgends mehr unter dem Druck einiger weniger leide als dort. Die Eidgenos-
sen selbst sahen offenbar weniger Grund zur Empörung als Schlözer. Immerhin
kam es 1790 zu mehreren kleinen, zum Teil von Paris aus gesteuerten Erhebun-
gen, unter anderem im bernischen Vl/aadt und iın Uechtland, die aber bald nie-
dergeworfcn wurden.
ln Graubünden versuchten Demokraten, sogenannte Patrioten, 1794 ein Ge-
meinwesen nach französischem Vorbild zu schaffen, und in Genf sah sich das
bis dahin herrschende Pzıtriziat zum Nachgeben gezwungen: im März 1791 ge-
währte es eine moderne Verfassung. Im Winter 1792/93 schob jedoch die äußer-
ste Linke die nunmehı-ige Regierung beiseite. Für mehrere jahre verlief die Ge-
schichte der Stadt genau parallel zu der Frankreichs. Es gab eine diktatorische
lšonventsherrschaft, seit Sommer 1794 auch eine Schreckenszeit mit einem Re-
volutionstribunal, das etliche Todestırteile aussprach und vollstrecken ließ, und
1795 einen thermidorianischen Gegenschlag. Iın nächsten jahr wurde die Ruhe
wiederhergestellt, indessen konnte die Stadt nur noch für kurze Zeit über sich
selbst bestimmen; im Frühjahr 1798 wurde sie Frankreich eingegliedert.
Trotz der auch in anderen Teilen der Schweiz immer stärker werdenden Un-
ruhe sahen die Patrizier nirgends Anlaß zu Konzessionen. Der zunehmende
französische Druck ~ das Veltlin und andere Gebiete im Süden separierten sich
198 VII. Europa unter dem Druck der Revolution und Napoleons
1797, dazu durch Napoleon ermuntert - löste schließlich Anfang 1798 eine sehr
moderate helvetische Revolution aus. Sie begann am 20. januar in Basel, wo die
Patrioten den Amtsverzicht des Großen Rates erzwangen und eine National-
versammlung an seine Stelle setzten; im Hintergrund stand dabei der Ober-
zunftmeister Peter Ochs, der sich seit einiger Zeit in Paris aufhielt. Es folgten
das Waadtland, das sogleich von französischen Truppen besetzt wurde, und an-
dere Untertanengebiete. Am 5. März mußte Bern vor den in die Schweiz einge-
drungenen Franzosen kapitulieren. Daraufhin gaben die einzelnen Orte bis An-
fang April ihre Untertanengebiete frei.
Aus dem größeren Teil der bisherigen Eidgenossenschaft wurde sogleich mit
tatkräftiger Beteiligung Frankreichs die ›eine und unteilbare< I-Ielvetische Repu-
blik nach dem Muster des thermidorianischen Frankreich geformt - an der Aus-
arbeitung der Verfassung war Ochs maßgeblich beteiligt. Es entstand ein kon-
sequenter Einheitsstaat mit kompliziert gestalteter Gewaltenteilung, die etwa
330 O00 Wahlberechtigten bestimmten ihre parlamentarischen Vertreter und
sonstige Funktionsträger in einem indirekten Verfahren. Die Verwaltung wurde
nach französischem Vorbild eingerichtet, die Kantone waren nur noch höhere
Verwaltungsbezirke und entsprachen damit den französischen Departements.
Der wichtigste Gewinn für die Schweizer war der Grundrechtskatalog.
Aber die vorherrschende Einstellung zum neuen Staat war wegen des straffen
Zentralismus und der sehr geringen Mitwirkungsmöglichkeiten an der Politik
negativ. Es bildeten sich zwei Parteien. Neben die Patrioten traten die Republi-
kaner, und diese frühliberale Partei stellte die meisten der in der I-Ielvetik maß-
geblichen Persönlichkeiten. Die neue Regierung nahm entschlossen die anste-
henden Reformen in Angriff. Es mußten die administrativen Strukturen und das
Gerichtswesen neu aufgebaut, die Grundentlastung eingeleitet, das ganze
Rechtssystem modernisiert werden. Infolge der schnell sehr heftig werdenden
Parteikämpfe war eine ruhige Sacharbeit aber sehr erschwert. Bald regte sich ein
aus regionalistischem Geist gespeister konservativer Widerstand. Ihn trugen die
Altgesinnten oder Föderalisten. Gegen sie rückten Patrioten und Republikaner
als Unitarier eng zusammen. Im Konflikt der beiden Gruppen wurde die Hel-
vetik unregierbar. Unitarier und Föderalisten suchten sich mehrfach mit Staats-
streichen durchzusetzen. Auch gab es zahlreiche Aufstände, sie wurden 1800
durch französisches Militär hart unterdrückt.
Anfang 1803 entschied Napoleon den helvetischen Dauerstreit durch sein
Machtwort. Am 21. Februar übergab er 70 meist unitarisch gesinnten Abgeord-
neten in Paris eine neue Verfassung, die Mediationsakte, und erklärte die
schweizerische Revolution für beendet. Die Kantone wurden in voller Souver-
änität wiederhergestellt - zu den dreizehn alten kamen sechs neue -, ihre Ver-
fassungen wurden mit wenigen Ausnahmen in die Mediationsakte aufgenom-
men. Die Kantone traten zu einem Bundesstaat zusammen. Am Schluß der
Mediationsakte garantierte der Erste Konsul die Verfassungcn des Bundes und
_ _Die Niederlande _ 199
der Kantone und machte jede Verfassungsänderung von seiner Zustimmung ab-
hängig.
Die von den in Paris zusammengetretenen Delegierten erarbeiteten Kantons-
Verfassungen erlangten erst mit der Billigung Napoleons Rechtskraft. Natürlich
war bei den Schweizer Gegebenheiten eine Autokratie mit pseudokonstitutio-
neller Fassade nach dem Muster von I799 oder 1802 unmöglich. Die Kantone
erhielten RepräsentatiWerfassungen konservativer Prägung. Das umständliche,
an zensitäre Bedingungen geknüpfte Wahlverfahren zum Großen Rat sollte Ra-
dikale möglichst von den politischen Entscheidungen fernhalten. Dieser Große
Rat wählte als Exekutive den Kleinen Rat. Insofern wurde eine sinnvolle Ge-
waltenteilung vorgenommen, ebenso hinsichtlich der judikative. Die Ober-
schichten hatten das Heft wieder fest in der Hand. Der Bund erhielt den seither
unveränderten Nahmen ›Schwei7.erische Eidgenossenschaft<; sein Organ war,
wie früher, die Tagsatzung. Sie war vor allem für die auswärtigen Verhältnisse
zuständig. jeder Kanton hatte eine Stimme, die größeren sechs hingegen zwei,
und für eine Entscheidung war die Dreiviertelınehrheit erforderlich. Die Ge-
schäfte führte mit iährlichcm Wechsel ein Direktorialkanton, dessen Oberhaupt
'zugleich Landamman der Schweiz war. ihre Auíšenbeziehungen walırnahm und
gewisse Aufsichtsreclıte hatte. Er war vor allem das Objekt französischer Ein-
flußnahnıe. Außer durch die Mediationsalne war die Schweiz auch durch Ver-
träge an Frankreich gebunden, sie war fester Bestandteil des napoleoniselien
Machtsystems. Die Mediationsakte ermöglichte den Kantonen ein Jahrzehnt ru-
higen Arbeitens. Dabei wurde in vieler Hinsicht Reformpolitik getrieben, aber
restaurative Tenden'/.en waren unüberselıbar. Nicht zur Eidgenossenschaft
gehörte das Wallis. Napoleon verfügte 1802 dessen Organisation als selbständi-
ge Republik und machte es 1810 zum fraıııösisclıen Departement.
Dir". Nıı-'.ti1~;Rt..A.\i1›ı-1
Die Führung hatte dabei zunächst das im Februar gebildete Vereinigte Revolu-
tionskomitee. Die Ständeversammlungen wurden mit Parteigängern der Patrio-
ten besetzt, ein neues Wahlrecht verabschiedet. Danach hatte jeder Mann von
über zwanzig Jahren mit eigenem Einkommen das Wahlrecht, wenn er sich eid-
lich für die Volkssouveränität und gegen das Statthalteramt aussprach. Im Janu-
ar 1796 wurde indirekt eine Nationalversammlung gewählt. Die 126 Deputier-
ten traten am 1. März in Den Haag zusammen, sie entstammten ganz
überwiegend der Oberschicht. Es waren zwei Hauptgruppen zu beobachten,
aristokratisch-föderalistische und demokratisch-zentralistische Patrioten. Erste-
re überwogen. Sie gaben der zukünftigen Republik durch zensitäre Wahlrechts-
bestimmungen eine eher konservative Richtung vor, auch wollten sie die kleine-
ren Provinzen stärken.
Der von der Konstituanten erarbeitete Verfassungsentwurf wurde aber im
August 1797 von den Urwählerversammlungen abgelehnt, die Neuwahl zum
Parlament erbrachte wiederum eine gemäßigte Mehrheit. Die radikalen Patrio-
ten setzten nun auf einen mit französischer Hilfe durchgeführten Staatsstreich
- das Land war ja besetzt: zweiundzwanzig Föderalisten wurden verhaftet, elf
schieden freiwillig aus der Versammlung aus, weil sie den ihnen abverlangten
Eid gegen Föderalismus, Aristokratie und Statthaltersystem nicht leisten woll-
ten. Die nunmehrige radikale Mehrheit verabschiedete im April 1798 ein
Staatsgrundgesetz nach dem Muster der französischen Direktorialverfassung
von 1795 einschließlich eines straffen Zentralismus. Dem stimmten die Ur-
wählerversammlungen mit großer Mehrheit zu. Die im Januar gewaltsam
in die Minorität gedrängten Gemäßigten brachten sich im Juni, ebenfalls mit-
tels eines Staatsstreichs, in den Besitz der Regierungsmacht und begaben sich
danach sehr zögernd auf den von den Radikalen gewollten Kurs tiefgreifender
Reformen.
Napoleon fand nach seiner Machtergreifung an dieser Regierung bald Mißfal-
len, auch aus außenpolitischen Gründen, und von der Verfassung von 1798 hielt
er nichts. Im September 1801 ließ er mit Hilfe der Besatzungstruppe und einiger
Gefolgsleute eine nach seinen eigenen Vorstellungen - Modell 1799 - formu-
lierte Verfassung in Kraft setzen; auch dies war ein Staatsstreich. Als die Ur-
wählerversammlungen sich mit Dreiviertelmehrheit dagegen wandten, wurden
einfach die 83% der Wahlberechtigten, die sich an dem Plebiszit nicht beteiligt
hatten, als Ja-Stimmen gewertet. Die Republik war nun ein autoritärer Staat.
Nach den neuen Regelungen war auch das alte Regentenpatriziat wieder zu po-
litischer Tätigkeit zugelassen, wenig später verzichtete Wilhelm V. auf seine An-
sprüche. Beides förderte den inneren Ausgleich im Lande.
1805 ließ Napoleon den autoritären Charakter nochmals unterstreichen.
Durch eine Verfassungsrevision wurde das Amt des Ratspensionärs wiederher-
gestellt, freilich mit anderer Aufgabenbeschreibung als früher, und mit dem bis-
herigen Gesandten der Republik in Paris besetzt, dem Napoleon gut vertrauten
Italien 201
ITi\t.ıi1N
Auch Italien wurde von den Auswirkungen der Französischen Revolution tief
berührt. In einigen Ländern nahmen Idealisten das Geschehen in Frankreich als
Ermunterung zu Verschwörungen und Putschversuclıen, die keine sonderliche
Resonanz unter der kaum politisierten Bevölkerung fanden - diese Männer be-
zahlten dafür mit ihrem Leben. Aus dem Ersten Koalitionskrieg koıınte sich
kaum ein Territorium heraushalten, sie .ılle wurden dadurch stark belastet. Das
entscheidende jahr wurde 17%, .ils Napoleon im April mit seiner Armee ein-
marschierte und bis 1797 einen großen Teil der Halbinsel in seine Botmäßigkeit
bringen konnte. In Mittelitalien bildeten sich vier kleine Rcpubliken, die sich
schon 1797 zur Cispadanischen Republik 7.usammenschlossen. Sie wurde im
Sommer und Herbst nach Norden hin erheblich erweitert und zur Zisalpini-
schen Republik unıgestaltct. Bis zum Sommer 1799 wurde die italienische Staa-
tenwelt im französischen Sinne uıngeformt. allerdings nicht zu einer Einheit zu-
sammengefalšt - das regionalistische Denken war überall stark ausgeprägt. Nur
Sardinien und Sizilien, wohin die piemontesische resp. die neapolitanisehe
Herrscherfamilie geflüchtet waren. konnten sich dem französischen Zugriff ent-
ziehen. Überall war die Innenpolitik an Frankreich orientiert, also an der Di-
rektorialverfassung von 1795 und an der dortigen Gesetzgebungs- und Verwal-
tungspolitik. Überall gab es aber auch heftige Rivalitäten zwischen den alten
Eliten. Die Lage der italienischen Staaten war in dieser Zeit höchst instabil. Das
202 VII. Europa unter_derrıgDruck dergR¶olVutioıı ¶d_Napüo_nsV _ V
ergisch bedeutet, daß er nur ein Großvasall Napoleons sei und entsprechend zu
handeln habe.
Zwar hatte es in Italien während des 18. Jahrhunderts Reformbemühungen ge-
geben - in der Lombardei, die seit 1714 zu Österreich gehörte, in der Toskana, in
Neapel unter Ferdinand IV. namentlich als Kirchenkampf -, aber auf breiter
Front entfaltete sich eine von aufklärerischen Prinzipien geleitete Politik doch
erst mit dem französischen Einmarsch 1796. Die Revolution wurde als Maßnah-
me von oben gleichsam importiert und gab dem Lande in vieler Hinsicht inner-
halb weniger jahre ein neues Gesicht, sie fand unter den einheimischen Intellek-
tuellen und in der Obersehicht zahlreiche Vollstrecker - das Bewußtsein eines
Reformdefizits war in diesen Kreisen sehr ausgeprägt. Eine Verfassungspolitische
Dimension hatte sie nicht, es ging am wenigsten darum, breiteren Kreisen die
Teilhabe an der politischen Willensbildung zu ermöglichen. Das Bedenken, das
schon Großherzog Leopold in der Toskana gehindert hatte, seine konstitutio-
nellen Pläne zu verwirklichen, ob nämlich das Volk reif zu einem solchen Schritt
sei, wurde offensichtlich von den meisten Reformern geteilt. Tatsächlich war auf
die breite Masse der Bevölkerung in dieser Hinsicht nicht zu bauen; wenn es aus
ihr heraus zu Aktivitäten kam, so hatte das klerikal bestimmte gegenrevolu-
tionäre Ziele. Durch die Revolutionskriege wurde Italien sehr stark belastet, und
in der Folge war der napoleonische Druck schwerer als in Deutschland. Gewiß
depossedierte der französische Kaiser auch nördlich der Alpen Fürsten, zwang
die verbleibenden zu Bundnissen und annektierte weite Landstriche. Aber er
konnte mit den Monarchen in Deutschland doch nicht so herrisch umspringen
wie mit denen in Italien, die er schlicht als Untergebene behandelte.
Die beiden großen Inseln Sardinien und Sizilien blieben außerhalb des napo-
leonisehen Machtbereichs. Besonders Sizilien war für die Engländer in ihrem
andauernden Krieg gegen Frankreich eine wichtige Bastion. Um zu verhindern,
daß die Reformpolitik Murats Anziehungskraft auch auf die Sizilianer ausübte,
setzte der englische Gesandte am Hof in Palermo und Oberbefehlslıaber der
britischen Truppen auf der Insel, Lord Bentinck, beim Monarchenpaar - Maria
Carolina, eine Tochter Maria Thercsias war neben (odcr vor) Ferdinand IV. die
maßgebliche Persönlichkeit im Lande - nach langem Konflikt 1812 eine gründ-
liche Modernisierung der Verfassung durch. Er sorgte dafür. daß das siziliani-
sche Parlament nach deın Vorbild des englischen erneuert wurde. Die Feudal-
ordnung wurde aufgehoben - das blieb auf dem Papier. Künftig sollte Sizilien
innerhalb der neapolitanischen Monarchie Autonomie genießen; selbstver-
ständlich wurde der Anspruch auf das ganze Königreich nicht aufgegeben. Als
Garantie für die ständige Beachtung dieser Reformen mußte das Königspaar
seinen Sohn Franz zum Mitregenten annehmen, also faktisch zu seinen Gun-
sten abdanken. Als Ferdinand IV. aber Ende 181-1 durch den Wiener Kongreß
wieder in seine Rechte eingesetzt wurde, hob er sofort die Verfassung von 1812
auf.
_ _ _? _ *_ _ g _S|;Enien „_ 205
Sı>ANıE.N
Spanien nahm von 1793 bis 1795 am Krieg gegen Frankreich teil, ab 1796 aber
stand es mit diesem gegen England im Bunde. Einen langwierigen Konflikt zwi-
schen König Karl IV. und seinem Sohn Ferdinand nutzte Napoleon, den beide
Seiten als Vermittler ansahen, im Mai 1808 dazu, sich von Karl IV. die Thron-
rechte übertragen zu lassen; einige Wochen später berief er seinen Bruder Joseph
in diese Würde. Gegen die französische Einmischung in den Gegensatz von Vater
und Sohn gab es von Anfang an Widerstand. Es entwickelte sich eine Aufstands-
bewegung zugunsten des Kronprinzen, den die Aufständischen als legitiınen Kö-
nig Ferdinand VII. ansahen. Napoleon mußte diesen Kräften starke Truppenmas-
sen entgegenstellen. Obwohl in der von Joseph Bonaparte in Bayonne Anfang
juli gewährten Verfassung die spanischen Verhältnisse berücksichtigt wurden und
demgemäß die Cortes als ständische Vertretung erhalten bleiben sollten, fand die-
ses Grundgesetz als von außen oktroyicrt wenig Resonanz. lmmerhin entschlos-
sen sich zahlreiche qualifizierte Männer zur Zusammenarbeit mit dem neuen Kö-
nig, weil sie nur so die von ihnen gewünschte gründliche Modernisierung des
Landes für möglich hielten - Reformen mit der bisherigen Führung erschienen
diesen polemisch Franvoslingen oder josefinos genannten Peı'söı1li<:hkeiten als
sehr unwahrscheinlich. Wegen des breiten Widerstandes in der Bevölkerung und
des von den linglåindern mit großem Militäraufgebot auch in Spanien geführten
Krieges konnte sich das Regimejosephs niclıt wirklich entfalten. Der Bonaparte-
König mußte Madrid wiederholt aufgeben. lm juni 1813 verließ er Spanien für
immer. Auf Befehl seines Bruders erkannte er ein halbes jahr spater Ferdinand
VII., der sich auf \li/eisuııg Napoleons seit Mitte 1808 im französischen Valencay
aufgehalten hatte. als spanischen König an.
Die gegen die Franzosen stehenden Kräfte hatten ihren Mittelpunkt zunächst
in einer _]unta Central. Diese beschloß im Mai l809 die Wfiederlierstellung der
Cortes. Allerdings war man sich über den künftigen Charakter der Körper-
schaft nicht einig. Die Traditionalisten dachten an die alte ständische Form, die
Modernisten wollten ein Parlament nach dem Vorbild Englands und vertraten
die Ansicht. dalš alle Gewalt im l,.inde. da der legitime König nicht handlungs-
fähig sei, beim Volke liege. Ihre Ausgangsposition war also die Volkssouverä-
nität. Die 1809 sehr erfolgreiche französische Kriegführung zwang die junta,
sich ganz in den Süden zurückzuziehen, nach Cádiz. Dort übertrug sie die Re-
gierung einem Regentschaftsrat und löste sich dann auf. Der Rat berief die Cor-
tes im juni 1810 ein. Sie konstituierten sich als Verfassunggebende Versamm-
lung in nur einer Kammer, womit ein wiclıiges Priiiudiz ausgesprochen war,
nahmen das volle Recht auch zur allgemeinen Gesetzgebung in Anspruch und
machten sich an die Ausarbeitung eines Grundgesetzes für Spanien. Dieses
Werk lag im März l8l2 fertig vor.
VII._ Europa unter demgruck der Revolution und Napoleons
dienstete konnten nicht gewählt werden, Beamte nicht in den Provinzen, in de-
nen sie tätig waren. Die Legislaturperiode betrug zwei jahre, und die Cortes
sollten jährlich wenigstens drei Monate tagen. Die Abgeordneten genossen Im-
munität, jeder hatte das Initiativrecht, eine sofortige Wiederwahl nach Abschluß
der Legislaturperiode war nicht möglich. Der König konnte gegen ein von den
Cortes verabschiedetes Gesetz zweimal für je ein Jahr ein Veto einlegen, dann
nicht mehr. Für die Zeit, in der die Cortes nicht versammelt waren, wurde eine
besondere Deputation bestellt.
Der Vierte Titel hatte den König zum Gegenstand. Der Monarch war »heilig
und unverletzlich und nicht verantwortlich« (Art. 168), von einem Gottesgna-
dentuın war selbstverständlich keine Rede. Er hatte ››der Verfassung und den
Gesetzen gemäß« (Art. 170) die Macht der Gesetze in Vollziehung bringen zu
lassen und die Ordnung im Innern sowie die Sicherheit nach außen zu gewähr-
leisten. Dafür stand ihm die Exekutive einschließlich der Armee uneinge-
schränkt zur Verfügung. Bei der Auswahl seiner Minister hatte er völlig freie
Hand. Ausdrücklich wurde gesagt, was er nicht durfte, namentlich nicht die
Cortes am Tagen hindern oder sie auflösen, keine Verträge ohne Einwilligung
des Parlaments schließen, keine Privilegien erteilen und niemand seiner Freiheit
berauben. Der Status der Minister wurde genau definiert. Sie hatten die köııig-
lichen Akte gegenzuzeichnen, waren den Cortes rechtlich verantwortlich und
konnten gegebenenfalls durch ein gerichtliches Verfahren zur Verantwortung
gezogen werden. Auf Vorschlag der Cortes war ein vierzig Mitglieder umfas-
sender Staatsrat zu berufen, von dem sich der König in allen wichtigen Regie-
rungsangelegenheiten beraten lassen mußte.
In den weiteren Titeln V bis X war eingehend vom Justiz- und Steuerwesen,
von der Selbstverwaltung, vom öffentlichen Unterricht und von der Gewähr
der Verfassung sowie deın Verfahren einer Änderung die Rede. Erwähnt sei,
daß die überall einzurichtenden Elementarschulen Unterricht auch in den
staatsbürgerlichen Pflichten erteilen sollten. Die Verfassungsväter beabsichtig-
ten also, das Volk mit ihrem Werk vertraut zu machen. Einen eigenen Grund-
rechtskatalog enthielt die Verfassung nicht, doch waren alle wesentlichen
Grundrechte mit Ausnahme der Religionsfreiheit über den Text verteilt gege-
ben.'35
Es handelte sich um eine überaus wichtige Urkunde. Das liberale Verfas-
sungsdenken wurde konsequent umgesetzt. Vorgesehen war eine konstitutio-
nelle Monarchie, deren Schwerpunkt auf Seiten der Cortes lag: das Parlament
konnte nicht am Tagen gehindert und nicht aufgelöst werden, und es konnte bei
Gesetzesbeschlüssen über einen etwaigen Widerspruch des Monarchen nach
zwei jahren hinweggehen. Das Wahlrecht war prinzipiell demokratisch und
ging deutlich weiter als das französische 1791, aber durch das indirekte Verfah-
ren wurde es liberal abgefedert. Es war anzunehmen, daß zu Wahlmännern auf
den verschiedenen Ebenen nur Notabeln gewählt werden würden.
208% _ W Europaßgnter dem__Druck derrßíorlution und Nap_olcons ff
Mit Recht wurde diese Verfassung immer wieder die Magna Carta des spani-
schen Liberalismus genannt, und es war nicht zufällig, daß in diesen Jahren,
erstmals 1809, von ›liberaler Verfassung« die Rede war. In der Folge setzte sich
der Ausdruck Liberale als Parteibezeichnung schnell durch, während die Ver-
teidiger einer nicht durch ein Parlament beschränkten monarchischen Gewalt
Servile genannt wurden. Ferdinand VII. war nicht gewillt, seine Stellung so be-
schränken zu lassen, wie es die Cortes getan hatten. Nachdem er gemäß dem
mit Napoleon im Dezember 1813 geschlossenen Vertrag im März 1814 nach
Spanien zurückgekehrt war, hob er die Verfassung von Cádiz schon nach weni-
gen Wochen auf und ließ entschieden und mit großer Härte gegen die Liberalen
vorgehen.
POLEN
Abschließend ist der Blick auf das östliche Europa zu richten. l)ie erste Teilung
Polens im jahre 1772, die einen territorial immer noch sehr ausgedehnten Staat
mit rund 7,5 Mill. Bewohnern übrig ließ, bewirkte eine ausgeprägte Erneue-
rungsbereitschaft. Die Frucht dieser Bestrebungen waren die 1775 vom Reichs-
tag beschlossenen Kardinalrechte, denen zufolge kein Ausländer und keine der
Söhne und Enkel des letzten Königs in das höchste Staatsamt gewählt werden
durften, und die Einrichtung des Immerwährenden Rates. Das war eine ständi-
ge Kommission von ie 18 Senatoren und Landboten, die sich in fünf Sektionen
für die großen Politikbereiche Äußeres, Inneres, Heerwesen, Finanzen und
Rechtspflege gliederte und mithin eine Art Ministerialorganisation darstellte.
Den größten Einfluß auf das Gremium gewann bald der russische Botschafter.
so daß es bei vielen Polen gar nicht angesehen war. Es leistete aber fruchtbare
Arbeit. So wurde die Stellung der königlichen Bauern verbessert, das Erzie-
hungswesen reorganisiert - dabei war das Vermögen des Mitte 1773 vom Papst
aufgehobenen jesuitenordens sehr dienlich - und das Kommunalrecht moder-
nisiert. Unabhängig davon gaben viele Grundherren ihren Bauern die persönli-
che Freiheit.
Der vom Oktober 1788 bis 1792 tagende sogenannte Große Reichstag nahm
das Reformwerk wieder auf. Er hob gleich zu Beginn den lmmerwiihrenden Rat
als Instrument des russischen Einflusses auf. Am 3. Mai 1791 konnten die Pa-
trioten, deren zentrales Ziel die Verminderung des russischen Gewichts in der
polnischen Politik war, unter Ausnutzııııg einer geringen Anwesenheitsquote
überraschend gegen die russische Partei die Verabschiedung des Rcgierungsge-
setzes durchsetzen. Diese Verfassung ınit nur elf Artikeln berief sich auf die
_ X Polen 209
Volkssouveranität, indem sie die Landbotenkammer als Sitz der Allgewalt der
Nation bezeichnete. Sie machte die Krone im Hause Wettin erblich, ließ in bei-
den Kammern Mehrheitsentscheidungen zu, beseitigte also das Liberum Veto
und konsequenterweise auch das Konföderationswesen, sie schrieb die Gewal-
tenteilung vor, und setzte an die Stelle des Immerwährenden Rates einen Mini-
sterrat mit fünf Fachministern unter dem Vorsitz des Primas. Er war insofern
vom Parlament abhängig, als der Reichstag Minister mit einer Zweidrittelmehr-
heit absetzen konnte. Kam es zu einem Konflikt zwischen König und Konseil,
so konnten der König oder der Reichstagsmarschall den Reichstag berufen und
ihm die Entscheidung zuweisen. Die Stellung der Städte am Reichstag wurde
verbessert.
lm Februar 1792 billigten die Provinzialversammlungen die neue Verfassung,
aber im Lande stieß sie doch auf großen Widerstaııd. Einige Magnaten bildeten
eine Konföderation und baten Katharina d. Gr. um Schutz. S0 intenfenierte im
Mai ein russisches Heer, das schnell große Erfolge hatte. Schließlich trat König
St-anislzıus Poniatowski der Konföderation bei. Aus dieser Situation entwickel-
ten sich russisch-preußische Verhandlungen über eine zweite Teilung Polens.
Durch sie wurde die Republik im januar 1793 auf die Hälfte ihres bisherigen
Territorialbestaııdes mit etwa der Hälfte der vormaligen Bevölkerung reduziert.
lm September mußte ein neuer Reiclıstag diese Abtrctungen anerkennen und
die von seinem Vorgänger verabschiedeten Reformen größtenteils wieder besei-
tigen. Gegen diese Fntwicklung richtete sich 1794 ein Aufstand. den die an
Frankreich angelelınte polnische Revolutioııspartei vorbereitet hatte. An die
Spitze trat der hohe Oliliizier Thaddäus Košciuszko, ein crklíirter Anhänger der
Verfassung von 1791. Er wurde Ende März von einer nach Warscliau einberufe-
nen Nationalversammlung zum Diktator proklamiert, bis die Verfassung wie-
derhergestellt sei. Nach ersten Überraschungserfolgen mußten die Polen sich im
November der russisch-preulšischen Übermacht beugen. Die von Košciuszko
im September ausgerufcne bäuerliche Freizügigkeit hatte eine umfassende Er-
hebung der Landbevölkerung nicht zu bewirken vermocht, die revolutionäre
Stimmung vor allem in Warschau mit einigen L_vnchmorden an vermeintlichen
Verriitern geınálšigte Elemente .ılıgesclırc-ckt. Noch während der Kämpfe ver-
stiintligten sich Rußland, Österreich und Preußen auf eine neue polnische Tei-
lung. Dabei konnte das Zarenreich, da es die Hauptlast des Krieges zu tragen
hatte, den Löwenantcil der Beute beanspruchen. Preußen trat dem im Februar
1795 abgeschlossenen Vertrag erst zehn Monate später bei, mit der Vollziehung
im januar 17% verschwand die Republik Polen von der Landkarte.
Gut elf jahre später bildete Napoleon nach dem Tilsiter Frieden aus dem
größeren Teil der Preußen jetzt wieder abgenonımenen Gewinne von 1793 und
1795 das Herzogtunı Warschau unter König Friedrich August von Sachsen,
dem schon die Mai-Verliassung, von 1791 die Krone Polens ıugedacht hatte, und
erweiterte es 1809 um das nun von Österreich abgetrcnnte Westgalizien. Das
_210 __grVLEpropa unterrdemflggck derßevoglution und Iflapoleonrsg W V7
Nimmt man das von Frankreich direkt beeinflußte Europa zwischen 1792 und
1814 insgesamt in den Blick, so sieht man überall heftige Erschütterungen und
schwere Belastungen durch den permanenten Krieg, mannigfache territoriale
Veränderungen und eine breit angelegte Reformarbeit, entweder aus eigenem
Antrieb oder auf französisches Verlangen. Dabei ging es vor allem um die Mo-
dernisierung von Recht und Verwaltung und um die Schaffung einer Gesell-
schaft von vor dem Recht Gleichen, jedenfalls aber um die Abschleifung bishe-
riger ständischer Unterschiede, und nicht so sehr um eine ausgedehnte
politische Mitwirkung der Bevölkerung. Das vorrangige Ziel war der Rechts-
staat mit rationaler Verwaltungsstruktur, nicht der Verfassungsstaat. Diese
Rangfolge wurde von vielen Politikern ganz bewußt gesetzt, erinnert sei an die
preußischen oder die süddeutschen Reformer oder auch an Joseph Bonaparte.
Zunächst sollten die Strukturen geschaffen werden, auf denen später die politi-
sche Partizipation aufbauen konnte. Für diese Reihenfolge sprachen auch die
schlechten Erfahrungen, die die Franzosen bei der Handhabung der Verfas-
sungsstaatlichkeit machen mußten. Das Grundgesetz vom 3. September 1791
wurde nach noch nicht einmal einem Jahr beiseitegeschoben. Fortan wurde der
Machtkampf nicht mehr mit den konstitutionell vorgeschriebenen Mitteln aus-
getragen, sondern mit sehr viel rüderen Methoden. Kompromißbereitschaft war
in Frankreich und in den von ihm unmittelbar abhängigen Gebieten - seinen
Polen 7 211
strich der Monarch, daß er das von ihm gegebene Versprechen nun einlöse und
daß er dabei den ständig wachsenden Fortschritt an Aufklärung ebenso berück-
sichtige wie die Entwicklung des letzten halben Jahrhunderts. Ausdrücklich
verwies er auf die nötigen Vorrechte der Krone, das Parlament stellte er in die
Tradition der März- und Maifelder.
Den Eingang des eigentlichen Verfassungstextes machten mit zwölf Artikeln
die Rechte der Franzosen. Dies war der klassische liberale Katalog, vermehrt
um die Amnestie für das Vergangene. Die Art. 13-23 definierten die Rechte des
Königs. Er war das Haupt des Staates, unverletzlich, alleiniger Inhaber der
Exekutive. Gemeinsam mit den Kammern übte er die gesetzgebende Gewalt
aus, er allein hatte das Initiativrccht, nicht die Kammern, die nur um ein Ge-
setz bitten konnten, und er erteilte den Gesetzen die Sanktion und verkündete
sie. Ob er die Sanktion aussprechen wollte, war in seine Entscheidung gestellt.
Die Deputiertenkammer konnte er auflösen, mußte aber bald Neuwahlen ab-
halten.
In den Art. 24-34 ging es um die Pairskammer. Die Königlichen Prinzen wa-
ren Pairs von Geburt, die anderen Mitglieder dieses Hauses wurden vom König
benannt, und zwar in unbegrenzter Zahl, entweder auf Lebenszeit oder erblich.
Die Deputiertenkammcr, besprochen in den Art. 35-53. wurde auf fünf jahre
bei jährlicher Fiinftclerneuerung durch \X/ählerversammlungen in den Departe-
ments gewiihlt. Die Abgeordneten mußten wenigstens 40 jahre alt sein. Ein
Vl/ähler mußte eine direkte jahressteuer von 300 frcs. erbringen, die Wählbar-
keit war sogar an eine direkte Steuer von I O00 frcs. jährlich gebunden. Das ak-
tive Walılrcclit war damit an eine hohe zensitare Schranke, das passive an eine
außerordentlich hohe geknüpft. Die Minister, behandelt in den Art. 54-56,
konnten Abgeordnete oder Pairs sein. Hatten sie sich des Verrats oder der Ver-
untreuung schuldig gemacht, konnte die Deputiertenkammer sie vor den Pairs
anklagen.
Das justizwesen einschlielšlich der Unabhängigkeit der Richter wurde in Art
57-68 in seiner gegenwärtigen Form bestätigt. In den weiteren Artikeln 69-76
ging es um Übergangs- und Schltılšbestimmungen. Hier wurden unter anderem
der alte und der neue Adel sowie die Staatsschuld garantiert.
Diese siebte Verfassuııg I*`r.ınkrt-ichs in dreiundzwanzig jahren war aulšeror-
dentlich knapp gehalten und sp:-.icli viele Dinge kaum an, so das Gesetzge-
bungsverfaliren und das genaue Verhältnis der beiden Kammern zueinander.
Dem König gab sie eine sehr st.irkc Stellung, und den Kreis der zur Mitwirkung
an der Politik Berufenen engte sie äußerst ein. Es gab nur etwa 100 O00 aktive
Wahlbcreclıtigte, das waren 0,3% der Bevölkerung von rund 30 Mill. Men-
schen. Die Zahl der Wlililharen belief sich gar nur auf 16 000 Männer. Sehr weit
über den napoleonischen Autorit.irismus gedieh die Charte nicht hinaus, sie war
ein Minimum, das inı künftigen politischen Alltag ausgebaut werden mußte. Es
kam alles darauf an, wie sie gelmııdliabt werden würde.
214 VIII. Frankreich im Wechsel der Staatsformen seit 1814
In der Präambel der Charte hatte Ludwig XVIII. den Wunsch ausgesprochen,
daß die Franzosen wie Brüder sein und daß keine bitteren Erinnerungen das
Verfassungsleben belasten sollten. Demzufolge waren die unumgänglichen Säu-
berungen im öffentlichen Dienst maßvoll. Das nahm die Bevölkerung für den
König ein. Die Friedensbedingungen, die die Alliierten Frankreich am 30. Mai
auferlegten und die als sehr ungerecht empfunden wurden, die Verkleinerung
der Armee, die Kirchenpolitik, die sogleich von den Emigranten angemeldeten
Forderungen nach Entschädigung und die drückende finanzielle Lage führten
aber bald zu einer Verschlechterung der Stimmung, und in der nun freien Pres-
se konnte sich all das frei aussprechen.
Auch Napoleon, dem die Sieger die Insel Elba als souveränes Fürstentum
überlassen hatten, blieb das nicht verborgen. Die Herrschaft über rund 15 O00
Einwohner auf 223 km2 befriedigte den Ehrgeiz des gerade fünfundvierzigjähri-
gen bisherigen Herrschers über Kontinentaleuropa natürlich nicht. Die Kennt-
nis von der Stimmung der Franzosen, die Befürchtung, die Alliierten würden
ihn aus Europa entfernen, und andere Gründe veranlaßten ihn im Spätherbst
1814 dazu, seine Rückkehr nach Frankreich vorzubereiten. Am 1. März 1815
landete er in der Nähe von Cannes. Zunächst schlossen sich ihm einige republi-
kanisch gesinnte Bauern an, dann gingen mehr und mehr Truppenteile zu ihm
über, und am 20. März erreichte er im Triumph Paris - in der Nacht zuvor hat-
te Ludwig XVIII. sich nach Gent begeben. Schon auf dem Marsch nach Paris
hatte der zurückgekehrte Kaiser allerlei Verfügungen getroffen und dabei am
10. März in Lyon eine neue Verfassung versprochen, denn an die des Jahres XII
konnte er angesichts der Charte nicht wieder anknüpfen. Um die Ausarbeitung
bat er Benjamin Constant de Rebecque, einen angesehenen politischen Schrift-
steller, der, aus hugenottischer Familie stammend, in der Schweiz geboren war,
seit Beginn der Revolution aber in Paris gelebt hatte und auch politisch tätig ge-
wesen war, bis er 1802 wegen seines Eintretens für liberale Prinzipien Napo-
leons Mißfallen erregt hatte und auf Reisen gegangen war; seit 1814 war er wie-
der in Paris. Napoleon gewann ihn jetzt für die Mitwirkung an der
Verfassungsrevision, indem er ihm versicherte, er werde als konstitutioneller
Monarch handeln.
Die Revision erfolgte in der Form von Ergänzungen des napoleonischen Ver-
fassungsrechts in enger Anlehnung an die Charte. Über die Bestimmungen des
4. Juni 1814 ging die Additionalakte nur wenig hinaus. Wiewohl sie die Erwei-
terung des Wahlrechts vorsah, ohne doch das allgemeine Stimmrecht zu brin-
gen, fand sie keine sonderlich positive Resonanz. An dem über sie abgehaltenen
Plebiszit nahmen vier Fünftel der Franzosen nicht teil. Wirksamkeit erlangte sie
nicht, weil die Alliierten Napoleons erneute Herrschaft schon Mitte Juni in der
Die erneuerte Bourhonen-Monarchie 215
Schlacht bei Waterloo beendeten und dann den Usurpator auf die Atlantik-In-
sel St. Helena verbannten.
Die Zusatıakte entsprach den Vorstellungen Constants nicht. Er war über-
zeugter Anhänger der konstitutionellen Monarchie. Die Schranken der Macht
sah er in der Gerechtigkeit und den Menschenrechten. Dem Monarchen wies er
eine neutrale und vermittelnde Rolle zu. Er habe durch sein Eingreifen im ge-
gebenen Fall dafür zu sorgen, daß das Gleichgewicht der Gewaltcn nicht gestört
werde, durch Auflösung der Legishıtive. durch Abberufung der Exekutive oder
durch das Begnadiguıigsrecht. Dabei durfte der Herrscher keinem individuellen
Interesse folgen, er sollte in Übereinstimınung mit der öffentlichen Meinung
handeln, an deren unbezwingliche Kraft Constant fest glaubte. Gegen einen
Zensus, gegen die Beschränkung der politischen Teilhabe auf einen recht klei›
nen Kreis, hatte er nichts einzuwenden. Die Gewıltenteilung interpretierte er
eigenwillig, indem er neben die klassischen drei Gewalten eine vierte stellte, die
Gemeindege\v.ılt. Er war .ılso ein .ıusgesprochener Anhänger der Selbstverwal-
tung. Die konstitutionelle Monarchie war in seiner Sicht so zu gestalten, daß der
Monarch nur Hüter der Verfıssuııg und des innenpolitischen Friedens war. Er
sollte herrschen und nicht regieren. Ähnlich dachten viele französische Libera-
le.
te Stimme erhielten und mit ihr zusätzlich zu den an sich vorgeschriebenen De-
putierten noch 172 Abgeordnete wählen durften. Ab September 1822 leitete der
Wortführer der Ultras, Graf Villele, das Ministerium. Er förderte seine politi-
schen Freunde, wo er konnte, uncl erzielte damit 1823 einen großen Wahlsieg.
Daraufhin ließ er 1824 die Verfassung nochmals ändern. Die jährliche Teiler-
neuerung der Kammer wurde beseitigt, die Legislaturperiode auf sieben jahre
ausgedehnt.
Ludwig XVIII. starb Ende September 1824 nach längerer Krankheit; sie hat-
te seinen Widerstandswillen gegen die Ultras geschwächt. Im Gegensatz zu sei-
nem liberalkonservativen Vorgänger war Karl X. ein harter Reaktionär. Er ließ
Villèle den Kurs noch verschärfen, mußte zu seiner Verwunderung dabei aber
feststellen, daß die Pairs diesen Weg nicht unbedingt mitgehen wollten und
manche rückwärtsweisenden Gesetze verhinderten, so eine Beeinträchtigung
der Pressefreiheit. Das Ministerium stieß auf immer lcbhaftcren öffentlichen
Unmut, und die Opposition begann sich zu organisieren. In der Absicht, ihr zu
begegnen, ehe sie noch kräftiger wurde, ließ Villèle 1827 die Kammer auflösen
und zudem 88 Pairs ernennen. Die Neuwahl brachte nicht das gewünschte Er-
gebnis. Liberale und Ultras wurden etwa gleich stark, zudem gab es noch eine
katholisch-konservative Opposition auf der Rechten. Villèle war nicht mehr
haltbar. Sein Nachfolger bildete ein liberalkonservatives Ministerium, trat aber
zurück, als er mit einer wichtigen Vorlage (zur Verbesserung der Selbstverwal-
tung) in der Kammer nicht durchdrang. Man kann diese jahre durchaus als
Annäherung an ein parlamentarisches Regierungssystem betrachten. Villèle
ging, als er seine Mehrheit verlor, sein Nachfolger schied aus, als das Parlament
ihm in einer als hochrangig angesehenen Frage die Gefolgschaft versagte.
Die Jutıafivottrrıow
Karl X. war nun freilich alles andere als ein Anhänger des Parlamentarismus. Er
wollte, wie er einmal sagte, lieber Holz sägen als nach Art des Königs von Eng-
land regieren. So berief er mit dem Fürsten Polignac einen I-Iochkonservativen
an die Spitze des Ministeriums. Dieser Mann mußte über kurz oder lang mit der
Kammer zusammenstoßen. Dazu kam es im März 1830, als eine knappe Mehr-
heit im Geist Constants eine Entschließung verabschiedete, in der es hieß, der
König verstoße gegen den Sinn der Charte, da er nicht als Mittler zwischen Re-
gierung und Kammer wirke. Dieser Schritt wurde Mitte Mai mit der Auflösung
des Hauses beantwortet. Die Neuwahl brachte einen Erdrutschsieg der Oppo-
sition. Die Regierung legte jetzt den Art. 14 der Verfassung, demzufolge der
g Die juli-Revolution 2l_7
König das Recht hatte, die für die Ausführung der Gesetze und die Sicherheit
des Staates nötigen Verordnungen zu erlassen, auf ihre besondere Weise aus. Sie
erließ Ende Juli mehrere Verordnungen. Die Vorzensur für die Presse wurde
wieder eingeführt, die noch gar nicht konstituierte Kammer aufgelöst, da das
Wahlergebnis durch Beeinflussung verfälscht sei, die Gewerbesteuer aus der Be-
rechnung dcs Zensus herausgenommen und das Wahlrecht damit eingeschränkt,
und die Abgeordnetenzahl wurde auf 158 verringert.
Mit Sicherheit waren die erste, die dritte und die vierte Verordnung verfas-
sungswidrig, uncl die zweite verstielš schwer gegen den Geist der Charte. Man
konnte nicht annehmen, daß die Erlasse hingenommen würden. Tatsächlich
mißachteten drei Pariser Zeitungen die neue Vorzensur. Als die Polizei gegen
die Druckereien vorging, kam es zu Unruhen, und die Nachricht, daß nun der
Einsatz von Militär angeordnet sei, verschärfte die Stimmung weiter. Erste Bar-
rikaden wurden gebaut. Am 28. juli kam es zu einer hauptsächlich von Studen-
ten und Arbeitern getragenen, von einer Gruppe von Republikanern ange-
stoßenen Erhebung, in deren Verlauf die Aufständischen das Militär zum
Rückzug aus der Hauptstadt nötigten. Der König begab sich in das weit vor der
Stadt gelegene Schloß Rambouillet.
ln dieser unkalkulierbaren Situation war den Liberalen alles an einer schnel-
len Stabilisierung gelegen. Sie hofften dabei auf den Herzog Ludwig-Philipp
von Orleans aus einer Seitenlinie der Bourbonen, der in seinerjugend jakobiner
gewesen, dann emigriert war und jetzt abseits der Politik in Paris lebte; er galt
als liberal. Im Zentrum der Bemühungen, ihn auf den Thron zu bringen, stand
der Bankier Laffitte, die Vermittlung übernahm der junge journalist Adolphe
Thiers, der später noch eine große Rolle in der französischen Politik spielen
sollte. Am 30. Juli proklamierte die schwach besetzte Kammer den Herzog zum
Generalstatthalter des Kónigreiches, am folgenden Tage betonte er vom Rathaus
aus vor einer großen Menschenınenge seine Verfassungstreuc und erhielt dafür
eine akklamatorische Bestiitigtııig. jetzt wollte Karl X. zugunsten seines zehn-
jährigen Enkels abdanken ¬ er tat das am 2. August und ging nach England -
und Orleans die Regcntschaft übergeben, der aber sah sich durch die Akklama-
tion schon genügend legitimiert. Die Entscheidung, ob Heinrich V. die Krone
tragen würde oder er selbst, uberließ er den Kammern. Diese beschlossen
zunächst Verfassungsänderungen, erklärten, als der Herzog sie gebilligt hatte,
am 7. August den Thron für vakant und boten ihm die Krone an. Er nahm an,
legte einen Eid auf die revidierte Charte ab und wurde zwei Tage später in der
Kammer förmlich inthronisiert.
Dieser nur wenige Tage dauernde und allein in Paris spielende Vorgang war
die Juli-Revolution. Allerdings wollten die republikanischen Intellektuellen, die
die Erhebung inszenierten, und die Träger der Stralšenkämpfe, Arbeiter in zum
Teil elender Lage, ein anderes als das tatsächliche Ergebnis. Die Revolution
wurde durch das entschlossene Handeln der Liberalen abgefangen. So war ihr
218 __ VIII. Erankreich inlWechsel 7c_l_ergStaatsformín seit 181†4V_„ *WW* g
Ertrag nur sehr gering. Die mit dem 14. August 1830 datierte revidierte Charte
war nur in wenigen Punkten geändert. Die Gottesgnaden-Formel wurde gestri-
chen. Der Katholizismus war jetzt nicht mehr Staatsreligion. Das Wahlalter zur
Deputiertenkammer wurde auf 25 resp. 30 Jahre herabgesetzt, die Pairs mußten
fortan öffentlich tagen, und beide Kammern erhielten das Recht der Gesetzesi-
nitiative. Die Vorschrift über die Verordnungen in Art. 14, auf die sich Polignac
gestützt hatte, wurde gestrichen, die Pressezensur ausdrücklich verboten. Die
Zensus-Vorschriften standen nicht mehr in der Verfassung, sondern wurden
durch ein im April 1831 erlassenes Gesetz festgelegt. Danach waren für das ak-
tive Wahlrecht nur noch 200 Francs direkte Steuern nötig, für das passive 500.
Nun gab es rund 200 000 Wähler, eine immer noch verschwindend geringe
Zahl. Das Gewicht der Kammern war zwar vergrößert, aber Frankreich war
nach wie vor ein Gemeinwesen, in dem allein das Großbürgertum und Teile des
Adels bestimmten.
Monarch gut aus. Wie er selbst immer konservativer wurde, so auch seine Mi-
nister.
In den 40er jahren war Immobilismus das Kennzeichen der Innenpolitik,
wozu eine umfangreiche Wahlkorruption einiges beitrug, und das oberste Prin-
zip war es, den politischen und materiellen Besitzstand der Oberschicht kom-
promißlos zu verteidigen. Der stark nach rechts neigende großbürgerliche Li-
beralismus, der in Frankreich an der Macht war, befand sich je länger desto
weniger auf der Höhe der Zeit. Die Regierenden und die meisten Parlamenta-
rier sahen sich selbst als Angelpunkt, um den das innere Gleichgewicht kreiste,
als ›richtige Mitte<, als ›juste-milieu<. Daß das Maß an politischer Unzufrieden-
heit im Lande stark anwuchs, nahmen sie nicht wahr, und die seit 1840 immer
häufiger vorgetragenen Forderungen nach einer Ausweitung des Wahlrechts
überhörten sie. Die besonders 1846/47 schwierige materielle Lage veranschlag-
ten sie in ihrer Bedeutung nicht richtig. Ludwig Philipp, der, je älter er wurde,
kritische Vorstellungen immer weniger annahm, erachtete den Zustand der
Monarchie als gut. Noch zu Neujahr 1848 sprach er sich dem preußischen Bot-
schafter gegenüber dahin aus, daß eine Revolution in Frankreich unmöglich
SCI.
Knapp acht Wochen später erwies sich diese Ansicht als Illusion. Im zweiten
Halbjahr 1847 hatten reformerisch gesinnte Mitglieder der Kammer, also Män-
ner, die das passive Wahlrecht besaßen, mit einigen Dutzend Festessen für eine
Ausweitung des Wahlrechts demonstriert - ihre Ziele waren dabei nicht sehr
weit gesteckt. Das Verbot eines solchen für den 22. Februar 1848 angesetzten
Banketts wurde von den Reformern in der Kammer hingenommen, denn sie
wollten die Dinge nicht zuspitzen, es ließ aber die Stimmung neugieriger
Zaungäste in Verärgerung umschlagen. Daraus entwickelten sich Demonstra-
tionen, bei deren Auflösung durch Nationalgardisten es zwei Tote gab. Nun
erfaßte die Gärung große Teile der Pariser Bevölkerung, Barrikaden wurden
gebaut, und die Demonstranten begannen sich zu bewaffnen. Als am Morgen
des 23. Februar wichtige Punkte der Stadt militärisch besetzt wurden, war un-
verkennbar, daß auf die Loyalität der Soldaten nicht unbedingt zu rechnen
war. Ludwig Philipp legte deshalb Guizot den Rücktritt nahe und verhandelte
mit Thiers über die Nachfolge; dieser machte den Übergang zu einer Politik
der Reformen zur Bedingung für die Annahme. Ehe eine Entscheidung gefal-
22O _ VIII. Frankreich irn Wechsel der Staatsformen seit 1814
len war, kam es am späten Abend vor dem Außenministerium zu einem Über-
griff der Wachttruppe auf Demonstranten, bei dem 52 Tote auf dem Platz blie-
ben.
Dieser unglückliche Vorfall ließ aus den Demonstrationen die offene Revolu-
tion werden. Der 24. Februar war von schweren Kämpfen zwischen Aufständi-
schen und Militär erfüllt. Unter ihrem Eindruck dankte der König zugunsten
seines neunjährigen Enkels ab, verließ die Hauptstadt und reiste wenige Tage
später nach England. Die Berufung einer Regentschaft wurde von in die Kam-
mer eingedrungencn Revolutionären verhindert, stattdessen setzten sie eine
Provisorische Regierung ein, die vom konservativen Demokraten Lamartine bis
zum radikalen Demokraten Ledru-Rollin reichte. In dem seit 1792 wiederholt
vor dem Rathaus durchgeführten Ritual erhielt dieses Ministerium öffentliche
Billigung, danach wurde es durch einige wenige Sozialisten ergänzt. Am näch-
sten Tage proklamierte es vorbehaltlich der Zustimmung des Volkes die Repu-
blik. Auch diese Februar-Revolution war ein ausschließlich Pariser Ereignis.
Zwar hatte es in ihrem Vorfeld einige Warnungen gegeben, aber für die weitaus
meisten Zeitgenossen kam sie doch überraschend. In ihr entlud sich die allge-
meine tiefe Unzufriedenheit spontan. Die schlechte materielle Lage breiter
Kreise spielte dabei eine große Rolle.
Anfang März kündigte die Provisorische Regierung an, daß im April eine
Verfassunggebende Nationalversammlung mittels allgemeiner, gleicher und di-
rekter Wahlen berufen werde. Fünf Sechstel der Franzosen kamen zu den Ur-
nen, das waren 7,8 Mill. Männer. Sie bereiteten der Linken eine schwere Nie-
derlage. Von den 880 Sitzen fielen nur rund 100 den Sozialisten und
Demokraten zu, mehr als 500 aber den Liberalen, die als gemaßigte Republika-
ner auftraten, und etwa 200 den Royalisten. Die Provinz wollte ganz offen-
sichtlich Ruhe und Ordnung. Julikönigtum und plutokratisches Juste-Milieu
hatten die Monarchie diskreditiert. S0 war die Republik im Wahlkampf nicht
strittig; jetzt wurde sie auch förmlich proklamiert. Die Nationalversammlung
berief ein aus fünf Mitgliedern bestehendes Staatspräsidium. Darunter stand das
Ministerium, die Linke gehörte ihm nicht mehr an. Viele Pariser waren der
Überzeugung, daß das Parlament nicht den wahren Volkswillen ausdrücke - die
Stimmung der Provinz kannten sie ja nicht. So herrschte in der Stadt perma-
nente Gärung. Am I5. Mai versuchte die äußerste Linke einen Aufstand. Ende
juni erhoben sich große Teile der Pariser Arbeiterschaft. Der Publizist und Po-
litiker Alexis de Tocqueville, selbst Mitglied der Nationalversammlung, ver-
stand die Bewegung als eine ››Art von Sklavenaufstand«, als brutalen und blin-
den, aber machtvollen Versuch der Arbeiter, sich mit Gewalt den Weg zu dem
Wohlstand zu bahnen, den die sozialistischen Theoretiker ihnen vorgegaukelt
hätten'-V. In dem Aufruhr drückte sich die große Enttäuschung darüber aus,
daß die neue Regierung und die Konstituante die soziale Frage nicht schon
gelöst hatten. Er wurde in der sogenannten junischlacht äußerst blutig nieder-
W Von der Februar-Revolution zur Zweiten Republik* 221
geschlagen. Die Aufständischen hatten etwa 4 O00 Tote und Verwundete zu be-
klagen, die gegen sie antretenden Truppen rund 1 600. Jetzt trat die Exekutiv-
kommission zurück, und das Parlament berief einen nur ihm verantwortlichen
Ministerpräsidenten, nämlich den Sieger dieses Kampfes, den General Cavaig-
nac.
Anfang November verabschiedete die Nationalversammlung die neue Verfas-
sung. Frankreich wurde zu einer demokratischen einen und unteilbaren Repu-
blik erklärt, die auf den Grundprinzipien Freiheit, Gleichheit und Brüderlich-
keit beruhte. Die politische Willensbildung wurde dualistisch konstruiert, die
Gewaltenteilung sehr strikt durchgeführt. Eine aus 750 Mitgliedern bestehende,
von allen Männern ab 21 Jahren direkt und geheim für drei Jahre gewählte Na-
tionalversammlung hatte die Legislative inne; dies Parlament konnte nicht auf-
gelöst werden. Jeder Abgeordnete konnte unbeschränkt wiedergewählt werden,
aber ein Mandat war mit einem öffentlichen Amt unvereinbar, die starke Beam-
tengruppe, auf die Guizot sich gestützt hatte, war damit künftig undenkbar; im-
merhin konnten Minister Abgeordnete sein. Ein von der Nationalversammlung
zu berufender Staatsrat sollte Verordnungen erarbeiten, die Verwaltung kon-
trollieren und unter bestimmten Umständen an der Gesetzgebung gutachtlich
mitarbeiten.
Die Exekutive oblag einem vom Volk direkt und mit absoluter Mehrheit ge-
wählten Präsidenten. Er mußte geborener Franzose und mindestens 30 Jahre alt
sein. Seine Amtszeit betrug vier Jahre, und eine unmittelbar daran anschließen-
de Wiederwahl war unzulässig. In der so erzwungenen Pause durften sich auch
Verwandte des bisherigen Präsidenten oder sein Stellvertreter nicht um das
höchste Staatsamt bewerben. Der Präsident hatte ein Ministerium zu berufen,
und jede seiner Amtshandlungen bedurfte der Gegenzeichnung eines Ministers.
Über die Minister konnte er Gesetzesvorlagen an die Nationalversammlung ge-
ben. Ein Veto gegen Gesetzesbeschlüsse besaß er nicht. Die bewaffnete Macht
unterstand ihm zwar, aber er durfte sie nicht selbst befehligen. Die Vorschriften
über die Rechtspflege entsprachen den bestehenden Verhältnissen; sie war ko-
stenlos. Ein am Beginn der Verfassung stehender Katalog gewährte den Franzo-
sen die herkömmlichen Bürgerrechte.
Eine Aussage über die Lösung von Konflikten zwischen dem Präsidenten
und der Nationalversammlung fehlte. Das war gewiß ein Manko, ebenso die
unsinnig große Abgeordnetenzahl. Zu der in der Literatur häufig anzutreffen-
den negativen Bewertung der dualistischen Konstruktion besteht gleichwohl
kein Anlaß. Faßte man den Präsidenten als Ersatzmonarchen auf, und schrieb
man ihm die Funktionen zu, die nach Constant die Krone haben sollte, so ließ
sich mit der Verfassung sehr gut leben. Maß man das Amt an der Stellung des
amerikanischen Präsidenten, und dies war ja das Vorbild, dann konnte die Zu-
sammenarbeit der beiden Gewalten schwieriger werden, es mußte aber keines-
wegs zu unaufhebbaren Konflikten kommen.
222? VIII. Frarireich im Wechítdiler Staagnfornıcn seit l_8_l4 _
werden konnten. In der Nacht vom 1. auf den 2. Dezember besetzte die Polizei
die wichtigsten Punkte der Hauptstadt, es wurden Vorkehrungen getroffen, daß
niemand die Pariser alarmieren konnte, diejenigen Abgeordneten und Journali-
sten, von denen Widerstand zu erwarten war, wurden verhaftet, darunter auch
Thiers, die Zeitungsredaktionen wurden geschlossen, sodann wurde Militär ins
Gebäude der Nationalversammlung gelegt. Maueranschläge machten die Stadt-
bevölkerung damit bekannt, daß das Parlament aufgelöst, die Verfassung aufge-
hoben, das allgemeine Wahlrecht wiederhergestellt und eine baldige Einberu-
fung der Wählerversammlungen beabsichtigt sei. In einer Proklamation an die
Franzosen behauptete der Präsident in Verdrehung der Tatsachen, daß die Na-
tionalversammlung ihre Aufgaben nicht erfüllt und am Sturz der Republik ge-
arbeitet habe. Er rufe das Volk, den einzigen Souverän, den er in Frankreich an-
erkenne, zum Schlichter zwischen sich und dem Parlament auf. Wolle das Volk
den bisherigen Zustand behalten, möge es einen anderen Präsidenten wählen,
habe es Vertrauen zu ihm, solle es ihn in die Lage versetzen, sein großes Ziel zu
erreichen, nämlich die »Beendigung der Ära der Revolutionen durch Befriedi-
gung der legitimen Bedürfnisse des Volkes« und seine ››Beschützung vor um-
stürzlerischen Leidenschaften<<'-I8.
Zugleich skizzierte er die Grundzuge einer neuen Verfassung: Zehnjährige
Präsidentschaft, Abhängigkeit der Minister allein vom Staatsoberhaupt, Schaf-
fung eines Staatsrates zur Gesetzesvorbereitung, eines gesetzgebenden Körpers
zur Diskussion und Abstimmung über die ihm gemachten Vorlagen und einer
Kammer aus prominenten Persönlichkeiten zur Gewährleistung der Rechte und
Freiheiten der Franzosen. Ausdrücklich verwies er auf die Ähnlichkeit dieser
Institutionen mit denen gemäß der Konsulatsverfassung von 1799 und sagte,
daß Frankreich damals unter solchen Einrichtungen Ruhe und wirtschaftliches
Wohlergehen genossen habe.
Die Hoffnung auf einen geräuschlosen Staatsstreich trog. Da viele Abgeord-
nete Widerstand in Gang zu setzen versuchten, gab es 200 weitere Verhaftun-
gen. Gleichwohl entschlossen sich einige linke Parlamentarier zum Aufstand,
Sie fanden aber nur in einigen Arbeitervierteln Resonanz. Der harte Militärein-
satz dagegen am 4. Dezember kostete wenigstens 215 Zivilisten und 24 Soldaten
das Leben. Es folgten Massenverhaftungen. Die Provinz blieb zum größeren
Teil ruhig, allerdings gab es in Mittel- und Südostfrankreich heftigen, aber un-
koordinierten Widerstand, der bald überwältigt werden konnte. Immerhin wur-
de ein Drittel der Departements in Ausnahmezustand versetzt, in den meisten
von ihnen auch militärisch eingeschritten. Nun wurde das ganze Land von der
Verhaftungswelle erfaßt; betroffen waren schließlich fast 27 O00 Personen. Alle
diese Opfer des Staatsstreichs konnte man gar nicht vor Gericht stellen. Mit der
›Aburteilung< wurden gemischte Kommissionen betraut, denen der jeweilige
Präfekt, ein Staatsanwalt und ein General angehörten und die ganz im Sinne ih-
rer obersten Vorgesetzten handelten. Knapp 9 600 Gefangene wurden nach den
224 VIII. Frankreich im Wechsel der_Staatsformen seit 1814
Sprüchen dieser Gremien nach Algerien deportiert, 240 auf dic Teufelsinsel vor
Guyana.
Trotz des Widerstands: Der Umsturz hatte die Mehrheit der Franzosen hinter
sich. In dem Plebiszit vom 20./21. Dezember, an dem vier Fünftel der Wahlbe-
rechtigten teilnahmen, erklärten 92% der etwas mehr als 8 Mill. Abstimmenden,
das Volk wolle die Beibehaltung der Herrschaft des Prinzpräsidenten, und er-
teilte ihm die nötigen Vollmachten zur Ausarbeitung einer Verfassung gemäß
der Proklamation vom 2. Dezember. In dieser hohen Zustimmungsquote -rund
75% der Wahlberechtigten - steckten kräftiger Meinungsdruck der Majorität
und administrative Nachhilfe, aber unzweifelhaft glaubten die meisten Franzo-
sen der Aussage Louis-Napoléon Bonapartes, daß die von ihm angekündigte
Wiederherstellung der Institutionen des Konsulats innere Ruhe, Stetigkeit der
Entwicklung und wirtschaftlichen Aufschwung mit sich bringen werde. Man
war der Ara der Revolutionen mehr als müde. Frankreichs vermeintlich große
Zeit erstrahlte in mythischem Licht - diese Sicht war sehr wesentlich auch von
den Erzählungen der napolconischerı Veteranen gespeist.
Die neue Verfassung erging am 14. Jarıuar 1852. Sie gab dem Präsidenten eine
zehnjährige Amtsperiode mit der Möglichkeit der unbegrenzten Wiederwahl
sowie das Recht zur Nominierung seines Nachfolgers. Er war, so Art. S, dem
französischen Volk verantwortlich und konnte jederzeit an es appellicren. Die
Minister, die nicht Abgeordnete sein durften, waren ganz von ihm abhängig und
bildeten kein Kollegium, auch den Staatsrat berief er allein. Er besaß die Exe-
kutive in vollem Umfang einschließlich des Rechts über Krieg und Frieden und
zum Abschluß von internationalen Verträgen jeder Art, die Gesetzesinitiative
und das Sanktionsrecht für Gesetze und Senatsbeschlüsse.
Der Gesetzgebende Körper sollte aus allgemeinen Wahlen hervorgehen und
pro 35 000 Stimmberechtigte einen Abgeordneten umfassen. Das waren
zunächst 270 und infolge des Bevölkerungswachstums und des 1860 erfolgten
Erwerbs von Nizza und Savoyen 1869 schließlich 292 Deputierte. Sie hatten
dem Staatsoberhaupt einen Treueid zu leisten. Rechte hatte der Gesetzgebende
Körper kaum. Deshalb konnte er ebensowenig als Parlament bezeichnet wer-
den wie die napolconischcn Institutionen dieser Art ein halbes jahrhundert zu-
vor. Die Gesetzesinitiative war ihm ebenso versagt wie das Interpellations- und
Petitionsrecht, den Ministern war der Zutritt verboten, und sie durften auch
kein Mandat innehaben, er durfte seinen Präsidenten nicht selbst wählen und
seine Sitzungsberichte nicht publizieren. Die ilım vorgelegten Gesetzes- und
Budgetentwürfe konnte er nur insgesamt verwerfen oder ablehnen. Die Man-
datszeit - von Legislaturperiode zu sprechen verbietet die Sachlage - betrug
sechs jahre. ln dieser Zeit konnte der Präsident das Haus beliebig berufen und
vertagcn, und er konnte es auflösen.
Der geheim tagende Senat hatte 150 Mitglieder, die Marschälle, Admirale und
Kardinäle kraft Amtes, die anderen nach Berufung durch den Präsidenten. Die-
Das Zweite Kaiserreich 225
ses Haus hatte über die Verfassung zu wachen, sie gegebenenfalls zu intepretie-
ren oder Änderungen zu beantragen, die Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit
zu prüfen. Unter gewissen Umständen konnte es immerhin Gesetze beantragen.
Da die Senatoren ihr Amt auf Lebenszeit hatten, besaßen sie eine gewisse Un-
abhängigkeit, indessen konnte der Präsident ihnen hohe Dotationen zuwenden
und damit ihre Neigung zu eigenständiger Politik beeinträchtigen. In diesem
Fall sanktionierte die Verfassung amtliche Korruption. Von Gewaltenteilung
konnte man wahrlich nicht reden. Nur das Justizwesen wurde durch den Staats-
streich nicht angetastet. Allerdings wurde ein besonderer Gerichtshof für
Staatsverbrechen eingerichtet, der nur auf Weisung des Präsidenten tätig werden
konnte.
Es war abzusehen, daß der Prinz-Präsident sich bald ein kaiserliches Gewand
umlegen würde. Während einer Reise durch das Land im Herbst 1852 ließ er
dafür sorgen, daß aus der Bevölkerung entsprechende Wünsche laut wurden.
Sein eigenes Begehren traf gewiß auf eine Grundstimmung in breiten Kreisen
der Öffentlichkeit, aber das ändert nichts an der Tatsache, daß deren Artikulati-
on gerade jetzt administrativ inszeniert wurde. Um Befürchtungen des In- und
Auslandes zu zerstreuen, er wolle außenpolitisch in die Fußstapfen seines On-
kels treten, betonte er, das Empire werde eines des Friedens sein. Nach der
Rückkehr in die Hauptstadt teilte er dem Senat Anfang November mit, die Na-
tion habe laut und frei ihren Willen zur Erneuerung des Kaisertums bekundet,
so möge das Haus dafür sorgen, daß entsprechend gehandelt werde. Der Senat
reagierte sofort wie gewünscht. Er faßte den entsprechenden Beschluß, und ein
Plebiszit, das ein noch günstigeres Resultat als das im Januar hatte, bestätigte
diese Entscheidung. Am Abend des I. Dezember wurde Bonaparte von Senat
und Gesetzgebendem Körper feierlich als Kaiser begrüßt. Der nunmehrige
Monarch nannte sich Napoleon III. In der Folge wurden die für die künftige
Stellung der Dynastie und des Hofes nötigen Maßregeln getroffen. Die drin-
gend gewünschte Krönung in Anwesenheit des Papstes kam nicht zustande.
In einer jüngeren Darstellung der französischen Geschichte zwischen 1851
und 1918 ist zu lesen, der von Eugene Rouher formulierte Verfassungstext vom
14. Januar 1852 gehöre »zu den bedeutendsten« in der französischen Geschich-
te, ››da er - diesmal endgültig - die politische Demokratie begründet« habe'3°.
Diesen Satz kann man nur mit dem allergrößten Erstaunen lesen und daraus
den Schluß ziehen, daß sein Verfasser erhebliche Schwierigkeiten mit begriffli-
2_26 VI1l.›gFra†r1k%reircl'i7im Wechsel7der7Staatsformen seit 1814 ñ W Ü
cher Schärfe hat. Beim Zustandekommen des Zweiten Kaiserreichs spielten de-
mokratische Momente überhaupt keine Rolle. Daß ein auf dem allgemeinen
Stimmrecht beruhendes Plebiszit den Staatsstreich vom 2. Dezember 1851 sank-
tionierte, kann den massiven Rechtsbruch durch den Präsidenten nicht aushei-
len und sollte nicht mit Demokratie verwechselt werden. Ebensowenig ist dies
Wort bei dem entsprechenden Akt am 21. November 1852 angemessen. Der
Prinz-Präsident und Kaiser war sich der Problematik seiner Machtergreifung
auch stets bewußt und trug sie, nach einer Äußerung seiner Frau, wie ein Nes-
sus-Hemd.
Seit dem Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte, wie Marx den Vorgang
am 2. Dezember 1851 kurz danach etikettierte, gab es in Frankreich eine Ge-
waltenteilung nicht mehr. Alle wesentlichen politischen Entscheidungen hingen
jetzt vom Staatsoberhaupt ab. Rechtlich betrachtet war das Land autoritär ver-
faßt. Wegen der überragenden Machtstellung des Staatschefs kann man es nicht
einmal dem Typus des bürokratischen Absolutismus zuordnen. Beschönigt man
auch die Verfassungswirklichkeit der ersten Jahre nicht, so wurde Frankreich
diktatorisch regiert. Es war ein Polizeistaat. Die Presse wurde streng kontrol-
liert und in den Dienst der amtlichen Propaganda gestellt, die Opposition über-
wacht, und gegebenenfalls wurde gegen sie vorgegangen. Demzufolge wurde
die politische Polizei stark ausgebaut. Auf die Richter wurde bei Bedarf einge-
wirkt, und selbst die Kirche wurde durch das Regime für seine Zwecke instru-
mentalisiert. Alle Wahlen wurden amtlich gesteuert. Die Präfekten suchten re-
gierungstreue Kandidaten aus und gewährten diesen sogenannten offiziellen
Bewerbern jede Hilfe, während die anderen sehr behindert wurden. Sie durften
keine Wahlveranstaltungen abhalten und hatten auch sonst kaum Möglichkei-
ten, für sich zu werben. So gab es zunächst freie Kandidaturen nur äußerst sel-
ten.
Aber der Diktator war nicht unbeliebt, und seine Politik der Wohlstands-
mehrung durch eine impulsgebende und wachstumsfördernde Einstellung auf die
Wirtschaft, sein Bemühen um sozialen Ausgleich und sein Streben, Frankreich
als Großmacht stärker zu profilieren, stießen in den 50er jahren auf breite Zu-
stimmung. Napoleon III. konnte die Repression also allmählich abschwächen.
Das geschah vorsichtig ab 1854, das auf das Kaiserpaar im Januar 1858 versuch-
te Attentat brachte allerdings nochmals eine Verschärfung, ab 1859 trat dann
aber eine anhaltende Entspannung ein. Namentlich wurde die Kontrolle der
Presse gelockert. Der Kaiser hielt es für sinnvoll, oppositionellen Stimmungen
ein gewisses Ventil zu lassen. So konnte sich in den 60er Jahren eine vielgestal-
tige Zeitungslandschaft entwickeln. Der Polizeistaat wurde sehr zurückgenom-
men. Hinzu kamen einzelne Revisionen der Verfassung. Durch Dekret vom 24.
November 1860 erhielten Gesetzgebender Körper und Senat mehr Spielraum.
Sie durften fortan über die Thronrede diskutieren, die Minister konnten ihre
Gesetzesvorhaben vor den Abgeordneten vertreten, die Sitzungen waren nun-
__ g 7 Der__S±r_itt_7.ur konstigtionellen Monarchig 227
später aufgriffen, beriefen sich auf Marx und verstanden unter dem stets un-
scharf gebliebenen und von Marx auch gar nicht wörtlich benutzten Begriff die
plebiszitär auf die Massen gestützte »verselbständigte Macht der Exekutivge-
walt«1*"°. Napolen III. machte sich über den Begriff lustig und sagte, es gebe gar
keinen Bonapartismus, er selbst sei Sozialist. In der Tat führt der Ausdruck in
die Irre. Er suggeriert, daß der Kaiser ständig in Interaktion mit der Bevölke-
rung gestanden habe. Das war jedoch nicht der Fall. Es gab keine weiteren Ple-
biszite als die vom 14. Januar und 21. November 1852 und vom 8. Mai 1870. Ob
deren Resultate so ganz zuverlässig waren, bezweifelte wenigstens der strenge
Republikaner und Deputierte des Jahres 1848 Jules Grévy, als er 1870 sagte, ei-
ne Volksabstimmung sei noch nie ein ehrliches Mittel der Äußerung der Nation
gewesen. Napoleon III. jedenfalls hielt es mehr als anderthalb Jahrzehnte für zu
gefährlich, sich dem Wähler und angeblichen Souverän zu stellen. Warum sonst
hätte er die massive staatliche Steuerung der Wahlen mit den offiziellen Kandi-
daten betreiben lassen sollen? Der Ausdruck Bonapartismus beschönigt, da er
nicht offen zum Ausdruck bringt, daß Frankreich nach 1851 sehr lange eine
Monarchendiktatur war.
Einen geschlossen bonapartistischen Gesetzgebenden Körper bewirkten die ge-
steuerten Wahlen freilich nicht. 1852 gab es acht oppositionelle Abgeordnete,
1857 nur fünf, 1863 dagegen schon zweiunddreißig. Sechs Jahre später wurde dies
System aufgegeben, es paßte nicht mehr zu dem vom Kaiser betriebenen Verfas-
sungswandel. Auch jetzt noch aber gab es eine Reihe offizieller Kandidaten.
Rund 44% der Stimmen entfielen auf die Opposition, sie erhielt damit 40 Sitze.
Da die liberalen Bonapartisten aber ein starkes Drittel der Mandate bekamen, wa-
ren diejenigen, die den Kaiser bedingungslos stürzten, nur eine Minorität.
Die Möglichkeit zur dauernden Stabilisierung seiner seit 1869/70 dem europäi-
schen Standard entsprechenden Herrschaft und zur dereinstigen Nachfolge sei-
nes 1856 geborenen Sohnes vergab Napoleon III. im Sommer 1870 mit dem
Kriege gegen Deutschland, den freilich weniger er selbst als vielmehr seine Mi-
nister und Kaiserin Eugenie gewollt hatten. Schon nach den ersten französi-
schen Niederlagen in den Grenzschlachten Anfang August forderten die Repu-
blikaner die Volksbewaffnung. Das war für sie der erste Schritt zum Umsturz
aller Verhältnisse. Auf der anderen Seite fürchteten viele eine neue Revolution,
aber ein von dem alten Sozialisten Blanqui angeführter Erhebungsversuch
scheiterte Mitte des Monats kläglich.
Fr.ınkreic|¬ı zwischen Monarchie und Republik 229
Als die Nachricht von der Kapitulation erheblicher Teile der Armee und der
Gefangennahme Napoleons lll. in Sed-an am 2. September am Abend des fol-
genden Tages in Paris bekannt wurde, geriet die Hauptstadt in Gärung. Man
glaubte allgemein, daß die letzte Stunde des Kaiserreichs geschlagen habe. Die
Regierung, seit kurzem unter Vorsitz des Generals Cousin-Montauban, war rat-
los, die Deputierten crörterten am Vormittag des 4. September, was zu tun sei
und ob man, wie der gcmäßigtc Republikaner Favre beantragt hatte, die Dyna-
stie Bonaparte absetzen solle, während eine ständig anwachsende Men-
schenmenge vor dem Palais Bourbon lautstark die Forderung nach der Repu-
blik anmelclete. Schließlich drangen Demonstranten in den Sitzungssaal ein und
beendeten die Debatte. Favre rettete die Situation, indem er vorschlug, die Re-
publik im Rathaus von Paris zu proklamieren, also an einem Ort, an dem sich
schon wiederholt dieses Ritual vollzogen hatte. So geschah es. Wieder einmal
hatte die Hauptstadt über das ganze Land bestimmt.
Es ist nicht üblich, diesen Vorgang voııı 4. September als Revolution zu be-
zeichnen, dafür vollzog er sich zu schnell und zu glatt. Tatsächlich handelte es
sich aber auch diesmal um nichts anderes. Diese neuerliche Revolution nahm
nur deshalb keine größere Dimension an, weil das Ende des Kaisertums der Er-
wartungshaltung der weitaus meisten Pariser entsprach und weil Favre, seit lan-
gem konsequenter Gegncr des Kaisers, ihre Forderung sofort au fgriff. Mit dem
Ritual vor dem Rathaus scholıen er und sein Mitstreiter Gambetta das geltende
Staatsrecht entschlossen und utnfassentl beiseite. Von einer Wahrung der Lega-
lität kann keine Rede sein. lílıcııso verbietet es sich, von Staatsstreich zu reden -
nach allgemein .merkarınteııı Begriflisverständnis ist dieser Ausdruck nur an-
wendbar, wenn der Umsturz der bestehenden Rechtsverhältnisse von Trägern
staatlicher Funktionen betriebeıı wird.
Die neue republikanische Regierung, in der Favre das Außenministerium
übernahm, konzentrierte sich /uniichst ganz auf die Kriegführung und stellte
Wahleıi und die innere Neuordnuııg hintan. Nach Abschluß des Waffenstill-
standes am 28. Januar 1871 w.ır die Bestellung einer Nationalversammlung mit
Blick auf den bevorstehenden Friedcı1svcrtrag dringend nötig. Die Walıl erfolg-
te innerhalb kürzester Frist nach den Modalitäten von 1848 und unter Aus-
schluß der Mandatsträger während des Empire vom passiven Wahlrecht am 8.
Februar; die neue Konstituante trat wenige Tage später in Bordeaux zusammen.
Wie schon 1848, so zeigte sich auch diesıııal, daß die Provinz ganz anders dach-
te als Paris. Sie war überwiegend ıııonarchistisch, aber nicht bonapartistisch. Es
230 ,_ VIII. Frankreich im Wechsel der Staatsformen seit 1814
gab 182 Legitimisten und 214 Orleanisten, zudem rund 240 auf mehrere Grup-
pen aufgeteilte Republikaner, deren eine der inzwischen 73jährige Adolphe
Thiers fiihrte; er war Vernunftrepublikaner. Eine rasche Einigung auf eine neue
politische Ordnung Frankreichs war nicht möglich. Gewilš stand die Mehrheit
für ein Königtum, aber wer sollte die Krone tragen? Eine Verständigung darü-
ber zwischen den beiden Linien des Hauses Bourbon war nicht abzusehen. So
schuf man ein Interim. Am 17. Februar wurde Thiers zum Chef der Exekutiv-
gewalt berufen. Er bildete sein Ministerium aus allen großen in der National-
versammlung vertretenen Gruppen. Regierung und Parlament, ab Ende März in
Versailles, wandten sich der politischen Tagesarbeit zu.
Das Hauptproblem bildete zunächst Paris. Die Republikaner der Hauptstadt
suchten einen eigenen Weg zu gehen. Dagegen schritt die Regierung ein, und
das wiedenıın führte Mitte März zu der im September l87O durch Favres ent-
schlossenes I¬Iandeln noch verhinderten großen Revolution. Dieser Aufstand,
die sogenannte Commune, wurde Ende Mai äußerst blutig niedergeworfen. Die
Regierungstruppen verloren etwa 1000 Mann, knapp 500 Geiseln wurden von
den Aufständischen erschossen, wiihrend das Militär 17 000, nach andern Schat-
zungen bis zu mehr als 30 000 standrechtliche Hinrichtungen vornahm.
Annähernd 50 O00 Menschen wurden verhaftet, die meisten in den folgenden
jahren vor Gericht gestellt, rund 5000 zur Deportation verurteilt, diesmal nach
Neukaledonien.
Die Rekonstruktion Frankreichs nach dem verlorenen Krieg auf legislativem
Wege nahm die Nationalversammlung stark in Anspruch. Die verfassungspoli-
tischen Grundfragen blieben ungelöst. Der Enkel Karls X., der Graf von Cham'
bord, der Heinrich V. zu sein beanspruchte, sollte zwar auch nach dem Willen
der Orleanisten den Thron besteigen, aber er machte die Verwirklichung dessen
unmöglich, weil er auf dem Lilienbanner statt der Trikolore bestand.
Währenddessen arbeitete Thiers zäh an der Stabilisierung der Republik; diese
Staatsforın trennte die Iiranzosen seines Erachtens am wenigsten. Im August
1871 wurde seine Stellung gesetzlich genau definiert: Er und Seine Minister wa-
ren der Nationalversammlung verantwortlich, und seine Anıtsakte bedurliten
der Gegenzeichnung durch einen Minister. Iıı diesem Zusammenhang wurde
ihm der Titel ›Pr;isident der Republik« zuerkannt. Bei den häufig notwendigen
Neuwahlen veränderte sich die Zusammensetzung der Nationalversammlung
fortlaufend. Sowohl die Republikaner wie die Bonapartisten gewannen gegenu-
ber den Monarchisten an Gewicht. Ehe sich die Machtverhiiltııisse völlig wan-
delten, wollten die Orleanisten einen Kurswechsel erzwingen. Das geschah im
Mai 1873 durch die Anfrage des Herzogs Albert de ßroglie über die Notwen-
digkeit, die Regierung auf eine konservative Politik festzulegen. Mit der sehr
knappen Mehrheit von 360 gegen 344 Stimmen setzte Broglie sich durch. Den
Ausschlag dabei gaben die Bonapartisten - Napoleon III. war zu Beginn des
jahres in seinem englischen Exil gestorben, bis zuletzt in der Iloffnung. er kön-
†_› Iirankreich zwischen Monarchie und Republik 231
ne durch einen Putsch oder einen Staatsstreich wieder an die Macht gelangen.
Nach seiner Abstimmungsniederlage trat Thiers zurück. Unverzüglich wählte
die Nationalversammlung General MacMahon, der 1870 bei Sedan komman-
diert hatte, in das höchste Staatsamt. Er hatte nichts gegen die Restauration der
Monarchie, aber die Installation des Grafen von Chambord scheiterte weiterhin
an der Flaggenfrage.
So wurde das Interim verlängert. Durch das Septennatsgesetz vom 20. No-
vember 1873 wurde die Amtszeit des Präsidenten auf sieben jahre festgelegt
und bestimmt, daß er seine Gewalt nach den gegenwärtigen Bedingungen aus-
zuüben habe. Gleichzeitig wurde eine Verfassungskommission berufen, die ihre
Arbeit jedoch nicht sehr schnell erledigte. Zu groß waren die Meinungsunter-
schiede. Erst am 30. januar I875 entschied sich die Konstituante mit nur einer
Stimme Mehrheit für die Republik, in der Folge wurde durch drei Verfassungs-
gesetze vom 24. und 25. Februar sowie vom 16. juli die neue Struktur des Staa-
tes festgelegt. Das erste Grundgesetz betraf den Senat. das zweite die Organisa-
tion der Gewalten, das dritte deren Beziehungen untereinander.
Der Präsident war von den zur Nationalversammlung vereinigten beiden
Kammern Senat und Abgeordneteııhaus nıit absoluter Mehrheit auf sieben jah-
re ıu bestellen; er war wiederwahlbar. Ihnı wurde die gesamte Exekutive an-
vertraut. Bündnisse konnte er ohne Billigung des Parlaments abschließen. an-
dere Verträge nicht. Auch besaß er. wie die Kammern, das Recht der
Gesetzesinitiative. Alle seine Aıntshandlungen waren von einem Minister ge-
genzuzeichnen.
Drei Viertel der (mindestens 40 jahre alten) Senatoren waren von Wählerver-
sammlungen in den Departcinems mit deutlicher Bevorzugung der ländlichen
Regionen auf neun jahre bei Urittclernetıcrtıng alle drei jahre zu wahlen, die an-
deren von der Konstituanten .ıul l.cbenszeit zu bestimınen resp. später vom Se-
nat zu kooptieren. Ganz bexvulšt wurde hier eine tendenziell konservative In-
stitution geschalfen. Das Abgeordnetcnlıaus hatte eine gewiclıtigere Stellung als
der Senat, weil es über das Budget allein entschied und die vom Präsidenten zu
berufenden Minister vorschlageıı konnte; diese waren dem Parlament aus-
drücklich verantwortlich. Die 600 Deputierten wurden nach Mehrheitswahl all-
gemein, gleieh, geheim und direkt von allen Franzosen, die alter als 2| waren,
lnestimmt; Frauen hatten das Wahlrecht nicht.
Die drei Gesetze waren alles andere .ıls ein systematischer und geschlossener
Verfassungstext. Vieles fehlte, mulšte .ılso der Entwicklung in der Praxis über-
lassen bleiben. Anderes war doppelt gesagt. Änderungen waren leicht möglich.
jede Kammer konnte von sich .tus oder auf Aufforderung des Präsidenten - bis
zum Ende der Amtszeit l\iI.ıcl\Ialıoııs nur .ıul dessen Vorschlag - mit absoluter
Stimmenmehrheit erklliren, dalš sic eine Novellierung wünsche. Dann mußten
beide Häuser zur N.1tionalvers.ınımlung zusammentreten und die verlangte Än-
derung erörtern; ein Bcschlulš nıußtc von der absoluten Mehrheit der Mitglieder
232. __ VIH- Efflkßifhifli Weiss' 42 Sëesefßfeefl &f3_1f“f! __
getragen sein. Die Wiedereinführung der Monarchie war so möglich. und dem
Präsidenten war es in die Hand gegeben, den Weg dorthin zu öffnen.
Nach Verabschiedung der drei Gesetze wählte die Konstituante die 75 Senato-
ren auf Lebenszeit, wobei die Republikaner und die extreme Rechte die Konser-
vativen in die Minderheit versetzten, dann löste sie sich auf. Bei den Senatswahlen
in den Departements wurde das Stärkeverhšiltnis im januar 1876 allerdings um-
gekehrt. Bei den Wahlen zur Abgeordnetenkammer wenige Wochen später er-
rangen die Republikaner einen deutlichen Sieg. Ein Konflikt zwischen dem Prä-
sidenten und dem Senat auf der einen, den Deputierten auf der anderen Seite war
absehbar. Zunächst arbeitete MacMahon allerdings mit einem gemäßigt republi-
kanischen Ministerium, bis er im Mai 1877 eine konservative Regierung ernannte
und die Kammer auflöste; von den Neuwahlen erhofften er und seine Berater sich
eine andere Majorität. Gegen diesen mit der Verfassung durchaus zu vereinba-
renden Schritt machten die Republikaner geschlossen Front. Sie sprachen von
Staatsstreich, bildeten eine Wahlkoalition und führten den Wahlkampf mit An-
griffen auf das beabsichtigte persönliche Regiment MacMahons und den Klerika-
lismus und mit der Warnung vor einer Konterrevolution. Diese Parolen brachten
ihnen keinen Zuwachs, sie verloren bei der Wahl im Oktober vielmehr Mandate,
blieben aber deutlich starker als die Konservativen. MaeMahon erwog eine
nochmalige Auflösung der Kammer. Wenn das die Zustimmung des Senats ge-
funden hatte, wäre damit ein schwerer Verfassungskonflikt hervorgerufen wor-
den. So sah der Präsident davon ab. An die Stelle der konservativen setzte er eine
nur aus Beamten bestehende Regierung, die ebenfalls auf Widerspruch der Kam-
mermehrheit traf. Es war, wie schon im Mai, von Staatsstreich die Rede. Den Ge-
danken an ein Konfliktsministerium und an die Verhängung des Belagerungszu-
standes verwarf MacMahon schließlich. Er hatte sowohl das Abgeordnetenhaus
wie den Senat gegen, die Armee nicht unbedingt für sich. jetzt berief er ein Mini-
sterium der Linken. Als die Republikaner ein gutes jahr später im januar 1879 bei
den Drittelwahlen zum Senat eine große Mehrheit gewannen uncl die Regierung
gleichzeitig Umbesetzungen an der Spitze der Armee verlangte, trat er zurück.
Noch am selben Tage wählte die Nationalvers:unmlungjules Grévy zum Prä-
sidenten. Dieser erklarte, er werde sein Amt so zurückhaltend wie möglich
führen und das Recht im Konfliktsfalle auf der Seite der Kammer sehen. Damit
war eine Auflösung künftig ausgeschlossen; diese Verfassungsnorm wurde in
der Tat fortan nicht mehr angewandt. Dureh den Rückzug von der politischen
Führung, die sowohl Thiers wie Maclvlahon selbstverständlich in Anspruch ge~
nommen hatten, ordnete Grévy das innenpolitische Spiel der Kräfte neu - man
sprach geradezu von einer constitution Grevy. Das Amt des Präsidenten hatte
einen neuen Charakter.
Die Krise vom Mai 1877 bis zum januar 1879 war die Übergangszeit zwischen
dem auf die Restauration der Monarchie ausgerichteten lnterim von l87l mit
_ íw W g _?? †_#_______ PieDritte_RepublikWN_ 233
Auch die endgültig etablierte Dritte Republik erlebte immer wieder heftige
Auseinanderstzungen, um kulturpolitische Fragen, um den Staatshaushalt, um
die kostspielige überseeische Politik und um manches andere. Die Monarchisten
gaben ihre Hoffnungen nicht auf, die Republik doch noch stürzen zu können,
das sorgte zunachst noch für viel Unruhe.
In der zweiten Hälfte der 80er jahre erwuchs dem Staat mit den Aktivitäten
des Generals Boulanger, der kurzfristig Kriegsminister war, eine beachtliche
Gefährdung. Nach außen wollte Boulanger eine entschiedene Revanchepolitik,
nach innen trat er für eine gründliche Verfassungsrevision ein, letztlich für ein
Regime des starken Mannes. Die Gefährdung ging vorüber, weil es Boulanger
in der entscheidenden Phase am Mut zum Handeln fehlte. Nach seiner Flucht
ins Ausland 1889 schien die Lage sich zu stabilisieren.
Man konnte meinen, daß die Rechte sich mit den Gegebenheiten ausgesöhnt
habe und nun auf dem Boden der Verfassung stehe. Da sorgte die Affäre Drey-
fus noch einmal für ein Aufreißen aller Spannungslinien. Der aus elsässischer
Familie jüdischer Konfession stammende Hauptmann Dreyfus wurde 1894 we-
gen angeblichen Landesverrats zugunsten Deutschlands zu lebenslänglicher
Deportation nach Cayenne verurteilt. Der Streit um diesen Fall spaltcte Frank-
reich zutiefst, die Rechte machte scharf Front gegen alle Republikaner, und der
Antisemitismus nahm einen starken Aufschwung. Nachdem Dreyfus 1899 be-
gnadigt worden war - 1906 wurde er wegen erwiesener Unschuld auch freige-
sprochen - , ebbte die Erregung ab.
Die Affäre Dreyfus wirkte mit daraufhin, daß die sehr lockeren Parteien sich
verfestigten und neu gruppierten. Der gemäßigte Liberalismus in der rechten
234 m_ VIII. Frankreich im Wechsel der Staatsformen seit 1814 g fg/V _ W*
Als England nach dem Ende der napoleonischen Kriege im Zuge der Nach-
kriegsdcpression von schweren sozialen Unruhen heimgesucht wurde, griff die
Regierung, wie zwanzig jahre zuvor Pitt, zum Mittel der Repression. Das ge-
schah durch eine ganze Reihe von Gesetzen zwischen 1816 und 1819. Die
Habeas-Corpus-Akte wurde eingeschränkt, es wurden immer wieder Ver-
sammlungsverbote ausgesprochen und gegebenenfalls auch Truppen gegen De-
monstranten eingesetzt, es gab bewaffnete Zusammcnstöße, und es waren Tote
zu beklagen. Schließlich legte die Regierung 1819 die sechs Knebelgesetze vor.
Damit sollten Verzögerungen bei Strafverfahren durch die Angeklagten un-
möglich gemacht werden, militärische Übungen, die ohne Wissen der Behörden
vorgenommen wurden, waren verboten, die Friedensrichter erhielten in gefähr-
deten Bezirken für zwei jahre das Recht, durch Haussuchungen bei Verdächti-
gen nach Waffen zu fahnden und Verhaftungen vorzunehmen, und die
Pressefreiheit wurde eingeschränkt. Aufrührerische Broschüren konnten
beschlagnahmt werden, im Wiederholungsfall drohten ihren Verfassern schwe-
re Strafen bis zur Deportation. Druckschriftcn unter zwei Bogen und Zeitun-
gen wurden einer Stempelsteuer unterworfen, die Herausgeber mußten eine
Kaution stellen. Versammlungen von mehr als 50 Personen waren nur dann
noch zulässig, wenn sie amtlich einberufen wurden. jede Versammlung mußte
vorher angemeldet werden. Die Whig-Opposition hatte mit ihrem Protest ge-
gen die auf fünf jahre befristeten Knebelgesetze keinen Erfolg.
Die tiefe Unzufriedenheit breiter Bevölkerungskreise dauerte natürlich an.
der Pauperismus nahm zu und wurde durch eine Depression Anfang der 30er
jahre noch gesteigert. Dadurch bekam der auf die völlige Umgestaltung der bri-
tischen Verfassung zielende Radikalimus erheblichen Zulauf. Ebenso entwickel-
te sich seit Mitte der 20er jahre die Arbeiterbewegung kräftig, es gab eine ein-
flulšreiche evangelikale Volksbewegung, die unter anderem auf die Abschaffung
der Sklaverei im gesamten britischen Herrschaftsgebiet hinwirkte und ihr Ziel
1833 auch erreichte, und die Katholiken Irlands forderten unter Daniel O'Con-
nell Gleichberechtigung; 1829 setzten sie die Emanzipation durch.
Großbritannien war also in lebhafter Bewegung. Die julirevolution in Frank-
reich machte großen Eindruck und stärkte das Reformverlangen. Es artikulier-
2_3f› I)§._Die Britische Verfassungssentwicklungim 19. Jahrhundert
Trotz dieses Wahlausgangs konnte sich der Herzog von Wellington, der seit
1828 die Regierung führte und der als Sieger von Waterloo ein erhebliches Pre-
stige genoß, nicht dazu entschließen, auf das Reformverlangen einzugehen. So
wurde er im November entlassen. An seine Stelle trat der Whig Lord Grey. Da-
mit war die fast fünfzigjährige Tory-Dominanz beendet. Grey ließ durch Lord
john Russell eine Vorlage ausarbeiten, die nicht allzu tief in das britische Mache
gefüge eingriff. Sie sollte Druck abbauen und ein Bündnis der Mittelklasse mit
den Unterschichten verhindern, aber nichts prinzipiell ändern. Sie fiel gleich-
wohl im Marz 1831 durch. Nuıı ließ Grey das Unterhaus auflösen. Die Neu-
wahl erbrachte einen überzeugenden Sieg der Whigs. So fand die wiederum ein-
gebrachte Vorlage nun im Unterhaus eine klare Mehrheit von 367 gegen 231
Stimmen, sie wurde im Oktober aber im Oberhaus abgelehnt. Das fiihrte zu
zahlreichen Petitionen und Massenversammlungen überall inı Lande. Grey
brachte die Bill neuerlich ein und erhielt jetzt eine noch größere Mehrheit für
sie, da sich auch genıälšigte Konservative unter Sir Robert Peel für sie ausspra-
chen. Nun wagte das Oberhaus eine offene Zurückweisung nicht mehr und ver~
tagte das Problem im Mai l832. Diesen passiveıı Widerstand wollte Grey durch
einen Pairsschub überwinden. Als er dafür nicht die Billigung des Königs fand,
trat er zurück. Sein Nachfolger sollte wieder Wellington werden. lir erhielt den
ausdrücklichen Auftrag. die Vorlage etwas abgeschwächt durchzubringen. Das
Die erste Wahlrechtsreform 1832 237
wurde freilich nicht öffentlich bekannt gemacht, und so nahm die Erregung im
Lande weiter zu. Die Birmingham Political Union ließ Whig-Abgeordnete dis-
kret wissen, daß sie bei einer weiteren Verzögerung der Reform an eine bewaff-
nete Erhebung denke, und die Radikalen riefen zur Steuerverweigerung auf. Es
herrschte eine vorrevolutionäre Stimmung. Unter diesen Umständen brachte
Wellington eine Regierung nicht zustande, Grey trat erneut ins Amt. Wenig
später entschloß sich das Oberhaus, seinen Widerstand aufzugeben. Anfang ju-
ni nahm es die Bill unverändert an. Auch cler König stimmte zu.
Nach der neuen gesetzlichen Regelung wurde weiterhin zwischen städtischen
und ländlichen Wahlkreisen, den Boroughs uncl Counties, unterschieden, doch
wurde hier wie dort das Wahlrecht erweitert. In den Boroughs, für die es bis da-
hin eine einheitliche Regelung nicht gegeben hatte, erhielten alle Eigentümer
und Mieter von Häusern mit einem Mietwert von IO Pfd. das Wahlrecht. Wer es
bis dahin besessen hatte und nach der neuen Regelung verloren hätte, behielt es
persönlich. Die Ausübung des Wahlrechts war an die Anwesenheit am Ort ge-
bunden. Außerdem mußten die Wähler sich registrieren lassen. In den Counties
wurde die Regelung von 1429 beibehalten, daß alle Freibauern mit einem Rein-
ertrag von wenigstens 40 sh wählen durften. Dazu kamen jetzt einige Gruppen
von Pächtern. Die Gesamtzahl der Wähler stieg damit im Vereinigten König-
reich von etwa 500 O00 auf gut 800 000 an, das waren 4,2% der Bevölkerung.
Dieser Wert lag ungefähr achtmal so boch wie in Frankreich. In den Städten war
der Hundertsatz der Wähler deutlich höher als auf dem Lande. Wichtiger als die
Wahlrechtserweiterung war die Veränderung der Wahlkreisgrenzen. Insgesamt
wurden 143 Sitze eingezogen und dann neuverteilt. Das kam nur teilweise dem
städtischen und industriellen Norden Englands zugute, hauptsächlich vermehr-
te man die County-Wahlkreise, um damit den Anstieg der städtischen Wähler
auszugleichen. Gab es bis dahin 415 Boroughs urıd 94 Counties, so waren es
jetzt 337 und 159. Das passive Wahlrecht blieb in dem zuletzt 1710 abgestcckten
Rahmen. Wer einen Parlamentssitz erlangen wollte. mußte mithin ein ansehnli-
ches Vermögen besitzen.
Die Wahlrechtsreform von 1832 war also sehr vorsichtig, aber der Schritt
genügte, um die Unruhe im Land abzufangen. Viele alte Mißstände blieben be-
stehen, wenn auch abgeschwächt. Nach wie vor gab es unbestrittene Sitze und
Wahlkreise, über die die Krone oder Aristokratenfamilien verfügen konnten.
An der sozialen Zusammensetzung des Unterhauses änderte sich wenig. Der
Adel hatte hier weiterhin eine starke Bastion, wenn auch das Bürgertum nun et-
was besser vertreten war als zuvor. Die agrarischen Interessen dominierten nach
wie vor, Industrie und Handel waren imıner noch unterrepräsentiert.
Wenn auch die sogenannte Große Reform so sehr groß nicht war, so war sie
doch eine wichtige Weichenstellung. Von der Registrierungspflicht gingen er-
hebliche lmpulse aus. Diesen Akt konnten die Wähler nicht in staatlichen oder
kommunalen Ämtern vornehmen, vielmehr mußten die großen politischen
2l8_ V IX. Die Brßische Verfassı.ı_ı'tgssentwicklung im 19. jahrhundert
nach der Feststellung der Sitzverteilung seinen Platz freimachte, vielmehr ging
Melbourne erst, als er einsehen mußte, daß ihm die Bildung einer Mehrheit
tatsächlich nicht mehr möglich war. Die Hoffnung darauf konnte er hegen, weil
es im Unterhaus neben den alten und großen Gruppen der Whigs und Tories
immer auch einige Radikale und eine ansehnliche Zahl von Katholiken aus Ir-
land gab. So bestanden keine eindeutigen Mehrheiten. Das war noch ausgepräg-
ter der Fall, als sich die Anhängerschaft Peels 1846 wegen der Irland-Politik von
den Tories abspaltete und eine Mittelfraktion bildete, die Peeliten.
Fortan gab es fünf Gruppen im Unterhaus, und die Premierminister konnten
versuchen, mit wechselnden Mehrheiten zu regieren. Nicht der jeweilige Wahl-
ausgang entschied über ihre Stellung, sondern das parlamentarische Kräftespiel.
In die Politik kam dadurch eine gewisse Neigung zur Instabilität, wie an den ver-
gleichsweise häufigen Regierungswechseln abzulesen ist. Von 1841 bis 1868 am-
tierten neun Kabinette, im Durchschnitt also alle drei ]ahre ein neues. Eine Än-
derung ergab sich erst nach der zweiten Wahlreform imjahre 1867. Als Benjamin
Disraeli im Dezember 1868 nach verlorener Wahl zurücktrat, schuf er einen Prä-
zedenzfall, an dem sich alle seine Nachfolger orientierten. Erst mit diesem Schritt
war das parlamentarische Regierungssystem in England ganz ausgebildet.
Die Phase von 1841 bis 1868 wird als Zeit der Parlamentssouveränität be-
zeichnet. Die Königin war keineswegs ein Faktor ganz am Rande. Wenn sie es
wollte, konnte sie ihren Einfluß durchaus geltend machen, allerdings nur bei
sehr wichtigen Fragen. Viktoria hatte wiederholt die Neigung dazu - ihre un-
politische Jugend lag bald hinter ihr. Dabei spielte Prinzgemahl Albert aus dem
Hause Sachsen-Coburg-Gotha, den Viktoria 1840 geheiratet hatte, eine große
Rolle. Spätestens im Jahre 1845 war er der faktische Monarch des Vereinigten
Königreiches. Viktoria überlicß ihm einen immer größeren Anteil an den Ge-
schäften. Ohne ihn habe sie nichts getan und keinen Finger gerührt, schrieb sie
kurz nach dem Tode Alberts im Jahre 1861 an ihre mit dem preußischen Kron-
prinzen verheiratete Tochter. Es war wesentlich Alberts Verdienst, daß das in
den 30er Jahren weit gesunkene Ansehen der Krone wieder sehr zunahm. Der
Prinzgemahl wurde so zum Begründer der modernen monarchischen Tradition
in Großbritannien.
Nach dcr Wahlrechtsreform standen die 30er und frühen 40er jahre innenpoli-
tisch im Zeichen zweier großer Bewegungen, die sich jeweils einem einzigen
Thema widmetcn und Regierung und Parlament mit ihren Aktivitäten schwer
zu schaffen machten. Das waren der öffentliche Kampf um die Staatsreform, ge-
tragen vor allem von den Chartisten, und das Verlangen nach Aufhebung der
Schutzzölle auf Getreide, betrieben von der Anti Corn Law League. Dazu kam
in Irland die Agitation O'Connells.
Der Chartismus war im Kern eine Arbeiterbewegung, er konzentrierte sich
aber auf ein radikaldemokratisches Programm vornehmlich verfassungspoliti-
IX.gD7i_e Britische†Verfassungssentw§klung Jahrhundert? 7 7 ííííW
schen Gehalts. Er wollte mit allen politischen Traditionen des Landes brechen.
An die Stelle der ungeschriebenen sollte eine geschriebene Verfassung treten, die
durch völlige rechtliche und staatsbürgerliche Gleichheit gekennzeichnet sein
sollte. Verlangt wurden das geheime und gleiche Wahlrecht für alle Engländer
ab 21 Jahren, die Abschaffung des Zensus bei der passiven Wahlberechtigung,
eine gleiche Zuschneidung aller Wahlkreise, damit jeder Stimme gleiches Ge-
wicht zukam, und die alljährliche Unterhauswahl. Die Abgeordneten sollten
Diäten erhalten. Des weiteren forderte man eine gerechte Besteuerung der Ein-
kommen und die Erarbeitung von Fabrikgesetzen - damit mündete der Katalog
in die Sozialpolitik ein. In der Hauptsache zielten die Chartisten darauf, mit
Hilfe des Wahlrechts die politische Macht zu erringen, um dann Gesetzgebung
in ihrem Sinne betreiben und die sozialen Verhältnisse in Großbritannien nach-
haltig verändern zu können. Daß sie mit Hilfe eines demokratischen Wahlrechts
eine große Majorität erlangen würden, war ihnen unzweifelhaft. Die eben skiz~
zierten Forderungen waren in einem im Mai 1838 formulierten Gesetzentwurf
enthalten, der im bewußten Gegensatz zur Magna Carta als Volkscharta be-
zeichnet wurde - daher rührte der Name der Bewegung. Die organisatorische
Basis war die 1837 in London gegründete Working Men's Association. Maß-
geblichen Einfluß auf den Chartismus hatte Feargus Edward O`Connor, ein
Rechtsanwalt aus Irland, der von 1832 bis 1835 im Unterhaus gesessen hatte,
dann aber wegen der Radikalität seiner Agitation nicht mehr wiedergewählt
worden war. Nachdem er sich den Chartisten angeschlossen hatte, drängte er
bald den eigentlichen Gründer der Bewegung, William Lovett, einen relativ
gemäßigten Mann, in den Hintergrund. Das entschiedene Eintreten der Charti-
sten für den Zehn-Stunden-Tag und für die Wiedereinführung der 1834 aufge-
hobenen elisabethanischen Armengesetze verschafften der Bewegung einen
großen Anhang. Die Versammlungen unter freiem Himmel hatten immer Zehn-
tausende von Teilnehmern und oft noch mehr.
Als im Februar 1839 eine Vertreterversammlung der Chartisten in London
mit den Anspruch zusammentrat, als Arbeiterparlament neben dem Unterhaus
zu stehen, kam es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern
O'Connors, die für die Anwendung physischer Gewalt und für den offenen
Aufstand eintraten, und den Gemäßigten um Lovett, die sich wie bisher auf
moralische Einflußnahme beschränken wollten. Dabei erwiesen sich erstere als
die stärkere Richtung. In der Folge nahmen die überall im Lande abgehaltenen
Versammlungen einen immer bedrohlichcren Charakter an. Vielerorts wurde
offen die Rebellion propagiert. Aber das Unterhaus blieb gegenüber diesem
Druck fest. Im Juli 1839 lehnte es die Behandlung der ihm überreichten und mit
fast 1,3 Mill. Unterschriften gestützten Petition ab. Das führte wenige Tage spä-
ter in Birmingham, dem Zentrum der Bewegung, zu schweren Krawallen, ge-
gen die Militär eingesetzt wurde. In der nächsten Zeit wurden mehr als 400 be-
kannte Chartisten verhaftet, vor Gericht gestellt und zu Haftstrafen von bis zu
f 7* rw Zeit §lerParlamentss0uveränEät1841-1868 W 241
zwei Jahren verurteilt, nicht aber O'Connor, der sich in dieser heißen Phase des
Kampfes sehr zurückgehalten hatte. Der kurz danach von 8 000 Chartisten un-
ternommene Versuch, die Gefangenen aus der Haftanstalt Newport zu befreien,
schlug fehl und hatte weitere Verhaftungen zur Folge. Nun geriet die Bewegung
in eine schwere Krise, umso mehr, als ihr seit Mai 1840 O'Connor fehlte; er ver-
büßte wegen aufreizender Artikel in seiner Zeitung Northern Star eine andert-
halbjährige Haft. jetzt trat Lovett wieder ganz in den Vordergrund. In der
Führung der im Juli 1840 geschaffenen nationalen Chartistenorganisation des
Vereinigten Königreichs dominierte er. Dieser Verband bekannte sich aus-
drücklich dazu, nur friedliche und gesetzmäßige Mittel anzuwenden, um die
Volkscharta zum Landesgesetz zu machen. Eine neue Petition lief um, die an-
geblich sogar 3 Mill. Unterschriften erzielte, aber wiederum nicht angenommen
wurde. Das brachte die Radikalen wieder mehr nach vorn. Inzwischen hatten
sie sich davon überzeugt, daß ein Aufstand nichts bringen würde. Stattdessen
setzten sie auf Arbeitskämpfe. Es gab mehrere Streikwellen. Besonders drän-
gend war die Bewegung im Sommer 1842, als man fast zu einem Generalstreik
kam, und nochmals vom November 1842 bis zum Herbst 1843. Manche zeit-
genössischen Beobachter sahen Großbritannien am Rande einer Revolution ste-
hen, und einige meinten, sie habe sogar schon begonnen. Tatsächlich aber war
der Höhepunkt der Bewegung bereits 1839 überschritten.
Daß der Chartismus keinen Erfolg hatte, läßt sich zunächst aus seiner hete-
rogenen Zusammensetzung verstehen. In ihm trafen sich Kleinbürger, zumal
Handwerker, mit Industriearbeitern und mit Heimarbeitern, und zwischen die-
sen Gruppen war eine Einigung über den richtigen Weg schwierig. Auch hatte
es einige Bedeutung, daß sich die qualifizierten Gruppen der Industriearbeiter-
schaft von der Bewegung fernhieltcn und auf die Gewerkschaften setzten. Die
bürgerlichen Intellektuellen, dic sich dem Chartismus zuwandten, waren nicht
zahlreich genug, uın eine straffe Führung ausüben zu können. Entscheidender
als all das war aber, daß die Staatsgewalt nie einen Zweifel an ihrer Entschlos-
senheit ließ, alle illegalen Aktivitäten zu bekämpfen. Das wurde mit dem Mi-
litäreinsatz und den Massenverhaftungen 1839 unmißverständlich klargemacht.
Desillusionierend wirkte auch die beharrliche Abneigung des Unterhauses, sich
mit den Vorstellungen der Chartisten zu befassen. Wähler kostete das nicht -
der durchschnittliche Chartist hatte kein Wahlrecht.
Die Anti Corn Law League wurde im Herbst 1831 von Richard Cobden ge-
gründet, einem der großen Wortführer des Freihandelsgedankens; er verband
damit die optimistische These, daß die konsequente Durchführung einer sol-
chen Politik auch die beste Garantie des Friedens sei. Nach einigen Jahren er-
reichte er, daß die Handelskammer Manchester seine Konzeption übernahm.
Jetzt fand er eine zunehmende Resonanz. In den Jahren 1843 bis 1845 entfalte-
te die Vereinigung ihre intensivste Tätigkeit. Sie hielt zahlreiche Massenver-
sammlungen ab und verteilte Hunderttausende von Flugblättern. Das blieb im
242 IX.¬Die Britische Verfassungssentwicklung im 19. Jahrhundert W ff f rf
Unterhaus, dem Cobden seit 1841 selbst angehörte, nicht ohne Wirkung. Im-
mer mehr Abgeordnete schlossen sich dem regelmäßig erneuerten Antrag an,
die Getreidezölle aufzuheben. Anfang 1846 brachte Premier Peel den Gesetz-
entwurf ein, die Einfuhr aller Lebensmittel freizugeben, wobei für viele Waren-
gruppen allerdings Zölle bestehen bleiben sollten. Völlig frei wurden nur Vieh
und Fleisch, die Getreidezölle sollten ab Anfang 1849 bis auf einen Erinne-
rungsposten aufgehoben werden. Das Gesetz passierte beide Häuser und trat
schon im Juni in Kraft, für Peel allerdings bedeutete es das Ende seiner Mini-
sterpräsidentenschaft. Die Schutzzöllner unter den Konservativen, engagierte
Verfechter agrarischer Interessen, die seit einiger Zeit in einem eigenen Verband
organisiert waren, empörten sich gegen ihn und zwangen ihn unmittelbar nach
der Abstimmung im Oberhaus zum Rücktritt. Zugleich spaltete sich die Kon-
servative Partei; nur ein Drittel der Abgeordneten hielt Peel die Treue.
Daniel O'Connell, wie O'Connor irischer Anwalt, trat in scharfer Wendung
gegen die englisch-irische Union von 1801 in die Politik ein. Die völlige Besei-
tigung der Sonderstellung Irlands durch das eben genannte Gesetz war die bri-
tische Antwort darauf, daß es in Irland seit 1786 eine gewalttätige Bewegung ge-
gen den Zehnten zugunsten der protestantischen Pfarrer gab, eine Strömung,
die nach Ausbruch der Französischen Revolution stark anschwoll und ihre Zie-
le erheblich ausdehnte. 1791 bildete sich der Bund der United Irishmen, der Ir-
land zu einer Republik machen wollte und 1797 einen Aufstand wagte, Wiewohl
im Jahre zuvor eine Landung französischer Truppen auf der Insel fehlgeschla-
gen war.
Auf breiter Front aktiv wurde O'Connell 1823. In diesem Jahre gründete er
die Great Catholic Association mit dem Ziel der Gleichstellung von Katholiken
und Protestanten und führte sie nach dem baldigen Verbot unter anderem Na-
men fort. Seine Agitation hatte wesentlichen Anteil daran, daß 1829 die Katho-
likenemanzipation kam. Fortan gehörte er dem Unterhaus an und kämpfte für
den Widerruf der Union, für den Repeal. In den 30er Jahren konnte er einige le-
gislative Erfolge für Irland erringen, als aber 1840 ein von ihm eingebrachter
Gesetzesentwurf zur Sicherung der Wahlfreiheit in Irland nicht einmal in die er-
ste Lesung kam, nahm er die Massenagitation erneut auf. Er gründete die Loy-
al National Repeal Association und gab ihr auf, mit friedlichen Mitteln für ihre
Ziele zu kämpfen. Die Bewegung nahm schnell wieder - wie schon anderthalb
Jahrzehnte zuvor - Massencharakter an. Da einige Repealer sich nicht an die
von O'Connell ausgegebene Parole des legalen Vorgehens hielten, sondern zur
Tat aufriefen, schickte die Regienıng 35 000 Soldaten auf die Insel und ließ ein
Geschwader vor der Küste kreuzen, um heimliche Waffeneinfuhren zu verhin-
dern. O'Connell und andere Führer der Bewegung wurden wegen Aufruhrs vor
Gericht gestellt. Die Anklage gegen O'Connell war nicht zu rechtfertigen, da er
sich immer gegen Gewaltanwendung ausgesprochen hatte, das Verfahren selbst
war ebenso zweifelhaft. Erst durch erheblichen Druck ließ sich die Jury zu ei-
l)ie Ã/.eit der Parlarrintssouveränität 1841-1868
nem Schuldspruch bestimmen. Das Urteil lautete auf ein Jahr Haft und eine ho-
he Geldbuße, wurde vom Oberhaus aber wegen formaler Mängel aufgehoben.
In der Folge milderte O'Connell seine Agitation und forderte nicht mehr die
völlige Trennung von Großbritannien und Irland, sondern nur noch eine Föde-
ration. Damit verlor er einen großen Teil seiner Anhänger. Nach seinem Tode
1847 verebbte die fülirerlos gewordene Bewegung.
Der Chartismus, die Anti Corn Law League und die Repealer gewannen des-
halb eine so große Dynamik, weil die Struktur des Parlaments und die Ausrich-
tung der Parteien den Bedürfnissen der Nation noch keineswegs entsprachen.
Das auf allzu schmaler Basis stehende Unterhaus war nicht in der Lage, drän-
gende Probleme angemessen zu losen. Die drei Bewegungen zeigten, daß das
Vereinigte Königreich nach wie vor ein großes Reformdefizit hatte.
Friedrich Engels, der die Verhältnisse der englischen Fabrikbevölkcrung
während eines längeren Aufenthalts in Manchester beobachtet hatte und darü-
ber 1845 in seinem Buch ›Die Lage der arbeitenden Klassen in England« berich-
tete, sagte voraus, daß es auf der lnsel zu einer Revolution kommen werde, »mit
der sich keine vorhergehende messen kann«'*3. Die Wirklichkeit sah 1848 an-
ders aus. Es kam zwar auf die Nachricht von der Februarrevolution hin zu ei-
nigen Unruhen, abcr damit wurde die Polizei schnell fertig. Die Chartisten wa-
ren nieht gewillt, die Situation entschlossen ausıunutzen. Sie entsandten eine
Delegation nach Paris und diskutierten im Fiihrungskreis sehr lange, was in
Großbritannien und namentlich in London geschehen sollte. Nur eine Minder-
heit sprach sich dafur aus, eine Revolution in Gang zu setzen und in ihr die Re-
publik '/.u crklimpfen, die Mehrheit wollte es bei gesetzlichen Mitteln belasen,
also bei Demonstrationen und Petitionen. Am IO. April sollten Demonstranten
in Sternmärschen durch ganz London zum Unterhaus ziehen und dort eine Pe-
tition übergebeıı, die angeblich 5,7 Mill. Unterschriften erhalten hatte. Ob ein
solches Unternehmen friedlich bleiben würde, ließ sich nicht sagen. Angesichts
der jüngsten l“Äı'eigıiisse in Paris, \Vien und Berlin wollte die Regierung kein Ri-
siko eingehen und verbot kui'7.erl1ancl den Ztıgitng Zur inneren Stadt. Sie ver-
stärkte die Polizei durch eine große Zahl von Hilfspolizisteii und stellte zudem
Militär bereit. An ihrem Wideı'st.ındswillen konnte kein 7.weifel bestehen. So
verzichtete die Chartistenführung auf eine Konfrontation und begnügte sich da-
mit, ihre Petition dem Uııterhaus durch eine kleine Deputation überbringen zu
lassen. I)ort wurde sie erst im Juli 1849 besprochen und abgelehnt. Die Basis
der Bewegung nahm diese Ifintwicklung hin.
In Irland war die Situation gefiihrlicher. Iıı vielen Grafschaften galt schon seit
1847 der Ausnahine7.ust.ınd. Iın Anschluß an die Februarrevolution formierte
sich die Nationalbexvegung neu tınd arbeitete tatkräftig auf die Trennung der
Insel von Englaıid hin. Es wurde ein Nationalkonvent nach Dublin berufen und
ein ausgedelnıtes Vereinsnetz aufgebaut. Daraufhin ließ sich die Regierung ein
244 IX. Die Britische Veıcfassungssetitwielglung im 19. _IahrhurLdE't V
Ausnahmegesetz bewilligen und griff mit aller Entschiedenheit ein. Klubs und
Konvent wurden verboten, die bewaffneten Freiseharen wurden zersprengt, die
Anführer des Separatismus verhaftet, vor Gericht gestellt und verurteilt, einige
zum Tode, dann aber zur Deportation begnadigt.
Auch in der Folgezeit blieb die Frage der Staatsreform ein wichtiges Thema der
öffentlichen Diskussion, und im Unterhaus wurden alljährlich von einem radi-
kalen Abgeordneten entsprechende Vorlagen gemacht. Es lag ja offen zu Tage,
daß die Verbesserungen, die die Wahlreform von 1832 gebracht hatte und die
schon damals bei weitem nicht ausreichend gewesen waren, inzwischen durch
den fortdauernclen Prozeß der Industrialisierung und Urbanisierung längst
überholt worden waren; die großen lndustriezentren hatten eine viel zu geringe
parlamentarische Repräsentation. Anfang 1852 unternahm der damalige Whig-
Premier Russell, der sich seit 1826 große Verdienste um das Zustandekommen
der ersten Reform erworben hatte, einen Vorstoß, die Verhältnisse etwas zu-
gunsten der Städte zu verbessern und den Liberalen neue Wählerschichten
durch eine Senkung der um das Wahlrecht aufgestellten Hürden zu erschließen.
Damit die Sache nicht zu demokratisch wurde, sollte zugleich aber in den Stad-
ten die indirekte Walıl eingeführt werden. Die Vorlage wurde abgelehnt. Werti-
ge jahre später wiederholte Russell seinen Versuch, neuerlich ohne Erfolg.
Ebensowenig kamen die ISS9 von konservativer und 1862 von liberaler Seite
eingebrachten Anträge durch.
In beiden großen Parteien, die seit den 60er jahren zunehmend mit den eben
benutzten Ausdrücken bezeichnet wurden, war das Interesse an durchgreifen-
den Änderungen sehr gering. Verståindlicherweise hatten die country gentlemen
und die Aristokratie. die iınmer noch über einen beachtlichen Teil der Sitze ver-
fügten, keinc Neigung, ihre Position beschneiden zu lassen. Unter den Spitzen-
politikern war der Whig Henry John Temple Viscount Palmerston, von Ende
1852 bis 1855 Innenminister, dann bis Anfang l858 und wieder von 1859 bis zu
seinem Tode im Oktober 1865 Premier, alles andere als ein Reforrnfreund. Er
tat alles, um Veränderungen zu verhindern.
ln den ersten Monaten des jahres 1864 entstanden gleich zwei Organisatio-
nen, die sich die Wahlrechtsfrage zum zentralen Thema machten. Das waren die
von zahlreichen Unternehmern geförderte National Reform Union und die von
bürgerlichen Radikalen wie etwa john Stuart Mill geführte und im wesentlichen
von Gewerkschaftlern getragene National Reform League, die für das allgemei-
ne Mšinnerwahlrecht focht. Beide Gruppierungen fanden weite Resonanz und
entfalteten eine rührige Agitation. Der angesehenste Vorkampfer der Wahl-
rechtserweiterung war der liberale Unternehmer und Politiker john Bright, der
voın Anfang seiner politischen Tätigkeit an für Reformen auf verschiedenen
Gebieten eingetreten war. Allgemein wurde es als ein gutes Zeichen für die Zu-
kunft angesehen, daß William Gladstone, der nach Tory-Anfangen über die
Die zweite Wahlrechtsreform 1868 245
Peeliten ins liberale Lager gelangt war und schon manches wichtige Staatsamt
innegehabt hatte, sich im Mai 1864 im Unterhaus für das allgemeine Männer-
wahlrecht aussprach, allerdings mit einigen Kautelen. Mit einer entsprechenden
Gesetzesvorlage blieb das Kabinett Russell aber im _Iuni 1866 in der Minderheit,
nicht zuletzt, weil viele Abgeordnete aus dem eigenen Lager sich nicht zur Zu-
stimmung entschließen konnten.
Dieser Vorgang löste eine neue Massenbewegung aus. Einige der von der Re-
formliga veranstalteten Kundgebungen hatten rund 200 O00 Teilnehmer. In ei-
ner in Manchester am 24. September gefaßten Entschließung hieß es beispiels-
weise, die Versammlung protestiere gegen die Fortdauer der Klassenherrschaft
und die Ausschließung der großen Mehrheit des Volkes vom Wahlrecht und ge-
lobe, alle Mittel der Organisation und Agitation zu ergreifen, bis eine gerechte
Vertretung erreicht sei.
Unter dem Eindruck dieser Bewegung nahmen das konservative Minderhei-
tenkabinett Derby und der Parteiführer Disraeli das Thema schließlich auf. Daß
um eine Wafılreclıtsreform nicht mehr herumzukommen sei, ließ sich nicht be-
zweifeln. Sie hofften nun, den Liberalen die neuen Wählerschichten abspenstig
machen zu können, wenn sie eine umfassende Ausweitung des Wahlrechts
durchsetzten. Mitte Februar 1867 brachte Disraeli den Komplex im Unterhaus
zur Sprache. fir beantragte eine Resolution, die die Leitlinien des zu erlassen-
den Gesetzes vorzeichnen sollte. Darin hieß es auch, daß es gegen die Verfas-
sung des Königreiches sei, einer Rlasse oder einem Interesse die Vormacht über
die übrigen zu geben. Dies war nun freilich seit Jahrhunderten so gehalten wor-
den. So tat man gut, den Satz nicht auf die Vergangenheit anzuwenden. Immer-
hin criiffnete er eine Perspektive für die Zukunft.
Die Diskussion über die Resolution war kritisch und langwierig und mußte
eher bedenklich stimmen. Als die Reformbill dann aber am I8. März einge-
bracht wurde, gingen die Verhandlungen doch einigermaßen zügig voran. Die
Vorlage hatte ntır begrenzte Ziele. Zu ihrer Begründung sagte Disraeli aus-
drücklich, sie bezwecke nicht die Demokratie, England lebe nicht unter einer
Demokratie und werde es hoffentlich auch nie tun. Es komme nur darauf an,
volkstümliche Vorrechte zu erweitern und den veränderten Bevölkerungsver-
haltnissen Rechnung zu tragen.
Am finde stand im Mai mit dem Representation of the People Act und mit
entsprechenden Gesetzen für Schottland und Irland die Einführung des Haus-
M IX. Dgiefll/šritischerVerfgssungssentwicklung im 179. jahrhurndertfn rf
halts-Stimmrechts in den Städten. Alle Eigentümer und Mieter mit einer Jah-
resmiete von 10 Pfd. waren jetzt wahlberechtigt. In den Counties blieb das
Wahlrecht Grundeigentümern und Pächtern, deren Reinertrag oberhalb gewis-
ser Grenzen lag, vorbehalten, aber diese Grenzen wurden deutlich herabge-
setzt. Die Wählerschaft wuchs um über 80% an, von 1,36 Mill. auf 2,48 Mill.
Bis zum allgemeinen Stimmrecht, das in diesen Tagen gerade im Norddeut-
schen Bund eingeführt wurde, war der Weg freilich noch sehr weit; dafür hät-
te die Zahl der Wahlberechtigten mindestens doppelt so hoch liegen müssen. In
Großbritannien belief sie sich jetzt auf 8,3% der Bevölkerung, im preußischen
Teil des Norddeutschen Bundes lag die entsprechende Ziffer im Februar 1867
bei 20,6. Eine Neuverteilung der Wahlkreise erfolgte nur in geringem Umfang.
Nicht die Zahl der städtischen Wahlkreise wurde vermehrt, wie es sachlich ge-
boten gewesen wäre, sondern der ländlichen. Das landed interest blieb weiter-
hin stark überrepräsentiert. Die Zulassung der unteren Mittelschicht und der
oberen Gruppen der Arbeiterschaft zur Wahl wurde damit zum guten Teil wie-
der kompensiert. Das neue Gesetz enthielt also starke konservative Sicherun-
gen. Daß die Benachteiligung Schottlands und Irlands nicht abgebaut wurde,
war ein weiterer Makel.
Die Hoffnung der konservativen Führung, den Liberalen mit der Wahlre-
form das Wasser abzugraben, erfüllte sich nicht. Die Konservativen erlitten
Ende 1868 eine klare Wahlniederlage und lagen um mehr als 100 Mandate hin-
ter den Liberalen zurück. Noch vor der Konstituierung des neugewählten Un-
terhauses erklärte Disraeli, der seit Februar dieses Jahres Premierminister war,
den Rücktritt von seinem Amt. Das war, wie sich zeigen sollte, ein Schritt von
weitreichender Bedeutung. Hatte die Krone 1841 ihr Recht zur freien Auswahl
der Regierungschefs faktisch an das Unterhaus verloren, so war jetzt die Pha-
se des souveränen Parlaments beendet. Durch seinen demonstrativen Akt er-
kannte Disraeli an, daß der Ort der Souveränität die Wählerschaft war. Er wer-
tete das Elektorat damit erheblich auf. Für das Unterhaus war das ein
schmerzlicher Gewichtsverlust. Fortan hatte es im Sinne der Mehrheit der
Wähler für die Stützung der Regierung zu sorgen, wahrend die Opposition als
Vertretung der Wählerminorität nur auf die nächsten Wahlen hoffen und bis
dahin das Kabinett möglichst scharf zu kontrollieren versuchen konnte. Da die
Regierung nunmehr eine plebiszitäre Basis hatte, wurde sie beträchtlich ge-
stärkt.
Disraeli leitete so die Umwandlung Großbritanniens von einer bis dahin trotz
der schon ein Menschenalter zurückliegenden Beschränkung der Krone immer
noch konstitutionellen zu einer parlamentarischen Monarchie ein. Das war im
Dezember 1868 natürlich noch nicht erkennbar. Als aber sein Nachfolger Glad-
stone sich nach seiner Wahlniederlage im Februar 1874 ganz entsprechend ver-
hielt, war der tiefe Wandel, der sich im britischen Verfassungsgefüge seit 1868
vollzog, unumkehrbar und nicht mehr zu übersehen.
i Weitere Verfaßuflgsreformen 247
WElTERE VERFASSUl\l(§SRl.l:()Rl\1EN
Die Konkurrenz der großen Parteien um die erweiterte Wählerschaft war zu-
gleich eine persönliche Rivalität der beiden Spitzenpolitiker Disraeli und C-lad-
stone. die rund zwanzig Jahre britische Politik bestimmte. In dieser Konkur-
renz wurde die Politik personalisiert und gleichzeitig nationalisiert. Die
Parteien wollten möglichst viele Wähler ansprechen und mußten deshalb einen
das ganze Land umfassenden Wahlkampf führen. Das konnten sie nur, wenn sie
ihre Organisation erheblich verdichteten und weiße Flecken auf der Wahlkreis-
karte immer dann vermieden, wenn eine Bewerbung einige Aussicht auf Erfolg
hatte. S0 nahm die Zahl der unbestrittenen Sitze ab. Waren vor der zweiten Re-
form noch zwei Fünftel der Parlamentarier ohne Gegenkandidaten gewählt
worden, so fiel diese Zahl jetzt auf ein Drittel und weniger.
Die Nationalisierung des politischen Lebens ließ auch die einzelnen Abge-
ordneten nicht uıiberührt. Hatten sie sich bisher vielfach als Inhaber eines frei-
en Mandats gefühlt und deshalb oft eigenwillig agiert, so war es zunehmend we-
niger empfehlenswert, anderes zu wollen als die Parteiführungen. Es trat also
ein deutlicher Dis'/.iplinierungsprozeß ein, die Fraktionen verfestigten sich. Das
wiederum wirkte auf die Neigung ein, Mandate anzunelınıen. Wenn man Poli-
tik nicht mehr als noble Nebcnbeschäftigung treiben konnte, war es für man-
chen unabhlingigen Landedelmann, der eben dies getan hatte, nicht mehr so
reizvoll, im Parlament zu sitzen. Das förderte die ohnehin im Gang befindli-
chen W/andlungen in der sozialen Zusammensetzung des Unterhauses. Das lan-
ded interest verlor allmahlich an Gewicht. Kapitalintcressen traten stärker nach
vorn. Großbritannien hörte allmlihlich auf. ein oligarcliischer Adelsstaat zu sein.
Das war freilich eine langwierige lintwicklung. Noch 1895 gehörten fast zwei
Drittel der Unterhausmitglieder zum Adel und zu deıı mit ihm eng verbunde-
nen Kreisen. Die impulse. die von der zweiten Reform auf diesen Prozeß aus-
gingen„ werden vielfaclı überbewertet.
Nicht gebührend veransclilagt wird dagegen die gegen den Widerstand der
Lords und großer Teile des Unterhauses 1872 durchgesetzt« geheime Stimmab-
gabe. Wahlbceinllussungen wurden daıııit sehr erschwert. und das kam Päch-
tern und lndustriearbeitern zugute. ln lrland hatte dieses Gesetz weitreichende
Folgen, konnten die Pächter sich jetzt doch viel freier entscheiden. So entstand
nun eine kraftvolle lrislı National Party, die sich die lflrkiiınpfung der Home
Rule zum Ziel setzte. Ihre maßgebliclıe Persönlichkeit war Charles Stewart
Parnell.
1883 erging ein Gesetz gegen Wahlkorruption und andere illegale Praktiken
bei Wahlen. lnı jahre darauf wurde die gesamte Wahlgesetzgebung endlich ei-
ner grundlichen Revision unterzogen. Hierfür hatte sich vor allem der radikale
Flügel der Liberalen unter joseph Chamberlain eingesetzt. Nach Kampagnen
2481 IX. Die Briíische Verfasstmgssentwieklung im 19. Jahrhundert
außerhalb und innerhalb des Parlaments für eine Reform entschloß sich Glad-
stone, der seit 1880 wieder Premier war, zu der entsprechenden Vorlage über die
Ausdehnung des Wahlrechts. Die Notwendigkeit dazu war so unbestreitbar,
daß das Gesetz im Unterhaus eine ungewöhnlich breite Mehrheit fand. Das
Oberhaus hingegen machte Schwierigkeiten und verlangte die gleichzeitige
Neueinteilung der Wahlkreise. Dies wiederum veranlafšte Chamberlain zu ei-
nem heftigen Feldzug gegen die Lords. Das Volk werde ihre Macht beschrän-
ken, wenn sie die Reform weiter behinderten. Mit derlei Äußerungen war die
Königin gar nicht einverstanden, sie hielt das Oberhaus als eine von der Volks-
stimmung unabhängige Kammer für einen unantastbaren Bestandteil der briti-
schen Verfassung. Es bedurfte ausgeprägten Verhandlungsgeschicks, um die Sa-
che zu einem guten Ende zu bringen.
Für das gesamte Vereinigte Königreich erging ein einheitliches Wahlgesetz,
mit der Benachteiligung Schottlands und Irlands wurde aufgeräumt. Die Unter-
schiede zwischen Stadt und Land wurden beseitigt, auch die Lohnempfänger in
den Counties bekamen mit Ausnahme von junggesellen und Hausangestellten
das Stimmrecht. Die Pflicht zur alljährlichen Registrierung blieb bestehen. Da
damit gewisse Unannehmlichkeiten verbunden waren, stieg der Hundertsatz
der Wahlberechtigten nicht ganz auf die sonst mögliche Höhe. Er lag jetzt bei
15.9% - das waren drei Fünftel der erwachsenen männlichen Bcvölkeruııg. Bis
zur völligen Herstellung des allgemeinen Stiınmreclıts war es also immer noch
ein gutes Stück Weges.
Im jahre 1885 folgte die Neueinteilung der Wahlkreise - dies war der un-
gleich bedeutendere Teil des Gesetzeswerkes. Richtlinie war eine annähernd
gleiche Größe. Insgesamt wurden I I5 Sitze für die Neuordnung der künftig 670
Mandate herangezogen. Mit der seit jahrhunderten geltenden Regel, daß pro
Borough und County zwei Vertreter zu bestimmen seien, wurde gebrochen.
Mit Ausnahme Londons und 24 anderer größerer Städte gab es fortan nur noch
Ein-Mann-Wahlkreise, und gewählt war, wer die relativ meisten Stimmen er-
hielt. Die strikte Anwendung dieser Regel kam eher den Konservativen als den
Liberalen zugute. da letztere nun nicht mehr die Möglichkeit hatten, im Ge-
spann mit den Radikalen aufzutreten und beide Sitze zu gewinnen; die Haupt-
leidtragenden waren die Whigs - die Liberale Partei rückte also nach links. In
Irland förderte das neue Wahlgesetz die nationale Bewegung kräftig. Die Partei
Parnells erhielt 1885 86 der 101 irischen Sitze, war im Unterhaus also ein er-
heblicher Machtfaktor. Die Konservativen kamen auf 249 Sitze, die Liberalen
auf 335, sie stellten damit genau die Hälfte der Abgeordneten.
Gladstone war klar, daß die irischen Forderungen nun nicht mehr über-
gegangen werden konnten. Er wollte die Union von l80l wieder aufgeben und
Irland innere Autonomie gewähren. Sein Gesetzentwurf fiel aber durch, da sich
sowohl Chamberlains Radikale wie der rechte Flügel der Partei dagegen wand-
ten. jetzt spalteten sich die Gegner der Home-Rule von der Partei ab und traten
_ _ _ A Das Iltírlaınentsgesetz von 1911 7 7 _.'ä9
fortan bis 1910 als Liberale Unionisten eigenständig auf. Ihre größte Mandats-
stärke hatten sie 1886 mit 78, die geringste 1906 mit 25 Sitzen. Sie verdankten
ihre parlamentarische Stellung der engen Zusammenarbeit mit der Konservati-
ven Partei, in der sie schließlich auch aufgingen. Durch die Spaltung wurden die
Liberalen so geschwächt, daß sie den Konservativen für 20 jahre die Macht
überlassen mußten. Nur von 1892 bis 1895 gab es ein kurzes liberales Zwi-
schenspiel. Da die Liberalen 1892 etwas stärker wurden als die Konservativen
und zusammen mit den Iren eine Mehrheit hatten, konnte Gladstone sein vier-
tes Kabinett bilden und dann im Unterhaus die Home-Rule-Bill durchsetzen.
Im Oberhaus sprachen sich 419 Lords, darunter viele, die noch niemals anwe-
send gewesen waren, gegen das Gesetz aus, nur 41 dafür. Gladstone hatte kei-
nen Zweifel daran gelassen, daß eine Ablehnung die Existenz des Hauses über-
haupt in Frage stellen könnte, aber es wußten alle, daß eine solche Drohung
nicht in die Tat umgesetzt werden konnte, und so geschah denn auch nichts.
Anfang März 1894 trat er zurück, sein Amt ging gegen seinen Wunsch an den
bisherigen Außenminister Rosebery über, der iın Sommer 1895 über eine Zu-
fallsmehrheit stolperte. Nach der Neuwahl kamen Konservative und Unioni-
sten mit sehr großer Mehrheit in das Uııterhaus zurück und behaupteten sie bis
1906.
Die Arbeiter sahen die Vertretung ihrer Interessen ganz überwiegend sehr
lange bei den Gewerkschaften besser aufgehoben als bei einer eigenen Partei, die
angesichts der V1/ahlrechtsbeschränkungen doch keine Aussichten haben würde.
Diese Einstellung änderte sich nach 1884 nur sehr allmählich, zuerst in Schott-
land. 1893 entstand eine Independent Labour Party, 1900 endlich das von den
Gewerkschaften angeregte Labour Representation Committee, das dafür sorgen
wollte, daß mehr Arbeiter nominiert würden. Anläßlich der Wahlen von 1906
erwuchs daraus die Labour Party, sie errang in enger Zusammenarbeit mit den
Liberalen 29 Mandate, wahrend als sogenannte LibL:tbs weitere 24 Bewerber
aus der Arbeiterschaft gewählt wurden. Bei den beiden Wahlen des jahres 1910
kam Labour auf 40 resp. 42 Sitze.
Die konservative Dominanz endete mit den Anfang 1906 abgehaltenen Wahlen.
Die Liberalen errangen einen erdrutschartigen Sieg und verfügten mit den
LibLabs über drei Fünftel aller Sitze.
Kennzeichnend für die nun beginnende Legislaturperiode wurde das
Bemühen um eine sozialstaatliche Umgestaltung Großbritanniens. Motor die-
25O IX. Die Britische Verfassungssentwieklung im 19. Jahrhundert
ser Politik war der aus sehr ärmlichen Verhältnissen stammende walisische Li-
berale David Lloyd George. Er übernahm bei der Bildung des Kabinetts Camp-
bell-Bannerman das Handelsamt und wurde. als Schatzkanzler Herbert Asquith
im Frühjahr 1908 an die Spitze der Regierung trat, zudem dessen Nachfolger im
Schatıamt. Erste sozialpolitische Maßnahmen erfolgten 1906, so die Einführung
von Beihilfen zur Schulspeisung. 1908 erging ein maßgeblich von Asquith be-
stimmtes Gesetz über die Altersversorgung von Menschen mit geringen Ein-
künften nach Vollendung des siebzigsten Lebensjahres, 1909 über Schulärzte
und die erweiterte Schulspeisung. Der von Lloyd George eingebrachte Etat für
1909 sah in großem Umfang die Erhöhung bestehender und die Einführung
neuer Steuern vor, unter anderem eine gestaffelte Einkommenssteuer bis 11%.
Aus diesen zusätzlichen Mitteln sollte die staatliche Sozialpolitik finanziert wer-
den. Zugleich ging es Lloyd George darum, einen sozialen Ausgleich in die We-
ge zu leiten. Außerdem zwang das Wettrüsten zur See, in dem sich Deutschland
und Großbritannien damals befanden, dem Land große finanzielle Lasten auf,
aber das war ein Aspekt, den man bei der Werbung für das sogenannte Volks-
budget weniger nach vorn rücken konnte.
Das Oberhaus, von dessen (1906) 602 Mitgliedern sich 355 als Konservative
und 124 als Unionisten verstanden. hatte schon zu Beginn der Legislaturperi-
ode einige Gesetze zu Fall gebracht. unter anderem zur Landrefornı. Ein dar-
aufhin von den lren gestcllter Antrag, ihm das Vetorecht zu nehmen, war aller-
dings nicht durchgedrungen. Unverkennbar miíšverstand es seine Rolle. Lloyd
George charakterisierte es dahin, es sei nicht der 'Wächter der Verfassung, son-
dern der Pudel des konservativen Parteiführers Balfour. »Es 'oellt für ihn und
beißt jedermann, auf den er es ansetzt-U“. Für das Volksbudget waren die Lords
überhaupt nicht zu haben, sie verwarfen es mit 350 gegen 75 Stimmen unter Be-
rufung darauf, daß die Vorschläge über die Grundsteuer faktisch ein Gesetz
über den Wert von Grund und Boden einschlóssen, das nicht in den Haushalt
gehöre. Mit ihrer Ablehnung verstießen sic gegen die seit dem späten 17. jahr-
hundert unbestrittene Regel, daß das Oberhaus zur Einbringung und Änderung
von Finanzgesetzen nicht berechtigt sei. Seitdem ab 1860 alle finanziellen Rege-
lungen in einem einzigen Gesetz zusamnıengefalšt waren, hatte es den Haushalt
auch immer widerspruchslos passieren lassen. Dementsprechend prangerte das
Unterhaus Anfang Dezember in einer von Asquith eingebrachten Resolution
das Verhalten des Oberhauses als Verfassuııgsbruch und als Usurpation der
Rechte der Commons an. Großbritannien befand sich iıı einem Verfassungs-
konflikt, uııd die Losung suchte der Premier uber Neuwahlen zu erreichen.
Der Wahlkampf wurde mit der Parole ›Lords gegen das Volk« ausgefochten.
und die Pecrs beteiligten sich lebhaft. Bei der Mandatsverteilung gab es erhebli-
che Verschiebungen. Die Liberalen verloren IOO Sitze, hatten zusammen mit
lren und Labour aber weiterhin eine Mehrheit. Die irische Partei nutzte ihre
Schlüsselstellung sogleich aus. Sie wollte das Oberhaus entmachten, verständli-
Das Parlamentsgesetz von 1911 251
cherweise, denn die Lords hatten sich immer wieder im Interesse ihrer in Irland
sitzenden Standesgenossen gegen Regelungen gewandt, an denen den Iren gele-
gen war, so 1893 gegen den letzten von Gladstone unternommenen Versuch,
Home Rule zu schaffen. So wollte sie nur dann für den Etat stimmen, wenn das
Veto des Oberhauses künftig nur noch aufschiebende Wirkung hatte und bei Fi-
nanzgesetzen ganz entfiel. Das Budget nahm das Oberhaus jetzt ohne Schwie-
rigkeiten an. Angesichts des Parlamentsgesetzes verhielt es sich naturgemäß zo-
gernd. Da starb im Mai 1910 unerwartet König Eduard VII., so daß Neuwahlen
nötig wurden. Dieser neue Wahlgang im Dezember brachte gegenüber dem
vom januar sehr geringe Verschiebungen. Liberale und Iren behielten die Mehr-
heit, Konservative und Unionisten, jetzt vereint, verloren einen Sitz. Das Parla-
mentsgesetz fand im Unterhaus im März 1911 eine gute Mehrheit, während die
Lords weiter zögerten. Erst die Drohung ınit einem Pairsschub und der enga-
gierte Einsatz von Lord Curzon bewirkten schließlich auch hier ein zustim»
mendes Votum; die Majorität war freilich knapp. Was ein Finanzgesetz sei, war
vom Sprecher des Unterhauses zu entscheiden, beim Suspensivveto wurde vor-
geschrieben, daß zwischen der ersten und der dritten Session mindestens zwei
Jahre liegen sollten. Die Legislaturperiode wurde auf fünf jahre verkürzt, und
die Mitglieder des Unterhauses erhielten Diäten.
Nach Überwindung der verfassungspolitischen Spannungen konnte auch der
Sozialpolitik wieder größere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Der wichtigste
Ertrag war dabei das ebenfalls im Sommer 1911 verabschiedete Nationale Ver-
sicherungsgesetz, das für alle diejenigen, die weniger als 160 Pfd. im jahr ver-
dienten, eine staatliche Versicherung gegen Krankheit und Arbeitslosigkeit
brachte.
Durch das am 18. August 1911 in Kraft getretene Parlamentsgesetz wurde die
Stellung des Oberhauses erheblich zurückgenommen. Die Neuregelung ver-
deutlichtc, daß es kein .ıktiver Faktor der politischen Auseinandersetzung sein
durfte, nicmandes Pudel, daß seine Rolle vielmehr im Ausgleich und inder Ver-
hinderung von Übereilıangen liegen, daß es dem Staat als Wächter der Verfas-
sung und als Mahner der Regierung dienen sollte. Deshalb war es auch ein ge-
eignetes Refugium für verdiente Staatsmänner. Da cs so auf eine neutrale Ebene
gehoben wurde, konnte kiinftighin ein Premier nicht mehr dem House of Lords
entnommen werden.
Der Verfassungskonflikt hatte sich ohne schwere Erschütterungen beilcgen
lassen, weil die Lords nach der Neuwahl den Etat sogleich hingenommen und
schließlich auch ihren Widerstand gegen das Parlamentsgesetz aufgegeben hat-
ten. Zur Ruhe kam das Land mit dem Sommer 1911 aber nicht, im Gegenteil.
Viele schwere innenpolitische Probleme harrten der Lösung. Obenan stand die
irische Frage. Hier war mit einer bewaffneten Auseinandersetzung zu rechnen,
wenn eine sinnvolle Erledigung weiter aufgeschoben wurde. Auclı die Waliser
meldeten dringlich ihre Forderungen an. Die Wahlrcchtsfr.1ge war noch nicht
E M IX. Die Briiische Verfassungssentwieklung iın 19. Jahrhundert
Als Deutschland nach dem Ende der napoleonischcn Suprematie neu geordnet
werden mußte, war das kein Thema nur für Minister und Diplomaten, vielmehr
beschäftigte sich eine ausgedehnte Publizistik mit diesem Fragcnkreis. Die ganz
überwiegende Mehrheit der Deutschen wünschte die Wiederherstellung des
Reiches und die Erneuerung der Kaiserwürde. »Wenn je ein Wunsch Deutsch-
land durchdrungen hat, wenn ie alle Deutschen über etwas einstimmig gewe-
sen«, so sei es dies: »Gebt uns unseren Kaiser wieder«¬ schrieb Lorenz Oken,
der politisch links stand, im Oktober 1814"". Es war keine Frage, daß nur ein
Habsburger die Krone tragen konnte. I~`ür die große Mehrheit der Deutschen
war es auch selbstverstíindlich, daß das Reich moderne Strukturen haben, den
Erfordernissen eines Verfassuıigsstaates genügen mußte. Europa habe erfahren,
daß die beste Staatsvcrfassung diejenige sei, in der ein erblicher Monarch, be-
schränkt durch die Wortführer der Nation, den Staat nach Gesetzen, die von
diesen gegeben seien, mehr rcgiere als beherrsche, so faßte eine Zeitschrift aus
dem Verlag Brockhaus die vorherrschende Tendenz zusammen. Naeh Ansicht
des Blattes mußte auch die Einrichtung des Reiches so gestaltet werden.
In der komplizierten Frage, in welchem Verhältnis Reich und Einzelstaaten
stehen konnten, wurden in der öffentlichen Debatte wenig durchsetzbare Vor-
schläge gemacht. Unter den venuitwortlicheıı Politikern beschäftigte sich na-
mentlich der preußische Staatskanzler Hardenberg sehr intensiv mit diesem
Problem. Er wollte einen festen Bund der deutschen Staaten zur wechselseiti-
gen Garantie der Unabhängigkeit, der Sicherheit und der inneren Ruhe.
Deutschland sollte ein einheitliches Handels- und Vcrkchrsgcbict bilden und
sich ein gemeinsames Recht erarbeiten. Die Bundesleitung sollte Österreich,
Preußen, Bayern und Hannover ıustehcn, doch so, daß nur die beiden
Großmächte gemeinsam über Krieg und Frieden entscheiden konnten. Die Ver-
fassung aller deutschen Staaten sollte übereinstimmenden Prinzipien folgen und
Grundrechte sowie eine Repriisentation gewähren. Österreich und Preußen
sollten nur mit vergleichsweise kleinen Teilen ihres Gebietes in diesen Bund ein-
treten.
Nach den damaligen Gegebenheiten in Deutschland war dies ein konstruk-
tiver Plan. Er gab den Deutschen ein gutes Maß an Gemeinsamkeit und beließ
_* _X. Deutschland und Habsburg im 19. jahrhundert
So war die Verfassungspolitik eine Frage an die deutschen Teilstaaten. Sie be-
antworteten sie auf sehr unterschiedliche Weise. Bis zur Revolution von 1848
standen vier Verfassungstypcn nebeneirıaııder, der des bürokratischen Absolu-
tismus, der altstiindische, der patrizisclıe der Stadtstaaten und der repräsentati-
ve. Zu letzterem gehörte anfänglich nur das kleine Herzogtum Nassau, das im
September 1814 eine annähernd moderne Verfassung erhielt. Iııı Laufe der Zeit
traten erhebliche Veranderungen ein. Bis Mitte 1821 gaben sich außer Nassau
noch dreizehn weitere deutsche Staaten konstitutionelle Verfassungen, als größ-
te Bayern im Mai und Baden im August 1818, Württemberg im September und
Hannover im Dezember 1819 sowie Hessen-Darmstadt im Dezember 1820. ln
den 20er jahren kam Sachsen-Meiningen hinzu. Im Anschluß an die julirevolu-
tion folgte eine zweite Welle der Verfassungsgebung, und zuletzt wurde das po-
litische Leben in Luxemburg konstitutionell geordnet. jetzt, im Herbst 1841.
waren 24 deutsche Territorien repräsentativ verfaßt, zumeist Kleinstaaten. Die
vier Städte sahen keinen Anlaß, ihre ıíberkommenen Verfassungen zu lindern.
Neun Staaten behielten ihre altstiindisclıe Ordnung, als größter Mecklenburg-
Schwerin. Ohne Stände wurden durchgehend Oldenburg, Hessen-Homburg.
Preußen und Österreich regiert, sie blieben bürokratisch-absolutistisclı verfaßt.
Allerdings hatten die beiden Großmiiehte in den Provinzen resp. Ländern Stän-
de. Von den knapp 43 Mill. Einwohnern des Deutschen Bundes im jahre 1847
rg Der Deutsche Bund_ _
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f ›~'/ir Mitteleuropa 1815
Grenze des Deutschen Bundes
Preußen
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Nebenlınıen des Hauses
Hâbâbuıg ıı› ltallffn
die Herstellung der deutschen Einheit. Die meisten dieser Ansprachen lebten
aus republikanischem Geist, und etliche Sprecher drohten kaum verhüllt mit
Revolution. Wieder schuf sich der Bund das für die Bekämpfung der fort-
schrittlichen Bewegung nötige lnstrumentarium, und erneut wurde für das Auf-
spüren der bundesfeindlichen Krafte eine besondere Behörde gebildet, die rund
2000 Ermittlungen anstellte. Die Zahl der Verurteilten war auch diesmal nur
sehr gering, dic der Emigranten lag bei etwa 260. lmmer noch wurde die Ge-
fährdung des Bundes durch radikale Krafte ganz erheblich überschätzt.
Die eben skizzierten Anstrengungen galten in erster Linie den deutschen De-
mokraten, dem Radikalismus, wie maıı damals meist sagte. Er wurde in seiner
Entfaltung zweifellos behindert, allerdings war seine Resonanz von Anfang an
nicht besonders groß. Liberale wurden nur am Rande in die Untersuchungen
mit einbezogen, aber auch ihnen wurde die Artikulation erschwert, da die Vor-
zensur ja für alle Druckerzeugnisse galt, die nicht den Umfang eines stattlichen
Buches hatten. Trotz aller Bceintrlichtigungen hatte der Liberalismus in den er-
sten jahren nach l8l5 und dann wieder ab 1830 die Meinungsführerschaft. Er
war die stärkste politische Kraft in Deutschland und hatte Anhänger in allen
Regionen und in .ılleıı sozialen Schichten. Besonders stark war er naturgemäß
in den konstitutionellen Staaten, boten ilıın hier die Landtage und die l.and-
tagsbericlıterstattiııig doch ı'egelı1ialšig viclhcachtete Plattformen der Darstel-
lung.
I-Iochtory den Welfenthron. Der neue König bezeichnete sogleich die 1833 vor-
genommene Verfassungsmodernisierung als von Anfang an ungültig und be-
trachtete ohne jeden triftigen Grund den Zustand von 1819 als erneuert. Dage-
gen gab es lebhaften Protest. Der Streit zog sich mehrere Jahre hin. Als der
Bundestag 1839 einen bayeriscli-badischen Antrag ablehntc, in Hannover zu in-
tervenieren, fanden sich die Liberalen zu Verhandlungen bereit. So kam im Au-
gust 184O eine Verständigung über eine neue hannoversche Verfassung zustan-
de. Das nunmehrige Grundgesetz entsprach weitgehend dem von 1833,
allerdings war die Stellung des Königs etwas gestärkt.
In Preußen hatte Hardenberg König Friedrich Wilhelm III. im Mai 1815 zu ei-
nem neuerlichcn Verfassungsversprechen veranlaßt. Allerdings zeigte die ent-
sprechende Verordnung, daß man ıııit der angekündigten Konstitutionalisierung
keine allzu großen lirwartungen verbinden sollte. Die ››Repr1a`sentation des
Volkes« sollte bis zum Septeınber indirekt aus den Provinzialständen hervorge-
hen, ihre Kompetenz »auf die Beratung über alle Gegenstände der Gesetzge-
bung« sich erstrecken, »welche die persönlichen und Iiigetıtuınsrechte der
Staatsbürger, mit Iiíııschltıß der Besteuerung. betreffen«'¬`S. Ein Beschlußrecht
war für sie also nicht vorgesehen - so weit mußte Hardenberg der ständischen
Opposition schon ganz zu Beginn entgegenkommen.
Die Verwirklichung dieses Vorhabens gedieh zur Leidensgeschichte. Statt un-
verzüglich die angekündigte Verfassungskommission zu bilden, hielt man es für
zweckmäßig, zuerst die Sclıaffung des ebenfalls geplanten Staatsrates abzuwar-
ten, und dann aus seinen Reihen die Kommissionsmitglieder zu nehmen. Dieses
hundert Mitglieder von Geburt, kraft Amtes oder dank königlicher Ernennung
umfassende Gremium, das Geset'/.esvorhahen begutachten sollte, kam erst im
Frühjahr 1817 z.ust.ınde, die nun berufene Kommission tagte im juli nur einmal,
dann geriet alles auf die lange Bank, weil man weitere Erfahrungen sammeln
wollte und weil das Wartburgfest den Eifer merklich dämpfte. 1819 sah es so
aus, als ginge es ntın eııdlich voran. In der nur mehr sechs Mitglieder umfassen-
den Kommission hatten die Verfechter der Repäsentation die Mehrheit, aber der
Streit über die Annahme der Karlsbader Beschlüsse führte zu Humboldts Aus-
scheiden aus dem Ausschuß und dem Ministerium; auch zwei andere Reform-
minister wurden entlassen. Hardenberg hatte keine Aussichten mehr, die Na-
tionalrepríisentation zu erreichen, er mußte sich damit begnügen, daß in das
Gesetz über die Staatssclitılcleıi vom |7. januar 1820 eine Vorschrift eingefügt
260 X. Deutschland und_Habsburg›im 19. ]ahrhu_r1dert MW _ _
wurde, derzufolge neue Schulden nur unter Mitgarantie der künftigen reichs-
ständischen Versammlung aufgenommen werden durften. Eine Einlösung die-
ses Versprechens erfolgte über mehr als ein Vierteljahrhundert nicht, der Versu-
chung zur Kreditaufnahıne entzog sich der Staat durch rigorose Sparsamkeit. In
dieser langen Zeit kamen Liberale nur noch selten in administrative Spitzenäm-
ter, und die Polizeistaatlichkeit war wenigstens in den 20er jahren sehr ausge-
prägt. Aber die Verhaltnisse waren doch erheblich besser als in Österreich.
In der Ständefrage suchte man jetzt andere Wege. Dabei spielte der Kron-
prinz eine wichtige Rolle. Im Sommer 1823 erging ein Rahmengesetz über Pro-
vinzialstände, dem bis zum Frühjahr 1824 für jede der acht Provinzen ein Spe-
zialgesetz folgte. Nur in Selbstvcrwaltungssachen erhielten die Provinzialstände
Beschlußrecht, sonst aber konnten sie gutachtlich tätig sein. Dem sogenannten
Ritterstand, dem aber auch bürgerliche Rittergutsbesitzer angehörten, und den
Herren, besonders genannten Mitgliedern, sollte in der Regel die Hälfte aller
Sitze zustehen, dem städtischen Grundbesitz ein Drittel, dem ländlichen, also
der Masse der Bevölkerung, nur ein Sechstel. Aus strukturellen Gründen hatten
Städte und Landgemeinden aber in vier Provinzen mehr als die Hälfte der Sitze,
in den anderen war das Verhältnis genau gleich. Das bedeutete beispielsweise in
Brandenburg, daß das Votum der Vertreter der 2000 Rittergutsbesitzer das glei-
che Gewicht hatte wie das der Repräsentanten der anderen 1.34 Mill. Einwoh-
ner. lıninerhin bildeten die Provinziallandtage eine gemeinsame nach Mehrheit
entscheidende Versammlung. Sie tagten ab 1824 vielfach und trugen damit er-
heblich zur Politisierung der Preußen bei. Zunächst waren sie gouvernemental,
bald aber erwiesen sie sich für die Regierung als hartnäckige Diskussionspart-
ner. die dem Ministerium trotz des fehlenden Beschlußreclits durch die Inten-
sität ihrer Debatten und Forderungen manche Konzessionen abrangen. Schließ-
lich hatten nur noch die Provinziallandtage von Brandenburg, Pommern und
Sachsen eine konservative Mehrheit, die anderen waren eher liberal gestimmt.
Seit dem Thronwechsel zu Friedrich Wilhelm IV. im juni 1840 riß die Dis-
kussion über die preußische Verfassungsfrage nicht mehr ab. Schon 18-11 sah
sich der König genötigt, den Provinzialständen das Zusamınentreten alle zwei
jahre, die Publikation der Protokolle und die Bildung eines Stitndischen Aus-
schusses von 12 Mitgliedern für die Zeit zwischen den Sitzungsperioden zu bc-
willigen. Diese Gremien durften auch genıeinsaın tagen und taten es erstmals
1842. Dabei ging es um das künftige preußische Eisenbahnnetz. Für ein Staats-
bahns_vstem war die Kreditaufnahme unumgänglich. Die Vereinigten Ausschüs-
se machten unmißverständlich klar, daß dazu die Berufung von Reichsständen
erforderlich sei. Da die Regierung das nicht wollte, entschied sie sich für Pri-
vatbahnen auf Aktienbasis und nahm dabei in Kauf, daß sich das Streckennetz
in dünner besiedelten Regionen nur langsam entwickeln wiirde; das betraf den
ganzen Osten der Monarchie. 1843 drängten die Provinziallandtage auf ge-
meinsame Beratungen. Ein Attentat auf den König im Sommer 18-14 förderte
gg ififiñ V ff M Nationalpolitische Wünsche ††4__V26l
NATIONALPOl.ITlSCHE WUNSCHE
Die Revolution griff aus zwei Gründen schon Ende Februar sehr schnell nach
Deutschland über. Einmal glaubten viele, daß auch jetzt, wie 1792, ein französi-
scher Angriff bevorstehe. Deshalb hielten sie die bundesstaatliche Einigung
Deutschlands, die ohnehin das fast allgemeine Ziel war, für äußerst dringlich.
Zum anderen war die Überzeugung weit verbreitet, daß die Monarchen jetzt
7 Hg if Ä_vV if ig WV Märzrevolution und Paulskirche W 263
Daß über die Deutsche Frage ein deutsches Parlament entscheiden mußte, war
selbstverständlich. Darauf wirkten die führenden Liberalen seit der Heidelber-
ger Versammlung am 5. März zielstrebig hin, das sogenannte Vorparlament an
der Wende vom März zum April faßte die entsprechenden Beschlüsse. Auch der
Bundestag ging unter dem Einfluß des preußischen Gesandten - sein öster-
reichischer Kollege, der das Präsidium innehatte, war seit langem abwesend -
sofort auf Reformkurs. Er ersuchte die einzelstaatlichen Regierungen am 30.
März dringend, »auf verfassungsmäßig bestehendem oder sofort einzuführen-
dem Wege Wahlen von Nationalvertretern anzuordnen, welche am Sitze der
Bundesversammlung an einem schleunigst festzustellenden, möglichst kurzen
Termine zusammenzutreten haben, um zwischen den Regierungen und dem
Volke das deutsche Verfassungswerk zu Stande zu bringen«”°. Damit erhielt die
Nationalversammlung eine rechtlich einwandfreie Basis. Auch erhoben die
deutschen Staaten unmißverständlich den Anspruch, an der Verfassungsarbeit
264 X. Deutschland und Habsburg im 19. Jahrhundert 7 ß Ü
keiten wie möglich zu schaffen. Sein Konzept des engeren und weiteren Bun-
des fand in der Paulskirche aber kaum ein Echo.
Das Haiisßuıtciiınteıcfi
In Österreich wurde ini April für alle zum Kaisersta-at gehörenden Länder eine
liberale Verfassung oktroyiert, die jedoch bei der in Wien sehr rührigen Linken
auf Mißfallen stieß. Im Mai konnten diese Kräfte durchsetzen, daß ein aus all-
gemeinen Wahlen hervorgehender Reichstag den Text revidieren sollte; das ge-
schah seit dem juli.
Auch in Ungarn löste die Revolution in Paris eine starke nationale und libera-
le Bewegung aus. Auf ungarisches Drängen hin wurde das Verhältnis der beiden
großen Reichsteile zu einer reinen Personalunion umgestaltet, zugleich begann im
Königreich ein intensiver Modernisiemngsprozeß. Die weitgehende Versclbstän-
digung Ungarns sahen die fi„`ıhrenden Persönlichkeiten in Wien nicht gern, und so
stützten sie die Kroaten. die in Ungarn eine Sonderstellung besaßen, gegen die
Ungarn. Daraus entwickelte sich ein offener Krieg, in den schließlich auch Oster-
reich eingreifen mußte. Das Vorhaben, Truppen aus der Hauptstadt nach Ungarn
zu entsenden, löste Anfang Oktober eine neuerliche Erhebung der Linken in
Wien aus, vor der Hof, Regierung und Reichstag nach Mähren auswichen. Ende
Oktober. während die Paulskirche über die Deutsche Frage diskutierte, wurde
das aufständische Wien in wenigen Tagen von regulären Truppen zurückerobert.
Das war zugleich dasIÃı1dc der Revolution im Kaiserstaat. Kurz danach wur-
de ınit dem hochkonservativen Fürsten Schwarzenberg ein Mann Ministerprä-
sident, der unnachgiebig dafür käınpfte, daß der habsburgische Länderkomplex
vollständig beisammen blieb und daß Österreichs Stellung in Deutschland nicht
nur nicht verschlechtert, sondern noch verbessert wurde. Der großdeutschc An-
spruch der Paulskirche war nun auf keinen Fall mehr durchsetzbar, nur nahm
man das iıı Frankfurt nicht '/.ur Kenntnis.
Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 28. März 1849 war ein sorgfältig
durchdachtes und sehr ausgereiftes Werk. Wegweisend wurde sie vor allem mit
ihrem umfangreichen Grundrechtsteil, der nicht nur die klassischen Freiheits-
rechte enthielt, sondern sich ebenso mit den Gliedstaaten und den Gemeinden,
mit der Rechtspflege, der Kirche und der Schule sowie mit der Sozialverfassung
beschäftigte.
Die Willensbildung war konstitutionell organisiert. Das Schwergewicht bei
der Gesetzgebung lag selbstverständlich bei dem in Volkshaus und Staatenhaus
gegliederten Reichstag - ihre Beschlüsse mußten übereinstimmen -, und der
Kaiser hatte nur ein suspensives Veto. Er konnte das Volkshaus, das auf dem all-
gemeinen, gleichen. geheimen und direkten Stimmrecht beruhen sollte, auflö-
sen. Die Exekutive hatte er durch ein verantwortliches Ministerium auszuüben,
wobei ungesagt blieb, worin diese Verantwortung bestand und wem gegenüber
sie galt.
Das Verhaltnis der von der Prtıvisorischen Zentralgewalt berufcnerı Regie-
rung zur Paulskirche war parlaınentzırisch, und die meisten Abgeordneten wa-
ren Überzeugt davon, daß das auch in Zukunft so sein werde, in der Verfassung
normieren wollten sie es icduch nicht. Das Reich sollte zwar ein Bundesstaat
sein, erhielt aber eine sehr starke Stellung. Die Gliedstaaten hatten keinen Ein-
fluß auf seine Willensbildung und verloren zudem zahlreiche Zuständigkeiten.
Überdies hatte das Reich die Knınpctcnv.-Kompetenz.
Die Männer der Paulskirche waren überzeugt, daß Friedrich Wilhelm IV. sich
den 'l`atsaehen beugen und Kroııc und Verfassung annehmen würde. Dabei
konnten sie längst \visseıi.tla1š cr das K.ıisertum entschieden ablehnte. Gegenü-
ber der Parlamentsdeleμatinn, dic ihn dazu einlud. die auf ihn gefallene Wahl
anzunehmen, verwies er auf das Vereinbarungsprinzip: die deutschen Regierun-
gen müßten nun prüfen. ob das Verfassungswerk dem Ganzen dienlich sei. lm
Kronrat hatte er am 'lage '/.tıvor drei Punkte für den Bescheid an die Deputati-
on genannt: Zustiınınung, Österreichs zur Bildung eines deutschen Bundesstaa-
tcs, auch wenn es nicht daran teilnehmen wollte. Mitwirkung, aller deutscher
Staaten, kein Kaisertitel. Als bald danach klar wurde, daß Österreich seine Bil-
ligung nicht aussprechen werde, beschloß die preußische Fülırung, die Krone
abzulehnen, mit der Patılskirclıe nicht mehr über die Reichsverfassung zu reden
und alle deutschen Staaten zu Gesprächen »über die Bildung eines Bundesstaa-
tes zwischen den daztı bereitwilligen Staaten« einzuladen und »dabei die in
Frankfurt beschlossene Verfassung zum Grunde zu lcgen«, mit denjenigen Staa-
ten aber. die sich nicht heteiligeıı wollten, »über die Erneuerung des durch die
deutsche Bundesakte errichteten Staatcnbundes, namentlich auch mit Öster-
268 W X. Deutschland und Habsbgrgim 19. Jahrhundert *_ 7 H Wf f
Hinsichtlich der deutschen Einheit hatte die Revolution also keinen bleibenden
Ertrag, wiewohl dies das Hauptziel der Bewegung im Frühjahr 1848 gewesen
war. Aber das nachrevolutionäre Deutschland sah doch anders aus als das vor-
märzliche. Zwar wurden die von der Paulskirche verabschiedeten Grundrechte
wieder aufgehoben, die Möglichkeiten der Presse und des Vereinswesens etwas
beschnitten, aber auf den Stand vor 1848 gingen weder der Bund noch die Ein-
zelstaaten zurück. Am ehesten tat dies Österreich. Die von Schwarzenberg ok-
troyierte Verfassung blieb auf dem Papier und wurde Ende 1851 förmlich auf-
gehoben. Immerhin gab es fortan einen vom Kaiser berufenen Reichsrat mit
_._. __ _J_*?l“E der Re“kFi°“ ___, Ãffl
gutachtlichen Funktionen. Die Geheimpolizei entfaltete weiterhin eine ausge-
dehnte Tätigkeit, in manchen Teilen der Monarchie galt der Belagerungszustand
- er verschwand definitiv erst 1854. Ohne Rücksicht auf historische Gegeben-
heiten wurde die Verwaltung straff zentralisiert. In der Bevölkerung war das
neoabsolutistische System sehr unpopulär, wiewohl auch in Österreich wie in
ganz Deutschland in Reaktion auf die Revolution eine gewisse Verschiebung
der öffentlichen Meinung nach rechts zu beobachten war.
Die Mittel- und Kleinstaaten handhabten die vom Bund gewünschte, aber
ebenso den Vorstellungen der jetzt Regierenden entsprechende Reaktionspolitik
sehr unterschiedlich. In den beiden Mecklenburg wurde die alte ständische Ver-
fassung wiederhergestellt. In einigen Staaten gab es erhebliche konservative
Wahlbeeinflussungen, überall wurde die demokratische Linke entschieden
bekämpft. Der starke Rückhalt der Liberalen in der Bevölkerung blieb erhalten,
aber die Regierungspositionen, die sie im Frühjahr 1848 erhalten hatten, mußten
sie bis Anfang der 50er]ahre zumeist wieder räumen. Sie wurden neuerlich Op-
position und machten es dabei den Regierenden nicht leicht. Die innenpoliti-
schen Auseinandersetzungen waren jedoch nicht mehr so hart wie im Vormärz.
Es ging weniger um Prinzipien als um Sachfragen; die Regierungen hatten in
den letzten jahren ersichtlich zugelernt. So wurde die Reaktionspolitik uın 1860
fast überall aufgegeben.
Eine sehr folgenrcichc Entscheidung war für Preußen im Frühjahr 1849 die Ein-
führung des Dreiklassenwahlrcchts durch königliche Verordnung. Die Wähler-
schaft zum Abgeordnetenhaus wurde nach ihrem Beitrag zur Steuerleistung in
drei Klassen eingeteilt, und dieses System blieb bis 1918 weitgehend unverän-
dert. Die knapp 5% der Wahlberechtigten, die das erste Steuerdrittel aufbrach-
ten, bildeten die Erste Klasse, die rund 12%, die das zweite Drittel zahlten,
wurden in die Zweite Klasse eingeordnet, die übrigen, etwa 83%, in die Dritte.
jede dieser Klassen bestimmte ein Drittel der Wahlmänner, diese dann gemein-
sam den Abgeordneten. Das Wahlrecht war damit zwar allgemein, aber un-
gleich, etwa ein Sechstel der Bevölkerung hatte das entscheidende politische Ge-
wicht. Das wurde noch dadurch verstärkt, daß die Erste Kammer überwiegend
von den Höchstbesteuerten gewählt wurde. Bei der ersten Wahl nach dem neu-
en System hatten die Rechte und die Rechte Mitte, zumeist Altliberale, eine
deutliche Mehrheit. Der Landtag nahm nun eine Revision der oktroyierten Ver-
fassung vor. Die am 2. Februar 1850 in Kraft getretene Verfassungsurkunde für
den Preußischen Staat bot mehr Modernität als der dreißig jahre ältere süd-
deutsche Konstitutionalismus, da jede Kammer die Gesetzesinitiative hatte. Ein
Gesetz kam nur durch übereinstimmenden Beschluß beider Kammern zustan-
de. Der König erhielt ein absolutes Veto. Über den üblichen Aufgabenkreis ei-
nes konstitutionellen Monarchen hinaus konnte er bei Nichtversaınmeltsein der
Kammern und wenn die Beseitigung eines Notstandes oder die Aufrechterhal-
§04! g 7 V X. Del.ı_tsflafnd und Hagbrsbıırg im 19. Jahrhundert _
In Preußen endete die Reaktionszeit. als Prinz. Wilhelm im Oktober 1858 die
Vertretung seines inzwischen nicht mehr regierungsfähigen Bruders dauerhaft
übernahm. Der Prinzregent und ab Anfang 1861 König Wilhelm I. stand dem
Konstitutionalismus vorbehaltlos gegenüber. Er wünschte keine Wahlbeeinflus-
sungen, so daß die '/.usammensetzung des bald gewählten Abgeordnctenhauses
eine ganz andere war als bis dahin, und berief ein aus gemäßigten Konservativen
und Altliberalen bestehendes Ministerium. Es erfolgte also ein völliger' Kurs-
wechsel. Die angekündigten und allseits erwarteten Reformen kamen jedoch
nicht voran, weil das Herrenhaus, wie die Erste Kammer jetzt hieß, sein Ge-
wicht voll in die Waagschale legte. Wichtige Reformgesetze ließ es überhaupt
nicht passieren, andere veränderte es teilweise erheblich. Die Regierung konnte
deshalb im Abgeordnetenhaus kaum Erfolge präsentieren. Eine Aufhebung die-
ser Situation war durch einen Pairsschub möglich: der Monarch konnte Per-
sönlichkeiten seines Vertrauens in das Herrenhaus berufen und so dort die libe-
rale Fraktion verstärken. In dem großen Umfang, der für eine Veränderung der
Mehrheit nötig gewesen wäre, war Prinz Wilhelm dafür jedoch nicht zu haben.
So wurde im September 1860 nur ein halblıerziger Schritt getan, der nichts be-
wirkte. Das Steckenbleiben der Reformpolitik hatte aber zur Folge, daß zahl-
reiche Abgeordnete immer ungeduldiger wurden. Sie fanden sich im Sommer
1861 in der nun gegründeten Deutschen Fortschrittspartei zusammen.
g____ _? V Níuejira und Yerfassungskonflikt 271
Damit veränderte sich die politische Landschaft Preußens gründlich. Bei den
einige Monate später abgehaltenen Wahlen errang die neue Partei fast ein Drit-
tel der Sitze, und wenig später geriet sie und in ihrem Gefolge auch der
gemäßigte Liberalismus wegen der Heerespolitik in einen schweren Konflikt
mit der Regierung.
Seit 1860 war eine Anpassung der seit Jahrzehnten nicht mehr veränderten
Präsenzstärke der Armee an den Bevölkerungszuwachs im Gange und verbun-
den damit eine Umstrukturierung der Truppe. Die 1813/14 geschaffene und von
bürgerlichen Offizieren geführte Landwehr ersten Aufgebots sollte verschwin-
den und zum Teil in der Reserve aufgehen. Das gefiel den Liberalen ebensowe-
nig wie der für die Erhöhung der Friedensstärke um immerhin 60% erforderli-
che hohe Finanzaufwand. Sie waren aber bereit, die Truppenvermehrung und
die dafür benötigten Gelder zu bewilligen, wenn die alte Heeresstruktur erhal-
ten blieb und die aktive Dienstzeit auf zwei Jahre herabgesetzt wurde. Obwohl
über diese Wünsche ein Einverständnis mit der Krone nicht erzielt war, hatte
das Abgeordnetenhaus die Kosten sowohl 1860 wie 1861 provisorisch bewilligt.
Nun schlug die Fortschrittspartei eine härtere Gangart an. Im März 1862 setzte
sie mit Hilfe etlicher gemälšigt liberaler Abgeordneter eine genaue Spezifizie-
rung des Etats durch, um es der Regierung unmöglich zu machen, die Finanz-
mittel für die Reform durch Umschichtungen im Haushalt zu erlangen. Dar-
aufhin war die Regierung zur Demission bereit, aber das wäre ein Präjudiz in
Richtung dcs parlamentarischen Rcgierungssystems gewesen. So löste König
Wilhelm I. zunächst das Abgeordnetenhaus auf und berief dann ein nunmehr
überwiegend konservatives Ministerium. Aus den Neuwahlen ging die Fort-
schrittspartei gestärkt hervor, während der gemäßigte Liberalismus geschwächt
wurde, aber beide Fraktionen hatten doch zwei Drittel der Sitze inne. Die Kon-
servativen erlitten eine verniehtende Niederlage, sie stellten nur noch 11 von
352 Abgeordneten.
Wiewohl die Regierung dem Hause nun finanzpolitisch entgegenkam, war
es bald klar, daß die Abgeordnetenmajorität in der Heeresfrage keine Konzes-
sionen machen würde. Das hätte die Auflösung der in den beiden zurücklie-
genden jahren aufgestellten Verbände bedeutet. So wuchs im Ministerium die
Neigung, daß man einen Kompromiß schließen und die zweijährige Dienst-
zeit bewilligen müsse. Der König dagegen wollte lieber abdanken als nachge-
ben. ln dieser Situation rief der starke Mann der Regierung, Kriegsminister
Roon, den preußischen Gesandten in Paris Otto von Bismarck nach Berlin
und präsentierte ihn als Ministerkandidaten, wie er das erstmals schon im
Sommer 1861 getan hatte. Als Bismarck dem König zusagte, er werde
die Heeresreform auch gegen die Majorität des Hauses durchsetzen und not-
falls ohne Etat regieren, wurde er am 22. September interimistisch und gut
zwei Wochen später definitiv zum Ministerpräsidenten und Außenminister
berufen.
272_ _ X. Deutschland und Habsburg im 19. ]ahrhunde_n *_ _
Mit dem preußischen Staatsrecht war cler Konflikt nicht zu entscheiden. Un-
zweifelhaft war, daß über die Landwehr nur durch Gesetz verfügt werden
konnte, da sie auf dem Wehrgesetz von 1814 beruhte, und daß der Haushalt nur
durch gleichlautendes Votum beider Häuser und des Königs zustande kommen
konnte, wobei das Herrenhaus nur das Recht zur Annahme oder Verwerfung
hatte. Wie zu verfahren sei, wenn eine Übereinstimmung der drei Faktoren
nicht erreicht wurde, war der Verfassung nicht zu entnehmen. Bismarck verwies
darauf, daß das Staatsleben nicht einfach zum Stillstand gebracht werden könne.
Er nahm also ein Notrecht in Aiispruch und bestritt entschieden, daß er damit
verfassungswidrig handle. Auch die meisten Liberalen anerkannten die bundes-
rechtlich gut begründete Lückentheorie, werteten die damit gegebenen Mög-
lichkeiten aber anders. Ihres Erachteııs konnten nur die wirklich notwendigen
Ausgaben fortlaufen. Budgetloses Regieren war danach nur im engsten Umfang
und unter Ausschluß der strittigen Punkte nötig. Das bedeutete konsequent,
daß sie sich die Letztentscheidung beimaßen. Ihre sehr restriktive Interpretati-
on verlor dadurch an Glatıbwürdigkeit, daß das Abgeordnetenhaus 1860 und
1861 die Kosten für die Heeresvermehrung provisorisch genehmigt hatte. Die
damit bewilligten Truppenkorper waren längst vorhanden. Das Argument der
Regierung war nicht von der Hand zu weisen. daß auch fur deren Unterhalt
fortlaufend zu sorgen sei.
Auch Bismarck wurde von dieser Thematik sehr bewegt. Von seinerjugend an
war ihm der Gedanke der deutschen Einheit nicht fremd, aber dabei sollte
Preußen nicht untergehen. 1849 liefen seine deutschlandpolitischen Vorstellun-
gen auf einen engeren und weiteren Bund hinaus, er wollte, daß Preußen in
Norddeutschland die Vorherrschaft ausübe. Ein jahr später hoffte er auf einen
erneuerten friedlichen Dualismus, wobei er darin keinen Dauerzustand sah.
274 Deutschland_Habsburg im l9_._lahrhundert _ _
Großmächte schnell zu. Am 21. Februar 1866 wurde in Wien und genau eine
Woche später in Berlin im Kronrat beschlossen, einem Kriege nicht mehr aus-
zuweichen. Es war klar, daß es dabei um die Führung in Deutschland gehen
würde.
Außenpolitisch ließ Bismarck den Krieg durch ein im April zustandegekom-
menes Bündnis mit Italien vorbereiten - Österreich bemühte sich gleichzeitig
um Frankreich und machte dabei erhebliche Konzessionen. Nach wie vor such-
te Bismarck aber nach einem Ausgleich. Darüber wurde im Mai auf inoffiziellen
Wegen verhandelt. Hätte man sich in Wien auf die bei dieser Mission Gablenz
übermittelten Vorstellungen eingelassen, so wäre das auf eine Teilung des Ein-
flusses über Deutschland entlang der Mainlinie hinausgelaufen. Die Mehrheit
im österreichischen Führungskrcis wollte indessen den Krieg. Dementspre-
chend erklärte der Präsidialgesandte am l._Iuni in Frankfurt, der Bundestag sol-
le über Schleswig-Holstein entscheiden. Das war für Preußen inakzeptabel. Bis-
marck ließ deshalb zur Unterstreichung der preußischen Rechte Truppen in
Holstein einmarschieren. Das bezeichnete Österreich als Bruch des Selbsthilfe-
verbots tınd beantragte am ll. juni, das nichtpreußische Bundesheer gegen
Preußen zu mobilisieren. Der preußische Gesandte verwies nun darauf, daß
Preußen in der Annahme ciner solchen Entschließung die Auflösung des Deut-
schen Bundes erblicken werde. Gleichwohl wurde der Antrag am 14. juni mit 9
gegen 7 Stimmen angenommen und zwei Tage später die Buııdesexekution ge-
gen Preußen beschlossen. Der Österreichisch-preußische Krieg war Wirkliclt-
keit. er führte nach wenigen Wochen, am 3. juli, bei Koniggratz in Böhmen zu
einer schweren österreichischen Niederlage und am 26. juli zum Vorfrieden von
Nikolsburg. Österreich erkannte die Auflösung des Deutschen Bundes an und
stimmte einer neuen Gestaltung Deutschlands ohne Beteiligung des Kaiserstaa-
tes zu.
Diese neue Gestaltung war seit April in Vorbereitung. Am 9. April hatte
Preußen Volksvertretung am Bunde beantragt. Dank des bayerischeıı Einsatzes
war eine Kommission mit dem Vorschlag befaßt worden. Deren Wunsch nach
einer genaueren Darlegung der preußischen Vorstellungen hatte Berlin mit ei-
ner am lO. juni mitgeteilten Denkschrift beantwortet. D.ın.ıch sollte ein engerer
Bund gebildet werden, dem eine umfassende Gesetzgebungskompetenz auf den
Gebieten \X/irtschaft, Verkehr und .ıuf etlichen anderen Feldern zufallen sollte.
Die -.ıuswiirtigcn Beziehungen und das Kriegswesen sollten Bundessache sein,
wobei Preußen den Oberbefclıl im Norden, Bayern den im Süden haben sollte.
Als \ll/alılgesetı war das der Paulskirche vorgesehen. Der engere Bund sollte mit
Österreich und Luxemburg-Limburg zu einem weiteren Verband zusammen-
treten. Dieser Antrag kam im Bundestag nicht mehr zur Beratung. Wegen der
erforderlichen Iiinstimmigkeit hätte er ohnehin keine Aussicht auf Verwirkli-
chung gehabt.
276 X. Deutschlμand und Habsburg im ı 9. Jahrhundert* _
Am 16. ]uni bot Preußen den Staaten nördlich des Mains mit Ausnahme Sach-
sens, Hannovers, Kurhessens, Hessen-Darmstadts, Nassaus und Frankfurts, de-
nen es wegen ihres jüngsten Verhaltens den Krieg erklärte, ein Bündnis an; sie
sollten militärisch auf Preußens Seite treten und mit ihm zusammen eine den
Bedürfnissen der Nation entsprechende neue Vereinigung bilden. Die am
10. juni vorgelegten Vorschläge wurden als Grundlinien der künftigen Verfas-
sung dargestellt, aber darüber sollte mit einem baldigst zu berufenden Parla-
ment verhandelt werden. Die meisten der angesprochenen Kleinstaaten nahmen
das Angebot an. Mitte August kam ein förmliches Verfassungsbündnis zustan-
de, dem später auch Hessen fur sein Gebiet nördlich des Mains und Sachsen
beitraten. Damit hatten sich 22 deutsche Staaten verpflichtet, innerhalb jahres-
frist einen neuen Bund zu schaffen. Von den fast 29 Mill. Einwohnern dieses
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Karte 2: Der Norddeutsche Bund 1867 und das Deutsche Reich 1871
g? 7u_ W W gg 7 M7 im Der Norddeutsche Bund W†2lZ
Raumes würde Preußen künftig fast 23 Mill. zählen, denn ebenfalls Mitte Au-
gust wurde bekanntgegeben, daß es Hannover, Kurhessen, Nassau und Frank-
furt annektieren werde, und für Schleswig-Holstein war die Eingliederung vor-
gesehen, nachdem Österreich seine Rechte abgetreten haben würde. Die
Einbeziehung der süddeutschen Staaten, von denen Baden dies dringend
wünschte, in den neuen Bund, war politisch mit Rücksicht auf Frankreich nicht
möglich. Bismarck hatte aber auch Zweifel daran, ob dieser Schritt jetzt schon
sinnvoll sei; er hielt Bayern und Württemberg für noch nicht reif dazu.
Für die künftige Verfassung des Norddeutschen Bundes ließ Bismarck sich
mehrere Entwürfe von Männern verschiedener politischer Orientierung ma-
chen. Er fand dann freilich, daß sie zu zentralistisch seien, um später den süd-
deutschen Staaten den Anschluß leicht zu machen. So skizzierte er während ei-
nes Aufenthaltes in Putbus auf Rügen im Herbst selbst die Grundlinien der
künftigen Verfassung. Er dachte an einen Bundesstaat in der Form eines Staa-
tenbundes und stellte sich einen Bundestag ähnlich dem Frankfurter als Zen-
tralbehörde vor; Fachministerien könnten dann später entstehen. Nach Bis-
marcks Weisungen erarbeitete sein Mitarbeiter Lothar Bucher sodann einen
Verfassungstext, den Bismarck gründlich durchsah, so daß schließlich 17 der 64
Artikel von ihm stammten, namentlich die Vorschriften über das Bundespräsi-
dium und über den Reichstag. Noch im Dezember 1866 nahmen Regierung und
Kronrat die Vorlage an. Danach wurde sie mit den Teilnehmern des August-
bündnisses erörtert. Hierbei zeigte sich heftiger Widerspruch. Man erachtete die
Kompetenzen des Bundes als zu weit gefaßt, und dem Großherzog von Olden-
burg war die Konzeption zu wenig konstitutionell. Bismarck war aber nur zu
wenigen Konzessionen bereit.
Als sich Einigkeit unter den Verbündeten abzeichnete, wurden Reichstags-
wahlen angesetzt. Sie fanden am 12. Februar 1867 nach dem nur leicht modifi-
zierten Paulskirchen-Wahlrecht statt. Fast zwei Drittel der 297 Abgeordneten
waren Liberale, verteilt auf fünf Fraktionen - auch die Freikonservative Partei
war damals als nationalliberal zu verstehen. Ohne Einschaltung eines Verfas-
sungsausschusses beriet dieser Konstituierende Reichstag, ein ausgesprochenes
I-Ionoratiorenparlament, in nur sieben Wochen die Verfassung durch und ver-
änderte die Vorlage dabei kräftig. Gemeinhin stimmten Nationalliberale, Freie
Vereinigung, Altliberale und Frcíkonscrvative zusammen, während die nur
schwach vertretene Fortschrittspartei eigene Wege ging.
Das Parlament präzisiertc die Vorschriften über die Stellung des Reichstags
und seiner Mitglieder, baute die Aussagen zum Haushaltswesen ganz erheblich
aus und hob das Amt des Bundeskanzlers auf eine neue Ebene. Hatte die Vor-
lage eine dreijährige Haushaltsperiode gewollt und für die Militärausgaben so-
gar ein dauerndes Pauschquantum vorgesehen, so hieß es jetzt in Art. 69: »Alle
Ausgaben und Einnahmen des Bundes müssen für jedes ]ahr veranschlagt und
durch I-Iaushaltsgesetz festgelegt werden.« Eine Regierung war im Entwurf
Ã78 W g X. Deutsghlandgundrflabsburgrim 19.]ahrhundert W f *V
Bismarck hatte allen Grund, die Deutsche Frage als in gutem Gange befind-
lich zu betrachten. Bis zur Vollendung der Reichsgründung rechnete er aller-
dings noch mit längeren Fristen und war sich gar nicht sicher, ob das noch im
19. Jahrhundert geschehen werde. Es war einstweilen nicht abzusehen, wann
Napoleon III., der auf eine durch die Gründung des Norddeutschen Bundes
sehr irritierte öffentliche Meinung Rücksicht nehmen mußte, das Überschreiten
der Mainlinie gestatten würde. Auch bezweifelte Bismarck, ob die Südstaaten
schon jetzt ohne Einschränkung einem Deutschen Reich angehören wollten -
der Ausgang der Zollparlamentswahlen in Bayern und Württemberg stimmte
ihn bedenklich. So warnte er vor jeder Ungeduld. Natürlich könne die deutsche
Einheit durch gewaltsame Ereignisse gefördert werden, aber das komme einem
Abschlagen reifer Früchte gleich, meinte er im Februar 1869, und ein Jahr spä-
ter lehnte er dıe gesonderte Aufnahme Badens ın den Norddeutschen Bund ab.
In der Erklärung, die er deshalb nach Karlsruhe übermitteln ließ, hieß es, daß
die Rücksicht auf die gerade beginnende liberale Entwicklung in Frankreich, die
das zweite Empire auf eine friedliche und die Unabhängigkeit der Nachbarn
achtende Bahn führen werde, einen solchen Schritt verbiete. Er wollte, wie er
gleichzeitig einem Mitarbeiter sagte, den Gang der Dinge in Frankreich keinem
Frühjahrsfrost aussetzen.
Dia REICHSGRÜNDUNG
Angesichts dieser Haltung ist nicht einsichtig, daß Bismarck die spanische
Thronfrage eigens betrieben haben sollte, um die deutsche Einheit zu fördern.
Der französisch-deutsche Krieg des Jahres 1870 ging von Frankreich aus. Schon
die ihm unmittelbar vorangehende Krise löste in Deutschland eine nationale
Hochstimmung aus. Die öffentliche Meinung war sich ganz überwiegend einig,
daß nun ein einiger deutscher Staat kommen werde. Bald war allenthalben auch
die Forderung nach Erneuerung des Kaisertums zu hören.
Seit September ließ Bismarck mit den Südstaaten über diesen Fragenkreis ver-
handeln, die abschließenden Gespräche führte er selbst. Im November schlos-
sen Baden und Hessen mit dem Norddeutschen Bund einen Vertrag über die
Gründung eines Deutschen Bundes, dem sich wenig später auch Bayern und
Württemberg anschlossen - dieser etwas komplizierte Weg wurde gewählt, da-
mit die beiden Staaten nicht dem Norddeutschen Bund beitreten mußten. Die
in diesem Vertragswerk verabredete Verfassung war mit wenigen Änderungen
die vom 16.4.1867. Der föderative Charakter wurde noch etwas stärker betont,
vertragsmäßig Baden, Württemberg und Bayern zugesicherte Rechte durften
_ ,_ i †%†W†W_† Ä Politisches Leben im Deutschen Reich 281
Im Reichstag hatten die Parteien, die für die konstitutionelle Monarchie eintra-
ten, immer eine klare Mehrheit, selbst 1912 noch, und in der Öffentlichkeit war
diese Neigung noch ausgeprägter. Bei den bürgerlichen Parteien waren nur die
Linksliberalen dafür, daß die Vertrauensmänner der Maioritlit der Volksvertre-
tung die Regierung stellten, ihnen war aber klar, daß an den Institutionen des
Reiches und an der Regierungspraxis nichts geändert werden konnte, solange
die Mehrheitsverh;iltnisse sich nicht entscheidend wandelten. Nur 1884 blitzte
für kurze Zeit die Möglichkeit auf, daß es so kommen könne, dann verlor die
soeben gegründete Deutschfreisinnige Partei, an die sich diese Hoffnung knüpf-
te, bei der nächsten Wahl deutlich an Mandaten. Weil die Linksliberalen die Ba-
sis für das parlamentarische Regieruııgssysteın noch nicht als gegeben ansahen,
unternahmen sie auch nichts zu seiner Herbeiführung. Selbst als im Herbst
1908 wegen eines Kaiser-Interviews in der englischen Zeitung Daily Telegraph
Politisches Leben im Deutschen Reich 283
eine Welle der Empörung über die persönliche Politik Wilhelnis II. Deutschland
durchlief, zeigten sie sich nur an der gesetzlichen Normierung der juristischen
Ministerverantwortlichkeit interessiert und wollten nicht, »daß diese Sache zur
Machtfrage wird zwischen Krone und Parlament«'55. Der einzige Ertrag der
Affäre war eine schließlich 1912 vorgenommene Änderung der Geschäftsord-
nung des Reichstags. Nun konnte im Zusammenhang mit einer Interpellation
die Feststellung getroffen werden, ob die Behandlung des Gegenstandes durch
den Reichskanzler der Ansicht des Parlaments entsprach oder nicht. Das erste
Mißbilligungsvotum erging im Januar 1913, das zweite im Dezember desselben
Jahres, und dies interpretierte der Sprecher der Linksliberalen als Mißtrauens-
votum, gab aber natürlich zu, daß es staatsrechtlich ohne Bedeutung sei.
Das Festhalten am Konstitutionalismus erklärt sich daraus, daß die große
Mehrheit der bürgerlichen Politiker mit der Gewichtsverteilung zwischen
Reichstag und Bundesrat zufrieden war, die sich schon in der ersten Legislatur-
periode des Norddeutschen Rcichstags herausgcbildet hatte und bei der es seit-
her geblieben war. Der Schwerpunkt der legislativen Entscheidungen lag ein-
deutig beim Reichstag. Bei Gesetzgebungskonflikten gab gemeinhin der
Bundesrat nach. lmmerhin gab es einige Bereiche, in denen die Vertretung der
Gliedstaaten nicht mit sich reden ließ, namentlich bei Eingriffen in das 1867
festgelegte Verfasstıngssystem. Kaum ein Abgeordnter sah die Volksvcrtrettıng
so, wie Max Weber sie während des lirsten Weltkrieges definierte, als widerwil-
lig geduldcien Bexvi|ligungs;ıpp.ır.ıt einer herrschenden Bürokratie, kaum
ınand von ihnen wiire auf die Idee gckomnıen, einem sch\v.ichen Parlament an-
zugehören. Sie alle wußten sehr wohl, daß sie großes Gewicht inder Legislative
hatten.
sehr am Herzen liegenden Problemkreises volle 18 Jahre, von 1863 bis 1881, auf
sich warten ließ, zeigt das Gewicht, das die Parlamente in Preußen und im
Deutschen Reich gegenüber der Exekutive hatten.
In den Mittelstaaten brachten die 60er Jahre wichtige Verbessenıngen des Ver-
fassungslebens. Baden und Württemberg führten in dieser Zeit das allgemeine
Wahlrecht ein und gaben ihren Kammern 1869 resp. 1874 das Recht der Geset-
zesinitiative.
Während des Kaiserreichs war der Liberalismus überall an der Macht, wenn
er auch nicht immer die parlamentarische Mehrheit hatte. In den Kleinstaaten
verhielt es sich ähnlich. Allerdings sah sich dieser regierende Liberalismus in der
Defensive gegen neu andrängende Kräfte, wie das der politische Katholizismus
und die Sozialdemokratie waren. Die Hauptverteidigungslinie suchte er je län-
ger desto mehr im Wahlrecht, das möglichst nicht modernisiert werden sollte.
Der Widerstand ließ sich zumeist aber nur bis in die ersten Jahre des 20. Jahr-
hunderts durchhalten.
286 Ä X. Deutschland und Habsburg im 19. Jahíhundert
Der Krieg von 1859, der die Deutsche Frage an oberster Stelle auf die Tages-
ordnung setzte, hatte für Österreich auch verfassungspolitische Konsequenzen.
Die wirtschaftlich führende Schicht. in der Liberale sehr stark vertreten waren,
hatte wenig Neigung, dem finanziell überlasteten Staat Kredit zu gewähren, so-
lange sie politisch entmündigt blieb. Das wurde schon im Vorfeld des Krieges
deutlich, und danach wurde die Forderung nach Mitsprache noch drangender
angemeldet. Noch im Juli kündigte der Kaiser zeitgemäße Verbesserungen in
Gesetzgebung und Verwaltung an. Es folgte ein umfangreiches Personalrevire-
ment. Im März 1860 wurde eiıı verstärkter Reiclısrat zur Teilnahme bei der
Feststellung des Etats, zur Rechııungskoııtrollc und zur Begutachtung von Ge-
setzen berufen. Zu den bisherigen Reichsraten traten einige Angehörige der
Landtage hinzu. Dieses Gremium. von dessen 59 Mitgliedern 35 adlig waren
und in dem die Liberalen nur eine Minderheit bildeten, tagte vom Mai bis zum
September 1860 nichtöffentliclı und besıllıäftigtc sich eingehend mit der künfti-
gen Staatsorganisation, kam jedoch nicht zu sonderlich fortschrittlichen Vor-
schlägen. Vor allem ging es ihm um eine Stärkung der Rechte der Lander und
uın die Neubelebung des Ständewesens. Mit seinem Oktoberdiplom erhob der
Kaiser diese Vorstellungen in den Rang eines Verfasstıııgsgesetzes. Die Legisla-
tive sollte fortan zwischen der Krone, den Landtageıı und dem Reichsrat geteilt
sein, allerdings waren dessen Rechte eng begrenzt. da er nur bei Finanzfragen
mitentscheiden durfte, im übrigen aber sich mit gutachtlichen Äußerungen be-
scheiden mußte.
Das Oktoberdiplom bot allzu wenig, um .ıuf Zustimmung zu stoßen. Beson-
ders groß war die Enttäuschung in Ungarn, wo man lebhaft die Wiederherstel-
lung der Verfassung von 1848 wünschte. Aber auch in den anderen Teilen des
Die I)orıaumonarchie vor dem Verfassungsstaat 287
Habsburgerreiehes war das Echo nicht sonderlich positiv. S0 ernannte Franz jo-
sef I. Anton Ritter von Sehmerling, der 1848 für einige Monate Ministerpräsi-
dent der Provisorischen Zentralgewalt gewesen war, zum lnnnenminister. ln-
nerhalb weniger Wochen erarbeitete Schmerling zusammen mit Hans v.
Perthaler eine neue Verfassung. Sie wurde am 21. Februar 1861 in Kraft gesetzt,
offiziell als Ergänzung des Olttoberdiploms, und galt wie jenes im gesamten
Habsburgerreich.
Der Fortschritt gegenüber dem Oktoberdiplom war groß, die Donaumonar-
chie besaß fortan eine Repräsentation und war mithin Verfassungsstaat.
Es wurde ein aus Herrenhaus und Abgeordnetenhaus bestehendes Zweikam-
ınerparlament gebildet. der Reichsrat. lm Herrenhaus saßen die großjährigen
kaiserlichen Prinzen, die Frzlnischöfe Lind Bischöfe, Vertreter hervorragender
Adelsgeschlechter und eine nicht begrenzte Zahl vorı Vertrauenspairs, die der
Kaiser auf Lebenszeit berief. Die 343 Abgeordneten im anderen Hause wurden
von den Landtagen gewählt, 203 im sogenannten Cisleithanien. also in den
deutsch-slawischen Erblšindern, in Galizien, der Bukowina und in Dalmatien, -
sie bildeten den engeren Reichsrat ~, 85 in Ungarn, 9 in Kroatien, 26 in Sieben-
bürgen, 20 in Venetien. Für die Landtııge wurden neue Wahlordnungen erlas-
sen, dabei war das Wahlrecht hoehzeıısitiir. Die Wahlkreiseinteilung wurde zu-
gunsten der Detıtsclıen ausgelegt, so daß diese z.B. in Böhmen bei einem Anteil
von 40% an der Bevölkerung die Hälfte der Abgeordneten stellten. Dem Groß-
grundbesirı, verblieb eine iiberdurchsehnittlich große Vertretung, während die
Landgemeinden, Kleinadel und (šroßbauern, vergleichsweise schwach waren.
Die Kompetent/.en des Reichs rates betrafen vornehmlich den Finanzsektor, er
hatte volles Besehlulšrecht. aber der Kaiser besaß das absolute Veto und konnte,
wenn der Reichsrat nicht versammelt war. Notverordnungen erlassen; dem
nächsten Reichsrat mußten nur die Gründe und die Erfolge einer derartigen
Verfügung dargelegt werden. Der engere Reichsrat war für alle diejenigen Ma-
terien zuständig, die nicht dem gesaıııten Reichsrat überwiesen waren oder den
Landtagen oblagen.
Dureh das Fehruarp.ıtent erhielten der Großgrundbesitz. die bürgerliche
Oberschicht und der gehobene Mittelstand in Stadt und Land Mitwirkungs-
rechte. Ins Leben trat nur der engere Reichsrat, da die Ungarn den Reielısrat
von Anfang an boykottierten und auch Venetien sich weigerte, Deputierte zu
bestellen; als der Kaiser sie berief, lehnten die von ihnı Ausgewählten das Man-
dat ab. Das ııach dem (.ie,\et^/esıırtikel V von 1848 gewählte ungarische Parla-
nıent zahlte nur wenig konservative Mitglieder. Die große Mehrheit der Abge-
ordneten beharrte auf der Gültigkeit der Verfassung von 1848 und lehnte es ab.
die 85 ungarischen Mitglieder' des Abgeordnetenlıauses zu wählen. Schließlich
löste der König das Parlament im August 186! auf. Danaclı wurde im Bereich
der Steplunskrone wiederum .ıbsolutistíselı regiert, aber auf beiden Seiten war
doch prinzipiell das Interesse an einem Ausgleich gegeben.
JX. Deutschland und Habsburg im 19. jahrhunclert _ _
Österreich und Ungarn bildeten nach den beiden Gesetzen. die als Aus-
führungsgesetze zur Pr.ıgın.ıtischeıı Szınktion von 1713 verstanden wurden, eine
Personal- und auf einigen Gebieten .ıuch eine Realuninn. Genieinsain waren ih-
nen die Außenpolitik, die Verteidigung und das für beide Zwecke erforderliche
Finanzwesen. Für diese Atıfgalıen waren drei genıeinsame Ministerien zustän-
dig, deren Leiter der Kaiser berief. Ein gemeinsames Parlament gab es nicht,
vielmehr wählten der österreichische Reichsrat und der ungarische Reichstag je-
weils eine Delegation von je fıü Mitgliedern. Die Delegationen tagten jährlich
abwechselnd in den beiden Hauptstiidten getrennt und verkehrten schriftlich
miteinander. Iirgab sich nach tlreitmıligeni Schriftwechsel keine Übereinstim-
mung, so traten sie in gemeinsamer Sitzung zusammen. Sie hatten in ihrem
290_ Xμßeutschland und Habsburg im l9._]_a_hrhundert _
Die Lösung der zweiten dem aulšerordcntliclien Reichsrat gestellten Frage er-
forderte intensive Arbeit und viel Zeit. Am Ende stand ein Bündel von Geset-
zen, die zusammen die Verfassung der österreichischen Reichshälfte bildeten -
amtlich hieß dies Stzıatswesen ›Die im Reichsrat vertretenen Königreiche und
l..änder«. Dies waren das Veränderte Grundgesetz über die Reichsvertretung
und Staatsgrundgesetze über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, über das
Reichsgericht. über die richterliche Gewalt und über die Ausübung der Regie-
rungs- und Vollzugsgewalt, alle vom 2|. Dezember 1867. Schon vorab waren
Gesetze über die Ministerverantwortlichkeit und über das Vereins- und Ver-
saniınlungsrecht erlassen worden.
Struktur und Kompetenzen des neuen Reichsrates entsprachen im wesentli-
chen den Regelungen von 1861, die Vorschriften waren aber in liberalem Geist
verbessert. Die 203 Mitglieder des Abgeordnetenlmuses waren indirekt über die
Landtage zu wählen, und zwar in den vier Kurien der Großgrundbesitzer, der
Mitglieder der Hmdelsktımmern, der Stadthürger und der Landgemeinden. Es
gab etwa 1,25 Mill. Urwlihler, das waren 6% der Bevölkerung. ln die Zuständig-
keit des Reichsrntes fielen alle diejenigen Angelegenheiten, die den Koıiigreiehetı
und Ländern gemeinsam waren. D-.is waren insbesondere Handelsverträge, Mi-
litåiraııgelegenlieiteıı, die Gewerbegcsetzgebung, das Medizinnlwesen, das Staats-
bürgerreclit. die Freiheitsrechte. die koııfessionellen Verlıåiltnisse, die Grundzüge
des Unterrichtswesens. die Universitäten, das Zivil-, Straf- und Prozelšrecht und
einige andere Materien. Alle ubrigen Gegenstände der Gesetzgebung fielen den
Ländern zu. Der Reichsrat hatte das lnitimvreeht. Zu jedem Gesetz war »die
Übereinstimmung beider Häuser und die Szmktion des Kaisers erforderlich« (§ I3
des Gesetzes über die Reichsvertretung). Notverordnungen waren dem Reichsrat
nach seinem Wiederzusammentreten zur Genehmigung vorzulegen, andernfalls
erloschen sie. Die Rechte der Parlaıııentarier entsprachen dem üblichen Stand.
Der Grundrechtskatalog war ausgedehnt. Zur I;`ntscheidung bei Kompetenz-
konflikten und in streitigen Angelegenheiten des öffentlichen Rechts wurde ein
Politisches Leben in Österreich seit I867 291
te diesen Sachverhalt einst etwas resigniert auf die Formel von der Politik als
der Kunst des Fortwurstelns gebracht. Nach der Wahl von 1907 nahm Beck sic-
ben Abgeordnete in die Regierung auf, so daß die Beamten dort nur mehr eine
Minderheit stellten. Damit tat er einen bedeutenden Schritt in Richtung Parla-
mentarisierung. Er hoffte auf umfangreiche Reformen in Verfassung und Ver-
waltung, hielt dafür aber eine von demokratischem Geist erfüllte und auf lange
Fristen berechnete Innenpolitik für nötig. lnnenpolitisch war Österreich, so
kann man zusammenfassen, auf gutem Wege. Ein liberaler Beobachter meinte
damals im Rückblick auf die sechs jahrzehnte seit der Revolution, Österreich
verfalle nicht, es »richtet sich auf! In den 60iährigen Verfassungskämpfen wur-
de es möglich, den Feudalstaat wenigstens in den Gesetzbiichern zu beseitigen
und die Verfassungsprinzipien der Demokratie zum geltenden Rechte zu ma-
chen.« Das sei aber nur ein Teil dessen, »was man den vollständigen Sieg der
Volksherrschaft nennen könnte«, denn noch müßten breite Bevölkerungskreise
den richtigen Genuß der ihnen verbürgten Freiheiten lernen.'~""
UNGARN
Die innere Entwicklung Ungarns war weniger zukunftsoffen als die Öster-
reichs. Der hier iın Anschluß .tn Deıíks Ausglcichspartei regierende Liberalis-
mus hatte defensive Züge und verhielt sich mithin gegenüber einer kontinuier-
lichen Modernisierung des öffentlichen Lebens eher restriktiv. Nonıinell war
das Königreich eine konstitutionelle Monarchie. Das Parlament bestand aus
zwei Häusern, der Magnatentafel, die ähnlich dem österreichischen Herrenhaus
zusanimengesetzt war, und dem Abgeordnetenhaus. Beide Häuser verkehrten
schriftlich miteinander, der König hatte die Beschlüsse zu sanktionieren, konn-
te Seine Zustimmung aber auch versagen.
Das Wahlrecht war zensitiir, und zwar so, daß etwa 7% der Bevölkerung
stimmbereclıtigt waren. Schließlich wurde der Zensus sogar noch erhöht. Die
Wählbarkeit war an die Beherrschung der ungarischen Sprache gebunden. Die-
ses Erfordernis war Bestandteil der Nationıılitâitenpolitik, die nachdrücklich auf
Magyarisierung zielte und beachtliche Erfolge hatte. innerhalb einer Generati-
on, zwischen 1880 und 1910, stieg der Anteil der ethnischen Ungarn von nur
46% der Bevölkerung auf 54%.
Solange die am Ausgleich orientierten Liberalen, die in den 90er jahren we-
gen der Zivilehe einen lebhaften Kulturkampf trieben, die parlamentarische
Mehrheit besaßen, ließ der König tatsächlich parlamentarisch regieren. Die Si-
tuation änderte siclı Anfang 1905 gründlich. Bei den im januar abgehaltenen
294 X; Dgsehland und Habsburg im 19. jahrhundert
Wahlen siegte die Opposition, die Unabhåingigkeitspartei. Sie wollte die Bezie-
hungen zur westlichen Reichshälfte auf eine reine Personalunion beschränken
und griff damit auf die Politik der Liberalen im jahre 1848 zurück. jetzt er-
nannte der König einen Ministerpräsidenten, der keine Maiorität hatte. Die Fol-
ge war parlamentarische Obstruktion. Das Land geriet in eine sich schnell stei-
gernde Gärung, wozu auch die von der russischen Revolution dieses jahres
ausgehenden Impulse beitrugen; es gab Miıssenstreiks und Demonstrationen für
das allgemeine Wahlrecht und die Zulassung von Gewerkschaften, und auch
sonst machte sich viel Unbehagen geltend. So geriet das Parlament unter massi-
ven Druck. ln Wien begann man zu fürchten, daß die Unabhängigkeitspartei,
um sich diesem Druck zu entziehen, zur nationalen Erhebung aufrufen könnte.
Für diesen Fall hatte der Generalstab schon einen Fall ›U< vorbereitet, einen
Feldzugsplan gegen Ungarn, und am 8. Oktober wurden die für seine Umset-
zung erforderlichen Operationsbefehle den Korpskommandanten in Ungarn
übermittelt. Die Wiener Befürchtungen waren glücklicherweise unbegründet.
Im Februar 1906 konnte der König den Reichstag sogar militärisch auflösen las-
sen. Wenig spater verstiindigte sich die Opposition mit ihm und übernahm die
Regierung, bis im januar 1910 wieder ein liberales Ministerium antrat.
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