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zeitschrift in eigener sache
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In eigener Sache
Liebe Leserinnen und Leser, Stadtvierteln, wo die Professoren leben, unterzubrin-
gen und Sitzstreiks aus Protest gegen das schlechte
„Warum unsere Studenten so angepasst sind“ war Mensaessen zu veranstalten. Ergo ein Rebell, wie er im
der Titel einer öffentlichen Veranstaltung, die am 29. Buche steht.
Januar an der Universität Bonn stattfand. Ausgerich- Weil Thiel also nicht zu den Angepassten gehört, ist
tet wurde die Podiumsdiskussion nicht etwa vom SDS er besonders berufen, auch heikle Themen der Zeit an-
oder der Grünen Hochschulgruppe, sondern vom zupacken. Das wissen auch seine Chefs, deshalb haben
Rektor der Universität, Prof. Dr. Jürgen Fohrmann. sie ihm die verantwortungsvolle Aufgabe übertragen,
Der ist zwar Geisteswissenschaftler und insofern qua in der FAZ jeweils die öffentlich-rechtliche Talkshow
Profession auf Studenten angewiesen, die nicht voll- vom Vorabend zusammenzufassen und zu kommentie-
ends borniert sind, aber auch Jens Mutke, Dozent ren. Anfang April etwa berichtete er über eine Sendung
des Nees-Instituts für Biodiversität der Pflanzen, und von Sandra Maischberger, die sich selbstverständlich
Ministerialdirigent Peter Greisler, ein studierter Jurist, „kritisch“ mit der selten dummen Frage auseinander-
waren sich einig, dass die Studenten zu langweilig sind. gesetzt hatte, ob sich die Deutschen siebzig Jahre nach
Sie wollten einfach nur noch Ehe, Hund, Kind, Kar- Kriegsende als Opfer betrachten dürfen. Wer es denn
riere und Reihenhaushälfte haben, während soziales verbieten sollte, wurde ebenso wenig erläutert wie die
Engagement allein als soft skill zur Aufbesserung des Tatsache diskutiert, dass die Deutschen sich spätestens
Lebenslaufes in Betracht komme. Auch die Frankfur seit dem 8. Mai 1945 – eigentlich schon seit 1918 – re-
ter Allgemeine Zeitung monierte: „An Vorschriften hält gelmäßig als Opfer inszeniert haben. Thiel fiel all dies
man sich willig, man fordert sie sogar, um frei für die nicht auf. Stattdessen fand er „eindrucksvoll“ darge-
Wahl des Mobilfunktarifs zu sein. Politisches Interesse stellt, „warum viele Deutsche den 8. Mai erst sehr viel
hat man an dem, was in emotionaler Nähe zum Alltag später als jenen ‚Tag der Befreiung‘ betrachten konn-
liegt oder was sich – Stichwort nachhaltiger Konsum ten, als den ihn Richard von Weizsäcker 1985 in seiner
– mit Lifestyle-Aspekten verbinden lässt. Schon lange epochalen Rede bezeichnete. Das subjektive Gefühl
vor Berufseintritt sind diese Studenten perfekte Ange- nach Kriegsende war eine Mischung aus Schuldge-
stellte, wie sie sich Arbeitgeberverbände nicht besser fühlen, Angst vor Rache und Verwunderung über das
wünschen können.“ unverhoffte Überleben. Erhard Eppler, der die deut-
Feuilletonredakteur Thomas Thiel, der das auf- sche Kapitulation als Wehrmachtssoldat erlebte und
geschrieben hat, ist Jahrgang 1975 und hat laut Ver- sich auf einem achtzehntägigen Fußmarsch nachhause
lagsinformation Germanistik, Geschichte und Kultur- über die neue Situation klar wurde, vermittelte davon
wissenschaft in Heidelberg, Paris und Berlin studiert, einen lebendigen Eindruck.“ Zwar hat Thiel dank der
bevor er 2005 als Volontär zur FAZ kam. Nach zwei Gnade der späten Geburt die Landsergeschichten aus
Jahren Volontariat trat er in die Feuilletonredaktion dem Schützengraben vermutlich nicht mehr ertragen
ein – offenbar dank guter Führung. Thiel ist ein gutes müssen, um so faszinierter zeigte er sich aber von ei-
Beispiel für kritisch denkende junge Intellektuelle, die ner Opfergeschichte, in der die deutsche Jugend noch
spätestens an der Universität begonnen haben, wild nicht angepasst war, sondern aus Angst vor jüdischer
herumzuvögeln, Fahrradreifen von blöden Dozenten Rache um ihr unverhofftes Überleben kämpfte.
zu zerstechen, Haschisch zu konsumieren, Bücher jen- Einen Monat später diskutierte Günther Jauch mit
seits des akademischen Einheitsbreis zu lesen, provo- seinen Gästen über Oskar Gröning, der von 1942 bis
zierende, weil den Nerv der Zeit treffende Flugblätter 1944 als SS-Unterscharführer im Konzentrations- und
zu verteilen, Demonstrationen gegen die Wohnsitu- Vernichtungslager Auschwitz „tätig“ war und endlich
ation zu organisieren, Flüchtlinge in den hübschen wegen Beteiligung am Mord in 300.000 Fällen ange-
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Editorial
es dem Prozess gegen den ukrainischen Lageraufseher Bestellung und Bezahlung sind ausschließlich im Voraus
bar über den Postweg möglich. Auch Spenden nehmen
John Demjanjuk vor vier Jahren vorgehalten worden wir auf diesem Weg gerne entgegen. Einschreiben werden
war.“ Unwürdig, versteht sich, weder für die deutsche nicht angenommen. Einzelausgaben versenden wir grund-
sätzlich nicht.
Justiz noch für Demjanjuks Opfer, sondern für den
zum liebenswerten Rollator-Opi stilisierten Schlächter Die Artikel spiegeln die Meinung der Autoren wieder und
müssen nicht mit der der Redaktion übereinstimmen.
selbst.
Zum Glück hat der nonkonformistische Herr Die Redaktion haftet nicht für unverlangt eingesandte Ma-
nuskripte. Textvorschläge können per E-Mail eingesandt
Thiel im Studium aufgepasst. Er kennt sich aus, werden.
weiß, worüber er schreibt. Und wie man es schreibt.
Souverän schwadroniert er daher über „fünfzig Aus-
www.prodomo-online.org
schwitz-Überlebende“, die „Rampe von Ausschwitz“
und das, was Juden in „Ausschwitz“ erlebt haben.
Thiels Message: Zum Glück gibt es noch kritische Ju-
gendliche, die sich von den studentischen Mitläufern
abheben. Nazis, ihr habt ausgeschwitzt.
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Inhaltsverzeichnis
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eiertanz
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eiertanz
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eiertanz
nem Vorhaben abzubringen oder zu- geln, ständig das Wort „Islamophobie“
mindest einzuschüchtern. Mehr kann im Munde.
kritische Theorie, die notwendig inter- Der deutsche Staat jedoch glaubt
ventionistisch gestimmt ist, nicht aus- noch immer, durch Handelsbeziehun-
richten, will sie ihr aufklärerisches Erbe gen, diplomatisches Appeasement und
nicht preisgeben; zugleich aber bedeu- Outsourcing des Islamismus ruhig sei-
tet das, gegen den Islam nicht wirklich nen Geschäften nachgehen zu können.
etwas ausrichten zu können. Konsequenterweise will man arabische
Diese Ohnmacht muss bewusst Terroristen wahlweise abschieben oder
gemacht werden, ohne dass dies eine in ihrer Reisefreiheit beschränken –
Rechtfertigung dafür wäre, die be- nicht, weil man fürchtet, sie könnten
scheidenen Waffen zu strecken, über in Syrien Verbrechen begehen, sondern
die man dann eben doch noch ver- weil sie irgendwann nach Deutschland
fügt. Angesichts der Vernichtungswut zurückkommen. Um seine Politik ideo-
und des imperialistischen Anspruchs logisch zu rechtfertigen, zieht der Staat
des islamischen Faschismus käme das sich seit eh und je Geisteswissenschaft-
Verstummen einer gleichsam suizi- ler heran, die ein feines Gespür für die
dalen Kapitulation gleich. Es mag im Nöte der Nation haben. Bezogen auf
scheinbar sicheren Deutschland albern den Islam werden die plumpen Apolo-
klingen, aber der „Islamische Staat“, geten, die in den letzten Jahren so sehr
Hamas, Hisbollah, Al Kaida, Boko genervt haben, zunehmend unbrauch-
Haram und nicht zuletzt der Iran sind bar. Es bedarf Theoretikern, die den
Europa näher, als so mancher glaubt. Eiertanz beherrschen, die also auf der
Diese Wahnsinnigen kennen allen- einen Seite Islamismus, Antisemitismus
falls temporäre Waffenstillstände, ihr und Sexismus ablehnen, auf der ande-
Endziel ist – das sprechen sie immer ren Seite aber den Appeasementkurs der
wieder aus – die Weltherrschaft. Man Regierung zu legitimieren in der Lage
sollte sich nicht täuschen und nicht be- sind. All jene, die dazwischenfunken
schwichtigen lassen: Auch wenn es dem und die Islamisten durch ungebühr-
IS nicht gelingt, die schwarze Fahne liches Verhalten „provozieren“ könn-
auf dem Weißen Haus zu hissen, wie er ten, müssen stillgestellt, die Kritik am
vollmundig verkündet, so kann er doch islamischen Terror in staatsmännische
mit relativ einfachen Mitteln Angst, Hände unter universitärer Aufsicht ge-
Schrecken und Tod auch in Europa geben werden.
verbreiten. Was schon jetzt in Nord
afrika und im Nahen Osten geschieht, Ein Ideologe bewirbt sich
ist ein gigantischer Massenmord. Dieses
Grauen kleinzureden, indem die Islam- Einer, der sich hierfür seit einigen
feindlichkeit, die in eben jenem Grauen Jahren besonders eifrig bewirbt, ist Flo-
auch einen rationalen Grund hat, allen ris Biskamp. Er war jahrelang im an-
Ernstes zur ebenbürtigen Gefahr erklärt tideutschen Umfeld unterwegs und hat
wird, ist eine Form der Verdrängung, dort gelernt, dass Antizionismus und
die dem islamischen Faschismus sein Islamismus schlecht, der „Westen“ und
Werk erleichtert. Nicht zufällig füh- der Rechtsstaat aber gut sind. Die An-
ren die salafistischen Prediger, die in tideutschen als intellektuelle Avantgar-
Deutschland durch die Talkshows tin- de des deutschen Weges in den postna-
zistisch-postnationalen Westen haben
nolens volens Figuren wie ihn hervorge-
bracht, die sich besonders für den (frei-
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Eiertanz
lich prekären) Posten des Staatsideo- gelohnt hat: Wie in akademischen Qua-
logen eignen. Doch Biskamp ist noch lifikationsarbeiten üblich, referierte er
in der Probezeit, er muss noch unter zunächst die verschiedenen Rassismus-
Beweis stellen, dass er kein Kommunist theorien, die in „der Forschung“ kur-
mehr ist, sondern nur die „legitimen sieren. Selbstverständlich – das gehört
Anteile“ der antideutschen Kritik auf- zum Ritual dazu – seien diese Theorien
gesaugt hat. Und so nutzt er jede Ge- alle mangelhaft, weshalb er eine eige-
legenheit, sich von seinen ehemaligen ne vorlegen müsse, die die Stärken der
Genossen zu distanzieren und zugleich anderen vereine und deren Schwächen
seine Tauglichkeit für Staatszwecke un- vermeide. Wie instrumentell er dabei
ter Beweis zu stellen. Weil das nicht vorging, hatte schon etwas Hemdsär-
ausreicht, klatscht er unter jedes Elabo- meliges: Allzu offensichtlich war, dass
rat, das er verfasst, noch den Hinweis, eine Rassismusdefinition gefunden
dass er bald ein akademisch zertifizier- werden sollte, die das israelsolidarische
ter Denker sein wird: „Floris Biskamp Bündnis auf Biegen und Brechen der
promoviert [sic!] über kritische Theorie, Ausländerfeindlichkeit überführte. Das
Postcolonial Studies und antimuslimi- gelang zwar nicht, weil sich der Gegen-
schen Rassismus in Deutschland“. stand trotz allen Bemühens beharrlich
Bevor es soweit ist, verlegt sich Bis- der Manipulation verweigerte, aber
kamp aber auf linke und linksradikale Biskamp hatte zumindest gezeigt, dass
Medien, die ihn drucken, weil sie den er ein großer Theoretiker ist, der weiß,
Jargon auch gern so gut beherrschen wovon er spricht.
würden wie er selbst. Ohne Frage strebt Ohne sich um die vorherigen Aus-
Biskamp nach Höherem: Es soll nicht führungen zu scheren, ging Biskamp
die Phase 2 sein, sondern eines Tages dann zur Textexegese über und analy-
einmal die Zeit oder die Süddeutsche sierte den Aufruftext der Demonstrati-
Zeitung. Einen Vorgeschmack gab er on sowie die dort verlesenen Redebei-
Ende November auf dem journalisti- träge: „Das mindeste, was man sagen
schen Nachwuchsblog Publikative.org, kann, ist, dass die Autor_innen sich
das unter dem vielsagenden Motto „Die keinerlei Mühe gegeben haben, diffe-
vierte Gewalt klärt auf!“ von der Ama- renzierende Formulierungen zu wählen.
deu Antonio Stiftung betrieben wird Liest man den Aufruf, findet man kei-
und 2013 völlig zurecht den Alterna- nen Hinweis darauf, dass es innerhalb
tiven Medienpreis erhalten hat. Unter der islamischen Tradition Brüche, Spal-
dem Titel „Abgründe der Israelsolidari- tungen, Differenzen und Dynamiken
tät“ rechnete Biskamp mit den Organi- gibt, oder gar darauf, dass individuelle
satoren der Kölner Demonstration „Es Muslim_innen vielfältige Möglichkei-
gibt kein Menschenrecht auf Israelkri- ten haben, sich zu dieser Tradition zu
tik!“ ab, die gegen die antizionistischen positionieren.“ Biskamp warf also dem
Aufmärsche im Sommer 2014 gerichtet Bündnis vor, undifferenziert zu sein
gewesen war. Genau wie der bereits er- und die Existenz eines nicht-antise-
wähnte Weiermann behauptete auch mitischen Islams unerwähnt zu lassen.
Biskamp, das temporär bestehende Dass ein Aufruftext nicht dazu gemacht
„Bündnis gegen Israelkritik NRW“ (in ist, alle Möglichkeiten und Eventuali-
dem die GWG Mitglied war) sei „ten- täten zu berücksichtigen, sondern sich
denziell rassistisch“. Um diesen ja doch notwendig polemisch zu seinem Ge-
harten Vorwurf zu begründen, führte genstand verhält, weil er die Menschen
Biskamp weitschweifig vor, dass sich zum Selbstdenken bewegen will, blieb
sein Studium der Politikwissenschaft Biskamp verborgen. Er kann sich Texte
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Eiertanz
nur als Forschungsarbeiten denken, in sein kaum je mehr ist als das typisch
denen der Autor seine souveräne Ver- dauerbeleidigte, immer schon jeder
fügungsgewalt über die Realität unter Verantwortung ledige Gruppengefühl.
Beweis stellt. Überhaupt will jeder Eifer – insbeson-
Viel hatte Biskamp bis zu diesem dere der aktuelle, rasende Eifer des welt-
Satz noch nicht erreicht, obwohl er weit angreifenden Islam – den Stachel
an dieser Stelle doch schon eine hal- eines weniger drohenden als hinterrücks
be Bachelorarbeit verfasst hatte: Un- längst geschehenen Glaubensverlustes
differenziertheit ist kein Rassismus. kompensieren.“ Mit anderen Worten:
Deshalb bescheinigte Biskamp dem Muslime wurden nicht für ihr abstrak-
Bündnis eine „homogenisierende und tes Muslimsein kritisiert, sondern dafür,
entmenschlichende Sprache“: Es gehe was – global betrachtet – die Mehrheit
nicht an, Muslime, die gegen Israel konkret darunter versteht: Die von
auf der Straße randalieren, „Lumpen“, Gott gegebene Ermächtigung zu Ter-
„Brüller“ und „Mob“ zu nennen. Was ror, Entrechtung, Antisemitismus. Wer
daran „entmenschlichend“ ist, wo doch differenziert, sollte nicht unerwähnt
nur ein Mensch, nicht aber ein Affe ein lassen, dass Osama bin Laden, Hassan
„Lump“ sein kann (brüllen können sie Nasrallah und wie all die schrecklichen
beide) und eine Herde kein Mob ist, Figuren so heißen, in der muslimischen
musste er nicht verraten, weil niemand Welt als Helden gefeiert werden – und
nachfragte. „Homogenisierend“ war der zwar nicht von einer minoritären Sekte,
Aufruf nur insofern, als er alle, die sich sondern von Millionen Muslimen, auch
positiv auf den Dschihad beziehen, de- in Deutschland.
nunzierte. Das liest sich etwa so: „Bei Biskamp aber resümierte: „Man
den meisten der Jünglinge wird der kann in dem Aufruf nichts über Pro-
Alltag nicht so sehr von Moscheebesu- bleme im Islam erfahren, sondern nur
chen als von schlechtem Hiphop und Hass auf den Islam als Ganzen lernen.
stupidem Krafttraining geprägt sein. Es wird keine Kritik geübt, sondern
Bei den Mädchen wäre großteils von eine kollektive Selbstvergewisserung in
einem möglichst sorgfältigen Kontroll- Sachen Gesinnung vorgenommen. Die
regime über ihr Leben auszugehen, das Muslim_innen werden hier zu einer ho-
bei manchen von ihnen in totale Af- mogenen, gefährlichen, zu bekämpfen-
firmation, totale Identifikation, totale den Masse von Ungeheuern stilisiert,
Selbstnegation – arabisch ‚Dschihad‘ der Islam zur einer radikal abzuschaf-
– umschlägt. Deutlich zu sehen bei fenden mörderischen Ideologie.“ Sind
den verschleierten Fanatikerinnen, die Terror und Entrechtung etwa keine
etwa in Köln die schwarze Flagge des „Probleme im Islam“? Ist das Anpran-
dschihadistischen Terrors über ihren gern von Judenfeindschaft „keine Kri-
Köpfen schwangen, dem Symbol ihrer tik“? Von Biskamp jedenfalls ist über
totalen Entrechtung als Frauen. Der os- diese „Probleme“ nicht viel zu hören.
tentative Muslimeifer aber, der sich im Zu groß ist die Gefahr, undifferenziert
Alltag mancher ‚Allahu-Akbar‘-Brüller zu werden. Den Begriff der „antisemi-
vielleicht doch sehr in Grenzen hält, tischen Gesellschaft“, der von Adorno
findet im blanken Judenhass unverhoff- und Horkheimer in der Dialektik der
te Nahrung, wo ihnen unter unendlich Aufklärung verwendet wird, muss er
öden Koranrezitationen und geistlosen, ablehnen. Antisemitisch, so insinuiert
absurden Vorschriften längst das biss- Biskamp, kann nur ein Individuum
chen ungeglaubten Glaubens zwischen sein, dabei sämtliche Erkenntnisse der
den Fingern zerrann und ihr Muslim- Massenpsychologie vergessend, die dar-
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Eiertanz
auf verweisen, dass Judenfeindschaft ein mit den Stimmungen und Meinungen
Kitt ist, der noch die heterogensten In- spielt und jegliche Gewissheit aufzu-
dividuen zur Masse, zum „Mob“ homo heben gedenkt, um tun zu können,
genisiert. An dieser Homogenisierung was je gerade „sachlich erforderlich“
soll aber weder die Ideologie noch die ist. Die Absage an einen substantiellen
autoritäre Gemeinschaft schuld sein, Wahrheitsbegriff ist auch mit einem
aus der die Antisemiten kommen, son- politischen „Anything goes“ verknüpft,
dern der Antisemitismuskritiker, der das nur noch dem anonym wirkenden
unzulässigerweise durch seine Sprache „Sachzwang“ gehorcht, der selbst nicht
aus Einzelnen eine undifferenzierte wahrheitsfähig ist. Die Aufspaltung der
Masse macht. Welt in heterogene Differenzen, die
nichts vereint außer ihre Nichtidentität
Ontologie des Antiessentialismus – das Bezogensein auf die reine Negati-
vität, den Wert –, ist ein geistiger Nach-
Zu Biskamps heiliger Trias „Undif- vollzug des Zerfalls der Gesellschaft in
ferenziertheit“, „Entmenschlichung“ widerstreitende, aber sich die Beute
und „Homogenisierung“ gesellte sich „pragmatisch“ teilende Rackets.
aber noch ein vermeintliches viertes Die Ontologie der reinen Diffe-
Merkmal von Rassismus, das einen klei- renz, wie sie von Derrida und anderen
nen Exkurs erfordert: Die Rede ist von Postmodernen gepredigt wird, ist somit
der berüchtigten „Essentialisierung“. etwas völlig anderes als Adornos Philo-
Die ist in den Universitäten verboten, sophie des Nichtidentischen, die nicht
seit jemand spitz gekriegt hatte, dass einseitig gegen die synthetisierende und
Platon nicht mehr den „state of the subsumierende Allgemeinheit des Be-
art“ der Erkenntnistheorie abgibt. Post- griffs Stellung bezog, sondern das, was
modernen Ideologen ist es tatsächlich in ihm nicht aufgeht, zu retten bestrebt
gelungen, den philosophischen We- ist. Während Adorno mit dem Begriff
sensbegriff einfach mit jenem zeitent- gegen den Begriff denkt, setzt die Post-
hobenen unveränderlichen Himmels- moderne autoritär und eigentlichkeits-
wesen schlechthin gleichzusetzen und fixiert die angeblich ursprüngliche Dif-
damit all jene anrüchig oder zumindest ferenz voraus, affirmiert sie (und damit
alt (in der Universität ist das dasselbe) das Bestehende) und stellt ihr abstrakt,
erscheinen zu lassen, die sich nicht zum strukturell bereits antisemitisch, ein All-
antiessentialistischen „Anything goes“ gemeines gegenüber, das mit der Macht
der Postmoderne bekennen. Dass gera- o.ä. identifiziert wird. Dass die Philoso-
de Hegel den Wesensbegriff zutiefst his- phie der différance, ihrem Vater Heideg-
torisch-genetisch verstand, muss igno- ger folgend, essentialistischer ist als es
riert werden, um die philosophischen Hegel und Marx je sein konnten, ficht
Nebelkerzen weiter zünden zu können. deren Verfechter nicht an. Was „Diffe-
Die Ablehnung des Wesensbegriffs aber renz“ oder „Vielfalt“ heißt, könne, auch
ist eins mit der Absage an begriffliches wenn es an sich so unbestimmt bleibt
Denken, letztlich an das Denken als wie beim „Hitler des Denkens“ nur
synthetisierendes (also verstehendes) das „Sein“, partout nichts wesenhaftes
Prinzip schlechthin. Sie entspricht letzt- sein. Der unfreiwillige und verborgene
lich dem politisch geforderten Eiertanz, Essentialismus der Postmoderne macht
der die divergierenden Interessengrup- das Begreifen unmöglich, weil er die Be-
pen in der postnazistischen Demokra- ziehung zwischen Allgemeinem, Beson-
tie nicht mehr zum Ausgleich bringt derem und Einzelnem nicht mehr zu
oder zum Kompromiss nötigt, sondern thematisieren vermag. Wenn nur noch
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Eiertanz
Vielfalt herrscht und Einzelnes und nicht, stattdessen zerfiel die Gesellschaft
Allgemeines gewaltsam auseinanderge- in Rackets, die miteinander um Macht
rissen werden, bleibt die Verstandesleis- und Reichtum rangen. Diese Dis
1
Vgl. dazu Alex Gruber/
Philipp Lenhard: Gegenauf tung des begreifenden Subjekts auf der integration der Gesellschaft korrespon-
klärung. Der postmoderne Strecke und die scheinbar ursprüngli- dierte mit der totalen Integration des
Beitrag zur Barbarisierung che Differenz wird zum Mythos. Nicht Individuums, das als Vereinzeltes nicht
der Gesellschaft. Freiburg i. nur dem Begriff des Allgemeinen, das mehr überleben kann, sondern sich den
B. 2011. ja ein noch einzulösendes ist, wird Ge- Rackets anschließen muss. Die vermitt-
walt angetan, auch dem Besonderen, lungslose Vielfalt, der sich der Einzel-
2
Philipp Lenhard: Die Kon
traktion des Kapitals. Über dessen Unglück darin besteht, nur ein ne ausgesetzt sieht und die durch den
legungen zum Charakter der Besonderes zu sein, und das sich, weil „Wert heckenden Wert“ (Marx) repro-
Totalität im Spätkapitalis es kein versöhnendes Ganzes gibt, dem duziert statt aufgehoben wird, stellt sich
mus, in: Prodomo, Nr. 16 schlecht-Allgemeinen, dem Racket als Schicksal dar, dem nicht zu entkom-
(2012). nämlich, anschließen muss. men ist. Nur durch Affirmation, durch
3
So „modern“ die Islamis-
Dass die Postmoderne, wie bereits unbedingten Anpassungswillen kann es
ten damit sind, so wichtig ausgeführt, nicht nur eine philosophi- dem Individuum scheinbar noch gelin-
ist es, angesichts der allge- sche Denkschule ist, sondern in vie- gen, auf der Seite der Sieger zu stehen:
meinen Verdrängung da- lerlei Hinsicht Objektivität für sich zum Siegen aber ist es verdammt. Der
rauf hinzuweisen, dass sie beanspruchen kann, weil die schlechte islamische Faschismus steht wie der
damit selbstverständlich Wirklichkeit ihr tatsächlich entgegen- Nationalsozialismus für solch eine Her-
an die islamische Tradition
anschließen können. Die
kommt, zeigt sich auch daran, dass der renmenschenideologie, die die Vielfalt
Islamisten verstehen den islamische Faschismus, der mit säku- der Rackets im Kampf gegen die Ju-
Koran und „missbrauchen“ laren Denkern wie Derrida, der auch den entfesselt und der allseitigen Kon-
ihn nicht. Das besagt aller- noch jüdischer Abstammung war, ei- kurrenz damit eine Richtung gibt. Der
dings nicht, dass man sich gentlich nichts zu schaffen haben will, Gottesbegriff der Islamisten entspricht
aus dieser Tradition nicht
ohne größere Schwierigkeiten in den solcherart dem des Seins bei Heidegger
auch einen anderen mo-
dernen Islam basteln kann, postmodernen Kategorienapparat ein- oder dem des Schicksals bei Hitler, die
wenn man es denn will. Der gepasst werden kann.1 Das hat nichts ebenfalls eine vorgängige, mythische
Fantasie sind in dieser Hin- mit einer Verschwörung zu tun, son- und für die menschliche Ratio unein-
sicht keine Grenzen gesetzt. dern hat seinen Grund in der Krisis holbare Einheit des Mannigfaltigen
kapitalistischer Vergesellschaftung. Je (des Seienden) postulierten, der sich
unübersehbarer wird, dass der Wert der Einzelne zu unterwerfen habe.3 Der
keine positive Synthesis ist, sondern ein Islam ist aus historischen Gründen die
Unwesen, „ein gesellschaftliches Ver- Religion des Rackets par excellence,
hältnis, in dem die heterogenen Teile weil schon Mohammed die heterogene
nur durch ihre Lebensnot aufeinander Vielheit der arabischen Stämme mittels
bezogen bleiben“2, um so mehr verfällt einer Feinderklärung zur Einheit zu-
auch die bürgerliche Ideologie des Li- sammenschweißte, die ihren materiel-
beralismus, die noch von dem Gedan- len Grund im Kampf um Kriegsbeute
ken beseelt war, das Zusammenwirken hatte. Darin geht der Islam selbstver-
der Vielen ergebe letztlich – wenn auch ständlich nicht auf, aber dieses konsti-
über Widersprüche vermittelt – ein tutive Moment macht ihn für die Krie-
harmonisches Ganzes. Schon Marx ger der Gegenwart so attraktiv.
hatte mit diesem Glauben aufgeräumt,
war aber davon ausgegangen, dass das Die Rehabilitation Heideggers
Proletariat als Klasse der Ausgeschlos-
senen das harmonische Ganze in spe Sind nicht wenige postmoderne
verkörpere und revolutionär verwirkli- Denker also aus ganz „philosophi-
chen werde. Bekanntlich kam es dazu schen“ Gründen vom radikalen Islam
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Eiertanz
fasziniert, so kann es auch nicht ver- jedoch schon darin bestanden haben
wundern, dass ein Bedenkenträger wie könnte, überhaupt darüber zu diskutie-
Floris Biskamp, der jegliche begriffliche ren, ob Heideggers Philosophie natio-
Islamkritik als rassistisch verunglimpft, nalsozialistisch ist, wo dies doch bereits
die Ontologie des Antiessentialismus hinlänglich bewiesen ist, sprengt ihren
für sich entdeckt hat. In einem kürzlich Denkhorizont. Nach den Büchern von
erschienenen Artikel, den er gemein- Schneeberger (1962), Adorno (1964),
sam mit dem Stammtischphilosophen Farias (1987), Wolin (1991), Faye
Sebastian Schreull in der Phase 2 ver- (2005) und vielen anderen noch ein-
öffentlicht hat, erläuterte er sein Ver- mal darüber zu diskutieren, ob Heideg-
ständnis von kritischer Theorie. Dieses gers Philosophie nationalsozialistisch
Mal ging es nicht um den Islam, son- ist, entspricht in etwa dem legendären
dern um die Postmoderne, aber der Ge- Titanic-Titelcover „Schrecklicher Ver-
genstand ist vollkommen unerheblich, dacht: War Hitler Antisemit?“. Offen-
denn immer wiederholt sich dasselbe bar geht aber noch immer eine – in der
Muster. Sache begründete – Faszination von
Schreull, der seine Inspirationen Heidegger aus, der als prototypischer
regelmäßig auf dem Blog „Wonnegrau- Philosoph der Unmittelbarkeit Wärme,
sen“ veröffentlicht, hält sich für einen Orientierung und Halt verspricht, wo
großen Denker, der in immer neuen längst schon kein Sinn mehr auszuma-
Anläufen dem imaginierten Publikum chen ist. Der vermittlungslosen Viel-
beweisen muss, dass er sich viel besser falt der spätkapitalistischen Gesellschaft
mit Adorno und dem Poststrukturalis- wird ein gemeinsamer Grund – das
mus auskennt als Alex Gruber, Gerhard Sein – unterstellt, der nicht nur festen
Scheit und andere ideologiekritische Boden unter den Füßen bereitstellt,
Autoren, die in den letzten Jahren die sondern die Bestimmungslosigkeit und
Postmoderne so schmerzhaft seziert ha- Leere der Partikularitäten gewisserma-
ben. Wie Biskamp in seinem Großan- ßen beseelt; eine mystische Kraft, die
griff auf die begriffliche Islamkritik nur dem Einzelnen – welcher bei Heideg-
noch Lippenbekenntnisse gegen den ger als unwesentliches Moment tref-
antisemitischen Terror zustande brach- fend, wenn auch affirmativ gefasst wird
te, so beginnt auch die Verteidigung – nicht nur seinen inferioren Status in
der Postmoderne mit einer Apologie der Seinsordnung zuweist, sondern ihn
Martin Heideggers. Weil Gruber et al. auch noch ganz und gar als das zu set-
immer wieder auf den Ursprung der zen vermag, was in Wahrheit nur das
Postmoderne in der nationalsozialisti- gesellschaftliche Verhältnis Kapital ver-
schen Existentialontologie Freiburger mag: als bloße, verschwindende, jeder-
Bauart hingewiesen haben, bemühen zeit austauschbare Funktion des Seins.
sich Biskamp und Schreull, Heideg- Das Nichts als Sein oder, was dasselbe
ger als Denker zu rehabilitieren. Das ist: den Wert als Subjekt zu denken,
Nichtverstehen leistet ihnen dabei un- ist zwar schlechthin unmöglich, aber
schätzbare Dienste: Hatten Gruber und gleichsam zwingend. Und nur weil
Scheit in einem in der Jungle World ver- Heideggers Philosophie der konsequen-
öffentlichten Aufsatz die „Inszenierung teste Ausdruck notwendig falschen Be-
der Debatte“ um Heideggers Schwarze wusstseins ist (das allerdings impliziert
Hefte beklagt, so weisen Biskamp und Fetischismus und fanatische Bejahung),
Schreull darauf hin, dass etliche Zei- wird diese überhaupt noch immer im
tungen Heideggers Antisemitismus klar Fach Philosophie behandelt anstatt, wie
verurteilt haben. Dass die Inszenierung es eine Autorin der Washington Times
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EIERTANZ
schon vor ein paar Jahren forderte, nur die größte Provokation dar. Der „Ver-
noch in den Geschichtswissenschaften steifung auf die je erreichte Existenz“,
als Quellentext neben Hitler, Rosen- also dem pragmatischen Sicheinrichten
berg und Goebbels. in der Welt, setzt Heidegger das verfüh-
Schreull und Biskamp aber fordern rerische Motto entgegen, das auch die
eine „immanente Kritik“ Heideggers Kämpfer vom „Islamischen Staat“ um-
und meinen damit im Stile der Juni- treibt: Einfach mal loslassen und sich
us-Einführungsbände die gedankliche hineinreißen lassen in den unermüdli-
wie terminologische Reproduktion chen Strom des Seins.
von Sein und Zeit. Hatten Gruber und Biskamp und Schreull können ei-
Scheit das „Sein zum Tode“ als Vernich- nen Nazi nur erkennen, wenn er „Sieg
tungswahn entschlüsselt, so wenden die Heil!“ oder „Der Führer schützt das
Immanenzkritiker treudoof ein: „‚Sein Recht!“ schreit. Aber selbst dann noch
zum Tode‘ klingt nach jener Parole, mit fordern sie eine „immanente Kritik“, ist
der Antisemiten ihrem Vernichtungs- ihnen doch jede politische Urteilskraft
willen Ausdruck verliehen [sic!]: ‚Ihr abhanden gekommen. Dass man Hitler
liebt das Leben, wir lieben den Tod!‘ oder al-Bagdadi nicht durch immanen-
Schlägt man jedoch Sein und Zeit ein- te Widersprüche ihrer „Philosophie“ als
mal auf, zeigt sich, dass diese ‚Inter- Barbaren überführen muss, sondern es
pretation‘ mehr als nur gewagt ist. Das vollkommen ausreicht, ihnen zuzuhö-
‚Sein zum Tode‘ ist Reflexionstitel für ren und zuzusehen, können Biskamp
ein Selbstverhältnis, in dem sich das und Schreull nicht akzeptieren. Für
Dasein als einzelnes begreife: Weil ich alles bedarf es einer Forschungsarbeit,
nun einmal für mich allein sterbe und die so lange alles in seine Einzelteile
den Tod nicht als Einzelner erfahre, da zerlegt, bis kein wahrheitsfähiges, weil
ich mit seinem Eintreten überhaupt aufs Ganze gehendes Urteil mehr mög-
nicht mehr bin, kann ich meinen eige- lich ist. Laut rufen sie aus, Heidegger
nen Tod nicht als etwas verdinglichen, sei schließlich – anders als Hitler – ein
von dem ich mich bloß fürchten könn- Philosoph! Wo aber der kategorische
te, wie vor etwas, das mir als etwas Äu- Unterschied zwischen Mein Kampf und
ßeres oder ‚Dingliches‘ zustößt.“ In der Sein und Zeit liegen sollen, vermögen
Tat: Wer Sein und Zeit „einmal“ auf- sie nicht anzugeben.
schlägt und sich nicht die Mühe macht, Doch all dies ist nur ein Vorspiel,
über das, was er da liest, nachzudenken, um die eigentlichen Helden zu retten:
der erkennt auch nicht die Barbarei, die Die Postmodernen, die gar keine sei-
im „Sein zum Tode“ lauert. Die eigene en, weil sie – wir kennen dieses Muster
Existenz als Vorlauf zum Tod denken, bereits – alle so unterschiedlich, so he-
ja, zu „erfahren“, bedeutet eine radikale terogen und widersprüchlich seien. Die
Absage an das irdische Glück, aber auch gemeinsame Bezugnahme ausnahmslos
an die Vernunft, der durch den Tod als aller postmodernen Denker – seien es
Ziel allen Daseins gleichsam das Rück- Foucault, Lyotard und Derrida oder die
grat gebrochen wird. Dass der bewuss- vermeintlichen Postmodernekritiker
te Widerstand gegen den Tod, welchen Badiou, Agamben und Žižek – auf Hei-
man zwar nicht selbst erfahren kann, degger indiziert zwar eine gemeinsame
sehr wohl aber den damit verbundenen philosophisch-ideologische Grundlage,
Schmerz, die Voraussetzung für dieses aber auch hier muss um jeden Preis ver-
Glück ist (auch wenn es sich nicht ein- mieden werden, zu einem Wesensbe-
stellen sollte), stellt für einen virtuellen griff der Postmoderne zu gelangen. Ein
Selbstmordattentäter wie Heidegger gemeinsames Wesen, und sei es nur im
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D er als surrealistischer Klassiker und ihrer Kollaborateure und gegen Martin Jay: Den Blick er
1
etablierte Film Un chien andalou die Ästhetisierungen des Politischen zu widern. Die amerikanische
(Ein andalusischer Hund) von Dalí und setzen. Begeistert zitierte mancher 68er Antwort auf die französische
Kritik am Okularzentris
Buñuel ist berühmt wegen der durch- gegen diesen „materiell bedingten ‚Tri- mus, in: Christian Kravagna
aus effekthascherischen Szene, in der umph des Abendlandes’“ Breton, der (Hg.), Privileg Blick. Kritik
mit einer Rasierklinge das Auge einer „schon früh von der ‚Niedrigkeit des der visuellen Kultur, Ber-
Frau zerschnitten wird. Er könnte in westlichen Denkens’“ gesprochen und lin 1997, S. 154 ff. Jay be-
gewisser Weise als historische Referenz dieses als „immer drückendere Fron“2 schreibt die amerikanische
des Postulats einer ab den 60ern sich empfunden habe. In La Révolution kunsttheoretische Rezepti-
on des französischen Struk-
artikulierenden „französischen Kritik surrealiste Nr. 12 von 1929 veröffent- turalismus, Poststruktura-
am Okularzentrismus“1 verstanden lichten Breton, Aragon, Dalí u.a. eine lismus, Dekonstruktivismus
werden, die sich gegen die vermeint- gemeinsame Erklärung in Form einer u.ä.
liche Übermacht des Amerikanischen Fotomontage aus Passfotos, die eine
Abstrakten Expressionismus nach 1945 Abbildung eines Akts von Magritte (Ich
2
Heribert Becker: Vorbe
merkung, in: Heribert Be-
wendete, welche sich wiederum den sehe die (Frau) nicht, die im Wald ver
cker (Hg.), Die Allmacht der
Implikationen des Kalten Krieges und steckt ist) einrahmen, und auf denen die Begierde. Erotik im Surrealis
der CIA verdanke. Tatsächlich gab es Portraitierten ihre Augen geschlossen mus, Berlin 1994, S. 9.
das Bemühen der westlichen Alliier- halten. Als hätten sie den vermummten
ten, vor allem der Vereinigten Staaten, Beuys in Amerika3 vorweg genommen, 3
Für die Aktion 1974 in der
den Begriff des autonomen Kunstwerks werden sie wohl nicht ganz zu Unrecht Galerie Rene Block in New
York, während der er „nichts
und die Individualität des Betrachters als Beleg für den Hass auf den Westen
von Amerika sehen und
sowie die Formen der Vermittlungen rezipiert, als prominente Gewähr des von der Außenwelt isoliert
auch als Maßnahmen der Re-Educa- Ressentiments, das mit Furor „jene De-
tion gegen das Figürliche der Volksge- struktivität in der alles andere determi-
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ist, die sich „wehrt [...] gegen den Tod, Warentausch unvorhergesehen entzo-
das Telos aller Herrschaft, in Sympathie gen und zugleich wieder zugeführt, als
mit dem was ist.“16 Dem Befund, dass Kunstwerk, das sich selbst dementiert
13
Martin Jay: Den Blick er
widern, S. 155. aus dem Konzept der Vernunft, Ratio- und die Warenform dennoch nicht ver-
nalität, Emanzipation entsprechend der liert. Der Künstler erscheint als so frei,
14
Jacques Lacan: Die vier Dialektik der Aufklärung sich eine Zivi- wie das Werk ihn lässt, bzw. das Werk
Grundbegriffe der Psycho lisationsgeschichte entwickelte, die Ka- erscheint als etwas Unmögliches für den
analyse. Das Seminar. Buch pitalverhältnis und Staat hervorbrachte, kurzen Moment, in dem der Reflexi-
XI, Weinheim/Berlin 1987,
beides jedoch durch und durch abstrakt onsvorgang den Coup erfasst. Huyghes
S. 126. Siehe auch Martin
Jay: Den Blick erwidern, und vermittelt in der Reproduktion ‚Ready Made’ dagegen ist nicht Reflexi-
Ebd., S. 155. dieser Herrschaftsordnung, möchte die- on des genitalen Verhältnisses als eines
se Auffassung durch Praxis des Anti-Ab- dynamischen, es äußert sich vielmehr
Martin Jay: Den Blick er
15
strakten und Unmittelbaren entgegnen. in Metamorphosen der Sexualität der
widern, S. 154. Die Implementierung vorgefunde- Frau, die letztlich deren Verschwinden
16
Theodor W. Adorno: Äs
ner Ausstellungsarchitektur bzw. de- bedeutet. Der Kopf des Frauenaktes
thetische Theorie, Frankfurt ren beabsichtigter Transfer nach Köln wird enthauptet zum Tierwesen eines
a.M. 1973, S. 374. (letztlich wurden die Pariser Wände in Bienenvolkes, in seinem Film The Host
Köln nachgebaut) war eben kein Ready and the Cloud werden entblößte Frau-
17
ebd. S. 341. Made, wie Duchamps Urinal von 1917, en bestraft, als nackte Mutter mit Kind
mit dem dieser den Schöpfungspro- vor Schaukästen des Ethnographischen
zess als rein intellektuellen abstrahierte Museums neutralisiert oder penetriert
und die ‚Macht’ des Künstlers kritisch mittels einer die bloß reagierende Frau
respektive die Autonomie der Kunst verdoppelnden Marionette. Immer ste-
provokativ demonstrierte. Diese Auf- hen Frauen für den Subjektverlust, der
forderung zum Nachdenken über Be- mittels eines „ungeschminkten Natura-
stimmung, Verhältnisse und Geschicht- lismus“ mit „verdrückten, psychoanaly-
lichkeit von Kunst spitzte sich ironisch tisch: analem Vergnügen“17 einhergeht.
durch die Namensgebung des Urinals Das zeigt auch die Version des Ar
als Fountain und durch die Signatur thur Gordon Pym von Edgar Allen Poe,
‚R.Mutt’ als Pseudonym des Künstlers dessen Fragment gebliebener dystopi-
zu. Der Gebrauchswert, bzw. der Ge- scher Gehalt gerade durch die Form des
brauch des Gegenstands ist allenfalls Widerspruchs bestürzt, zwischen seiner
als aufgerufene Erinnerung vermittelt, immer wieder Sachlichkeit erzeugen-
weder soll man urinieren noch wurde den und Rationalisierungen vorneh-
es. Auch die sexuellen Anspielungen menden Darstellung einer Expedition
auf den Phallus und dessen Ejakulation der Aufklärung in die Antarktis und
als Modus des künstlerischen Schaffens dem Geschehen, in der Herrschaft als
in eine geöffnete Vertiefung, die zu- Selbsterhalt in barbarisches Verhalten
dem sich auf dem Kopf stehend wieder und brutale Gewalt quasi notwendig
verschließt, sind nicht expliziert, aber umschlägt. Gerade in diesem Schock
enthalten, auch im Namen, und ver- des Wahren schlägt Poes Phantastik in
halten sich zum Gesellschaftlichen in Reales um. Huyghe dagegen ‚übersetzt’
ambivalent verdinglichter Weise. Die die Erzählung als Beispiel einer Reise,
darin auch enthaltende Abwertung der die paradigmatisch nicht stattfand, The
Frau ist das Regressive, was Duchamp Journey that wasn’t, vom Künstler wohl
mit den Surrealisten verband, mit de- gerade darum aber angetreten wurde
nen er wiederholt kooperierte. Das der und als Doku-Film antarktische Land-
warenproduzierenden Gesellschaft ent- schaft samt deren Tierwelt und vergeb-
nommene Industrieprodukt ist dem liche Versuche der Besiedlung durch
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Theorie hat selbst bereits Tradition; und von etwas. Die Kunst für die Besucher,
als einen Kampf wird man es bezeich- der Besucher als Besitzer des Vorgangs,
nen müssen, schließlich geht es gegen Identität des Warenbesitzers in ideel- 26
Juliane Rebentisch: Theo
die vermeintliche Herrschaft der Phi- ler Form. Die Soziologie wird das Pu- rien, S. 41 ff.
losophie über die Kunst. Deren Wesen blikum bereits regelmäßig vermessen
werde durch die Philosophie verkannt, haben, nämlich dass die Kulturinter- 27
Rüdiger Bubner: Über
unzugänglich gehalten, verstellt. Ge- essierten, ob meinungsfreudige Blog- einige Bedingungen gegen
gen Ästhetik wird „ästhetische Erfah- schreiber oder zur Selbstoptimierung wärtiger Ästhetik (1973),
in: Ästhetische Erfahrung,
rung“ mobilisiert, ein Begriff, der seit bereite mündige Steuerzahler, das Ser-
Frankfurt a. M. 1989.
den 70ern mit Rüdiger Bubner27 in viceangebot Kunst zur gehobenen Un-
der Kunstpublizistik starken Zusprach terhaltung und Bildung, verstanden als 28
„Wahr ist am positivisti-
fand. Gegen das alte Präjudiz der Mo- Willkommenskultur für sich selbst wie schen Ansatz die Platitude,
dernisten, wie Kunst zu sehen wäre, für qualifizierte Nicht-Autochthone, daß ohne Erfahrung der
soll Kunst unvoreingenommen durch gut aufgestellt sehen möchten, wenn Kunst von dieser nichts ge-
wusst wird und nicht die
Ästhetiken erfahrbar werden und so zu auch der Staat mehr tun könnte, und Rede sein kann. Aber in
ihrem Recht kommen. Die Abkehr von man aufmüpfig und irrtümlich findet, jene Erfahrung fällt eben
der Philosophie, die Begriffe bildet hin Geld fresse Kunst. Über hot shit bis zum der Unterschied, welchen
zu den Gegenständen der Kunst, hin mitunter handgreiflichen shit storm aus- der Positivismus ignoriert:
zur Erfahrung28 des Gegenstands des gebildet weiß der Kunstinteressierte drastisch der, ob man einen
Ästhetischen, gelingt durch die Wen- von heute, dass ihm nicht nur gefälligst Schlager, an dem nichts zu
verstehen ist, als Leinwand
dung weg von der Produktion hin zur ein Erlebnis zu bieten sei, sondern auch für allerhand psychologische
Rezeption des Kunstwerks. Der Be- er beitragen soll zur Einheit der Ware Projektionen benutzt, oder
trachter erfährt in dieser Logik Ästhe- Kulturindustrie und ihrer Rackets. ob man ein Werk dadurch
tisches und sich selbst als etwas gleich- versteht, daß man seiner ei-
sam Unberührtes oder Unschuldiges, Falsche Versöhnung: Kunst der Kraft genen Disziplin sich unter-
wirft.“ Die Werke, „deren
worüber Kunst als wie auch immer und Ästhetisierung des Politischen
jedes index veri et falsi ist“,
sich zeigendes Werk erst entsteht. Die nötigen zur „Selbstnegati-
offene Interpretation, denn irgendeine Nicht völlig unwahr ist daher die on des Betrachtenden“ und
Form muss Erfahrung ja haben, sprich: Polemik, dass selbstverständlich ge- „nur wer seinen (den Wer-
die zur subjektiven Willkür geronnene worden sei, dass der Kunst alles wie ken) objektiven Kriterien
Form, konstituiert dasjenige, was als selbstverständlich angehören könne, sich stellt, versteht es; wer
um sie nicht sich schert, ist
Kunst gelten kann. Nicht das Objekt, wenn dem Ressentiment gegen das
der Konsument.“ Theodor
als Produkt der Kunstproduktion, bil- Nicht-Nützliche nachgegeben wird, um W. Adorno: Ästhetische The
det aus, was dem Betrachter als Kunst mit der „Kraft der Kunst, zur Deutung orie, Frankfurt a.M. 1973,
entgegen tritt, vielmehr das Subjekt der Welt beizutragen, um Politik und S. 396.
macht das vorgängig Offene, Unspezi- Kunst zu verbinden“.29 Der Wunsch
fische zum Kunstobjekt. Mit Fug lässt nach Verbindung von Kunst und Po-
29
Okwui Enwezor: Die dün
ne Haut der Blase, Süddeut-
sich von der Verschiebung vom Vorrang litik findet erneut Eingang in die Auf- sche Zeitung 12.12.2014,
des Objekts hin zu einer Subjektphilo- sätze wichtiger Kunstkuratoren, denn alle weiteren Zitate aus die-
sophie sprechen, da im Subjekt sich die „das globale Kunstsystem ist ein Mil- sem Artikel.
Vorgänge der Kunst zusammenziehen liardengeschäft geworden. Es bedroht
und ihr entscheidendes Zentrum ha- das kritische Potenzial der Kunst.“
ben. Und: „Alle reichen Menschen wollen
Die Bewegungstendenz, die sowohl dieselben Waren kaufen als Bestätigung
in der Kunstwissenschaft als auch im und zugleich Bekräftigung der eigenen
Huygheschen Werk entworfen wird Ansichten.“ Okwui Enwezor, Leiter der
und längst schon allgemeine Praxis ist, documenta 11, in diesem Jahr Kurator
ist die der Verfügbarkeit der Kunst für der Biennale in Venedig und Direktor
etwas, wie das Verlangen der Betrachter des Hauses der Kunst in München, sieht
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mithin „Kunst im Gegensatz zur Reali- rechte Verteilung von Besitz usw.?“ Das
tät von Kapital und Warenwert“, was, mit den Übergängen hatte Enwezor
wie jeder Künstler, beginnend mit der schon bei 9/11 fasziniert, dieser „glo-
Renaissance und vollendet bereits mit balen Veränderung“, mit der Kunstaus-
Rembrandt, weiß, schlichtweg falsch stellungen „verstrickt sein müssten.“
ist. Kapital wird bei Enwezor nicht als Nun konstatiert er eine „großartige
Gesellschaftsordnung, sondern als „re- Kunstwelt inmitten einer furchtbaren
aktionärer Milliardär David Koch“ be- Welt“ und meint ein „anonymes Kol-
griffen, der dem „Metropolitan Muse- lektiv“ in Syrien, das Filme drehe in
um of Art in New York 65 Millionen einer „kollabierenden Gesellschaft“. Er
Dollar gespendet hat.“ Es wird nicht appelliert an Opferbereitschaft, wenn
die Warenform kritisiert, sondern der er „unsere Selbstzufriedenheit in offe-
Warenwert, dass Kunst einen bestimm- nen Gesellschaften“ hinterfragt, unsere
ten Preis hat und darüber vermittelt „Komfortzonen verschieben“ möchte,
getauscht wird. Kunst hat keinen Ge- und das rhetorisch zusammenfasst in
brauchswert, sie konstituiert sich in der Frage, ob wir kritisch genug seien:
sich und für sich, ist ohne Zweck der „Wir dürfen nicht nur ans Kassenhäus-
Form durch alle inneren Widersprüche chen denken.“ Hauptgegner bleibt der
hindurch mit sich wahr als Identisches „Markt, der wächst, und vor allem an
(Unverstandenes, Unbegreifliches, ‚Ver- Kapitalisierung interessiert ist“, bis hin
söhntes’) in einer das Nicht-Identische zu den neuen Reichen, die mit Öl, Gas,
leugnenden Identität im Kapital. Dies Bergbau unsere Umwelt zerstören, und
jedoch nicht ewig, sondern als Moment Kunst sammeln. „Parasitäre Elemente“,
des Aufscheinens dieser Wahrheit in be- die am „Wirt“ Kunstsystem hängen
stimmter Negation bestimmter Gesell- und sich suchen, was sie brauchen.
schaft (Zeitkern), bis die Unwahrheit Diese etwas verschrobene Panik
der Gesellschaft in ihr sie selbst unwahr eines der erfolgreichsten Kunstaktivis-
werden lässt. Ohne Tauschwert kein ten der Gegenwart könnte denn auch
Gebrauchswert, der zugleich im Kapital als eine vor dem Platzen der „dünnen
stillgelegt erscheint, und in dem Maße, Haut der Blase“ verstanden werden, als
wie dies historisch geschah, entfaltete Krisenmanagement auf der Suche nach
sich die autonome Kunst. Kunst steht Bündnispartnern, die eine Art Volks-
in der Realität des Kapitalverhältnisses, souveränität eines Kultursozialismus
aber im Gegensatz zu deren Gesell- vertreten, da Enwezor Gramsci zitiert:
schaft. Sie ist nicht antikapitalistisch, „Pessimismus des Intellekts, Optimis-
sondern als Produkt der Gesellschaft mus des Willens!“ In diesem Gefälle
das ganz Andere zu ihr, ihrem objek- zwischen Forderungen nach ‚Politi-
tiven Stand nach, nicht als Ausdruck sierung der Kunst’ und einer Kunst
eines Willens. Sie ist den Vergesellschaf- nach den Maßen der Gesellschaft, die
tungstendenzen entzogen und entwi- ein Ästhetisieren der Verhältnisse und
ckelt sich autonom, ohne Zugriff eines deren ideologischen Grundlagen ver-
Wir, das dann Enwezor umso stärker langt, werden heutzutage nicht wenige
bemüht, da er meint, die Kunst „spie- Kunstausstellungen organisiert, von
gele unsere Periode des permanenten den Feuilletons lobend besprochen und
Übergangs, eines Übergangs, der nie zu von der Wissenschaft positiv bedrängt.
enden scheint“ wider. Er beauftragt über Umso unglücklicher wird man, wenn
dieses Übergangsszenario die Kunst mit
Fragen: „Wann erreichen wir eine sta-
bile Gesellschaft, den Frieden, die ge-
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Werbung
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Werbung
werden, haben jedoch an sich rein gar len angebracht werden. Entscheidend ist
nichts mit den beworbenen Produkten dabei nur, dass die potenziellen Kunden
zu tun. Auch wenn zwar keine klaren die Firmenlogos sehen, und das kann
3
Der Begriff Ambient Me-
dia wird so im Deutschen Aussagen darüber getroffen werden, in praktisch jeder Situation geschehen.
verwendet (etwa vom Fach- was für Vorteile der Kauf und Konsum Sich dieses Prinzip zu Nutze machend
verband Ambient Media, der konkreten Ware mit sich bringe, entstanden Werbeformate, die sich seit
www.fachverband-ambient- werden doch klare Assoziationen und einigen Jahren mehr und mehr verbrei-
media.de). Die Fachleute von einigen als erstrebenswert betrach- ten, das sogenannte Guerilla-Marke-
scheinen sich zu scheuen,
tete Situationen mit dem Produkt in ting und die Ambient Media. Dabei
den deutschen Begriff Me-
dien zu verwenden, denn Verbindung gebracht, es findet also eine handelt es sich um die Gestaltung von
Medien sind im Deutschen Qualitätszuschreibung statt, die jedwe- Gegenständen im öffentlichen Raum,
eigentlich ein nahezu rein der Grundlage entbehrt. die dadurch als Werbeflächen erschlos-
Geistiges, aber gerade den Gleichzeitig wird nun in der glei- sen werden. Der tatsächlich vorhande-
kulturindustriellen Charak- chen Branche von einigen Herstellern ne Gebrauchswert dieser Gegenstände,
ter aller Gegenstände, von
denen der Englische Begriff
nicht mit solchen Versprechen, son- den ein Werbeplakat ja gerade nicht
weiß, gilt es ja zu propagie- dern mit der Darstellung der Produkte hat, wird Mittel zum Zweck der Ver-
ren. oder Logos geworben. Teilweise wer- breitung von Werbung. Ein besonders
den dabei die Formen und Muster der hervorstechendes Beispiel sind Kleinlas-
4
Etwa im Vereinigten Kö- Schachteln um diese herum fortgesetzt, ter, die durch Metropolen fahren, mit
nigreich und sowieso in den Marlboro etwa verzichtet sogar auf das nichts als einer Werbetafel auf der La-
USA ist die Kettengastrono-
mie sehr viel weiter verbrei-
Aufdrucken des Markennamens auf die defläche, genauso dazu gehören jedoch
tet als in Deutschland und Schachteln, das Wiedererkennungs- auch Werbepostkarten, die in Kneipen
zwar auch in Bereichen, in zeichen ist nur noch die farbig abge- ausliegen. Die Herstellung dieser Ge-
denen sie hier nahezu un- setzte, meist rote Spitze der Schachtel, genstände zielt nicht auf das Herstellen
bekannt ist (Kneipen und die mittig von einem weißen Dreieck eines Gebrauchswertes für den Nutzer,
gehobene Restaurants). Es
eingeschnitten ist. Andere Herstel- sondern für den Hersteller, die Dinge
ist zu vermuten, dass sich
in den kommenden Jahren ler verfahren ähnlich: Lucky Strikes werden unter kulturindustriellen Ge-
auch in Deutschland Ket- wirbt mit den Kreisen des eigenen Lo- sichtspunkten gefertigt, nicht unter sol-
tengasthäuser außerhalb des gos unter zunehmendem Verzicht des chen der Verwendbarkeit. Die Totalität
Fastfood-Bereichs ausbrei- Markennamens, und die Produkte der der Kulturindustrie, ihr Vorrang im
ten werden. Marke Chesterfield werden auf Plaka- Produktionsprozess ist bei den Ambient
ten beworben, auf denen das zusam- Media so eklatant, dass sie in dem Be-
mengewürfelt aussehende Muster der griff durchaus mitschwingt.3
Schachteln aus diesen herauszusprudeln Die Entwicklung im Einzelhandel
scheint. All diesen Anzeigen ist gemein, hin zu Kettengeschäften, die zuneh-
dass die (tatsächlichen wie vermeintli- mende Verbreitung der Kettengas
chen) Eigenschaften der Ware kaum tronomie4 hat eine große Menge von
von Bedeutung sind. Weder werden Markenzeichen in die Städte gebracht.
die tatsächlichen Eigenschaften ange- Verschiedenes Corporate Design be-
priesen und denen konkurrierender stimmt zunehmend das Aussehen der
Produkten gegenüber als überlegen dar- Fassaden in den Fußgängerzonen und
gestellt, noch werden den Waren Eigen- über den Eingängen thronen die Logos
schaften angedichtet, die sie in Wirk- der jeweiligen Marken, wichtiger noch
lichkeit nicht haben. Was zählt, ist die als das verkaufte Produkt selbst. Diese
Abbildung der Markenzeichen. Corporate Designs sind simple, einfach
Da bei solcher Werbung zu den wiedererkennbare und ästhetisch kohä-
Markenzeichen nicht notwendig weite- rente Gestaltungsmuster. Sie schaffen
re Abbildungen hinzukommen müssen, eine umfassende, ästhetisch kohärente
können sie an unterschiedlichsten Stel- Umwelt, in der sich die Kundschaft be-
28 prodomo 19 – 2015
Werbung
wegen und dabei alle Ungereimtheiten, Die AEG entwickelte zur Lösung des
alle Fragen, alle Unsicherheit vergessen Problems, also um potenzielle Kund-
soll. Wer sich in einem Café oder sonst schaft an sich zu binden, eine „einheitli- 5
Domizlaff, Hans: Die Ge
irgendwo an seinen Apple-Laptop setzt, che Formensprache“. Diese bestand aus winnung des Öffentlichen
soll sich so zu Hause wie überhaupt einer „sofort erkennbaren Physiogno- Vertrauens, Hamburg 1951,
möglich fühlen (und bei so erfolgrei- mie“ und „einheitlichen Formung aller S. 67.
chen Marken wie Apple gelingt dies Produkte, ihrer Werbung und ihrer Ver-
sicherlich auch). Corporate Designs kaufsstellen“.8 Die Gestaltung bediente
6
Ebd., S. 153.
wollen selbst (Teil-)Totalitäten werden. sich eines „Formenpurismus“, der „ak- 7
Buddensieg, Tilmann:
Keine Frage aus dem Lebensbereich, tuell, jedoch niemals extravagant war“. 9 Industriekultur. Peter Beh
der von dem Konzern abgedeckt wird, „Die Unverwechselbarkeit der Form der rens und die AEG, Mailand
soll mehr offen bleiben. Bildsprache, deren beliebige Wieder- 1978, S. 29.
Das Anwenden solcher Werbeme- holbarkeit bei unveränderter Qualität
thoden ist jedoch nicht neu, schon 1951 waren nötig, damit aus Massenartikeln
8
Ebd.
hieß es in einem „Lehrbuch der Marken- Markenartikel wurden“.10 Damit war 9
Ebd., S. 35.
technik“: „Das Ziel der Markentechnik das Corporate Design geboren. Heute
ist die Sicherung einer Monopolstel- verwenden nahezu alle großen Konzer- 10
Ebd.
lung in der Psyche der Verbraucher.“5 ne solche Gestaltungsmuster, zumal in-
„[Es] beruht in der Schaffung eines der ternational oder global agierende – also
11
Selbst die Deutsche Bun-
propagierten Waren- oder Leistungs- alles, was unter den Englischen Begriff desregierung unterhält ein
Corporate Design (das
idee untertänigen Massengebildes, das corporation fällt.11 sie skurrilerweise auch so
möglichst zuverlässig beharrt und in ei- Neben den bundes-, kontinent- nennt), durch das sie „mit
nem blinden Vertrauen aus sich selbst oder auch weltweit operierenden Un- einer eigenen Identität
heraus die Interessen des Unternehmers ternehmen, die ein Corporate Design sichtbar“ werden möchte
im wachsenden Maße vertritt.“6 Und haben entwickeln lassen, gibt es jedoch und das „verbindlicher Aus-
druck der Corporate Iden-
auch die Methoden, mit denen Cor- auch im eigenständigen Einzelhandel
tity der Bundesregierung“
porate Designs arbeiten, gab es damals eine Tendenz zu einer Gestaltung der sei. (http://styleguide.
bereits. Sie waren ein weiteres halbes Geschäfte nach solchen oder jedenfalls bundesregierung.de/Webs/
Jahrhundert früher von der Allgemeinen ähnlichen Prinzipien. Diese Entwick- SG/DE/Homepage/home_
Elektrizitäts Gesellschaft, heute besser lung lässt sich dort am frühesten fest- node.html?__site=SG)
bekannt als AEG, eingeführt worden, stellen, wo die Geschäfte am stärksten
die ab 1907 den Designer Peter Behrens zum öffentlichen Raum gehören: in
verpflichtete, die Gestaltung ihrer Pro- der Gastronomie. Cafés, die ein jun-
dukte und Anzeigen zu übernehmen. ges oder sich als jung empfindendes
Die AEG sah sich mit der Situation Publikum ansprechen wollen, sind oft
konfrontiert, dass ihre Konkurrenten ähnlich minimalistisch gestaltet, wie es
„technisch […] nur geringfügig unter- auch ein Corporate Design zuerst zu
schiedene Produkt[e]“ anboten, deren sein scheint. Während in diesem jedoch
„technologische[r] und mechanische[r] alle Elemente genau aufeinander abge-
Komplikationsgrad“ immer mehr zu- stimmt sind und vor allem Einfachheit,
nahm, sodass es „immer schwieriger Abstimmung der einzelnen Elemente
[wurde], bei der Kaufentscheidung ei- aufeinander und eine möglichst wenig
nes Kunden auf dessen technische Ur- in konkrete Stilrichtungen gehende
teilsfähigkeit zu bauen.“7 Die Produkte Gestaltung vorherrscht, wird in jenen
mussten also Eigenschaften bekommen, die komponierte Einfachheit durch
die nichts mit dem Gebrauchswert zu minimalistische Einrichtung und geo
tun hatten, welchen Laien nicht beur- metrische Klarheit nachgeahmt. Of-
teilen konnten, aber den Ausschlag für fenbar fühlt man sich in der Branche
die Kaufentscheidung bewirken sollten. der Notwendigkeit ausgesetzt, ähnliche
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Werbung
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Werbung
nicht dazu gedacht sind, auf den Markt der Ausbreitung von Werbung immer
getragen zu werden. Viele stellen heu- weiter sinkt.
te Kulturprodukte her, die sich an die Die Lösung des Problems durch die 16
Ebd., S. 143.
Gesetze der Kulturindustrie halten, Werbefachleute liegt in den beschriebe-
aber nicht aus industrieller Produktion nen Prozessen. Nicht mehr werden kon- 17
Verschiedene Marken
stammen, sondern in zu Proberäumen krete Verheißungen mit den Waren ver- haben etwa versucht, ihr
umfunktionierten Garagen oder zuneh- bunden, sondern Ebenbilder der Waren Markenzeichen zu einem
mend an MacBooks entstehen. Das ge- und die Markenzeichen der Hersteller der Schrift gleichgestellten
Zeichen zu machen. Häufig
schieht, ohne dass ihre Produzenten die werden in den öffentlichen Raum ge-
stand es dabei anstelle des
„Tabellen [der] Exekutivgewaltigen“16 kleistert. Die Werbung verspricht die Herzens in dem Satz „I
kennen. So weit hat sich, was in der Erlösung von der Notwendigkeit, die irgendwas“.
Dialektik der Aufklärung noch als die einzelnen Produkte, die der Markt her-
„Macht der ökonomisch Stärksten über gibt, gegeneinander ausspielen zu müs-
die Gesellschaft“ beschrieben wurde, zu sen, die einander immer mehr gleichen-
deren allgemeiner Funktionsweise ent- den Eigenschaften zu vergleichen und
wickelt, dass es der Verabredung jener ein Urteil zu fällen, das die irrationale
Exekutivgewaltigen nicht mehr bedarf, ästhetische Beigabe (also das, was in der
um praktisch alle Kulturproduktion Werbung versprochen wird) der ande-
nach den Regeln der Kulturindustrie ren überlegen wähnt. Dieses eine ratio-
ablaufen zu lassen. nal scheinende Urteil bleibt dem Kon-
So weit ausgebreitet ist das System sumenten schließlich: Welches konkrete
der Kulturindustrie, dass es nichts gibt, Produkt aus einer Gruppe von Waren
was nicht aus ihr heraus stammte. Kei- mit nahezu gleichem Gebrauchswert
ne Kultur, nichts menschlich bearbeite- soll ich kaufen? Die fachliche Beurtei-
tes, was nicht ihren Prinzipien folgte. In lung der technischen Qualität ist dabei
dieser Flut von Kulturindustrie, umge- jedoch praktisch unmöglich.
ben von nach Aufmerksamkeit schrei- Einen Zustand zu schaffen, in dem
enden Werbeflächen, die einem verspre- sich diese Frage erübrigt, ist das Be-
chen, dass bei ihrem Produkt der Weg streben von Werbung. Die beschrie-
zum Wohlfühlen mittels Cowboys oder benen Mechanismen streben an, dass
einem sonstigen begehrten Milieu mit sich die Käufer und jene, die es noch
enthalten sei, gibt es nun für die Kon- nicht geworden sind, mit den Produk-
sumenten, die potenziellen Käufer der ten und Marken identifizieren. Erfüllt
an allen Ecken beworbenen Produkte die Werbestrategie ihren Zweck total, so
kaum noch einen Maßstab der Bewer- nehmen sie die Ware für einen Teil ih-
tung der angebotenen Waren. Einerseits rer Selbst, jeweils den, der für den ent-
sind die Informationen, die man über sprechenden Aufgabenbereich, den die
ein Produkt einholen kann, nicht ver- Ware lösen soll, zuständig ist. Die Uto-
lässlich, andererseits sind es zu viele, als pie oder das Heilsversprechen der bloß
dass man sich die einzelnen tatsächlich die Produkte abbildenden Werbung
behalten würde. Jedenfalls ist es für die besteht darin, dass die Konsumenten
Werber nicht besonders attraktiv, als sich mit der Ware gleichsetzen dürfen.
ein weiteres Plätschern in der allgemei- Sie sehen sich selbst nicht das wilde
nen Werbeflut unterzugehen, da die Marlboro-Pferd bändigen, sondern sie
Chance, dass das konkrete Versprechen wiegen sich in der Simplizität des aus-
einer Anzeige auch behalten wird, mit gesparten Dreiecks im roten Rechteck.
Die Designs, die so simpel sind, dass sie
fast schon Zeichen sind,17 erfüllen eine
orientierende, eine sinn- oder jedenfalls
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Walser
zielgebende Funktion. An die Stelle des die letztlich ohne (begriffliche vermit-
Kreuzes um den Hals treten die Logos telte) Inhalte auskommt.
verschiedener Marken.18 Die Konsu- Auf diese Weise fällt heute die Wer-
18
Sollte es etwa Apple ge-
lingen, seine Marktmacht menten gewinnen die Sicherheit, an- bung mit der Ware zusammen. Keine
im Computer-Bereich deren gegenüber sagen zu können, dass kann ohne die andere bestehen, erst
noch auszubauen, wäre es sie die Antwort auf die unbeantwortbar gemeinsam werden sie zu einem Gan-
vorstellbar, dass – wie das scheinende Frage nach dem überlege- zen: zu einer Totalität. Der Konsum
christliche Kreuz, das den nen Produkt haben, und da es auf sie des entscheidenden Teils der Ware hat
Todeszeitpunkt einer Per-
keine wirklich richtige Antwort gibt sich noch vor den Kauf gelagert. Alle,
son anzeigt – der angebis-
sene Apfel ein Synonym für (schließlich sind die Gebrauchswerte die der Werbung ausgesetzt sind, kon-
Elektro- oder Kommunika- der Produkte der verschiedenen Her- sumieren schon einen großen Teil der
tionstechnik wird. steller identisch), kann ihnen niemand ästhetischen, ideologischen Beigabe, die
widersprechen.19 Weil die Corporate dem Gebrauchswert der Ware zugefügt
19
Unter der Benutzerschaft Designs zusammen mit den Produkten wird. Der Kauf des Produkts geschieht
von Apple-Geräten finden
sich viele Personen, die die
zu einem Sinnzusammenhang werden, dann nicht, weil man die Versprechen
Produkte des von ihnen fa- kann die Utopie, die die Werbung lie- endlich erfüllt haben will, sondern au-
vorisierten Herstellers, bzw. fert, in der persönlichen Sinnstiftung tomatisch. Die Marken gehören zu
ihre Wahl dieser Produkte, durch die Identifikation mit jenen Sys- einem selbst und wenn sich die Frage
erstaunlich vehement ver- temen liegen. Diese Systeme sind vor- nach dem Kauf eines Produktes mit
teidigen. Auf der Gegen- nehmlich ästhetisch und weniger durch dem entsprechenden Nutzen stellt, wird
seite hat sich eine ähnlich
vehemente Ablehnung der
begriffliche Inhalte gekennzeichnet, da- nun mal das gekauft, womit man sich
Produkte dieser Marke her ist die ideologische Identifikation identifiziert. So fallen heute nicht nur
entwickelt. Beide Gruppen mit ihnen schwieriger zu durchbrechen. Werbung und Ware zusammen, son-
können ihre starken Gefüh- Das ist der Fortschritt der neuen Wer- dern mit ihnen auch das Denken der
le für oder gegen die Marke bung: Sie muss nicht mehr lügen, sie unter der Kulturindustrie Lebenden.
nicht erklären, sie sind auch
hat eine Form von Ideologie gefunden,
nicht logisch erklärbar, die
eine Partei identifiziert sich
eben mit der Marke, die an-
dere nicht. Die Vehemenz,
mit der Anhänger beider Vom Verspritzen der
letzten Tinte
Gruppen ihre Position ver-
teidigen und propagieren,
erinnert manchmal an den
irrationalen Zorn religiöser Martin Walsers Shmekendike Blumen (2014)
oder anderer ideologischer
Eiferer, die über das Aus- Jonathan Schröder gen in der Synagoge zu vergleichen; Pe-
bleiben der Einsicht Un- ter Weiss’ Stück Die Ermittlung (1965),
L
gläubiger in einen für sie
iteraten kolportieren nicht selten das die Shoah zum Thema hat, kommt
offenbarten Glaubensinhalt
wüten. ihr eigenes Schaffen als moralisches trotzdem ganz ohne die Benennung der
Gewissen der Gesellschaft, was von den Opfer als Juden aus; das Theaterstück
Feuilletons gerne aufgegriffen wird. Wie Der Müll, die Stadt und der Tod (1975)
schlecht es um dieses moralische Ge- von Rainer Werner Fassbinder geht mit
wissen in Deutschland bestellt war und der Figur des reichen, kaltherzigen und
ist, beweist die sogenannte Nachkriegs- natürlich jüdischen Immobilienspeku-
literatur besonders dann, wenn es um lanten hausieren; und das ehemalige
Juden und die Shoah geht: Mitglieder Mitglied der Waffen-SS Günter Grass
der Gruppe 47 erblödeten sich 1951, verfasste in Versform einen antisemiti-
Paul Celans Rezitation des Gedichtes schen Schulaufsatz mit dem Titel Was
Die Todesfuge sowohl mit Goebbels’ gesagt werden muss (2012), in dem er ge-
Sprachduktus als auch mit den Gesän- gen Israel hetzt, wofür ihm die Süddeut
32 prodomo 19 – 2015
Walser
sche Zeitung ebenso gerne wie antisemi- Krieg, 2000) und Klaus von Dohnanyi
tischen Karikaturen Platz einräumte. („12 Jahre Nazi-Terror […] sind nicht
In genau diesem Versverbrechen heißt die zentrale Achse der deutschen Ge-
es, „gealtert und mit letzter Tinte“ sei schichte.“ am Rande der Römerbergge-
das gesagt, was nach Grass‘ Dafürhalten spräche, 2000) verkündet wurde. 1999
eben über Israel gesagt werden müsse, konstatierte Ignatz Bubis deshalb auch
und das beschreibt die Nachkriegslite- nach Walsers Rede in der Paulskirche
ratur im neuen Jahrtausend dann doch im Stern, dass „[i]m öffentlichen Be-
ganz gut: Viele sind gestorben und das, wußtsein […] die Verantwortung für
was da mit „letzter Tinte“ geschrieben Auschwitz nicht verankert [ist]. Jeder
wird, gewinnt zumindest literarisch kei- in Deutschland fühlt sich verantwort-
nen Blumentopf mehr – wohl aber Ap- lich für Schiller, für Goethe und für
plaus von Jakob Augstein, Kolumnist Beethoven, aber keiner für Himmler.
im Spiegel, Herausgeber von der Zei- Ein Großteil der Bevölkerung denkt
tung Der Freitag und Mitglied auf der wie Walser. Zeit, Schluß zu machen,
Liste der „2012 Top Ten Anti-Semitic/ nur noch nach vorne zu schauen.“ Wal-
Anti-Israel Slurs“ des Simon Wiesen ser bekam damals Zuspruch: Direkt in
thal Centers. der Paulskirche gab es frenetischen Ap-
Doch 2014 ist einer ausgezogen, plaus. Einen Tag später fasst Helmut
alles besser zu machen: Martin Wal- Schmitz in der Frankfurter Rundschau
ser. Dass gerade er es sein soll, ist auf die Rede zusammen und feiert Walsers
den ersten Blick etwas überraschend. „kritisch-selbstkritische politische Po-
War er es doch, der 1998 in der Pauls etik“, welche ihn „vor vielen anderen“
kirche über die „Dauerpräsentation auszeichne. Auch Briefe sind dokumen-
unserer Schande“ fabulierte und die tiert, die den ersten Zuspruch belegen.
Auschwitzkeule erfand. Auch war er es, Doch die Debatte wurde zumindest
der 2002 in dem Roman Tod eines Kri vielstimmiger, da der damalige Vorsit-
tikers seine Mordfantasien gegenüber zende des Zentralrats der Juden, eben
dem jüdischen Literaturkritiker Marcel jener Bubis, schon einen Tag später
Reich-Ranicki fiktionalisiert auslebte. die Rede kritisierte und von „geistiger
Eben jenen Reich-Ranicki, über den er Brandstiftung“ sprach. Der daraus re-
1998 in der Süddeutschen Zeitung sag- sultierende Vorwurf des Antisemitis-
te: „Jeder Autor, den er so behandelt, mus blieb an Walser kleben.
könnte zu ihm sagen: Herr Reich-Ra- Dass es soweit kam, hängt nur be-
nicki, in unserem Verhältnis bin ich grenzt mit der Intervention von Bubis
der Jude.“ Walser verkehrte damit den zusammen und auch nicht damit, dass
Ghettoüberlebenden, dessen Eltern in sich Walsers fatales Verhältnis zur Ge-
Treblinka vergast wurden, zum Täter, schichte und den Juden in weiteren
der arme deutsche Autoren, die kein Aufsätzen und fiktionalen Texten nach-
böses Wort über ihre Bücher hören wol- weisen lässt. Vielmehr war sein Prob-
len, wie einst die Deutschen die Juden lem, dass er mit den Entwicklungen der
verfolge. deutschen Ideologie nicht Schritt hal-
Damit wähnte sich Walser um die ten konnte. Trotz einiger theoretischer
Jahrtausendwende noch auf der Höhe Ausflüge, wie z.B. in dem Artikel „Un-
der Zeit, im Zentrum der deutschen ser Auschwitz“ (Kursbuch I, 1965), in
Ideologie: der Schlussstrichmentalität, dem er die Verschiebung der Schuld für
wie sie von Erich Kuby („fort damit [ge- Auschwitz allein auf die Angeklagten
meint ist Auschwitz], wir wollen wieder in den Frankfurter Prozessen kritisier-
ein ganz normales Volk sein“ in Mein te, war er immer einer, der am liebsten
prodomo 19 – 2015 33
Walser
nichts von deutscher Schuld und dem zwischen Auschwitzprozessen und der
Antisemitismus hören wollte. Und auch Filmserie Holocaust aus der kollektiven
in „Unser Auschwitz“ findet sich schon Verdrängung hervorgekramte Erkennt-
die fatale Figur von der Überpräsentati- nis an, dass die Deutschen Schuld an
on der Shoah. Walser blieb immer der der Ermordung der europäischen Juden
Student, den Ruth Klüger in ihrer Au- haben. Die Schuld wurde aber nicht nur
tobiographie weiter leben: Eine Jugend anerkannt, sondern affirmiert und dar-
(1992) unter dem fingierten Namen aus die intergenerative Verantwortung
Christoph skizzierte: „[…] beheimatet abgeleitet. Und aus der Annahme dieser
in Deutschland, verwurzelt in einer be- Verantwortung erwuchs – so zumindest
stimmten Landschaft und [er] wurde die Selbstwahrnehmung – wieder eine
für mich [d.h. Klüger] der Inbegriff des moralische Überlegenheit. Oder anders
Deutschen.“ (S. 214) Was dieser „In- gesagt, jeder zeigte sich jetzt für Schiller,
begriff des Deutschen“ vom Antisemi- Goethe, Beethoven und auch Himmler
tismus damals dachte, findet sich zwei verantwortlich. Und weil man das tut,
Absätze weiter: „Ich kam beharrlich auf weil man die eigene Schuld anerkennt,
Luthers Antisemitismus zu sprechen ist man besser, denn man hat die richti-
[…]. Christoph hielt das Thema eher gen Schlüsse gezogen. Diese angenom-
für läppisch. Darauf behauptete ich mene moralische Überlegenheit tragen
verärgert, daß, trotz Beteuerungen des die Deutschen bis heute überall in der
Gegenteils, ein Antisemit auch in ihm Welt zur Schau, besonders gerne gegen-
stecke. Das hat er sich lange gemerkt über den USA und Israel – also sowohl
und wehrte sich dagegen, er habe doch gegenüber dem Staat, der maßgeblich
ein starkes Interesse an jüdischem Geis- am Sieg über das nationalsozialistische
tesleben. Ob ich ihm nicht etwas über Deutschland beteiligt war, wie auch ge-
die Kabala sagen könne? Da war ich genüber dem Staat, der als Konsequenz
überfragt.“ (S. 215) Der Student Walser aus der Shoah entstand. Die Walser-Bu-
wollte vom Antisemitismus nicht spre- bis-Debatte war deshalb weniger ein
chen – auch dann nicht, wenn die Sho- Ausdruck der Stärke eben jener Ideo-
ahüberlebende das Thema auf Luther logie, die am liebsten von Ausschwitz
verschob, da sie für sich noch keinen nichts hören wollte, als vielmehr deren
Ansatz zum Erzählen gefunden hatte. letztes Gefecht.
Wenn er über Juden sprechen wollte, Zu dieser Ideologie passte ein Mar-
dann als geistesgeschichtlich spannen- tin Walser nicht mehr. Im Kontext eben
des Thema. jener Ideologie der modernen und ge-
Walser blieb dieser Haltung aus läuterten Berliner Republik, die ihre
seinen jungen Jahren mit kleineren Geschichte dankbar annimmt, war
Modifikationen immer treu. Doch da- Walser mehr oder minder raus. Sein
mit verkalkulierte er sich, denn der hinter dem Anstrich aus Kultur und
Wunsch nach dem Schlussstrich in der Freidenkertum durchscheinender Anti-
jungen Berliner Republik, war nur ein semitismus garantiert ihm zwar bis heu-
Zwischenspiel, ein letztes Aufbäumen te treue Fans, die seine Lesungen und
der Sehnsucht nach einer kollektiven Publikationen zu einem ökonomischen
Amnesie. Erzeugte um die Jahrtausend- Erfolg machen, doch als moralisches
wende die vermeintliche Dauerpräsenz Gewissen galt er bis vor kurzem nichts
der deutschen Schuld noch einmal eine mehr in den Feuilletons dieses Landes.
Abwehrreaktion von Schuldigen und Auch in den Germanistikseminaren
deren Nachkommen, so schloss man oder Leselisten von Schulen suchte man
bald wieder positiv an die irgendwo ihn meist vergeblich. Diesen Zustand
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Walser
kann einer wie Walser natürlich nicht jenen Abramovitsh besteht. So wäre
auf sich sitzen lassen. Um eben nicht über den Inhalt auch wenig zu sagen,
nur seine Brötchen von den Bildungs- außer dass es besser sei, die Originale
bürgern bezahlt zu bekommen, die sich statt Walser zu lesen, wären da nicht
schon immer vom Zentralrat der Juden eben die Passagen, welche die Intenti-
gegängelt fühlten, sondern um sein lite- on des Buches über den Gegenstand an
rarisches Erbe und seinen moralischen sich hinaus verdeutlichen.
Wert in diesem Land zu sichern, musste Denn Abramovitsh gefällt Walser:
er wieder auf den aktuellen Stand der „Durch ihn, durch seine Sprache lernt
Ideologie kommen. Sein neuestes Buch ein ganzes Volk, Ja zu sagen zu sich.“
ist der Versuch, dies zu erreichen. (S. 105) Es stimmt, dass Abramovitsh
Mit Shmekendike Blumen (2014) sich um die jüdische Emanzipation be-
hat Walser einen Essay über den mühte, doch eben nur vor diesem Hin-
Schriftsteller Sholem Yankev Abramo- tergrund ist seine positive Bezugnahme
vitsh vorgelegt. Abramovitsh gilt als auf das jüdische Volk – die genauso von
einer der großen jiddischen Literaten Distanznahme geprägt ist – zu verste-
des 19. Jahrhunderts und – was nicht hen. Bei Walser wird Abramovitsh ein
unwichtig ist – Vertreter der osteuropä- völkischer Erweckungsliterat. So einer
ischen Haskala, der jüdischen Aufklä- wäre der gealterte deutsche Schriftstel-
rung. Diese Kombination scheint für ler auch gerne: „Als ich anfing Romane
die zuvor beschriebene Anknüpfung zu schreiben, beherrschte ein Schlag-
an den aktuellen Stand der deutschen wort die Szene: gesellschaftskritisch.
Ideologie geradezu perfekt, verspricht Das hat man zu sein. Ich wehrte mich
doch Abramovitsh eine gute Mischung gleich dagegen. In der Dankrede zum
aus Volksnähe (Jiddisch) und Aufklä- Hesse-Preis 1957: Es sei töricht, von der
rung (Haskala) – und ist zugleich tot. kritischen Distanz des Schriftstellers zu
Volksnähe kommt immer besser an als Gesellschaft zu reden. Der schlimmste
abgehobene Gelehrsamkeit und abs- Vorwurf damals war eben, affirmativ
trakte Kritik. Sie verspricht einen ho- zu sein, also unkritisch.“ Walser geht es
hen Grad vermeintlicher Authentizität in dem Zitat nicht um eine Kritik ei-
und im Kontext mit einem toten Juden ner Engagierten Literatur nach Sartre,
einen gesteigerten Heritage-Faktor. Au- sondern um die Verteidigung der Af-
ßerdem hat der Jude als Kulturgut auch firmation: die Aufhebung der Distanz
schon dem jungen Walser gut gefallen. der Literatur zur Gesellschaft. Nahe
Zugleich verhindert die Verbindung zur am Menschen, am Volk soll diese sein.
Haskala am Ende noch, die Faszination Hier scheint wieder der junge Walser,
für einen Chassid – einen zu jüdischen der „Inbegriff des Deutschen“, mit sei-
Juden – zu formulieren. Denn ein Herz ner Sehnsucht nach Beheimatung in
haben die Deutschen bekanntlich nicht Deutschland durch. So ist Shmekendike
für eben jene, die auch noch heute Jid- Blumen nicht nur ein Versuch, wieder
disch sprechen und in Mea Shearim in Teil der deutschen Ideologie zu werden,
Jerusalem leben. Vielmehr ist Walser sondern zugleich sein angestaubtes Bild
dann anscheinend nicht mehr einge- von der vermeintlich authentischen Ge-
fallen, was er über seinen Gegenstand sellschaft durch die Verschiebung auf die
schreiben könnte, weswegen weite Tei- historische Gruppe der osteuropäischen
le des Essays aus Zitaten entweder von Juden in diese zu Integrieren. Passend
Abramovitsh selbst oder aber aus einem dazu leitet er das Buch mit dem Engel
Buch von Susanne Klingenstein (Men der Geschichte ein, jener berühmten al-
dele der Buchhändler, 2014) über eben legorischen Verwendung von Paul Klees
prodomo 19 – 2015 35
Walser
Bild Angelus Novus (1920) durch Walter holt er in dem Kapitel den kurzen Satz
Benjamin (9. These aus dem Essay Über „Mord bleibt Mord“, um dann unfrei-
den Begriff der Geschichte, 1940). Dabei willig den Weg der deutschen Ideologie
zitiert er unter anderem die folgenden von Auschwitz bis zum heutigen Tag
bekannten Sätze von Benjamin: „Aber zusammenzufassen: „Mir ist im Lauf
ein Sturm weht vom Paradiese her, der der Jahrzehnte vom Auschwitz-Prozess
sich in seinen Flügeln verfangen hat bis heute immer deutlicher geworden,
und so stark ist, daß der Engel sie nicht dass wir, die Deutschen, die Schuld-
mehr schließen kann. Dieser Sturm ner der Juden bleiben. Bedingungslos.
treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, Also absolut. Ohne das Hin und Her
der er den Rücken kehrt, während der von Meinung jeder Art. Wir können
Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel nichts mehr gut machen. Nur versu-
wächst.“ Geht es bei Benjamin darum, chen, weniger falsch zu machen.“ (S.
eben diese Fortschrittsgeschichte des 102) und etwas später noch einmal „Ich
sich reproduzierenden Leidens in der kann nichts dagegen tun, in mir do-
besseren Gesellschaft aufzuheben, so miniert die Mitteilung, dass wir dieses
setzt Walser die Juden an die Stelle des Volk umbringen wollten und Millionen
Engels, kürzt die materialistische Kritik umgebracht haben. Und dieses Volk ist
und ist allein fasziniert von deren Lei- mir erst jetzt, wirklich bekannt gewor-
densgeschichte. „Bei Walter Benjamin den.“ (S. 107) Dies ist das späte Einge-
ist diese Vergangenheits-Zugewandt- ständnis eines 87-jährigen Mannes, der
heit von aller Herkunft und Erfahrung zuvor am liebsten nichts von der Shoah
befreit: eine sozusagen anthropologi- wissen wollte und für den es wirklich
sche Kondition, und eben auch eine gilt „weniger falsch zu machen“. Doch
jetzt vorkommende Haltung. Bei Abra- viel wichtiger ist die Mischung aus re-
maovitsh ist es Zeile für Zeile jüdisches ligiöser Eingebung („Ich kann nichts
Schicksal.“ (S. 8f ) Dass Abramovitsh dagegen tun, in mir dominiert die Mit-
zumindest in seinen späten Jahren auch teilung“) und apodiktischer Aussage
Zionist war, d.h. nicht nur Geschichten („Ohne das Hin und Her von Meinung
für die Aufklärung der Juden schrieb, jeder Art“): Walser will hier besonders
sondern auch eine materialistische Auf- radikal wirken, denn er muss über zehn
hebung der Leidensgeschichte in einem Jahre deutsche Ideologie nachholen, um
jüdischen Staat anstrebte, findet sich in der Gegenwart anzukommen. Er will
bei Walser nicht wieder. Deswegen solle nicht nur weniger falsch machen, son-
man Abramovitsh auch nicht gedank- dern als moralisches Gewissen gelten.
lich nach Israel, sondern in das „Gelob- Der Versuch wirkt jedoch plump,
te Land“ der Literatur folgen, das „Ge- weshalb die Pressereaktionen geteilt
lobte Land im Exil“ (S. 107). waren. In der Frankfurter Allgemeinen
Den Höhepunkt hebt sich Walser Zeitung nimmt ihm Andreas Platthaus
aber bis zum Schluss auf. Mit Klin- die Ausführungen noch mit kleins-
genstein zieht er im letzten seiner acht ten Einschränkungen ab und macht
kurzen Kapitel eine Linie von den Po- im schwülstigen Ton aus Walser einen
gromen im 19. Jahrhundert in Osteu- Vermittler, der sich und die Deutschen
ropa, die Abramovitsh beschreibt, bis mit den Juden versöhnen will: „Was
zur Shoah. Geistig keine Meisterleis- anderen Ohren nach ‚schmeckenden
tung, doch ideologisch ein wichtiger Blumen‘ klinge, das seien für ihn wie
Schritt, geht es Walser ja nicht mehr für Abramovitsh ‚wohlriechende‘, und
um Schuldabwehr, sondern vielmehr die Erkenntnis, dass es sich beim Jiddi-
um deren Affirmation. Immer wieder- schen um eine aus deutschen Wurzeln
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Unterwerfung
erwachsene Sprache handele, mache die lische Instanz? Lachhaft!“, spricht ihm
Bösartigkeit des nationalsozialistischen aber in süffisanter Form immerhin zu,
Mords an den Juden auch noch zur Ab- dass er eben bei einem allgemeinen Er-
surdität. Walser streckt nach zwölf Jah- kenntnisstand angelangt sei: „Nun gut,
ren also die Hand aus. Abramovitsh und auch Walser hat in seinem zarten Alter
Susanne Klingenstein haben sie ihm ge- jetzt begriffen, was die Deutschen den
führt.“ Platthaus beschwört durch das Juden antaten.“ Genau diese Erkennt-
Jiddische eben jene Kultursymbiose, die nis ist für Walsers Projekt des ideolo-
niemals eine wirkliche war, sondern im- gischen Zeitsprungs äußerst wichtig,
mer schon eine, bei der sich die Juden stellt dessen Kern dar, weshalb sie auch
um die Anerkennung bemühen muss- weniger festzustellen, als zu kritisieren
ten – meist vergeblich. Spätestens seit ist.
der Shaoh ist diese vermeintliche Sym- Ob ihm der Versuch, an den aktuel-
biose endgültig ins Negative verkehrt. len Stand der deutschen Ideologie wie-
Auch kann man sich fragen, warum der anzuschließen, gelungen ist und er
erst das Jiddisch den Massenmord an in Zukunft zu jedem Thema in der Zeit
den Juden zur Absurdität mache? Weil bis Süddeutschen Zeitung seinen Senf
es ein Mord an Menschen der gleichen abgeben darf oder ob er bald wieder aus
Sprachfamilie sei, d.h. des gleichen Vol- den Feuilletons verschwindet, wird sich
kes oder gar der gleichen Rasse? Doch zeigen. Letzteres wäre zu wünschen,
der äußerst anheimelnde Versuch von auch wenn Auftritte wie 2014 zusam-
Walser, der aus seiner verschriftlichten men mit Aleida Assmann in Köln eher
Radikalität herausklingt, ist dann eini- darauf hindeuten, dass er aus der anti-
gen doch zu blöd. So schreibt Tilman semitischen Mottenkiste entstiegen ist,
Krause in der Welt mit Verweis auf Wal- um sich nun als Judenfachmann zu ver-
sers Vergangenheit „Walser eine mora- suchen.
tat auf die Redaktion herauskam, Mi- offensichtlich entgangen sein müssen.
chel Houellebecq als Magier, der die Wollte man etwas über das aktuelle
Zukunft vorhersieht. Für Nils Mink- islamistische Bedrohungspotential in
mar von der FAZ wurde Houellebecq Europa durch zeitgenössische Literatur
durch die Anschläge endgültig zum erfahren, so wäre man beispielsweise
Propheten, denn diese seien die Bestä- bei den Thrillern von Daniel Silva bes-
tigung des Szenarios seines neusten Ro- ser aufgehoben als bei Houellebecq.2
mans Unterwerfung1 ‒ als ob es dieses Denn zur Hervorhebung eines allzu of-
Massakers bedurft hätte, um die vom fensichtlichen Zeitphänomens bedarf es
Islamismus ausgehende Anschlagsge- keines Zukunftsromans, wie es Unter-
fahr zu verifizieren. Die bei Minkmar werfung einer ist, in dem sich Houel-
prodomo 19 – 2015 37
Unterwerfung
38 prodomo 19 – 2015
Unterwerfung
Figur treibt Houellebecq die verfeinde- bens, sondern der äußeren Form halber
ten Bürgerkriegspositionen bis zu dem zum Katholizismus konvertierte, sieht
Punkt, an dem sie konvergieren und er auch keine Hindernisse mehr für
sich ihr Gegensatz als äußerlich erweist. seine eigene zum Islam, die sich gar als
Damit sie sich miteinander aussöhnen logische Konsequenz des Nachahmers
können, bedarf es allerdings eines Ka- darstellt. Die Rede von der Transzen-
talysators – des Sexus. Die gegensätzli- denz, auf der das Patriarchat ruhe, ist
chen politischen Ideen können in den nichts als ein Männerbetrug. Das Jen-
(männlichen) Subjekten überhaupt nur seits dient den Männern nur dazu, sich
zusammengehen, weil beide Ausdruck schon im Diesseits der Jungfrauen zu
des gleichen sexuellen Begehrens sind. bemächtigen.
Die sexuelle Verfügung des Mannes Die Familie ist für Houellebecq, wie
über die Frau ist der Schnittpunkt, an auch für die Figur des muslimischen
dem die Identitären und die Islamisten Präsidenten Frankreichs in Unterwer
zusammenfinden und auch der passive fung, die Keimzelle der Gesellschaft,
und weitestgehend unpolitische Ro- nicht nur weil sie ihre Reproduktion,
manheld sich mit dem neuen Regime sondern vor allem weil sie die sexuelle
arrangieren kann. Die durch den Islam Befriedigung sicherstellt. Auf den Zer-
versöhnte Gesellschaft wird durch die fall der Familie folge der gesellschaftli-
Unterwerfung der Frau erreicht. Dies che Zerfall. Diese Rückführung der Ge-
ist Houellebecqs Erklärung für das pro- sellschaft auf die soziale Organisation
gnostizierte Vermögen des Islams, die des Sexes ist ein immer wiederkehren-
gesellschaftliche Krise zu überwinden. des Thema der Bücher Houellebecqs. In
Mit den Mitteln des Romans wird die seinem Buch Elementarteilchen macht
Rede von dem festen Glauben und der er etwa den Individualismus und Hedo-
gelebten Tradition des Islams als ober- nismus der 68er Generation für die Kri-
flächliche soziologische Analyse durch- se der Gesellschaft verantwortlich. Ihre
schaut. Die bestehende Ordnung kann sexuelle Freizügigkeit habe zur Auswei-
laut Houellebecq durch eine islamische tung der Konkurrenz auf die Sexualität
ersetzt werden, weil die Kräfte, die diese geführt und sie damit zu einem uner-
Ordnung zu zerreißen sich anschicken, schöpflichen Quell der Frustration und
durch eine Kraft vereinheitlicht wer- Enttäuschung gemacht. Diese Sicht-
den könne. Bei dieser von Houellebecq weise entspringt keiner Geringschät-
entfalteten Mechanik der Kräfte regiert zung des Geschlechtsverkehrs oder dem
Ockhams Rasiermesser und erlangt da- Versuch, ihn auf die Fortpflanzung ein-
durch ihre Plausibilität. Eine Metaphy- zuengen. Im Gegenteil, Sex ist ihm das
sik des (männlichen) Sexus hält die ge- Einzige, wodurch dem Leben noch ein
samte gesellschaftliche Entwicklung in Sinn abzuringen möglich sei. Um ihn
Gang. Ist das männliche Begehren als regelmäßig sicherzustellen, bedürfe es
Movens erkannt, wird auch der Islam deshalb entweder der Familie oder, weil
als ungeglaubter Glaube, als hohle Or- dieser Weg zurück unmöglich gewor-
thopraxie erkennbar, der jede Transzen- den ist, Menschen, die kein Geschlecht
denz abgeht. Die zwar im Konjunktiv mehr haben und sexuelle Lust bei jeder
stehende, aber wahrscheinlich stattfin- Berührung empfinden können, wie es
dende Konversion des Romanhelden die technisch forcierte Evolution des
beruht auf dieser Erkenntnis, denn erst Menschen am Ende von Elementarteil
als er erkennt, dass sein Vorbild Huys- chen perhorresziert.
mans, ein französischer Literat des 19. Laut Georg Orwell vermochte es
Jahrhunderts, nicht wegen des Glau- Jack London, die Faschisten zu verste-
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Unterwerfung
hen, weil er selbst einen „fascist strain“ reit hält, die sich nicht unterwerfen wol-
besaß. Analog dazu lässt sich vielleicht len oder können. Das antizipierte isla-
sagen, dass Houellebecq die Islamisten mische Frankreich kann nur deswegen
5
Interview mit Michel-
le Houellebecq, Welt und Identitären so gut versteht, weil als ein idyllischer, fast schon utopischer
3.1.2015, http://www.welt. er einen patriarchalen Hang hat. An- Ort erscheinen, weil die Beschreibung
de/kultur/literarischewelt/ ders als die Faschisten wollte London der islamischen Gesellschaftsordnung
article135972657/Eine-is- aber eine Gesellschaft ohne Herrschaft in all ihren Konsequenzen ausbleibt.
lamische-Partei-ist-eigent- und Existenzkampf verwirklichen und Zwar stellt Houellebecq den Verrat der
lich-zwingend.html
Houellebecq ist vor allem Romantiker Intellektuellen dar, doch werden die
6
Ein Roman des Fantasy und hat deshalb genügend Distanz zu von ihm angenommenen islamischen
Genres kann selbst mehr seinen sexuellen Verfügungsfantasien, Reformen nur friedlich und ohne Wi-
sein als Fantasy, wenn er um deren misogynen Konsequenzen derstand eingeführt. Als ob diese nicht
die Genre typischen Mittel abzulehnen. Deutlich wird dies ins- notwendigerweise mit Gewalt einher-
gegen die typischen Inhal- besondere an der Figur Myriams, der gehen müssten, denn eine islamische
te der Fantasy wendet, also
z.B. gegen eine romantisch
einzigen Frau, mit der der Romanheld Gesellschaftsordnung ist nur als per-
verklärte Sozialordnung. eine dauerhafte Zweierbeziehung hätte manenter Ausnahmezustand denkbar.
Gerade weil dies in vielen eingehen wollen. Es ist kein Zufall, dass Die Vorstellung, alle Probleme könnten
Genres geleistet wurde, er- gerade diese emanzipierte Frau Frank- alleine durch die Gelder der Ölstaaten
scheint heute Genre häufig reich und damit ihn verlassen muss, aus dem Nahen Osten ohne Gewalt
nur noch als Staffage. weil Frankreich sich dem Islam unter- gelöst werden, geht von einem falschen
wirft und für sie als Jüdin und Frau da- Bild eben der islamischen Länder aus,
mit kein Platz mehr ist. Hier wird aber die im Buch als Finanziers auftreten.
auch eine der größten Schwächen des Gerade in den Staaten der Geldgeber
Buches sichtbar: Houellebecqs Weige- zeigt sich, dass Geld nicht alle Proble-
rung die Unterdrückung der Frauen, me der islamischen Gesellschaft löst,
Juden und Andersdenkende zu explizie- sondern permanente Gewaltandrohung
ren. Mit der Entscheidung den Islam als und –ausführung in diesen notwen-
Friedensbringer einzuführen, verfolgt dig ist. Zudem vernachlässigt die im
er die Strategie, so ließe sich Mutma- Roman entfaltete Repatriarchisierung
ßen, den Islam als reale Möglichkeit für der zukünftigen Wirtschaft, in der der
eine europäische Gesellschaftsordnung familiäre Betrieb dominieren soll, die
darzustellen. Hätte er dem Terror der wirtschaftlichen Zwänge einer moder-
islamischen Ordnung, der auf Vernich- nen Gesellschaft.
tung der als Abweichler Ausgemachten Eine Synthese, „eine Verständigung
zielenden und sich somit ständig selbst zwischen Katholizismus und Musli-
befeuernden destruktiven Dynamik men“5, von Frankreich und Islam ist
zu viel Platz eingeräumt, wäre das Zu- sicherlich vorstellbar, aber nicht als ein
kunftsszenario wohl zu düster ausgefal- mediterranes, islamisches Imperium
len und hätte deshalb schnell als isla- mit einer Friedensordnung nach Art
mophobes Schreckgespenst abgelehnt der pax romana, wie sie sich in Unter
werden können. werfung findet. Ohne kritische Fantasie
Aber kann denn ein islamischer wird jeder Roman zu Fantasy,6 stellt
Frieden im Sinne einer islamischen keine Möglichkeit mehr dar, sondern
Ordnung ein wirklicher Frieden oder verbleibt im Unmöglichen. Den Frie-
auch nur ein dauerhaft pazifizierter Zu- den, den Houellebecq in Unterwer-
stand sein? Mit der Ausreise Myriams fung ausmalt, ist nicht nur Fantasy, der
nach Israel gerät nicht nur sie aus dem hemdsärmelige Zuschnitt des Sujets
Blick, sondern auch all die Folgen, die durchzieht programmatisch den Text.
die Islamisierung für all diejenigen be- Dadurch bekommt der Roman Züge
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FragePartikel
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