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Venedig
Ienseits alles Naturalismus, der der Kunst das Gesetz der ihr
Lußeren Dinge auferlegt, steht eine Wahrheitsforderung über ihr:
ein Anspruch, den das Kunstwerk zu erfüllen hat, obgleich er nur
aus ihm selbst quillt. Ruht ein mächtiges Gebälk auf Säulen,
denen wir folche Leistnng nicht zutrauen, geben uns die patheti-
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schen Worte eines Gedichts Anweisung aus eine Leidenschaft und
Tiefe, von denen uns dennoch das Ganze nicht überzeugt, so
fühlen wir den Mangel einer Wahrheit, einer Äbereinstimmung
des Kunstwerkes mit seiner eigenen Idee. Noch einmal aber steht
es vor der Lntscheidung zwischen Wahrheit und Lüge, weil es einem
Gesamtzusammenhang des Seins zugehört. Auf schwer enträtselbare
Weise malt sich hinter jedes Kunstwerk das Wollen und Fühlen einer
bestimmten Seele, eine bestimmte Aufsassung von Welt und Leben
— aber keineswegs immer so, daß das Werk der treue und ange--
messene Ausdruck jener tieferen, allgemeineren Wirklichkeit ist, die
es uns dennoch ihm anzufühlen veranlaßt. Sondern, merkwürdig
genug, manches Kunstwerk gibt uns unmittelbare Anweisung auf
eine innere und metaphysische Welt, die sich in ihm ausdrücken
sollte, tatsächlich aber nicht ausdrückt. Da mögen nun die Teile
untereinander harmonisch und vollkommen sein: das Ganze treibt
aus einer Wurzel, zu der es nicht gehört, und je vollendeter es in
sich ist, desto radikaler ist die Lüge, wenn es sich in den Zusammen--
hang eines inneren Lebens, einer Weltanschauung, einer religiösen
Aberzeugung einstellt, die es in seinem tiefsten Sein dementiert.
An solchen Wahrheiten und solchen Lügen haben die verschie--
denen Künste in verschiedenen Maßen teil. An die Baukunst, von
der hier die Rede sein soll, kann kein Naturalismns die Wahrheits--
forderung im Sinn der Formgleichheit mit einem Lußerlich Ge--
gebenen stellen; um so ersichtlicher beansprucht sie die innere Wahr--
heit: daß die tragenden Kräste den Lasten genügen, daß die Orna--
mente den Platz finden, in dem sie ihre innere Bewegtheit aus--
leben können, daß nicht Einzelheiten dem Stile untreu werden, in
dem das Ganze sich bietet. Geheimnisvoller aber ist die Harmonie
oder der Widerspruch, in dem das Bauwerk mit der seelischen Be--
deutung oder dem Lebenssinne steht, der mit ihm verbunden ist, aus
ihm ausleuchtet — aber nur wie eine Forderung, die es zwar selbst
stellt, aber doch nicht immer selbst erfüllt. Vielleicht liegt hier der
tiefste Rnterschied zwischen der Architektur von Venedig und der von
Florenz. Bei den Palästen von Florenz, von ganz Toskana, emp-
finden wir die Außenseite als den genauen Ausdruck ihres inneren
Sinnes: trotzig, burgmäßig, ernste oder prunkvolle Lntfaltung einer
wie in jedem Steine fühlbaren Macht, jeder die Darftellung einer
selbstgewissen, selbstverantwortlichen Persönlichkeit. Die veneziani--
schen Paläste dagegen sind ein preziöses Spiel, schon durch ihre Gleich--
mäßigkeit die individuellen Charaktere ihrer Menschen maskierend,
ein Schleier, dessen Falten nur den Gesetzen seiner eignen Schönheit
folgen und das Leben hinter ihm nnr dadurch verraten, daß sie es
verhüllen. Iedes innerlich wahre Kunstwerk, so phantastisch und sub--
jektiv es sei, spricht irgend eine Art und Weise aus, auf die das
Leben möglich ist. Fährt man aber den Canal Grande entlang, so
weiß man: wie das Leben auch sei — s o jedenfalls kann es nicht
sein. Hier, am Markusplatz, auf der Piazzetta, empfindet man einen
eisernen Machtwillen, eine finstre Leidenschaft, die wie das Ding
an sich hinter dieser heitern Lrscheinung stehn: aber die Erscheinung
lebt wie in ostentativer Abtrennung vom Sein, die Außenseite erhält
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von ihrer Innenseite keinerlei Direktive und Nahrung, sie gehorcht
nicht dem Gesetze einer übergreifenden seelischen Wirklichkeit, son--
dern dem einer Kunst, das jenes gerade zu dementieren bestimmt scheint.
Indem aber hinter der Kunst, so vollendet sie in sich sei, der Lebens-
sinn verschwunden ist oder in entgegengesetzter Richtung lauft, wird
sie zur Künstlichkeit. Florenz wirkt wie ein Werk der Kunst, weil
sein Bildcharakter mit einem zwar historisch verschwundenen, aber
ideell ihm getreu einwohnenden Leben verbunden ist. Venedig aber
ist die künstliche Stadt. Florenz kann nie zur bloßen Maske wer-
den, weil seine Erscheinung die unverstellte Sprache eines wirklichen
Lebens war; hier aber, wo all das Heitere und Helle, das Leichte
und Freie, nur einem finstern, gewalttätigen, unerbittlich zweck--
mäßigen Leben zur Fassade diente, da hat dessen Untergang nur
ein entseeltes Bühnenbild, nur die lügenhaste Schönheit der Maske
übriggelassen. Alle Menschen in Venedig gehen wie über die Bühne:
in ihrer Geschäftigkeit, mit der nichts geschasft wird, oder mit ihrer
leeren Träumerei tauchen sie fortwährend um eine Ecke herum auf
und verschwinden sogleich hinter einer andern und haben dabei immer
etwas wie Schauspieler, die rechts und links von der Szene nichts
sind, das Spiel geht nur dort vor und ist ohne Arsache in der Realität
des Vorher, ohne Wirkung in der Realität des Nachher. Mit der
Einheit, durch die ein Kunstwerk jedes seiner Llemente seinem Ge-
samtsinn untertan macht, ergreist hier der Oberslächencharakter das
Bild der Menschen. Wie sie gehn und stehn, kausen und verkaufen,
betrachten und reden — alles das erscheint uns, sobald uns das
Sein dieser Stadt, das in der Ablösung des Scheins vom Sein be-
steht, einmal in seinem Bann hat, als etwas nur Zweidimensionales,
wie ausgeklebt aus das Wirkliche und Definitive ihres Wesens. Aber
als habe sich dieses Wesen darunter verzehrt, ist alles Tun ein Da-
vor, das kein Dahinter hat, eine Seite einer Gleichung, deren andre
ausgelöscht ist. Selbst die Brücke verliert hier ihre verlebendigende
Kraft. Sie leistet sonst das Unvergleichliche, die Spannung und die
Versöhnung zwischen den Raumpunkten wie mit einem Schlage zu
bewirken, zwischen ihnen sich bewegend, ihre Getrenntheit und ihre
Verbundenheit als eines und dasselbe fühlbar zu machen. Diese
Doppelfunktion aber, die der bloß malerischen Erscheinung der Brücke
eine tiefer bedeutsame Lebendigkeit unterlegt, ist hier verblaßt, die
Gassen gleiten wie absatzlos über die unzähligen Brücken hin-
weg, so hoch sich der Brückenbogen spannt, er ist nur wie ein Auf-
atmen der Gasse, das ihren kontinuierlichen Gang nicht unterbricht.
And ganz ebenso gleiten die Iahreszeiten durch diese Stadt, ohne
daß der Wandel vom Winter zum Frühling, vom Sommer zum
Herbst ihr Bild merklich Lnderten. Sonst spüren wir doch an der
blühenden und welkenden Vegetation eine Wurzel, die an den wech-
selnden Reaktionen auf den Wechsel der Zeiten ihre Lebendigkeit
erweist. Venedig aber ist dem von innen her sremd, das Grün seiner
spärlichen GLrten, das irgendwo in Stein oder in Luft zu wurzeln
oder nicht zu wurzeln scheint, ist dem Wechsel wie entzogen. Als
HLtten alle Dinge alle Schönheit, die sie hergeben können, an ihre
Obersläche gesammelt und sich dann von ihr zurückgezogen, so daß sie