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KOMPAKT

AKTIV FÜRS KLIMA


Klimawandel Stellungnahme Fridays for Future
Die gängigsten »Wir können uns keine Warum der Klimastreik
Mythen Verzögerung mehr leisten« Hoffnung macht
MARCELC / GE T T Y IMAGES / ISTOCK / NASA
EDITORIAL IMPRESSUM
Daniel Lingenhöhl Chefredakteur: Dr. Daniel Lingenhöhl (v.i.S.d.P.)

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Erscheinungsdatum dieser Ausgabe: 02.10.2019 Leserbriefe zu kürzen.

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INHALT
04 KLIMAWANDEL
SEITE K LIM AWA NDEL
Die gängigsten Mythen
04 Die gängigsten Mythen
13 ARK TIS
Wie sehr der Norden leidet
17 FORST WIRTSCHAF T
Wunderbaum gesucht
23 ENERGIE WENDE
Ökostrom: Außen grün, innen grau?
28 KOHLEKR AF T WERKE
Aussteigen ist komplex
34 KLIMAWANDEL
UNSPL ASH / DOMINIK SCHRÖDER

Erreicht man Umweltbewusstsein


nur über den Geldbeutel?
40 INTERVIE W ZUR KLIMAKRISE
»Wir können uns keine Verzögerung
SEITE KOHLEK R A F T WERK E INTERVIE W ZUR K LIM A K RISE SEITE mehr leisten«
28 Aussteigen ist komplex »Wir können uns keine Verzögerung 40
47 KLIMASCHUT ZPAKE T DER BUNDESREGIERUNG
mehr leisten«
Der Berg, der eine Maus gebar
UNSPL ASH / WOLFGANG HAS SELMANN

50 COVERING CLIMATE NOW


Sollten Wissenschaftler
fürs Klima protestieren?
57 FRIDAYS FOR FUTURE

FRIDAYS FOR FU T URE SEITE


Warum der Klimastreik
Warum der Klimastreik 57 Hoffnung macht
Hoffnung macht
CRE ATIVENATURE _NL / STOCK.ADOBE.COM

DISOBE YART / STOCK.ADOBE.COM

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PJPHOTO69 / GE T T Y IMAGES / ISTOCK

KLIMAWANDEL

DIE GÄNGIGSTEN

OW
EN
MYTHEN

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I

M
CL
NG
COV ERI

von Christopher Schrader


Welche Rolle spielt Kohlendioxid tatsächlich? Ist die
heutige Erwärmung einzigartig in den letzten
Jahrtausenden? Wir widerlegen einige der beliebtesten
Behauptungen von so genannten Klimawandelskeptikern.

4
K
limaforschung profitiert wie dings immer wieder die Erfahrung ge- Kohlendioxid sind mit 95-prozentiger Si-
jede Wissenschaft von ihrer macht: Die Gegner einer ambitionierten cherheit die dominante Ursache – so steht
Suche nach den besten Ant- Klimapolitik haben oft keinerlei Interesse, es im IPCC-Bericht von 2013. »Dominant«
worten, von Skepsis und Wi- wirklich etwas zu verstehen, und genauso heißt je nach untersuchtem Phänomen, dass
derspruch. Sie präsentiert wenig Neigung, ihre Meinung zu ändern. CO2 deutlich mehr als die Hälfte und bis zu
ihre Ergebnisse einer (Fach-)Öffentlichkeit, Im Folgenden präsentieren wir zu einigen neun Zehntel des Effekts erklärt. Die ameri-
die Daten und Schlussfolgerungen prüfen der häufigen Einwände daher modellhaft kanischen Wissenschaftsakademien fassten
soll. Weil die Dinge so kompliziert sind, kann Erwiderungen, die auf dem heutigen Stand zuletzt im Juni 2019 zusammen: »Wissen-
es zu allen Punkten Fragen und Kritik ge- der Wissenschaft basieren. schaftler wissen schon seit einiger Zeit aus
ben, besonders weil die Resultate Anlass zu vielfältigen Beweisketten, dass die Men-
weit reichenden wirtschaftlichen und ge- Die Wissenschaft ist sich in Grundfragen schen das Klima der Erde verändern.«
sellschaftlichen Reformen geben könnten. vollkommen einig Diese Veränderung ist für das heutige
Gleichzeitig haben die Gegner solcher Wer auf einen Forscherstreit verweisen Leben auf der Erde, einschließlich der
Veränderungen den wissenschaftlichen kann, braucht erst einmal keine Konse- Menschheit, gefährlich. Die schnelle Erhit-
Prozess als vermeintliche Achillesferse ei- quenzen zu ziehen, bis sich die Fachwelt ei- zung bedroht Lebensräume, Lebensunter-
ner ambitionierten Klimapolitik erkannt. nigt. Daraus entstand sozusagen die Mut- halt, Lebensmodelle und das Leben selbst.
Schließlich sprechen Wissenschaftler von ter aller Mythen. Die Illusion eines solchen Die Menschheit kann jedoch dagegen an-
»Unsicherheit«, wenn sie sich gegenseitig Zwistes versuchen die Gegner einer ambi- kämpfen, um die größten Risiken abzu-
Rechenschaft darüber ablegen, wie genau tionierten Klimapolitik oft zu erzeugen, in- wenden. Diese Botschaft hat der Umwelt-
ihre Messungen und Berechnungen sind. dem sie Forscher in sinnlose Debatten über forscher Anthony Leiserowitz von der Yale
Das zu tun, ist ein Qualitätsmerkmal, wird längst geklärte Fragen verwickeln. University zu folgendem Slogan verdich-
aber in der Alltagssprache als Mangel ab- Tatsächlich sind sich die Klimatologen in tet: »It's real, it's us, it's bad, experts agree,
getan. Wer einzelne Erkenntnisse der Kli- den Grundfragen ihres Fachs praktisch voll- there's hope.« Es ist die Motivation für Kli-
maforschung in Frage stellt, kann sowohl kommen einig – etwa auf dem gleichen Ni- maschutz in zehn Wörtern.
ehrenhaft als auch missbräuchlich han- veau, wie Übereinstimmung über die Relati- Weil die Behauptung, es gäbe keine Ei-
deln. Viele Wissenschaftler haben aller- vitätstheorie und ihre Erklärung der Schwer- nigkeit, die Mutter aller Mythen ist, ist die
kraft besteht. Der Konsens besagt: Die Erde Korrektur auch die Mutter aller Widerle-
Christopher Schrader ist Wissenschaftsjournalist erwärmt sich, die von der Menschheit frei- gung. Forscher in den USA betrachten das
in Hamburg. gesetzten Treibhausgase und besonders Betonen des Konsenses als Portal, um ihre

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zweifelnden Landsleute zu überzeugen:
Wenn es keinen Forscherstreit gibt, dann
kann und muss die Politik aus den Ergeb-
nissen der Wissenschaft endlich Konse-
quenzen ziehen. Diese Idee ist inzwischen
ihrerseits so oft wissenschaftlich überprüft
worden, dass man sogar von einem Kon-
sens über den Konsens sprechen kann.
Die Einigkeit in Grundfragen bedeutet

STEFAN R AHMSTORF, NACH: COUMOU, D., ROBINSON, A.: HISTORIC AND FUTURE INCRE ASE IN THE GLOBAL L AND ARE A AFFECTED
übrigens nicht, dass die Klimaforschung
ein abgeschlossenes Gebiet ist. Wichtige

BY MONTHLY HE AT E X TREMES. IN: ENVIRONMENTAL RESE ARCH LE T TERS 8, 034018, 2013, FIG. 2 / CC BY 3.0 (CC BY)
Fragen sind noch ungeklärt, etwa Details
der Wolkenbildung oder des Kohlenstoff-
kreislaufs. Das stellt die Grunderkenntnis-
se allerdings nicht in Frage.

Das Klima hat sich immer wieder geän-


dert, aber heute passiert etwas anderes
Bilder und Berichte aus früheren Jahrhun-
derten belegen, dass sich das Klima natür-
lich auch früher schon geändert hat. Im
Hochmittelalter gab es in Europa eine
Warmperiode, in deren Verlauf unter ande-
rem die Wikingerüberfälle und ihre Besied- Hitzewellen
lung von Grönland fielen.
Anteil der Landfläche unseres Planeten, deren Monatstemperaturen eine, zwei oder drei Stan-
Außerdem zeigen zum Beispiel Bilder dardabweichungen über dem Mittelwert von 1951 bis 1980 liegt. Zwei Standardabweichungen
alter holländischer Meister, dass im 17. Jahr- entsprechen schon einer seltenen Hitzewelle, drei Standardabweichungen kommen in einem
hundert regelmäßig im Winter die Grach- stabilen Klima fast nie vor.
ten und Gräben des Landes zufroren. Es

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war der Höhepunkt einer Kälteperiode in Die Ursachen früherer Veränderungen nen mit verschiedenen Methoden ausge-
Europa, die oft »Kleine Eiszeit« genannt sind zwar nicht in allen Einzelheiten ge- wertet. Sieben solche Ansätze haben über-
wird. Sie endete kurz vor der Industrialisie- klärt, aber generell bekannt. Sie haben oft einstimmende Werte ergeben. Demnach
rung. Das bestreitet kein seriöser Klimafor- mit der Lage der Erde auf ihrer Bahn um die verlief nur die Erhitzung im 20. und 21.
scher, es ist jedoch irrelevant für die mo- Sonne zu tun, den so genannten Milanko- Jahrhundert wirklich auf der ganzen Welt
mentanen Veränderungen. wic-Zyklen, ebenso wie mit geologischen relativ synchron und gleich schnell. Dage-
Der Subtext solcher Behauptungen ist Prozessen und dem Auf und Ab der Treib- gen fand die Kleine Eiszeit im 15. Jahrhun-
meist: Wenn sich das Klima früher verän- hausgase. Doch seit der Industrialisierung dert vor allem im zentralen und östlichen
dert hat, als die Menschheit gar nicht hat die Menschheit mit ihrer Energietech- Pazifik statt, im 17. Jahrhundert in Europa
schuld gewesen sein kann, ist sie auch für nik große Mengen zusätzlicher Treibhaus- und Teilen Nordamerikas, wo viele Zeitzeu-
die heutige Erwärmung nicht verantwort- gase freigesetzt. Zurzeit sind es etwa 40 Mil- gen darüber berichteten, und erst Anfang
lich. Doch zwischen den Klimaschwankun- liarden Tonnen CO2 pro Jahr, hinzu kom- des 19. Jahrhunderts wegen einiger Vulkan-
gen der Vergangenheit und den heutigen men Methan, Lachgas, FCKW und andere. ausbrüche dann überall sonst.
Veränderungen gibt es gewaltige Unter- Sie fangen einen Teil der Wärmestrahlung
schiede. In unserer Zeit erwärmt sich die auf, die von der Erdoberfläche Richtung Es gibt viele Beweise, dass CO2
Erde bezogen auf den Zeitraum viel stärker Weltraum abgegeben wird, und verändern die Erwärmung verursacht; es ist
als in der Vergangenheit. Seit der Industria- so die Wärmebilanz der Erde schneller und ein wichtiges Spurengas
lisierung ist es ungefähr ein Grad pro Jahr- stärker als natürliche Einflüsse. CO2 macht nur 0,041 Prozent der Atmo-
hundert wärmer geworden, und betrachtet Ein weiterer Unterschied zu den histori- sphäre aus; davon ist inzwischen ein gutes
man den Zeitraum seit ungefähr 1979, be- schen Klimaschwankungen ist, dass nur Viertel von der Menschheit in der Lufthül-
trägt die Erhitzung hochgerechnet sogar die momentane Erwärmung wirklich ein le freigesetzt worden. Die Konzentration
2,5 Grad pro Jahrhundert. Am Übergang weltweites Phänomen darstellt – das mit- im Frühjahr 2019 betrug 414,8 ppm (parts
von der jüngsten Eiszeit zur Warmzeit, dem telalterliche Optimum oder die Kleine Eis- per million). Vor der Industrialisierung wa-
dramatischsten natürlichen Klimawandel zeit aber nicht. Das zeigte jüngst wieder ren es 280 ppm; der so genannte Taylor-Eis-
der vergangenen 100 000 Jahre, heizte sich eine Untersuchung eines Teams internati- bohrkern aus der Antarktis zeigt, dass die
die Erde nach IPCC-Angaben lediglich um onaler Klimaforscher um Raphael Neukom Werte in den vergangenen 11 000 Jahren
höchstens 0,15 Grad pro 100 Jahre auf. Der von der Universität Bern. Das Konsortium nur um 15 ppm von 265 auf 280 gestiegen
heutige Temperaturanstieg verläuft also hat Daten aus unterschiedlichen Quellen sind – und dann in gut 150 Jahren um wei-
deutlich schneller. wie Baumringen, Korallen oder Tropfstei- tere 130 ppm, mit einer erkennbaren, wei-

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teren Beschleunigung in den vergangenen ppm-Bereich gemacht. Klimawandelleug- den CO2-Werten zu steigen beginnen. Wie
Jahrzehnten. So hoch wie heute war der ner erklären sie darum gern zur Manipula- soll das damit verträglich sein, dass Koh-
Spiegel des Gases vermutlich seit ungefähr tion. Tatsächlich geht es aber um einen lendioxid die Erwärmung auslöst, fragen
drei Millionen Jahren nicht mehr; in jener qualitativen Nachweis: In den kleinen Vo- dann einige. Doch dass die zyklischen Kalt-
Ära standen die Ozeane wahrscheinlich 20 lumina der Testgefäße und in der begrenz- und Warmzeiten der letzten zwei Millio-
Meter höher als heute. ten Zeit würde sich sonst überhaupt kein nen Jahre ihren Ursprung in regelmäßigen
Doch der geringe Anteil von CO2 macht messbarer Effekt zeigen. Es kommt schließ- Veränderungen der Erdbahn haben, ist seit
die Erde erst zum lebenswerten Planeten. lich darauf an, wie oft Wärmestrahlen auf Jahrzehnten bekannt. Während die Astro-
Ohne die Atmosphäre, die mit ihrem Treib- dem Weg durch das Volumen auf Kohlen- nomie den groben Rhythmus vorgibt, er-
hauseffekt einen Teil der abgestrahlten dioxidmoleküle treffen und von diesen zeugt das Kohlendioxid durch eine positi-
Wärme auffängt, wäre die Erde nach einfa- aufgehalten werden können. Im Experi- ve Rückkopplung die starken Erwärmun-
chen physikalischen Gesetzen im Durch- ment wird die Länge in Zentimetern ge- gen am Ende jeder Kaltzeit. Am Beispiel der
schnitt etwa minus 18 Grad Celsius kalt; messen, in der Atmosphäre in Kilometern. letzten Eiszeit hat eine Studie von 2012 die
das meiste Wasser wäre gefroren. Stattdes- Um diesen Faktor auszugleichen, muss die Vorgänge erklärt. Zunächst erwärmte sich
sen liegt die Mitteltemperatur aber bei plus Konzentration erhöht werden. die Antarktis durch Veränderungen in der
15 Grad Celsius: Ozeane wogen, Flüsse flie- In der Tat ist es so, dass Satelliten genau Erdbahn um die Sonne. Das setzte dort CO2
ßen, Quellen sprudeln. Diese Zusammen- messen können, wie die von der Erde ins in die Atmosphäre frei, und dieses verstärk-
hänge wurden bereits im 19. Jahrhundert Weltall abgestrahlte Wärmeenergie ab- te die Erwärmung so sehr, dass sie zum glo-
von Joseph Fourier, John Tyndall und vor nimmt – weil Kohlendioxid und andere balen Phänomen wurde. Mehr als 90 Pro-
allem Svante Arrhenius erkannt. Treibhausgase die Wärme in der Atmosphä- zent des Temperaturanstiegs passierten
Manche bezweifeln dennoch, dass CO2 re halten und auf die Oberfläche zurück- dann nach dem Anstieg der Kohlendioxid-
wirklich die Erde erwärmt. Sie machen sich strahlen. Gleichzeitig zeigen Messgeräte konzentration.
gern über öffentliche Experimente lustig, am Boden, wie hier mehr langwelliges Inf- Schließlich gibt es noch den Einwand,
wonach erhöhte CO2- und Methanspiegel rarot von oben ankommt. Beide Ergebnisse das Treibhausgas Kohlendioxid sei doch ei-
in der Luft zu höheren Temperaturen füh- passen zur Theorie, dass Kohlendioxid für gentlich ein Dünger und Pflanzennahrung.
ren, etwa eine Demonstration der US-Fern- die Erwärmung verantwortlich ist. Und wirklich haben viele Pflanzen von dem
sehshow »Mythbusters«. Denn solche Ver- Für Verwirrung unter Laien sorgt auch, bisherigen Anstieg der CO2-Werte profitiert.
suche werden mit weit überhöhten Wer- dass manche Grafiken zeigen, wie die Tem- Die Satelliten stellen eine Ergrünung des
ten der Treibhausgase im Prozent- statt peraturen etwa am Ende einer Eiszeit vor Planeten fest. Der IPCC konstatiert im jüngs-

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NASA, GODDARD INSTITUTE FOR SPACE STUDIES (GISS)
ten Landreport, etwa ein Viertel bis zur den, sowie menschliche Eingriffe wie ver- ERDERWÄRMUNG
Hälfte der Landfläche sei grüner und nur stärkte Düngung über die Atmosphäre eine Abweichungen der Durchschnittstemperatu-
ein Bruchteil brauner geworden. Besonders Rolle. ren der Jahre 2005 bis 2009 verglichen mit
in höheren Breiten, also näher an den Po- Zum Problem wird jedoch, dass sich der Zeit von 1951 bis 1980: Gelbe und rote
len, bemerken die Forscher erhöhte Erträge gleichzeitig die Luft erwärmt und Wetterex- Töne geben höhere, blaue Farben kühlere
für Getreide, Zuckerrüben und Baumwolle. treme zukünftig zunehmen können und/ Werte wieder. Im globalen Rahmen zeichnet
Auch Bananen wachsen heute besser als oder sich intensivieren. Darum warnt der sich eine deutliche Erwärmung ab, die in der
1961. Dabei spielen neben dem erhöhten Weltklimarat auch vor zunehmender Nah- Arktis besonders ausgeprägt ausfiel.
CO2-Spiegel die Folgen der Erderwärmung, rungsmittelunsicherheit in der Zukunft. In
zum Beispiel verlängerte Vegetationsperio- niedrigeren Breiten, das heißt Richtung Tro-

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pen, sinken die Erträge bereits. Von den Ba- 2081 bis 2100 könnten die Temperaturen zu verabschieden, oder setzen sich Leugner
nanenexporteuren könnten Brasilien und um 0,3 bis 4,8 Grad höher liegen als zwi- im Präsidentenrang wie Donald Trump und
Kolumbien als Erste von zurückgehenden schen 1986 und 2005. Darüber kann man Jair Bolsonaro durch? Damit die Berech-
Ernten betroffen sein. sich leicht lustig machen, denn dieser Satz nungen nicht davon abhängen, was sich die
Und selbst wenn die Felder nicht durch scheint kaum Information zu enthalten. Da- einzelnen Forschergruppen ausdenken, hat
Dürren oder Überschwemmungen verwüs- für gibt es zwei wesentliche Gründe: Erstens der IPCC vier Standardszenarien für mögli-
tet werden, beeinflussen die erhöhten Tem- ist die Simulation des Klimasystems ein- che zukünftige Treibhausgasemissionen
peraturen die Physiologie der Pflanzen. Ein kniffliges Geschäft. Supercomputer zerle- entworfen, die alle Forschergruppen ver-
wichtiges Protein funktioniert dann nicht gen die Erde und die Atmosphäre in kleine wenden. Auch darum nennen die Forscher
mehr so gut. Ihr Gehalt an Nährstoffen Stückchen und berechnen dann immer wie- ihre Berechnungen »Projektionen«, nicht
könnte sinken. Das zeigten unter anderem der, wie sich darin auf Grund physikalischer »Prognosen«: Ihre Simulationen erlauben
große Freilandversuche, bei denen die For- Gesetze Temperatur, Luftdruck, Feuchtege- Aussagen über Wettermuster, aber nicht
scher zusätzliches CO2 zwischen die Pflan- halt und so weiter verändern. Wenn eine über das Wetter an bestimmten Tagen im
zen pumpten – auf einem Niveau, das Mit- solche Simulation die ganze Erde bis zum Jahr 2100.
te dieses Jahrhunderts erreicht sein könn- Ende des Jahrhunderts berechnet, messen Die Fehlerquellen sind den Forschern
te. Getreide wie Weizen und Reis enthielten die Zellen oft mehr als 100 Kilometer und bewusst, darum haben sie mehrere Ebenen
im Bereich von fünf bis zehn Prozent weni- übergehen darum zwangsläufig die Dimen- zur Überprüfung eingezogen. Zum einen
ger Protein, Eisen und Zink. In Hülsen- sionen, in denen Menschen leben. Dabei starten die Modellrechnungen weit in der
früchten wie Erbsen und Soja gingen die müssen die Autoren der Modelle eine Viel- Vergangenheit, gefüttert mit Wetterdaten
beiden Spurenmetalle zurück. Getreide zahl kleiner Entscheidungen treffen, wie und anderen Messungen aus jener Ära. Der
wie Mais und Hirse zeigten keine ausge- ihre Software dieses oder jenes behandelt. Computer muss daraus die heutigen Ver-
prägten Effekte; sie haben eine etwas ande- Es ist darum kaum verwunderlich, wenn hältnisse errechnen – und bloß wenn diese
re Physiologie. Kalkulationen aus Hamburg, Reading/Eng- Kalkulation mit der Wirklichkeit überein-
land und Boulder/Colorado in Details von- stimmt, bringen die Forscher den Ergeb-
Klimamodelle sind die best- einander abweichen. nissen für die Zukunft überhaupt Vertrau-
mögliche Annäherung an die Zukunft, Zweitens müssen die Forscher Annah- en entgegen. Das klappt für gewöhnlich
aber keinesfalls perfekt men treffen, wie sich die Menschheit in den nur dann, wenn die steigenden CO2-Werte
Aus dem jüngsten IPCC-Bericht kann man kommenden Jahrzehnten verhält. Gelingt in der Atmosphäre berücksichtigt werden,
Aussagen herauslesen wie: Im Zeitraum von es, eine weltweite stringente Klimapolitik dann allerdings sehr gut.

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Zum anderen vergleichen die Arbeits- gekommen ist. Dabei ginge es allerdings Die Klimasensitivität ist schon lange fast
gruppen ihre Resultate regelmäßig mitein- wohl eher um Jahrhunderte als um Jahre. mehr ein politischer Kampfbegriff als ein
ander und überprüfen ältere Projektionen, Im Prinzip ist die Klimasensitivität (engli- wissenschaftliches Konzept. Entsprechend
die zum Beispiel 2004 und 2011 für die sche Abkürzung: ECS) so etwas wie die einseitig ist oft die Interpretation; sich auf
damals jeweils anstehenden IPCC-Berichte PS-Angabe eines Motors. eine Grenze zu konzentrieren, ist ein Fehler.
angefertigt wurden, gegen die Tempera- In seinem jüngsten kompletten Report Schließlich ist der obere Rand genauso wahr-
turentwicklung bis 2018. Zurzeit liegt zwar von 2013/14 hat der Weltklimarat Folgen- scheinlich wie der untere. Das Klimasystem
der Mittelwert der vor acht Jahren errech- des dazu gesagt: Die Klimasensitivität im könnte also genauso gut relativ träge wie
neten Temperaturen ein wenig höher als Gleichgewicht liegt wahrscheinlich zwi- sehr reaktionsfreudig sein. Und selbst wenn
die tatsächlich gemessenen, nach dem sta- schen 1,5 und 4,5 Grad Celsius. Es ist ext- die ECS am unteren Rand des 66-Prozent-Be-
tistisch oft verwendeten 95-Prozent-Signi- rem unwahrscheinlich, dass sie unter ei- reichs läge, also bei nur 1,5 Grad, käme die
fikanzkriterium stimmen beide jedoch nem Grad liegt, und sehr unwahrschein- Menschheit nicht um eine deutliche Reduk-
überein. lich, dass sie mehr als sechs Grad beträgt. tion der CO2-Emissionen herum, stellten
Neben den breiten Temperaturspannen Auf einen zentralen Schätzwert, ein so ge- 2015 Wissenschaftler des Max-Planck-Insti-
veröffentlicht der IPCC zudem die zentra- nanntes »Best Estimate«, konnten sich die tuts für Meteorologie in Hamburg fest.
len Schätzwerte der Modelle für das Jahr Autoren des Berichts aber nicht einigen,
2100. Sie beziffern die mögliche Erwär- schreiben sie in einer Fußnote: Es gebe da Deutschland allein kann und
mung auf 1,0 Grad bei ehrgeizigem und 4,1 zu wenig Übereinstimmung zwischen ver- muss ziemlich viel tun
Grad Celsius bei fehlendem Klimaschutz. schiedenen Methoden, den Wert zu be- Diesen Einwand kann man nicht allein
rechnen. naturwissenschaftlich beantworten. Der
Der IPCC weiß viel über In manchen Schriftstücken aus der Sze- deutsche Anteil am globalen Ausstoß von
die Klimasensitivität ne der Klimawandelleugner wird aus- Treibhausgasen beträgt etwa zwei Prozent.
Die Klimasensitivität ist ein komplizierter schließlich diese Fußnote zitiert und der Wer allein diese Zahl betrachtet und politi-
Begriff in der Klimaforschung. Sie gibt die Rest weggelassen. Dabei bedeuten die Be- sche, wirtschaftliche und historische Fak-
Temperaturerhöhung an, die man messen griffe wahrscheinlich, sehr wahrscheinlich toren ignoriert, könnte denken, dass es auf
könnte, wenn man erst die Menge von CO2 und extrem wahrscheinlich, dass es zu 66, Deutschland nicht ankomme und es ganz
verdoppelt – also von den vorindustriellen 90 oder 95 Prozent sicher ist, wo die ECS sicher nicht vorangehen müsse.
280 auf 560 ppm – und dann so lange war- liegt. Das ist für einen solchen Fachbegriff Aber: Deutschland hat sich als größter
tet, bis die Atmosphäre ins Gleichgewicht eine verhältnismäßig klare Aussage. Staat der EU zu einer koordinierten Klima-

11
KOMPAKT
schutzpolitik verpflichtet; im Augenblick muss also nach dem Pariser Vertrag eine
scheint die Regierung sogar eine mögliche historische Verantwortung übernehmen.
Verschärfung der Ziele unter der kommen- Das Abkommen weist den Staaten der Welt
den EU-Kommissionspräsidentin Ursula »common but differentiated responsibili-
von der Leyen zu unterstützen. Es ist jedoch ties« (gemeinsame, aber differenzierte
völlig unklar, wie Deutschland seine über- Pflichten) zu. Heute ist Deutschland die
nommenen nationalen Pflichten erfüllen viertstärkste Wirtschaftsmacht in der Welt
kann. Zwar ist im Stromsektor mit den er- und die stärkste in Europa – wenn es also so-

GEFÜHLTE
neuerbaren Energiequellen wie Wind und zusagen die Hände in den Schoss legt, wer-
Sonne einiges passiert, obwohl die alten den sich andere Staaten fragen, warum sie

WAHRHEIT
Kohlekraftwerke momentan weitere Redu- vorangehen sollen. Doch wenn das reiche
zierungen behindern. Doch in den Sekto- Deutschland Lösungen für die Umstellung
ren Verkehr, Gebäude und Landwirtschaft der Wirtschafts- und Lebensweise findet, Von Pseudowissenschaft
gibt es wenig oder keinen Fortschritt; die je- dürften andere folgen. Unser Land hat dem- und Verschwörungstheorien
weiligen Vorgaben werden weit verfehlt. nach so oder so einen Hebel, der weit größer
EU-Beschlüsse sehen vor, dass Länder, ist als sein Anteil an den Treibhausgasemis- Chemtrails & Co
8 Fakten zu
die ihre Ziele in diesen Sektoren nicht er- sionen. Es ist eine politische, vielleicht auch
Verschwörungstheorien
füllen, von anderen Mitgliedern der Union moralische Frage, ob es den Hebel nutzt –
Zertifikate kaufen müssen. Wie genau das die Naturwissenschaften können das nicht Fake News
Täuschend echt?
aussehen soll und was die Verschmut- entscheiden. 
zungsrechte kosten, ist noch ungeklärt. Es Alternativmedizin
könnte aber um Ausgaben von einigen Mil- (Spektrum – Die Woche, 38/2019) Die Denkfehler
der Homöopathie
liarden Euro bis 2030 gehen.
Daher hat Deutschland ein politisches
und wirtschaftliches Eigeninteresse daran,
eine allein national wirksame Klimapolitik
zu betreiben. Es gehört zudem zu den alten
EACHAT / GETTY IMAGES / ISTOCK
Industrieländern, in denen die großtechni- FÜR NUR
€ 4,99
sche Nutzung von Kohle begonnen hat. Es
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ARKTIS

Wie sehr der Norden leidet

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M
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von Alexandra Witze


Von verheerenden Waldbränden bis hin zum schmelzenden Eis in Grönland –
die Arktis wandelt sich rapide und drastisch.
SEPPFRIEDHUBER / GE T T Y IMAGES / ISTOCK

13
Exklusive Übersetzung aus

C
helsea Wegner reiste im Juli des letzten arktischen Winters und Früh- mum von 3387 Millionen Quadratkilome-
2019 zu einem Forschungs- lings den Aufbau des Eises und bildete so tern zwar nicht unterbieten. Doch sie be-
aufenthalt im Beringmeer, die Grundlage für den dramatischen Eis- legt erneut, dass das Meereis in einer Ab-
als sie in Anchorage, Alaskas verlust des Sommers. Besonders deutlich wärtsspirale gefangen ist.
größter Stadt, anlegte. Sie war zeigte sich diese Dynamik im Beringmeer. In jedem der letzten fünf Jahre hat sich
schockiert: Der Rauch von Waldbränden, »Von Januar bis Mai gab es schlichtweg kein das Ausmaß des arktischen Meereises im
die im ganzen Bundesstaat wüteten, ver- Eis im Beringmeer«, sagt Alice Bradley, Po- September deutlich unter dem Mittel von
dunkelte den Himmel. Anchorage befand larwissenschaftlerin am Williams College 1981 bis 2010 bewegt. Und auch das Eisvo-
sich inmitten einer Hitzewelle, bei der die in Williamstown. »Das haben wir noch nie lumen nimmt rapide ab. Das im Juli ver-
Temperaturen zum ersten Mal seit Beginn zuvor gesehen.« Ein Tiefdruckgebiet hing zeichnete Niveau von 8800 Kubikkilome-
der Aufzeichnungen auf über 32 Grad Cel- fast den ganzen Februar lang über dem tern liegt 47 Prozent unter dem Mittelwert
sius stiegen. Außerdem wusste Wegner, Meer, führte warme Luft aus dem Süden der Jahre 1979 bis 2018.
Meeresbiologin an der University of Mary- herbei und trieb das bisschen Eis, das sich Der winterliche Gefrierprozess beginnt
land in Solomons, dass die ungewöhnliche bildete, in nördlichere Gewässer. Mitte bis Ende September. Ein Großteil des
Wärme schon fast das gesamte Meereis in Im Frühjahr und Sommer schmolz das sich neu bildenden Eises wird aber dünn
der Beringsee geschmolzen hatte. »Es war arktische Meereis schneller weg, als es für sein und wahrscheinlich schon im nächs-
ein wirklich surrealer Moment«, sagt sie. Gebiete wie die Beaufortsee und den zent- ten Jahr wieder schmelzen. Mehrjähriges,
ralen Arktischen Ozean üblich ist. Im Juli dickes Eis ist großflächig verschwunden.
Meereis in der Abwärtsspirale erreichten Ausmaß und Volumen des Eises
Nach einer langen Schmelze im Sommer Rekordtiefststände. Anfang August war in- Grönland schmilzt
friert das arktische Meer im Winter norma- nerhalb von 240 Kilometern vor der Küste Die extreme Hitze des Sommers setzte
lerweise wieder zu – in diesem Jahr behin- Alaskas kein Meereis mehr zu sehen. auch der gewaltigen Eisdecke Grönlands
derte die ungewöhnliche Wärme während Die Forscher warten noch darauf, dass zu. Ende Juli waren die Temperaturen auf
das arktische Meereis seine endgültige Mi- der ganzen Insel bis zu zwölf Grad Celsius
nimalbedeckung in diesem Jahr erreicht. höher als für den Monat üblich.
Alexandra Witze ist Wissenschaftsjournalistin in
Boulder, Colorado, und hat sich auf die Themen Erde, Die Schmelzsaison 2019 dürfte das am 17. An der Summit Station, einem For-
Umwelt und Astronomie spezialisiert. September 2012 gemessene Rekordmini- schungslager, das sich auf dem höchsten

14
Punkt der Eisschicht befindet, lagen die
Temperaturen am 30. und 31. Juli über dem
Gefrierpunkt. Wie selten das ist, zeigen Eis-
bohrkerne: Zwischen 500 und 1994
schmolz das Eis auf dem Gipfel lediglich
achtmal.
Während einer nur fünftägigen Hitze-
welle in diesem Jahr hat Grönland rund 55
Milliarden Tonnen Eis verloren, schätzungs-
weise 13 davon allein am 1. August 2019. Das
ist seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr
1950 der Rekord für einen 24-Stunden-Zeit-
raum.
Insgesamt haben in diesem Sommer
etwa 60 Prozent der Oberfläche der grön-
ländischen Eisschicht gelitten. Das ist viel –
allerdings immer noch weniger als 2012.
Damals waren 98 Prozent der Eisoberflä-
che zumindest zeitweise von Schmelze be-
troffen.
Durch Wasser, das an der Oberfläche ei-
ner schmelzenden Eisfläche entsteht, so-

REKORDTEMPERATUREN IN DER ARKTIS


Große Teile Alaskas wurden vom 4. bis 8. Juli
NOA A CLIMATE.GOV

2019 von einer Hitzewelle überrollt. Die Tempe-


raturen in Anchorage überschritten zum ersten
Mal in der Geschichte die 32-Grad-Marke.

15
wie das Kalben der Gletscher hat Grönland kas die Hitzerekorde gebrochen. Tausende an als sonst. Um sicherzustellen, dass sie
in diesem Jahr wahrscheinlich etwas mehr Seevögel starben in den überdurchschnitt- genügend Feuerwehrleute hatten, um die
als 1,5 Millimeter zum globalen Anstieg des lich warmen Gewässern vor der Küste – Brände zu bekämpfen, mussten Beamte
Meeresspiegels beigetragen, schätzt der hauptsächlich durch Hunger. Es ist das die offizielle Saison der Feuerwehr um ei-
Polarforscher Xavier Fettweis von der Uni- fünfte Jahr in Folge, in dem das geschieht. nen Monat, von Ende August bis Ende Sep-
versität Lüttich in Belgien. Vergleichen die In Schweden meldete das Dorf Markus- tember, verlängern.
Forscher außerdem die Masse, die während vinsa am 26. Juli eine Temperatur von 34,8 In Sibirien fielen mehr als 2,6 Millionen
der diesjährigen Sommerschmelze verlo- Grad Celsius – die höchste jemals gemesse- Hektar dem Feuer zum Opfer. Hohe Tem-
ren ging, mit der Schneemenge, die wäh- ne Temperatur oberhalb des Polarkreises. peraturen, Trockenheit, Winde und Gewit-
rend des vorangegangenen Winters gewon- Bevor die Hitzewelle Ende Juli Grönland er- ter trugen dazu bei, die Brände zu entfa-
nen wurde, dürfte Grönland 2019 mindes- reichte, rollte sie über Westeuropa. Zum chen und zu verbreiten. Städte in ganz Ost-
tens so viel – oder sogar mehr – Eis verloren ersten Mal in der Geschichte der niederlän- russland waren in Rauch gehüllt. Ende Juli
haben wie im Extremjahr 2012. dischen und belgischen Aufzeichnungen rief Russland den Ausnahmezustand für
stiegen die Temperaturen dort auf über 40 mehrere sibirische Regionen aus.
Die Temperaturen schossen in die Höhe Grad Celsius. Im August ließen die Feuer in Alaska und
Laut dem europäischen Copernicus Climate Alaska brach Anfang September immer Sibirien endlich nach. Dennoch zählen sie
Change Service und der US-amerikanischen noch Rekorde: Mehrere Städte im Norden zu den langwierigsten arktischen Waldbrän-
Oceanographic and Atmospheric Administ- des Landes stellten Temperaturhochs für den, die je aufgezeichnet wurden. Allein im
ration war der Juli 2019 der heißeste Monat, den Monat auf. Juni emittierten sie 50 Millionen Tonnen
der weltweit je verzeichnet wurde. Doch Kohlendioxid. Wie der Copernicus Atmo-
nicht nur der diesjährige – jeder Juli der letz- Feuer entfacht spheric Monitoring Service der Europäi-
ten fünf Jahre zählt zu den fünf heißesten Die Hitze und vor allem die begleitende schen Kommission mitteilte, entspricht das
Monaten der Messgeschichte. Dürre verwandelten den Wald der nördli- etwa den gesamten jährlichen CO2-Emissio-
Die arktischen Teile Alaskas, Westkana- chen Regionen in wahre Zunderbüchsen. nen Schwedens und übertrifft den Ausstoß
das und Zentralrusslands erlebten von Ja- Mehr als eine Million Hektar Wald brann- aller arktischen Waldbrände, die in den letz-
nuar bis Juli Temperaturen, die mindes- ten in diesem Sommer in Alaska, vor allem ten neun Jahren im Juni auftraten. O
tens um zwei Grad Celsius über dem Durch- in südlichen und zentralen Teilen. Die Zeit
schnitt lagen. In der ersten Juliwoche der Brände begann im April. Das ist unge-
wurden in vielen südlichen Städten Alas- wöhnlich früh. Zudem dauerte sie länger (Spektrum – Die Woche, 38/2019)

16
SONJANOVAK / STOCK.ADOBE.COM

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FORSTWIRTSCHAFT RIN
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WUNDERBAUM GESUCHT
COVE

von Andreas Frey

17
Die anhaltende Dürre hat dem Wald schwer zugesetzt. Selbst einheimische Bäume
kommen mit der Trockenheit immer schlechter klar. Für den deutschen Wald der
Zukunft müssen Baumarten aus heißeren, trockneren Gegenden eingeführt
werden. Doch eingeführte Baumarten können zu ökologischen Wüsten führen.

A
ls die Mutter des Waldes hat wachsene Buche normalerweise, doch vie- Außerdem sei es möglich, dass der Was-
man die Buche früher be- le Bäume sind 2019 gar nicht mehr ausge- sertransport im Stamm versagt hat, die Bäu-
zeichnet, als einen vitalen trieben. Äste brechen ab, die Rinde platzt me also vertrocknet sind. Zusätzlich könn-
und beständigen Baum, der auf, überall liegt morsches Holz. Übrig ten Pilze den Bäumen geschadet haben. Die
das Leben im Wald nährt bleibt ein trauriger Stumpf. Buche ist auch deshalb angeschlagen, weil
und beschützt. Doch jetzt scheint die Mut- In Deutschland gleichen sich die Bilder. 2018 ein Mastjahr war, der Baum also einen
ter des Waldes selbst auf Hilfe angewiesen, Forstleute berichten von kranken oder to- Großteil seiner Energie in die Entwicklung
berichten Forstleute. In vielen Regionen ist ten Buchen, von einer Situation, wie sie von Früchten steckte. Zur ohnehin ange-
der sommergrüne Laubbaum nur noch sie noch nie erlebt haben. Große Schäden spannten Lage hat sich zudem die Vegetati-
eine »welke Erscheinung«. Viele Buchen beobachten sie vor allem in Hessen, Thü- onsperiode verlängert, das heißt, die Bäume
sind krank, manche tot. Das ganze Ausmaß ringen, Franken und dem Süden Nieder- ziehen übers Jahr gesehen länger Wasser
des Sterbens ist allerdings noch unklar. sachsens. Nicht nur trockene Kalk-Stand- aus dem Boden als früher.
Denn erst allmählich wird sichtbar, wie orte sind betroffen, sondern mittlerweile
sehr der Laubbaum unter dem Dürresom- auch immer mehr Böden, die mit Trocken- Buchen vertrocknen auf kiesigem Boden
mer 2018 gelitten hat. heit eigentlich gut klarkommen. »Als Ur- Besonders dramatisch ist die Situation im
Am Schönberg südlich von Freiburg sache können hier direkte Hitzewirkun- Basler Hardwald. 2000 große Bäume muss-
sind die Schäden bereits unübersehbar. An gen mit zu hohen Blatttemperaturen von ten dort bereits gefällt werden, das ent-
manchen Stellen sieht der Wald aus wie im über 42 Grad und Sonnenbrand an dünn- spricht einem Fünftel des gesamten Wald-
Spätherbst – das Laub rot, die Wipfel kahl. rindigen Kronenzweigen angesehen wer- bestands. Vertrocknet sind die Buchen auf
Eine halbe Million Blätter hat eine ausge- den«, sagt die Forstökologin Tanja Sanders dem kiesigen Boden, der kaum Wasser spei-
vom Thünen-Institut für Waldökosyste- chern kann. Zwischen Birsfelden und Mut-
Andreas Frey ist Wissenschaftsjournalist in Freiburg. me in Eberswalde. tenz kreischen deshalb die Motorsägen,

18
das beliebte Naherholungsgebiet bleibt bis burg. 33 Millionen Kubikmeter Holz muss-
mindestens Ende des Jahres gesperrt. Es ten im Jahr 2018 vorzeitig geschlagen wer-
herrscht Lebensgefahr. den, das entspricht der Hälfte des jährli-

OLLO / GE T T Y IMAGES / ISTOCK


Viele Forstbetriebe kommen mit der Ar- chen Einschlags. Die Schätzungen für 2019
beit nicht mehr hinterher. Insofern ist es sagen eine ähnliche Größenordnung vor-
nicht unwahrscheinlich, dass Wälder auch aus. Viele Bäume sind eingegangen, darun-
hier zu Lande geschlossen werden könn- ter vor allem junge und neu gepflanzte
ten. Derzeit sind Forstwissenschaftler in Bäume.
den Wäldern unterwegs, um die Informati-
onen für den Waldzustandsbericht zu sam-
Dass nun auch immer mehr Tannen
schwächeln, bekümmert die Experten be-
»Wir haben es mit dem
meln, der üblicherweise im Herbst er- sonders. Der Nadelbaum war ein Hoff- viertgrößten Schadereignis
scheint. Die ersten Berichte der Forstwis-
senschaftler sind erschütternd. In Baden-
nungsträger für das Klima der Zukunft,
weil er im Gegensatz zur Fichte besser mit
der vergangenen 30 Jahre
Württemberg hat Landwirtschaftsminister Trockenheit umgehen kann. Er verankert zu tun«
Peter Hauk (CDU) im Juli sogar den Not- sich deutlich tiefer und legt ein stark ver-
[Jürgen Bauhus]
stand des Waldes ausgerufen. Am drama- zweigtes Wurzelsystem an, das Stürmen
tischsten ist die Lage aber in Nord- und Ost- trotzt und Bodenwasser aus tieferen
deutschland, dort hat es in einigen dürre- Schichten zieht. Offenbar hat man aber die
geplagten Regionen seit dem Frühjahr Hitzeempfindlichkeit der Weißtanne un-
nicht mehr richtig geregnet. terschätzt, weshalb sie für tiefere und hei-
Was die Forstleute vor allem sorgt: Ver- ßere Lagen wohl weniger geeignet ist. Ihr
breitet sterben nicht nur die sensiblen Fich- wird es einfach zu heiß.
ten, sondern auch immer mehr Tannen,
Kiefern und eigentlich robuste Laubbäu- Immer mehr heimische
me. Kurzum: Wir verlieren unsere heimi- Baumarten bedroht
schen Bäume. »Wir haben es mit dem viert- Bei den Laubbäumen ist die Situation ähn-
größten Schadereignis der vergangenen 30 lich. Forstwissenschaftler wie Jürgen Bau-
Jahre zu tun«, sagt Forstwissenschaftler hus jedenfalls machen sich »sehr große
Jürgen Bauhus von der Universität Frei- Sorgen«. Bei der Buche ist die Lage vor al-

19
lem deshalb bedenklich, weil sie der natür- sind – zumal sie wie im Jahr 2018 noch mit Dass der Wald robuste Bäume braucht,
lich vorkommende Baum in Mitteleuropa Trockenstress zu kämpfen haben. ist allerdings nicht erst seit der verheeren-
ist. »Die Buche gehörte bisher zu den Ar- den Dürre 2018 klar. Und doch hat der Som-
ten, die wir als resistent eingestuft haben«, Waldsterben 2.0 im Dürresommer mer etwas verändert. Die Zeit drängt, und
sagt Bauhus. Das passt zum Trend: Immer Von einem Waldsterben 2.0 ist nun die die Forschung hinkt der Realität hinterher.
mehr heimische Baumarten sind bedroht. Rede. Tatsächlich löst allein der Begriff bei Welche Bäume an den unterschiedlichen
Nach Ulme, Esche und Erle ist jetzt auch vielen Forschern Unbehagen aus. Dabei Standorten künftig wachsen sollen, darauf
der Ahorn gefährdet. Die Schlauchpilzart war die Beschreibung des desolaten Wald- können Forstwissenschaftler bislang keine
Cryptostroma corticale befällt vor allem zustands in den 1980er Jahren korrekt: konkreten Antworten liefern, sondern nur
den Bergahorn: Es bilden sich rußige Fle- Sehr viele Bäume waren krank, vor allem in ganz allgemeine: Der Wald muss bunter,
cken, der Baum stirbt den schwarzen Tod. den Hochlagen, nur fiel es dort nieman- robuster und artenreicher werden, er muss
Rußrindenkrankheit wird die Erkrankung dem auf. Falsch war allerdings die Progno- an das künftige Klima angepasst werden,
genannt, sie ist hier zu Lande schon länger se: Ein Wald kann nicht einfach synchron wenn er überleben soll, sagen sie. Das be-
bekannt. Doch jetzt mehren sich die Fälle. absterben. deutet: Mischwälder statt Monokulturen,
Ist ein Baum befallen, hilft nur die Axt, Leugner des menschengemachten Kli- Vielfalt statt Einheit und mehr Bäume aus
denn die Pilzsporen dringen in die Lunge mawandels berufen sich heute gerne auf solchen Regionen der Erde, die an heißere
ein und gefährden die Gesundheit der An- diesen Fakt, um die Erderwärmung in Fra- und trockenere Bedingungen gewöhnt
wohner. ge zu stellen. Das Waldsterben sei ja auch sind. Und: den Wald rechtzeitig verjüngen,
Was passiert da gerade im Wald? Hat er nicht eingetreten, heißt es. Sie verkennen bevor die alten Riesen sterben.
überhaupt eine Zukunft, wenn jetzt sogar dabei, dass das Problem damals ein grund-
die Mutter des Waldes bedroht ist? Tatsäch- sätzlich anderes war: Die Bäume litten un- Mehr hitzeresistente Baumarten
lich kommt zum Klimawandel noch ein ter schwefelhaltigen Luftschadstoffen und nach Deutschland
Problem hinzu. Die Globalisierung trägt dem daraus resultierenden sauren Regen. Dieses Prinzip der Risikostreuung gilt als
zusätzlich zu einer Verschlechterung des Dieses regionale Problem konnte man ver- der vielversprechendste Weg, um mit dem
Waldzustands bei. Über den internationa- gleichsweise einfach mit Filteranlagen Klimawandel Schritt zu halten. »Bewährte
len Warenverkehr werden immer wieder lösen. Klimawandel und eingeschleppte Baumarten sollten mit alternativen Baum-
Schädlinge und Krankheiten nach Mittel- Krankheiten gehen hingegen auf ein glo- arten mit höherer Trockenheits- und Hit-
europa eingeschleppt, denen heimische bales Problem zurück, für das es bisher zeresistenz gemischt werden«, sagt Andre-
Baumarten häufig schutzlos ausgeliefert kaum Lösungen gibt. as Bolte, der Institutsleiter des Thünen-

20
Instituts für Waldökosysteme. Welche das Elsbeere, Edelkastanie oder eingeführte
sein könnten, erforschen die Wissenschaft- Baumarten wie die Ungarische Eiche oder

JIMMYR / GE T T Y IMAGES / ISTOCK


ler schon seit mehr als 100 Jahren. Vor al- die Baumhasel interessant werden«, so An-
lem aus Nordamerika sind damals zahlrei- dreas Bolte. Wichtig sei dabei, dass die
che Baumarten eingeführt worden. Darun- Baumarten nicht einzeln gemischt werden,
ter sind die Douglasie, der Lebensbaum, sondern in Gruppen.
die Scheinzypresse und auch die Küsten- Ähnliche Favoriten für den Wald der Zu-
tanne. Ein weiterer Weg sei, Buchen oder kunft sieht Forstwissenschaftler Wolfgang
Eichen aus solchen Gefilden zu holen, die
mit Trockenheit und Hitze besser klarkom-
Falk von der Bayerischen Landesanstalt für
Wald und Forstwirtschaft in Freising. Statt
»Es gibt nicht den
men – und auch strenge Winter überleben. der Fichte könnten künftig Lärche, Dougla- einen Superbaum, der
Am Ende muss man jeden Standort aber
einzeln betrachten, es gilt das »eiserne Ge-
sie, Tanne und auch die Buche wachsen, an
Stelle der Waldkiefer die Schwarzkiefer. Zu-
alle Wünsche erfüllt«
setz des Örtlichen«. Nicht alle Standorte dem sieht er Potenzial in der Winterlinde [Wolfgang Falk]
sind von der Trockenheit betroffen, zudem und für trockene Standorte in Edellaubhöl-
müssen lokale Gegebenheiten wie Grund- zern wie Vogelkirsche, Birne, Linde, Wal-
wassernähe oder Kalkgehalt des Bodens nuss oder Sorbus-Arten. Einziger Nachteil:
beachtet werden. Eine gute Alternative zu Sie haben einen höheren Anspruch an die
reinen Fichtenbeständen in mittleren und Nährstoffversorgung. »Es gibt aber nicht
höheren Berglagen wäre vor allem die Bu- den einen Superbaum, der alle Wünsche
che, gegebenenfalls sogar Douglasie und erfüllt«, sagt er. Insofern bedeute die An-
Küstentanne, sagt Bolte. passung an den Klimawandel eine Abkehr
In wärmeren Regionen wären hingegen von einfachen waldbaulichen Ansätzen.
hitze- und trockenheitstolerante Beimi-
schungen von Traubeneiche, Hainbuche, Ökologische Vielfalt erhalten
Winterlinde und Kirsche eine Alternative Der Freiburger Forstwissenschaftler Jürgen
zu weitgehend reinen Buchenbeständen. Bauhus rät grundsätzlich zu genetischer
»Bei extrem trockenen Standorten können Vielfalt im Wald. Diese wird erreicht, indem
Baumarten wie die heimische Flaumeiche, man Samen von robusten Wäldern in krän-

21
KOMPAKT
kelnde Forste versetzt. Oder indem man blick auf den Sommer. In einem breiten
zum Beispiel die Orientbuche mit der hei- Streifen von Nordrhein-Westfalen bis ins
mischen Rotbuche kreuzt. Das hätte im- südliche Brandenburg fiel weniger als die
merhin den zusätzlichen Vorteil, dass ne- Hälfte, örtlich sogar nur ein Drittel des üb-
benbei die ökologische Vielfalt erhalten lichen Regens. Vor allem in Nordrhein-
bleibt. Denn nichts fürchten Ökologen mehr Westfalen, Niedersachsen, Mecklenburg-
als ökologische Wüsten bei eingeführten Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-An-
Baumarten. Es sind vor allem eingeführte halt, Sachsen und Thüringen war die Bo-
Bäume wie der Ginkgo, den heimische In- denfeuchte seit dem Beginn der Messun-
sekten meiden. Eines allerdings sagen Forst- gen 1961 noch nie so niedrig wie im Som-
wissenschaftler unisono: Den einen Wun- mer 2019. Die Folgen einer erneuten
derbaum wird es nicht geben. schweren Dürre möchten sich die Wissen-
Ohne heimische Bäume wie Buche, Ei- schaftler daher lieber nicht ausmalen. 
che, Ahorn, Lärche und Tanne wird es also
auch in Zukunft nicht gehen. Sie sind trotz (Spektrum – Die Woche, 38/2019)

KLIMA-
allem vergleichsweise trockenresistent. Ein
Aber gibt es: Wer auf solche Bäume setzt,

SCHUTZ
braucht ein Konzept, wie man mit dem
Wild in den Wäldern umgeht. Bleibt seine
Zahl hoch, haben Jungbäume keine Chan-
ce. Die Lösungen für das Problem sind
nicht populär: Sie heißen Wolf, Luchs und Welche Wege führen zum Ziel?
Jagd. Vorerst rückt jedoch ein aktuelles Pro-
blem erneut in den Fokus der Wissenschaft- Pariser Abkommen | Die Klimaziele wanken
ler: die Trockenheit in weiten Teilen des Kohlenstoffeinlagerung | Ab in den Untergrund
Landes, die nun wieder akut ist. Energiepolitik | Klimafaktor Indien
In den meisten Gebieten hat sich die
ROBIN_HOOOD / GE T T Y IMAGES / ISTOCK
Dürre »erheblich verschärft«, berichtet der FÜR NUR
Deutsche Wetterdienst in seinem Rück- € 4,99
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ENERGIEWENDE

ÖKOSTROM:
COVE
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CL
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EN
Außen grün, innen grau?
von Ralph Diermann
Grünstrom beziehen, um das Klima zu schützen?
Ganz so einfach ist das leider nicht: Längst nicht
alle Ökotarife tragen zur Energiewende bei. Wer
hier sichergehen will, sollte darauf achten, dass
sein Geld in den Bau neuer Windräder und Solar-
anlagen fließt.
CHINAFACE / GE T T Y IMAGES / ISTOCK

23
Z
eigen die »Fridays for Futu- zitiert die Pressemitteilung von Verivox
re«-Proteste Wirkung? Oder dessen Energieexperten Valerian Vogel.
sind es die weltweiten Wetter- Dabei müssen die Kunden für den grünen
kapriolen, die dazu führen, Strom meist kaum mehr zahlen: Der Bun-
dass die Bundesbürger derzeit desnetzagentur zufolge kostete die Kilowatt- »Viele Ökostromtarife
in großer Schar ihre konventionellen stunde Ökostrom für Haushalte Ende 2018
Stromverträge kündigen und zu grünen im Durchschnitt 29,2 Cent. Konventionelle gehören konventionellen
Tarifen wechseln? Schwer zu sagen – aber Tarife sind nur 0,4 Cent günstiger. In der Versorgern, die auch
klar ist auf jeden Fall: Ökostrom ist bei den Grundversorgung – also dann, wenn ein Kun-
Verbrauchern derzeit so begehrt wie seit de noch nie seinen Stromanbieter gewech- ›Graustrom‹-Tarife mit
der Atomkatastrophe von Fukushima nicht selt hat – sind dagegen gar 31,5 Cent fällig. Kohle- und Atomstrom im
mehr. Das Vermittlungsportal Verivox Wenn Haushalte aus diesem Tarif zu einem
meldet, dass die Nachfrage nach solchen Ökostromangebot wechseln, können sie pro Angebot haben«
Verträgen in den letzten Monaten enorm Jahr rund 50 bis 100 Euro sparen. Dabei ha- [Thomas Engelke]
gestiegen ist. ben die Kunden große Auswahl: Das Umwelt-
Insgesamt 58 Prozent der Nutzer des bundesamt (UBA) zählte 2017 insgesamt 1157
Portals entschieden sich im Juni 2019 für Ökostromtarife in Deutschland, 350 mehr
einen grünen Tarif. Ein Jahr zuvor waren es als 2013. Allerdings ist in den Regionen im-
nur 33 Prozent. »Verbraucher greifen ver- mer nur ein Teil der Tarife verfügbar, da nicht
mehrt zu Ökostrom, wenn sie sich durch alle Anbieter bundesweit tätig sind.
externe Ereignisse individuell betroffen
fühlen. Das konnten wir nach dem Su- Kohlestrom wird zu Ökostrom
per-GAU in Japan beobachten. Und auch Wenn man etwas für den Klimaschutz tun
heute wieder, wo die Erderwärmung durch will, sollte man jedoch genau hinschauen,
Greta Thunberg stärker ins Zentrum des wer den Ökostrom liefert und woher die
gesellschaftlichen Diskurses gerückt ist«, Energie kommt. »Viele Ökostromtarife ge-
hören konventionellen Versorgern, die
Ralph Diermann beschäftigt sich seit 2008 als auch ›Graustrom‹-Tarife mit Kohle- und
Journalist mit Energiethemen. Atomstrom im Angebot haben«, erklärt

24
Thomas Engelke, Leiter des Teams Energie um so wenig, wo hier zu Lande doch so viel von Erneuerbare-Energien-Anlagen set-
und Bauen des Verbraucherzentrale Bun- grüner Strom produziert wird? Weil die Be- zen«, erklärt Engelke. Damit dieser Mecha-
desverband (vzbv). Anders als reine Öko- treiber von Windrädern, Solarsystemen, nismus greift, muss die Zahl der Ökostrom-
stromanbieter sind solche Unternehmen Bioenergieanlagen und Wasserkraftwer- kunden allerdings deutlich steigen. Denn es
also Teil der fossilen Energiewirtschaft. ken, die nach dem Erneuerbare-Ener- gibt europaweit derzeit noch sehr große
»Wechselwillige Verbraucher müssen für gien-Gesetz (EEG) gefördert werden, ihre Mengen an Strom aus erneuerbaren Quel-
sich entscheiden, ob sie einen solchen Ver- Energie nicht als Ökostrom verkaufen dür- len, für die bislang keine Nachweise ausge-
sorger wollen – oder ob sie nicht lieber zu fen. Klingt widersinnig, hat aber seinen stellt werden. »Damit könnte eine gut
einem reinen Grünstromanbieter gehen«, Grund: Der Bund will damit verhindern, 30-prozentige Nachfragesteigerung ohne
so Engelke. dass sie den Strom doppelt vermarkten – weiteren Zubau von Erzeugungsanlagen ge-
Noch viel wichtiger für Energiewende schließlich erhalten die Eigentümer über deckt werden«, heißt es in einer Studie des
und Klimaschutz ist allerdings die Frage, das EEG bereits eine Vergütung, die einen Umweltbundesamts vom August 2019.
wo und wie die Energie produziert wird. In wirtschaftlichen Betrieb der Anlagen er-
der Regel verkaufen die Versorger ihren möglicht. Das betrifft nahezu alle Erneuer- Auf Labels achten
Ökokunden Strom mit so genanntem Her- bare-Energien-Anlagen, die in den letzten Die Herkunftsnachweise bringen also bis-
kunftsnachweis. Diese Nachweise erwer- 20 Jahren errichtet wurden. Die hier zu lang rein gar nichts für den Klimaschutz.
ben sie bei Betreibern von Erneuerbare- Lande ausgestellten Herkunftsnachweise Sind Grünstromtarife damit eine Mogelpa-
Energien-Anlagen, meist Wasserkraftwer- stammen daher fast ausschließlich aus al- ckung? So pauschal kann man das nicht sa-
ken in Skandinavien oder den Alpen. Da- ten Wasserkraftwerken, die keine EEG-För- gen, meint Boris Demrovski, Kampagnen-
mit dürfen die Versorger Energie, die sie als derung erhalten. leiter der gemeinnützigen Beratungsgesell-
Graustrom an der Börse einkaufen oder Engelke sieht dieses System kritisch. »Mit schaft co2online: »Eine Reihe von Anbietern
selbst in Kohle-, Gas- oder Atomkraftwer- den Herkunftsnachweisen wird das Ziel von garantiert nämlich, dass pro verkaufte Kilo-
ken produzieren, als grün deklarieren. Re- deutlich mehr Ökostrom und weniger Koh- wattstunde Ökostrom eine gewisse Summe
gister stellen sicher, dass jeder Nachweis lestrom verfehlt«, sagt der Verbraucher- in den Bau von Neuanlagen fließt. Deren
nur einmal verwendet wird. schützer. Es entfalte erst dann seine Wir- Kunden helfen mit, den Anteil der erneuer-
Mit einem Anteil von 47 Prozent kam kung, wenn die Nachweise aus norwegi- baren Energien im Strommix zu erhöhen
das Gros der Nachweise 2017 – neuere Zah- scher oder österreichischer Wasserkraft und Kohlestrom zu verdrängen.«
len liegen nicht vor – aus Norwegen. Auf einmal knapp werden. »Dann würde die Wer sich nicht durch das Kleingedruckte
Deutschland entfielen nur 14 Prozent. War- weitere Nachfrage einen Anreiz zum Bau der Versorger arbeiten will, um zu erken-

25
nen, ob ein Unternehmen den Ausbau der nachweisen können sie belegen, dass die Versorger erwerben bei den Produzenten
erneuerbaren Energien fördert, kann sich Energie tatsächlich aus den Altanlagen zusammen mit dem Strom Nachweise, mit
an den beiden Gütesiegeln »ok power« und stammt. »Das Modell trägt zwar nicht zum denen sie die Herkunft der Energie aus der
»Grüner Strom Label« orientieren. Sie Ausbau der erneuerbaren Energien bei, ver- Region – definiert als Umkreis von 50 Kilo-
zeichnen anhand definierter Kriterien Un- mindert aber den Abriss bestehender Anla- metern um das Postleitzahlengebiet des
ternehmen aus, die aktiv zur Energiewen- gen«, sagt Thomas Engelke vom Verbrau- Kunden – belegen können. Allerdings dür-
de beitragen. Ok power wird vom Öko-Ins- cherzentrale Bundesverband. fen die Versorger ihre Angebote nicht als
titut und dem HIR Hamburg Institut Re- Oliver Hummel, Vorstand des Versor- Ökostromtarif verkaufen. Grund dafür ist
search getragen, das Grüner Strom Label gers Naturstrom, sieht hier gar eine Zäsur das Doppelvermarktungsverbot von Strom
von mehreren Umweltschutzorganisatio- auf dem Ökostrommarkt: »Bislang finden aus Anlagen, die nach dem EEG gefördert
nen. »Die beiden Labels sind absolut ver- die Ökostromerzeugung in Deutschland werden. Die Regionaltarife tragen daher
trauenswürdig«, erklärt Demrovski. und die Energiebeschaffung für Ökostrom- Namen wie »Unser Landstrom« oder
So wirkungslos die Herkunftsnachweise tarife in Parallelwelten statt. Das wird sich »Strom von hier«. Diese Praxis ist alles an-
allein für den Klimaschutz derzeit sind, so ab 2021 ändern, wenn mit Auslaufen der dere als verbraucherfreundlich, kritisieren
sehr dürften sie demnächst an Bedeutung 20-jährigen EEG-Förderung Windstrom für Ökostromversorger. Sie fordern deshalb
gewinnen: Mit ihrer Hilfe können Versor- die Belieferung von Endverbrauchern zur von der Politik einfachere, transparentere
ger künftig alte Windräder vor dem Aus ret- Verfügung steht.« Naturstrom hat, ebenso Regeln für die Stromkennzeichnung.
ten. Anfang 2021 läuft nämlich für Anlagen wie die Konkurrenten Greenpeace Energy Noch einen Schritt weiter gehen neue
mit einer Leistung von zusammen fast vier und Lichtblick, bereits erste Direktabnah- Geschäftsmodelle, bei denen die Verbrau-
Gigawatt die EEG-Förderung aus. Bis 2025 meverträge mit Betreibern alter Windparks cher ihren Strom direkt bei Erzeugern ein-
betrifft das gar Windräder mit einer Leis- geschlossen. kaufen, ohne dass ein Versorger involviert
tung von zusammen 16 Gigawatt. Die Be- ist. Möglich machen das Unternehmen wie
treiber brauchen dann neue Geschäftsmo- Strom aus der Region Enyway oder Lumenaza, die Plattformen
delle, mit denen sie Erlöse erzielen können, Seit Anfang 2019 haben Verbraucher zu- für den Handel bereitstellen und den Pro-
die höher liegen als die Betriebskosten, also dem die Möglichkeit, gezielt Ökostrom zu duzenten regulatorische und administrati-
die Ausgaben etwa für Genehmigungen, beziehen, der in ihrer Region erzeugt wur- ve Aufgaben abnehmen. Kunden können
Wartung, Pacht und Versicherungen. Eine de. Die Voraussetzung dafür hat das Um- sich damit einen Lieferanten aussuchen –
Option ist, die Windenergie an Ökostrom- weltbundesamt mit der Einrichtung eines etwa den Handwerksbetrieb um die Ecke
versorger zu verkaufen. Mit Herkunfts- Regionalnachweisregisters geschaffen. Die mit einer großen Fotovoltaikanlage auf

26
KOMPAKT
dem Dach oder eine Energiegenossen- zum Juli 2019 Mieterstromanlagen mit ei-
schaft, die vor Ort einen Windpark betreibt. ner Leistung von insgesamt gerade einmal
Wenn die Erneuerbare-Energien-Anlagen 15 Megawatt angemeldet worden. Das ent-
nicht liefern können, springen die Dienst- spricht vier Windrädern an Land. Die Bun-
leister ein, indem sie Ökostrom andernorts desregierung hat erkannt, dass sie hier han-
zukaufen. So ist jederzeit eine sichere Ver- deln muss: Sie will das Mieterstromgesetz
sorgung gewährleistet. in diesem Herbst nachbessern. O
Solche Regional- und Direktbezugskon-
zepte sind bislang allerdings nur ein Ni- (Spektrum.de, 20.09.2019)
schenthema im Markt, die Zahl der Ange-
bote wie der Kunden ist noch sehr über-
schaubar. Das gilt auch für das so genannte
Mieterstrommodell, bei dem Wohnungs-

ARTEN AM
baugesellschaften in Kooperation mit
Energiedienstleistern auf den Dächern ih-

ABGRUND
rer Häuser Fotovoltaikanlagen oder auch
ein Mini-Blockheizkraftwerk im Keller ins-
tallieren und den Strom an die Mieter ver-
kaufen.
Dieses Modell könnte dafür sorgen, dass
Der Kampf ums Überleben
in den Städten deutlich mehr Solarstrom
produziert wird. Könnte – denn für die
Vaquitas | Ein Requiem
Wohnungsbaugesellschaften ist das Ge- für den Schweinswal
schäft derzeit alles andere als attraktiv, sagt Sakis | Auf der Suche nach
Energieexperte Demrovski. »Die rechtli- dem Unbekannten
chen Anforderungen sind viel zu kompli- Schutzprojekte | Hoffnung
ziert für die Vermieter«, erklärt er. Zudem für die Hässlichen

AURE APTERUS / GE T T Y IMAGES / ISTOCK


sei die Förderung nicht ausreichend. Nach FÜR NUR
€ 4,99
Angaben der Bundesnetzagentur sind bis
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KOHLEKRAFTWERKE

Aussteigen
ist komplex
von Ralph Diermann

MARTINGA AL / STOCK.ADOBE.COM
28
Der Fahrplan für das Ende der Kohle steht:
Das letzte Kraftwerk soll spätestens 2038 abgeschaltet
werden. Dafür muss das Tempo beim Ausbau der
erneuerbaren Energien allerdings enorm anziehen.

D
emos, Klagen, Sitzblocka- Die von der Bundesregierung eingesetzte von Vereinbarungen mit den Kraftwerksbe-
den, sogar Paddelboot-Pro- Kommission hat einen Fahrplan erarbeitet, treibern geschehen. Hier sind heiße Diskus-
teste auf der Elbe: Die Um- der die Kohleverstromung in Deutschland sionen über Entschädigungen zu erwarten –
weltverbände haben alle geordnet und im gesellschaftlichen Konsens die Unternehmen werden versuchen, mög-
Register gezogen, um den zum Ende führen soll. Der Plan sieht vor, lichst hohe Kompensationen für das
Bau des Steinkohlekraftwerks im Hambur- dass bis 2022 Kraftwerke mit einer Gesamt- Abschalten ihrer Anlagen herauszuschlagen.
ger Stadtteil Moorburg zu verhindern. Ver- leistung von 12,5 Gigawatt abgeschaltet wer- Sollten die Verhandlungen scheitern, rät die
geblich, die 1,6-Gigawatt-Anlage ging 2015 den. Bis 2030 folgen weitere 26 Gigawatt. Kommission der Bundesregierung, die Still-
ans Netz, als jüngster Kohlemeiler Deutsch- Die restlichen 17 Gigawatt sollen dann bis legung auf ordnungsrechtlichem Wege zu
lands. Allzu lang wird Betreiber Vattenfall 2038 oder womöglich auch schon einige Jah- erzwingen, bei Entschädigungszahlungen an
aber wohl keine Freude mehr an seinem re früher vom Netz gehen. Zudem empfiehlt die Betreiber. Das birgt jedoch das Risiko,
Kraftwerk haben. Denn mit dem Ende Ja- die Kommission umfassende Strukturhilfen dass diese Klage einreichen und so den Aus-
nuar 2019 vorgelegten Konzept der Kom- für die betroffenen Regionen, eine Entlas- stieg verzögern.
mission zum Braun- und Steinkohleaus- tung privater und industrieller Verbraucher In der CDU/CSU-Fraktion ist der Entwurf
stieg muss Moorburg spätestens 2038 vom bei den Stromkosten sowie ein regelmäßi- der Kommission durchaus umstritten. Das
Netz, obwohl die Anlage technisch gesehen ges Monitoring des Ausstiegs. Konzept wird dennoch so in die Umsetzung
noch mindestens 20 Jahre länger in Betrieb Allerdings hat das Papier der Kommissi- gehen, erwartet Dirk Uwe Sauer, Professor
bleiben könnte. on nur empfehlenden Charakter. Die Bun- an der RWTH Aachen und Sprecher des Aka-
desregierung ist nun gefordert, aus dem Kon- demienprojekts »Energiesysteme der Zu-
Ralph Diermann beschäftigt sich seit 2008 als zept einen verbindlichen, rechtssicheren kunft« (ESYS). »Den meisten Politikern ist
Journalist mit Energiethemen. Ausstiegsplan zu machen. Das soll auf Basis sehr genau bewusst, dass der Kohleausstieg

29
breite Zustimmung in der Bevölkerung ge-
nießt. Zudem wissen die Politiker, dass die
Energiebranche klare Verhältnisse braucht,
um die nötigen Ersatzinvestitionen in Er-
zeugungsanlagen oder Speicher tätigen zu
können«, sagt Sauer. Er rechnet sogar mit
einem früheren Endtermin für den Aus-
stieg. »Ich gehe davon aus, dass die letzten
Braunkohlekraftwerke bereits vor 2038 vom
Netz gehen werden. Denn der CO2-Preis wird
weiter steigen, so dass der Betrieb der Anla-

TURBOWERNER / STOCK.ADOBE.COM
gen mittelfristig nicht mehr wirtschaftlich
ist«, erklärt der Wissenschaftler.

Ausbau der Wind- und Solarenergie


schwächelt
Die Braun- und Steinkohlekraftwerke tra-
gen derzeit rund 40 Prozent zum Strom- nügen, um den bis dahin wegfallenden KOHLEKRAFTWERK
mix bei, etwa so viel wie die Erneuerba- Kohle- und Atomstrom zu ersetzen, meint Zu den größten Kohlendioxidschleudern
re-Energien-Anlagen. Deren Anteil muss Sauer. »Das reicht nicht, wenn man berück- Europas zählen einige deutsche Kohlekraft-
also enorm wachsen, um den Wegfall der sichtigt, dass wir künftig viel Strom für den werke. In Zukunft sollen sie saubere Energie
Kohlemeiler – und auch der letzten Atom- Verkehr und die Wärmeversorgung benöti- erzeugen, indem ihr CO2 abgeschieden und
kraftwerke, die bis Ende 2022 vom Netz ge- gen. Das Ausbautempo muss also deutlich im Untergrund eingelagert wird.
hen – zu kompensieren. Bereits mit ihrem anziehen«, erklärt der Wissenschaftler.
Koalitionsvertrag hat die Bundesregierung Allerdings droht selbst das Ziel aus dem
beschlossen, die Ökostromquote bis 2030 Koalitionsvertrag weit verfehlt zu werden.
auf 65 Prozent zu steigern. Betrachtet man »Um 65 Prozent der gegenwärtigen Strom-
allein den Stromsektor, dürfte eine solche erzeugung aus erneuerbaren Energien be-
Quote zusammen mit Gaskraftwerken ge- reitzustellen, müssen ab 2020 jedes Jahr

30
acht Gigawatt Windenergie und neun Gi- bleiben, dürften wohl schon in wenigen
gawatt Fotovoltaik zugebaut werden«, sagt Jahren Forderungen nach einer Anpassung
Professor Clemens Hoffmann, Direktor des Ausstiegsplans laut werden.

FOTOAK80 / STOCK.ADOBE.COM
des Fraunhofer-Instituts für Energiewirt-
schaft und Energiesystemtechnik IEE. Da- Gaskraftwerke für Dunkelflauten
von sind die jüngsten Zubauzahlen weit Und was bedeutet die Ablösung von Atom
entfernt: Bei der Onshore-Windenergie und Kohle durch Wind und Solar für die
wurden 2018 gerade einmal 2,4 Gigawatt Versorgungssicherheit? Woher soll der
und bei der Fotovoltaik knapp drei Giga- Strom kommen, wenn ganz Deutschland
watt installiert. »Nicht der Ausstieg aus unter Wolken liegt und kein Wind weht, »Den meisten Politikern ist
der Kohle ist die Herausforderung, son-
dern der Einstieg in die Erneuerbaren«, so
also die berüchtigte Dunkelflaute herrscht?
Vor allem aus Gaskraftwerken, so die Kom-
sehr genau bewusst, dass
der Fraunhofer Forscher. mission – die jedoch erst einmal gebaut der Kohleausstieg breite
Wenn nun aber der nötige Zubau aus-
bleibt – könnte der Fahrplan für den Kohle-
werden müssen. Etwa 100 Gigawatt Leis-
tung sind laut Fraunhofer IEE nötig, um
Zustimmung in der
ausstieg doch noch in Frage gestellt wer- die Versorgungssicherheit zu jedem Zeit- Bevölkerung genießt«
den? Hoffmann weist darauf hin, dass die punkt und unter allen Bedingungen zu ga-
[Dirk Uwe Sauer]
Kommission allein für alte Braunkohle- rantieren. Derzeit sind hier zu Lande Gas-
kraftwerke konkrete Ausstiegszahlen ge- kraftwerke mit zusammen rund 30 Giga-
nannt hat. Die sukzessive Reduktion der watt Leistung am Netz.
Energieerzeugung aus den übrigen Kraft- »Entgegen häufig genannten Befürch-
werken dagegen könne nur aus den Wind- tungen ist diese Infrastruktur zu wirt-
und Solarzubauzahlen abgeleitet werden. schaftlichen Bedingungen realisierbar«, ist
»Es wird die wesentliche Aufgabe des poli- Hoffmann überzeugt. Anders als die Koh-
tischen Entscheidungsprozesses in den lekommission geht der Forscher aber nicht
nächsten Monaten sein, diese beiden As- davon aus, dass sich die so genannten Aus-
pekte der Energiewende miteinander zu gleichskraftwerke über die erzeugte Ener-
koppeln«, sagt Hoffmann. Sollte der Aus- gie finanzieren lassen – dazu werden sie zu
bau hinter dem notwendigen Maß zurück- selten gebraucht. Hoffmann sieht sie viel-

31
mehr als Teil der Netzinfrastruktur, die Technischen Hochschule Regensburg. Be-
über die Netznutzungsentgelte finanziert sondere Bedeutung hat seiner Meinung
werden. Diese Entgelte sind Teil des Strom- nach dabei die Sektorenkoppelung durch
preises. Ähnlich wie bei den klassischen das »Power to X«-Speicherkonzept: Über-
PPAMPICTURE / GE T T Y IMAGES / ISTOCK

Netzkomponenten lasse sich auch bei den schüssiger Wind- oder Solarstrom wird ge-
Ausgleichskraftwerken ein Wettbewerb nutzt, um damit per Elektrolyse Wasser-
herstellen, so dass sie zu minimalen Kos- stoff zu erzeugen, der dann ins vorhandene
ten betrieben werden könnten. Gasnetz eingespeist oder aber zu Kohlen-
Begleitet werden muss der Zubau von wasserstoffen wie Methan oder syntheti-
Wind- und Solarkraftwerken der Kohle- schen Kraftstoffen weiterverarbeitet wird.
kommission zufolge auch von einer Flexi- Power to X flexibilisiert die Nachfrage nach
»Nicht der Ausstieg bilisierung des Energiesystems, unter an- Strom und mindert zugleich die CO2-Emis-

aus der Kohle ist die derem durch den breiten Einsatz von Spei-
chern. Sie helfen nicht nur dabei,
sionen im Verkehr- und Wärmesektor.
Bislang gibt es keinen Markt für solche
Herausforderung, Stromangebot und -nachfrage in die Ba- Anlagenkonzepte, da Strom mit seinem

sondern der Einstieg in


lance zu bringen, sondern können auch so hohen Anteil staatlich festgesetzter Preis-
genannte Systemdienstleistungen erbrin- komponenten derzeit noch zu teuer ist. »In
die Erneuerbaren« gen. Dazu zählt etwa die Bereitstellung von einer aktuellen Studie für die Gaswirt-
Regelenergie, mit der die Netzbetreiber schaft konnten wir zusammen mit Ener-
[Clemens Hoffmann]
kurzfristig Frequenzschwankungen aus- gierechtsexperten zeigen, dass die Befrei-
gleichen. Solche Aufgaben übernehmen ung von allen Abgaben, Steuern und Umla-
bislang vor allem fossile Kraftwerke. An die gen für die nächsten zehn Jahre der
Stelle der Kohlemeiler könnten hier etwa Schlüssel zur Markteinführung von Power
Batteriespeicher und sogar Akkus von Elek- to X ist«, erklärt Sterner. Auch die Kohle-
troautos treten, wie Pilotprojekte zeigen. kommission rät, das System der Entgelte,
»Der Ausstieg aus der Kohle bedeutet Abgaben und Umlagen umfassend zu
den Einstieg in die Speicher«, meint Profes- überarbeiten. Dagegen sperrt sich die Bun-
sor Michael Sterner von der Ostbayerischen desregierung jedoch noch.

32
KOMPAKT
Neue Wärmequellen benötigt also nicht getan – der Kohleausstieg ver-
Neben der Stromerzeugung und der Be- ändert das Energiesystem tief greifend.
reitstellung von Systemdienstleistungen Doch nur so besteht die Chance, das deut-
haben Kohlekraftwerke eine weitere Funk- sche CO2-Ziel für den Stromsektor einzu-
tion im Energiesystem: Sie versorgen Ge- halten, eine Minderung der Emissionen
bäude und Industrieanlagen mit Wärme. um 62 Prozent bis 2030 gegenüber 1990.
Rund 28 Prozent der Fern- und Nahwärme Ob auch das übergeordnete Klimaziel der
stammen dem deutschen Bundesverband Bundesrepublik – insgesamt minus 55
der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) Prozent bis 2030 – erreicht wird, hängt da-
zufolge aus Kohlekraftwerken. mit vor allem vom Verkehrs- und Wärme-
Dieser Anteil soll laut Kohlekommis- sektor ab. Gerade beim Verkehr hinkt
sion durch einen Mix unterschiedlicher Deutschland seinen Zielen allerdings so
FÜR NUR
Technologien ersetzt werden, zu denen ne- weit hinterher, dass hier wohl Maßnah- € 4,99

ben Gaskraftwerken und -motoren auch men nötig sind, gegen die der Kohleaus-

KLIMA-
große Wärmepumpen sowie Power-to- stieg ein Kinderspiel ist. O
Heat-Anlagen gehören – eine Art riesiger
elektrischer Heizstab, der Wärme erzeugt, (Spektrum – Die Woche, 10/2019)

WANDEL
wenn gerade viel Strom verfügbar ist. Da
sich Wärme gut speichern lässt, können sie
dazu beitragen, Windräder und Solaranla-
gen in das Energiesystem zu integrieren, Der Einfluss der globalen Erwärmung
indem sie vor allem laufen, sobald es an
Abnehmern für den Strom fehlt. Wirt-
schaftlich ist diese Betriebsweise allerdings
nur dann, wenn der eingesetzte Strom ganz Küstenschutz | Wann kommt die Flut?
oder teilweise von Steuern und Abgaben Atmosphäre | Das Wolkenparadoxon
befreit wird. Extremwetter | Ist das noch normal?
Mit dem Ersatz der Kohlekraftwerke

RUZI / STOCK.ADOBE.COM
durch Windräder und Solaranlagen ist es HIER DOWNLOADEN
CO 2 -ABGABE

ERREICHT MAN
UMWELTBEWUSSTSEIN
NUR ÜBER DEN
GELDBEUTEL?
von Christopher Schrader

UNSPL ASH / VANVEENJF


34
Damit der Klimaschutz im Leben aller Menschen ankommt, empfehlen viele
Fachleute, auch auf Benzin, Diesel, Erdgas und Heizöl eine CO2-Abgabe zu
erheben. Zentraler Punkt in vielen Konzepten ist, dass die Einnahmen zum
großen Teil an die Bürger zurückfließen, um soziale Härten auszugleichen.

D
ie CO2-Bepreisung sollte so- wie viele Produkte des täglichen Bedarfs
zialverträglich ausgestaltet würden wohl teurer. Das Ziel ist dabei, dass
sein.« Dieser dürre, büro- die Bürger ernsthaft und durch ihren Geld-
kratisch formulierte Satz beutel motiviert anfangen, weniger Ener-

UNSL ASH / IBR AHIM RIFATH


könnte einen Schwenk in gie zu verbrauchen, und vor allem, direkt
der deutschen Klimapolitik auslösen. Er und indirekt weniger Treibhausgase frei-
steht im Gutachten der Kohlekommission, zusetzen.
die vor allem einen Vorschlag zur Zukunft Doch bevor der große Aufschrei begin-
der Braun- und Steinkohlemeiler in Deutsch- nen kann, hat die Kommission schon einen
land machen sollte. Aber flankierend emp- Pflock eingeschlagen. Die Abgabe solle so- »Ohne einen CO2-Preis kann
fiehlt sie der Bundesregierung zu prüfen, ob zialverträglich sein. Das bedeutet in den Deutschland seine Klimaziele
sie eine CO2-Abgabe »mit Lenkungswirkung Konzepten der Ökonomen, die sich damit
in den Sektoren außerhalb des Europäi- schon befasst haben: Die zusätzlichen Ein- für 2030 auf keinen Fall
schen Emissionshandels« einführt. nahmen des Staats fließen an Bürger und erreichen«
Gemeint sind damit Verkehr, Gebäude Wirtschaft zurück, um dort Härten auszu-
und Industrie. Und das heißt im Klartext: gleichen, wo sie auftreten. Wer große Stre- [Ottmar Edenhofer]
Benzin und Diesel, Erdgas und Heizöl so- cken pendeln muss, um den Job zu behal-
ten, und mit magerem Lohn nicht näher
Christopher Schrader ist Wissenschaftsjournalist am Arbeitsplatz und nicht im Neubau le-
in Hamburg. ben kann, soll für die Zusatzkosten ent-

35
schädigt werden. Die Firma, die im Wettbe- Wie das im Detail aussehen könnte, hat
werb mit Konkurrenten aus Staaten unter- Langes Verein soeben vorgerechnet. Auf

LENAWURM / GE T T Y IMAGES / ISTOCK


zugehen droht, die keinen CO2-Aufschlag seiner Website findet sich ein Tool, mit dem
erheben, soll Schutz bekommen. jede und jeder für den eigenen Fall durch-
»Ohne einen CO2-Preis kann Deutsch- spielen kann, welche Folgen eine solche Re-
land seine Klimaziele für 2030 auf keinen form hätte. Der Grundgedanke dabei ist,
Fall erreichen«, sagt der Ökonom Ottmar etliche Zusatzkosten beim Strom zu strei-
Edenhofer, Leiter unter anderem des Pots- chen und dafür Brenn- und Treibstoffe

»Eine aufkommensneutrale dam-Instituts für Klimafolgenforschung.


»Eine kluge CO2-Bepreisung könnte Ein-
nach ihrem CO2-Ausstoß zu belasten (die
Mineralölsteuer auf Benzin und Diesel
Neuausrichtung bestehender nahmen erzeugen, mit denen der Staat bleibt dabei in dem Konzept unverändert,

Energiesteuern kommt mehr Gerechtigkeit für alle schaffen kann,


statt nur Milliarden für Sonderinteressen
weil sie vor allem die Kosten der Verkehrs-
infrastruktur deckt).
unmittelbar dem Klima­ bereitzustellen.« Mit den Werten eines Durchschnitts-

schutz zugute und führt Soziale Härten sollen nicht entstehen


haushalts (laut offiziellen Statistiken pro
Jahr 3135 Kilowattstunden Stromver-
gleichzeitig zu mehr Auch Jörg Lange, geschäftsführender Vor- brauch; 13 791 Kilowattstunden für Hei-

sozialer Gerechtigkeit« stand des Vereins »CO2 Abgabe«, sagt: »Wir


wollen im Prinzip das verteuern, was
zung und Warmwasser; 1027 Liter Benzin)
wirft der Rechner Folgendes aus: Bisher
[Stephan Lessenich] schlecht für das Klima ist, nämlich die fos- zahlte man außer den reinen Energiekos-
silen Energieträger Kohle, Erdöl und Erd- ten 370 Euro an Steuern und Abgaben
gas, und das fördern, was gut für den Kli- (ohne Mineralölsteuer). Die Pläne des Ver-
maschutz ist: Energiesparen und Erneuer- eins machen Benzin um zwölf Cent pro Li-
bare wie Wind und Sonnenkraft.« So sollen ter teurer, Erdgas um zehn Cent pro Kubik-
die Haushalte dazu animiert und in die meter. Dafür fallen aber die anderen Abga-
Lage versetzt werden, ihr Verhalten zu än- ben weg, vor allem auf Strom. So ergibt sich
dern. »Wo deswegen soziale Härten auftre- eine Summe von 307 Euro pro Jahr: Der
ten, sollen sie durch entsprechende gesetz- Haushalt hätte 63 Euro gespart. Im un-
liche Änderungen gemildert werden.« günstigsten Fall, wenn die Heizung Öl ver-

36
brennt und das Auto Diesel schluckt, sich alle darauf einstellen können: Unter-
schrumpft die Entlastung auf 20 Euro. nehmen bauen emissionsärmere Autos, Berechnung des
Tatsächlich könnten Menschen in allen Autofahrer legen sich ein günstigeres Fahr- Durchschnittsverbrauchs
Teilen der Gesellschaft von der Einführung zeug zu oder fahren häufiger Fahrrad oder
der CO2-Abgabe profitieren, wie eine vor Bus, Hausbesitzer sanieren ihr Gebäude,
in Deutschland
Kurzem veröffentlichte Studie des Sozio- Mieter erzeugen Solarstrom auf dem Bal- Durchschnittliche Wohnung 91,8 Quadrat-
logen Stephan Lessenich von der Universi- kon, Industriebetriebe stellen treibhaus- meter (Umweltbundesamt), die Haus-
tät München zusammen mit dem Verein gasintensive Prozesse um. haltsgröße laut Statistischem Bundesamt
zeigt. Die einkommensschwächsten Haus- Wirtschaftswissenschaftler sehen den (Destatis) und laut Umweltbundesamt
ergibt einen Durchschnitt von zwei Personen
halte kommen am besten weg: Liegt das Preis für CO2 darum als zentrales Instru-
pro Haushalt.
Nettoeinkommen pro Kopf unter 9500 ment im Klimaschutz. In einer Überblicks-
Euro, sparen Familien 54 Euro pro Mit- arbeit in »Nature Climate Change« aus • Durchschnittlicher Bedarf für Heizung und
glied. Wer mehr als 38 000 Euro netto hat, dem Sommer 2018 geben Ottmar Edenho- Warmwasser pro Haushalt laut Destatis:
13 791 kWh
zahlt 10 bis 14 Euro weniger. »Eine aufkom- fer und etliche Kollegen Ratschläge, wie er
mensneutrale Neuausrichtung bestehen- gestaltet werden sollte. Zunächst solle • Durchschnittlicher Stromverbrauch laut
der Energiesteuern und -umlagen«, sagt man statt von einer »Steuer« von einer Destatis: 3135 kWh
Lessenich, »kommt unmittelbar dem Kli- »Gebühr« oder »Abgabe« zu sprechen. Bei • Kraftstoff: Durchschnittlicher Verbrauch
maschutz zugute und führt gleichzeitig zu der Frage, wie das Geld an die Bürger zu- 7,2 Liter pro 100 Kilometer (Umweltbun-
mehr sozialer Gerechtigkeit.« rückfließt, wägen die Forscher mehrere desamt); Fahrleistung gewichtet im
Damit die Abgabe allerdings die Erwar- Optionen ab und empfehlen schließlich Mobilitätspanel 2016/17: 7,4 Liter pro
tungen erfüllt, muss der zu Grunde gelegte eine Pro-Kopf-Zahlung, so dass jeder Be- 100 Kilometer
Preis für den Ausstoß einer Tonne CO2 bald wohner des Landes die gleiche Summe er- • Durchschnittliche Fahrstrecke pro Jahr
steigen – laut Konzept des Vereins um fünf hält. »Unsere Ergebnisse deuten darauf 13 300 Kilometer (Kraftfahrtbundesamt
Euro pro Jahr. Wählt man im Rechner die hin, dass eine pauschale Dividende im für 2017); durchschnittliche Fahrstrecke
nach vier Jahren erreichten 60 statt der ur- zeitlichen Verlauf eher stabil wäre, vor al- pro Jahr 13 900 Kilometer (Verkehr in
Zahlen 2018/19, Angabe für 2017)
sprünglichen 40 Euro, ist es mit dem Spa- lem in Ländern, die Probleme mit wirt-
ren für den Durchschnittshaushalt vorbei. schaftlicher Ungleichheit, politischem • Das ergibt einen Verbrauch von 960 bis
Dieser Fahrplan zu höheren Kosten soll Misstrauen und Polarisation haben«, 1027 Litern pro Jahr.
jedoch klar angekündigt werden, damit heißt es in der Studie.

37
Hin und Her bei Kohlendioxid-Steuer Neun weitere EU-Staaten sowie Norwe- aber nicht auf Benzin oder Diesel. 96 Fran-
in aller Welt gen, Island und Liechtenstein haben nach ken (85 Euro) pro Tonne Kohlendioxid be-
Internationale Beispiele zeigen, dass Re- einer Aufstellung des wissenschaftlichen trug sie 2018. Jedes Jahr bekommen die
gierungen vorsichtig vorgehen und auf Dienstes des Bundestags nationale CO2-Ab- Bürger einen Großteil ihrer Ausgaben zu-
breite Mehrheiten achten müssen. In Aus- gaben eingeführt. Außerhalb Europas erhe- rück: im Jahr 2018 76 Franken (67 Euro) pro
tralien hat der damalige konservative Pre- ben zum Beispiel Japan und Chile solche Kopf, die mit den Prämien der Grundversi-
mier Tony Abbott im Jahr 2014 die Steuer Steuern, in Argentinien, Südafrika, Kanada cherung verrechnet wurden (hinzu kamen
gestrichen, die seine Labor-Vorgängerin und Singapur sollen sie im Jahr 2019 star- 13 Franken aus einer Lenkungsabgabe für
Julia Gillard kurz zuvor eingeführt hatte. ten, wie eine Übersicht der Weltbank zeigt. flüchtige organische Chemikalien). Wer
Frankreich verlangt seit 2014 eine natio- Doch in den 42 Industrie- und Schwellen- sparsam heizt oder Holz, Strom und Um-
nale CO2-Abgabe, sie kletterte von 7 auf ländern, die zur OECD und/oder zu den G20 weltwärme nutzt, kann das Verhältnis von
gut 44 Euro pro Tonne Kohlendioxid. gehören, entweicht die Hälfte aller Treib- Mehrausgaben und Erstattung verbessern.
Jetzt wollte die Regierung das Tempo hausgase außerhalb solcher Systeme, stellte Mit einem ähnlichen Rezept beginnt in
der Erhöhungen forcieren – ohne auf so- ein Autorenteam um Brigitte Knopf vom den USA selbst die republikanische Partei
ziale Aspekte zu achten. Das bildete nach Mercator-Institut für globale Gemein- über eine CO2-Abgabe zu debattieren. Die
Analyse vieler Beobachter den Anlass für schaftsgüter und Klimawandel (MCC) in ehemaligen Außenminister George Shultz
die weit darüber hinausreichenden Gelb- Berlin im Herbst 2018 im »Emissions Gap und James Baker haben vorgeschlagen, zu-
westen-Proteste gegen soziale Ungerech- Report« der Vereinten Nationen fest. Nur nächst 40 Dollar (35 Euro) pro Tonne zu
tigkeit. auf zehn Prozent des Ausstoßes wird eine verlangen. Das Geld soll in voller Höhe an
Schweden erhebt schon seit 1991 eine Abgabe fällig, die wenigstens dem Mindest- die Amerikaner zurückfließen – als Klima-
Steuer auf Kohlendioxid, für 2019 sind es preis von 40 Dollar pro Tonne entspricht, dividende. Eine vierköpfige Familie könne
1180 Kronen (114 Euro) pro Tonne. Für den der das Einhalten der Pariser Klimaziele er- mit 2000 Dollar im ersten Jahr rechnen.
Liter Diesel macht das einen Aufschlag von möglichen könnte. Bezogen auf die Welt als Dafür würden die Benzinpreise anfangs
31 Euro-Cent pro Liter aus. Das Geld fließt Ganzes sind die Prozentsätze noch geringer. um etwa 38 Cent pro Gallone (sieben Eu-
in den Staatshaushalt. Das sei jedoch nur ro-Cent pro Liter) ansteigen.
dort eine gute Idee, wo die Regierung gro- Sogar US-Republikaner debattieren Mit einer pauschalen Summe, also ei-
ßes Vertrauen ihrer Bürger genießt, war- über Abgabe nem Betrag X für jeden Bewohner, wollen
nen die Autoren der Studie in »Nature Cli- Auch die Schweiz verlangt bereits seit 2008 die Aktivisten vom Verein »CO2 Abgabe«
mate Change«. eine CO2-Abgabe auf fossile Brennstoffe – allerdings nicht starten. Ihr Konzept sieht

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vor, die Bürokratie deutlich zu entschla- gender CO2-Abgabe von Vorteil, ist der und auch danach würde sich der Preis weiter
cken, weil mehrere Steuern und Umlagen Münchner Soziologe Lessenich überzeugt. um fünf Euro pro Jahr erhöhen. In der
durch eine einzige Abgabe ersetzt werden. Sie könnten »besonders von einer Strom- Schweiz sind zurzeit 120 Franken (106 Euro)
Vor allem aber wollen sie Härten bei Fir- preissenkung profitieren. Da nach der gel- als Höchstsatz vorgesehen, ein Gesetzent-
men und Familien deutlich gezielter aus- tenden Rechtslage die Steigerung der Wär- wurf in den USA schlägt für 2030 eine Abga-
gleichen, als es mit einer Pro-Kopf-Divi- mekosten erstattet würde, kann ein CO2- be von 115 Dollar (101 Euro) pro Tonne vor
dende möglich wäre. Preis bei gleich bleibendem Regelsatz und sieht auch das noch nicht als Endpunkt.
dauerhaft zu einer Entlastung führen.« Keiner dieser Preise, die den Ausstoß
Abgabe auf Treibhausgase Wie hoch eine CO2-Abgabe sein sollte, hat von Treibhausgasen regulieren und mög-
nutzt Arbeitslosen eine hochrangige Kommission von Ökono- lichst vermindern oder verhindern sollen,
Die Untersuchung des Vereins behandelt men untersucht. Das Gremium nannte eine spiegelt aber die Kosten der Schäden für
etwa den Fall von Pflegekräften in Kran- Spanne von 40 bis 80 Dollar (35 bis 70 Euro) Gesellschaften auf der ganzen Welt wider,
kenhäusern, die sich mit ihrem Gehalt kei- pro Tonne für das Jahr 2020 und 50 bis 100 die CO2 und Co. anrichten. Es gibt einen er-
ne Wohnung in der gleichen Stadt leisten Dollar (44 bis 88 Euro) pro Tonne für 2030. kennbaren Unterschied zwischen Vermei-
können. Auch wegen der Dienstzeiten müs- Ihr gehören unter anderem Ottmar Eden- dungs- und Schadenskosten.
sen sie in dem Beispiel 30 Kilometer einfa- hofer, Direktor des MCC und Forschungsbe- Ökonomen nennen Letzteres oft die
cher Weg mit dem Auto zur Arbeit pendeln. reichsleiter am Potsdam-Institut für Klima- »social cost of carbon« (SCC). Dazu zählen
Die CO2-Abgabe würde ihnen anfangs in folgenforschung, sowie Nicholas Stern von die Aufwendungen für höhere Deiche, die
Baden-Württemberg pro Jahr 35 Euro und der London School of Economics an. volkswirtschaftlichen Kosten von Hitze-
in Mecklenburg-Vorpommern 41 Euro jähr- wellen oder Ernteverlusten, in Deutsch-
licher Mehrkosten aufbürden, räumen die Selbst hohe Preise spiegeln land bis in Ländern in Afrika oder Asien.
Autoren ein. Das könne der Gesetzgeber die realen Kosten nicht wider Eine neue Berechnung des Umweltbundes-
ausgleichen, heißt es in der Studie, »indem Der Preis müsste allerdings bald steigen, um amts taxiert die Umweltkosten auf insge-
er Wegekosten zwischen Wohn- und Ar- seine volle Lenkungswirkung zu entfalten. samt 180 Euro pro Tonne für das Jahr 2016
beitsort als außergewöhnliche Belastung Schnell würde er dann auf ein Niveau von und auf 205 Euro für 2030. Den Ausstoß
steuermindernd anerkennt«, statt nur die deutlich mehr als 100 Euro pro Tonne klet- mit 40 Euro pro Tonne zu verhindern, ist
Entfernungspauschale zu werten. tern. Nach dem Konzept des Vereins »CO2 dagegen praktisch ein Schnäppchen. O
Für die Bezieher von Hartz IV wäre die Abgabe« wären nach einem Start mit 40 Euro
Abgabe auf Treibhausgase sogar bei stei- zehn Jahre später bereits 90 Euro erreicht – (Spektrum – Die Woche, 14/2019)

39
TEDDYBE ARPICNIC / GE T T Y IMAGES / ISTOCK

INTERVIEW ZUR KLIMAKRISE

»WIR KÖNNEN UNS KEINE


V E R Z Ö G E R U N G
MEHR LEISTEN«
von Christopher Schrader
Deutschlands wichtigste Wissenschaftsakademie fordert
in einer Stellungnahme Sofortmaßnahmen gegen den
Klimawandel. Wir haben eine der Autorinnen gefragt,
was die Bundesregierung genau tun sollte.

40
I
m September wollte die Bundesre-
gierung die Strategie vorstellen, wie
Deutschland seine Klimaziele 2030
erreicht und Kurs auf eine Klima-
neutralität 2050 nimmt. Darum
sind in Wochen zuvor viele Studien dazu
erschienen, die ausnahmslos die Einfüh-
rung eines allgemeinen Preises auf den
Ausstoß von Treibhausgasen vorsehen.
Eine wichtige Stimme in diesem Chor ist

ALFRED-WEGENER-INSTITUT / KERSTIN ROLFES


die Nationale Wissenschaftsakademie Leo-
poldina. Auch sie stellt in einer Stellung-
nahme fest, die »sektorübergreifende
Wende im Bereich der Energieerzeugung
und -nutzung [kann] ohne einen adäqua-
ten CO2-Preis nicht gelingen«. »Spektrum.
de« sprach dazu mit Antje Boetius, Direk-
torin des Alfred-Wegener-Instituts in Bre-
merhaven, die federführend an dem Pa- Antje Boetius: Nein, wer sich auf den Weg ANTJE BOETIUS
pier mitgeschrieben hat. macht, Politiker zu werden, der kann gar Die Meeresbiologin Antje Boetius ist Direktorin
keine Angst haben, weil es ein harter Job ist des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zent-
Spektrum.de: Frau Boetius, die Arbeits- und man leicht an allem schuld ist. Mutig rum für Polar- und Meeresforschung, Profes-
gruppe prominenter Wissenschaftler, bedeutet hier, jetzt für den Klimaschutz ei- sorin an der Universität Bremen, Mitglied der
deren Sprecher Sie und Gerald Haug vom nen großen Schritt zu tun. Mutig heißt, da- Leopoldina und Vorsitzende des Lenkungsaus-
Max-Planck-Institut für Chemie sind, for- für zu sorgen, dass der Bürger mitkommt schusses »Wissenschaft im Dialog«. 2009
dert von der Politik ein mutiges Klima- und dabei mitmachen will und kann. Wir erhielt sie von der Deutschen Forschungsge-
schutzgesetz, und das im Namen der na- können uns wirklich keine Verzögerung meinschaft den Gottfried-Wilhelm-Leibniz-
tionalen Wissenschaftsakademie Leopol- beim Klimawandel und auch nicht das Ver- Preis, 2018 den Deutschen Umweltpreis der
dina. Sind Politiker denn Angsthasen? passen unserer eigenen Ziele leisten. Deutschen Bundesstiftung Umwelt.

41
Manche sagen oder fürchten, wir Beton. Wir sagen, es muss einen Schub ge-
könnten uns den nötigen Klimaschutz ben, eine Richtung, einen Rahmen, in dem
nicht leisten. man es der Bevölkerung aber auch der In-
Deutschland hat sich den europäischen Kli- dustrie ermöglicht, klimafreundlich zu

LUOMAN / GE T T Y IMAGES / ISTOCK


mazielen verpflichtet und auch eigene Ziele handeln. Jeder von uns 14 in der Arbeits-
für 2030 gesteckt. Zurzeit sieht es nicht so gruppe vertritt dabei ja eine Teildisziplin.
aus, als ob sie erfüllt werden, und dann wird Für uns zusammen ist insofern auch Klar-
es richtig teuer. Dann könnten europäische heit entstanden, weil wir uns gleich auf
Strafzahlungen von bis zu 62 Milliarden eine erste Schnittmenge einigen konnten:

»Wir dürfen die Atmosphäre


Euro fällig werden. Das kann keiner wollen, Der CO2-Preis ist der erste Schritt, einen
denn dann zahlen wir ohnehin und haben großen Umbau über alle Bereiche anzuge-
ja selbst nichts erreicht, keine Ziele, keinen hen. Das ist mit dem Transformations- nicht länger als kostenlose
Umbau, keine Innovationsverbesserung. schub gemeint.
Das Geld kann man besser ausgeben. Müllhalde betrachten«
Sie zeigen sich aber ganz sicher, dass [Antje Boetius]
Ihre 30-seitige Stellungnahme enthält das, was Sie vorschlagen oder fordern,
sehr viele konkrete Forderungen dazu, auch der richtige Weg ist. Eine konse-
unter anderem nach einem »unmittel- quente Klimapolitik »wird« positive
baren Transformationschub«. Solche Folgen haben, steht an einer Stelle:
klare Sprache ist man von Wissenschaft- nicht »kann«, sondern »wird«.
lern nicht unbedingt gewöhnt. So ist es. Wir dürfen die Atmosphäre nicht
Ach, an klarer Sprache hat es uns bei Klima länger als kostenlose Müllhalde betrach-
bisher nicht gemangelt. Es geht im Papier ten. Wenn wir unsere Emissionsziele nicht
nun aber um die schnellen Wege zu einem erreichen und die Erwärmung mehr als
effektiven Schutz. Der Umbau, die Trans- zwei Grad beträgt, dann werden die Folge-
formation, muss technologieoffen sein, kosten für alle gigantisch. So zerstörerische
und das heißt, wir überhöhen jetzt weder Konsequenzen für die Natur und den Men-
die Elektromobilität noch fordern wir Sub- schen, das kann keiner wollen. Und es ist
ventionen für Regenerative oder Holz statt vor allen Dingen so ungerecht, weil es zu

42
Lasten der kommenden Generationen gung übernimmt die Argumente des Um- einen CO2-Preis auf Emissionen einführt,
geht. Wenn man es mal in seinem ganzen weltbundesamtes, wonach man konkrete dann verschiebt sich insgesamt der Markt,
Drama ausdrückt: Ungeborenes Leben, das Schäden durch CO2 mitrechnen muss, und dann werden nämlich die fossilen Ener-
jetzt keine Stimme hat, das sich nicht weh- verlangt darum einen Preis von 180 Euro gien teurer und die regenerativen Energien
ren kann, dem klauen wir die Zukunft. pro Tonne. Ich kann das als Erdsystem-For- relativ billiger, vor allem wenn auch noch
scherin nachvollziehen und wünschte, das Erneuerbare-Energien-Gesetz refor-
Das beklagen auch die schon geborenen man könnte das schnell umsetzen. Aber in miert oder abgeschafft wird. Es lohnt sich
Menschen der jüngsten Generation. Die der Arbeitsgruppe haben wir uns von den dann, schnell auf andere Technologien zu
sind im Augenblick jeden Freitag auf der Ökonomen wie zum Beispiel Ottmar Eden- setzen – für die Industrie und auch für den
Straße, und Ihre Stellungnahme liest hofer oder Christoph Schmidt überzeugen Bürger. Wir bekommen einen Innovations-
sich so, als würden Sie sich vorbehaltlos lassen, dass der Preis am Anfang nicht schub. Und wenn man außerdem die Ein-
an deren Seite stellen. Also #Leopoldina- überfordern darf, sondern nur schrittweise nahmen transparent verwendet, etwa als
ForFuture? und sozial ausgewogen steigen kann. Der Klimadividende oder um die Stromsteu-
Das können Sie gern so sagen, natürlich be- erste Schritt im Preis muss dennoch mutig ern zu senken, dann werden ja auch die
schäftigen wir uns viel mit der Zukunft in der sein, höher als der Preis im Emissionshan- entlastet, die jetzt schon weniger CO2 emit-
Nationalakademie. Die Fridays-for-Future-Be- del, und einen klaren Impuls geben. Aber tieren als andere. Profitieren können dann
wegung hat in Bezug auf Klima eine Reihe man kann nicht sofort mit einem Preis an- typischerweise die Bürger mit niedrigem
berechtigter, aber sehr weit gehender Forde- fangen, der alles so verändert, dass ganze Einkommen. Die haben ja nur zirka die
rungen, die sich derzeit nicht so umsetzen Gruppen von Menschen nicht mehr mit- Hälfte vom CO2-Ausstoß verglichen mit
lassen. In der Leopoldina-Arbeitsgruppe ha- kommen oder ganze Industriezweige weg- dem Rest von Deutschland.
ben wir analysiert, welches die ersten prag- brechen.
matischen Schritte sein können, damit Aber gerade für die so genannten sozial
Deutschland seine Klimaziele erreicht. Beim CO2-Preis brechen Sie ja die Regel, Schwachen und auch für viele andere
keine konkreten Maßnahmen zu sind doch die Möglichkeiten, sich an-
Pragmatisch klingt das angesichts fordern. Sie sagen, das sei das zentrale, ders zu verhalten, zurzeit arg begrenzt.
des geforderten großen Umbaus aber wichtigste, das Kernelement und ohne Ja, das wissen wir alle, dass man zum Bei-
eher nicht. ginge es gar nicht. Warum ist das so? spiel im derzeitigen Verkehrssystem nicht
Nehmen wir mal die Empfehlungen zum Hier geht es um den Impuls, Klimaschutz plötzlich Auto und Flugzeug komplett weg-
CO2-Preis. Die Fridays-for-Future-Bewe- in allen Sektoren zu verankern. Wenn man lassen kann, um noch pünktlich zur Arbeit

43
zu kommen, wenn sie nicht vor der Haus- Euro pro Tonne. Das heißt aber, uns
tür ist. Da muss also auch Geld in den Um- steht bis dahin ein starker Anstieg um
bau oder Aufbau von emissionsarmen Inf- ungefähr zehn Euro pro Jahr bevor.
rastrukturen fließen. Deswegen sagen wir Diese jährliche Steigerung ist eine kluge
klar, die Transformation fängt mit einem Idee, die die Ökonomen vertreten: Am An-
vernünftigen CO2-Preis an, der sich dann fang nimmt man einen Preis, der verkraft-
steigert; und es kann aber auch nicht die bar ist. Und dann lernt man ganz schnell
einzige Maßnahme sein. daraus. Es gibt ja vermutlich Gewinner und
Verlierer, nicht nur in der Bevölkerung,
Wo könnte dieser vernünftige Preis sondern auch in der Industrie und in ver-
am Anfang liegen? schiedenen Sektoren. Da muss man nach-

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Da gibt es verschiedene Gutachten. Wäh- steuern, wo eine Ungerechtigkeit entsteht,
rend die Wirtschaftsweisen sagen, er muss etwa beim berühmten Pendler vom Land.
mindestens bei 35 Euro liegen und teurer Das ist der Grund, warum es ein vernünfti-
sein als die Zertifikate im europäischen ger Weg ist, moderat einzusteigen und
Emissionshandel, kommen andere Gut- dann aber den Preis zu verteuern.
achten wie das vom MCC-PIK (Mercator-In-
stitut und Potsdam-Institut) von Herrn
Edenhofer auf anfangs 50 Euro.
Bundesumweltministerin Svenja Schul-
ze hat gesagt, es ginge bei einer CO2-
»Am Anfang nimmt man
Abgabe überhaupt nicht darum, dass der einen CO2-Preis, der
Sie wollen sich ja nicht festlegen, also
nehmen wir doch mal die Werte aus der
Staat höhere Einnahmen hat, sondern
er solle alles an die Bürger zurückgeben.
verkraftbar ist. Und dann
Stellungnahme. Der Preis soll am An- Sehen Sie das genauso? lernt man ganz schnell
fang erkennbar deutlich höher sein als
der Emissionshandelpreis, der liegt im
Nein. Ich persönlich sehe das so, dass es bei
aller gebotener Transparenz zu den Einnah-
daraus«
Augenblick um 25 Euro. Also würde es men und Ausgaben aus der CO2-Abgabe um
vielleicht mit 30, 35, 40 Euro pro Tonne viel mehr geht als um Umverteilung. So
CO2 anfangen. Und dann gibt es ein Re- kann man anfangen, aber dann geht es in
chenbeispiel für das Jahr 2030 mit 130 den nächsten Jahren auch um die Kosten ei-

44
ner neuen Infrastruktur – um zum Beispiel Ist es denn überhaupt realistisch, Die Preise sollen die Verhältnisse
die Schiene auszubauen, die Elektrifizie- den Bürgern zu sagen: Wenn ihr euch zwischen fossil und erneuerbar
rung voranzutreiben. Es stimmt leider, dass so verhaltet, dass ihr Emissionen verschieben: Glauben Sie denn, dass
man mit der aktuellen Infrastruktur, zum spart, dann könnt ihr bei einer solchen die Menschen flexibel genug auf
Beispiel im Verkehr, noch nicht durchge- CO2-Steuer hinterher sogar besser Preis-signale reagieren, um sich dann
hend klimafreundlich leben kann. Und wir dastehen? Gilt das nicht nur für die anders zu verhalten?
müssen ehrlich sein: Die Erde erwärmt sich ersten Jahre? Dafür gibt es Beweise, das brauche ich gar
jetzt schon so schnell, dass wir auch Mittel Ja, das kann so gestaltet werden, mehrere nicht zu glauben. Es gibt den jährlichen
für Anpassung brauchen – in der Landwirt- Gutachten haben das berechnet: Man kann, Global Carbon Budget Report, und er zeigt:
schaft, in den Städten. Auch das muss nun wenn der Preis am Anfang hoch genug ist, Immer dann, wenn der Ölpreis und die
zügig passieren, und das wird aber nicht bil- erhebliche Umverteilung betreiben, um zu Benzin- und Dieselpreise gestiegen sind,
lig. Auch hier kann der CO2-Preis wirken, sozial ausgewogenen Beteiligungen am steigen die CO2-Emissionen nicht mehr an.
aber nicht als einzige Maßnahme. Klimaschutz zu kommen, da muss man Es ist bewiesen, der Preis hat sofort Auswir-
dann einen klugen Weg finden. Ein Vor- kungen auf den CO2-Ausstoß.
Deswegen sollte der CO2-Preis ein schlag ist, alle Einnahmen aus einem CO2-
nationales Instrument sein und man Preis komplett an die Bevölkerung aufzu- Im globalen Durchschnitt. Aber in
darf nicht auf Europa warten? teilen, je nach CO2-Preis wären das 100 bis Deutschland kommen doch viel mehr
Warten sollte niemand mehr. Es muss aber 200 Euro pro Kopf. Emissionen von Leuten, die gar nicht
auf jeden Fall auf europäische und interna- so sehr auf den Euro gucken müssen.
tionale Verhandlungen hingearbeitet wer- Und wenn jemand geringere Mehrkos- Und wenn dann der Liter Benzin teurer
den, das steht auch klar in unserem Papier. ten hat … Aber die zusätzliche Belastung wird, dann schimpfen sie vielleicht,
Deutschland und selbst Europa allein kön- kann ja auch weit höher liegen. aber verändern nichts.
nen das globale Klimaproblem nicht lösen. Die persönliche Bilanz von Kosten und Er- Natürlich gibt es immer Menschen, die so
Aber die internationalen Ziele beruhen ja stattung darf nicht untragbar werden, viel Geld haben, dass sie sich alles leisten
auf nationalen Beiträgen, so muss jedes aber es müssen alle etwas beitragen, das können. Aber es kommt ja auch gesell-
Land nun irgendwo anfangen mit dem ist klar. Denn man muss sich immer auch schaftlicher Druck dazu, zu den Guten zu
Umbau, Erfahrung sammeln und dann die Alternative vor Augen halten: Nicht gehören. Und im Großen geht es uns ja
nachsteuern, so dass man das Gemeinwohl die Ziele im Klimaschutz zu erreichen, hat letztendlich um die Wirkungen in allen
verbessert. ja eben untragbare Konsequenzen. Sektoren, nicht nur bei den Privathaushal-

45
ten, und da gibt es den Beweis, dass der ren. Wie verhindern Sie das? Wie einen erst einmal darum, überhaupt die Vereinba-
Preis wirkt und den schnellsten Effekt er- Sie das Land? rungen in Bezug auf Klima umzusetzen. Das
zielt ohne zu viel unerwünschte Nebenef- Indem man erst einmal die jetzt gespürte ist ganz wichtig, kluge Klimapolitik hält uns
fekte zu erzeugen, wie es zum Beispiel Flug- Ungerechtigkeit angeht. Wer zahlt jetzt ge- ja eher zusammen, und es gibt eine bessere
oder Fahrverbote hätten. rade überproportional aus seinem Ein- internationale Verhandlungsposition, wenn
kommen für die EEG-Umlage zur Förde- Deutschland seine Ziele erreicht.
Ihre Arbeitsgruppe hat auch festgestellt, rung der erneuerbaren Energiequellen?
dass eine Verhaltensänderung heutzuta- Das sind die Niedrigverdiener, die gar nicht Was sollte denn Ihrer Meinung nach
ge rational-analytisch motiviert sein so viel CO2 emittieren. Unser Vorschlag ist, in dem mutigen Klimaschutzgesetz
müsste, und wer ein bisschen Psycholo- genau da anzusetzen und eine sozial aus- stehen? Nach welchen Prinzipien sollte
gie gelesen hat, weiß, dass das keine gewogene Lösung zu erreichen. es aufgestellt werden?
gute Nachricht ist. Wenn man sich auf Es sollte mindestens den zugesagten inter-
Rationalität verlassen muss, wird es Es gibt in Deutschland oft die Wahrneh- nationalen Beitrag leisten, es muss ethisch
schwierig. mung: Die Klimakrise ist weit weg, bei den begründet und sozial ausgewogen sein und
Ach, ich bin da nicht so pessimistisch, es Berichten werden Eisbären gezeigt, und Innovation fördern. Es muss den Weg auf-
gibt doch viele Beweise, dass Vernunft dann redet man von der Arktis und von zeigen, wie wir unser Land so gestalten, un-
funktioniert. Was für Alternativen gäbe es der Südsee von Bangladesch und Afrika. sere Infrastruktur insgesamt und den Ener-
denn sonst? Jetzt ist es rational, einen Das hat sich massiv geändert seit dem Som- giesektor in Europa so umbauen, dass wir
schnell wirkenden Pfad zur Reduktion von mer 2018. Und der Sommer 2019 zeigt ja spätestens im Jahr 2050 bei weniger als zwei
Emissionen einzuschlagen. Andere Länder ebenso, wie die Hitzewellen auf uns wirken: Tonnen CO2 pro Kopf im Jahr sind. Wir re-
haben das uns vorgemacht wie die Schweiz Im Moment wäre laut Umfragen jeder zwei- den hier von wirklich komplexen Aufgaben,
oder British Columbia und sofort Effekte te Bürger bereit, CO2-Steuern zu zahlen, denn das ist das Niveau von Afrika heute.
erzielt. Hauptsache, wir fangen an, den Klimaschutz Als eines der reichsten Länder der Erde soll-
zu organisieren. Das ist doch eine ganz ande- ten wir zeigen, dass es möglich ist, das Ge-
Wenn der Liter Benzin 30 Cent mehr kos- re Ausgangslage für die Politik als früher. Da meinwohl zu fördern, saubere Luft zu at-
tet, und das wäre ungefähr das Niveau kommen wir wieder zum Ausgangspunkt men, sauberes Wasser zu trinken, gut zu le-
130 Euro pro Tonne CO2, dann kann man zurück: Haben Politiker Angst? Auf der Liste ben und die Klimaziele zu erreichen. O
sich schon vorstellen, dass deutsche der wichtigen Themen sieht die Bevölkerung
Gelbwesten durch die Städte marschie- Klima und Umwelt ganz oben. Jetzt geht es (Spektrum – Die Woche, 31/2019)

46
KOMMENTAR: KLIMASCHUTZPAKET
DER BUNDESREGIERUNG

Der Berg,
der eine
Maus gebar
von Daniel Lingenhöhl
Lange hat die Bundesregierung
getagt, um ihr Klimaschutzpaket
auf den Weg zu bringen. Das
Ergebnis ist enttäuschend –
und beinhaltet auch seltsame
Maßnahmen.

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n Neubauten werden heute kaum lendioxid sollen Industrie und Bürger bis Insgesamt wirkt das Paket eher wie ein
noch Ölheizungen eingebaut: Nach dahin nur noch 563 Millionen Tonnen aus- Flickenteppich: hier eine Maßnahme, dort
Angaben der Bundesregierung füh- stoßen. Derzeit reißt die Bundesrepublik ei- eine Entlastung – die teilweise die Maß-
ren mit Abstand Gasheizungen, ge- gene und auf europäischer Ebene verpflich- nahmen konterkarieren. Um Pendler zu
folgt von Wärmepumpen und Fern- tende Ziele, weshalb Strafzahlungen dro- entlasten, wird beispielsweise die Pendler-
wärme – Ölheizungen machen nur noch hen. Das Klimaziel 2020 wird Deutschland pauschale für Fernpendler von 30 auf 35
0,7 Prozent aller neuen Heizungsanlagen wohl ohnehin nicht schaffen. Cent pro Kilometer erhöht. Ja, wer fernab
aus. Warum sollte es auch anders sein? Wer Um für die Zeit danach den Kohlendi- von Ballungsräumen wohnt, ist leider oft
bei klarem Verstande ist – und nicht aus oxidausstoß beschleunigt zu senken, einig- zwingend auf das Auto angewiesen. Aber
zwingenden Gründen nicht anders kann – te sich die Koalition unter anderem auf ei- die normale Pendlerpauschale von 30 Cent
verzichtet auf diese Art der Wärmegewin- nen CO2-Preis, der für die Jahre 2021 bis 2025 können auch großstädtische Autonutzer
nung angesichts sauberer Alternativen pro Tonne jeweils 10, 20, 25, 30 und 35 Euro unbegrenzt geltend machen, während sie
und absehbar steigender Preise. Dennoch betragen soll. Danach werden diese Zertifi- für Radler oder ÖPNV-Nutzer prinzipiell
rühmt sich die Bundesregierung nun einer kate laut der Nachrichtenagentur Reuters in gedeckelt ist. Zumindest eine weitere Staf-
Klimaschutzmaßnahme, indem sie diese das europäische Emissionshandelssystem felung wäre also angebracht gewesen. Oder
Ölheizungen in Neubauten ab 2025 end- überführt. Benzin und Diesel verteuern sich radikal gedacht: Warum nicht die Pendler-
gültig verbietet. durch diese Maßnahmen um etwa drei Cent pauschale für Autofahrer innerhalb eines
Zumindest wird sie prominent im Kli- je Liter. In einem weiteren Schritt sollen sie Ballungsraums niedriger setzen als für
maschutzpaket der Bundesregierung auf- dann auf 9 bis 15 Cent je Liter steigen. Ab ÖPNV-Nutzer oder ganz abschaffen?
gelistet, das heute (20.9.2019) nach langem 2020 steigt die Luftverkehrssteuer, um Ti- Der CO2-Preis bleibt weit unter dem, was
Ringen vom Bundeskabinett verabschiedet cketpreise zu verteuern und die Zahl der Wissenschaftler fordern: Er muss – und
wurde. Insgesamt soll das Paket bis 2023 Flüge zu reduzieren. Gleichzeitig sinkt die kann – nicht gleich bei den von der Fri-
mehr als 50 Milliarden Euro kosten und um- Mehrwertsteuer auf Bahntickets (wobei days-for-Future-Bewegung geforderten 180
gekehrt helfen, den Treibhausgasausstoß man gespannt sein darf, was die Bahn da- Euro pro Tonne liegen. Er sollte aber schon
der Bundesrepublik bis 2030 um 55 Prozent von an ihre Kunden weitergibt). Um stei- gleich am Anfang mindestens so hoch sein,
zu senken. Statt 866 Millionen Tonnen Koh- gende Strompreise zu kompensieren, sollen wie er beim europäischen Emissionshan-
Verbraucher von einer sinkenden EEG-Um- del erreicht wird. Derzeit liegt er hier bei 25
Daniel Lingenhöhl ist Chefredakteur von »Spektrum lage profitieren, die eingeführt wurde, um Euro pro Tonne. In Großbritannien wurden
der Wissenschaft« und »Gehirn&Geist«. damit Ökostrom zu fördern. deshalb schon einzelne Kohlekraftwerke

48
KOMPAKT
vom Netz genommen, weil sie dadurch kung erst noch zeigen müssen. Es stehen
nicht mehr rentabel waren – und durch zu- nur selten konkrete Zahlen, aber viele Ab-
mindest etwas klimafreundlichere Gas- sichtserklärungen darin. Und die Verstro-
kraftwerke sowie erneuerbare Energien er- mung von Braunkohle – die mit Abstand
setzt. Schön und gut ist auch die Mehrwert- die größten CO2-Emissionen in der natio-
steuersenkung für Bahntickets, sofern die nalen Energieerzeugung aufweist – wird
Bahn das nicht nutzt, um ihr Betriebser- tatsächlich bis 2038 zementiert. Die letz-
gebnis zu verbessern. Denn dass die Bahn ten Kraftwerke bleiben also noch fast 20
diese Ermäßigung an die Kunden weiterge- Jahre in Betrieb, während viele Gaskraft-
ben muss, steht zumindest nicht in der An- werke stillstehen oder ihr Bau wegen man-

MODERNE
kündigung. gelnder Rentabilitätsaussichten nicht wei-
Immerhin hat das Maßnahmenpaket ter verfolgt wird: Braunkohlestrom ist in

SEUCHEN
auch einige gute Ansätze: Die KfZ-Steuer der Erzeugung einfach zu billig, weshalb er
etwa soll stärker an den CO2-Emissionen bevorzugt ins Netz eingespeist wird. Daran
ausgerichtet werden. Man darf also hoffen, werden wohl auch die ersten CO2-Preise
dass Sprit fressende SUV mit Benzin- oder nichts ändern. O
Dieselmotor bald deutlich mehr kosten als
heute. Und auch Irrwege werden zumin- (Spektrum.de, 20.09.2019) Infektionskrankheiten auf
dest auf dem Papier vermieden: »Biokraft- dem Vormarsch
stoffe der ersten Generation auf Basis von
Nahrungs- und Futtermittelpflanzen wer-
Biowaffen | Die Milzbrand-Bedrohung
den nicht zusätzlich unterstützt«, heißt es
Pandemien | Kann die Spanische Grippe
unter anderem: Sie waren und sind hier zu
wieder zuschlagen?
Lande wie global betrachtet kontraproduk-
Epidemiologie | Neue Krankheiten

MOHAMMED HANEEFA NIZAMUDEEN / GETTY IMAGES / ISTOCK


tiv. Stattdessen sollen sie zukünftig stärker
auf Abfall- und Reststoffen basieren. durch Klimawandel
Insgesamt ist das Klimaschutzpaket FÜR NUR
kein großer Wurf. Es besteht aus vielen € 4,99FÜR NUR
€ 4,99
kleinteiligen Maßnahmen, die ihre Wir-
HIER DOWNLOADEN
NICOL A / STOCK.ADOBE.COM

SCIENTISTS FOR FUTURE

SOLLTEN
WISSENSCHAFTLER
FÜRS KLIMA
PROTESTIEREN?
von Ralf Nestler
Der breite Protest gegen die Klimapolitik fordert
Forscher heraus: Sollten sie sich beteiligen?
Oder beschädigt ein Engagement ihre Integri-
tät? »Spektrum.de« hat sich umgehört.

50
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ür Freitag, den 20. September schaftsnahen Behörden zeigt: Grundsätz-
2019, hatten Aktivisten zu ei- lich wird Klimaschutz als wichtig erachtet.
nem globalen »Klimastreik«
aufgerufen, um die Fridays- Ist Klimaprotest eine Privatangelegenheit?
for-Future-Bewegung (FFF) zu Bei der Frage, ob die Leitung Mitarbeiter bei

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unterstützen. Aufgefordert sind nicht al- der Teilnahme an Demos unterstützt und

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lein Schüler und Studierende, sondern alle womöglich dazu aufruft, gehen die Antwor- COV ERI
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Bürgerinnen und Bürger. Umweltverbände ten jedoch weit auseinander: Manche Insti-
begrüßen das Vorhaben, genauso wie Ge- tutionen antworten hier frei heraus mit Ja, COVERING CLIMATE NOW
werkschaften und Kirchen. einige lockern immerhin die Kernarbeits- »Spektrum der Wissenschaft« beteiligte sich
Sollte die Wissenschaft sich ebenfalls zeiten auf. Andere hingegen wiegeln ab, wie rund 200 andere Zeitungen, Nachrichten-
beteiligen? Ist es angesichts der gravieren- verweisen auf »rechtliche Rahmenbedin- magazine und Onlineportale an der globalen
den Probleme, die sich aus dem Klimawan- gungen« oder sagen kurzum, Klimaprotest Aktion »Covering Climate Now«, um in der
del ergeben, nicht sogar Pflicht für For- sei »eine Privatangelegenheit«. Woche vor dem Klimagipfel der Vereinten Na-
scher, die Politik an ihre Verantwortung zu Die wohl eindeutigste Haltung findet tionen in New York (21. bis 23. September)
erinnern? Oder verlieren sie damit ihre Po- man an der TU Berlin. Hier unterstützt die verstärkt über Klimaschutz und Klimawandel
sition als neutrale Analytiker – und damit Unileitung geschlossen die Forderungen zu berichten.
das Vertrauen, das große Teile der Gesell- der Fridays-for-Future-Bewegung. Präsi-
schaft in sie haben? dent Christian Thomsen hat neben Greta
Forscherinnen und Forscher kommen Thunberg auf einer Demo gesprochen und
zu unterschiedlichen Antworten, wenn es auch die Kritik des Youtubers Rezo an der
um öffentliches Engagement für mehr Kli- Politik, insbesondere der CDU, wohlwol-
maschutz geht. Eine kleine Umfrage von lend bewertet.
»Spektrum.de« an zehn Universitäten, »Dafür gab es in den sozialen Medien
Forschungsgemeinschaften oder wissen- sehr viele Likes, auch von Uni-Angehöri-
gen«, sagt Steffi Terp, Leiterin der Kommu-
Ralf Nestler ist studierter Geologe und arbeitet nikation an der TU Berlin, die das Thema
als Wissenschaftsjournalist in Berlin. Klimaschutz und Nachhaltigkeit offensiv

51
platziert. »Ich habe bisher keine kritische die Medien gelangte und öffentliche Debat-
Stimme aus der Universität dazu wahrge- ten bestimmte. Aber anders als erhofft. »Mit
»Bei 50 Prozent der nommen, anders als wir es beim Thema den Argumenten hat sich kaum jemand aus-
Gender erleben.« einandergesetzt, eher wurde vermeintliches
Bevölkerung ist noch nicht Andere Wissenschaftler tasten sich eher Fehlverhalten thematisiert, ob man der
angekommen, wie langsam an das Thema »Klimakrise« heran. Schule fernbleiben oder Erdbeeren aus Plas-
So hatte es beispielsweise bei Gregor Hage- tikschalen essen darf.«
dramatisch die Lage ist« dorn begonnen. Seit den 1980er Jahren be- Für den Berliner Forscher war klar, dass
fasst sich der Bioinformatiker mit Artenviel- hier Solidarität gefragt ist, denn die Argu-
[Volker Quaschning,
falt, wie man Spezies und ihre Vielfalt be- mente der FFF-Bewegung seien fachlich
Energiesystem-Professor]
stimmen kann, welche Managementansätze weitgehend korrekt. So dachten etliche
hilfreich sind, um Biodiversität zu erhalten. Wissenschaftler und bildeten die »Scien-
»Kleine Schritte eben«, sagt Hagedorn. tists for Future«. Sie sagen: Die Schüler ha-
Bis er nach rund 25 Jahren im Beruf zu der ben Recht – und ohne entschlossenen Kli-
Erkenntnis kam, dass es sehr wohl Fortschrit- maschutz wird die Erderwärmung deut-
te gebe, aber diese keinesfalls ausreichten, lich voranschreiten, mit gravierenden
um das Problem zu lösen. Das gelte für Biodi- Folgen. 26 800 Wissenschaftlerinnen und
versität wie für den Klimawandel: Beides sei- Wissenschaftler aus Deutschland, Öster-
en dramatische Entwicklungen, denen der reich und der Schweiz haben im Frühjahr
die Politik viel zu wenig entgegensetzt. »Die 2019 eine entsprechende Stellungnahme
Fakten waren lange bekannt aus den Berich- unterzeichnet.
ten des Weltklimarats, aber die hat keiner Eine politische Rolle strebe man dabei
wirklich ernst genommen«, sagt er. aber nicht an, sagt Hagedorn, der zugleich
einer der Koordinatoren der Scientists for
Die ungewöhnliche Karriere Future in der Region Berlin-Brandenburg
des Klimathemas ist. »Wir wollen den Schülern den Rücken
Als 2018 die Proteste der Schülerinnen und stärken, anstatt uns bei ihnen unterzuha-
Schüler begannen, hat Hagedorn fasziniert ken.« Das bedeute beispielsweise, Exper-
beobachtet, wie das Thema nun endlich in ten für ihre Fragen zu vermitteln.

52
Über den Vorwurf, die Scientists for Fu- dele nicht entsprechend. »Also müssen die
ture seien Aktivisten, ärgert er sich. »Wir Ergebnisse in die Öffentlichkeit.«
sind keine Kampagnenorganisation. Wir Das heißt für Quaschning: vereinfa-
wollen die nötigen Informationen bereit- chen. Journalisten mögen das, Fachkolle-
stellen, um den Diskurs rationaler zu ma- gen nicht unbedingt. »Ich erlebe immer »Wissenschaftler sind nicht
chen, im Grunde also eine Form der Wis- wieder, dass Leute die Nase rümpfen und
senschaftskommunikation.« Wie viele For- sagen, ich stelle die Zusammenhänge zu per se schlauer als
scher bei den Scientists for Future aktiv simpel dar.« Aber aus seiner Sicht ist das Handwerker oder Frisöre«
sind, lässt sich Hagedorn zufolge nur schät- schlicht nötig, um viele Menschen für das
zen. 500 bis 1000 im gesamten Bundesge- Thema zu sensibilisieren. »Bei 50 Prozent [Hans von Storch, Klimaforscher]
biet sollen es sein, die sich regelmäßig ein- der Bevölkerung ist noch nicht angekom-
bringen, ehrenamtlich in ihrer Freizeit. men, wie dramatisch die Lage ist.«
Vielleicht liegt das daran, dass die Poli-
Längst nicht alle Scientists for Future tik so träge auf die Klimabedrohung re-
sind öffentlich präsent agiert. Keine der politischen Parteien hat
Längst nicht alle sind dabei öffentlich so bisher ein Programm vorgelegt, das dem
präsent wie Volker Quaschning, im Haupt- Ziel, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu be-
beruf Professor für Regenerative Energie- schränken, auch nur nahekäme. Zwar hat
systeme an der Hochschule für Technik und sich mittlerweile die Rhetorik von Spitzen-
Wirtschaft Berlin. In den sozialen Medien politikern gewandelt: Auch sie rufen seit
schildert Quaschning immer wieder, wie er einigen Wochen dazu auf, mit Nachdruck
und seine Familie sich für Klimaschutz en- gegen die globale Erwärmung vorzugehen.
gagieren, auf Demos und indem sie darauf Gleichzeitig müht sich die Große Koalition
verzichten zu fliegen. »Ich sehe ein Exis- aber sichtlich damit ab, ein konsensfähiges
tenzproblem für die nachfolgenden Gene- und zugleich effektives Klimaschutzpaket
rationen«, sagt er. »Und ich sehe ein Kom- vorzulegen.
munikationsproblem der Wissenschaft.« Zeit für eine Revolution also? »Demo-
Die Politik bekomme die Fakten durch zahl- kratie ist eine gute Sache«, sagt Quasch-
reiche Gutachten präsentiert, aber sie han- ning. Sie habe starke Selbsterhaltungskräf-

53
te und könne radikale Veränderungen abfe-
dern. Ob sie jedoch in der Lage sei, adäquat Teilnehmer des Heidelberger March for Science
auf die Klimakrise zu reagieren, wisse er
nicht. Der mitteilsame Energiesystem-Pro-
fessor hat sich fürs Erste entschlossen, auf
die bestehenden Gesetze und Verträge zu
dringen. Gemeinsam mit weiteren Einzel-
personen und Verbänden hat er im Novem-
ber 2018 eine Verfassungsbeschwerde beim
Bundesverfassungsgericht eingereicht. Sie
richtet sich gegen das Unterlassen geeigne-
ter gesetzlicher Vorschriften und Maßnah-
men zur Bekämpfung des Klimawandels
durch die Bundesrepublik Deutschland.

SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T / CARSTEN KÖNNEKER


Kritiker der Klimaproteste
Wer mit mehreren Scientists-for-Future-
Anhängern redet, kann leicht vergessen,
dass es auch innerhalb der Wissenschaft
abweichende Stimmen gibt. Längst nicht
alle demonstrieren fürs Klima. Auch Hans
von Storch nicht: »Den meisten geht es
doch darum, zu zelebrieren: Ich bin besser
als mein Nachbar«, sagt der Klimaforscher Meinung nach, wenn sich seine Kollegen doch das ist nur ein winziger Ausschnitt
vom Helmholtz-Zentrum Geesthacht. als Forscher präsentieren und den Klima- dessen, was die Gesellschaft ausmacht.«
Grundsätzlich kann von Storch den schutz als wichtigste Aufgabe darstellen. Welches Thema das vordringliche sei,
Wunsch nachvollziehen, als Bürger aktiv »Wissenschaftler sind nicht per se schlauer ob Gesundheit, der Ausgleich gravierender
zu werden und etwa an einer Demonstrati- als Handwerker oder Friseure«, findet er. sozialer Ungleichheiten, das Klima oder et-
on teilzunehmen. Schwierig wird es seiner »Sie haben in ihrem Fachgebiet Ahnung, was ganz anderes, das könnten sie schlicht

54
nicht beurteilen. Eines herauszugreifen schern ins Gespräch kommen. Auf die Neu-
und dies im Namen der Wissenschaft über tralität legt er großen Wert: »Fridays for
andere zu erheben, findet von Storch je- Future ist eine super Bewegung, aber die
denfalls anmaßend. brauchen mich nicht als Fürsprecher.«
Außerdem beobachtet er, dass in der öf-
fentlichen Debatte zwei andere Themen Wie neutral müssen »Auch Wissenschaftler
kaum stattfinden: zum einen die Frage, wie Wissenschaftler sein? haben Vorannahmen,
Menschen nicht nur in Deutschland oder Wobei das mit der Neutralität so eine Sa-
Europa ihren CO2-Ausstoß senken können, che ist. Forscher berufen sich gern auf ih- die zu Urteilsfehlern
sondern weltweit, bei möglichst hohem Le- ren Status als sachliche Wissensvermitt- beitragen können«
bensstandard. Und zum zweiten die Frage ler, gerade im Umgang mit der Öffent-
nach der Anpassung: was konkret zu tun lichkeit. Das Bild war noch nie ganz richtig, [Rainer Bromme, Psychologe]
ist, um mit den Folgen des globalen Wan- aber die Klimaproteste scheinen es nun
dels zurechtzukommen. definitiv ins Wanken zu bringen. »Das
Johannes Vogel, Generaldirektor des wurde vielfach untersucht, und der Be-
Museums für Naturkunde Berlin, Leibniz- fund ist klar: Auch Wissenschaftler haben
Institut für Evolutions- und Biodiversitäts- Vorannahmen, die ihre Sicht bestimmen
forschung, geht offensiv mit der Sonder- und zu Urteilsfehlern beitragen können«,
rolle der Wissenschaft um. »In unserem erklärt Rainer Bromme, Psychologe an
Selbstverständnis sind wir eine elitäre In- der Universität Münster, der unter ande-
group, wir haben viel Wissen, das anderen rem zum Vertrauen in die Wissenschaft
nicht zugänglich ist«, sagt er – und sieht forscht.
sich in der Pflicht, das zu ändern. Für Forscher sind starke Einzelmeinun-
»Wir haben täglich tausende Besuche- gen an und für sich nichts Neues. Die Wis-
rinnen und Besucher und erleben ihren senschaft verfügt über Mechanismen, die
Hunger nach Wissen, nach Austausch.« Als das System vor logischen Fehlschlüssen
die Fridays-for-Future-Bewegung begann, Einzelner schützen. Von diesem Nimbus
hat Vogel sein Haus geöffnet: ein neutraler profitieren Forscher auch dann, wenn sie
Ort, wo freitags hunderte Schüler mit For- ihre Meinung in die Öffentlichkeit tragen.

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Lange Zeit reklamierten sie für sich: Wir diskutiert, erzählt dessen Leiter Thomas verfolgt, er womöglich auch »aggressive«
stellen die Fakten bereit, entscheiden muss Meier. Am Ende gab es eine Stellungnah- Sprache nutzt, desto eher kommt es zu Ver-
die Gesellschaft. me, knapp die Hälfte der 80 Mitglieder hat trauensverlust. Wer sich aber erkennbar für
Die Scientists for Future tragen aus Sicht unterschrieben. »Das waren erstaunlich das Allgemeinwohl einsetze, werde sogar
von Rainer Bromme dazu bei, dass sich die- viele«, sagt Meier. noch ein bisschen mehr geschätzt.
se Trennlinie zwischen Wissenschaft und Er ergänzt allerdings, dass man dieses Zugleich stellt der Klimawandel seiner
Politik weiter verschiebt. »Das begann be- Engagement auch nicht überbewerten sol- Meinung nach die Idee des völlig neutralen
reits vor Jahrzehnten, man denke nur an le. Gerade im Umweltbereich sei es derzeit Wissenschaftlers in Frage. Hat ein Fach-
Initiativen wie IPPNW – Ärzte gegen Atom- groß in Mode, sich mit der Bewegung zu experte nicht sogar die Verantwortung, bri-
krieg – oder den March for Science vor zwei solidarisieren. In Gesprächen höre er viele sante Ergebnisse seiner Forschung mit mah-
Jahren, wo Forscher ihre Position in die Ge- positive Äußerungen zu der Stellungnah- nenden Worten in die Öffentlichkeit zu tra-
sellschaft getragen haben.« me. »Mir scheint, das sind oft auch Lippen- gen? Bromme verweist auf das Buch »The
Der Wandel zeige sich beispielsweise bei bekenntnisse, weil bisher keine persönli- Discovery Of Global Warming« von Spencer
einer Äußerung des FDP-Chefs Christian chen Anforderungen damit verbunden Weart und die Anfänge des Weltklimarats.
Lindner, der die Schüler aufforderte, doch sind.« Ob die Zustimmung erhalten bleibe, Dieser wollte zu Beginn nicht nur Daten
auf die Experten zu hören. Noch vor eini- da sei er eher skeptisch. sammeln, sondern das Thema auch auf die
ger Zeit hätten Wissenschaftler darauf wohl politische Agenda bringen. »Wir verdan-
nicht reagiert. »Nun aber haben viele For- Forscher gewinnen an Vertrauen, wenn ken die heutige Klimadebatte dem Einsatz
scher gesagt: Okay, wenn so klar auf uns sie sich für das Allgemeinwohl einsetzen der Forscher von damals«, betont Brom-
verwiesen wird, dann positionieren wir Psychologe Bromme sagt dazu: »Ich habe me. »Sie haben sich nicht auf eine neutrale
uns und bestätigen: Die Schüler haben den Eindruck, dass es mehr werden, aber es Position zurückgezogen, sondern das The-
Recht«, sagt Bromme. Wie viele Forscher gibt noch keine belastbaren Daten.« Für ihn ma bewusst in Politik und Gesellschaft ge-
durch die Klimaproteste politisiert wur- ist besonders spannend, ob sich damit auch bracht.« Vielleicht ist nun, 30 Jahre später,
den, ist allerdings offen. das Vertrauen in die Wissenschaft verän- erneut die Zeit gekommen, in der das wie-
Bisher kann man dies allenfalls auf Ba- dert. Seine bisherigen Untersuchungen, die der nötig ist. 
sis von Anekdoten schätzen. Am Heidel- Befragungen des Wissenschaftsbarometers
berg Center for the Environment (HCE) bei- sowie die von Fachkollegen hätten grund-
spielsweise wurde lebhaft über eine Unter- sätzlich gezeigt: Je deutlicher wahrgenom-
stützung der lokalen Fridays for Future men wird, dass ein Experte Eigeninteressen (Spektrum – Die Woche, 38/2019)

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KOMMENTAR: FRIDAYS FOR FUTURE

Warum der
Klimastreik
Hoffnung
macht
von Lars Fischer
Was kann – angesichts der
trüben Situation und enormer
Hindernisse – der Klimaprotest
überhaupt noch erreichen?
Die überraschende Antwort:
alles.

MIT FRDL. GEN. VON ANNA-LENA MÜLLER

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ustralien hat den Anfang ge- ser- und Lebensmittelversorgung und nicht Aufbruch in die Zukunft
macht: Mehr als 300 000 zuletzt stabile Staaten für nunmehr fast Angesichts der trüben Lage ist eine wirkli-
Menschen waren dort auf acht Milliarden Menschen ermöglicht. che Perspektive für den Klimaschutz auf
den Straßen, um für effekti- Gleichzeitig macht es das unvorstellba- den ersten Blick nicht zu erkennen. Aber
ven Klimaschutz zu de- re Ausmaß der auf fossiler Basis erzeugten das täuscht. Im Gegenteil, die Zukunft ist
monstrieren. Bilder aus Tokio, Delhi und Energie- und Stoffströme zu einer kaum nicht in Stein gemeißelt, und es gibt viel zu
Johannesburg zeigen Menschen, die sich überschaubaren Aufgabe, das ganze Sys- tun. Zuerst einmal gilt nach wie vor die ei-
zum Protest versammelt haben, und auch tem im fliegenden Wechsel durch klima- gentlich recht naheliegende Tatsache: Eine
in Deutschland gingen zigtausende Men- neutrale Techniken zu ersetzen. Hinter Welt, die zwei Grad wärmer ist, ist immer
schen für den Klimastreik auf die Straße. Kohle, Öl und Gas steht eine etablierte tech- noch besser als eine, die fünf Grad wärmer
Doch inzwischen zweifeln viele Menschen, nische Infrastruktur, und diese Energieträ- ist. Das heißt, auch wenn die Abkehr von
dass selbst ein noch so großer globaler Pro- ger sind nach wie vor in den meisten Fällen fossilen Brennstoffen schwieriger und
test noch etwas erreicht. auch billiger. Nicht zuletzt haben hunderte langwieriger ist, als man es sich wünschen
Die Schwierigkeiten scheinen kaum Millionen Menschen – und ganze Staaten – würde, lohnt sie sich nach wie vor.
überwindbar. Seit 30 Jahren versucht die in- bis heute in ihrem Alltag schlicht drängen- Und selbst wenn die Klimakonferenzen
ternationale Politik – durchaus mit ernst- dere Probleme, als den Klimawandel auf- es bisher nicht geschafft haben, den Koh-
haftem Bemühen – einen globalen Weg zu zuhalten. lendioxidausstoß der Menschheit nen-
finden, den Klimawandel zu begrenzen, bis- Von Aufhalten kann da auch keine Rede nenswert zu senken, haben sie doch eine
her mit wenig Erfolg. Das zentrale Dilemma mehr sein. Die Kohlendioxidkonzentrati- Institution geschaffen, die einen solidari-
der Politik: Jene fossilen Brennstoffe, die on in der Atmosphäre liegt schon jetzt schen Umgang mit den Folgen des Klima-
das Problem verursachen, liegen nahezu al- weit jenseits der typischen Werte für das wandels möglich macht. Niemand hat ein
len technischen und zivilisatorischen Er- Eiszeitalter, in dem sich Homo sapiens Interesse daran, dass Staaten oder Regio-
rungenschaften der globalen Gesellschaft entwickelt hat. Sie ähnelt eher den Kon- nen instabil werden, und die politische An-
zu Grunde. Sie stecken hinter jenem globa- zentrationen vor etwas mehr als drei Mil- erkennung des Klimawandels als globales
len – wenn auch ungerecht verteilten – lionen Jahren, bevor die vorhergehende Problem kann auch den Weg zu globalen
Wohlstand, der Gesundheitssysteme, Was- Warmzeit endete. Die Menschheit ist der- Lösungen für seine Folgen weisen.
zeit auf einer Reise in eine sehr fremde Nicht zuletzt existiert inzwischen auch
Welt; bis auf Weiteres wohl ohne Rück- eine große Bandbreite technischer Ansätze
Lars Fischer ist Redakteur bei »Spektrum.de«. fahrkarte. rund um nachhaltige Methoden, die von

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KOMPAKT
Öl produzierenden Algen über Solartech-
nik bis hin zu modernen, nachhaltigen An-
bauverfahren für Lebensmittel reicht. Vie-
le dieser Ansätze scheitern derzeit vor al-
lem an den sehr niedrigen Preisen für die
bisherigen Methoden auf der Basis fossiler
Brennstoffe. Aber es gibt sie. Und wenn die

TEMPERIERTE
Geschichte eines lehrt, dann, dass unter
den richtigen Umständen schon eine ein-
zelne neue Technologie die ganze Welt in

WÄLDER
atemberaubender Geschwindigkeit dra-
matisch verändern kann.
Es ist also noch keinesfalls alles verlo-
ren, auch wenn der Versuch, den Klima-
wandel aufzuhalten, gescheitert ist. Tat-
sächlich stehen die wirklich großen Aufga-
ben jetzt erst bevor. Um die kommenden
absehbaren ebenso wie die überraschen- Die grünen Lungen unserer Breiten
den Veränderungen – keineswegs nur
durch den Klimawandel – zu bewältigen,
muss die Gesellschaft ihre Zukunft aktiv
gestalten, statt wie bisher bloß die Gegen- FÜR NUR
€ 4, 99
wart zu verwalten. Anders als es manchmal
scheint, liegen dafür schon jetzt viele Werk- Nationalpark Jasmund | Hier waltet die Natur
zeuge bereit. Nun fordert eine globale Be- Waldsterben | Es ist nicht vorbei
wegung ein, dass man sie entschlossen
nutzt. O Klimawandel | Vorsichtig optimistische Aussichten

(Spektrum.de, 20.09.2019)
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