Muhammad Asad – Islam am Scheideweg Muhammad Asad – Islam am Scheideweg

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Kurzbiografie des Autors

Der Autor Leopold Weiss ist in der polnischen Stadt Lvov
im Jahre 1900 geboren. Er ist der Großenkel eines
orthodoxen Rabbiners und der Sohn eines Rechtsanwalts.
Schon mit 13 Jahren beherrschte er die hebräische und

Muhammad Asad aramäische Sprache. Sein Vater wünschte, dass er Rabbiner

werde, aber zum Leidwesen des Vaters verwarf er diesen
Plan. Mit Anfang zwanzig konnte er bereits deutsch,
französisch und polnisch lesen und schreiben. Er arbeitete
als Journalist und wurde schnell zu einem anerkannten
Nahostkorrespondenten für die führenden Zeitungen des
Kontinents, vor allem die deutsche Frankfurter Zeitung.

Während seiner Besuche in arabischen und

Islam am nordafrikanischen Länder wuchs sein Interesse an der

arabischen Sprache, der muslimischen Religion und ihren
Traditionen. Er reiste weiter nach Iran, Afghanistan, in
andere zentralasiatische Länder und lernte persisch. Im Jahre

Scheideweg 1926 kam er über Moskau und Polen nach Berlin. Hier
wurde er Muslim und nannte sich von nun an Muhammad
Asad.

Nach seiner Konvertierung arbeitete er immer wieder in der

muslimischen Welt und blieb mehr als fünf Jahre in Saudi-
Arabien. Er gewann dort hohes Ansehen und wurde zum
engen Freund von namhaften arabischen Führern: dem
ehemaligen König Ibn Saud von Saudi-Arabien, dem
ehemaligen König Raza Shah von Iran, dem ehemaligen
König Abdullah von Jordanien und dem großen Senusi von
Nordafrika und anderen bedeutenden Persönlichkeiten.

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Im Jahre 1932 kam er nach Indien und ließ sich in Lahore
(im heutigen Pakistan) nieder. Hier schrieb er das Buch
Islam am Scheideweg (engl. Islam at the Crossroads). In
Lahore traf er auch den großen muslimischen Denker Dr. Sir
Muhammad Iqbal. Er war von seinem Studium der
islamischen Literatur sehr beeindruckt und bat Muhammad
Asad, Sahih al Bukhari in die englische Sprache zu
übersetzen.
Im Jahre 1939 inhaftierten ihn die Briten. Nach dem Ende
des Weltkrieges wurde er entlassen: sogleich begann er, die
Zeitschrift Arafat herauszugeben, die monatlich erschien.
Als Experte für islamisches Recht spielte er bei der
Gründung des neuen Staates Pakistan eine wichtige Rolle. Er
verfasste auch eine Broschüre mit dem Titel Bildung einer
islamischen Verfassung. Im Jahre 1953 wurde er zum
Botschafter Pakistans bei der UNO mit Generalvollmacht
ernannt. Er fand viel Aufmerksamkeit bei seinen
europäischen und amerikanischen Freunden und Kollegen.
In den USA traf er auch Pola Hamida, eine Frau aus Boston.
Er heiratete sie im Jahre 1952. Es war seine dritte Ehe.
Asads Aufenthalte in der muslimischen Welt waren in
seinen Worten nicht ”nur eine äußere Anpassung eines
Europäers an eine muslimische Gemeinschaft, in der er
zufällig lebte”. Seine geistige Autobiographie Der Weg nach
Mekka (engl. The Road to Mecca, 1954) wurde von der
Times Literary Supplement als ”eine Erzählung von
großartiger Energie und Schönheit” gerühmt. Sie behandelt
die erste Hälfte seines Lebens und beschreibt genau die
Reise im Sommer 1932 in eine abgelegene arabische Wüste,
die ihn bestärkte, zum neuen Glauben überzutreten und
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uneingeschränkt den ”Wechsel von einer kulturellen Umwelt
in die andere“ zu vollziehen.”
Zwei Jahre lebten die Asads in New York, unternahmen
dann ausgedehnte Reisen, bis sie schließlich 1955
zurückkehrten. Dort ließen sie sich auf Bitte von Ayub
Khan, damals Oberbefehlshaber der Streitkräfte, nieder.
Asads größtes Bestreben war jedoch, den Qur’an ins
Englische zu übersetzen. Zuerst unterstützten die Schweiz,
dann Marokko die Vorbereitungen zu seinem größten Werk
The Message of the Qur’an 1 (1980). Überwiegend arbeitete
er in der Villa der Asads nahe Tanger. Dort lebte die Familie
19 glückliche Jahre lang, bevor sie ins spanische Mijas
zogen, in die Nähe von Lissabon in Spanien. Er starb am 20.
Februar 1992 und wurde in einem kleinen islamischen
Friedhof in Granada in Spanien beerdigt.
Asads andere Werke sind: The Principle of State and
Government in Islam (1978)2, Sahih Bukhari: Early Days of
Islam3 (1978) und The Law of Ours and other Essays 4
(1987).
1
deutsch: Die Botschaft des Quran
2
deutsch: Das Prinzip von Staat und Regierung im Islam
3
deutsch: Sahih Bukhari: Die frühen Tage des Islam
4
deutsch: Das unsrige Gesetz und andere Essays
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Vorwort des Autors
Selten war die Menschheit intellektuell so ruhelos wie in
unserer Zeit. Wir stehen nicht nur vielfältigen Problemen
gegenüber, die neuer und beispielloser Lösungen bedürfen;
auch die Perspektive, in dem sich diese Probleme zeigen,
unterscheidet sich von allem, was wir bislang gewohnt
waren. In allen Ländern durchlaufen die Gesellschaften
fundamentale Veränderungen. Die Geschwindigkeit, mit der
dies geschieht, ist überall verschieden; aber überall können
wir die gleiche treibende Energie beobachten, die nichts
aufzuhalten oder zu stören scheint.
Die Welt des Islam ist in dieser Hinsicht keine Ausnahme.
Auch hier sehen wir alte Sitten und Vorstellungen verloren
gehen sowie neue Formen aufkommen. Wohin wird diese
Entwicklung gehen? Wie tief reicht sie? Inwieweit passt sie
zu dem kulturellen Auftrag des Islam?
Dieses Buch behauptet nicht, erschöpfend Antwort auf all
diese Fragen zu geben. Wegen seines begrenzten Umfangs
soll hier nur eines der Probleme erörtert werden, denen die
Muslime heute gegenüberstehen: nämlich die Frage der
richtigen Einstellung zur westlichen Zivilisation. Die
weitreichenden Auswirkungen dieses Themas machten es
aber notwendig, unsere Untersuchung auf einige
grundlegende Aspekte des Islam auszuweiten, insbesondere
auf das Prinzip der Sunna. Es war unmöglich, das Thema
mehr als nur zu skizzieren; ein Thema, das komplex genug
ist, viele umfangreiche Bände zu füllen. Aber dennoch –
oder vielleicht gerade deshalb – bin ich überzeugt, dass diese
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knappe Skizze für andere ein Impuls sein wird, über dieses
sehr wichtige Problem weiter nachzudenken.
Und nun zu meiner Person – weil die Muslime, wenn ein
Bekehrter zu ihnen spricht, ein Recht haben zu erfahren, wie
und warum er den Islam angenommen hat. Im Jahre 1922
verließ ich mein Heimatland Österreich, um als
Sonderberichterstatter von einigen führenden Zeitungen des
Kontinents durch Afrika und Asien zu reisen. Von da an
verbrachte ich fast die gesamte Zeit im islamischen Osten.
Mein Interesse an den Ländern, mit denen ich in Kontakt
kam, war am Anfang nur das eines Außenstehenden. Ich
betrachtete eine Gesellschaftsordnung und blickte auf ein
Leben, das grundlegend anders war als das der Europäer;
von Anfang an wuchs meine Sympathie für diese ruhigere –
ich sollte eher sagen, menschlichere – Lebensanschauung,
verglichen mit der hastigen, mechanisierten Lebensweise in
Europa. Diese Sympathie trieb mich allmählich an, die
Gründe für diesen Unterschied zu erforschen, und ich
begann, mich für die religiösen Lehren der Muslime zu
interessieren. In der besagten Zeit war das Interesse noch
nicht stark genug, mich in die Gemeinde des Islam zu
ziehen; aber es öffnete sich ein Blick auf eine fortschrittliche
Gesellschaft, die mir neu war: ein Minimum an inneren
Konflikten und ein Maximum an echter Brüderlichkeit.
Aber: Die Realität des muslimischen Lebens scheint heute
sehr weit entfernt zu sein von den optimalen Möglichkeiten,
wie sie in den religiösen Lehren des Islam angelegt sind.
Alles, was im Islam Fortschritt und Bewegung war, wandelte
sich unter den Muslimen zu Trägheit und Stagnation; was
früher Edelmut und Bereitschaft zur Selbstaufopferung war,
ist heute unter den Muslimen zu Engstirnigkeit und
Genusssucht verkommen.
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Ich war so verblüfft über das offensichtliche Missverhältnis
zwischen einst und jetzt, dass ich versuchte, mich dem
Problem von einem vertrauteren Gesichtspunkt zu nähern;
anders ausgedrückt: Ich stellte mir vor, ich gehöre zum Kreis
des Islam. Es war ein rein geistiges Experiment; und sehr
schnell erkannte ich die richtige Lösung. Ich begriff, dass es
nur einen einzigen Grund für den sozialen und kulturellen
Verfall der Muslime gab: Sie hatten immer mehr aufgehört,
den Lehren des Islam auch im Geiste zu folgen. Der Islam
war immer noch da; aber er war ein Körper ohne Seele.
Gerade das Urelement, das einst die muslimischen Welt
stark machte, war nun für ihre Schwäche verantwortlich. Die
islamische Gesellschaft stand von Anfang an allein auf
religiösen Fundamenten und die Schwächung dieser
Grundlage schwächte notwendigerweise auch die kulturelle
Struktur; möglicherweise auch der Grund dafür, dass sich
diese endgültig auflöste.
Je mehr ich verstand, wie konkret und immens lebensnah die
Lehren des Islam sind, desto drängender fragte ich, warum
die Muslime aufgehört hatten, seine Lehren im reale Leben
anzuwenden. Ich erörterte diese Frage mit vielen denkenden
Muslimen in fast allen Ländern zwischen der libyschen
Wüste und dem Pamir, zwischen dem Bosporus und dem
arabischen Meer. Das Problem wurde fast zu einer
Besessenheit, die am Ende all meine anderen geistigen
Interessen in der Welt des Islam in den Schatten stellte. Das
Fragen wurde immer nachdrücklicher – bis ich, ein
Nichtmuslim, zu Muslimen sprach, als würde ich den Islam
vor ihrer Nachlässigkeit und Trägheit verteidigen. Diese
Entwicklung nahm ich nicht wahr, bis eines Tages – es war
im Herbst 1925 in den Bergen Afghanistans – ein junger
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Provinzgouverneur zu mir sagte: ”Aber du bist ein Muslim,
nur du selbst weißt es nicht.” Ich war von diesen Worten
betroffen und schwieg. Aber als ich im Jahre 1926 wieder
nach Europa zurückkam, erkannte ich, dass es nur eine
logische Konsequenz aus meinem Verhalten geben konnte:
den Islam anzunehmen.
Soviel über die Umstände, wie ich Muslim wurde. Seither
wurde ich immer wieder gefragt: ”Warum hast du den Islam
angenommen? Was hat dich besonders angezogen?“ – und
ich muss gestehen: Ich weiß keine richtige Antwort. Es war
keine bestimmte Lehre, die mich anzog; vielmehr die ganze
wundervolle, unerklärlich schlüssige Anordnung von
moralischer Lehre und praktischer Lebensanleitung. Ich kann
selbst jetzt nicht sagen, welcher Aspekt mich mehr anspricht
als irgendein anderer. Der Islam erscheint wie ein perfektes
Werk der Architektur. Alle Teile ergänzen und unterstützen
einander harmonisch. Nichts ist überflüssig, nichts fehlt: ein
völliges Gleichgewicht auf solidem Fundament.
Vermutlich hat mich gerade das Gefühl, dass alles in der
islamischen Lehre ”am rechten Platz” ist, am meisten
beeindruckt. Es mögen auch andere Eindrücke eine Rolle
gespielt haben, die ich heute nicht mehr analysieren kann. Im
Grunde war es ein Akt der Liebe; und Liebe besteht aus
vielen Dingen: aus unserem Verlangen und unserer
Einsamkeit, aus unseren hohen Zielen und unseren
Unzulänglichkeiten, aus unserer Stärke und unserer
Schwäche. So war es in meinem Fall. Der Islam kam über
mich wie ein Räuber, der bei Nacht in ein Haus steigt; aber
im Unterschied zum Räuber blieb er für immer. Seit jener
Zeit wollte ich soviel wie möglich über den Islam lernen. Ich
studierte den Qur’an und die Überlieferungen des Propheten
(Friede und Segen auf ihm); ich studierte die Sprache des
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Islam, seine Geschichte und eine Menge von dem, was über
und gegen ihn geschrieben wurde. Ich verbrachte mehr als
fünf Jahre im Hijaz und im Najd, meistens in Al-Madinah;
so konnte ich ein wenig das ursprüngliche Umfeld
wahrnehmen, in dem die Propheten diese Religion predigten.
Da der Hijaz Treffpunkt von Muslimen vieler Länder ist,
konnte ich auch die meisten verschiedenen religiösen und
sozialen Ansichten der islamischen Welt unserer Tage
vergleichen. Diese Studien festigten meine Überzeugung:
Trotz aller Unzulänglichkeiten der Muslime ist der Islam als
geistiges und soziales Phänomen bei weitem die größte
Antriebskraft der Menschheit bisher. All mein Interesse
konzentriert sich seither auf seine Wiederherstellung.
Dieses kleine Buch will einen bescheidenen Beitrag zu
diesem hohen Ziel leisten. Es gibt nicht vor,
unvoreingenommen zu sein; es ist eine Stellungnahme zu
einem Fall, wie ich ihn sehe: dem Fall des Islam gegen die
westliche Zivilisation. Und es ist nicht für diejenigen
geschrieben, für die der Islam nur eines von mehreren, mehr
oder weniger nützlichen, Schmuckstücken des sozialen
Lebens ist; vielmehr für jene, in deren Herzen immer noch
ein Funke der Flamme lebt, die bei den Gefährten des
Propheten brannte – die Flamme, die einst den Islam als
soziale Ordnung und kulturelle Errungenschaft groß machte.
Delhi, März, 1934.
M.A.
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Kapitel 1
Der offene Weg des Islam
EINE der prägendsten Parolen der gegenwärtigen Zeit ist
”die Eroberung des Weltalls”. Kommunikationsmittel
wurden entwickelt, von denen frühere Generationen noch
nicht mal träumten: und diese neuen Mittel haben einen
Transfer von Waren in Bewegung gesetzt, schneller und
umfangreicher als jemals zuvor in der Geschichte der
Menschheit. Als Resultat dieser Entwicklung sind die
Nationen wirtschaftlich voneinander abhängig. Keine
einzige Nation oder Gruppe kann es sich heute leisten, von
der restlichen Welt Abstand zu halten. Wirtschaftliche
Entwicklung hat aufgehört, lokal zu sein. Ihr Charakter ist
weltumfassend geworden. Sie ignoriert - wenigstens
tendenziell- politische Grenzen und geografische
Entfernungen. Möglicherweise sogar noch wichtiger als die
rein materielle Seite des Problems: Diese Entwicklung
steigert auch immer mehr das Bedürfnis, nicht nur Waren,
sondern auch Denkweisen und kulturelle Werte zu
übertragen. Diese beiden Kräfte - die wirtschaftliche und die
kulturelle - gehen meist Hand in Hand, unterscheiden sich
aber in ihrer Dynamik. Die elementaren Gesetze der
Wirtschaft erfordern einen wechselseitigen Austausch von
Waren zwischen Nationen; das heißt, dass keine Nation
lediglich Käufer sein kann, während eine andere Nation
immer Verkäufer ist; jede von ihnen muss im Spiel der
Wirtschaftskräfte beide Rollen gleichzeitig spielen: einander
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geben und nehmen, sei es direkt oder mittels anderer
Akteure. Aber im kulturellen Bereich ist diese Regel keine
Notwendigkeit, zumindest keine sichtbare; das bedeutet: der
Austausch von Ideen und kulturelle Beeinflussung gründen
sich nicht notwendigerweise auf das Prinzip von Geben und
Nehmen. Es liegt in der menschlichen Natur, dass politisch
und wirtschaftlich stärkere Nationen und Zivilisationen eine
große Faszination auf schwächere oder weniger aktive
Gemeinschaften ausüben und sie intellektuell und sozial
beeinflussen, ohne selbst beeinflusst zu werden. So ist die
Situation in den Beziehungen zwischen der westlichen und
der muslimischen Welt heute.
Vom Standpunkt des historischen Beobachters ist der starke
einseitige Einfluss, den die westliche Welt gegenwärtig auf
die muslimische Welt ausübt, keinesfalls überraschend: Es
ist die Folge eines langen historischen Prozesses, für den es
anderswo mehrere Entsprechungen gibt. Aber wo der
Historiker zufrieden sein kann, bleibt das Problem für uns
ungeklärt. Für uns, die wir nicht bloß interessierte
Zuschauer, sondern tatsächlich Darsteller in diesem Drama
sind; für uns, die sich als Anhänger des Propheten (Friede
und Segen auf ihn) betrachten, beginnt hier in Wirklichkeit
das Problem. Wir glauben, dass der Islam, anders als andere
Religionen, nicht nur eine geistige Haltung des Verstandes
ist, leicht übertragbar auf verschiedene kulturelle
Vorstellungen; er ist vielmehr ein eigner Kulturkreis, der
sich selbst genügt, und ein soziales System mit klar
definierten Wesensmerkmalen. Wenn, wie es heute der Fall
ist, eine fremde Zivilisation in unsere Mitte ausstrahlt und
bestimmte Veränderungen in unserem kulturellen
Organismus hervorruft, dann müssen wir uns verdeutlichen:
ob dieser fremde Einfluss in Richtung unserer eigenen
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kulturellen Möglichkeiten verläuft oder nicht; ob er wie ein
kräftigendes Serum oder wie ein Gift im Körper der
islamischen Kultur wirkt.
Nur eine Analyse kann eine Antwort auf diese Frage finden.
Wir müssen die Antriebskräfte beider Zivilisationen
erkennen – die der islamischen Welt und die des modernen
Westens. Und dann ermitteln, wie weit eine Zusammenarbeit
zwischen beiden möglich ist. Da die islamische Zivilisation
wesentlich eine religiöse ist, müssen wir zunächst versuchen,
die gewöhnliche Rolle der Religion im menschlichen Leben
zu definieren.
Was wir die ”religiöse Einstellung” nennen, ist natürliche
Folge der geistigen und biologischen Konstitution des
Menschen. Der Mensch ist unfähig, sich das Geheimnis des
Lebens, das Geheimnis von Geburt und Tod, das Geheimnis
der Unendlichkeit und Ewigkeit zu erklären. Sein logisches
Denken stößt an unüberwindbare Mauern. Er kann daher nur
zwei Dinge tun. Das eine ist: alle Versuche aufgeben, das
Leben als eine Gesamtheit zu betrachten. In diesem Fall wird
der Mensch sich allein auf äußere Erfahrungen verlassen und
seine Schlüsse auf ihren Wirkungsbereich begrenzen.
Dadurch kann er einzelne Bruchstücke des Lebens
verstehen. Sie können an Zahl und Klarheit zunehmen, so
schnell oder so langsam, wie das menschliche Wissen über
die Natur wächst. Nichtsdestoweniger werden es aber immer
Bruchstücke bleiben – das Verständnis der Gesamtheit bleibt
jenseits der methodischen Anlagen des menschlichen
Verstandes. Dies ist der Weg, den die Naturwissenschaften
bestreiten. Die andere Möglichkeit kann Seite an Seite mit
der Wissenschaft existieren: der Weg der Religion. Er führt
den Menschen durch eine innere, hauptsächlich intuitive
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Erfahrung zu einer einheitlichen Erklärung des Lebens und
basiert auf der Vermutung, dass es eine höchste
Gestaltungskraft gibt, die das Universum nach einem
vorgefassten Plan jenseits des menschlichen Verstehens
lenkt. Wie gerade gesagt, hindert dieses Konzept den
Menschen nicht notwendigerweise daran, solche Tatsachen
und Bruchstücke des Lebens zu untersuchen, wie sie äußere
Beobachtung bieten. Es gibt keinen zwingenden
Widerspruch zwischen der äußeren (wissenschaftlichen) und
der inneren (religiösen) Wahrnehmung. Aber letzteres ist in
der Tat die einzige theoretische Möglichkeit, alles Leben als
Wesenseinheit und bewegende Kraft, kurz gesagt: als
harmonische Gesamtheit zu begreifen. Die Bezeichnung
”harmonisch”, obgleich so schlimm missbraucht, ist in
diesem Zusammenhang sehr wichtig, weil sie eine
entsprechende Gesinnung im Menschen selbst einschließt.
Der religiöse Mensch weiß, dass er, egal was mit und in ihm
passiert, nie das Ergebnis eines blinden Spiels von Kräften
ohne Bewusstsein und Zweck sein kann; er glaubt, es sei
allein die Folge von Gottes bewusstem Willen und er daher
in einem universalen Plan organisch eingebunden. Auf diese
Weise kann der Mensch den bitteren Widerspruch zwischen
dem menschlichen Ich und der objektiven Welt der
Tatsachen und Erscheinungen, der sogenannten Natur,
auflösen. Der Mensch, mit all den komplizierten
Mechanismen seiner Seele, mit all seinen Wünschen und
Ängsten, seinen Gefühlen und seinen Ungewissheiten, sieht
sich mit einer Natur konfrontiert, in der sich Freigebigkeit
und Grausamkeit, Gefahr und Sicherheit auf wundersame,
unerklärliche Weise mischen. Die Natur funktioniert
offenbar nach ganz anderen Mustern als den des
menschlichen Verstandes. Nie konnte die rein intellektuelle
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Philosophie oder die experimentelle Wissenschaft diesen
Konflikt zu lösen.
Genau an diesem Punkt setzt die Religion ein.
Mit Hilfe von religiöser Erkenntnis und Erfahrung werden
das menschliche, selbstbewusste Ich und die stumme,
scheinbar verantwortungslose Natur in ein harmonisches
Gleichgewicht gesetzt. Denn beides: das individuelle
Bewusstsein des Menschen und die Natur, die ihn umgibt
und in seinem Bewusstsein ist, sind gleichrangige, wenn
auch unterschiedliche Erscheinungsformen desselben
schöpferischen Willens. Die Religion birgt einen
unermesslichen Nutzen; der Mensch begreift, , was er in
dem ewigen Kreislauf der Schöpfung ist und nie aufhören
kann zu sein: eine sinnvolle Einheit, ein eindeutig
bestimmbarer Teil im unendlichen Organismus des
universellen Schicksals. Die Folge ist psychologisch ein
tiefes Gefühl geistiger Sicherheit, das zwischen Hoffnung
und Furcht schwankt. Das unterschiedet den religiösen
Menschen – gleich, welcher Religion er anhängt – von dem
ungläubigen. Diese grundlegende Einstellung teilen alle
großen Religionen, was immer ihre spezifischen Lehren sein
mögen; ihnen allen gemein ist auch der moralische Aufruf
an den Menschen, den offenkundigen Willen Gottes
anzuerkennen. Aber der Islam, und nur er, geht über diese
theoretische Ermahnung hinaus. Er lehrt uns nicht nur, dass
das ganze Leben wesentlich eine Einheit ist, weil es der
göttlichen Einheit entspringt; er zeigt uns auch, wie jeder
Einzelne diese Einheit in seinem irdischen Leben, in seinem
Handeln und seinem Bewusstsein abbilden kann. Um dieses
oberste Ziel im Leben zu erreichen, muss der Mensch im
Islam nicht der Welt abschwören; keine Entbehrungen sind
erforderlich, um die geheime Tür der Läuterung zu öffnen;
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kein Druck wird auf den Verstand ausgeübt, keiner muss an
unverständliche Dogmen glauben, um Erlösung zu erlangen.
Solche Dinge sind dem Islam völlig fremd, weil er weder
eine mystische noch eine philosophische Doktrin ist. Er ist
schlicht eine Lebensweise nach den Regeln der Natur, die
Gott seiner Schöpfung auferlegt hat; seine höchste Leistung
ist die vollkommene Abstimmung aller geistigen und
materiellen Aspekte des menschlichen Lebens. Die Lehren
des Islam „versöhnen“ diese beiden Aspekte nicht in dem
Sinne, dass ein eigentlicher vorhandener Konflikt zwischen
der körperlichen und der moralischen Existenz des
Menschen nicht zugelassen wird; der Islam besteht vielmehr
darauf, dass ihre Koexistenz und Untrennbarkeit tatsächlich
die natürliche Grundlage des Lebens ist.
Dies ist, denke ich, der Grund für die besondere Form des
islamischen Gebets, in der geistige Konzentration und
bestimmte körperliche Bewegungen miteinander
harmonieren. Kritiker des Islam nehmen oft diese Art des
Gebets als Beweis dafür, dass der Islam eine Religion des
Formalismus und der Äußerlichkeit sei. Menschen anderer
Religionen sind gewohnt, klar das ”Geistige” vom
”Körperlichen” zu trennen, fast wie der Milchmann, der die
Creme von der Milch trennt. Sie können schwer verstehen,
dass in der nicht entrahmten Milch des Islam beide Zutaten,
obwohl in ihrem jeweiligen Aufbau verschieden, harmonisch
zusammenleben und sich gemeinsam ausdrücken. Mit
anderen Worten: das islamische Gebet besteht aus mentaler
Konzentration und körperlichen Bewegungen, weil das
menschliche Leben selbst eine solche Zusammensetzung ist
und wir Gott mit allen Fähigkeiten, die Er uns verliehen hat,
näher kommen sollten.
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Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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Eine weitere Darstellung dieses Verhaltens kann in der
Organisation des Tawaf gesehen werden, des feierlichen
Laufens um die Ka’bah in Mekka. Weil es für jeden, der in
die heilige Stadt eintritt, eine unentbehrliche Verpflichtung
ist, siebenmal um die Ka’bah zu laufen; und da dies einer
der drei essentiellsten Punkte der Pilgerfahrt nach Mekka ist,
dürfen wir fragen: Was ist die Bedeutung des Tawaf? Ist es
notwendig, Hingabe in einer solchen Form zu äußern?
Die Antwort ist recht offensichtlich. Wenn wir uns in einem
Kreis um ein Objekt herum bewegen, wird dieses Objekt
zum zentralen Punkt unserer Handlung. Die Ka’bah, nach
der jeder Muslim beim Gebet sein Gesicht wendet,
symbolisiert die Einheit von Gott. Die körperliche
Bewegung der Pilger während des Tawafs steht für den
Vorgang des menschlichen Lebens. Folglich setzt der Tawaf
voraus, dass die Idee von Gott und Seiner Einheit nicht nur
in unseren gottergebenen Gedanken, sondern nach den
Worten des Heiligen Qur’án auch in unserem praktischen
Leben, in unseren Handlungen und Bemühungen, im
Zentrum stehen muss:
”Und Ich habe die Jinn und die Menschen nur darum
erschaffen, damit sie Mir dienen.” (Sure 51: 56)
Die ”Anbetung” im Islam unterscheidet sich daher von jeder
anderen Religion. Sie beschränkt sich nicht auf rein fromme
Praktiken, zum Beispiel auf das Gebet oder das Fasten; sie
äußert sich ebenso in dem gesamten praktischen Leben des
Menschen. Wenn das Objekt unseres Lebens als Ganzes die
Anbetung zu Gott ist, müssen wir notwendigerweise dieses
Leben in seiner Gesamtheit als einen Komplex der
moralischen Verantwortung betrachten. Daher müssen all
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unsere Handlungen, auch jene, die trivial erscheinen, als
Akte der Anbetung vollzogen werden; das heißt: bewusst als
Teil der Darstellung von Gottes universalen Plan ausgeführt
werden. Ein solcher Zustand ist für einen durchschnittlich
begabten Menschen ein fernes Ideal; aber ist es nicht das
Ziel der Religion, Ideale Wirklichkeit werden zu lassen?
Die Einstellung des Islam ist hierbei unmissverständlich. Er
lehrt uns erstens: Die ständige Anbetung zu Gott in all den
vielfältigen Handlungen des menschlichen Lebens ist die
wirkliche Bedeutung des Lebens; und zweitens: Dieses Ziel
zu erreichen, bleibt so lange unmöglich, wie wir unser Leben
in zwei Teile gliedern: das geistige und das materielle; beide
müssen in unserem Bewusstsein und unserer Handlung
harmonisch miteinander verbunden werden. Unsere
Vorstellung von Gottes Einheit muss sich in unserem
Streben nach einer einheitlichen Abstimmung dieser
verschiedenen Aspekte des Lebens widerspiegeln. Eine
logische Konsequenz dieses Verhaltens führt zu einem
großen Unterschied zwischen dem Islam und allen anderen
bekannten religiösen Systemen. Er ist in der Tatsache zu
finden, dass der Islam nicht nur die metaphysischen
Beziehungen zwischen dem Menschen und seinem Schöpfer
lehrt, sondern auch – mit kaum weniger Nachdruck – die
irdischen Beziehungen zwischen dem Individuum und seiner
sozialen Umgebung festlegt. Das weltliche Leben wird nicht
bloß als leere Schale betrachtet, als ein bedeutungsloser
Schatten des Jenseits, sondern als ein eigenständiges,
wertvolles Dasein. Gott Selbst ist eine Einheit, nicht nur im
Wesen, sondern auch in der Zielsetzung; und daher ist Seine
Schöpfung, vielleicht im Wesen, aber gewiss in der Absicht
eine Einheit.
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Wie eben im weiten Sinne dargelegt, ist die Anbetung zu
Gott für den Islam die Bedeutung des menschlichen Lebens.
Und es ist diese Idee allein, durch die der Mensch innerhalb
seines irdischen Lebens Vollkommenheit erreichen kann.
Von allen religiösen Systemen glaubt allein der Islam, dass
die Vollkommenheit des Einzelnen in unserer irdischen
Existenz möglich ist. Der Islam stellt diese Erfüllung nicht
nach der Unterdrückung der so genannten ”körperlichen”
Begierden in Aussicht, wie es die christliche Lehre tut; noch
verspricht der Islam eine immer wiederkehrende
Wiedergeburt stufenweise hin zu einer höheren Ebene, wie
es im Hinduismus der Fall ist; noch stimmt der Islam mit
dem Buddhismus überein, nach dem Vollkommenheit und
Erlösung nur durch Vernichtung des individuellen Selbst
und seiner seelischen Verbindungen mit der Welt möglich
ist. Nein: Der Islam erklärt ausdrücklich, dass der einzelne
Mensch in seinem irdischen Leben Vollkommenheit
erreichen kann, wenn er alle weltlichen Möglichkeiten des
Lebens nutzt.
Um Missverständnisse zu vermeiden, soll der Begriff
”Vollkommenheit” so definiert werden, wie er hier
gebraucht wird. So lange wir es mit menschlichen,
begrenzten Wesen zu tun haben, können wir unmöglich
damit den Gedanken der ”absoluten” Vollkommenheit
meinen, weil alles Absolute dem göttlichen Bereich allein
gehört. Menschliche Vollkommenheit in seinem wahren
psychologischen und moralischen Sinn muss
notwendigerweise eine relative und rein individuelle
Bedeutung haben. Sie umfasst nicht den Besitz aller
erdenklichen guten Eigenschaften, auch nicht den
schrittweisen Erwerb neuer äußerer Eigenschaften; sie meint
lediglich die Entwicklung der bereits existierenden positiven
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Eigenschaften jedes Einzelnen, dergestalt, dass die
ansonsten ruhenden Kräfte wachgerufen werden. Dank der
natürlichen Vielfalt des Lebens weichen die angeborenen
Eigenschaften des Menschen in jedem Einzelfall ab. Es wäre
absurd zu glauben, dass alle Menschen nach ein und
derselben ”Art” der Vollkommenheit streben sollten oder
auch nur könnten – genauso, wie es absurd wäre,
anzunehmen, dass ein vollkommenes Rennpferd und ein
perfektes großes Zugpferd exakt dieselben Eigenschaften
besitzen. Beide mögen einzeln vollkommen sein, aber sie
werden verschieden sein, weil ihre ursprünglichen Wesen
verschieden sind. Mit Menschen ist es ähnlich. Wenn
Vollkommenheit in einer bestimmten ”Art” vereinheitlicht
werden müsste – wie es das Christentum in der Art des
asketischen Heiligen tut – , müsste der Mensch seine
Individualität aufgeben, ändern oder unterdrücken. Dies
würde allerdings eindeutig das göttliche Gesetz der
individuellen Vielfalt verletzen, das alles Leben auf der Erde
durchdringt. Der Islam ist aber keine Religion der
Unterdrückung. Er gibt dem Menschen in seiner
persönlichen und sozialen Existenz einen großen Freiraum,
damit die verschiedenen Eigenschaften, Temperamente und
Neigungen der unterschiedlichen Individuen ihren eigenen
Weg hin zu einer positiven Entwicklung finden. Daher kann
der Mensch ein Asket sein oder kann sich innerhalb des
rechtmäßigen Rahmens auch voll und ganz seiner sinnlichen
Möglichkeiten erfreuen; er kann ein Nomade sein, der durch
die Wüste umherwandert, ohne Nahrung für den nächsten
Tag; oder aber ein reicher Kaufmann inmitten seiner Waren.
So lange er sich aufrichtig und bewusst den göttlichen
Gesetzen unterwirft, ist er frei, sein persönliches Leben so zu
entwerfen, wie seine Natur ihn lenkt. Seine Pflicht ist es: das
Beste aus sich zu machen, das Leben, ein Geschenk seines
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Schöpfers, zu ehren und durch die eigene Entwicklung seine
Mitmenschen in ihren geistigen, sozialen und materiellen
Bemühungen zu helfen. Aber die Form seines Lebens ist in
keinem Fall durch einen Maßstab festgelegt. Er ist frei,
zwischen all den grenzenlosen rechtmäßigen Möglichkeiten
auszuwählen. Die Grundlage dieses islamischen
”Liberalismus” findet sich in dem Gedanken, dass die
menschliche Natur im Wesentlichen gut ist. Ganz
gegensätzlich der christliche Gedanke, dass der Mensch
sündevoll geboren ist; oder die Lehren des Hinduismus, in
denen der Mensch ursprünglich gering, unrein ist und
schmerzvoll durch eine lange Kette von Seelenwanderungen
zum endgültigen Ziel der Vollkommenheit taumeln muss.
Dagegen vertritt die islamische Lehre, dass der Mensch rein
geboren und in dem oben beschriebenen Sinn potenziell
vollkommen ist. Es steht im Heiligen Qur’án:
”Wahrlich, Wir haben den Menschen in bester Form
erschaffen.”
Aber im selben Atemzug führt der Vers fort:
”...Alsdann haben Wir ihn in die niedrigste Tiefe
zurückgebracht, ausgenommen (davon) sind diejenigen, die
glauben und Gutes tun” (Sure 95: 4-5).
In diesem Vers ist die Lehre ausgedrückt, dass der Mensch
ursprünglich gut und rein ist; aber der Nichtglaube an Gott
und das Fehlen von guten Taten kann seine ursprüngliche
Vollkommenheit zerstören. Andererseits kann der Mensch
diese ursprünglich individuelle Vollkommenheit bewahren
oder wiedererlangen, wenn er bewusst Gottes Einheit
begreift und sich Seinen Gesetzen unterwirft. Daher ist im
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Islam das Böse niemals wesenhaft oder ursprünglich; der
Mensch erwirbt es im Laufe des Lebens; das Böse beruht auf
einem Missbrauch der positiven Eigenschaften, mit denen
Gott jeden Menschen beschenkt hat. Diese Eigenschaften
sind , wie vorher bereits gesagt, bei jedem Individuum
verschieden, aber auch in sich selbst potenziell perfekt; ihre
volle Entwicklung ist innerhalb des individuellen Lebens des
Menschen auf der Erde möglich. Wir setzen
selbstverständlich voraus, dass das Leben nach dem Tod
wegen der völlig anderen Bedingungen des Gefühls und der
Wahrnehmung uns ganz neue Eigenschaften und Fähigkeiten
überträgt; diese machen einen weiteren Fortschritt der
menschlichen Seele möglich; aber dies betrifft allein unser
zukünftiges Leben. Für das irdische Leben sagt die
islamische Lehre definitiv, dass wir – jeder von uns – das
volle Maß an Vollkommenheit erreichen können, wenn wir
die bereits existierenden positiven Wesenszüge unserer
Individualität entwickeln.
Von allen Religionen ermöglicht allein der Islam dem
Menschen, sein irdisches Leben voll auszuleben, ohne einen
Moment die geistige Orientierung zu verlieren. Wie
vollkommen andersartig ist doch das christliche Dogma!
Nach der christlichen Glaubenslehre stolpert die Menschheit
über die Sünde, die von Adam und Eva verübt wurde.
Deshalb wird das ganze Leben als finsteres Tal der Leiden
angesehen. Es ist das Schlachtfeld von zwei gegensätzlichen
Kräften: dem Bösen, vertreten durch Satan, und dem Guten,
vertreten durch Jesus Christus. Satan versucht mit
körperlichen Verlockungen den Fortschritt der menschlichen
Seele in Richtung des ewigen Lichts aufzuhalten; die Seele
gehört Christus, während der Körper Spielwiese für
teuflische Einflüsse ist. Man kann es anders ausdrücken: Die
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Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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Welt der Materie ist dem Wesen nach teuflisch, während die
Welt des Geistes göttlich und gut ist. Alles in der Natur, was
materiell ist oder im Wort der christlichen Theologie
”fleischig” ist, folgt direkt daraus, dass Adam dem Ratschlag
des höllischen Prinzens der Finsternis und Materie erlegen
ist. Um erlöst zu werden, muss der Mensch daher sein Herz
von der Welt des Fleisches der zukünftigen geistigen Welt
zuwenden, in der die ”Sünde der Menschheit” durch die
Aufopferung von Christus am Kreuz getilgt worden sei.
Auch wenn dieses Dogma nicht praktiziert wird, nie
praktiziert wurde: Allein die Existenz einer solchen Lehre
tendiert dazu, in einem religiös aufgeschlossenen Mensch
dauerhaft ein Gefühl des schlechten Gewissens zu erzeugen.
Er ist hin und hergerissen: zwischen dem entschiedenen Ruf,
die Welt zu vernachlässigen, und dem natürlichen Trieb
seines Herzens, zu leben und dieses Leben auszuleben.
Schon der Gedanke einer unvermeidlichen, weil geerbten
Sünde und der dem durchschnittlichen Intellekt
unverständliche Gedanke einer mystischen Erlösung durch
das Leiden von Jesus auf dem Kreuz baut eine Barriere auf:
die zwischen dem geistigen Verlangen des Menschen und
seinem berechtigten Lebensdrang.
Im Islam kennen wir keine Erbsünde; für uns passt er zum
Gedanken der Gerechtigkeit Gottes; Gott macht nicht das
Kind für die Taten seines Vaters verantwortlich: und wie
konnte Er unzählige Generationen der Menschheit für eine
Sünde des Ungehorsams verantwortlich machen, die durch
einen entfernten Ahnen verübt wurde? Es ist ohne Zweifel
möglich, philosophische Erklärungen für diese sonderbare
Annahme zu konstruieren; aber der reine Intellekt wird sie
wie das Konzept der Dreifaltigkeit immer als künstlich und
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 Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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als unbefriedigend betrachten. Und wie es keine Erbsünde
gibt, gibt es in den Lehren des Islam auch keine Erlösung der
Menschheit. Erlösung und Verdammung sind individuell.
Jeder Muslim ist sein eigener Erlöser; er trägt alle
Möglichkeiten in seinem Herzen: die des seelischen Erfolges
und die des Versagens. Es steht über die menschliche
Persönlichkeit im Qur’án:
”Ihr wird zuteil, was sie erworben hat, und über sie kommt,
was sie sich zuschulden kommen lässt (2:286)
Ein anderer Vers sagt:
”...und dass dem Menschen nichts anderes zuteil wird als
das, wonach er strebt” (53:39)
Auch wenn der Islam den, wie das Christentum sagt,
finsteren Aspekt des Lebens nicht teilt: Er lehrt auch, dem
irdischen Leben nicht den übertriebenen Wert beizumessen,
den die moderne westliche Zivilisation ihm zuschreibt.
Während die christliche Anschauung unterstellt, dass das
irdische Leben eine schlechte Sache ist, verehrt dagegen der
moderne Westen dieses Leben genauso wie der Vielfraß sein
Essen liebt; er vertilgt es, hat aber keine Achtung davor. Der
Islam andererseits betrachtet das irdische Leben mit Ruhe
und Achtung. Er betet es nicht an, aber begreift es als eine
organische Stufe auf unserem Weg zu einem höheren
Dasein. Aber gerade weil es eine Stufe, eine notwendige
Stufe ist, hat der Mensch kein Recht, den Wert des irdischen
Lebens zu verachten oder gering zu schätzen. Unsere Reise
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Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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durch diese Welt ist ein notwendiger, positiver Bestandteil
im Plan Gottes. Daher ist das menschliche Leben von einem
enormen Wert; aber wir dürfen nie vergessen, dass es ein
instrumenteller Wert ist. Im Islam ist kein Raum für den
materialistischen Optimismus der modernen westlichen
Welt, die sagt: ”Mein Königreich ist allein in dieser Welt”;
aber auch nicht für die Lebensverachtung der christlichen
Sage: ”Mein Königreich ist nicht von dieser Welt”. Der
Islam geht den Mittelweg. Der Qur’án lehrt uns zu beten:
”Unser Herr, gib uns in dieser Welt Gutes und im Jenseits
Gutes und verschone uns vor der Strafe des Feuers!”
(2:201)
Daher sind unsere geistigen Bemühungen keineswegs ein
Hindernis, auch diese Welt und ihre Güter wertzuschätzen.
Materieller Wohlstand ist begehrenswert, jedoch kein Ziel an
sich. Das Ziel aller praktischen Handlungen sollte immer die
Bildung und die Erhaltung jener persönlichen und sozialen
Bedingungen sein, die für die Entwicklung der moralischen
Ausdauer im Menschen hilfreich sein können. In
Übereinstimmung mit diesem Prinzip führt der Islam den
Menschen zu einem Bewusstsein der moralischen
Verantwortung in allem, was er tut – gleich, ob bedeutend
oder geringfügig. Der wohlbekannte Befehl der Evangelien:
“Gib dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes
ist”5 – hat keinen Raum in der Theologie des Islam, weil der
Islam keinen Konflikt zwischen den moralischen und den
sozioökonomischen Bedürfnissen unserer Existenz zulässt.
In allem kann es nur eine Wahl geben: die Wahl zwischen
richtig und falsch – und nichts dazwischen. Deshalb ist das
5
Matthäus, 22, 21 (Erg. des Übersetzers)
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 Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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Beharren auf die Handlung unverzichtbares Element der
Moral.
Jeder einzelne Muslim muss sich selbst persönlich
verantwortlich für alle Ereignisse um ihn herum zeigen und
in jeder Richtung danach streben, das Rechte zu errichten
und das Falsche abzuschaffen. Eine Billigung für dieses
Verhalten ist in dem Vers im Qur’án zu finden:
”Ihr seid die beste Gemeinde, die für die Menschen
entstand. Ihr gebietet das, was Rechtens ist, und ihr verbietet
das Unrecht, und ihr glaubt an Allah” (3:110)
Dies ist die moralische Rechtfertigung für den aggressiven
Aktivismus des Islam; eine Rechtfertigung für frühe
islamische Eroberungen und seinen so genannten
”Imperialismus”. Der Islam war ”Imperialist” - wenn man
auf diese Bezeichnung beharrt; Aber nicht Herrschaftssucht
regte diese Art des Imperialismus an, auch hatte sie nichts
mit wirtschaftlicher oder nationaler Selbstsucht zu tun,
nichts mit der Gier, die Bequemlichkeiten der Muslime auf
Kosten anderer Menschen zu steigern; und niemals war das
Ziel, Nichtgläubige in die Herden des Islam zu zwingen. Er
beabsichtigte nur, wie er es heute tut, einen weltlichen
Rahmen für die bestmögliche geistige Entwicklung des
Menschen zu errichten. Denn nach den Lehren des Islam
drängt moralisches Wissen dem Menschen automatisch
moralische Verantwortung auf. Ein rein platonisches
Urteilsvermögen zwischen Recht und Unrecht - ohne den
Drang, Recht zu fördern und Unrecht zu vernichten - ist eine
große Unmoral in sich selbst. Im Islam lebt und stirbt die
Moral mit den menschlichen Anstrengungen, ihren Sieg auf
der Erde durchzusetzen.
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Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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Kapitel Zwei
Der Geist des Westens
IM vorangegangenen Kapitel wurde versucht, einen
Überblick über die moralischen Fundamente des Islam zu
geben. Wir begreifen leicht, dass die islamische Zivilisation
die vollkommenste Form des Gottesstaates in der Geschichte
ist. Religiöse Beachtung steht hier über allem und liegt allem
zu Grunde. Wenn wir dieses Verhalten mit dem der
westlichen Zivilisation vergleichen, staunen wir über den
gewaltigen Unterschied in der Anschauung.
Der moderne Westen wird in seinen Aktivitäten und
Bemühungen allein durch dynamische Expansion und reines
Nutzdenken gelenkt. Sein eigentliches Ziel ist das
Experimentieren mit und die Entdeckung von
Lebenspotenzial, ohne diesem Leben eine eigene moralische
Realität beizumessen. Für den modernen Europäer oder
Amerikaner hat die Frage nach Sinn und Zweck des Lebens
seit langem ihre praktische Bedeutung verloren. Wichtig für
ihn einzig und allein zwei Fragen: Welche Gestalten kann
das Leben annehmen? Kann die menschliche Rasse als
solche die Natur endgültig beherrschen?. Diese letzte Frage
beantwortet der moderne Okzidentale zustimmend und hier
stimmt er mit dem Islam überein. In dem Heiligen Qur’án
sagt Gott über Adam und seine Rasse:
”Wahrlich, Ich werde auf der Erde einen Nachfolger
einsetzen” (2:30)
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 Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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Dies bedeutet offensichtlich, dass der Mensch dafür
bestimmt ist, auf der Erde zu herrschen und fortzuschreiten.
Aber zwischen dem islamischen und dem westlichen
Blickwinkel gibt es einen Unterschied: die Beschaffenheit
des menschlichen Fortschritts. Der moderne Westen glaubt,
dass durch praktische Errungenschaften und
wissenschaftliche Entwicklung die Menschheit kollektiv
fortschreiten und sich geistig verbessern kann. Der
islamische Standpunkt ist diametrisch diesem westlichen,
materialistisch-dynamischen Konzept von der Menschheit
entgegengesetzt. Der Islam betrachtet das geistige Potenzial
des Kollektivwesens ”Menschheit” als feststehende Größe:
als etwas, dass eindeutig schon in der Zusammensetzung der
menschlichen Natur als solche festgeschrieben wurde. Der
Islam hat, anders als der Westen, nie als erwiesen angesehen,
dass die menschliche Natur im allgemeinen,
überindividuellen Sinne einen Prozess des fortschreitenden
Übergangs und der Verbesserung durchläuft, so wie ein
Baum, der wächst: weil die Grundlage der Natur, die
menschliche Seele, keine biologische Größe ist. Die
moderne europäische Überlegung, zunehmendes materielles
Wissen und Komfort sei identisch mit dem geistigen und
moralischen Verbesserung der Menschheit, ist ein
fundamentaler Fehler. Er war nur wegen eines anderen
fundamentalen Fehlers möglich: der Anwendung
biologischer Gesetze auf nichtbiologische Fakten. Die
Wurzel dieses Fehlers liegt im modernen westlichen
Unglauben an die Existenz dessen, was wir als ”Seele”
beschreiben. Der Islam basiert auf übersinnlichen Ideen und
betrachtet die Seele als eine Realität, ohne jeden Zweifel
oder jede Diskussion. Materieller und geistiger Fortschritt
sind zwar nicht einander entgegengesetzt, sind aber bezogen
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Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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auf das, was sie tun, nicht ein und dasselbe; diese beiden
Formen des Fortschritts beruhen nicht notwendigerweise
aufeinander. Sie können, müssen sich aber nicht gleichzeitig
entwickeln.
Der Islam hält äußeren, das heißt materiellen Fortschritt für
möglich und wünscht ihn auch; er verneint aber genauso
offen und klar, dass sich die ganze Menschheit geistig durch
kollektive Leistungen verbessern kann. Die Dynamik des
geistigen Aufschwungs beschränkt sich auf das individuelle
Dasein und der einzig mögliche Kurvenverlauf der geistigen
und moralischen Entwicklung liegt zwischen Geburt und
Tod eines jeden Individuums. Wir können unmöglich als
Kollektiv in Richtung Vollkommenheit marschieren. Jeder
muss als Individuum in Richtung des geistigen Ziels streben
und jeder muss bei sich anfangen und aufhören.
Diese entschieden individualistische Auffassung ist an den
geistigen Schicksalen des Menschen ausgerichtet und wird
indirekt durch die genaue islamische Konzeption für die
Gesellschaft und soziale Zusammenarbeit bestätigt. Es ist
die Pflicht der Gesellschaft, das äußere Leben so zu
gestalten, dass das Individuum bei seinen geistigen
Bemühungen so wenig Hindernisse und so viel
Unterstützung wie möglich vorfindet. Dies ist der Grund,
warum das islamische Recht, die Shariah, das menschliche
Leben sowohl auf seiner geistigen als auch auf seiner
materiellen Ebene behandelt und bei beiden ihre
individuellen und sozialen Aspekten berücksichtigt.
Wie bereits gesagt wurde, ist eine solche Konzeption nur auf
der Basis eines entschiedenen Glaubens an die Existenz
einer menschlichen Seele und daher auch an einen
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 Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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metaphysischen Zweck des menschlichen Lebens möglich.
Aber für den modernen Okzidentalen mit seiner fahrlässigen
Halbleugnung der Existenz einer Seele hat die Frage nach
einem Zweck des Lebens nicht länger praktische Bedeutung.
Er hat alle übersinnlichen Vermutungen und Betrachtungen
hinter sich gelassen.
Was wir religiöses Verhalten nennen, basiert immer auf dem
Glauben, dass es ein allumfassendes transzendentes
Moralgesetz gibt und dass wir Menschen uns seinen
Befehlen unterwerfen müssen. Aber die moderne westliche
Zivilisation begreift nicht die Notwendigkeit, sich als
Mensch auch etwas anderem als wirtschaftlichen, sozialen
oder nationalen Vorgaben zu unterwerfen. Ihre wirkliche
Gottheit ist nicht geistiger Natur: es ist Komfort. Und ihre
tatsächliche Philosophie drückt sich aus im Willen zur
Macht, um der Macht willen. Beides ist Erbe der alten
römischen Zivilisation.
Die römische Zivilisation zumindest teilweise für den
Materialismus des modernen Westens verantwortlich zu
machen, könnte für diejenigen befremdlich klingen, die
häufig vom Vergleich des römischen Reichs mit dem alten
islamischen Reich gehört haben. Wie ist ein solcher
Unterschied zwischen den Fundamenten des Islam und des
modernen Westens möglich, wenn sich beide in der
Vergangenheit politisch ähnlich ausdrückten? Die simple
Antwort ist: sie waren nicht wirklich ähnlich. Dieser
populäre, oft zitierte Vergleich ist einer der vielen
historischen Binsenweisheiten, mit der oberflächliche
Halbwissenschaftler die Köpfe der gegenwärtigen
Generation füttern. Denn das islamische und römische Reich
hatte die ganze Zeit keine Gemeinsamkeiten; außer, dass sie
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Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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sich über weite Gebiete und verschiedenartige Menschen
erstreckten. Diese zwei Imperien wurden von völlig
verschiedenen Antriebskräften gesteuert und hatten
sozusagen verschiedene historische Zwecke zu erfüllen.
Selbst auf der morphologischen Seite beobachten wir einen
enormen Unterschied. Das römische Reich benötigte nahezu
eintausend Jahre, um sich zu seiner vollen geographischen
Größe zu entwickeln und zu politischer Reife zu gelangen.
Dagegen wuchs das islamische Reich innerhalb von nur etwa
achtzig Jahren zu voller Blüte heran. Der Unterschied zeigte
sich beim jeweiligen Verfall noch deutlicher. Den
Niedergang des römischen Reichs besiegelte innerhalb eines
einzigen Jahrhunderts die Migration der Hunnen und Goten–
er war so vollständig, dass bis auf die Werke der Literatur
und Architektur nichts von ihm übrig blieb. Das
byzantinische Reich, allgemein als direkter Erbe des
römischen Reichs angesehen, war nur in einem Sinn der
Erbe: Es herrschte über einige Territorien, welche einst Teil
des römischen Reichs waren. Seine soziale Struktur und
politische Organisation hatte kaum etwas mit dem Aufbau
des römischen Gemeinwesens zu tun. Andererseits hat das
islamische Reich, verkörpert im Kalifat, ohne Zweifel viele
Verformungen und dynastische Veränderungen im Verlauf
seiner langen Existenz durchgemacht, aber seine Struktur
blieb immer dieselbe. Es überstand äußere Angriffe, selbst
die der Mongolen, die weit gewaltsamer waren als das, was
das römische Reich von den Hunnen oder Goten erfahren
hatte. Auch diese konnten die soziale Organisation und die
politische Existenz des Kalifenreichs nicht erschüttern,
obgleich diese zweifellos zur wirtschaftlichen und
intellektuellen Stagnation der späteren Zeit beitrugen.
Während das römische Reich innerhalb eines Jahrhunderts
zerstört wurde, verfiel das islamische Reich sehr langsam. Es
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 Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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dauerte etwa ein Jahrtausend, bis das Absterben des
osmanischen Reiches seinen endgültigen politischen
Zusammenbruch besiegelte. Es folgten Zeichen auch der
sozialen Auflösung, die wir gegenwärtig miterleben.
All dies zwingt UNS zum Schluss: Die innere Stärke und
soziale Gesundheit der islamischen Welt war allem
überlegen, was die Menschheit bis dahin an sozialer
Organisation erfahren hatte. Selbst die chinesische
Zivilisation, die zweifellos ähnliche Widerstandskräfte über
viele Jahrhunderte zeigte, kommt hier nicht als Vergleich in
Betracht. China liegt am Rande eines Kontinents und war bis
vor einem halben Jahrhundert nicht in Reichweite einer
gegnerischer Macht – zumindest bis zum Aufstieg des
modernen Japans; die Kriege mit den Mongolen in der Zeit
von Dschingis Khan und seinen Nachfolgern berührten
kaum mehr als an den Rand des chinesischen Reiches. Aber
das islamische Reich erstreckte sich über drei Kontinente
und war in der ganzen Zeit von feindlichen Mächten
umgeben – alle sehr stark und dynamisch -. Seit Beginn der
Geschichte war der sogenannte Nahe und Mittlere Osten
vulkanisches Zentrum widerstreitender rassischer und
kultureller Energien; aber der Widerstand der islamischen
sozialen Organisation war zumindest bis zuletzt unbesiegbar.
Wir brauchen nach einer Erklärung dieses wundervollen
Spektakels nicht lange zu suchen: es war die religiöse Lehre
des Qur’án, die ein festes Fundament gab, und das
Lebensbeispiel des Propheten Muhammad (Friede und
Segen seien auf ihm), das zum eisernen Band dieser
erhabenen sozialen Struktur wurde. Das römische Reich
hielt nicht ein solches geistiges Element zusammen: daher
brach es so schnell zusammen.
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Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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Aber es gibt noch einen weiteren Unterschied zwischen
diesen zwei alten Reichen. Das islamische Reich hatte keine
privilegierte Nation und auch nicht die Macht, einen
Gedanken - von seinen Fackelträgern als religiöse Wahrheit
betrachtet - so zu verbreiten, dass er dem Reich dienstbar
gemacht werden konnte. Dagegen war die Idee des
römischen Reiches die Eroberung der Macht und die
Ausbeutung anderer Nationen zum alleinigen Nutzen des
Mutterlandes. Um einer privilegierte Gruppe ein besseres
Leben zu ermöglichen, war den Römern keine Gewalt zu
schlecht, keine Ungerechtigkeit zu verächtlich. Das
berühmte ”römische Recht” war nur für die Römer gerecht.
Es ist offensichtlich, dass ein solches Verhalten nur auf der
Grundlage einer rein materialistischen Konzeption des
Lebens und der Zivilisation möglich war – gewiss: eines
intellektuell veredelten Materialismus, dem
nichtsdestoweniger alle geistigen Werten fremd waren. Die
Römer kannten in Wirklichkeit nie Religion. Ihre
traditionellen Götter waren eine blasse Imitation der
griechischen Mythologie; farblose Geister, schweigend
akzeptiert wegen ihres Nutzens für die Gemeinschaft. In
keinem Fall dürften diese Götter das ”reale” Leben stören.
Wenn sie gefragt wurden, mussten sie über ihre Priester
Orakelsprüche erteilen; aber sie sollten nie moralische
Gesetze den Menschen auferlegen oder ihre Handlungen
lenken.
Dies war der Boden, auf dem die moderne westliche
Zivilisation wuchs. Sie nahm zweifellos viele andere
Einflüsse während ihrer Entwicklung auf; änderte und
modifizierte naturgemäß das kulturelle Erbe von Rom in
mehr als einer Beziehung. Jedoch bleibt die Tatsache richtig:
Alles, was heutzutage in der westlichen Ethik und
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 Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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Lebensanschauung gilt, ist direkt auf die alte römische
Zivilisation zurückzuführen. Wie die intellektuelle und
soziale Atmosphäre des alten Roms in Wirklichkeit, wenn
auch nicht offen zugegeben, absolut utilitaristisch und
antireligiös war, so gilt Gleiches heute auch für die
Atmosphäre im modernen Westen.
Ohne eine metaphysische Religion widerlegen zu können, ja
selbst ohne den Bedarf eines solchen Beweises einzuräumen,
hält das moderne westliche Denken die metaphysische Ethik
generell aus seinen praktischen Überlegungen heraus. Die
Religion wird aber toleriert und manchmal sogar als soziale
Übereinkunft hervorgehoben.. Die westliche Zivilisation
verleugnet Gott also nicht strikt, hat aber einfach in ihrem
gegenwärtigen abstrakten System keinen Platz und keine
Verwendung für Ihn. Aus der geistigen Schwierigkeit des
Menschen heraus, seiner Unfähigkeit, die Gesamtheit des
Lebens zu erfassen, hat diese Zivilisation einen Wert
gebildet. Der moderne Okzidentale kann deshalb nur solche
Gedanken als wichtig erachten, die innerhalb des Bereichs
der empirischen Wissenschaften liegen oder bei denen
zumindest vermutet wird, die sozialen Beziehungen des
Menschen greifbar beeinflussen zu können. Da die Existenz
von Gott auf den ersten Blick nicht zu einer dieser beiden
Kategorien gehört, neigt der westliche Verstand prinzipiell
dazu, Gott von den praktischen Überlegungen
auszuschließen.
Die Frage drängt sich auf: Wie ist ein solches Verhalten mit
der christlichen Art des Denkens vereinbar? Ist das
Christentum - das ja die geistige Urquelle der westlichen
Zivilisation sein soll – nicht ein Glaube, der auf einer
übersinnlichen Ethik basiert? Natürlich ist dies beim
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Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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Christentum der Fall. Aber es gibt keinen größeren Fehler
als den, die westliche Zivilisation als Folge des Christentums
zu betrachten. Die wirklichen geistigen Fundamente des
modernen Westens finden sich in der alten römischen
Anschauung des Lebens; einem rein utilitaristischen Plan
ohne jeden metaphysischen Ausblick. Sein Kern kann
folgendermaßen ausgedrückt werden: ”Solange wir über den
Ursprung des Menschen und seines Schicksals nach dem
körperlichen Tod definitiv – das heißt: durch
wissenschaftliche Experimenten und Berechnungen – nichts
wissen, ist es besser, unsere Energien auf unsere materiellen
und intellektuellen Möglichkeiten zu konzentrieren, ohne
dass eine metaphysische Ethik und moralische Forderungen,
die auf Vermutungen basieren und wissenschaftlichen
Beweisen trotzen, uns behindern.” Es kann keinen Zweifel
geben: Dieses für die moderne westliche Zivilisation so
charakteristische Verhalten ist für das Christentum genauso
unakzeptabel wie für den Islam oder irgendeine andere
Religion, weil ihr gesamtes Wesen unreligiös ist. Die
praktischen Errungenschaften der modernen westlichen
Zivilisation auf die angebliche Wirksamkeit der christlichen
Lehren zurückzuführen, ist also lächerlich. Das Christentum
hat sehr wenig zur schlagkräftigen wissenschaftlichen und
materiellen Entwicklung beigetragen, die die Überlegenheit
der gegenwärtigen Zivilisation des Westens gegenüber den
anderen ausmacht. Tatsächlich sind diese Leistungen aus
Europas jahrhundertelangem intellektuellen Kampf gegen
die christliche Kirche und ihrer Lebensanschauung
hervorgegangen.
Lange Jahrhunderte hindurch war der Geist Europas von
einem religiösen System unterdrückt, welches die
Missachtung der Natur verkörperte. Das Merkmal der
Askese, das die Evangelien durchdringt; die Aufforderung,
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 Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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sich tatenlos Unrecht aufzubürden; die Ablehnung von Sex,
weil darauf die Vertreibung von Adam und Eva aus dem
Paradies basiert; die Erbsünde und ihre Sühne durch Christi
Kreuzigung: All dies führt dazu, das menschliche Leben
nicht als positive Phase, sondern geradezu als
unumgängliches Übel, als ”erzieherische” Hürde auf dem
Weg zum geistigen Fortschritt zu interpretieren. Es ist klar,
dass ein solcher Glaube sich kaum um weltliches Wissen
und die Verbesserung des irdischen Lebens bemüht. Und
gewiss: Sehr lange war der Intellekt Europas durch diese
unheimliche Konzeption der menschlichen Existenz
gedämpft. Als die Kirche im Mittelalter allmächtig war,
hatte Europa keine Vitalität und überhaupt keinen Platz für
wissenschaftliche Forschung. Es verlor sogar alle realen
Verbindungen mit den philosophischen Leistungen Roms
und Griechenlands, aus denen die europäische Kultur einst
entstanden war. Der Verstand revoltierte mehr als einmal; er
wurde aber immer und immer wieder von der Kirche
niedergeschlagen. Die Geschichte des Mittelalters ist voll
von dem bitteren Kampf zwischen dem Genius Europas und
dem Geist der Kirche.
Die Befreiung des europäischen Verstandes aus dem
geistigen Joch der christlichen Kirche gelang in der Zeit der
Renaissance. Diese war maßgeblich aufgrund der neuen
kulturellen Impulse und Ideen entstanden, die die Araber
dem Westen über mehrere Jahrhunderten hinweg vermittelt
hatten.
Was auch immer an der Kultur der alten Griechen und des
späteren Hellenismus fortschrittlich war: Die Araber hatten
es in ihren Lehren wiederbelebt und in den Jahrhunderten,
die der Gründung des frühen islamischen Reichs folgten,
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Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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noch überboten. Ich sage nicht, dass die Übernahme des
hellenistischen Denkens generell ein Nutzen für die Araber
und die Muslime war – weil: dies war nicht der Fall . Aber
trotz aller Schwierigkeiten, die diese wiederbelebte
hellenistische Kultur den Muslimen verursacht haben mag,
die Einführung der aristotelischen und neuplatonischen
Philosophie in die islamische Theologie und
Rechtswissenschaft: sie löste, dank der Araber, einen
immensen Auftrieb in Europa aus. Das Mittelalter hatte
Europas überschüssige Produktivkräfte verschwendet. Die
Wissenschaft stagnierte, überall herrschte der Aberglaube,
das soziale Leben war in einem heute kaum vorstellbaren
Ausmaß primitiv und roh. Doch dann begann der kulturelle
Einfluss der islamischen Welt an die verriegelten Türen der
europäischen Zivilisation zu hämmern – zunächst durch die
Kreuzzüge im Osten und die hervorragenden Universitäten
im muslimischen Spanien, später durch die wachsenden
wirtschaftlichen Beziehungen vor allem zu den Republiken
von Genua und Venedig. Vor den geblendeten Augen der
europäischen Gelehrten und Denker tauchte eine andere
Zivilisation auf: geläutert, fortschrittlich, voll mit
leidenschaftlichem Leben und im Besitz von kulturellen
Schätzen, die Europa lange vorher verloren und vergessen
hatte. Was die Araber getan haben, war weit mehr als eine
bloße Wiedergeburt des alten Griechenlands. Sie schufen
eine völlig neue, eigene wissenschaftliche Welt und
entwickelten bis dahin unbekannte Ansätze der Forschung
und Philosophie. All das vermittelten sie über verschiedene
Wege der westlichen Welt; und man kann nicht zu oft sagen:
Das moderne wissenschaftliche Zeitalter, in dem wir
gegenwärtig leben, wurde nicht in Städten des christlichen
Europas eingeführt, sondern in islamischen Zentren wie
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 Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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Damaskus, Bagdad, Kairo, Cordoba, Nishapur und
Samarkand.
Die Auswirkung dieser Einflüsse auf Europa war enorm. Mit
dem Vorstoß der islamischen Zivilisation brach ein neuer
Geist am Horizont des Westens an und flößte ihm frisches
Leben und den Durst nach Fortschritt ein. Es ist eine
angemessene Einschätzung seines Wertes, wenn europäische
Historiker diese Zeit der Regeneration als Renaissance
bezeichnen – als eine ”Wiedergeburt” . Und in der Tat: Es
war eine Wiedergeburt von Europa.
Die verjüngten Strömungen, die der islamischen Kultur
entsprangen, gaben den besten Geist Europas frei, der nun
mit neuer Stärke gegen die verheerende Vormacht der
christlichen Kirche zu kämpfen begann. Am Anfang hatte
dieser Wettstreit die äußere Form von Reformbewegungen;
diese kamen beinahe gleichzeitig in verschiedenen
europäischen Ländern auf und wollten die christliche
Denkweise den neuen Anforderungen des Lebens anpassen.
Diese Bewegungen waren auf ihre Art vernünftig; wenn sie
wirklich geistig Erfolg gehabt hätten, hätten sie eine gewisse
Aussöhnung zwischen Wissenschaft und religiösem Denken
in Europa erzeugt. Jedoch war das von der Kirche im
Mittelalter verursachte Unrecht bereits zu tiefgreifend; eine
bloße Reformation, die darüber hinaus schnell in politische
Kämpfe von Interessengruppen ausgeartet war, konnte es
nicht mehr reparieren. Statt eine wahre Reformation
durchzusetzen, wurde das Christentum lediglich in die
Defensive getrieben und ihm eine Verteidigungshaltung
aufgezwungen. Die Kirche – ob katholisch oder
protestantisch – gab nicht wirklich ihre Gehirnakrobatiken,
ihre unverständlichen Dogmen, ihre Weltverachtung oder
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Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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ihre skrupellose Unterstützung der herrschenden Macht auf,
selbst wenn diese auch Menschenmassen unterdrückt; sie
versuchte nur, ihre schwerwiegenden Fehler zu vertuschen
und durch hohle Behauptungen ”weg zu erklären”. Es war
also kein Wunder, dass sich, als Jahrzehnte und Jahrhunderte
ins Land zogen, das religiöse Denken in Europa immer mehr
abschwächte, bis dann im 18. Jahrhundert die Französische
Revolution und ihre kulturellen Auswirkungen in anderen
Ländern die Vorherrschaft der Kirche definitiv über Bord
warf.
In dieser Zeit schien es erneut so, als wenn eine neue geistige
Zivilisation - von der tyrannischen Dunkelheit der gelehrten
Theologie des Mittelalters befreit - in Europa eine
Entwicklungschance hätte. In der Tat treffen wir am Ende
des 18. und am Anfang des 19. Jahrhunderts in der
Philosophie, Kunst, Literatur und Wissenschaft auf einige
der besten, geistig leistungsfähigsten europäischen
Persönlichkeiten. Aber die geistige und religiöse Idee des
Lebens blieb auf wenige Individuen beschränkt. Als die
Ketten gebrochen waren, konnte und wollte die große
europäische Masse nicht den Weg zurück zu einer religiösen
Orientierung finden. Zu lange war sie in religiösen Dogmen
gefangen, die keine Verbindungen mit dem natürlichen
Streben des Menschen aufwiesen.
Vielleicht war die wichtigste geistige Gegebenheit, die
Europas religiöse Regeneration verhinderte, die derzeitige
Idee von Jesus Christus als Gottes Sohn. Natürlich nahmen
philosophisch gebildete Christen niemals den Gedanken des
Sohns wortwörtlich, sie begriffen darunter vielmehr die
Offenbarung der Barmherzigkeit Gottes in menschlicher
Form. Aber bedauerlicherweise hat nicht jeder
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philosophischen Verstand. Für die überwältigende Mehrheit
der Christen hatte und hat der Ausdruck ”Sohn” eine äußerst
direkte Bedeutung, obwohl ihm immer schon ein mystischer
Beigeschmack anhaftete. Für sie führt der Glaube an
Christus, den Sohn Gottes, ganz natürlich zu einem
Anthropomorphismus von Gott selbst, der die Gestalt eines
alten gütigen Mannes mit einem rauschenden weißen Bart
annimmt. Unzählige Bilder von hohem künstlerischen Wert
verewigten diese Gestalt im europäischen Unterbewusstsein.
Als das Dogma der Kirche in Europa noch die
Oberherrschaft hatte, gab es keine Neigung, diese sonderbare
Anschauung zu hinterfragen. Aber als die geistigen Fesseln
des Mittelalters einst brachen, konnte sich das europäische
Denken nicht mit dem vermenschlichten Gott-Vater
aussöhnen; andererseits blieb dieser Anthropomorphismus
ein beständiger Faktor in der populären Anschauung von
Gott. Nach einer Zeit der Aufklärung schauderten die
europäischen Denker instinktiv vor dem Gotteskonzept
zurück, wie es in den Lehren der Kirche dargelegt wurde:
und da es die einzige Idee war, an die sie gewohnt waren,
begannen sie, die gesamte Vorstellung von Gott und mit ihr
die von der Religion zu verwerfen.
Außerdem brach die industrielle Ära an. Sie lenkte die
Menschen mit ihrem Zauber des erstaunlichen materiellen
Fortschritts zu neuen Interessen und trug somit zum späteren
religiösen Vakuum Europas bei. In diesem Vakuum nahm
die Entwicklung der westlichen Zivilisation eine tragische
Wendung, aus dem Blickwinkel von jemandem, der die
Religion als die stärkste Realität des menschlichen Lebens
betrachtet. Befreit von seiner Leibeigenschaft zum
Christentum, überschritt der moderne europäische Geist jede
Grenze und verschanzte sich allmählich hinter einem
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entschiedenen Antagonismus zu jeder Form geistigen
Anspruchs über den Menschen. Aus der unterbewussten
Furcht heraus, nochmals von den Kräften einer geistigen
Autorität überwältigt zu werden, wurde Europa in seinem
Prinzip und in seinem Handeln zum Verfechter von allem
Antireligiösen. Es kehrte zu seinem alten römischen Erbe
zurück.
Dass es keine potenzielle ”Überlegenheit” des christlichen
Glaubens über andere Glaubensbekenntnisse war, die es dem
Westen ermöglichte, seine hervorragenden materiellen
Leistungen zu erlangen: Dieser Behauptung kann nichts
entgegengesetzt werden; jene Leistungen sind ohne den
historischen Kampf von Europas intellektuellen Kräften
gegen das gesamte Prinzip der christlichen Kirche
unvorstellbar. Seine gegenwärtige materialistische
Konzeption des Lebens ist Europas Rache an der christlichen
”Spiritualität”, die von dem Weg der natürlichen
Lebenswahrheit abgekommen ist.
Hier ist nicht der Rahmen, die persönlichen Beziehungen
zwischen dem Christentum und der modernen westlichen
Zivilisation weiter zu vertiefen. Ich habe nur versucht, drei
Gründe, vielleicht die Hauptgründe, darzustellen, warum
diese Zivilisation in ihren Ideen und Methoden so durch und
durch antireligiös ist: ein Grund ist das Erbe der römischen
Zivilisation mit ihrem absolut materialistischen Verhalten
und ihrer Art, das menschliche Leben und seinen
innewohnenden Wert zu betrachten; ein zweiter ist die
Auflehnung der menschlichen Natur gegen die christliche
Weltverachtung und die Unterdrückung von natürlichen
Begierden und rechtmäßigen Bemühungen des Menschen,
dazu das traditionelle Bündnis der Kirche mit den Besitzern
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 Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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der politischen und wirtschaftlichen Macht und ihrer
kaltblütigen Rechtfertigung jeder Ausbeutung, die
Machthaber sich ausdachten; und schließlich als dritter
Grund die anthropomorphe Anschauung von Gott. Diese
Auflehnung gegen die Religion war gänzlich erfolgreich – so
erfolgreich, dass die verschiedenen christlichen Sekten und
Kirchen einige Glaubenslehren langsam den veränderten
sozialen und geistigen Bedingungen Europas anpassen
mussten. Anstatt das soziale Leben ihrer Anhänger zu
beeinflussen und zu gestalten, was primär Pflicht einer
Religion ist, hat sich das Christentum mit seiner Rolle als
tolerierten Gewohnheit und hübschen Gewands für
politische Zwecke abgefunden. Für die Massen hat sie
nunmehr nur noch rein formale Bedeutung. Genauso wie es
bei den Göttern des alten Roms der Fall war, die keinen
tatsächlichen Einfluss auf die Gesellschaft ausüben durften.
Zweifellos gibt es immer noch viele Individuen im Westen,
die religiös fühlen und denken; sie bemühen sich verzweifelt
, ihre Überzeugungen mit dem Geist ihrer Zivilisation
auszusöhnen – aber sie bleiben Ausnahmen. Der
durchschnittliche Okzidentale – sei er Demokrat oder
Faschist, Kapitalist oder Bolschewik, gewerblicher oder
intellektueller Arbeiter – kennt nur eine positive ”Religion”:
die Anbetung des materiellen Fortschritts; der Glaube, dass
es kein anderes Ziel im Leben gibt, als das ganze Leben
dauernd einfacher oder, wie die heutige Redensart sagt,
”unabhängig von der Natur” zu machen. Die Tempel dieser
”Religion” sind die gigantischen Fabriken, Kinos,
chemischen Laboratorien, Tanzlokale, hydroelektrischen
Werkanlagen; ihre Priester sind Bankiers, Ingenieure,
Filmstars, führende Industrielle, Rekordflieger. Dieses
Verlangens nach Macht und Vergnügen schafft
unausweichlich verfeindete Gruppen - alle bis auf die Zähne
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Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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bewaffnet und entschlossen einander zu vernichten, wann
und wo immer ihre Interessen aufeinanderprallen. Auf der
kulturellen Seite ist das Resultat eine menschliche Gattung,
deren Moral sich auf die Frage des praktischen Nutzens
beschränkt und deren höchstes Kriterium von gut und böse
der materielle Erfolg ist.
Einer tiefgreifenden Umgestaltung ist das soziale Leben des
Westens gegenwärtig ausgesetzt; die neue utilitaristische
Moral wird von Tag zu Tag offensichtlicher. Alle Werte
wirken sich direkt auf das materielle Wohl der Gesellschaft
aus. Beispielsweise werden fachliche Effizienz, Patriotismus
und nationalistischer Gruppensinn gepriesen und in ihrem
Wert oft in absurder Weise überhöht; dagegen verlieren
Werte, die bis vor kurzem von einem rein ethischen
Gesichtspunkt betrachtet wurden, zum Beispiel die
Kindesliebe oder die sexuelle Treue, schnell ihre Bedeutung
– weil sie der Gesellschaft keinen greifbaren materiellen
Vorteil bringen. Die Zeit, in der starke Familienbanden für
das Wohlergehen der Gruppe oder des Klans entscheidend
waren, ist im modernen Westen von einer Zeit kollektiver
Organisationen mit großen Überschriften verdrängt worden.
In einer Gesellschaft, die im Wesentlichen technologisch
und immer mehr rein mechanisch organisiert ist, hat das
Verhalten eines Sohnes zu seinem Vater keine große soziale
Tragweite mehr, solange diese Individuen sich in den
Grenzen allgemeinen Anstands bewegen, die von der
Gesellschaft für den Umgang untereinander definiert
werden. Folglich verliert der westliche Vater täglich mehr
und mehr Autorität über seinen Sohn und genauso logisch:
Der Sohn verliert seinen Respekt vor dem Vater. Die
gemeinsamen Beziehungen werden langsam aufgehoben,
wie überhaupt alle praktischen Zielsetzungen. Die Postulate
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 Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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einer mechanisierten Gesellschaft, die die Neigung hat, alle
Rechte eines Individuum über ein anderes aufzuheben,
hatten diese für obsolet erklärt. Und in logischer
Fortentwicklung dieses Gedankens damit auch die familiären
Vorrechte.
Parallel dazu schreitet die Auflösung der ”alten” sexuellen
Moral fort. Sexuelle Treue und Disziplin sind im modernen
Westen schnell eine Sache der Vergangenheit geworden,
weil sie hauptsächlich durch Moral begründet werden; und
ethische Erwägungen haben keinen unmittelbar fassbaren
Einfluss auf das materielle Wohlergehen der Gesellschaft.
Und so verliert die Disziplin in sexuellen Beziehungen
schnell ihre Bedeutung und ist durch eine ”neue” Moral
ersetzt worden, die die uneingeschränkte Freiheit über den
menschlichen Körpers verkündet. In Zukunft wird der
einzige Weg der Beschränkung bestenfalls von Erwägungen
der Demographie und Eugenik abgeleitet werden.
Es ist nicht uninteressant zu beobachten, wie die oben
umrissene antireligiöse Evolution jetzt ihren logischen
Höhepunkt erreicht hat. Die Sowjetunion zeigt kulturell
keine essentiell unterschiedliche Entwicklung zum Rest der
westlichen Welt. Umgekehrt: Es scheint , dass das
kommunistische Experiment nichts anderes ist als
Höhepunkt und Erfüllung der entschieden antireligiösen und
antigeistigen Neigungen der modernen westlichen
Zivilisation. Es mag sogar sein, dass der Grund des
gegenwärtig scharfen Antagonismus zwischen dem
kapitalistischen Westen und dem Kommunismus nur das
unterschiedliche Tempo ist, mit dem beide, im Wesentlichen
parallelen Bewegungen in Richtung ihres gemeinsamen
Ziels fortschreiten. Ihr ähnlicher innerer Wille wird sich
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Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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zweifellos in Zukunft mehr und mehr ausprägen. Aber schon
jetzt ist die fundamentale Tendenz beider, des westlichen
Kapitalismus und des Kommunismus, zu erkennen: die
geistige Individualität des Menschen und seine Ethik wird
den rein materiellen Anforderungen einer kollektiven
Maschinerie – „Gesellschaft“ genannt - geopfert. Das
Individuum wird zum Rädchen im Getriebe. Die einzig
mögliche Schlussfolgerung ist: eine Zivilisation dieser Art
muss ein tödliches Gift für eine auf religiösen Werten
gegründete Kultur sein. Unsere ursprüngliche Frage, ob es
möglich ist, die islamische Denk- und Lebensweise den
Anforderungen der westlichen Zivilisation anzupassen, muss
vice versa verneint werden. Im Islam ist erster und führender
Richtwert der moralische Fortschritt des Menschen und
darin stimmen ethische und rein utilitaristischen
Betrachtungsweisen überein. In der modernen westlichen
Zivilisation ist die Haltung genau umgekehrt: Betrachtungen
des materiellen Nutzens dominieren über alle
Erscheinungsformen der menschlichen Tätigkeit; Ethik wird
zu einem unbedeutenden Lebensansatz degradiert und zu
einem rein theoretischen Dasein verdammt, ohne die
geringste Kraft, die Gemeinschaft zu beeinflussen. In
solchen Umständen über Ethik zu sprechen, ist nichts
anderes als Heuchelei; und daher sind die geistig
Anständigen unter den modern westlichen Denkern subjektiv
im Recht, wenn sie in ihren Mutmaßungen über die sozialen
Schicksale der westlichen Zivilisation jede Anspielung auf
eine transzendente Ethik vermeiden. Bei den weniger
Anständigen – auch bei denen, die in ihrem moralischen
Verhalten weniger entschieden sind – überlebt die Idee der
transzendenten Ethik als irrationaler Denkfaktor. Sie
gleichen einem Mathematiker, der verpflichtet ist, mit
bestimmten ”irrationalen” Zahlen zu arbeiten; sie stellen
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 Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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selbst nichts Greifbares dar, sind aber trotzdem nötig, um die
wegen der strukturellen Beschränkungen des menschlichen
Verstandes fehlende Vorstellungskraft zu überbrücken.
Ein solch ausweichendes Verhalten zur Ethik ist zweifellos
mit einer religiösen Orientierung unvereinbar: und daher ist
die moralische Grundlage der modernen westlichen
Zivilisation mit dem Islam unvereinbar.
Dies sollte in keinem Fall die Muslime daran hindern, von
dem Westen gewisse Impulse im Bereich der exakten und
angewandten Wissenschaften anzunehmen; aber ihre
kulturellen Beziehungen sollten hier beginnen und enden.
Weiter zu gehen und die westliche Zivilisation in ihrem
Geist, ihrer Lebensart und ihrer sozialen Organisation
nachzuahmen, ist unmöglich, ohne dabei der gesamten
Existenz des Islam als einem theokratischen Gemeinwesen
und einer praktischen Religion einen verhängnisvollen
Schlag zu versetzen.
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Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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Kapitel Drei
Der Schatten der Kreuzzüge
GANZ abgesehen von der geistigen Unvereinbarkeit gibt es
noch einen anderen Grund, warum Muslime vermeiden
sollten, die westliche Zivilisation nachzuahmen: Diese
konserviert eine tiefsitzende, sonderbare Abneigung gegen
den Islam.
Gewissermaßen ist dies auch ein Erbe des europäischen
Altertums. Die Griechen und die Römer betrachteten nur
sich selbst als ”zivilisiert” - alles Fremde, insbesondere alle,
die östlich des Mittelmeers lebte, trug den Beinamen
”barbarisch”. Seit dieser Zeit glauben die Okzidentalen, ihre
rassische Überlegenheit über den Rest der Menschheit sei
eine Tatsache; die mehr oder weniger ausgeprägte
Verachtung aller nichteuropäischen Rassen und Nationen ist
eines der beständigsten Wesensmerkmale der westlichen
Zivilisation.
Dies allein reicht jedoch nicht aus, um ihre Gefühle
gegenüber dem Islam zu beschreiben. Hier und nur hier
allein ist die westliche Haltung nicht eine der gleichgültigen
Abneigung wie sonst bei allen anderen ”fremdländischen”
Religionen und Kulturen; es ist eine tief verwurzelte,
geradezu fanatische Aversion; und sie ist nicht nur geistig,
sondern hat auch eine stark gefühlsbetonte Färbung. Europa
mag die Glaubenslehren der buddhistischen oder
hinduistischen Philosophie nicht akzeptieren, aber es wird
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 Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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immer eine reflektierte Geisteshaltung gegenüber diesen
Systemen wahren. Sobald Europa sich jedoch dem Islam
zuwendet, ist die Ausgewogenheit gestört und eine
emotionale Befangenheit schleicht sich ein. Abgesehen von
einigen wenigen Ausnahmen nähern sich selbst die meisten
bedeutenden europäischen Orientalisten den Werken über
den Islam mit unwissenschaftlicher Voreingenommenheit. In
ihren Untersuchungen scheint es geradezu, als könnte der
Islam gar nicht als Objekt der wissenschaftlichen Forschung
behandelt werden; er ist ein Angeklagter, der vor seinen
Richtern steht. Einige dieser Orientalisten spielen die Rolle
eines Staatsanwalts, versessen darauf, den Islam zu
verurteilen; andere wirken wie Verteidiger, die persönlich
von der Schuld seines Mandanten überzeugt sind und
deshalb nur halbherzig für ”mildernde Umstände” plädieren
können. Alles in allem erinnern uns die Schlussfolgerungen,
die die meisten europäischen Orientalisten gezogen haben,
an die berüchtigten Inquisitionsgerichte, die die katholischen
Kirche im Mittelalter gegen ihre Gegner einsetzte. Das heißt:
Die Untersuchungen nehmen die historischen Fakten kaum
unvoreingenommen wahr, sondern beginnen fast immer mit
einem vorher gefassten, von ihrem Vorurteil
vorgeschriebenen Schluss. Sie wählen die Beweise nach der
Schlussfolgerung aus, die sie a priori festlegen. Es ist
unmöglich, Zeugen frei auszuwählen; greifbare
Beweisstücke werden teilweise aus dem Kontext gerissen
oder bewusst mit unwissenschaftlicher Boshaftigkeit
„interpretiert“. Auf die Darstellung des Falls aus der Sicht
der anderen Partei, also der Muslime selbst, wird keinen
Wert gelegt.
Das Resultat eines solchen Verfahrens ist das seltsam
verzerrte Bild des Islam und der islamischen Sachverhalte,
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Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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das uns in der orientalistischen Literatur des Westens
begegnet. Diese Verzerrung beschränkt sich nicht auf ein
bestimmtes Land; sie kommt in England und in Deutschland,
in Russland und in Frankreich, in Italien und in Holland vor
– kurz gesagt: wo immer europäische Orientalisten ihre
Augen auf den Islam richten. Sie scheinen sich immer
hämisch zu freuen, wenn sich eine Gelegenheit – tatsächlich
oder frei erfunden – ergibt, den Islam zu seinem Nachteil zu
kritisieren. Und da diese europäischen Orientalisten keine
Rasse für sich, sondern nur Vertreter ihrer Zivilisation und
ihrer sozialen Umgebung sind, müssen wir
notwendigerweise zu dem Schluss kommen, dass der
europäische Animus im Ganzen aus dem einen oder anderen
Grund gegen den Islam als Religion und Kultur
voreingenommen ist. Einer dieser Gründe mag die alte Sicht
sein, die ganze Welt in ”europäisch” und ”barbarisch”
aufzuteilen; ein anderer Grund ist direkt mit dem Islam
verbunden: Er findet sich, wenn man auf die Vergangenheit,
besonders auf das Mittelalter, zurückblickt..
Der erste große Zusammenstoß zwischen dem vereinten
Europa und dem Islam auf der anderen Seite waren
namentlich die Kreuzzüge. Sie fielen zeitlich mit dem
Aufbruch der europäischen Zivilisation zusammen. Nach
den finsteren Jahrhunderten, die dem Zerfall Roms folgten,
hatte diese Zivilisation, immer noch in Allianz mit der
Kirche, gerade begonnen, ihren Willen durchzusetzen. Ihre
Literatur war zu dieser Zeit neu aufgeblüht.. Die bildende
Kunst erwachte langsam aus der Lethargie, die die
gewalttätigen Völkerwanderungen der Goten, Hunnen und
Awaren ausgelöst hatte. Europa entwuchs gerade den rohen
Bedingungen des frühen Mittelalters; es hatte sich gerade ein
neues kulturelles Bewusstsein und dadurch eine erhöhte
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 Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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Empfindlichkeit entwickelt. Genau in dieser extrem
kritischen Zeit brachten die Kreuzzüge Europa in einen
feindlichen Kontakt mit der Welt des Islam.
Selbstverständlich gab es schon vor den Kreuzzügen
Kämpfe zwischen Muslimen und Europäern: die arabische
Eroberung von Sizilien und Spanien sowie ihre Angriffe auf
Südfrankreich. Aber diese Kämpfe fanden vor dem
kulturellen Erwachen Europas statt; daher hatten sie damals
– zumindest aus europäischer Sicht– rein lokalen Charakter
und wurden in ihrer ganzen Bedeutung noch nicht völlig
erfasst. Es waren zuallererst die Kreuzzüge, die die
europäische Haltung zum Islam für viele kommende
Jahrhunderte bestimmten. Die Kreuzzüge waren
wegweisend: Sie fielen in die Zeit von Europas Kindheit, in
eine Zeit, als die eigene Kultur noch im Gestaltungsprozess
war und zum ersten Mal behauptet werden musste. Wie
Individuen speichern auch Nationen gewaltsame Eindrücke
aus ihrer frühen Kindheit bewusst oder unterbewusst das
ganze Leben lang. Sie prägen sie so tief, dass diese nur mit
Schwierigkeiten und selten vollkommen von geistigen
Erfahrungen einer späteren, nachdenklicheren und weniger
emotionalen Zeit verdrängt werden können. So war es auch
bei den Kreuzzügen. Sie hinterließen tiefe und scheinbar
unauslöschliche Spuren in den Seelen der Massen Europas.
Der universelle Enthusiasmus, den die Kreuzzüge in ihrer
Zeit hervorriefen, kann mit nichts, was Europa vorher
erfahren hatte, und mit kaum etwas, was danach kommen
sollte, verglichen werden. Eine Welle der Begeisterung
schwappte über den ganzen Kontinent; eine Begeisterung,
die zumindest eine Zeit lang die Barrieren zwischen Staaten,
Nationen und Klassen niederriss. Zum ersten Mal in der
Geschichte Europas begriff sich Europa als Einheit - als
Einheit gegen die Welt des Islam. Ohne unangemessen zu
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Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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übertreiben, können wir sagen, dass das moderne Europa
aus dem Geist der Kreuzzüge heraus geboren ist. Vor dieser
Zeit gab es Angelsachsen und Germanen, Franzosen und
Normannen, Italiener und Dänen: aber die Kreuzzüge
schweißten alle europäischen Nationen zu einer
gemeinsamen Sache zusammen; es war die Geburt des neuen
Konzepts der ”westlichen Zivilisation”. Und es war der Hass
gegen den Islam, der als Pate hinter dieser neuen Schöpfung
stand.
Es ist eine der großen Ironien der Geschichte: Dieser erste
Akt des kollektiven Bewusstseins, sozusagen die geistige
Verfassung der westlichen Welt, beruhte auf Impulsen, die
die christliche Kirche freimütig unterstützte. Dagegen waren
die folgenden Leistungen des Westens nur möglich durch die
geistige Auflehnung gegen nahezu alles, wofür die Kirche
stand und steht.
Eine tragische Entwicklung, aus beider Perspektive, aus der
der christlichen Kirche und der des Islam. Tragisch für die
Kirche, weil sie nach einem spektakulären Beginn ihre
Herrschaft über die Seelen Europas verlor. Und tragisch für
den Islam, weil er das Feuer der Kreuzzüge anschließend in
vielen Formen und Verkleidungen jahrhundertelang ertragen
musste.
Unaussprechlich die Grausamkeiten, Zerstörungen und
Erniedrigungen, die die frommen Ritter des Kreuzes in die
Länder des Islam trugen, die diese zunächst eroberten und
dann wieder verloren. Daraus wuchs die giftige Saat der
Feindseligkeit, die seitdem das Verhältnis zwischen Ost und
West belastet. Andererseits gab es keine innere
Notwendigkeit für ein solches Gefühl. Obwohl die geistigen
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 Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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Grundlagen und sozialen Absichten der beiden
Zivilisationen völlig verschieden sind, sollten sie einander
dulden und freundschaftlich nebeneinander leben können.
Diese Möglichkeit gab es nicht nur theoretisch, sondern auch
tatsächlich. Auf der muslimischen Seite existierte immer
aufrichtig der Wunsch, aufeinander Rücksicht zu nehmen
und Toleranz zu üben. Als der Kalif Harun ar-Rashid seinen
Botschafter zum Kaiser Karl den Großen entsandte, war er
hauptsächlich von diesem Anliegen angetrieben und nicht
von dem Wunsch, durch eine Freundschaft mit den Franken
materiellen Profit zu erzielen. Europa war zu dieser Zeit
kulturell noch zu primitiv, um diese Gelegenheit richtig
wertzuschätzen; aber Europa war sicher nicht abgeneigt.
Jedoch tauchten dann die Kreuzzüge unversehens am
Horizont auf und zerstörten das Verhältnis zwischen dem
Islam und dem Westen. Nicht weil die Kreuzzüge Krieg
bedeuteten: so viele Kriege wurden im Laufe der
menschlichen Geschichte zwischen Nationen geführt und
anschließend vergessen; dazu wandelten sich viele
Feindseligkeiten später zu Freundschaft. Aber das Übel, das
die Kreuzzüge verursachte, war nicht auf das Waffenklirren
beschränkt: es war zuallererst ein geistiges Übel. Die Kirche
hatte vorsätzlich Lehren und Ideale des Islam entstellt und so
den europäischen Geist gegen die muslimische Welt
vergiftet. Es war die Zeit der Kreuzzüge, als die bekannten
lächerlichen Vorstellung vom Islam den Geist Europas
eroberten und sich dort festsetzten: die Vorstellungen einer
Religion von grober Sinneslust und brutaler Gewalt; einer
Religion, die statt reiner Herzensbildung nur Formalien
beachtet; und es war das erste Mal, dass der Prophet (Friede
und Segen auf ihm) in Europa ”Mahound” genannt wurde.
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Der Keim des Hasses war gesät worden. Der Enthusiasmus
der Kreuzzüge fand bald Nachfolger anderswo in Europa:
Spanische Christen wurden ermutigt, ihr Land vom „Joch
der Heiden“ zu befreien. Bis das muslimische Spanien völlig
zerstört wurde, dauerte es Jahrhunderte. Aber gerade weil
der Kampf so lang dauerte, vertieften sich die
antiislamischen Gefühle von Europa und wuchsen beständig.
Nach der grausamsten und erbarmungslosesten Verfolgung,
die die Welt je erlebt hatte, wurden die muslimischen
Elemente in Spanien völlig vernichtet. Der Sieg rief Jubel in
ganz Europa hervor– obwohl seine Folge die Vernichtung
einer höchst glorreichen Kultur und ihre Ersetzung durch
mittelalterliche Ignoranz und Primitivität war.
Das Echo der Ereignisse in Spanien war noch nicht verhallt,
da beschädigte ein drittes Ereignis von großer Bedeutung das
Verhältnis zwischen der westlichen Welt und dem Islam: die
türkische Eroberung Konstantinopels. Die Stadt war in den
Augen Europas das Bollwerk gegen die asiatischen
„Barbaren“ – hier wäre noch etwas vom Glanz der alten
Griechen und Römer über Byzanz zu spüren. Durch die
Eroberung wurde das Tor nach Europa für die muslimische
Massen geöffnet. Es folgten kriegerische Jahrhunderte; die
Feindschaft Europas gegen den Islam wurde eine Frage nicht
nur von kultureller, sondern auch von politischer Bedeutung;
und dies trug zu ihrer weiteren Verstärkung bei.
Europa profitierte erheblich von diesen Konflikten. Die
Renaissance, das Wiedererwachen der europäischen Künste
und Wissenschaften stützt sich erheblich auf islamische,
hauptsächlich arabische Quellen und ist größtenteils Folge
des physischen Kontaktes zwischen Ost und West. Europa
erreichte dadurch kulturell weit mehr, als es die Welt des
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 Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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Islam je tat. Europa erkannte diese ewige Schuldenlast den
Muslimen gegenüber nie an; der alte Hass gegenüber dem
Islam wurde nicht weniger. Im Gegenteil: Mit der Zeit
wuchs dieser Hass weiter und ging in eine Gewohnheit über.
Das Gemüt in weiten Kreisen verdunkelte sich, wenn immer
das Wort „Muslim“ erwähnt wurde; Vorurteile flossen in
volkstümliche Sprichwörter ein; der Hass wurde in das Herz
eines jeden europäischen Mannes und einer jeden
europäischen Frau eingehämmert. Und am
bemerkenswertesten: Der Hass überlebte alle kulturellen
Veränderungen. Die Reformation brach an, als religiöse
Splitterparteien Europa teilten und eine bewaffnete Sekte
gegen eine andere Sekte stand; aber der Hass gegenüber dem
Islam war ihnen gemein. Es kam eine Zeit, in der religiöse
Gefühle in Europa auszusterben begannen - nur der Hass
gegenüber dem Islam blieb bestehen. Sehr charakteristisch
ist die Tatsache, dass der große französische Philosoph und
Dichter Voltaire, einer der größten Feinde des Christentums
und seiner Kirche im 18. Jahrhundert, zugleich ein
fanatischer Hasser des Islam und seines Propheten war.
Einige Jahrzehnte später begannen die Menschen im Westen,
fremde Kulturen zu studieren und sich ihnen mitfühlend zu
nähern: aber beim Islam schlich sich die traditionelle
Verachtung als irrationales Vorurteil in ihre
wissenschaftlichen Untersuchungen ein; die kulturelle Kluft,
die die Geschichte bedauerlicherweise zwischen Europa und
der Welt des Islam gelegt hatte, blieb unüberbrückt. Die
Verachtung des Islam wurde Teil des europäischen Denkens.
Es ist wahr, dass die ersten Orientalisten in der Neuzeit
christliche Missionare waren, die in muslimischen Ländern
arbeiteten. Die Bilder, die sie von den Lehren und der
Geschichte des Islam zeichneten, wurden absichtlich
entstellt, um das Verhalten der Europäer zu den ”Heiden” zu
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Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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beeinflussen. Die Geistesverwirrung hielt aber auch an, als
sich die orientalistischen Wissenschaften schon lange von
den missionarischen Einflüssen emanzipiert hatten, also kein
irregeleiteter religiöser Eifer mehr Ausrede sein konnte. Ihr
Vorurteil gegen den Islam ist schlichtweg ein atavistischer
Instinkt, eine Idiosynkrasie, die auf dem Eindruck aufbaut,
den die Kreuzzüge und all ihre Fortsetzungen auf den Geist
des frühen Europas bewirkten.
Man kann leicht fragen: Wie kann es passieren, dass ein
solch alter Groll, religiös in seinem Ursprung und möglich
wegen der geistigen Vorherrschaft der christlichen Kirche, in
Europa immer noch fortwirkt in einer Zeit, in der dort das
religiöse Gefühl zweifellos eine Sache der Vergangenheit ist.
Aber für einen Psychologen sind solche Verwicklungen
keinesfalls überraschend. Er weiß genau, dass eine Person
die religiösen Überzeugungen ihrer Kindheit vollends
verlieren kann, dabei manch besonderer, ursprünglich mit
ihnen verbundener Aberglaube aber übrig bleiben und dieser
sich das ganze Leben allen rationalen Erklärungen
widersetzen kann. So verhält es sich mit der europäischen
Einstellung zum Islam. Obwohl das religiöse Empfinden, die
Wurzel des antiislamischen Grolls, inzwischen einer
materialistischeren Lebensanschauung gewichen ist, blieb
dieser alte Groll unterbewusst im Geiste Europas ein
wichtiger Faktor. Seine Stärke variiert gewiss bei jedem
Individuum, aber seine Existenz kann nicht bestritten
werden. Der Geist der Kreuzzüge – selbstverständlich in
sehr verwässerter Form – liegt immer noch über Europa und
die Einstellung seiner Zivilisation zur muslimischen Welt
trägt deutlich Spuren dieses unverbesserlichen Gespenstes.
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 Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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In muslimischen Kreisen hören wir oft die Aussage, dass
Europas Hass gegen den Islam wegen der früheren
gewaltsamen Konflikte in unseren Tagen allmählich
verschwinden wird. Es ist sogar behauptet worden, dass
Europa Zeichen der Inklination hin zur religiösen und
sozialen Lehre des Islam zeigt; viele Muslime glauben ganz
ernsthaft, dass große Gespräche von Europäern mit dem
Islam bevorstehen. Dieser Glaube ist für uns nicht
unvernünftig, da wir glauben, dass allein der Islam sich von
allen religiösen Systemen einer offenen Kritik stellen kann.
Uns wurde darüber hinaus vom Propheten erzählt, dass am
Schluss die gesamte Menschheit den Islam annimmt. Aber
andererseits gibt es nicht das geringste Anzeichen dafür, dass
dies in absehbarer Zukunft geschehen kann. Was die
westliche Zivilisation betrifft, kann dies möglicherweise
nach einer Reihe von schrecklichen sozialen und mentalen
Katastrophen geschehen, die die gegenwärtige kulturelle
Arroganz von Europa zerschmettern und seine Mentalität
ändern. Dann könnten die Europäer bereit sein, eine religiöse
Erklärung des Lebens anzunehmen. Heute ist die westliche
Welt vollkommen in der Anbetung ihrer Leistungen und in
dem Glauben verloren, dass Komfort, Komfort allein, ein
erstrebenswertes Lebensziel sei. Ihr Materialismus und ihre
Verurteilung einer religiösen Denkausrichtung nehmen
zweifellos an Stärke zu und nicht ab, wie einige
optimistische muslimische Beobachter uns wünschen lassen
wollen.
Es wird gesagt, dass die moderne Wissenschaft damit
beginnt, die Existenz einer einheitlichen Schaffenskraft
hinter der sichtbaren Natur anzuerkennen; und dies, so
meinen Optimisten, sei der Anbruch eines neuen religiösen
Bewusstseins in der westlichen Welt. Aber diese Annahme
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Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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verrät nur ein Missverständnis des wissenschaftlichen
Denkens in Europa. Kein seriöser Wissenschaftler kann oder
konnte auch jemals die Herkunft des Universums aus einem
einzigen dynamischen Grund wirklich bestreiten. Die Frage
dennoch ist und war immer, welche Eigenschaften diesem
”Grund” zugeschrieben werden könnten. Alle transzendental
religiösen Systeme bestätigen, dass es eine Macht gibt, die
absolutes Bewusstsein und absolute Einsicht besitzt; eine
Macht, die die Gesamtheit nach irgendeinem Plan und
Zweck schafft und beherrscht, ohne selbst durch irgendein
Gesetz der Welt begrenzt zu sein; sie ist Gott. Aber die
moderne Wissenschaft ist weder bereit noch willig, so weit
zu gehen (tatsächlich ist dies nicht Aufgabe der
Wissenschaft). Sie lässt die Frage des Bewusstseins und der
Unabhängigkeit – in anderen Worten: die Göttlichkeit –
dieser Schaffungskraft völlig offen. Ihr Standpunkt ist etwa
so: ”Es könnte sein, aber ich weiß es nicht und verfüge über
keine wissenschaftlichen Mittel, um es zu wissen.” In der
Zukunft könnte sich diese Philosophie vielleicht zu einer Art
pantheistischen Agnostizismus entwickeln, in dem Seele und
Materie, Zweck und Existenz, Schöpfer und Erschaffener ein
und dasselbe sind. Es ist schwer zu erkennen, dass ein
solcher Glaube als Schritt nach vorn hin zu der positiven
islamische Idee von Gott betrachtet werden könnte: eine
solche Lehre ist kein Abschied vom Materialismus, sondern
schlicht die Erhöhung seines intellektuellen und geistigen
Niveaus.
Tatsächlich war Europa dem Islam nie ferner als heute.
Seine aktive Feindseligkeit gegen unsere Religion mag
weniger werden. Damit wird jedoch nicht die islamische
Lehre gewürdigt, sondern der wachsenden kulturellen
Schwäche und des Zerfalls der islamischen Welt Rechnung
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getragen. Einst hatte Europa Furcht vor dem Islam; diese
Furcht zwang es, sich eine feindliche Haltung zu allem
anzueignen, was islamisch eingefärbt war; das schloss auch
rein geistige und soziale Angelegenheiten ein. Aber in einer
Zeit, in der der Islam seine Bedeutung als politischer Gegner
Europas verliert, ist es einfach natürlich, dass mit der
verminderten Furcht Europas auch seine antiislamischen
Gefühle etwas von ihrer ursprünglichen Intensität verlieren.
Wenn diese weniger ausgeprägt und aktiv geworden sind,
können wir aber nicht zu dem Schluss kommen, dass der
Westen innerlich dem Islam näher gekommen ist; es
kennzeichnet nur seine wachsende Gleichgültigkeit dem
Islam gegenüber.
Auf keinen Fall hat die westliche Zivilisation ihre
eigentümliche geistige Einstellung geändert. Sie ist
gegenwärtig genauso stark einer religiösen
Lebenskonzeption entgegengesetzt, wie es immer zuvor der
Fall war; und wie ich schon sagte: Es gibt keinen
überzeugenden Hinweis, dass sich dies in näherer Zukunft
ändern wird. Dass es islamische Missionen im Westen gibt
und einige Europäer und Amerikaner den Islam
angenommen haben (in den meisten Fällen ohne das volle
Verständnis seiner Lehren), ist überhaupt kein Argument. In
einer Zeit, in der der Materialismus auf der ganzen Linie
triumphiert, ist es nur natürlich, dass hier und da einige
Individuen, die noch immer das Verlangen nach geistiger
Regenerierung haben, eifrig einem Glauben zuhören, der auf
religiösen Ideen gegründet ist. In dieser Hinsicht stehen die
muslimischen Missionen im Westen nicht allein da. Es gibt
zahllose christlich-mystische Sekten mit
”wiederbelebenden” Absichten, es gibt die ziemlich starke
theosophische Bewegung, es gibt buddhistische Tempel,
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Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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Missionen und Konvertiten in vielen europäischen Städten.
Diese buddhistischen Missionen könnten exakt die gleichen
Argumente gebrauchen wie die muslimischen Missionen und
behaupten (und dies behaupten sie auch), dass Europa dem
Buddhismus ”näher kommt”. In beiden Fällen ist die
Behauptung absurd. Die Bekehrung einiger weniger zum
Buddhismus oder Islam beweist nicht im Geringsten, dass
einer dieser zwei Religionen wirklich begonnen hat, das
westliche Leben in einem nennenswerten Ausmaß zu
beeinflussen. Man könnte sogar weiter gehen und sagen:
Keine dieser Missionen konnte mehr als eine äußerst
bescheidene Neugierde erwecken - hauptsächlich durch die
Faszination, die ein ”exotischer” Glaube auf die Gemüter
von romantisch gestimmten Menschen ausübt. Gewiss gibt
es Ausnahmen; einige der Konvertiten mögen aufrichtige
Sucher nach der Wahrheit sein, aber Ausnahmen sind nicht
genug, um die Situation einer Gesellschaft zu ändern. Wenn
wir andererseits die Zahl der Konvertiten mit der Zahl der
Okzidentalen vergleichen, die sich täglich in die rein
materialistisch-sozialen Glaubensbekenntnisse, wie den
Marxismus oder den Faschismus, einreihen, können wir die
Tendenz der modernen westlichen Zivilisation genauer
wahrzunehmen.
Wie zuvor dargelegt wurde, mag es sein, dass die wachsende
soziale und wirtschaftliche Unruhe und vielleicht auch neue
Weltkriege von bisher unbekannten Dimensionen die
materialistische Arroganz der westlichen Zivilisation auf
solch grauenvolle Art und Weise ad absurdum führen
werden wird. Dann werden die Menschen im Westen
nochmals anfangen, in Ernst und Bescheidenheit nach den
geistigen Wahrheiten zu suchen: Erst dann wird ein
erfolgreiches Predigen des Islam im Westen möglich sein.
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Aber eine solche Änderung ist noch immer weit hinter dem
Horizont verborgen. Es ist daher ein gefährlicher,
selbsttrügerischer Optimismus für Muslime, von islamischen
Einflüssen zu sprechen, als wären sie auf dem Weg, den
Geist Europas zu erobern. Ein solches Gerede ist in
Wirklichkeit nichts anderes als der alte Mahdi-Glaube in
”rationalistischer” Verkleidung: der Glaube an eine Kraft,
die plötzlich auftauchen und die wankende Struktur des
Islam zum Sieg auf Erden führen wird. Dieser Glaube ist
gefährlich, weil er wohltuend einfach ist und darauf abzielt,
die Tatsache wegzuschwindeln, dass wir kulturell nichts, die
westlichen Einflüsse dagegen heute in der muslimischen
Welt äußerst stark sind; dass wir schlafen, während diese
Einflüsse die islamische Gesellschaft überall untergraben
und vernichten. Die Erweiterung des Islam zu begehren, ist
eine Sache; aber falsche Hoffnungen auf dieses Begehren zu
gründen, eine andere.
Wir träumen von dem Licht des Islam, wie es sich über weit
entfernte Länder ausbreitet, während die Jugend des Islam in
unserem unmittelbaren Umfeld unser Anliegen und unsere
Hoffnung verlässt.
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Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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Kapitel 4
Über Bildung
So lange Muslime weiter auf die westliche Zivilisation
blicken, als sei sie die einzige Kraft, die ihre stagnierende
Zivilisation regenerieren kann, zerstören sie ihr
Selbstbewusstsein und unterstützen indirekt die westliche
Behauptung, der Islam sei eine ”verbrauchte Macht” .
In den vorangegangenen Kapiteln wurden einige Gründe für
die Auffassung dargelegt, dass der Islam und die westliche
Zivilisation auf diametral gegensätzlichen
Lebenskonzeptionen aufbauen und daher im Geiste nicht
vereinbar sind. Wenn dies der Fall ist: Wie können wir dann
erwarten, dass die Erziehung der muslimischen Jugend auf
westliche Art und Weise - eine Erziehung, die völlig auf
kulturellen Erfahrungen und den Werten Europas aufbaut -
frei von antiislamischen Einflüssen bleiben wird?
Wir können dies nicht erwarten. Mit Ausnahme von wenigen
Fällen, in denen ein besonders brillanter Verstand über die
erzieherische Substanz triumphiert. Eine westliche
Erziehung kommt nicht umhin der muslimischen Jugend,
ihren Glauben an die Nachricht des Propheten und ihren
Willen zu untergraben, sich als Repräsentanten der eigenen
theokratischen Zivilisation des Islam zu betrachten. Es kann
dabei keinen Zweifel geben, dass unter solcher westlichen
”Intelligenzija” jeder religiöse Glaube ihren Halt verliert .
Dies impliziert natürlich nicht, dass der Islam unter den
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 Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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ungebildeten Klassen seine Integrität als praktische Religion
wahrt; aber dennoch finden wir dort generell eine viel
empfindsamere Antwort auf den Ruf des Islam als bei der
verwestlichten ”Intelligenzija”. Die Erklärung dieser
Entfremdung ist nicht die, dass die westlichen
Wissenschaften, mit denen sie gefüttert wurden, ein
begründetes Argument gegen die Wahrheit unserer
religiösen Lehren geliefert hätten; vielmehr ist die
intellektuelle Atmosphäre der modernen westlichen
Zivilisation so extrem antireligiös, dass bereits sie dem
religiösen Potenzial der jungen muslimischen Generation
viel Kraft entzieht.
Religiöser Glaube und Unglaube sind sehr selten allein eine
Sache der Argumentation. In manchen Fällen gewinnt das
eine oder andere durch Intuition oder sagen wir: Einsicht die
Oberhand. Aber meistens entscheidet das kulturelle Umfeld
des Menschen. Denken wir an ein Kind, das von
Kindesbeinen an systematisch auf das Hören von perfekt
erzeugten musikalischen Tönen geschult wurde. Sein Gehör
gewöhnt sich an die Unterscheidung von Ton, Rhythmus
und Harmonie; in späteren Jahren wird es fähig sein,
komplexeste Musik, wenn nicht zu erzeugen und
wiederzugeben, so doch wenigstens zu verstehen. Aber
einem Kind, das in frühesten Jahren keine solche Musik
hörte, wird es schwer finden, selbst seine Bestandteile zu
würdigen. Genauso verhält es sich mit religiösen
Assoziationen. Wie es vielleicht einige Individuen gibt,
denen von Natur aus jedes ”Ohr” für Musik vollkommen
fehlt, so gibt es vielleicht – wenn auch eher
unwahrscheinlich - Individuen, die für die Religion völlig
”taub” sind. Aber für die überwältigende Anzahl von
„normalen Menschen“ entscheidet die Atmosphäre bei der
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Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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Erziehung über religiösen Glauben und Unglauben. Daher
sagt der Prophet:
”Jedes Kind ist in ursprünglicher Reinheit geboren, es sind
seine Eltern, die ihn zu einem Juden, einem Christen oder
einem Götzenanbeter machen” (Sahih al-Bukhari).
Der in dem obigen Hadith benutzte Begriff ”Eltern” kann
sinngemäß auf das generelle Umfeld erweitert werden, durch
das die frühe Entwicklung des Kindes bestimmt wird:
Familienleben, Schule, Gesellschaft, etc. Es kann nicht
geleugnet werden, dass durch den gegenwärtigen Verfall die
religiöse Atmosphäre in vielen muslimischen Häusern
intellektuell so schwach ist, dass die heranwachsende Jugend
angeregt wird, der Religion den Rücken zu kehren. Das kann
sicherlich zutreffen; aber wenn junge Muslime nach
westlichen Maßstäben erzogen werden, kann nicht nur ein
antireligiöses Verhalten im späteren Leben die Folge sein,
sondern wird es sogar höchst wahrscheinlich. Hier stellt sich
nun die große Frage: Wie soll unser Verhalten in Bezug auf
modernes Lernen sein?
Widerstand gegen westliche Erziehung der Muslime meint
keineswegs, dass der Islam gegen die Erziehung als solche
sein kann. Diese Behauptung unserer Gegner hat weder eine
theologische noch eine historische Grundlage. Der heilige
Qur’án ist voll von Ausdrücken wie: ”dass du verständig
sein mögest”, ”dass du denken mögest”, ”dass du wissen
mögest”. Es wird am Anfang des heiligen Qur’án gesagt:
Und Er brachte Adam alle Namen bei. (2:31)
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 Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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Und die nachfolgenden Verse zeigen, dass der Mensch
wegen seines Wissens dieser ”Namen” in einer bestimmten
Hinsicht selbst den Engeln überlegen ist. Die ”Namen” sind
symbolischer Ausdruck für die Fähigkeit, Begriffe zu
definieren, das dem Menschen eigene Denken zu
artikulieren, wodurch er in den Worten des Qur’án, ein
Statthalter Gottes auf Erden sein kann. Und wenn der Befehl
lautet, systematisch von seinem Denken Gebrauch zu
machen, muss der Mensch lernen. Daher sagt der Prophet
(Friede und Segen auf ihm):
”Wenn sich jemand auf der Suche nach Wissen auf den Weg
macht, wird Gott ihm den Weg ins Paradies leicht machen”
(Sahih Muslim).
”Die Überlegenheit eines gelehrten Menschen über (bloße)
Anbeter ist wie die Überlegenheit des Mondes in einer
Nacht, wenn er die anderen Sterne vollkommen umfasst”
(Musnad Ibn Hanbal, Jami at-Tirmidhi, Sunan Abi Da’du,
Sunan Ibn Majah, Sunan ad-Darimi).
Jedoch ist es nicht einmal notwendig, mit Versen aus dem
Qur’án oder Aussprüchen des Propheten das islamische
Verhalten zum Lernen zu verteidigen. Die Geschichte
beweist zweifellos, dass keine Religion dem
wissenschaftlichen Fortschritt einen ähnlichen Antrieb gab
wie der Islam. Das Lernen und die wissenschaftliche
Forschung wurde von der islamischen Theologie angeregt
und führte zu den glanzvollen kulturellen Leistungen der
Umayyaden und Abbassiden sowie der arabischen
Herrschaft in Spanien. Europa sollte das wohl bekannt sein -
ihre eigene Kultur verdankt dem Islam nach Jahrhunderten
der Finsternis nicht weniger als die Renaissance
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Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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(”Wiedergeburt”). Ich führe dies nicht an, um sich in einer
Zeit, in der die Welt des Islam seine eigene Tradition
vergessen hat und immer mehr geistig verarmt, solcher
glorreichen Erinnerungen zu rühmen. Wir haben in unserer
gegenwärtigen Misere kein Recht dazu, mit vergangenen
Verdiensten zu prahlen. Aber wir müssen erkennen, dass die
Ursache des gegenwärtigen Übels nicht ein Defizit der
islamischen Lehre ist, sondern die Nachlässigkeit des
Muslims war.
Islam verhinderte niemals Fortschritt und Wissenschaft. Er
wertet die geistigen Handlungen des Menschen so sehr auf,
dass er ihn über die Engel stellt. Keine andere Religion
betont so sehr die Vernunft und stellt auch das Lernen so
über alle anderen Handlungen des Lebens. Wenn wir uns
den Prinzipien dieser Religion anpassen, können wir gar
nicht das fortschrittliche Lernen aus unserem Leben
beseitigen wollen. Wir müssen den Wunsch haben, zu
lernen, voranzukommen sowie wissenschaftlich und
wirtschaftlich so effizient wie die westlichen Nationen zu
werden. Nur eine einzige Sache dürfen die Muslime nicht
wollen: mit westlichen Augen zu sehen, in westlichem
Denken zu denken: sie dürfen nicht wünschen, die geistige
Zivilisation des Islam gegen die materialistischen
Experimente des Westens einzutauschen.
Wissen an sich ist weder westlich noch östlich; Wissen ist
universal – so wie natürliche Tatsachen universal sind. Aber
die Perspektive, mit der Tatsachen betrachtet und dargelegt
werden, können sich nach den kulturellen Temperamenten
der Nationen unterscheiden. Biologie, Physik oder Botanik
als solche sind in ihren Aufgabenbereichen und ihren Zielen
weder materialistisch noch geistig; sie beobachten, sammeln,
gestalten Fakten aus und leiten allgemeine Grundsätze ab.
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 Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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Aber die induktive philosophische Schlussfolgerung, die wir
von diesen Wissenschaften ableiten, ist nicht auf Fakten und
Beobachtungen allein gegründet, sondern wird größtenteils
von unserer „genetischen“ oder intuitiven Einstellung zum
Leben und seinen Problemen bestimmt. Der große deutsche
Philosoph Kant bemerkt: ”Es scheint erst überraschend, aber
ist nichtsdestotrotz gewiss, dass unsere Vernunft ihre
Schlüsse nicht von der Natur bezieht, aber sie ihr
vorschreibt.” Kurz gesagt: Nur die subjektive Perspektive ist
hier von Bedeutung; sie kann unsere Deutung eines
Gegenstandes völlig ändern. Daher kann uns die
Wissenschaft, die selbst weder materialistisch noch geistig
ist, zu stark divergierenden Deutungen des Universums
führen: Interpretationen, die je nach unserer eigenen
Prädisposition geistig oder materialistisch sein können. Der
Westen ist trotz seines hoch gebildeten Intellektualismus
materialistisch prädisponiert und seiner Konzeption und
fundamentalen Idee nach antireligiös; und so muss auch das
westliche Bildungssystem als Ganzes sein. Mit anderen
Worten: Nicht das Studium der modernen empirischen
Wissenschaften ist schädlich für die Kultur des Islam,
sondern der Geist der westlichen Zivilisation, mit dem sich
Muslime solchen Wissenschaften nähern.
Es ist sehr bedauerlich, dass unsere eigene jahrelange
Gleichgültigkeit und Nachlässigkeit bei der
wissenschaftlichen Forschung uns von okzidentalen
Lernquellen vollkommen abhängig gemacht haben. Wären
wir stets dem Prinzip des Islam - der Pflicht des Lernens und
Wissens jedes Muslims - gefolgt, müssten wir heute nicht in
den modernen Wissenschaften zu den Okzidentalen blicken
wie ein vor Durst sterbender Mensch, der in der Wüste die
Fata Morgana des Wassers am Horizont sieht. Denn weil die
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Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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Muslime ihre Möglichkeiten so lang vernachlässigt haben,
fielen sie in Ignoranz und Armut; Europa machte dagegen
einen gewaltigen Schritt nach vorn. Es wird lange Zeit
brauchen, diesen Unterschied zu überbrücken. Bis dahin
werden wir naturgemäß gezwungen sein, moderne
Wissenschaften durch die bildungserzieherischen Augen des
Westens aufzunehmen. Aber dies heißt nur: Wir sind
verpflichtet, wissenschaftliche Fakten und Methoden
anzunehmen - nichts anderes. Mit anderen Worten: Wir
sollten nicht zögern, westliche Wissenschaft genau zu
studieren; aber ihrer Philosophie in keinem Bereich der
Erziehung der muslimischen Jugend nachgeben. Natürlich
kann man sagen, dass gegenwärtig viele genaue
Wissenschaften, zum Beispiel die Atomphysik, jenseits rein
empirischer Untersuchungen verlaufen und in
philosophische Gebiete vordringen; und dass es in vielen
Fällen äußerst schwierig ist, eine eindeutige Linie zwischen
empirischer Wissenschaft und spekulativer Philosophie zu
ziehen. Das ist wahr. Aber andererseits ist genau dies der
Punkt, an dem sich die islamische Kultur neue Geltung
verschaffen muss. Für muslimische Wissenschaftler wird es
die Gelegenheit, ja Pflicht sein, sobald diese Grenzlinien in
wissenschaftlichen Untersuchungen erreicht werden, ihre
Kräfte der spekulativen Beweisführung einzusetzen -
unabhängig von westlichen philosophischen Theorien. Aus
ihrer eigenen – islamischen – Einstellung heraus werden sie
wahrscheinlich zu Schlussfolgerungen kommen, die sich
mehrheitlich von den modernen westlichen Wissenschaften
unterscheiden.
Aber was immer die Zukunft bringen mag: Selbst heute ist
es absolut möglich, Wissenschaften zu studieren und zu
lehren, ohne sich dem geistigen Verhalten des Westens
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 Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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sklavisch zu unterwerfen. Das, was die Welt des Islam heute
dringend braucht, ist keine philosophische Anschauung,
sondern nur verbesserte wissenschaftliche und technische
Ausrüstung.
Wenn ich Vorschläge einem rein islamisch orientierten
bildungserzieherischen Gremium, machen würde, würde ich
von allen intellektuellen Errungenschaften des Westens nur
zu den natürlichen Wissenschaften (in der oben erwähnten
reservierten Haltung) drängen. Auch die Mathematik sollte
in muslimischen Lehranstalten gelehrt werden, dagegen
müsste der Unterricht in europäischer Philosophie, Literatur
und Geschichte seine derzeitige Vorrangsstellung verlieren.
Unsere Haltung zu europäischer Philosophie sollte durch das
Vorangegangene klar sein. Die europäische Literatur sollte
gewiss nicht übersehen werden – aber dabei sollte auf ihre
eigentliche philosophische Haltung verwiesen werden. Die
Art der gegenwärtigen Lehre in muslimischen Ländern ist -
offen gesagt - voreingenommen. Ihre grenzenlose
Übertreibung verleitet naturgemäß junge und unreife
Gemüter dazu, den Geist der westlichen Zivilisation mit
ganzem Herzen zu absorbieren, bevor ihre negativen Seiten
ausreichend wahrgenommen werden können. Und somit ist
der Boden nicht nur für eine platonische Anbetung bereitet,
sondern auch für eine Nachahmung der westlichen
Zivilisation, die niemals mit dem Geist des Islam
zusammengehen kann. Die gegenwärtige Rolle der
europäischen Literatur an muslimischen Schulen sollte ein
angemessener, urteilsfähiger Unterricht der islamischen
Kultur übernehmen. Er sollte die Studenten mit der Tiefe
und dem Reichtum der islamischen Kultur beeindrucken, um
sie mit neuer Hoffnung für ihre Zukunft zu erfüllen.
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Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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Trägt schon der heutige Unterricht der europäischen
Literatur in vielen muslimischen Einrichtungen zur
Entfremdung junger Muslime vom Islam bei, gilt dasselbe in
noch weit größerem Ausmaß für die europäische Deutung
der Weltgeschichte. In ihr kommt die alte Haltung ”Römer
gegen Barbaren” sehr deutlich zur Geltung. Ohne es
einzuräumen, will ihre Darstellung von Geschichte
beweisen, dass die westliche Rasse und ihre Zivilisation
allem überlegen ist, was in der Welt erzeugt wurde oder
erzeugt werden kann; und daher gibt sie dem westlichen
Streben nach Weltmacht eine Art moralische Rechtfertigung.
Seit der Zeit der Römer sind die europäischen Nationen
daran gewohnt, alle Unterschiede zwischen Ost und West
aus der Perspektive einer europäischen ”Norm” zu
betrachten. Ihre Beweisführung basiert auf der Annahme, die
Entwicklung der Menschheit könne nur auf Grundlage der
europäischen Kulturerfahrungen beurteilt werden. Folge ist
notwendigerweise eine verzerrte Perspektive. Und je weiter
sich die Bewertungsmaßstäbe von dem europäischen
Blickwinkel entfernen, desto schwieriger wird es für die
Europäer, die reale Erscheinung und Struktur der
beobachteten historischen Objekte zu begreifen.
Wegen dieser egozentrischen Gesinnung der Europäer war
ihre Erzählung der Geschichte der Welt - zumindest bis in
die jüngste Zeit hinein - in Wirklichkeit nichts anderes als
eine erweiterte Geschichte des Westens. Die
nichteuropäischen Nationen wurden nur beachtet, wenn ihre
Existenz und Entwicklung die Schicksale Europas direkt
beeinflusst hatten. Aber schildert man die europäische
Nationen detailliert und in grellen Farben, gewährt aber nur
flüchtige Seitenblicke auf den Rest der Welt, so erliegt der
Leser leicht der Illusion, die europäischen Leistungen in
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 Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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sozialer und geistiger Hinsicht seien viel großartiger als die
in der restlichen Welt.
So erscheint es gerade, die Welt sei allein um Europa und
seiner Zivilisation willen erschaffen; alle anderen
Zivilisationen dagegen seien nur als schöne Kulisse für all
die westliche Pracht da. Eine solche Schulung kann in den
Gemütern der jungen nichteuropäischen Menschen nur ein
Gefühl der Minderwertigkeit bewirken, was ihre eigene
Kultur, ihre eigene Vergangenheit und ihre eigenen
zukünftigen Möglichkeiten betrifft. Sie werden systematisch
geschult, ihre eigene Zukunft zu verachten – sofern es nicht
eine Zukunft ist, die auf den westlichen Idealen aufbaut.
Um diesen üblen Folgen entgegenzuwirken, sollten die
verantwortlichen Führer islamischen Denkens ihr
Möglichstes tun, um den Geschichtsunterricht in
muslimischen Einrichtungen zu revidieren. Dies ist
zweifellos eine schwierige Aufgabe und es wird eine
gründliche Revision unseres historischen Unterrichts
erfordern, bis eine neue Weltgeschichte mit muslimischen
Augen gesehen und geschrieben werden kann. Aber auch
wenn die Aufgabe schwierig ist: Sie ist nicht nur zwingend,
sondern auch möglich. Andernfalls wird unsere jüngere
Generation weiterhin unterschwellig mit einer Verachtung
für den Islam gefüttert; Resultat wäre ein noch größerer
Minderwertigkeitskomplex. Dieser
Minderwertigkeitskomplex könnte zweifellos siegen, falls
die Muslime sich vorbereiteten, die westliche Kultur in ihrer
Gesamtheit anzunehmen und so den Islam aus ihrem Leben
verbannen. Aber sollten sie so etwas vorbereiten?
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Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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Wir glauben - die neueste Entwicklung des Westens bestätigt
nochmals diesen Glauben - dass die Ethik des Islam, seine
moralischen Ideen von sozialer und persönlicher
Gerechtigkeit und Freiheit unendlich viel höher, unendlich
perfekter sind als die entsprechenden Konzepte und Ideen in
der westlichen Zivilisation. Der Islam hat den Rassenhass
verworfen und den Weg für menschliche Brüderlichkeit und
Gleichheit freigemacht; aber die westliche Zivilisation ist
nach wie vor unfähig, jenseits ihres engen Horizonts von
rassischen und nationalen Antagonismen zu blicken. Der
Islam kannte niemals Klassen und Klassenkämpfe in seiner
Gesellschaft; aber die gesamte europäische Geschichte - von
den Tagen der Griechen und Römer bis zu unserer Zeit - ist
voll von Klassenkampf und sozialem Hass. Immer wieder
muss wiederholt werden, dass es nur eine nützliche Sache
gibt, die der Muslim vom Westen lernen kann: nämlich die
genauen Wissenschaften in all ihren Formen. Diese
Notwendigkeit, Wissenschaft von außen zu lernen, sollte
einen Muslim nicht zur Annahme verleiten, die westliche
Zivilisation sei gegenüber seiner eigenen überlegen –
andernfalls versteht er nicht, wofür der Islam steht. Die
Überlegenheit einer Kultur oder Zivilisation besteht nicht im
größeren materiellem Wissen (obwohl äußerst
erstrebenswert), sondern in ihrer ethischen Kraft; in ihren
größeren Möglichkeiten, alle Perspektiven des menschlichen
Lebens darzulegen und zu koordinieren. Und in dieser
Hinsicht übertrifft der Islam jede andere Kultur. Wir müssen
nur seinen Regeln folgen, um das Höchste zu erreichen,
wozu Menschen fähig sind. Aber wir können und dürfen die
westliche Zivilisation nicht nachahmen, wenn wir die
Wahrung und Wiederbelebung der Werte des Islam
wünschen. Das Übel, das der geistige Einfluss dieser
Zivilisation im Körper des Islam verursacht, ist weit größer
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 Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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als der materielle Vorteil, den er möglicherweise verleihen
kann.
Wenn Muslime in der Vergangenheit die wissenschaftliche
Forschung vernachlässigt hatten, können sie nun nicht darauf
hoffen, diesen Fehler aufzuheben, indem sie die westliche
Gelehrsamkeit uneingeschränkt anerkennen. All unsere
wissenschaftliche Rückständigkeit und unsere Armut stehen
in keinem Vergleich zum tödlichen Effekt, den eine blinde
Befolgung der westlichen Bildungsstandards auf die
Religiosität der muslimischen Welt haben würde. Wenn wir
die Realität des Islam als Kultur wahren wollen, müssen wir
sie vor der geistigen Atmosphäre der westlichen Zivilisation
schützen, die dabei ist, unsere Gesellschaft und unsere Werte
zu erobern. Durch Nachahmung der Sitten und Lebensweise
des Westens werden die Muslime langsam gezwungen, die
westliche Anschauung anzunehmen: denn die Nachahmung
einer äußeren Erscheinung führt nach und nach zu einer
entsprechenden Assimilation der Weltsicht, die für diese
Erscheinung verantwortlich ist.
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Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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Kapitel 5
Über Imitation
DIE Nachahmung der westlichen Lebensweise von Muslime
– individuell und sozial –ist zweifellos die größte Gefahr der
Existenz, oder besser: der Wiederbelebung der islamischen
Zivilisation. Der Ursprung dieser kulturellen Krankheit
(schwer möglich, sie anders zu nennen) liegt viele
Jahrzehnte zurück und ist mit der Verzweiflung der Muslime
verbunden, als sie die materielle Macht und den Fortschritt
des Westens mit dem bedauerlichen Zustand ihrer eigenen
Gesellschaft verglichen. Aus der muslimischen
Unwissenheit über die wahren Lehren des Islam heraus –
zum größten Teil wegen der engstirnigen Einstellung der so
genannten ”Ulama”-Klasse – entstand der Gedanke, dass
Muslime mit dem Rest der Welt nur Schritt halten könnten,
wenn sie sich die sozialen und wirtschaftlichen Maßstäbe
des Westens aneignen. Die muslimische Welt stagnierte und
viele Muslime kamen zum äußerst oberflächlichen Schluss,
das islamische System der Gesellschaft und
Wirtschaftlichkeit stimme nicht mit den Erfordernissen des
Fortschritts überein und müsse daher auf westliche Art
modifiziert werden. Jene ”aufgeklärten” Menschen
bemühten sich nicht zu erfahren, wie weit die Lehre des
Islam für den Verfall der Muslime verantwortlich war: Sie
hielten nicht ein, um die wahre Haltung des Islam zu
ermitteln: den Qur’án und die Sunna; sie machten nur klar,
dass die zeitgenössischen theologischen Lehren in den
meisten Fällen ein Hindernis für Fortschritt und materiellen
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 Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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Erfolg waren. Anstatt ihre Aufmerksamkeit auf die
ursprünglichen Quellen des Islam zu wenden, identifizierten
sie stumm die Shariah mit den aufbereiteten Fiqh unserer
Tage und beurteilten letztere in vielerlei Hinsicht für
unzulänglich; anschließend verloren sie jedes praktisches
Interesse an der Shariah und verbannten sie in den Bereich
der Geschichte und des Buchwissens. Und so erschien ihnen
eine Nachahmung der westlichen Zivilisation als einziger
Weg, dem Sumpf des muslimischen Verfalls zu entfliehen.
Das berühmte Buch Islamlashmaq von Prinz Sa’id Halim
Pasha belegt schlüssig, dass die islamische Shariah kein
Hindernis für modernen Fortschritt ist. Solche
gedankenreicheren Arbeiten der neuesten Zeiten kamen zu
spät, um die blinde Bewunderung des Westen von so viele
Muslime noch aufzuhalten. Die Heilwirkung solcher
Arbeiten wurde durch eine Flut von zweitklassiger Literatur
neutralisiert, die – obwohl sie nicht offen die praktische
Lehre des Islam leugnet – zu zeigen versucht, dass die
Shariah den sozialen und wirtschaftlichen Konzeptionen der
westlichen Welt unterworfen werden kann. Die muslimische
Nachahmung der westlichen Zivilisation wurde damit
scheinbar gerechtfertigt; der Weg zur allmählichen
Verleugnung der elementarsten sozialen Prinzipien des
Islam– stets unter der Verkleidung des islamischen
”Fortschritts” – war geebnet. Ein Weg, der heute die
Entwicklung einiger der entwickeltesten muslimischen
Länder kennzeichnet.
Es ist zwecklos einzuwenden, wie es viele der muslimischen
”Intelligenzija” tun, dass die Art des Lebens keine geistigen
Konsequenzen habe - ob auf diese oder jene Art, ob wir die
europäische Kleidung tragen oder die unserer Väter, ob wir
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Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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konservativ in unseren Sitten sind oder nicht. Natürlich gibt
es keine Engstirnigkeit im Islam. Wie im ersten Kapitel
gesagt wurde, gewährt der Islam dem Menschen einen sehr
großen Freiraum, so lange er nicht in Widerspruch zu
religiösen Geboten handelt. Aber viele Dinge, die essentielle
Bereiche der westlich-sozialen Struktur sind –zum Beispiel
die freie Mischung der Geschlechter oder die Kapitalsuche
als eine Grundlage des wirtschaftliches Handelns – sind
unverkennbar den Lehren des Islam entgegengesetzt. Der
immanente Charakter der westlichen Zivilisation verhindert
eindeutig - wie ich aufzuzeigen versuchte - eine religiöse
Orientierung des Menschen. Und nur sehr oberflächliche
Menschen können glauben, dass es möglich ist, eine
Zivilisation in ihrer äußeren Erscheinung nachzuahmen,
ohne gleichzeitig von ihrem Geist beeinflusst zu werden.
Eine Zivilisation ist keine leere Form, sondern eine lebende
Kraft. Im Moment, in dem wir die Form akzeptieren,
beginnen deren innewohnenden Strömungen und
dynamischen Einflüsse in uns zu arbeiten und langsam, fast
unmerklich, unsere geistige Haltung zu prägen.
Eine vollkommene Einschätzung dieser Erfahrung nennt der
Prophet :
”Wer andere Menschen imitiert, wird einer von ihnen”
(Musnad Ibn Hanbal, Sunan Abi Da’ud).
Dieser wohlbekannte Hadíth ist nicht nur ein moralischer
Hinweis, sondern auch eine objektive Aussage: Sie erklärt
eine Assimilierung für unvermeidbar, wenn Muslime eine
nichtmuslimische Zivilisation in ihrer äußeren Form
nachahmen. In dieser Hinsicht ist es schwer möglich,
fundamental zwischen ”bedeutenden” und ”unbedeutenden”
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 Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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Aspekten des sozialen Lebens zu unterscheiden - in diesem
Zusammenhang ist nichts unbedeutend. Es gibt keinen
größeren Fehler als anzunehmen, dass beispielsweise
Kleidung etwas rein ”Äußerliches” ist und daher keine
Auswirkung auf das geistige Selbst des Menschen hat.
Kleidung ist im Allgemeinen die Folge einer jahrelangen
Entwicklung des Geschmacks von Menschen in eine
besondere Richtung. Ihre Mode entspricht der ästhetischen
Idee dieser Menschen und infolgedessen auch ihrer
Neigungen. Sie wurde geformt und ist nach den
Änderungen, die der Charakter und die Neigungen seiner
Menschen durchlaufen, konsequent umgeformt worden. Die
europäische Mode heute entspricht durch und durch dem
geistigen und moralischen Charakter von Europa. Trägt der
Muslim europäische Kleidung, adaptiert er unbewusst den
europäischen Geschmack und verbiegt sein eigenes geistiges
und moralisches Selbst so lang, bis letztendlich die neue
Kleidung passt. Und dabei verzichtet er auf die
Möglichkeiten seiner eigenen Kultur; er verzichtet auf ihren
traditionellen Geschmack, ihre ästhetische Wertung, ihre
Neigungen und Abneigungen und akzeptiert die Tracht der
geistigen und moralischen Leibeigenschaft, die eine fremde
Zivilisation ihm verliehen hat.
Wenn ein Muslim die Kleidung, die Sitten und die Lebensart
Europas imitiert, verrät er seine
Vorliebe für die europäische Zivilisation, was immer er
sonst erklärt. Es ist praktisch unmöglich, eine fremde
Zivilisation in ihrer geistigen und ästhetischen Gestaltung
nachzuahmen, ohne ihren Geist zu schätzen. Und es ist
gleichermaßen unmöglich, den Geist einer Zivilisation zu
schätzen, die einer religiösen Lebensanschauung
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Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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entgegengesetzt ist, und dennoch ein guter Muslim zu
bleiben.
Die Neigung, eine fremde Zivilisation zu imitieren, ist die
Folge eines Minderwertigkeitsgefühls. Darum und um nichts
anderes geht es den Muslimen, die die westliche Zivilisation
nachahmen. Sie stellen ihre Macht, ihr technisches Geschick
und ihre strahlende Oberfläche dem traurigen Elend der Welt
des Islam gegenüber: und sie beginnen zu glauben, dass es in
unserer Zeit nur den westlichen Weg gibt. Dem Islam
Mängel vorzuwerfen, ist Tagesgeschäft. Bestenfalls nehmen
unsere so genannten Intellektuellen eine rechtfertigende
Haltung ein und versuchen sich und andere davon zu
überzeugen, dass der Islam mit der westlichen Zivilisation
vereinbar ist.
Um die Wiederherstellung des Islam zu erreichen, müssen
sich die Muslime, bevor sie irgendwelche Reformschritte
gehen, völlig von der Verteidigungshaltung für ihre Religion
befreien. Ein Muslim muss mit erhobenem Haupt leben. Er
muss realisieren, dass er verschieden ist und sich von dem
Rest der Welt unterscheidet; er muss lernen, auf seinen
Unterschied stolz zu sein. Er sollte danach streben, diesen
Unterschied als eine kostbare Eigenschaft zu bewahren und
diesen der Welt kühn verkünden – anstatt sich dafür zu
entschuldigen und andere Kulturkreise zu assimilieren. Das
heißt nicht, dass Muslime versuchen sollten, sich von den
äußeren Stimmen abzukapseln. Man sollte immer neue
positive Einflüsse einer fremden Zivilisation annehmen,
ohne notwendigerweise seine eigene zu zerstören. Ein
Beispiel dafür war die europäische Renaissance. Dort
konnten wir sehen, wie bereitwillig Europa arabische
Einflüsse im Bereich des Lernens aufnahm. Aber Europa
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 Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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imitierte nie die äußere Erscheinung und den Geist der
arabischen Kultur; es opferte nie ihre eigene geistige und
ästhetische Unabhängigkeit. Europa nutzte die arabischen
Einflüsse nur als Düngemittel für den eigenen Boden, so wie
die Araber die hellenistischen Einflüsse in ihrer Zeit nutzten.
In beiden Fällen war die Folge ein neues starkes Wachstum
einer bodenständigen Zivilisation voller Selbstvertrauen und
Selbststolz. Keine Zivilisation kann gedeihen oder selbst
existieren, wenn sie diesen Stolz und die Beziehung zu ihrer
eigenen Vergangenheit verloren hat.
Aber die Welt des Islam mit ihrer wachsenden Neigung,
Europa zu imitieren und westliche Gedanken und Ideale zu
assimilieren, kappt allmählich die Banden zu ihrer
Vergangenheit; sie verliert damit nicht nur ihren kulturellen,
sondern auch ihren geistigen Boden. Sie ähnelt einem Baum,
der stark war, solange er tief mit dem Erdreich verwurzelt
war. Aber der reißende Gebirgsbach der westlichen
Zivilisation hat diese Wurzeln weggespült: und der Baum
hat kaum Nahrung mehr und zerfällt langsam. Seine Blätter
fallen und seine Äste schrumpfen weg. Am Ende droht der
Stamm einzustürzen.
Die westliche Zivilisation kann also nicht das richtige
Hilfsmittel sein, um die islamische Welt aus der mentalen
und sozialen Stumpfheit zu holen, die die Entartung der
praktischen Religion zu einem formalen Brauch ohne Leben
und Moral auslöste. Wo sollten dann die Muslime nach der
so dringend notwendigen geistigen und intellektuellen
Anregung suchen?
Die Antwort ist so einfach wie die Frage selbst; tatsächlich
ist sie bereits in der Frage enthalten. Der Islam ist, wie schon
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Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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mehrmals gesagt, nicht nur ein ”Glaube des Herzens”,
sondern auch ein sehr klar definiertes Programm des
individuellen und sozialen Lebens. Er kann durch eine
Assimilation einer fremden Zivilisation zerstört werden, die
völlig andere moralische Fundamente hat. Ebenso kann man
den Islam aber in dem Augenblick erneuern, in dem man ihn
in die Wirklichkeit zurückholt und ihm einen Wert
zuspricht, der unsere gesamte persönliche und soziale
Existenz formt und bestimmt.
Wegen des Einflusses neuer Gedanken und der für unsere
Zeit so charakteristischen Widersprüchlichkeit kann es sich
der Islam nicht länger erlauben, eine leere Form zu bleiben.
Sein jahrhundertealter Zauberschlaf ist zu Ende; er muss
aufstehen oder sterben. Das Problem, das die Muslimen
heute haben, ist das Problem des Reisenden, der sich an
einer Weggabelung entscheiden muss. Er kann dort bleiben,
wo er ist; dies würde aber seinen Hungertod bedeuten. Er
kann den Weg wählen, auf dessen Schild ”Richtung
westlicher Zivilisation” steht; aber dann müsste er seiner
Vergangenheit auf ewig Lebewohl sagen. Oder er kann den
anderen Weg wählen, mit der Aufschrift „Richtung
Wirklichkeit des Islam”. Es ist der einzige Weg, den jene
gehen können, die an seine Vergangenheit und an die
Möglichkeit seiner Umsetzung in der Zukunft glauben.
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Kapitel 6
Hadíth| und Sunna
VIELE Reformen wurden in den letzten Jahrzehnten
vorgeschlagen; viele geistige Doktoren haben versucht, eine
wirksame Medizin für den kranken Körper des Islam zu
finden. Bis jetzt war alles fruchtlos, weil ausnahmslos alle
gescheiten Doktoren - zumindest diejenigen, die heute Gehör
finden – vergaßen, mit ihren Arzneimitteln die natürliche
Diät zu verschreiben, auf der die frühe Entwicklung des
Patienten basierte. Diese Diät - die einzige, die der gesunde
und kranker Körper des Islam förmlich akzeptieren kann - ist
die Sunna des Propheten Muhammad (Friede und Segen
seien auf ihm). Die Sunna ist der Schlüssel für das
Verständnis des islamischen Aufstiegs vor mehr als 14
Jahrhunderten; und warum sollte sie nicht ein Schlüssel für
das Verständnis unseres gegenwärtigen Verfalls sein? Die
Einhaltung der Sunna ist gleichbedeutend mit der
islamischen Existenz und dem Fortschritt. Die Leugnung der
Sunna ist gleichbedeutend mit der Auflösung und dem
Zerfall des Islam. Die Sunna war das eiserne Gerüst des
Hauses des Islam; wenn man das Gerüst abbaut - kann man
dann überrascht sein, wenn der Islam wie ein Kartenhaus
zusammenfällt?
Diese einfache Wahrheit wurde von allen gelehrten
Menschen die ganze islamische Geschichte hindurch fast
einstimmig akzeptiert. Sie ist – wie wir gut wissen – heute
aus Gründen, die mit dem immer größeren Einfluss der
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Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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westlichen Zivilisation zusammenhängen, höchst unbeliebt.
Aber es ist nichtsdestotrotz eine Wahrheit und eigentlich die
einzige Wahrheit, die uns von dem Chaos und der Schande
des gegenwärtigen Verfalls bewahren kann.
Das Wort Sunna wird hier in seinem weitesten Sinn
verwendet und zwar als Beispiel, das uns der Prophet durch
seine Handlungen und Aussagen gegeben hat. Sein
wundervolles Leben erklärt und illustriert lebendig den
Qur’án; wir können dem heiligen Buch keine größere Ehre
erweisen, als dem Propheten, dem Träger der Offenbarung,
zu folgen.
Wir haben gesehen, dass einer der wichtigsten Leistungen
des Islam die vollständige Harmonie zwischen der
moralischen und der materiellen Seite des menschlichen
Lebens ist – das unterscheidet ihn von allen anderen
transzendenten Systemen . Dies war einer der Gründe,
warum der Islam in seinen besten Jahren solche triumphale
Erfolge hatte, wo immer er erschien. Er brachte der
Menschheit die neue Nachricht, dass die Erde nicht verachtet
werden muss, um den Himmel zu gewinnen. Dieser
berühmte Charakterzug des Islam erklärt, warum sich unser
Prophet in seiner Mission als ein apostolischer Führer der
Menschheit so sehr mit dem menschlichen Leben in seiner
geistigen und materiellen Polarität beschäftigte. Es zeigt
daher kein sehr tiefes Verständnis vom Islam, wenn man
zwischen den rein andächtigen und geistigen Geboten des
Propheten und den anderen unterscheidet, die mit Fragen
unserer Gesellschaft und unseres täglichen Lebens zu tun
haben. Die Behauptung, dass wir verpflichtet sind, die
Gebote der ersten Gruppe zu befolgen, aber nicht die der
zweiten, ist oberflächlich und in ihrem Geist antiislamisch;
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 Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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genauso wie der Gedanke, dass allgemeine Verfügungen des
Qur’án nur für die unwissenden Araber in der Zeit der
Offenbarung und nicht für einen gebildeten Ehrenmann des
zwanzigsten Jahrhunderts gedacht waren. Hier zeigt sich
eine starke Unterschätzung der prophetischen Rolle des
Mustafa.
So wie das Leben eines Muslim auf eine volle und
uneingeschränkte Kooperation zwischen seinem geistigen
und körperlichen Selbst ausgerichtet sein muss, behandelt
der Prophet, unser Führer, das Leben als zusammengesetzte
Einheit, als vollständige Summe von moralischen und
praktischen, individuellen und sozialen Anforderungen. Dies
ist die tiefste Bedeutung der Sunna.
Der Qur’án sagt:
Und was euch der Gesandte gibt, das nehmt an; und was er
euch untersagt, dessen enthaltet euch. (59:7)
Und der Prophet sagt:
Die Juden unterteilten sich in einundsiebzig Sekten, die
Christen in zweiundsiebzig Sekten und die Muslime werden
sich in dreiundsiebzig Sekten unterteilen. (Sunan Abu
Dawud, Jami’ al-Tirmidhi, Sunan al-Darimi, Musnad Ibn
Hanbal)
Hier sollte erwähnt werden, dass in arabischer Gepflogenheit
die Nummer 70 sehr oft für ”viel” steht und nicht unbedingt
die wirkliche arithmetische Zahl bezeichnet. Daher wollte
der Prophet offensichtlich sagen, dass Muslime sich sehr oft
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Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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in Sekten aufspalten werden, mehr noch als Juden und
Christen. Und er fügte hinzu:
…alle von ihnen sind für das Feuer bestimmt, bis auf eine.
Als die Gefährten fragten, welche die eine rechtgeleitete
Gruppe ist, antwortete er:
Jene, die auf den Prinzipien von mir und meinen Gefährten
gegründet ist.
Bestimmte Verse des Qur’án machen diesen Punkt völlig
unmissverständlich klar:
Doch nein, bei deinem Herrn; sie sind nicht eher Gläubige,
bis sie dich zum Richter über alles machen, was zwischen
ihnen strittig ist, und dann in ihren Herzen keine Bedenken
gegen deine Entscheidung finden und sich voller Ergebung
fügen. (4:65)
Und:
Sprich: ”Wenn ihr Alláh liebt, so folgt mir. Lieben wird euch
Alláh und euch eure Sünden vergeben; denn Alláh ist
Allvergebend, Barmherzig.” Sprich: ”Gehorcht Alláh und
dem Gesandten!” Und wenn sie sich abwenden, so liebt
Alláh die Ungläubigen nicht. (3:31-32)
Neben dem Qur’án gilt die Sunna des Propheten als zweite
Quelle des islamischen Rechts, des richtigen sozialen und
persönlichen Verhaltens. In Wirklichkeit müssen wir die
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 Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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Sunna als die einzig gültige Erläuterung der qur’ánischen
Lehren betrachten, als einziges Mittel, das Interpretations-
und Anpassungsschwierigkeiten der Lehren zu vermeiden
hilft. Viele Verse aus dem Qur’án haben eine sinnbildliche
Bedeutung und könnten verschieden verstanden werden,
wenn es keine eindeutige Methode der Interpretation gäbe.
Und es gibt darüber hinaus viele Elemente von praktischer
Bedeutung, die im Qur’án nicht eindeutig behandelt wurden.
Der Geist des heiligen Buchs ist selbstverständlich durchweg
einheitlich; aber aus ihm das praktische Verhalten, welches
wir uns aneignen müssen, abzuleiten, ist nicht immer eine
einfache Sache. Solange wir glauben, dass dieses Buch das
Wort Gottes ist, vollkommen in Ausgestaltung und
Gegenstand, ist der einzig logische Schluss, dass nie
vorgesehen war, es unabhängig von der in der Methode der
Sunna verkörperten, persönlichen Führung des Propheten zu
gebrauchen.
Im nächsten Kapitel wird versucht werden, für alle Zeiten
die Ursachen für die Verbindung des Qur’án mit der
begeisternden und führenden Persönlichkeit des Propheten
zu erläutern. Für den Anfang sollte die folgende Betrachtung
ausreichend sein.
Unser logisches Denken sagt uns, dass es unmöglich einen
besseren Deuter der qur’ánischen Lehren geben kann als ihn;
durch ihn offenbarten sich die Lehren der Menschheit. Den
Spruch, den wir in unseren Tagen so oft hören: ”Lasst uns
auf den Qur’án zurückgreifen, aber lasst uns nicht sklavisch
der Sunna folgen”, verrät nur die Unwissenheit über den
Islam. Jene, die so sprechen, gleichen einem Menschen, der
in einen Palast eintreten will, aber nicht den passenden
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Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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Schlüssel gebrauchen möchte, der allein die Tür öffnen
kann.
Damit kommen wir zur äußerst bedeutenden Frage der
Glaubwürdigkeit der Quellen, die uns das Leben und die
Aussprüche des Propheten offenbaren. Diese Quellen sind
die Hadíthe – die Überlieferungen der Aussprüche und
Handlungen des Propheten, Sie wurden von seinen
Gefährten berichtet, übermittelt und in den ersten
Jahrhunderten des Islam kritisch zusammengestellt. Viele
moderne Muslime erklären, dass sie dem Sunna folgen
wollen; aber sie denken, sie können sich nicht auf den
Aufbau der Hadíthe verlassen. Es ist in unseren Tagen Mode
geworden, die Echtheit der Hadíthe und damit der ganzen
Struktur der Sunna grundsätzlich zu leugnen.
Gibt es irgendeinen wissenschaftlichen Grund für dieses
Verhalten? Gibt es irgendeine wissenschaftliche
Rechtfertigung, die Hadíthe als eine verlässliche Quelle des
islamischen Rechts zurückzuweisen?
Wir sollten denken, dass die Gegner des orthodoxen Denken
wirklich überzeugende Argumente vorbringen können, die
ein für allemal die Unzuverlässigkeit der dem Propheten
zugeschrieben Überlieferungen beweisen. Aber dies ist nicht
der Fall. Trotz aller Bemühungen, die Echtheit der Hadíthe
anzufechten, waren die modernen Kritiker - die östlichen
und westlichen - nicht in der Lage, ihre rein launischen
Kritiken wissenschaftlich zu untermauern. Es wäre sowieso
schwer, das zu schaffen. Die Verfasser der frühen
Hadíthsammlungen, besonders die Imame al-Bukhari und
Muslim haben das Menschenmögliche getan, um die
Echtheit jeder Überlieferung zu überprüfen – sie legten dabei
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 Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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einen wesentlich strengeren Maßstab als europäische
Historiker üblicherweise auf jedes historische Schriftstück
an.
Es würde den Rahmen dieses Buches sprengen, hier im
Detail die gewissenhafte Methode zu skizzieren, die die
frühen Muhaddithun – die gelehrten Männer, die sich dem
Studium der Hadíthe widmeten – zur Überprüfung
gebrauchten. Für unseren Zweck reicht es zu sagen, dass
eine ganze Wissenschaft entwickelt wurde. Deren einziges
Ziel: Bedeutung, Form und Überlieferungsweg der
Hadíthsammlungen des Propheten zu überprüfen. Ein
historischer Zweig dieser Wissenschaft schuf ausführliche,
lückenlose Biografien aller Persönlichkeiten, die jemals als
Erzähler der Überlieferungen genannt wurden. Die Leben
jener Männer und Frauen wurden gründlich aus jeder
Perspektive erforscht; nur diese Hadíthe galten als
zuverlässig, deren Überlieferung völlig den Anforderungen
der großen Muhaddithun entsprachen und von denen man
glaubte, sie könnten wirklich begriffen werden. Wenn daher
irgendjemand den Wunsch hat, die Echtheit eines einzelnen
Hadíths oder das System als Ganzes zu bestreiten, muss er
alleine den Beweis der Ungenauigkeit führen. Es ist
wissenschaftlich nicht gerechtfertigt, die Wahrhaftigkeit
einer historischen Quelle zu bestreiten, ohne dass man bereit
ist, zu beweisen, dass diese Quelle mangelhaft ist. Wenn
kein begründetes – zumindest wissenschaftliches –
Argument gegen die Wahrhaftigkeit der Quelle selbst oder
gegen einen oder mehrere seiner Übermittler gefunden
werden kann und wenn des Weiteren kein anderer
widersprechender Bericht über die gleiche Angelegenheit
existiert, dann müssen wir akzeptieren, dass die
Überlieferung wahr ist.
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Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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Angenommen, jemand spricht beispielsweise über die
indische Kriege von Mahmud von Ghaznah und ein anderer
steht unversehens auf und sagt: ”Ich glaube nicht, dass
Mahmud jemals nach Indien gekommen ist. Es ist eine
Legende ohne historische Grundlage.” Was würde in einem
solchen Fall geschehen? Alsbald würde irgendeine
geschichtskundige Person versuchen, den Fehler zu
berichtigen; er würde Aufzeichnungen und Historien
anführen, die auf Berichten von Zeitgenossen dieses
berühmten Sultans basieren, und damit endgültig beweisen,
dass Mahmud in Indien war. In diesem Fall müsste man den
Beweis akzeptieren – oder man würde als Spinner betrachtet
werden, der ohne ersichtlichen Grund solide historische
Fakten leugnet. Wenn dies so ist, muss man sich selbst
fragen: Warum wenden unsere modernen Kritiker nicht die
gleiche Logik auf die Frage der Hadíthe an?
Hält man die Primärquelle eines Hadíths für falsch, bedeutet
das: Die Gefährten oder die späteren Überlieferer haben
absichtlich gelogen. Bei den Gefährten kann eine solche
Möglichkeit a priori ausgeschlossen werden. Es erfordert
nicht viel psychologische Einsicht, um solche Annahmen auf
pure Einbildung zurückzuführen. Der enorme Eindruck, den
die Persönlichkeit des Propheten auf diese Männer und
Frauen hinterließ, ist eine herausragende Tatsache der
menschlichen Geschichte; sie ist durch die Geschichte
außerordentlich gut dokumentiert. Ist es vorstellbar, dass
Menschen, die bereit sind, sich selbst und all ihren Besitz
wegen der Gebote des göttlichen Propheten zu opfern, mit
seinen Worten scherzen würden? Der Prophet sagte:
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Wer immer absichtlich über mich lügt, wird seinen Platz im
Feuer einnehmen (Sahih al-Bukhari, Sunan Abu Dawud,
Jami’ al-Tirmidhi, Sunan Ibn Majah, Sunan al-Darimi,
Musnad Ibn Hanbal).
Dies wussten die Gefährten; sie glaubten bedingungslos an
die Worte des Propheten, den sie als Sprecher von Gott
betrachteten; und ist es psychologisch möglich, dass sie
dieses sehr eindeutigen Gebot missachteten?
In Strafgerichtsprozessen ist die erste Frage des Richters, cui
bono – zu wessen Nutzen – die Straftat hätte begangen
werden können. Dieses juristische Prinzip kann ebenso für
die Problematik der Hadíthe verwendet werden. Die
Überlieferungen, die sich direkt mit bestimmten Individuen
oder Gruppen beschäftigten - beispielsweise die entschieden
unaufrichtigen - , wurden von den meisten Muhaddithun
sofort verworfen. Auch waren diese im ersten Jahrhundert
nach dem Tod des Propheten mit den politischen
Ansprüchen der verschiedenen Parteien verbunden, sodass
es einen ”profitablen” Grund für ein Individuum geben
konnte, die Aussprüche des Propheten zu fälschen. Die
Möglichkeit, die Hadithe für persönliche Zwecke zu
erfinden, wurde genau eingeschätzt - die zwei führenden
Autoritäten unter den Überlieferern, die Imame Bukhari und
Muslim, schlossen rigoros alle parteipolitische
Überlieferungen von ihrer Sammlung aus. Was übrig blieb,
war jenseits des Verdachts, jemanden zu übervorteilen.
Es gibt ein weiteres Argument, welches die Echtheit eines
Hadíths in Frage stellen könnte. Es ist vorstellbar, dass der
Gefährte die Worte, die er von den Lippen des Propheten
oder von einem späteren Erzähler hörte, vielleicht subjektiv
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Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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wahrheitsgemäß aufzeichnete, aber objektiv wegen einer
Gedächtnislücke oder anderer psychologischer Gründe
missverstand. Aber zumindest für die Gefährten erscheinen
solche Fehler sehr unwahrscheinlich.. Für die Menschen, die
mit dem Propheten lebten, war jeder seiner Aussprüche von
größter Bedeutung - nicht nur wegen seiner faszinierenden
Persönlichkeit, sondern auch wegen ihres festen Glaubens,
dass seine Worte Gottes Wille waren; Führung und Beispiel
des Propheten sollten in allen Details ihr Leben regeln.
Daher konnten sie seine Aussprüche gar nicht beiläufig
aufnehmen; sie mussten selbst auf Kosten von großen
persönlichen Unannehmlichkeiten versuchen, diese in ihrem
Gedächtnis zu bewahren. Es wurde berichtet, dass die
Gefährten, die dem Propheten unmittelbar nahe standen, sich
jeweils in Gruppen von zwei Männern aufteilten; einer
musste immer in der Nähe des Propheten sein, während der
andere seinen Lebensunterhalt verdienen oder anderen
Tätigkeiten nachgehen konnte. Was immer sie von ihrem
Lehrer hörten oder sahen, teilten sie einander mit: sie taten
also alles, um keinen Ausspruch oder keine Taten des
Propheten zu verpassen. Es ist so nicht sehr wahrscheinlich,
dass sie bei dem exakten Wortlaut eines Hadíths nachlässig
werden konnten. Und wenn es unter zahllosen Gefahren
möglich war, den Wortlaut des gesamten Qur’án bis zum
kleinsten Detail der Schreibweise in ihrem Gedächtnis zu
bewahren, dann war es zweifellos auch möglich, einzelne
Aussprüche des Propheten zu bewahren, ohne ihnen etwas
hinzuzufügen oder etwas von ihnen auszulassen.
Zudem schreiben die Überlieferer den Hadíthen absolute
Authentizität zu – sie wurden von verschiedenen,
unabhängigen Erzählketten bestätigt. Doch das ist noch nicht
alles. Um sahih (gesund) zu sein, muss ein Hadíth in jeder
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Stufe der Überlieferung von mindestens zwei Überlieferern
bestätigt worden sein. Dieser Bericht durfte in keiner Stufe
von nur einer Person autorisiert werden. Diese
Beweisführung ist so anspruchsvoll, dass an einem Hadíth,
übermittelt von – sagen wir mal - drei ”Überliefer-
Generationen” seit den zeitgenössischen Gefährten,
tatsächlich etwa zwanzig oder mehr Überlieferer beteiligt
waren.
Darüber hinaus hat kein Muslim jemals geglaubt, dass die
Überlieferungen des Propheten den gleichen Status, gar die
unbestreitbare Authentizität des Qur’án haben könnte. In
keiner Zeit wurde die kritische Untersuchung der Hadíthe
eingestellt. Die Tatsache, dass es zahllose falsche Hadíthe
gibt, missachteten die Muhaddithun nicht im Geringsten, wie
europäische Kritiker naiv anzunehmen scheinen. Im
Gegenteil: Gerade um authentische und falsche Hadithe
unterscheiden zu können, wurde eine kritische Wissenschaft
initiiert; eben jene Imame Bukhari und Muslim - ganz zu
schweigen von den weniger bedeutenden Überlieferern -
sind direkt Produkte dieses kritischen Verhaltens. Daher
widerlegt die Existenz von falschen Hadíthen keineswegs
das Hadith-System als Ganzes – so wenig wie eine
fantasievolle Geschichte aus Tausendundeiner Nacht als
Argument die Authentizität eines historischen Berichts der
entsprechenden Zeit in Frage stellen könnte.
Bis jetzt konnte keine Kritik systematisch beweisen, dass der
Körper der Hadíthe, obgleich authentisch nach der
Prüfungsnorm der führendsten Überlieferer, dennoch
ungenau ist. Authentische Überlieferungen entweder als
Summe oder in Teilen zu verwerfen, ist bislang rein eine
Sache der Laune. Sie kann nicht als Ergebnis einer
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Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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unvoreingenommenen wissenschaftlichen Untersuchung
ernst genommen werden. Aber das Motiv für solches
oppositionelles Verhalten von vielen Muslimen in unserer
Zeit lässt sich leicht aufspüren. Es liegt in der
Unmöglichkeit, unsere gegenwärtig entarteten Lebens- und
Denkweisen in Übereinstimmung mit dem wahren Geist des
Islam zu bringen, wie er in der Sunna unseres Propheten
reflektiert wird. Um die eigene Schwäche und die
Schwächen des Umfelds zu rechtfertigen, versuchen solche
Pseudokritiken, die Gebote der Sunna beiseite zu wischen.
Würde dies geschehen, könnten die Lehren des Qur’án nach
Belieben – das heißt: jeder, wie er gerade will - im Einklang
mit dem oberflächlichen ”Rationalismus” interpretiert
werden. Und so würde die Sonderstellung des Islam als eines
moralischen und praktischen, eines individuellen und
sozialen Codes zerstört werden.
In diesen Tagen, in denen der Einfluss der westlichen
Zivilisation in den muslimischen Ländern mehr und mehr
spürbar wird, ist noch ein weiteres Motiv für das sonderbare
Verhalten der so genannten ”muslimischen Intelligenzija”
hinzugekommen. Es ist unmöglich, nach der Sunna des
Propheten zu leben und gleichzeitig der westlichen
Lebensweise zu folgen. Aber die gegenwärtige Generation
der Muslime ist bereit, alles Westliche zu vergöttern; die
fremde Zivilisation anzubeten, weil sie fremd, machtvoll und
materiell so reich ist. Diese ”Verwestlichung” ist der
entscheidende Grund, warum die Überlieferungen unseres
Propheten und damit die gesamte Struktur der Sunna heute
so unbeliebt geworden sind. Die Sunna ist den
fundamentalen Ideen der westlichen Zivilisation so
offensichtlich entgegengesetzt, dass jene, die von letzteren
fasziniert sind, nur einen Ausweg aus dem Chaos sehen: Die
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 Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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Sunna muss als irrelevanter, nicht zwingender Aspekt des
Islam dargestellt werden – auf ”unzuverlässige
Überlieferungen basierend”. Danach wird es leichter, die
Lehren des Qur’án so zu verbiegen, als würden sie auf den
Geist der westlichen Zivilisation passen.
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Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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Kapitel 7
Der Geist der Sunna
NAHEZU gleich bedeutend wie die formelle, sozusagen
rechtmäßige Rechtfertigung der Sunna durch den Nachweis
der historischen Zuverlässigkeit der Hadíthe, ist die Frage
nach ihrer inneren geistigen Rechtfertigung. Warum sollte
eine Befolgung der Sunna unverzichtbar für ein Leben im
wahren Sinne des Islam sein? Gibt es keinen anderen Weg
zur Wirklichkeit des Islam außer durch dieses umfangreiche
System von Handlungen und Sitten, von Befehlen und
Verboten, einige von ihnen offensichtlich von trivialer
Natur, aber alle vom Lebensbeispiel des Propheten
abgeleitet? Zweifellos war er der großartigste Mensch; aber
verletzt nicht die Notwendigkeit, sein Leben in all seinen
Details zu imitieren, die individuelle Freiheit der
menschlichen Persönlichkeit? Ein alter Einwand, der
üblicherweise dem Islam unfreundliche Kritiken einbringt:
Die strikte Befolgung der Sunna sei einer der Hauptgründe
des späteren Verfalls der islamischen Welt, weil ein solches
Verhalten langfristig die Freiheit der menschlichen
Handlung und die natürliche Entwicklung der Gesellschaft
beeinträchtigt. Für die Zukunft des Islams ist es
entscheidend, ob wir fähig sind, gegen diesen Einwand
vorzugehen oder nicht. Unser Verhalten zur Sunna wird
unser zukünftiges Verhalten zum Islam entscheiden.
Wir sind mit Recht stolz auf die Tatsache, dass die Religion
des Islam nicht auf mystischem Dogmatismus basiert,
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 Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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sondern immer offen für kritische Fragen der Vernunft ist.
Daher haben wir nicht nur das Recht zu wissen, dass uns die
Beachtung der Sunna auferlegt wurde, sondern auch das
Recht, den eigentlichen Grund dieser Pflicht zu verstehen.
Der Islam vereint für den Menschen alle Seiten des Lebens.
Die Religion ist das Mittel zu diesem Ziel und verkörpert
eine ganzheitliche Geistesschöpfung, der nichts hinzugefügt
und von der nichts entfernt werden kann. Für irgendeinen
Eklektizismus ist im Islam kein Platz. Wo immer seine
Lehren als wirklich - durch den Qur’án oder den Propheten
verkündet - erkannt werden, müssen wir sie in ihrer
Gesamtheit akzeptieren; ansonsten verlieren sie ihren Wert.
Es ist ein fundamentales Missverständnis zu denken, weil
der Islam eine Religion des Verstandes ist, seine Lehren
würden jedem Individuum zur freien Auswahl zur
Verfügung stehen - eine Behauptung, die einer weit
verbreiteten falschen Auffassung des ”Rationalismus” zu
verdanken ist. Es gibt eine große –durch die Philosophie
aller Zeitalter anerkannte – Kluft zwischen dem Verstand
und dem ”Rationalismus”, wie er heute üblicherweise
verstanden wird. Die Aufgabe des Verstandes bei religiösen
Lehren ist von kontrollierendem Charakter; seine Pflicht ist
es, darauf zu achten, dass dem menschlichen Gemüt keine
psychologischen Gaukeleien vorgemacht werden bzw. dem
Menschen nichts auferlegt wird, was er nicht leicht tragen
kann. Dem Islam gegenüber hat der unvoreingenommene
Verstand immer vorbehaltlos vertraut. Das heißt nicht, dass
jeder, der mit dem Islam in Berührung kommt,
notwendigerweise seine Lehren für sich als verbindlich
akzeptiert; dies ist eine Sache des Naturells und – nicht
zuletzt – der geistigen Erleuchtung. Aber ganz bestimmt
würde keine unbefangene Person behaupten, dass es im
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Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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Islam etwas gibt, das dem Verstand widerspricht. Zweifellos
gibt es im Islam Dinge, die jenseits der Grenzen des
menschlichen Verstandes liegen, aber nichts davon
widerstrebt dem Verstand.
Die Aufgabe des Verstandes in der Religion liegt der Natur
nach, wie wir gesehen haben, in der Kontrolle. Er fungiert
quasi als ein registrierender Apparat, der je nach dem
jeweiligen Fall ”ja” oder ”nein” sagt. Aber dies trifft nicht
auf den so genannten ”Rationalismus” zu. Er begnügt sich
nicht mit Registrierung und Kontrolle, sondern übernimmt
selbst das Feld der Spekulation; er ist nicht aufnahmefähig
und losgelöst wie der reine Verstand, sondern extrem
subjektiv und launenhaft. Der Verstand kennt seine eigenen
Grenzen; aber der ”Rationalismus” hat den Anspruch, die
Welt und all ihre Rätsel mit seinem individuellen
Blickwinkel vollständig zu erfassen; und das ist grotesk. In
religiösen Angelegenheiten gesteht er kaum die Möglichkeit
von Dingen ein, die außerhalb des menschlichen
Verständnisses liegen; aber er ist gleichzeitig unlogisch
genug, diese Möglichkeit der Wissenschaft – und damit sich
selbst - einzuräumen.
Die Überschätzung dieses geistlosen Rationalismus ist einer
der Gründe, warum so viele moderne Muslime sich dem
Weg des Propheten nicht fügen wollen. Aber es bedarf heute
keines Kant, um zu beweisen, dass menschliches Verstehen
in seinen Fähigkeiten streng begrenzt ist. Unser Verstand
kann aufgrund seiner Natur den Gedanken der Totalität nicht
begreifen; wir können von allen Dingen nur Einzelheiten
erfassen. Wir können nicht wissen, was Unendlichkeit und
Ewigkeit ist; wir wissen nicht einmal, was Leben ist. In den
Problemfeldern einer Religion, die auf übernatürlichen
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 Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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Fundamenten basiert, benötigen wir daher einen Führer,
dessen Verstand über die normalen schlussfolgernden
Qualitäten und den gemeinen subjektiven Rationalismus
hinausgeht. Wir benötigen jemanden, der inspiriert ist, mit
anderen Worten: einen Propheten. Wenn wir glauben, dass
der Qur’án das Wort Gottes ist und dass Muhammad (Friede
und Segen seien auf ihm) Gottes Gesandter ist, sind wir
nicht nur moralisch, sondern auch verstandesmäßig daran
gebunden, seiner Führung blind zu folgen. Der Ausdruck
”blind” bedeutet nicht, dass wir unseren Scharfsinn
ausschließen sollen. Im Gegenteil: Wir müssen diese Kräfte
nach bestem Wissen benutzen; wir müssen versuchen, die
eigentliche Bedeutung und Absicht der Gebote des
Propheten zu entdecken. Aber egal, ob wir die ultimative
Absicht verstehen können oder nicht: Wir müssen das Gebot
befolgen. Ich möchte dies gern mit dem Beispiel eines
Soldaten veranschaulichen, dem sein General befahl, eine
bestimmte strategische Position zu besetzen. Der gute Soldat
wird dem Befehl Folge leisten und ihn unverzüglich
ausführen. Wenn er den strategischen Zweck, den der
General im Sinn hatte, bei seinem Tun verstehen kann, dann
ist dies besser für ihn und seine Karriere: Wenn sich ihm
aber der tiefere Zweck des Befehls nicht erschließt, darf er
dennoch nicht aufgeben oder auch nur die Durchführung
hinausschieben. Wir Muslime vertrauen darauf, dass unser
Prophet der beste Befehlshaber ist, den die Menschheit
haben kann. Wir glauben selbstverständlich, dass er beide
Bereiche der Religion - den geistigen und sozialen - weitaus
besser kannte, als wir es jemals können. Indem er uns
befiehlt, dies zu tun und jenes zu meiden, hatte er immer ein
”strategisches” Ziel im Sinn; ein Ziel, das für das geistige
und soziale Wohlergehen des Menschen unverzichtbar ist.
Manchmal ist das Ziel offensichtlich; manchmal ist es mehr
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Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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oder weniger vor den ungeschulten Augen des
Durchschnittsmenschen verborgen, manchmal können wir
den tieferen Zweck des Gebots verstehen, manchmal nur den
oberflächlichen, unmittelbaren Zweck. Was auch immer der
Fall sein mag - wir müssen den Befehlen des Propheten
folgen, vorausgesetzt, ihre Authentizität ist in vernünftiger
Weise bewiesen. Um nichts anderes geht es. Natürlich gibt
es Gebote des Propheten, die offensichtlich wesentlich
bedeutender sind als andere; und wir müssen dem
Wichtigeren Vorrang vor dem weniger Wichtigen geben.
Aber niemals haben wir das Recht irgendwelche Gebote zu
missachten, weil sie uns als „unwesentlich“ erscheinen – im
Qur’án wird über den Propheten gesagt:
”Nicht spricht er aus Begierde” (53:3)
Das heißt, er spricht nur, wenn sich eine objektive
Notwendigkeit ergibt; und er tut es, weil Gott ihm befiehlt,
es so zu tun. Und deshalb sind wir verpflichtet, die Sunna
des Propheten in Geist und Form zu befolgen, wenn wir
wahrhaft den Geist des Islam wünschen.
Ist erst einmal die Sunna seines Propheten als sachliche
Notwendigkeit für einen Muslim anerkannt, hat er das Recht
und sogar die Pflicht, ihre Funktion innerhalb der religiösen
und sozialen Struktur des Islam zu erfragen. Was ist die
spirituelle Bedeutung dieses großartigen, detaillierten
Systems von Gesetzen und Verhaltensregeln, das das Leben
eines Muslim von seiner Geburt bis zu seinem Tod ordnen
und sein Benehmen in den bedeutendsten und
geringfügigsten Phasen seiner Existenz lenken soll? Oder hat
es vielleicht überhaupt keine Bedeutung? Hat das Gebot des
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Propheten an seine Anhänger, alles so zu tun, wie er es tat,
irgendetwas Gutes? Was für einen Unterschied kann es
machen, mit der rechten oder mit der linken Hand zu essen –
wenn beide Hände gleichermaßen sauber sind? Was für
einen Unterschied, ob ich meinen Bartwuchs behalte oder
ihn rasiere? Sind solche Dinge nicht völlig formell? Spielen
sie irgendeine Rolle für den Fortschritt des Menschen oder
das Wohlergehen der Gesellschaft? Und wenn nicht: Warum
wurden sie uns dann auferlegt?
Es ist für uns, die glauben, dass der Islam mit der Beachtung
der Sunna steht und fällt, höchste Zeit, diese Fragen zu
beantworten.
Nach meinem Wissen gibt es drei klare Gründe für die
Institution der Sunna.
Der erste Grund ist die methodische Schulung. Der Mensch
lernt, in einem permanenten Zustand des Bewusstseins, der
Wachsamkeit und der Selbstkontrolle zu leben. Für die
geistige Entwicklung des Menschen sind planlose
Handlungen und Gewohnheiten wie Hindernisse für Pferde
während des Galopps; diese müssen auf ein Minimum
reduziert werden, weil sie die geistige Konzentration
zerstören. Alles, was wir tun, muss unser Willen entscheiden
und unserer moralischen Kontrolle unterworfen sein. Um
jedoch dies tun zu können, müssen wir lernen, uns selbst zu
überwachen. Dass ständige Selbstkontrolle für einen Muslim
notwendig ist, drückte Umar al Khattab sehr schön aus:
”Legt vor euch selbst Rechenschaft ab, bevor ihr
aufgefordert werdet Rechenschaft abzulegen.”
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Und der Prophet sagte:
Betet euren Herrn an, als ob ihr Ihn sehen würdet (Sahih al
Bukhari, Sahih Muslim, Sunan Abu Dawud, Sunan al-
Nasa’i).
Es wurde voran dargelegt, dass die islamische Idee der
Anbetung nicht nur die strengen andächtigen Pflichten
umfasst, sondern unser gesamtes Leben. Ziel ist die
Verschmelzung unseres geistigen und materiellen Selbst zu
einer einzigen Einheit. Wir müssen alles Menschenmögliche
in Bewegung setzen, um die unbewussten, unkontrollierten
Faktoren aus unserem Leben zu entfernen.
Selbstbeobachtung ist der erste Schritt auf diesem Weg; die
beste Trainingmethode ist es, die gewohnten, scheinbar
unbedeutenden Handlungen unseres täglichen Lebens unter
Kontrolle zu bringen. Die ”kleinen” Dinge, ”unbedeutenden”
Handlungen und Gewohnheiten sind im Kontext der
mentalen Schulung tatsächlich viel bedeutender als die
”großen” Handlungen in unserem Leben. Die großen Dinge
sind allein durch ihre Größe stets offen sichtbar; und daher
bleiben sie einem bewusst. Aber jene anderen, jene
”kleinen” Dinge entschwinden leicht unserer Beachtung und
überlisten unsere Beherrschung. Daher sind sie die
wertvolleren Objekte, um unsere Kräfte der Selbstkontrolle
zu schärfen.
Es mag an sich nicht bedeutend sein, mit welcher Hand wir
essen; ob wir unseren Bart rasieren oder nicht: aber es ist
psychologisch von höchster Bedeutung, Dinge nach einer
systematischen Entschlossenheit zu tun. Durch solches
Handeln erreichen wir selbst eine hohe Stufe der
Selbstbeobachtung und moralischen Kontrolle. Dies ist keine
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einfache Angelegenheit – denn Faulheit des Geistes ist nicht
weniger real als Faulheit des Körpers. Wenn man von einem
Menschen, der an eine sesshafte Lebensart gewohnt ist,
fordert, eine weite Strecke zu laufen, wird er bald müde
werden und unfähig sein, den Weg fortzusetzen. Bei einem
Menschen, der sein gesamtes Leben damit verbracht hat,
sich im Laufen zu trainieren, wird dies nicht der Fall sein.
Für ihn ist diese muskuläre Anstrengung überhaupt keine
Anstrengung; es ist eine angenehme körperliche Betätigung,
an die er gewohnt ist. Dies ist eine weitere Erklärung, warum
die Sunna nahezu jeden Aspekt des menschlichen Lebens
umfasst. Wenn wir ständig aufgefordert werden, all unsere
Handlungen und Unterlassungen bewusst zu unterscheiden,
wächst unsere Kraft der Selbstbeobachtung und wird zur
rechten Zeit unsere zweite Natur. Solange wie diese
Schulung fortführen, vermindert sich von Tag zu Tag auch
unsere moralische Faulheit.
Die Verwendung des Begriffs ”Schulung” impliziert
natürlich, dass der Erfolg von der Gewissenhaftigkeit der
Ausführung abhängt. In dem Moment, in dem die Sunna zur
mechanischen Routine verkommt, verliert sie ihren
schulischen Wert. Dies war bei den Muslimen der letzten
Jahrhunderte der Fall. Als die Gefährten des Propheten und
die folgenden Generationen den Versuch machten, ihr
ganzes Dasein dem Beispiel ihres Führers anzupassen, taten
sie es in bewusster Ergebung zu einem lenkenden Willen,
der ihr Leben nach dem Geist des Qur’án gestalten würde.
Folge dieser bewussten Entschlossenheit: Sie konnten von
der Schulung durch die Sunna in vollem Umfang Nutzen
ziehen. Es ist nicht der Fehler des Systems, wenn die
späteren Muslime die psychologischen Möglichkeiten nicht
richtig nutzten. Dieses Versäumnis war möglicherweise in
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Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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einem sehr großen Ausmaß der Grund für den Einfluss des
Sufismus. Er missachtete mehr oder weniger die aktiven
Kräfte des Menschen, betonte dagegen vor allem die rein
rezeptiven Energien. Da seit Anbeginn des Islam die Sunna
als Baustein des islamisch religiösen Lebens anerkannt ist,
konnte der Sufismus sie im Grunde nicht entwurzeln. Aber
es gelang ihm, ihre aktive Vitalität und so zu einem
gewissen Ausmaß auch ihren Nutzen zu neutralisieren. Die
Sunna bleibt für die Sufis ein nur platonisch bedeutendes
Ideogramm mit mystischem Hintergrund; für die Theologen
und Legisten ein Gesetzessystem; und für die muslimischen
Massen nichts als ein ausgehöhltes Gerippe ohne irgendeine
lebendige Bedeutung. Aber ungeachtet des Versagens der
Muslime, Nutzen aus den Lehren des heiligen Qur’án und
der Interpretation durch die Sunna des Propheten zu ziehen,
ist dieses Konzept intakt geblieben; es gibt keinen Grund,
warum es nicht noch einmal in die Tat umgesetzt werden
kann. Die wahre Zielsetzung der Sunna ist nicht, wie unsere
feindlichen Kritiker unterstellen, die Erziehung von
Heuchlern und trockenen Formalisten, sondern die von
bewussten, entschlossenen, tiefherzigen Menschen des
Handelns. Männer und Frauen von einem solchem Kaliber
waren die Gefährten des Propheten. Das ständige
Bewusstsein, die innere Wachsamkeit und der
Verantwortungssinn in allem, was sie taten: Das ist das
Geheimnis ihrer übernatürlichen Fähigkeit und ihres
verblüffenden historischen Erfolgs.
Dies ist der erste und sozusagen individuelle Aspekt der
Sunna. Ihr zweiter Aspekt ist ihre soziale Bedeutung und
Nützlichkeit. Es kann kaum einen Zweifel geben, dass
Missverständnisse von Handlungen und Intentionen die
meisten sozialen Konflikte unter den Menschen verursachen.
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 Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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Der Grund für solche Missverständnisse: die extreme
Vielfalt von Temperamenten und Neigungen bei den
individuellen Mitgliedern der Gesellschaft. Und
verschiedene Temperamente erzeugen unterschiedliche
Gewohnheiten; die verschiedenen Gewohnheiten der
Menschen verhärten sich im Lauf der Jahre und werden zu
Barrieren zwischen den Individuen. Wenn dagegen
verschiedene Individuen das ganze Leben lang zufällig
identische Gewohnheiten haben, sind aller
Wahrscheinlichkeit nach ihre Beziehungen zueinander
wohlwollend und sie sind bereit, sich zu verstehen.. Deshalb
ist eine Essenz des Islam, der sich mit dem sozialen und dem
individuellen Wohlergehen befasst: Die einzelnen Mitglieder
der Gesellschaft sollen systematisch dazu bewegt werden,
ihre Gewohnheiten und Sitten einander anzugleichen – egal,
wie verschieden ihr sozialer oder wirtschaftlicher Status
jeweils auch sein mag.
Aber darüber hinaus leistet die Sunna durch ihre so
genannten ”Rigidität” der Gesellschaft sogar einen größeren
Dienst. Sie verschafft ihr einen beständigen Zusammenhang
und beugt so der Entwicklung von Konflikten vor, die unter
dem Begriff ”soziale Fragen” in der westlichen Gesellschaft
für beträchtliche Verwirrung gesorgt haben. Jene soziale
Fragen ergeben sich, wenn gewisse Institutionen oder Sitten
als unvollkommen oder fehlerhaft empfunden werden und
daher für Kritik und fortschreitende Veränderungen
empfänglich sind. Aber für Muslime – dass sind jene, die
sich selbst an das Gesetz des Qur’án und konsequenterweise
an die Gebote des Propheten gebunden fühlen – sind die
Bedingungen einer Gesellschaft festgesetzt, weil sie einen
übernatürlichen Ursprung haben. Solange es keinen Zweifel
an diesem Ursprung gibt, wird kein Bedürfnis entstehen, die
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Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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soziale Organisation in seinen Fundamenten zu hinterfragen.
Nur auf diese Weise können wir der Forderung des Qur’án
nachkommen, nach der die Muslime einem ”festen
Bauwerk” gleichen müssen. Wenn wir dieses Prinzip auf
unser gemeinsames Leben anwenden, darf die Gesellschaft
ihre Energien nicht für Randprobleme und partielle
”Reformen” verschwenden, die wegen ihres äußeren Wesens
nur vorübergehenden Wert haben können. Wenn sie sich von
dialektischer Verwirrung befreit, kann die islamische
Gesellschaft auf dem festen Sockel des göttlichen Gesetzes
und des Lebensbeispiels unseres Propheten all ihre Kräfte
für das echte materielle und geistige Wohlergehen einsetzen
und so den Weg für die geistigen Bemühungen das
Individuums ebnen. Dies und nichts anderes ist die wahre
religiöse Zielsetzung der islamischen
Gesellschaftsorganisation.
Und nun kommen wir zum dritten Aspekt, warum die Sunna
strikt befolgt werden muss.
In diesem System sind viele Einzelheiten unseres täglichen
Lebens auf dem Beispiel des Propheten gegründet. Was
immer wir tun - wir müssen permanent an eine
entsprechende Handlung oder einen Ausspruch des
Propheten denken. Folglich wird die Persönlichkeit des
besten Menschen tief in den gesamten Alltag unseres Lebens
eingebettet und sein geistiger Einfluss wird ein echter,
immer wiederkehrender Faktor in unserem Dasein. Bewusst
und unterbewusst hat das zur Folge, dass wir die
Verhaltensweise des Propheten in dieser oder jener
Angelegenheit studieren. Wir lernen, ihn nicht nur als einen
Überbringer einer moralischen Offenbarung zu betrachten,
sondern auch als einen Wegführer hin zu einem
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 Muhammad Asad – Islam am Scheideweg Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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vollkommenen Leben. Hier müssen wir uns entscheiden, ob Wirklichkeit erreichen können, in der es keinen Zwiespalt
wir den Propheten als einen weisen Menschen unter vielen und keinen Widerspruch zwischen Idee und Handlung gibt.
betrachten wollen oder als den obersten Gesandten Gottes, Es ist nicht ein Weg unter anderen, sondern der Weg; und
der immer unter göttlicher Eingebung handelte. Der der Mann, der uns schulte, ist nicht ein Führer unter anderen,
Gesichtspunkt des heiligen Qur’án in dieser Angelegenheit sondern der Führer. Wenn man Ihm und allem, was er tat
ist eindeutig und unmissverständlich. Ein Mann, der als und anordnete, folgt, folgt man dem Islam; wenn man die
”Barmherzigkeit für die Welten” und “letzter Prophet” Sunna verwirft, verwirft man die Realität des Islam.
bestimmt wurde, kann nur permanent inspiriert sein. Seine
Führung oder auch nur gewisse Elemente von ihr zu
verwerfen, würde nichts anderes bedeuten, als Gottes eigene
Führung zu verwerfen. Ferner würde das in der logischen
Weiterführung dieses Gedankens bedeuten: Die gesamte
Botschaft des Islam ist keine finale, sondern nur eine
alternative Lösung für die Probleme des Menschen - jedem
bleibt selbst überlassen, diese oder jene, vielleicht ebenso
wahre und nutzvolle Lösung zu erwählen. Dieses einfache –
weil moralisch und praktisch nicht verbindliche – Prinzip
mag uns irgendwohin führen - aber sicher nicht zum Geist
des Islam, über den im Qur’án erzählt wird.

...Heute habe Ich euch eure Religion vervollkommnet und

Meine Gnade an euch vollendet und euch den Islam zur
Religion erwählt (5:3)

Wir sehen den Qur’án allen anderen Religionen überlegen,

weil er das Leben in seiner Gesamtheit umfasst. Er
betrachtet gleichermaßen Diesseits und Jenseits, Seele und
Körper, Individuum und Gesellschaft. Er nimmt nicht nur
die erhabenen Möglichkeiten der menschlichen Natur in
Betracht, sondern auch ihre immanenten Beschränktheiten
und Schwächen. Er bürdet uns nicht das Unmögliche auf,
sondern weist uns an, wie wir aus unseren Fähigkeiten den
besten Nutzen ziehen und eine höhere Ebene der

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 Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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Kapitel 8
Schlussfolgerung
IN dem Vorangegangenen habe ich zu zeigen versucht, dass
der wahre Islam durch eine Assimilierung der westlichen
Zivilisation nicht profitieren kann. Allerdings hat die
muslimische Welt heute zu wenig Energie, um wirksam
Widerstand zu leisten. Die islamische Kultur ist überall
unter dem Druck westlicher Gedanken und Bräuche
abgeflacht. Nur noch Überreste sind vorhanden. Ein Zeichen
der Resignation ist vernehmbar; und Resignation im Leben
von Nationen und Kulturen bedeutet den Tod.
Wie ist es mit dem Islam? Ist er tatsächlich eine
”verbrauchte Kraft”, wie unsere Gegner und die Besiegten in
unseren eigenen Reihen uns glauben machen wollen? Hat er
seine Schuldigkeit getan und der Welt alles gegeben, was er
hatte?
Die Geschichte erzählt uns, dass alle menschlichen Kulturen
und Zivilisationen organische Wesenseinheiten und ähnlich
wie lebende Wesen sind. Sie gehen durch alle Phasen, die
organisches Leben durchlaufen muss: sie werden geboren,
sind jung, werden alt und am Ende steht der Verfall. Wie
Pflanzen, die verwelken und zu Staub zerfallen, sterben
Kulturen am Ende ihrer Zeit und lassen Platz für andere,
frisch geborene Kulturen.
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Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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Ist der Islam so ein Fall? Auf den ersten oberflächlichen
Blick scheint es so. Zweifellos hatte der Islam seinen
glänzenden Aufstieg und seine Blütezeit; er hatte die Kraft,
Menschen zu Taten und Aufopferungen zu inspirieren; er
wandelte Nationen und änderte das Gesicht der Erde; und
später stand er still, stagnierte und wurde zu einem leeren
Wort. In der Gegenwart erleben wir seinen Verfall. Aber war
dies alles?
Wenn wir glauben, dass der Islam nicht bloß eine Kultur
unter vielen ist, nicht bloß Folge von menschlichen
Gedanken und Anstrengungen, sondern ein Gesetz, das von
Gott, dem Allmächtigen, verfügt wurde, um von der
Menschheit immer und überall befolgt zu werden; wenn das
so ist, dann ändert sich völlig die Perspektive. Ist die
islamische Kultur die Folge davon, dass wir einem Gesetz
folgen, dann können wir niemals anerkennen, dass die
islamische Kultur – wie andere Kulturen – an eine
historische Frist gebunden ist. Was als Verfall des Islam
erscheint, ist in Wirklichkeit nicht mehr als der Tod und die
Leere unserer Herzen; sie sind einfach zu untätig und faul,
um die ewige Stimme zu hören. Es gibt keinerlei Anzeichen,
dass die Menschheit in ihrer gegenwärtigen Gestalt über den
Islam hinausgewachsen ist. Sie konnte kein besseres System
der Ethik hervorbringen als jenes des Islam; sie konnte nicht
den Gedanken der menschlichen Bruderschaft auf ein
praktisches Fundament stellen, wie es der Islam in seinem
supranationalen Konzept der ummah tat; die Menschheit
konnte keine soziale Struktur schaffen, in der
zwischenmenschliche Konflikte und Spannungen so effizient
minimalisiert sind wie im sozialen Konzept des Islam; sie
konnte nicht die Würde des Menschen aufwerten; sein
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 Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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Sicherheitsbedürfnis, seine geistige Hoffnungen und nicht
zuletzt seine Zufriedenheit erhöhen.
In all diesen Dingen fallen die gegenwärtigen Leistungen der
menschlichen Rasse wesentlich hinter den islamischen Plan
zurück. Was rechtfertigt dann die Aussage, dass der Islam
”veraltet” sei? Nur, weil seine Fundamente rein religiös sind
und religiöse Orientierung heute aus der Mode ist? Aber
wenn wir sehen, dass ein religiöses System vollständiger,
anschaulicher und lebensnaher ein Lebenskonzept
entwickeln kann als alles, was der Mensch mit Reformen
bisher auf den Weg brachte - ist dies dann nicht schon ein
sehr gewichtiges Argument für eine religiöse Perspektive?
Der Islam wird durch die überzeugenden Leistungen für den
Menschen voll bestätigt – er hatte die Leistungen schon ins
Auge gefasst und als erstrebenswert empfunden, lange bevor
sie erreicht wurden; aber ebenso bestätigten ihn die
Unzulänglichkeiten, Fehler und Fallen menschlicher
Entwicklung - er hatte laut und klar vor ihnen gewarnt, lange
bevor die Menschheit sie als Fehler erkannte. Abgesehen
vom religiösen Glauben jedes Einzelnen gibt es auch von
einem rein geistigen Gesichtspunkt keinen Grund, dem
praktischen Lebensweg des Islam nicht mit Zuversicht zu
folgen.
Wenn wir aus dieser Perspektive unsere Kultur und
Zivilisation betrachten, kommen wir notwendigerweise zu
der Schlussfolgerung, dass die Wiedergeburt möglich ist.
Wir müssen den Islam nicht ”reformieren”, wie einige
Muslime denken – weil er an sich schon vollkommen ist.
Was wir reformieren müssen, ist unser Verhalten zur
Religion, unsere Faulheit, unser Versprechen: also unsere
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Mängel und nicht angebliche Mängel des Islam. Um den
Islam wiederzubeleben, müssen wir nicht außen nach neuen
Verhaltensprinzipien suchen, sondern nur die alten und
vergessenen Prinzipien verwenden. Wir können gewiss neue
Impulse von fremden Kulturen erhalten - aber wir können
nicht die perfekte Fabrik des Islam durch irgendetwas
Nichtislamisches austauschen, ob vom Westen oder vom
Osten. Der Islam als geistige und soziale Institution kann
nicht ”verbessert” werden. Unter diesen Umständen ist jede
Vermischung mit fremden kulturellen Einflüssen in
Wirklichkeit ein Rückschritt, destruktiv und daher unbedingt
abzulehnen. Es muss einen Umbruch geben: aber dieser
Umbruch muss in unserem Inneren stattfinden – und er muss
zum Islam gehen und sich nicht von ihm entfernen.
Aber bei alledem dürfen wir uns nicht täuschen. Wir wissen,
dass es unsere Welt, die Welt des Islam, als unabhängiger
kultureller Faktor in der Wirklichkeit nicht mehr gibt. Ich
spreche hier nicht von dem politischen Aspekt des Verfalls.
Das wichtigste Merkmal unseres heutigen Zustandes zeigt
sich in den geistigen und sozialen Sphären: in dem
Verschwinden unseres Glaubens und dem Zerbrechen
unseres sozialen Organismus. Von unserer ursprünglichen
Stabilität, welche ja ein besonderes Merkmal der früheren
islamischen Gesellschaft war, scheint nur sehr wenig übrig
geblieben zu sein. Stattdessen befinden wir uns in einem
Zustand des kulturellen und sozialen Chaos. Er macht
deutlich, dass die ausgewogenen Kräfte, die einst für die
Großartigkeit der islamischen Welt verantwortlich waren,
heute nahezu verbraucht sind. Wir driften kulturell ab und
keiner weiß wohin. Keine Spur von geistiger Tapferkeit
mehr, kein Wille mehr, sich zu widersetzen und die Flut von
fremden Einflüssen zu verhindern, die unsere Religion und
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 Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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Gesellschaft vernichten. Wir haben die besten Lehren der
Welt achtlos beiseite geworfen. Wir strafen unseren Glauben
Lügen, während er unseren Vorvätern ein lebendiger Antrieb
war; wir schämen uns, während sie stolz waren; wir sind
armselig und egozentrisch, während sie sich freimütig der
Welt öffneten; wir sind leer, während sie erfüllt waren.
Dieses Wehklagen ist jedem denkenden Muslim gut
bekannt. Jeder hat es oft genug gehört. Man könnte fragen,
ob es nützlich, es noch einmal zu wiederholen? Ich denke ja:
Es gibt für uns keinen anderen Ausweg aus der Schande
unseres Niedergangs als den, sich zu der Schande zu
bekennen, sie Tag und Nacht vor Augen zu haben und ihre
Bitterkeit zu schmecken: solange, bis wir ihre Ursachen
beseitigen wollen. Es bringt nichts, die düstere Wahrheit vor
uns zu verbergen und zu heucheln, dass die islamische Welt
wächst, dass Missionare auf vier Kontinenten arbeiten, dass
die westlichen Menschen immer mehr die Schönheit des
Islam wahrnehmen. Es bringt nichts, all dies vorzugeben und
spitzfindige Argumente zu verwenden, um uns davon zu
überzeugen, dass die Menschheit nicht bodenlos ist. Denn
sie ist bodenlos.
Aber muss dies das Ende sein?
Das kann es nicht. Unser Verlangen nach Erneuerung, der
Wunsch vieler von uns, besser zu sein, als wir es
gegenwärtig sind: All das lässt uns hoffen, dass es mit uns
noch nicht zu Ende ist. Es gibt einen Weg der Erneuerung
und dieser Weg ist für jeden klar sichtbar, der Augen zum
Sehen hat.
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Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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Unser erster Schritt muss sein: den Geist der
”Entschuldigung” abzustreifen, der nur ein anderer Name für
geistigen Defätismus und nur eine Maskerade für unseren
eigenen Zweifel ist. Und der nächste Schritt muss sein,
bewusst und überlegt der Sunna unseres Propheten zu
folgen. Denn Sunna heißt nicht mehr und nicht weniger: die
praktischen Lehren des Islam. Wendet man sie als ultimative
Richtschnur für unser tägliches Leben konsequent an,
werden wir leicht erkennen, welchen Impuls aus der
westlichen Zivilisation wir akzeptieren können und welchen
wir verwerfen müssen. Anstatt kleinlaut den Islam fremden
geistigen Maßstäben zu unterwerfen, müssen wir – noch
einmal – lernen, den Islam als den Maßstab zu betrachten,
nach dem die Welt gerichtet werden soll.
Es ist jedoch wahr, dass viele der ursprünglichen Absichten
des Islam durch unangemessene, aber dennoch häufig
akzeptierte Interpretationen in eine falsche Perspektive
gebracht worden sind. So werden jene Muslime, die nicht
selbst zu den ursprünglichen Quellen zurückgehen und ihre
Konzeptionen abgleichen können, mit einem teilweise
falschen Bild des Islam konfrontiert. Die unbrauchbaren
Vorschläge, die heute von einer selbsternannten
”Orthodoxie” als Forderungen des Islams genannt werden,
sind meist nichts anderes als Interpretationen der
Originallehren auf der Grundlage der alten neoplatonischen
Logik. Sie mögen im zweiten oder dritten Jahrhundert der
Hijrah „modern“ gewesen sein, sind jetzt aber extrem
veraltet. Der nach westlichen Maßstäben Erzogene ist meist
mit dem Arabischen nicht vertraut und kennt nicht die
Schwierigkeiten des fiqah. Er ist naturgemäß geneigt, solche
abgenutzten, subjektiven Interpretationen und Konzeptionen
als eine Wiedergabe der wahren Absichten des Gesetzgebers
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 Muhammad Asad – Islam am Scheideweg Muhammad Asad – Islam am Scheideweg
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zu betrachten: er ist über das, was er als vorschriftsmäßige

Gesetz (Shariah) des Islam vermutet, enttäuscht, hält es für
unzulänglich und weicht zurück. Damit der Islam noch
einmal gestaltende Kraft im Leben der Muslime werden
kann, muss die islamische Konzeption im Lichte unseres
eigenen Verstehens der ursprünglichen Quellen bewertet und
von der dicken Staubschicht der konventionellen
Interpretationen befreit werden. Daraus mag ein neuer fiqah
entstehen, der exakt den zwei Quellen des Islam – dem
Qur’án und dem Lebensbeispiel des Propheten – entspricht
und gleichzeitig die Fragen des gegenwärtigen Lebens
antwortet: so wie die älteren Arten des fiqah auf die Zeit
geantwortet haben, die von aristotelischer und
neuplatonischer Philosophie und den damals
vorherrschenden Lebensbedingungen dominiert war.
Aber nur wenn wir unser verlorenes Selbstvertrauen
wiedergewinnen, können wir erwarten, dass unserer Weg
noch einmal die Oberhand gewinnt. Niemals werden wir das
Ziel erreichen, wenn wir unsere eigenen sozialen
Institutionen zerstören und eine fremde Zivilisation
nachahmen – fremd nicht nur in einem historischen oder
geografischen, sondern auch in einem geistigen Sinn. So,
wie die Dinge heute liegen, erinnert der Islam an ein
sinkendes Schiff. Alle Hände, die helfen können, werden an
Bord gebraucht. Gerettet wird es jedoch, wenn die Muslime
den Ruf des heiligen Qur’án hören und verstehen:

”Wahrlich, ihr habt an dem Gesandten Alláhs ein schönes

Vorbild für jeden, der auf Alláh und den Letzten Tag hofft
und Alláhs häufig gedenkt.” (33:21)

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