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Einleitung
Schriftliche Sprachverwendung ist in der Öffentlichkeit so selbstver-
ständlich und alltäglich, dass ihre Rolle als Form sozialer Praxis oft über-
sehen wird. Das galt lange auch für die Soziolinguistik: Sofern sich diese
überhaupt mit dem öffentlichen Nebeneinander von Sprachen beschäf-
tigte, geschah das fast ausschließlich auf der Grundlage gesprochener
Sprache. Gegen diese Blickverengung wendet sich seit einigen Jahren
eine viel diskutierte neue Disziplin, die unter dem Etikett Sprachland-
schaftsforschung (englisch: linguistic landscaping) firmiert und schriftliches
Sprachvorkommen im öffentlichen Raum in den Blickpunkt rückt. An-
regungen der Soziolinguistik, Soziologie, Sozialpsychologie, Geographie
und Publizistik aufnehmend (Sebba 2010: 73), legt sie das Haupt-
augenmerk auf visuelle Sprachlandschaften (linguistic landscapes). Einer der
ersten einschlägigen Beiträge (Landry/Bourhis 1997: 25) definiert Sprach-
landschaft bzw. den Gegenstand der Sprachlandschaftsforschung als die
Gesamtheit der visuellen Verteilung und Verwendung von Sprache(n)
auf öffentlich zugänglichen Objekten wie Verkehrs- und Straßenschil-
dern, Werbeplakaten, Schaufenstern, Gebäuden usw.; kurz gefasst ist
Sprachlandschaftsforschung also “the study of writing on display in the
public sphere” (Coulmas 2009: 14) bzw. “the study of public multilingual
signage” (Spolsky 2009: 25; siehe ferner Auer 2010). Dies ist naturgemäß
vor allem in urbanen und/oder mehrsprachigen Regionen von Interesse.
Abgesehen von den immer zahlreicheren Studien zu visuellen Sprach-
landschaften außerhalb des deutschsprachigen Raumes (u.a. zu Brüssel,
Vandenbroucke 2015) gibt es inzwischen auch zunehmend binnen-
deutsche Fallstudien, u.a. Berlin (Papen 2012), Hamburg (Pappenhagen
et al. 2013, Peukert 2013) und Dortmund (Cindark/Ziegler demn.), aber
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den (Karte 1). Es besteht aus neun Gemeinden (Karte 2): den vier Ge-
meinden des Kantons Eupen (Eupen, Kelmis, Lontzen und Raeren) und
den fünf Gemeinden des südlich davon gelegenen Kantons Sankt Vith
(Amel, Büllingen, Burg-Reuland, Bütgenbach und Sankt Vith). Geogra-
phisch werden die beiden Kantone von einem unbewohnten Teilstück
des Hohen Venn voneinander getrennt, das nicht zum Gebiet der DG
gehört. Das Hohe Venn bildet nicht nur eine Dialektgrenze zwischen
dem im Norden gesprochenen Ripuarischen und Ostlimburgischen und
dem im Süden gesprochenen Moselfränkischen, sondern auch eine so-
ziokulturelle Barriere zwischen dem eher städtischen, dichter besiedelten,
verkehrstechnisch gut angebundenen, stärker französisch orientierten
Eupener Land im Norden und der ländlichen, stärker deutsch geprägten
Eifel im Süden (Riehl 2001: 35). Obwohl sich deutschsprachige Belgier
häufig über ihre Mehrsprachigkeit definieren (Vanden Boer 2008), lässt
dies die Arbeitshypothese zu, dass Eupen als Sprachlandschaft deutlich
stärker zweisprachig geprägt sein dürfte als Sankt Vith.
Karte 1: die Lage der DG in Belgien – Karte 2: die neun Gemeinden der DG
(Quelle: http://www.dglive.be)
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Für unsere Untersuchung deutet sich damit eine Spannung zwischen der
top-down- und der bottom-up-Perspektive bei der praktischen Ausgestaltung
der Sprachlandschaft an. Aus top-down-Sicht bilden die Kantone Eupen
und Sankt Vith mit ihren insgesamt ca. 76.000 Einwohnern seit der bel-
gischen Verfassungsreform von 1971 eine gemeinsame Sprachgemein-
schaft innerhalb des belgischen Bundesstaates neben der Flämischen
Gemeinschaft und der Französischen Gemeinschaft (deren Gebiete sich
in der zweisprachigen Hauptstadtregion Brüssel überschneiden). Damit
ist Deutsch eine der drei offiziellen Landessprachen Belgiens, deren be-
hördliche Verwendung schon seit 1963 per Sprachgesetzgebung geregelt
und gemäß dem in Belgien gültigen Territorialitätsprinzip jeweils einem
eigenen geographischen Gebiet zugeordnet ist. Dabei ist der behörden-
seitige Sprachgebrauch pro Gebiet in den Angelegenheiten des öffentli-
chen Lebens gesetzlich genau geregelt. So sind etwa öffentliche Dienst-
stellen im deutschen Sprachgebiet verpflichtet, sich bei internen Kontak-
ten, Kontakten mit anderen Dienststellen des gleichen Sprachgebietes
und Kontakten mit Privatpersonen ausschließlich des Deutschen zu be-
dienen (Art. 10 und 12 des belgischen Sprachengesetzes).1
Da es in Belgien keine Sprachenzählungen gibt, fehlen offizielle Erhe-
bungen über das Zahlenverhältnis zwischen deutschsprachigen und
französischsprachigen Einwohnern auf dem Gebiet der DG. Generell
wird jedoch angenommen, dass etwa 10 Prozent der in der DG lebenden
Bevölkerung Französisch als Muttersprache haben (Riehl 2001: 33). Ana-
log zu anderen Sprachgrenzgebieten in Belgien wurde die offizielle Ein-
sprachigkeit der DG deshalb dahingehend eingeschränkt, dass für die
autochthone französischsprachige Minderheit eine Reihe von Sprach-
erleichterungen (sogenannte “Fazilitäten”) eingerichtet wurden (Art. 8),
die sie dazu berechtigen, sich im öffentlichen Leben des Französischen
zu bedienen. Praktisch bringt dies mit sich, dass bestimmte an die Öf-
fentlichkeit gerichtete Bekanntmachungen, Mitteilungen, Schilder, usw.
sowohl auf Deutsch als auch auf Französisch verfasst sein müssen
(Art. 11), dass örtliche Dienststellen Bescheinigungen, Erklärungen, Ge-
nehmigungen, usw. für Privatpersonen je nach deren Wunsch auf
Deutsch oder auf Französisch aufsetzen müssen (Art. 13 und 14), und
dass Bewerber auf Stellen im öffentlichen Dienst über ausreichende
Kenntnisse der zweiten Sprache verfügen müssen (Art. 15). Im nicht-
amtlichen Bereich, z.B. in der Kommunikation zu gewerblichen Zwe-
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Ergebnisse
Eine erste Auswertung der Daten zeigt die nachfolgende Tabelle 1. So-
wohl in Eupen (51,22% aller Untersuchungseinheiten) als auch in Sankt
Vith (61,02%) bilden einsprachig deutsche Einheiten die absolute
Mehrheit und kommen kaum andere einsprachige Einheiten vor, wobei
die Dominanz des Deutschen in Sankt Vith ausgeprägter ist als in
Eupen. Im Vergleich der beiden Orte fällt außerdem auf, dass Franzö-
sisch in Eupen deutlich sichtbarer ist als in Sankt Vith: Während 43,09%
der Untersuchungseinheiten in Eupen Französisch enthalten, beträgt
diese Zahl in Sankt Vith nur 27,12%.
Vorkommen Vorkommen
Sprachenkombination Eupen % Sankt Vith %
(n = 123) (n = 118)
Deutsch 63 51,22 72 61,02
Französisch 4 3,25 4 3,39
Deutsch - Französisch 36 29,27 19 16,10
Deutsch - Englisch 5 4,06 12 10,17
Deutsch - Französisch - Englisch 6 4,88 2 1,64
Deutsch - Französisch -
Niederländisch 4 3,25 4 3,39
Deutsch - Italienisch 2 1,63 2 1,64
Deutsch - Französisch -
Italienisch 2 1,63 1 0,85
Deutsch - Französisch -
Chinesisch 0 0 1 0,85
Deutsch - Französisch -
Spanisch 0 0 1 0,85
Französisch - Englisch 1 0,81 0 0
Tabelle 1: Vorkommen sichtbarer Sprachen in den Untersuchungsgebieten
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Vorkommen Vorkommen
Sprachenkombination Eupen % Sankt Vith %
(n = 5) (n = 2)
Deutsch 1 20 2 100
Französisch 0 0 0 0
Deutsch - Französisch 4 80 0 0
Deutsch - Französisch - 0 0 0 0
Niederländisch
Tabelle 2: Sprachenkombinationen im regulatorischen Diskursbereich
Auch ein deutlicher Unterschied zu Sankt Vith fällt auf: Während orts-
feste Verbots- und Gebotsschilder in Eupen zweisprachig verfasst sind
und Einsprachigkeit eine temporäre Ausnahme von der Regel bildet,
sind solche Schilder in Sankt Vith immer einsprachig abgefasst (100%;
Abbildung 1c). Da sowohl in Sankt Vith als auch in Eupen Fazilitäten
für die autochthone französischsprachige Minderheit gelten, würde man
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Vorkommen Vorkommen
Eupen Sankt Vith
Sprachenkombination (n = 20) % (n = 15) %
Deutsch 10 50 8 53,33
Französisch 1 5 2 13,33
Deutsch - Französisch 4 25 2 13,33
Deutsch - Französisch -
Niederländisch 5 20 3 20
Tabelle 3: Sprachenkombinationen im infrastrukturellen Diskursbereich
Sowohl in Eupen als auch in Sankt Vith sind einsprachig deutsche Ein-
heiten im infrastrukturellen Diskursbereich mit 50% bzw. 53,33% aller
Vorkommen am häufigsten vertreten. Zweisprachig deutsch-französi-
sche Schilder finden sich u.a. an der Fassade öffentlicher Gebäude, und
zwar in Form amtlicher Namensschilder (Abbildung 2a) und städtischer
Meldungen.
Abbildung 2a Abbildung 2b
Informationsschilder in Eupen bzw. Sankt Vith – Fotos: Glenn Verhiest
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Vorkommen Vorkommen
Sprachenkombination Eupen % Sankt Vith %
(n = 98) (n = 101)
Deutsch 51 52,04 62 61,38
Französisch 3 3,06 2 1,98
Deutsch - Französisch 28 28,57 17 16,83
Deutsch - Englisch 5 5,10 12 11,88
Deutsch - Französisch - 6 6,12 2 1,98
Englisch
Deutsch - Französisch - 0 0 1 0,99
Niederländisch
Deutsch - Italienisch 2 2,04 2 1,98
Deutsch - Französisch - 2 2,04 1 0,99
Italienisch
Deutsch - Französisch - 0 0 1 0,99
Chinesisch
Deutsch - Französisch - 0 0 1 0,99
Spanisch
Französisch - Englisch 1 1,02 0 0
Tabelle 3: Sprachenkombinationen im kommerziellen Diskursbereich
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Abbildung 3a Abbildung 3b
Zweisprachige Schaufensterwerbung in Eupen – Fotos: Glenn Verhiest
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Abbildung 5a Abbildung 5b
Beschmierte Wegweiser in der Nähe von Sankt Vith – Fotos: Glenn Verhiest
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