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Meditation
Augen zu. Aufrecht sitzen. Atmen. Ruhig
werden: Meditation stärkt unsere Konzentration.
Sie macht uns achtsamer und mitfühlender.
Doch welche Übungen sind am effektivsten?
Antworten gibt die weltweit größte Studie zur
Meditation. GEO-Reporter Philipp Brandstädter
war einer der Teilnehmer – er berichtet von
einer neun Monate währenden Reise durch sein
Inneres. Der Fotograf Roman Pawlowski zeigt
Meditierende an ihren Lieblingsplätzen
45
L
EBE IM HIER UND
Jetzt. Genieße den Augen-
blick. Sei gesund, gebor-
gen, unbeschwert. Werde
glücklich. Diese Kalender-
weisheiten kreiseln durch
meinen Kopf, als ich auf einem Medita-
tionskissen balancierend mit geschlossenen
Augen eine Rosine inspiziere.
Etwas angewidert rolle ich sie zwi-
schen Daumen und Zeigefinger. Das
Glück liegt in den kleinen Dingen, rede
ich mir ein: Nimm den Moment wahr. Der
Rosinenmatsch duftet fruchtig. Nicht so
intensiv wie das Bohnerwachs in der Turn-
halle des Hauses Rheinsberg, keine an-
derthalb Stunden Reisebusgetuschel von
Berlin entfernt. Ich bin ganz hier. Wir.
Ich und meine Skepsis.
Mit Sinnsprüchen ist das nämlich so
eine Sache. Auch wenn sich in ihrem Kern
Weisheit verbirgt, klingen sie oft schwam-
mig und abgedroschen. Die Wissenschaft
mit ihren Fakten überzeugt mich schon
eher. Deshalb ist das „ReSource-Projekt“
die perfekte Gelegenheit für mich, das
Meditieren zu erlernen. Es ist die größte
Meditationsstudie, die es bislang gegeben
hat, durchgeführt vom Max-Planck-Insti -
tut für Kognitions- und Neurowissenschaf-
ten in Leipzig.
Dabei wird erstmals die Wirkung ver-
schiedener mentaler Techniken miteinan-
der verglichen: Wie verändern sie Gehirn,
Körper und Verhalten? Womit lassen sich
Achtsamkeit, Mitgefühl und die Fähigkeit,
sich in andere hineinzudenken, am besten
trainieren? Als Teilnehmer wurden 241 Me-
ditationsanfänger gesucht. Tausende haben
sich beworben. Es hat Wochen gedauert,
es in die finale Auswahl zu schaffen.
Ich habe psychologische Eignungs-
gespräche über mich ergehen lassen. Hun-
derte Fragen beantwortet, angekreuzt,
skaliert, mich selbst beurteilt. Wie intensiv
spüren Sie beim Duschen die Wassertrop-
fen auf Ihrer Haut? Ein bisschen? Ein
bisschen mehr? Keine Ahnung? Ich habe
mein Gehirn durchleuchten lassen, Blut
gespendet, in Röhrchen gespuckt, am
Computer gespielt. Dutzende Tests, die
ich in den nächsten Monaten mehrmals
wiederholen muss. Denn aus diesem im-
mensen Datenberg wollen die Forscher
später herauslesen, in welchem Maß die
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Erkenntnis
statt Sieg
OLIVER GOTHE-SYREN,
WIRTSCHAFTSANWALT
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Meditationsübungen meine Gesundheit,
mein Gehirn, mein Fühlen und Handeln
verändert haben. Ein technisches Protokoll
meiner Verwandlung. Aber wird es die
überhaupt geben?
Für meine erste Meditationslektion
finde ich mich in einer Turnhalle wieder.
Um mich herum gestresste Mütter, ge-
stresste Lehrer, gestresste Büroangestell-
te. Sie können nicht mehr ruhig schlafen,
sagen sie. Ihr Chef mache sie wahnsinnig,
sagen sie. Darum lassen sie sich in ein straf-
fes Mammutprogramm einspannen, das
Rettung verspricht.
Neun Monate ReSource: drei dreimo -
natige Meditationsmodule, bestehend aus
je zwei neuen Techniken. Jeden Tag üben,
jede Woche Unterricht. Und drei Wochen -
enden in Rheinsberg, ein Idyll zwischen
Schlosspark und Seenlandschaft.
Ich verbiege meinen Rücken in eine
ungewohnt aufrechte Haltung. Von den
knapp 200 Probanden und wissenschaft-
lichen Mitarbeitern macht Trainerin Isa -
bella auf dem Sitzkissen die beste Figur.
Gefolgt von den anderen 16 ReSource-
Lehrern. Isabella referiert gelassen und
regungslos im Lotossitz. Ich ahme sie nach,
Stille, mitten mir schlafen die Beine ein. An meinem
rechten Schulterblatt brennt ein Muskel,
im Alltag den ich bis jetzt noch nicht kannte. Isabel -
SIMONE BRENNER, la spricht von einer Methode, die unsere
PSYCHOLOGIN, UND MARCO
Mitte stärken soll, wenn uns der reißende
SPEE, REISEVERANSTALTER
Strom der Nachrichten, Aufgaben und Er-
Wir meditieren gern zusam - wartungen fortzuspülen droht. Die Me -
men, am liebsten zu Beginn thode heißt Atmen. Atmen will ich auch
des Tages, aber auch unter - und nicke. Die Probanden um mich herum
wegs. Im Auto, am Bahngleis, nicken mit. Bewusstes Atmen ist die
selbst in der Schlange vor
Grundlage des Projekts, sagt Isabella. Es
der Supermarktkasse. Wenn
soll uns in der Gegenwart verankern. Das
es unruhig oder stressig wird,
ist es einfach schön, gemein -
erste Modul des ReSource-Programms
sam die Zeit anzuhalten. heißt deshalb „Präsenz“.
Wir konzentrieren uns auf
unseren Atem, auf ein Mantra,
MODUL »PRÄSENZ«*
auf Themen wie Dankbarkeit,
Liebe oder Vergebung. Das Die Teilnehmer sollen zur Ruhe
hilft uns, bewusster und kommen und sich ganz auf
liebevoller miteinander um- den Augenblick konzentrieren.
zugehen. Das ist natürlich Techniken:Atem meditation
nicht immer leicht. Aber je und Bodyscan.
öfter wir üben, desto weniger
lassen wir uns ablenken.
Man darf sich nicht zu ernst
DENN WER SEINEN Körperzustand
nehmen und muss einfach bewusst wahrnimmt, der erkennt den Au -
weitermachen. genblick, heißt es. „Achtsamkeit“ nennen
Forscher die Konzentration auf das Hier
ATEMMEDITATION
Die Aufmerksamkeit ruht ganz
auf dem Atem. Sobald Gedanken
und Gefühle auftauchen, wird
die Konzentration wieder sanft zu-
rück auf die Atmung gelenkt.
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drei Kissen ein Meditationsprovisorium abgelenkt hat. Gedanken beobachten sei
gebaut habe, spricht Coach Axel via Smart BODYSCAN wichtig, meint Trainerin Susanne. Denn
phone zu mir. Jeder von uns hat so ein Die Aufmerksamkeit wandert nach bevor wir im dritten Teil unser Mitgefühl
und nach durch jeden Körperteil
„Medifon“ bekommen. Es zeichnet unsere schulen, müssten wir erst einmal mit uns
und registriert jede Empfindung,
Übungen auf, erinnert uns an Fragebögen selbst klarkommen. Das leuchtet ein: Fällt
ohne sie zu bewerten.
und spielt die Tonspuren ab, die die Leh der Luftdruck in der Flugzeugkabine, zie
rer für die Anleitungen zu Hause einge hen wir zuerst uns selbst die Sauerstoff
sprochen haben. „RICHTE DEINE Aufmerksamkeit auf maske über.
Das Telefon ahnt nicht, dass ich die deine Zehen des linken Fußes“, flüstert
vorgegebene Meditationszeit einfach nur Axel durch die Kopfhörer. Von den Zehen
mürrisch absitze. Genauso wie die wö aus reise ich durch meinen Körper. Nehme GEDANKENMEDITATION
chentlichen Gruppentreffen in der Charité. Kribbeln, Taubheit, Wärme wahr. „Spüre Die Teilnehmer lernen, ihr eigenes
Denken und Handeln zu
Den meisten Probanden geht es ähn tief in dein linkes Kniegelenk hinein“, flüs
beobachten und die Perspektiven
lich, erzählen sie. Sie sind angestrengt, tert Axel. Igitt. Es ist mehr ulkig als ange
anderer Menschen nachzu-
haben hohe Erwartungen an sich, wollen nehm, die Nuancen der Körperempfin vollziehen.
gute Daten liefern. Genau, wie es das dungen zu unterscheiden. „Sei einfach eine
Leistungsprinzip verlangt. Genau, wie Antenne, die alles wahrnimmt, ohne die
Meditation nicht funktionieren kann. Bis Wahrnehmung zu bewerten“, flüstert Axel. MEINE ERSTE Gedankenmeditation
Die Übungen machen mich ruhiger, ist eine einzige Enttäuschung. Von wegen
dämmern. gelassener, genügsamer. Meinen Alltag die Gedanken sind frei! Von wegen tau
Doch genau in dieser Zwischenwelt verändern sie auch. Ich registriere mehr send Ideen schießen uns auf einmal durch
zwischen Traum und Bewusstsein gibt es Details in meiner Umgebung. Die Giebel den Kopf! Ich komme gerade mal auf sie
jene Momente. Dort lösen sich Hast und und Sockel von Häusern, an denen ich ben. Sie wiederholen sich nur in einer
Zweifel durch Ruhe und Genügsamkeit schon hundertmal vorbeigefahren bin. Die Endlosschleife. Mein Job, meine Partnerin,
ab. Etwas verändert sich. Ich bin begeis Verästelungen der Bäume im Park. Das meine Freunde, mein Job, die letzte Party,
tert: Jetzt meditierst du endlich! Wie wird Atmen stärkt meine innere Mitte. Und ein Haushaltsplan, mein Job.
das erst sein, wenn du die Techniken per beim Sport funktioniert mein Körper wie An den Gedanken kleben meist Ur
fektioniert hast? Bist du dann wacher, leis teile, die ich nie ernsthaft hinterfragt habe.
tungsfähiger, glücklicher? stunde ist auf einmal 20 Minuten kürzer Und die ich von anderen übernommen
Und schon bin ich wieder meilenweit und die Hanteln im Fitnesscenter sind habe. Du verschwendest zu viel Zeit! Du
vom Augenblick entfernt. leichter als in der Woche zuvor. sorgst nicht genug für deine Zukunft! Du
„Wenn deine Aufmerksamkeit gewan Die Verwandlung geht schnell. Lang lebst zu ungesund!
dert ist, dann lenke sie zurück zum nächs sam wird sie mir unheimlich. Mir wird klar, dass ich in einer Ich
ten Atemzug“, sagt Axel. Seit zwölf Wochen im ReSource Pro muss noch dies und das tun Zukunft
Die hellen Momente häufen sich. jekt. Atmen, Bodyscannen und Stillsitzen gefangen bin. Die Erwartungshaltung an
Sie motivieren mich zum Üben. Langsam kriege ich mittlerweile hin. Ich finde mich derer reißt eine riesige Lücke zwischen
erschließt sich mir der Fokus auf die At erneut in Rheinsberg wieder. Retreat, dem Leben, das ich gern hätte, und dem
mung. Sie lenkt die Wahrnehmung von Runde zwei. Das nächste Modul für mei Leben, das ich gern haben sollte. Ich bin
meiner Umgebung in meinen Körper. ne Gruppe heißt „Perspektive“. Es soll die schockiert.
Atmen ist eine gute Sache, finde ich, Fähigkeit, mich in andere hineinzuverset Barfuß tragen die Teilnehmer des Re
Kontraktion und Entspannung, es ist, als zen, schulen. Source Projekts ihre Brummschädel über
ob ich einen Muskel trainieren würde. die Wiese vor dem Hotel. Kaffeetasse in
In meinem Kopf tut sich etwas. der einen Hand, Keks oder Kippe in der
Im Park unter rauschenden Blättern. MODUL »PERSPEKTIVE« anderen. Wie immer schweigen wir. Wir
Ihr Grün ist bereits dem Rot und Gold Die Teilnehmer lernen, ihr eigenes achten auf die Länge unserer Schritte, die
Denken und Handeln zu beobach -
gewichen, doch die Luft fühlt sich immer Geräusche, die Grashalme zwischen den
ten und die Perspektiven anderer
noch nach Sommer an. Ich bin hier: nicht Zehen. Eine Familie spaziert an uns vorbei.
Menschen nachzuvollziehen.
gestern oder morgen, sondern jetzt. Zum Techniken: Gedankenmeditation
„Was machen die Leute da auf dem
ersten Mal. Liege im Gras und sinke mit und Perspektiv-Dyade. Rasen?“, fragt das Kind. „Guck da nicht so
jedem Atemzug tiefer in den Boden. hin, die sind behindert“, antwortet die
Ich übe „interozeptives Gewahrsein“. Mutter.
So heißt das. Per Bodyscan. Der zweiten A B J E T Z T B E O B A C H T E N W I R un Was wir da tun, ist nicht normal. Nor
Übung, die ich im Modul „Präsenz“ neben sere Gedankenwelt. Diesen kaum greifba mal ist, auf der Straße mit einem Knopf
der Atemmeditation an jedem Tag der ren Wirrwarr, den ich bis dato abschütteln im Ohr in leuchtende Geräte hineinzufa
Woche trainieren soll. musste, weil er mich von der Achtsamkeit seln. Normal ist, sich mit hundert Dingen
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gleichzeitig zu beschäftigen, um nicht über
sich selbst nachdenken zu müssen.
Trainerin Susanne lächelt. Susanne
lächelt eigentlich immer. Man könnte mei
nen, es sei aufgesetzt. Mein Urteil. Meine
Schuld, dass ich das meine. Die hagere
kleine Frau gestikuliert schon die nächste
Technik in den Raum hinein: eine Dyade.
Dabei handelt es sich um eine Meditation
zu zweit. Augenbrauen werden gehoben,
Köpfe geschüttelt. Susanne lächelt.
PERSPEKTIV-DYADE
Meditation zu zweit: Ein Partner
beschreibt ein Alltagserlebnis
aus einer seiner inneren Rollen
heraus, der andere vollzieht
die Erzählperspektive unvor-
eingenommen nach. Nach fünf
Minuten tauschen beide.
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Inneren Frieden finden
ISABEL VIRAMO VON ROON, PSYCHOTHERAPEUTIN UND
MEDITATIONSLEHRERIN
53
R ESO UR C E- PRO JEKT
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Meine Freunde sind wegen der Studie
längst skeptisch geworden. Sie fürchten,
ich sei einer Hirnwäsche zum Opfer ge-
fallen, würde mir bald den Schädel rasie-
ren und mich in orangefarbene Tücher
hüllen. Sie finden, Ruhe und Gelassenheit
... UND IHRE WIRKUNG AUF KÖRPER UND GEIST ließen mich nur Wurzeln ins Sofa schla-
gen. Kollegen haben gefragt, was denn
nicht stimme. Ich sei in letzter Zeit so
wortkarg, würde überhaupt nicht mehr
lästern oder gehässig sein. Was sei denn
Starke leichte keine keine bloß aus den ganzen politisch unkorrekten
Verbesserung Verbesserung Veränderung Messung
Randgruppenscherzen geworden.
Auf einmal wurde es mir zu eng in
Berlin. Die Leute in der Bahn, mit ihrem
dicken Fell und ihren Scheuklappen, sie
machten mich rasend. Smartphone-Zom -
MODULE bies, unaufmerksam, lieb- und leblos. Ich
passe hier nicht mehr hin. Ich weiß nicht,
PRÄSENZ
a t io n
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PERSPEKTIVE
l
Kon
MODUL »AFFEKT«
St re ssrü Die Teilnehmer üben, sich selbst
Sozia le ckg
(h ormon a n g und anderen wohlwollend zu
e it
Ve rb und e nh e ll)
begegnen und auch mit schwieri -
gen Emotionen umzugehen.
Techniken: Herzmeditation und
rh
we
Affekt-Dyade.
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ZU BEGINN der Studie war mir die Sa-
che mit dem Mitgefühl nicht so wichtig.
Das Leid in mir und um mich herum hält
sich in Grenzen, meinte ich; das konnte
DIE WICHTIGSTEN ERGEBNISSE ich bislang ganz gut bewältigen, ohne mich
Alle drei Übungsmodule steigern „Dyaden“ genannten Partner - bewusst um mehr Mitgefühl bemühen zu
die Körperwahrnehmung und senken meditationen, die auch die soziale müssen. Doch was Ulrike anspricht, passt
das Empfinden von sozialem Stress. Verbundenheit fördern. Wie erhofft,
gerade ziemlich gut zu meiner Hilflosig-
Die hormonelle Stressreaktion, gemes- stärkt das Modul „Perspektive“
sen am Cortisolspiegel, wird jedoch auch die Fähigkeit, sich in andere keit. Sie sagt, prosoziales Verhalten sei Teil
nur durch die Module „Perspektive“ hineinzudenken, das Modul „Affekt“, einer Lebenseinstellung und werde mit kör-
mit anderen mitzufühlen. pereigenen Opiaten belohnt. Der Wunsch,
das Leiden anderer zu mindern, sei die
Grundlage für ein friedliches Miteinander.
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Z A H L E N & F A KT E N
Und das sei uns in dem momentanen mobile des Glücks und verpuffe dann in
Eine Studie der Leistungssystem ein bisschen abgegangen. einer Energiewolke? Klar ist: Mein emotio-
Dort, wo nur der Wettbewerb belohnt nales Spektrum kann ich noch erweitern.
Superlative wird, gehe die Bindung zu den Mitmen - Das merke ich bei der neuen Dyade.
Das ReSource-Projekt ist die schen und der Zugang zu den Emotionen
umfangreichste und längste verloren. Die Folge: Stress, Burnout, Sprün-
ge aus dem Bürofenster im zehnten Stock. AFFEKT-DYADE
nicht religiöse Studie zur
„Richte deine Aufmerksamkeit auf den Meditation zu zweit: Ein Partner
Wirkung von Meditation und
beschreibt, wie er ein positives
mentalem Training Herzraum und spüre die natürliche Atem -
oder negatives Erlebnis emotional
bewegung“, sagt Ulrike. „Dann nutze dei-
und körperlich empfunden hat, der
LEITUNG: Im Jahr 2007 initiiert nen persönlichen Zugang zum Herzen, andere hört empathisch zu. Nach
von der Neurowissenschaftlerin damit es sich öffnen kann.“ fünf Minuten tauschen beide.
Tania Singer, durchgeführt
von ihrer Abteilung „Soziale
Neurowissenschaft“ am HERZMEDITATION ICH MUSS Thorsten beschreiben, was
Max-Planck-Institut für Kogni - Man stellt sich ein geliebtes Wesen für mich angenehme und unangenehme
tions- und Neurowissenschaf - vor und dehnt das Gefühl von
Gefühle sind. Auf die schwierigen kann
ten in Leipzig Wohlwollen immer weiter aus: erst
ich mich nicht besinnen. Bei den positiven
auf sich selbst, dann auf Freunde,
KOSTEN: Mehrere Millionen
auf schwierige Mitmenschen bis hin
merke ich, dass ich mir im Überschwang
Euro, finanziert vom Euro -
zu Fremden. meist peinlich bin, wenn ich kichere und
päischen Forschungsrat und Blödsinn rede. Lieber sind mir die ruhigen,
der Max-Planck-Gesellschaft schönen Gefühle, auf einer Wellenlänge
TEILNEHMER:241 Meditations - M E I N Z U G A N G ist Henriette, meine mit meinen Jungs, auf dem Hügel, ein Bier,
anfänger in Berlin und Leipzig, adipöse Katze. Die schnurrende Inkarna- ein Lächeln, eine Karmawolke. Thorsten
dazu zwei Kontrollgruppen tion des Gleichmuts. Und zwar gute zwölf versteht das und hat Tränen in den Augen.
von insgesamt 90 Leuten, die Pfund davon. Wenn ich an Henriette den -
nicht meditiert haben ke, dann ist die Welt gleich ein bisschen E S I S T F R Ü H L I N G , die Kirschbäume
flauschiger. „Wende dich nun dir selbst zu sind übersät von rosafarbenen Blüten, viel-
LAUFZEIT: Von April 2013
bis Mai 2014 tägliche
und schenke dir liebevolle Selbstzuwen- leicht seit Wochen schon. Mir fällt es zum
mentale Übungen, wöchent - dung“, sagt Ulrike weiter. Und dann kom- ersten Mal auf. Die Achtsamkeit im Alltag
liche Gruppentreffen, drei men vier Glückskekswünsche, die mich lässt zu wünschen übrig. Ich komme gar
Wochenend-Retreats, einfach umhauen, weil sie die Schnittmen- nicht auf die Idee, an mein Herz zu den -
Nach untersuchungenvier ge aller menschlichen Bedürfnisse bilden – ken und an gute Wünsche für Fahrgäste
und zehn Monate später auch wenn sie etwas gestelzt sind. „Möge in der U-Bahn. Aber ich bin gut drauf, viel-
ich glücklich sein“, spricht Ulrike vor. leicht ist das ja schon etwas. Den anderen
DATEN: Pro Teilnehmer rund
90 verschiedene Maße zur
„Möge ich mich sicher und geborgen füh- geht es auch so. Die Herzmedita tion ist
Erfassung von Genetik, Hormo - len. Möge ich gesund sein.“ Und ein Satz schön, das gute Gefühl funktioniert quasi
nen, Stress, Gehirn, kognitiven für mich: „Möge ich unbeschwert leben.“ mit einem Fingerschnippen. Die Dyaden
und emotionalen Fähigkeiten, Mir wird warm ums Herz. Ich kann mit Alex sind witzig. Cooler Typ, ein Punk,
Persönlichkeit und Verhalten die Hitze in meinem Brustkorb spüren. ein Kind, ein Filmspinner. Wir erzählen
Ein breites Lächeln auf meinem Gesicht. uns keine schwierigen Geschichten, es ist
NEUHEITEN:Studiendauer und
Ich weite die Wärme aus, erst auf meinen nichts mehr schwierig.
-umfang; Vergleich verschie -
dener Trainingsmodule; Part-
Körper, dann auf die Meditierenden um Der Druck von außen, die Macht
nermeditationen („Dyaden“); mich herum, dann auf meine Lieblings- schlechter Gedanken, der Stress, alles
Alltagsbegleitung durch menschen, und noch weiter. Mitgefühl für nicht mehr so schlimm. Ich mache kaum
Smartphones; neu entwickelte alle. Die Energie wird schwächer, je weiter noch Sport, gehe nicht raus, denke nicht
Computerspiele, virtuelle ich ihre Dosierung strecke. Dann schwin- nach, stehe nur arrogant über den Dingen,
Welten und Aufgaben für den det meine Kraft, es ist schwierig. Trotzdem über den Problemen, fühle mich besser als
Scanner habe ich ein bisschen Glückseligkeit ent- der Rest. Wenn ich Leute sehe, die sich
TEAM: 17 Meditationslehrer,
facht, einfach so, ohne Lieblingssong, ohne fleißig 14 Stunden am Tag überarbeiten,
mehr als 20 wissenschaftliche Blick aufs Meer, unabhängig. Ich bin hin dann denke ich: Macht ihr mal.
Mitarbeiter, mehr als zehn und weg. Erst war ich von der Achtsam- Wo soll das hinführen? Ich zweifle.
Forschungsassistenten und keit überrascht, jetzt vom Glück. „Ich glaube, wir haben uns da eine
Projektkoordinatoren Kann ich das noch verstärken? Werde Horde kleiner Egozentriker gezüchtet“,
ich nächsten Monat zu einem Perpetuum sagt Christina aus dem Labor.
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Beim letzten Training reflektieren wir
noch mal. Lothar hat seine Ernährung
umgestellt, Ute Frieden mit ihrer sterben -
den Mutter gefunden, Olaf hat sich das
Rauchen abgewöhnt, Doris hat keine Kopf-
schmerzen mehr. Wir können unsere Ge -
danken ordnen, unsere Mitte finden. Aber
in dieser Mitte sind die meisten von uns
hängen geblieben. Vielleicht braucht es für
das Mitgefühl doch mehr als nur ein paar
Wochen Training.
Wir planen, wie wir weiter meditieren
können. Mit den Tonspuren vom Medifon?
Oder traut sich jemand von uns die An -
leitung zu? Den Raum der Charité können
wir vorerst weiter benutzen.
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FORSCHUNG
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Tania Singer ist eine mon Cortisol gemessen, einen der bekann-
weltweit anerkannte testen Marker für eine soziale Stressreak-
Pionierin in der tion. Bei jenen, die zuvor in den sozialen
Erforschung von
Modulen „Affekt“ oder „Perspektive“ Mit-
Mitgefühl, Empathie
gefühl oder Perspektivenwechsel trainiert
und Fairness
hatten, war die hormonelle Stressreaktion
im Vergleich zur Kontrollgruppe tatsäch-
lich um rund 50 Prozent niedriger. Aber
bei denen, die gerade das Modul „Präsenz“,
also Atemmeditation und Bodyscan, hin-
ter sich hatten, war sie unverändert hoch.
Das hat uns sehr überrascht.
Gerade diese Achtsamkeitsübungen
gelten doch als gutes Antistressmittel.
Warum nicht bei sozialem Stress?
Bei achtsamkeitsbasierten Aufmerksam-
keitsübungen konzentrieren sich Teilneh-
mer nur auf sich selbst. Das ist offenbar
nicht wirklich effizient, um sozialen Stress
zu reduzieren. Dagegen gehört zu den bei-
den anderen sozialen Modulen auch ein
Training zu zweit, das wir „kontemplative
Dyade“ nennen. Dabei meditiert ein Part -
ner über eine bestimmte Frage und teilt
dem anderen sehr Persönliches mit. Der
hört empathisch zu, ohne zu unterbrechen,
ohne zu werten. Nach fünf Minuten wird
getauscht. Die Teilnehmer entblößen sich
also vor jemandem, der sie beurteilen
könnte, und üben zugleich urteilsfreies
Zuhören. Und das täglich über Monate.
Ich vermute, dass sie das ein Stück weit
gegen sozialen Stress immunisiert. Bei
unserem Test sehen sie dann nicht nur den
kritischen Prüfer im Kittel, sondern einen
sern. In manchen Bereichen finden wir modernen Gesellschaft viele am stärksten: Menschen wie dich und mich.
allerdings keine Unterschiede, etwa beim Wir fürchten heute kaum noch Hunger Eine Partnermeditation ist eher
Körpergewahrsein. Das wird von Monat und Kälte, sondern vor allem, von anderen ungewöhnlich. Warum haben Sie diese
zu Monat besser, egal was man gerade kritisiert zu werden und ihren Anforderun- Form gewählt?
trainiert, denn jede Kontemplation fängt gen nicht zu genügen. Um diese soziale Wir wollten ja in den Modulen „Affekt“
mit einer Besinnung auf den Körper an. Stressreaktion zu testen, mussten unsere und „Perspektive“ gezielt soziale Kompe-
Auch die Konzentrationsfähigkeit hat sich Teilnehmer vor streng blickenden Prüfern tenzen schulen, also das Wir. Das machen
nicht nur nach dem Modul „Präsenz“ einen Bewerbungsvortrag halten und rück- auch manche klassischen Meditationen,
deutlich gesteigert, sondern ebenso nach wärts rechnen. Diejenigen, die zuvor drei aber dabei stellt man sich andere Men-
dem Mitgefühlsmodul „Affekt“. Schließ- Monate meditiert hatten – und zwar ganz schen nur vor. Das ist nicht immer einfach.
lich geht es in beiden Modulen darum, die egal, was –, fühlten sich dabei weniger ge- Unsere dyadischen Übungen schulen da-
Aufmerksamkeit zu fokussieren – mal auf stresst als die Teilnehmer einer Kontroll- gegen den direkten, alltäglichen Umgang
Atmung und Körper, mal auf Gefühle und gruppe, die gar nicht meditiert hatten. Das mit anderen. Die Teilnehmer lernen, sich
Gedanken. war zumindest ihre subjektive Einschät- im Verhältnis zu anderen zu reflektieren,
Welche Übungen wirken denn am zung in Fragebögen – und uns aus der ob auf emotionaler oder auf kognitiver
besten gegen Stress? MBSR-Forschung bereits bekannt. Wir Ebene. Schließlich tut es ihnen selbst auch
Wir haben unterschiedliche Formen von wollten jedoch auch wissen, ob sich das gut, wenn ihnen jemand wohlwollend zu-
Stress untersucht, darunter den sozialen. ebenso in der biologischen Stressreaktion hört – ohne zu bewerten oder Ratschläge
Diese Daten haben wir kürzlich publiziert. niederschlägt. Dazu haben wir vor und zu erteilen. Dadurch entwickeln sie ein
Unter sozialem Stress leiden in unserer nach der Prüfung im Blut das Stresshor - immer größeres Gefühl von Nähe und
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Zusammengehörigkeit. Sie sind zuneh gekommen, dann habe ich bestimmt wie nerer Körpervorgänge wie des Herzschlags.
mend bereit, Persönliches zu teilen, auch der viel zu schnell geredet und keine voll Sie ist wichtig, um sich der eigenen Ge
Unangenehmes. ständigen Sätze zusammengebracht ...“ fühle bewusst zu werden. Da konnten wir
Weil sie einander immer besser Was lernen wir beide bei der Übung? erst nach sechs Monaten nennenswerte
kennenlernen? Sie als Zuhörerin müssen herausfinden, Veränderungen messen.
Eigentlich nicht, denn die Dyadenpartner aus welchem Persönlichkeitsanteil heraus Verändert sich in so kurzer Zeit
wechseln jede Woche. Es geht hier nicht ich spreche. Sie versetzen sich also in mei auch schon das Gehirn, oder muss ich
um klassische Freundschaften, sondern um ne Perspektive, vollziehen meine Glau dazu wie ein buddhistischer Mönch
die Stärkung der „Common Humanity“, benssätze nach und versuchen daher, mein Tausende Stunden meditiert haben?
der geteilten Menschlichkeit. Durch die Handeln besser zu verstehen. Und ich Nein, wir konnten eindrucksvoll zeigen,
Dyaden fühlen sich die Teilnehmer im lerne, wie sich mein Denken und Handeln dass die Großhirnrinde auch bei Anfän
Laufe der Zeit generell anderen Menschen anders einfärbt – je nachdem, mit welchem gern bereits nach drei Monaten mentalen
verbundener. Das ist spannend, weil wir inneren Anteil ich mich gerade identifi Trainings dicker wird – und zwar jeweils
aus der Forschung wissen, dass Menschen, in den Arealen, die in dieser Zeit beson
die sich einsam fühlen, eher krank werden tion immer wieder wechsele, trainiere ich ders oft aktiviert wurden. Jedes Trainings
meine Ich Flexibilität: Ich erkenne auch modul verändert also andere synaptische
ben. Für sie könnte es therapeutisch nütz im Alltag leichter, durch welche Anteils Verbindungen, ähnlich wie wir beim Sport
lich sein, mit dieser Form der Meditation brille ich gerade schaue – und kann sie gezielt durch spezifische Übungen unsere
die Erfahrung von sozialer Verbundenheit schneller wieder wechseln. Unsere Studie Bein oder Rückenmuskulatur verbessern
zu trainieren. zeigt: Je genauer ich meine inneren Per können. Wenn ich mich zum Beispiel je
Warum gibt es unterschiedliche sönlichkeitsanteile kenne, desto besser den Tag innerlich auf Mitgefühl und Dank
kann ich mich in andere hineinversetzen. barkeit ausrichte, dann verändert sich da
übernahme? Interessant ist auch, dass dieser Effekt durch nicht nur mein Verhalten, sondern
Unser Mitgefühl bezieht sich stark auf dann besonders stark ist, wenn ich mir und auch mein Gehirn, und zwar in Netzwer
Menschen, die uns nahestehen, das hat meinem Gegenüber auch meine negativen ken, die diese sozio emotionalen Prozesse
sich evolutionär so entwickelt. In unserer oder verletzlichen Seiten eingestehe. verarbeiten. Während des Moduls „Perspek
globalisierten Welt müssen wir jedoch Je länger ich meditiere, desto stärker tive“ wiederum verändern sich Regionen,
auch lernen, diejenigen zu akzeptieren sind also die Effekte? die für die Perspektivübernahme wichtig
und zu verstehen, die uns fremd sind, die In den meisten Bereichen ja, nur die Auf sind. Wir können also durch kurzes tägli
andere religiöse oder politische Überzeu merksamkeit ließ sich nach drei Monaten ches mentales Training selektiv die „Hard
gungen haben. Wir müssen also beides kaum noch weiter steigern. Was erstaun ware“ unseres sozialen Gehirns verändern.
trainieren: mit dem Modul „Affekt“ unser lich viel Zeit braucht, ist die Verbesserung Und das bei im Mittel über Vierzigjähri
Mitgefühl, mit dem Modul „Perspektive“ der Interozeption, der Wahrnehmung in gen – also Menschen in einem Alter, in
unsere Fähigkeit, uns in andere hineinzu dem, wie man bisher annahm, die graue
denken – in der Psychologie „Mentalisie Substanz, wenn überhaupt, eher dünner
ren“ oder „Theory of Mind“ (ToM) ge TI PP S und nicht dicker wird.
nannt. Dabei sind im Gehirn weitgehend
andere Areale aktiv als beim Mitgefühl. Meditieren lernen effekte an?
Das Training für diese Form von Das müssen wir noch auswerten. Aber
Perspektivenwechsel haben Sie eigens Das ReSource-Training gibt vermutlich ist auch das wie beim Sport:
entwickelt. Wie funktioniert es? es bisher nicht als Kurs. Wenn man nichts für seine Fitness tut,
Die Teilnehmer machen sich bewusst, dass Anbieter für Stressbewälti werden die Muskeln schwächer.
sie verschiedene Persönlichkeitsanteile in gung durch Achtsamkeit Kann sich zukünftig jeder je nach
sich tragen, eine Art „innere Familie“: zum (MBSR) und Bedarf eine Übung aus dem ReSource
Beispiel das verspielte Kind, die Richterin, basierte kognitive Therapie Projekt herauspicken?
strenge Lehrerin, gestresste Managerin ... (MBCT) finden sich beim Es wäre besser, in einer sinnvollen Abfol
MBSR-MBCT-Verband (www.
In der Partnermeditation, der Dyade, be ge alle Techniken zu erlernen. Denn auch
mbsr-verband.de), Übungen
schreiben sie dann Alltagserlebnisse aus wenn man sie einzeln trainiert – am Ende
und Informationen zu
einer dieser Rollen heraus. Mitgefühl in einem kosten -
ergänzen sie sich: Wenn ich Skifahren
Wie würden Sie dann zum Bei losen E-Book von Tania lerne, trainiere ich zwar auch erst einen
spiel dieses Interview aus der Rolle Ihrer Singer (www.compassion- Schneepflug, dann einen Bogen – aber
„inneren Richterin“ heraus erzählen? training.org). Einen seriösen nachher kombiniere ich alle Einzelteile.
Ich würde mein Verhalten, meine Gedan Einstieg in die Achtsamkeits - In unserem Alltag brauchen wir auch alles:
ken und Gefühle während des Interviews meditation bieten auch die Achtsamkeit, Mitgefühl und den Perspek
meist verurteilen: „Erst bin ich zu spät Apps Balloon (deutsch) und tivenwechsel.
Headspace (englisch).
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