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Nr. 48 / 23.11.

2019
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Betr.: Magnitski, Morales, Mbappé, SPIEGEL Ed, SPIEGEL GESCHICHTE
kaufmännischen Abläufen.
Vor zehn Jahren starb der Steuerexperte Sergej Magnitski in russischer Haft. Sein
Chef, der frühere Milliardeninvestor und einstige Putin-Anhänger Bill Browder, schil-
dert den Fall seither als perfides politisches Mordkomplott – und hat US-Sanktionen
gegen russische Beamte erwirkt. Magnitski wurde sogar zum Namensgeber eines
Gesetzes, das Menschenrechtsverletzungen ahndet. Doch ist die Geschichte wahr,
die Browder schildert? Redakteur Benjamin Bidder und Dokumentarin Anika Zeller
werteten über Monate unzählige Akten aus und haben Zweifel an Browders Dar-
stellung. Bidder traf Magnitskis Moskauer Anwalt bereits 2009, und »schon damals
stimmte Browders Darstellung nur in Teilen mit den Fakten überein«, sagt er. Die
Story wirke »nur eindeutig, solange man alle Details außer Acht lässt«. Seite 66

Als Korrespondent Jens Glüsing 2006 zum ersten


JORDI RUIZ CIRERA / DER SPIEGEL

Mal den damaligen bolivianischen Präsidenten Evo


Morales interviewte, ließ der sich im Regierungspalast
von La Paz vor einem Che-Guevara-Porträt aus
Kokablättern fotografieren. Damals war der ehema-
lige Kokabauer auf dem Zenit seiner Macht. Vergan-
gene Woche traf Glüsing Morales im mexikanischen
Exil wieder – dorthin war er geflüchtet, nachdem das
Glüsing, Morales Militär ihn zum Rücktritt gedrängt hatte. Er habe Heim-
weh, bekannte Morales, doch die Lage in Bolivien
sei vorerst zu gefährlich. Auch zum Termin erschien er im gepanzerten SUV mit vier
Leibwächtern. »Morales kam eine Dreiviertelstunde zu früh«, sagt Glüsing, »offenbar
hat er gerade viel Zeit.« Auf die Frage nach seiner Zukunft scherzte der Politiker:
»Vielleicht nimmt mich ja eine Nichtregierungsorganisation unter Vertrag.« Seite 78

Der Franzose Kylian Mbappé gilt derzeit


als wertvollster Spieler der Welt. Längere
JEROME BONNET / DER SPIEGEL

Interviews mit ihm sind die absolute Aus-


nahme. Redakteurin Antje Windmann und
ihre Kollegin Petra Truckendanner trafen
den Superstar in Paris, sprachen mit ihm
am Rande eines Sponsorentermins über
Kindheitsträume, Selbstvertrauen und Mo-
mente des Zweifels. Bei dem Termin rührte
Mbappé mit Kindern Teig für Kekse mit Windmann, Mbappé, Truckendanner
wenig Zucker an. Gesunde Ernährung liegt
dem Sportler am Herzen, eine Küche scheint für ihn aber kein vertrautes Terrain zu
sein. »Ich weiß nicht, wie oft er schon einen Schneebesen in der Hand hatte«, sagt
Windmann, »mit einem Ball kann er definitiv besser umgehen.« Seite 96
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SPIEGEL-Journalisten in die Schulen. Begleitend gibt es den
Newsletter »Kleine Pause«. Unter www.spiegel-ed.de findet sich
Material zu Themen wie Pressefreiheit, Cybermobbing oder Fil-
Digital-schafft-Perspektive.de
terblasen. Das neue SPIEGEL GESCHICHTE wiederum beschäftigt
sich mit dem Adel. Die Diskussion um eine Millionenentschädi-
gung für die Hohenzollern zeigt, wie lebendig das Thema bis heute
ist. Doch wie entstand der Adel? Welche Rolle spielt er noch heute?
Antworten auf diese Fragen gibt das Heft »Der Adel – Zum Herr-
schen geboren?«. Es erscheint am Dienstag.

DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019 5


Inhalt
73. Jahrgang | Heft 48 | 23. November 2019

Titel Karrieren Warum Annegret


Kramp-Karrenbauer im
Medizin Forscher knacken Verteidigungsministerium
erstmals den Code beliebter ist als in ihrer
des Alterns – ihr Ziel: Partei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
die ewige Jugend . . . . . . . . . . 104
Intensivtäter Die deutschen
Behörden wollen sich
Deutschland nicht länger vom Bremer
Clanchef Ibrahim Miri
Leitartikel Warum die vorführen lassen . . . . . . . . . . . . 38
deutsche Passivität gegenüber
der Europäischen Union Missbrauch Ein Mann aus
gefährlich ist . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Mannheim soll sich an

RYAN SCHUDE / GUINNESS WORLD RECORDS


Kindern auf den Philippinen
Meinung Die Gegen- vergangen haben . . . . . . . . . . . 42
darstellung / So gesehen:
Die Regeln der EM 2020 . . . . 12 Prozesse Eine vermögende
Witwe adoptiert den
Radikale künftig legal in Lebensgefährten ihrer Bank-
die AfD? / SPD-Frauen beraterin – ein Fall von
fordern Gratiskondome / Erbschleicherei? . . . . . . . . . . . . 44
FDP für Sterbehilfe . . . . . . . . . 14

Union Trotz Kanzlerin und Reporter


Parteichefin schafft die Adieu, Tod
CDU es nicht, weiblicher Familienalbum / Sind Schei-
zu werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Wäre es nicht zauberhaft, wir blieben für dungen zu kompliziert? . . . . 46
immer jung – ein Traum? Was lange undenkbar war,
Wahlen Thüringen wird rückt jetzt in den Bereich des Vorstellbaren: Eine Anzeige und ihre Geschichte
zum Testlabor für Parlamente Warum ein Hamburger
ohne Mehrheiten . . . . . . . . . . . 22
Forschern gelang es, die Lebensuhr von Mäusen Single eine irre Kennenlern-
anzuhalten – und ihren Lauf sogar umzukehren. anzeige schaltete . . . . . . . . . . . . 47
SPD Der engste Vertraute Nun wollen sie am Menschen experimentieren. Seite 104
von Vizekanzler Olaf Scholz Mythen Borussia Mönchen-
wird zum Problem . . . . . . . . . . 24 gladbach muss moderner
werden – doch wie bringt
Aktivismus SPIEGEL- man das den nostalgischen
Gespräch mit Roger Hallam, Fans bei? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
dem Mitinitiator von
»Extinction Rebellion«, Mein Fall Tod im Bach . . . . . . 54
über seine Holocaust-
Vergleiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
Wirtschaft
Klima Die Union sucht
JENS-JESKE.DE

nach Alternativen zu Deutsche spenden Milliarden /


den unbeliebten Windkraft- EC-Karte soll auch in
anlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Bahn-Bistros funktionieren 56

Führung Eine Psychologin Finanzmärkte Die Propheten


erklärt, wie Doppelspitzen Die Männerpartei des nächsten Börsencrashs
in Parteien funktionieren werden von ihrem Publikum
können . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Die Union hat starke Frauen an der Spitze – bejubelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
aber darunter: fast nur Männer.
Finanzen Eine Reform Verlage Die vielfältigen Ge-
Die Frauen Union fordert daher eine Quote.
des Steuerrechts könnte schäftsbeziehungen des Eigen-
das Engagement Kann eine solche Regelung helfen, tümers der »Berliner Zeitung«
in Vereinen lähmen . . . . . . . . . 33 mehr Frauen in die Parlamente zu bringen? Seite 18 geraten in die Kritik . . . . . . . . 62

6 DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019


Autoindustrie Tesla blamiert Transsexualität Anton war
sich bei der Bergung eines früher ein Mädchen – das
ausgebrannten E-Autos . . . . . 64 stellt seinen Fußballverein
vor einige Fragen . . . . . . . . . . . 99
Kampagnen Die Magnitski-
Sanktionen der USA
beruhen auf einer zweifel- Wissenschaft
haften Geschichte . . . . . . . . . . . 66
Jungkrokodile einer fast ver-
Konzerne Der bizarre Kampf loren geglaubten Art entdeckt /
zweier Manager um Osram 72 Wetterkapriolen auf Grönland /
Einwurf: Warum ein hohes
Gehalt der Frau die Seele ihres
Ausland Mannes schmerzt . . . . . . . . . . 102

Israels Premier Netanyahu Umwelt Zigarettenkippen sind

DPA PICTURE-ALLIANCE
wird angeklagt, und dem Land ein globales Müllproblem –
drohen Neuwahlen / Islamis- nun wehren sich die Städte 116
tische Terroristen gewinnen an
Einfluss in Burkina Faso . . . . 76 Medikamente Ein Pharma-
kologe erklärt, wie wirkungs-
Bolivien SPIEGEL-Gespräch lose Wunderpillen und
mit dem geflohenen »Ich hasse Gruppendenken« Zaubertinkturen ganz legal
Ex-Präsidenten Evo Morales zugelassen werden . . . . . . . . 118
über den Vorwurf der Die französische Schauspielerin Fanny Ardant
Wahlfälschung . . . . . . . . . . . . . . 78 ist in diesem Jahr 70 Jahre alt geworden.
Im SPIEGEL spricht sie darüber, warum sie keine Kultur
USA Wie die Republikaner
sich in der Impeachment- Angst vorm Tod hat, Political Correctness hasst Kino-Comeback von Jennifer
Affäre vor Präsident und noch immer an Abenteuer glaubt. Seite 128 Lopez / Neues Album des Tech-
Donald Trump stellen . . . . . . 82 noproduzenten Shed / Kolum-
ne: Besser weiß ich es nicht 120
Iran Augenzeugen berichten,
wie brutal das Regime gegen Restitution Kolonialisten
Demonstranten vorgeht . . . . 84 Warten auf den Absturz raubten einst die berühmten
Benin-Bronzen – werden
China SPIEGEL-Gespräch mit Seit zehn Jahren wächst die Wirtschaft, gleichzeitig diese zum Präzedenzfall für
dem Forscher Adrian Zenz ist die weltweite Verschuldung gigantisch eine Übergaberegelung? . . . 122
über die Internierung
gestiegen. Zwei Bestsellerautoren prophezeien
von einer Million Muslimen Legenden Im SPIEGEL-
in Umerziehungslagern . . . . . 86 deshalb den »größten Crash aller Gespräch erzählt Fanny
Zeiten«. Sollte man sie ernst nehmen? Seite 58 Ardant, warum sie sich
Analyse Die Rolle des nicht gesund ernähren will
britischen Prinzen Andrew und nicht wählen geht . . . . . 128
im Epstein-Skandal . . . . . . . . . 91 ANZEIGE
Literatur Botho Strauß findet
Ukraine Ein Oligarch hat in seinem neuen Buch
den Aufstieg von Präsident Wie können wir »Zu oft umsonst gelächelt«
Selenskyj unterstützt – Ressourcen schonen? zurück zu alter Form . . . . . . 132
und wird für diesen jetzt
zum Problem . . . . . . . . . . . . . . . 92 Philosophie Eine neue
Biografie beschreibt
Georg Wilhelm Friedrich
Sport Hegel als Demokraten . . . . 134

Die Erfolgsgeschichte im 71 Prozent der 20- bis 29-Jährigen kaufen mindestens Serienkritik »His Dark
deutschen Alpinski ist einmal im Monat Essen in Einwegverpackungen, dies Materials« nach der Roman-
weiblich / Magische Momente: zeigt die Sparstudie von RaboDirect. Bei der Generation reihe von Philip Pullman 138
Tennislegende Niki Pilić 60 plus sind es 14 Prozent. RaboDirect engagiert sich für
über den ersten deutschen einen bewussteren Umgang mit wertvollen Rohstoffen:
Daviscup-Triumph . . . . . . . . . 95 Wer bei uns Geld anlegt, hilft uns dabei, weltweit Projekte Bestseller . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
zu unterstützen – für Ressourcenschonung und gegen Impressum, Leserservice . . . 140
Fußball Wie der französische Lebensmittelverschwendung. Nachrufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
Star Kylian Mbappé Personalien . . . . . . . . . . . . . . . . 142
versucht, seine Boden- www.rabodirect.de Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144
haftung zu behalten . . . . . . . . 96 Hohlspiegel / Rückspiegel . . . 146

Titelfoto: GUERIN BLASK / REDUX / LAIF 7


Das deutsche Nachrichten-Magazin

Der Wicht in der Mitte


Leitartikel In der deutschen Passivität gegenüber der EU steckt eine antieuropäische Tendenz.

W
aren die Deutschen einst die besten, die glü- Chinesen abhängig machen, und dann hätten die sich in
hendsten Europäer, zählen sie heute zu den der Europäischen Union festgesetzt, als autoritäre Macht
zögerlichen. Haben sie nach dem Zweiten Welt- in einem demokratischen Kontinent. Das ist natürlich
krieg jahrzehntelang am meisten von der eu- schwarzgemalt, aber ist es deshalb unrealistisch? Dass die
ropäischen Idee profitiert, als einstige Parias, sind sie nun Chinesen langfristige Strategien verfolgen, steht außer Fra-
stark auf den eigenen Vorteil bedacht. Am schlimmsten ge. Was aber sind die langfristigen Strategien der EU oder
aber ist, dass sich die Politiker nicht mehr kümmern um der Deutschen für die EU?
dieses Europa, dass sie die Dinge laufen lassen, hinterher- In der Frage der Erweiterung gibt es keinen idealen Weg.
laufen oder einfach sitzen bleiben und zugucken, was so Es gibt nur die Suche nach dem bestmöglichen Kompro-
passiert. Als könnten sie nicht sehen, worum es jetzt geht. miss, aber damit muss man mal beginnen. Und nicht alles
In Europa und den USA wird eine Schlacht ausgetragen, den Franzosen überlassen, die zwar zunächst Nordmazedo-
die Schlacht um die liberale Demokratie. In den USA geht nien und Albanien zurückstießen, inzwischen aber einen
es dabei vor allem um den un- Stufenplan für die Aufnahme
säglichen Donald Trump. In entwickelt haben. Kein idealer
Europa ist die Sache vielschich- Plan, natürlich nicht, aber im-
tiger, weniger offenkundig, merhin ein Versuch, weiter an
aber nicht weniger gefährlich. einem Europa zu bauen, das in
Deutschland müsste dabei ganz dieser Welt bestehen kann.
vorne kämpfen, als wirtschaftli- Und versteht denn keiner
cher Hegemon, aber es wirkt von den Regierenden in Berlin,
eher wie ein Wicht, der ratlos in dass die Antwort auf die Euro-
der Mitte des Kontinents hockt. pafeindlichkeit des Rechtspopu-
Sieht denn niemand im Kanz- lismus nicht das schwache, son-
leramt oder im Außenministeri- dern das gute Europa sein
um, dass man dringend deutsch- muss? Wenn sich Staaten wie
italienische Festspiele abhalten Deutschland auf ihre nationa-
STEPHANIE LECOCQ / EPA-EFE / REX

muss, häufige Treffen auf höchs- len Positionen zurückziehen,


ter Ebene, gemeinsame Projek- lässt das die EU schlecht ausse-
te? Denn Italien stand schon auf hen, was die Europafeindlich-
der Kippe, schien ins illiberale keit im rechten Spektrum wei-
Lager zu fallen, geschubst vom ter befeuert. Die Bundesregie-
Innenminister Matteo Salvini, rung muss im Gegenteil daran
bis der sich verrechnete und die arbeiten, dass die europäischen
liberale Demokratie eine neue Ideen und Institutionen die Bür-
Chance bekam. Eine Chance, ger überzeugen. Gibt es dafür
die Deutschland nutzen müsste, gute Konzepte? Gibt es nicht.
aber gerade verpasst. Salvini arbeitet derweil an seiner Dabei zeigt auch die Krise der Nato, wie wichtig die EU
Rückkehr. Und mag sich jemand vorstellen, wie das wäre, für Deutschland ist. Bislang hat sie sich für ihre Sicherheit
würde er Italien in eine illiberale Demokratie verwandeln? auf das Verteidigungsbündnis und darüber hinaus auf die
Das wäre ein gravierenderer Fall als Ungarn oder Polen; Schutzmacht USA verlassen. Beide Schilde zeigen Risse.
zusammen wären sie ein antidemokratischer Keil in der Wie will sich die liberale Demokratie nach außen vertei-
Europäischen Union, der Kraft entfalten könnte. digen, sollte es mal schlimm kommen? Es braucht ein euro-
Und sieht denn niemand im Kanzleramt oder im Außen- päisches Verteidigungskonzept, möglichst mit den Briten.
ministerium, wie wichtig die Frage der Erweiterung der Das ist ein altes Lied, oft gesungen. Aber es sollte einen
Europäischen Union ist? Nordmazedonien und Albanien nicht anöden, sondern aufregen, dass es immer noch gesun-
klopfen an die Tür, und es ist bestimmt fraglich, ob das lu- gen werden muss. Weil wieder nichts gemacht wurde.
penreine Demokratien sind. Aber wenn man sie draußen In der deutschen Passivität steckt eine antieuropäische
lässt, könnten sie China in die Arme fallen, zur Freude der Tendenz, nur gut zwanzig Jahre nach dem Abtritt von
Chinesen, die sich dann auf dem europäischen Kontinent Kanzler Helmut Kohl. Das Argument seiner Generation
festgesetzt hätten. Die Russen warten ebenfalls schon. war die Überwindung der Feindseligkeit. Heute geht es
Es könnte allerdings auch problematisch sein, diese bei- darum, den Kontinent als Zentrum der liberalen Demokra-
den Länder einfach so aufzunehmen. Denn es könnte sein, tie zu erhalten. Das hat eine ähnliche Wucht und verdient
dass sie sich trotzdem wirtschaftlich und politisch von den eine ähnliche Anstrengung. Dirk Kurbjuweit

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Meinung So gesehen

Wie ins Finale?


Die Regeln der EM 2020
Alexander Neubacher Die Gegendarstellung
G Mit großer Erleichterung haben
Raumausstatter des Todes Fußballfans in ganz Deutschland auf
den Einzug der Fußballnational-
mannschaft der Herren in die End-
Nach Hartz und Rente wird Gardinen, tödliche Tapeten: Das hat runde der Europameisterschaft 2020
wieder eine Reform der die Große Koalition überzeugt. reagiert. Noch allerdings herrscht in
Ära Gerhard Schröder Für die Lobbyisten ist es ein großer der Bevölkerung große Verunsiche-
zurückgedreht. Diesmal Sieg. Seitdem 2004 die rot-grüne rung über den weiteren Verlauf des
von den Konservativen. Bundesregierung die Meisterpflicht Turniers, weil niemand die neuen
CDU und CSU wollen die in einigen Gewerken abgeschafft hat, Regeln der Uefa für die Gruppenaus-
Meisterpflicht fürs Handwerk mussten sich die Handwerker einem losung versteht. Deshalb hier noch
teilweise wieder einführen; die SPD härteren Wettbewerb stellen. Die Zahl einmal ganz langsam:
hat nichts dagegen. der Raumausstatterbetriebe hat sich Deutschland ist für die Auslosung
Betroffen sind zwölf Gewerke, da- von knapp 9000 auf fast 29 000 mehr im Topf 1 gelandet. Als Gastgeber
runter Fliesen-, Estrich- und Parkett- als verdreifacht. Ähnliches passierte spielt die Mannschaft garantiert drei-
leger, Rollladentechniker und Holz- in den anderen befreiten Branchen. mal in München und wie bei der
spielzeugmacher. Auch die Raumaus- Die Neulinge hatten zwar keinen WM 2018 in der Gruppe F, Letzteres
statter werden wohl bald schon wieder Meister, waren aber nicht unbedingt wird allgemein als glückliches Omen
einen Meisterbrief benötigen, wollen schlechter als die Etablierten und
sie sich selbstständig machen. Bundes- dabei oft billiger.
wirtschaftsminister Peter Altmaier Für die Kunden war der Wettbe-
erklärte den Grund: »Wir tragen der werb günstig, für die Handwerker-
besonderen Gefahrgeneigtheit gegen- lobby nicht. Sie nutzte ihre Kontakte
über Dritten Rechnung.« zum sogenannten Wirtschaftsflügel
Sollten Sie sich als Dritte nun fragen, der Union und forderte die alte Regel
welche besondere Gefahrgeneigtheit zurück: Wettbewerb in der Markt-
von einem Raumausstatter ausgeht, wirtschaft ist gut, aber nur, wenn er
der Ihnen ohne Meisterbrief Tapeten die anderen trifft. Für die Bürger wird
aussucht, Gardinen aufhängt und Ihr es nun noch schwieriger, einen Hand-
neues Sofa bezieht: Hier verlässt sich werker zu finden. Als Alternative gedeutet. Dort trifft die deutsche
die Politik auf die Handwerkerlobby. bleibt Selbermachen. Vorsicht: Unter- Elf dann auf entweder Frankreich,
Der Raumausstatter-Verband schrieb, schätzen Sie nicht die Gefahr, die von Polen, die Schweiz oder Kroatien
man habe bei der Arbeit mit »häufig Ihrer Gardine ausgeht. sowie auf Portugal, die Türkei, Öster-
verwendeten Lösungsmitteln« zu tun. reich, Schweden, Tschechien, Wales
Außerdem könne »fehlende Kenntnis« An dieser Stelle schreiben Alexander Neubacher oder Finnland. Auch mögliche Grup-
zu Schimmelbildung führen. Giftige und Markus Feldenkirchen im Wechsel. pengegner sind die potenziellen
Play-off-Sieger Island, Bulgarien, Is-
rael, Ungarn, Norwegen, Serbien,
Georgien, Weißrussland, Nordmaze-
donien oder Kosovo, falls diese bei
der Play-off-Auslosung nicht in einen
anderen Pfad gezogen werden und
der fünfköpfige Uefa-Dringlichkeits-
ausschuss noch einmal alles ganz
anders entscheidet. Zu beachten sind
auch das Play-off-Heimrecht und die
Gastgeberverteilung.
Immer noch nicht verstanden?
Auch das ist kein Problem. Zur Qua-
lifizierung will die Uefa gerade noch
rechtzeitig Intensivlehrgänge für
Fußballfans anbieten. Bei den Spie-
len selbst setzt man dann zum Aus-
gleich auf radikale Vereinfachung,
hier soll ausschließlich die von Franz
Beckenbauer aufgestellte Hauptregel
Anwendung finden: »Es gibt nur
eine Möglichkeit: Sieg, Unentschie-
den oder Niederlage.«
Stefan Kuzmany

12 DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019


Deutschland
»Die Eliten haben die bewusste Entscheidung getroffen, die nächste Generation zu zerstören.« ‣ S. 26

PAUL ZINKEN / PICTURE ALLIANCE / DPA


Demonstration der
Identitären Bewegung in Berlin

Rechte

Extremisten künftig legal in der AfD?


Auf dem Parteitag soll über die Abschaffung der Unvereinbarkeitsliste abgestimmt werden.

 Parteigänger der AfD versuchen, die Liste der extremistischen mistischen Gruppen mussten AfD-Anwärter aber schon immer
Organisationen abzuschaffen, die mit einer AfD-Mitgliedschaft angeben. Eingebracht wurden die Anträge unter anderem von Ste-
unvereinbar sind. Entsprechende Anträge wurden für den Bundes- fan Räpple, einem baden-württembergischen AfD-Landtagsabge-
parteitag kommende Woche eingebracht. Auf der Unvereinbar- ordneten, der dem völkischen »Flügel« angehört und gegen den
keitsliste stehen alle extremistischen Gruppen, über deren Mitglied- ein Parteiausschlussverfahren läuft. Räpple nennt die Liste ein
schaft AfD-Anwärter bei ihrer Aufnahme Auskunft geben müssen. »Satzungs-Relikt aus der Lucke-Zeit«. Sollte sie nicht abgeschafft
Verschweigt ein Kandidat die Auskunft, kann sein Landesvorstand werden, möchte er zumindest die vom Verfassungsschutz beobach-
die AfD-Mitgliedschaft aufheben. Das Thema hat aktuelle Brisanz tete »Identitäre Bewegung« von der Liste streichen lassen, damit
durch den AfD-Bundesvorstand Andreas Kalbitz, der vor seiner diese »nicht stigmatisiert« werde. Bei den Parteivorderen haben
Zeit in der Partei Mitglied bei der »Jungen Landsmannschaft Ost- die Anträge Unruhe ausgelöst. »Die Anträge haben meines Erach-
preußen« war, deren Nachfolgeorganisation auf der Unvereinbar- tens keinerlei Chance auf eine Mehrheit auf dem Parteitag, und das
keitsliste der Partei steht (SPIEGEL 46/2019). Ob Kalbitz dies bei ist auch richtig so«, sagt Parteichef Jörg Meuthen. »Die AfD ist für
seiner AfD-Bewerbung angab, ist unklar. Damals gab es die Unver- ihre offenen Debatten bekannt«, so Fraktionschefin Alice Weidel,
einbarkeitsliste zwar noch nicht, frühere Mitgliedschaften in extre- die Anträge halte sie aber für »kontraproduktiv«. AKM

#MeToo als Parlament mit dem Problem auseinan- kommission soll nun prüfen, wie diese
dersetzen«, sagt der SPD-Abgeordnete Hürde überwunden werden kann. In einer
Beschwerdestelle für Frank Schwabe. Geplant sei ein interfrak- Studie der Interparlamentarischen Union
Abgeordnete tioneller Antrag und eine Debatte im Par- im Jahr 2018 unter weiblichen Abgeordne-
lament. Einer der Gründe, weshalb es ten und Mitarbeiterinnen in 45 europäi-
 Ein Bündnis aus Abgeordneten von eine derartige Anlaufstelle noch nicht gibt, schen Ländern hatten mehr als zwei Drit-
CDU, SPD, Grünen und Linken fordert ist die unterschiedliche juristische Natur tel der Befragten angegeben, im Rahmen
eine zentrale Beschwerdestelle für Fälle von Abgeordnetenbüros einerseits, Bun- ihrer parlamentarischen Arbeit Zielschei-
von sexueller Belästigung im Bundestag. destagsfraktionen und Bundestagsverwal- be sexistischer Bemerkungen geworden
»Es ist dringend notwendig, dass wir uns tung andererseits. Die Rechtsstellungs- zu sein. RED

14 DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019


Verkehrsplanung men – aber die Bahntrasse vor der Haus- Unternehmenskriminalität
tür lehnen sie oft ab.
»Jeder kämpft für seine Nestle: Wenn der Bundesverkehrswege-
GroKo-Krach um
Umgehungsstraße« plan so zielorientiert wäre wie die Pla- Strafrecht
nung unserer Stromnetze, könnte man
Ingrid Nestle, 41, Sprecherin für Energie- die Menschen eher dafür gewinnen. An  Das Bundesjustizministerium möch-
wirtschaft der Grünen-Bundestagsfrak- der Westküste von Schleswig-Holstein ist te künftig im Rahmen der Bekämpfung
tion, erklärt, wie Deutschland schneller zu das gelungen. Da konnten die Bürger von Unternehmenskriminalität sogar
neuen Bahntrassen kommen könnte. eigene Lösungen in die Planung der neu- »nicht rechtsfähige« Vereine strafrecht-
en Höchstspannungstrasse für den Wind- lich verfolgbar machen. Das geht aus
SPIEGEL: In der Union gibt es Pläne, zur strom einbringen; das hat die Zeit sogar einem Gesetzentwurf von Justizminis-
Beschleunigung großer Infrastrukturpro- verkürzt. So wird etwa eine 110-Kilovolt- terin Christine Lambrecht (SPD) her-
jekte das Parlament entscheiden zu lassen, Leitung vergraben, die nichts mit dem vor. Die fast 70 Paragrafen des geplan-
ähnlich wie in Dänemark. Außerdem soll Projekt zu tun hatte, als Ausgleichsmaß- ten Gesetzes ermöglichen nun aus-
das Klagerecht von Umweltverbänden nahme. Darauf wäre kein Netzplaner von drücklich die Verfolgung sogar von
beschränkt werden. Was sagen Sie dazu? sich aus gekommen. Gruppen, die nicht einmal im Vereins-
Nestle: Unser Haus brennt, wie Greta SPIEGEL: Warum ist der Bundesverkehrs- register stehen. Bislang können nur
Thunberg richtig sagt, und deshalb müs- wegeplan nicht klimafreundlich? Menschen strafrechtlich verfolgt wer-
sen klimarelevante Vorhaben Nestle: Weil jeder Abgeordnete den, Unternehmen oder Vereine nicht.
schneller realisiert werden. Lei- für die Umgehungsstraße in Für sie gilt das Ordnungswidrigkeiten-
der erweist die CDU dieser Not- seinem Wahlkreis kämpft, bis recht. Die Staatsanwaltschaft ist nur
wendigkeit einen Bärendienst: das Budget verbraucht ist. beteiligt, wenn die Ordnungswidrig-
Sie sieht keine ernsthafte Bürger- Anstatt dass man erst mal über- keit zugleich eine Straftat ist; als
beteiligung vor und sagt nicht, legt: Was braucht ein Verkehrs- Beschuldigter muss stets eine natürli-
welche Projekte warum drin- plan 2030, wie viele Straßen, che Person gefunden werden. Die Ein-
BINA ENGEL

gend sind. wie viele Bahnstrecken, wie führung eines Unternehmensstraf-


SPIEGEL: Aber auch Sie möchten viel muss geflogen werden? rechts gilt der SPD als Herzensangele-
Bauvorhaben beschleunigen? Diese Bedarfe müssen dann mit genheit. Allerdings geht der Entwurf
Nestle: Ja. Wir brauchen dringend neue den Klimazielen in Einklang gebracht der Justizministerin über den Koali-
Schienenstrecken. In den Stoßzeiten sind werden. tionsvertrag hinaus, da er das neue
die Züge heute schon voll, und auf die SPIEGEL: Schwer genug … Gesetz »aus Gründen der Gleichbe-
Schienen passen nicht mehr Züge. Dass Nestle: … aber nötig. Anschließend müs- handlung« ausweitet – sogar auf
neue Bahntrassen bis zu 20 Jahre Vorlauf sen standfeste Politiker die Pläne vor Ort Gesellschaften des öffentlichen Rechts.
brauchen, ist unhaltbar. mit den Bürgern diskutieren und Verbes- Die rechtspolitische Sprecherin der
SPIEGEL: Was schlagen Sie vor? serungsvorschläge aufgreifen. Dann hätte CDU/CSU, Elisabeth Winkelmeier-
Nestle: Vor dem »wie« kommt das »ob«. man eine ganz andere Legitimation als Becker, äußert sich höchst verärgert.
Der Bundesverkehrswegeplan ist extrem heute. Im Koalitionsvertrag habe man nur
intransparent und laut Umweltministe- SPIEGEL: Und der Bundestag bleibt dann vereinbart, dass Unternehmen bei
rium nicht mit den Klimazielen vereinbar. außen vor? erheblichen Wirtschaftstraftaten
Wie will man die Bürger für einen sol- Nestle: Sagen wir mal so: Wenn die Bürger belangt werden sollen: »Darauf sollte
chen Plan begeistern? vorher angemessen beteiligt wurden, kann sich der Gesetzentwurf dann auch
SPIEGEL: Bürger wollen zwar schnell und auch ich mir bei Schlüsselprojekten eine fokussieren und nicht auch noch Kom-
umweltfreundlich von A nach B kom- stärkere Rolle des Parlaments vorstellen. AB munen oder Vereine einbeziehen.«
Auch die Regelungen zu Auslandstaten
gehen der Unionsexpertin zu weit.
»Wenn etwa ein US-Konzern in Kana-
gewählten Verhütungsmethode. da eine Straftat begeht, muss das nicht
»Wir wollen eine Debatte darü- die deutschen Ermittlungsbehörden
ber anstoßen, dass Verhütung auf den Plan rufen, nur weil es auch
und Schutz vor sexuellen einen Sitz in Deutschland gibt.« Da die
Krankheiten nicht vom Geld- Staatsanwaltschaften zudem stets ver-
beutel abhängen können«, sagt pflichtet wären, jedem Verdacht nach-
die ASF-Vorsitzende Maria zugehen, fürchtet die Justiz Überlas-
Noichl. Die Sozialdemokratin- tung. »Die mit dem neuen Gesetz vor-
nen wünschen sich zudem gesehene Ermittlungspflicht dürfte zu
einen kostenlosen Zugang zu einem deutlichen Zuwachs an aufwen-
IMAGO

anonymen Beratungsgesprä- digen Verfahren bei den Staatsanwalt-


chen, um das richtige Verhü- schaften und Gerichten führen«, kriti-
SPD tungsmittel zu wählen, und mehr Aufklä- siert Sven Rebehn, Bundesgeschäfts-
Verhütung rung in Schulen. Zur Begründung heißt es führer des Deutschen Richterbunds.
in dem Antrag, das Anrecht auf einen »Mit den aktuellen Ressourcen der
 Die SPD spricht sich dafür aus, dass kostenfreien Schutz vor sexuell übertrag- Strafjustiz ist das nicht zu bewältigen.«
Kondome künftig kostenlos sein sollen. baren Krankheiten und ungewollten Rebehn warnt: »Soll die geplante Neu-
In einem Antrag für den Parteitag Schwangerschaften sei eine gesellschaftli- regelung in der Praxis greifen, braucht
Anfang Dezember fordert die Arbeitsge- che Selbstverständlichkeit. Die Antrags- es zusätzliches Personal und eine wei-
meinschaft Sozialdemokratischer Frauen kommission der SPD empfiehlt den tergehende Spezialisierung im Bereich
(ASF) einen Gratiszugang zur jeweils Antrag zur Annahme. CTE, HIC, VME der Wirtschaftskriminalität.« AMA

15
leisten dürfen, so der Terrorismus
Helling-Plahr Entwurf. Der Gesetz-
geber müsse dabei
»Landshut« ohne Museum
sicherstellen, dass »ein  Der Entdecker des Wracks der
Mensch wirklich frei »Landshut« ermahnt die Regierung, eine
und eigenverantwort- Ausstellung für das 1977 in Mogadischu
lich« entscheiden kön- gestürmte Flugzeug zu finanzieren. Zur
ne, aus dem Leben zu Halbzeitbilanz der GroKo gehöre, dass
scheiden. Die FDP will »in Sachen Erinnerungsort Lufthansa-
so für mehr Rechts- Maschine ›Landshut‹ nichts passiert ist«,
sicherheit sorgen. Seit schreibt der Historiker Martin Rupps an
einer Neuregelung im die Mitglieder von Union und SPD im
Jahr 2015 sind Ärzte Kulturausschuss. Im Koalitionsvertrag
verunsichert, weil die hatte die GroKo Mittel versprochen.
»geschäftsmäßige« Sui- Rupps, der das Flugzeugwrack in Brasi-
zidassistenz unter Stra- lien entdeckte und den damaligen

CHRISTIAN SPICKER / IMAGO


fe steht. Die FDP Außenminister Sigmar Gabriel (SPD)
schlägt ein mehrstufiges dazu brachte, es nach Deutschland zu
Verfahren vor: holen, macht Monika Grütters (CDU),
Zunächst muss eine Staatsministerin für Kultur und Medien,
ärztliche Diagnose über verantwortlich. Sie habe sich 364 Millio-
eine unheilbare, zum nen Euro für ein Kunstmuseum gesi-
Tode führende Krank- chert, doch für die »Landshut« »möchte
Ethik heit vorliegen; psychische Leiden fallen Frau Grütters nur die Restaurierung in
ausdrücklich nicht darunter. Suizidwillige Höhe von 5 Millionen Euro bezahlen«,
FDP für Sterbehilfe müssten sich »ergebnisoffen« beraten las-
sen, etwa bei einer Stelle, die »analog zur
klagt Rupps. Grütters Weigerung, die
Betriebskosten für das geplante Museum
 Die FDP-Bundestagsfraktion hat Eck- Schwangerschaftskonfliktberatung« ausge- zu übernehmen, habe das Projekt um
punkte für ein liberales Sterbehilfegesetz staltet werden könne. Die Berater sollen Jahre zurückgeworfen. »Mit jedem Tag
vorgelegt. »Zu einem selbstbestimmten auch die Freiverantwortlichkeit des Suizid- geht wertvolle Zeit verloren, einen zen-
Leben eines Menschen gehört auch, die wunsches prüfen und am Ende eine tralen Gedenkort für die Opfer des lin-
Entscheidung zu treffen, sein Leben zu Bescheinigung ausstellen. »Zwischen unab- ken und rechten Terrorismus in Deutsch-
beenden und hierbei Hilfe in Anspruch zu hängiger Beratung und assistierter Hilfe land zu schaffen«, so Rupps. CSC
nehmen«, heißt es in dem Papier, das die zur Selbsttötung muss mindestens eine
Medizinrechtsexpertin Katrin Helling- Woche zeitlicher Abstand sein«, heißt es
Plahr verfasst hat. Unter bestimmten weiter. Ein Urteil des Bundesverfassungs-
Bedingungen sollten Ärzte, aber auch Ver- gerichts zum Gesetz von 2015 steht noch Mordfall Lübcke
eine ohne wirtschaftliche Interessen eine aus. Ihre Eckpunkte sieht die FDP als Blau- Zweiter Mann?
»institutionalisierte Hilfe zur Selbsttötung« pause für eine Neuregelung. COS
 Dem Anwalt des Hauptverdächtigen
im Mordfall Lübcke liegen nach eigenen
Angaben Hinweise vor, wonach ein zwei-
Schmuggel ter Mann am Tatort gewesen sein könn-
ALEXANDER EILENDER / METROPOL IMAGES

Palettenweise Bier te. »Wir gehen diesem Verdacht nach«,


sagt der Dresdner Strafverteidiger Frank
 Mit Unterstützung Hamburger Zollfahn- Hannig. Er habe mehrere Beweisermitt-
der haben schwedische Ermittler den lungsanträge gestellt, um DNA-Spuren
Schmuggel von unversteuertem Bier auf- des mutmaßlichen Mittäters zu finden.
gedeckt. In Malmö durchsuchten die Um wen es sich handelt, will er nicht
Schweden am Dienstag die Wohnung sagen. In einem inzwischen widerrufe-
einer Familie, die seit gut zwei Jahren täg- nen Geständnis hatte der tatverdächtige
lich sechs Paletten Bier aus Deutschland Stephan Ernst nicht von einem weiteren
nach Dänemark, Schweden und Norwe- Bordershop auf Fehmarn Täter gesprochen. Allerdings, so Hannig,
gen geschmuggelt haben soll. Auf jeder habe sein Mandant seinerzeit unter dem
dieser Paletten waren laut schwedischem exportieren, da auf Dosen und Flaschen Einfluss von Medikamenten gestanden.
Zoll 79 Bierkartons. Bier wird in Schwe- kein Pfand erhoben wird. Auch die Ein- Den Ermittlern liegen bislang keine
den hoch besteuert und ist daher deutlich fuhr unterliegt keiner Mengenbegrenzung, belastbaren Anhaltspunkte für die Anwe-
teurer als in Deutschland. Der Steuerscha- sofern die Alkoholika für den persönli- senheit eines Mittäters vor. Unterdessen
den gehe in die Millionen, so die Ermittler. chen Bedarf bestimmt sind. In Deutsch- stellt sich die Frage nach Ernsts Schuldfä-
Die verdächtige Familie lebe mit einem land gibt es etwa 20 Bordershops auf dem higkeit. Bereits 1995 war der Neonazi
behinderten Kind überwiegend von So- Weg nach Norden. Bei rund 20 000 Fahr- vom Landgericht Wiesbaden wegen ver-
zialhilfe sowie Geldern für die Betreuung zeugen täglich, die die Öresundbrücke suchten Totschlags verurteilt worden.
der Tochter. Die Ware soll aus Border- von Dänemark nach Schweden queren, sei Damals kam ein Gutachter zu dem
shops (Grenzläden) auf Fehmarn stam- die Kontrolle schwierig, sagt Oscar Lind- Schluss, Ernst leide unter einer Border-
men. In diesen Shops dürfen Skandinavier vall vom schwedischen Zoll: »Es wäre hilf- linestörung. Die Kammer ging daraufhin
nahezu unbegrenzte Mengen Alkohol kau- reich, wenn Deutschland die Abgabemen- von einer »verminderten Schuldfähig-
fen, sofern sie sich verpflichten, ihn zu gen in den Shops begrenzen würde.« AUL keit« aus. SRÖ, STW

16 DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019


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Kanzlerin Merkel: Keine Kandidatinnen im Unter- und Mittelbau

»Frauen wollen Lösungen«


Union Trotz Frauen an der Spitze und im Kanzleramt: Die CDU schafft es nicht,
insgesamt weiblicher zu werden, im Gegenteil. Für die CSU gilt dies auch. Das liegt an den Männern,
an der Art, wie sie Politik machen, aber auch an den Frauen selbst.

18 DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019


Deutschland

A
ls die CDU-Fraktion im Thürin- Unterrepräsentiert ze« gesehen, klagt die Frauen Union und
ger Landtag nach der Wahl zum Frauenanteil in den Fraktionen im Bundestag, fordert eine feste Quote.
ersten Mal tagte, fanden sich zwei Angaben in Prozent Doch es gibt viele Kräfte, die dagegen-
Frauen allein unter Männern wie- arbeiten, dass die Partei weiblicher wird. Die
der. Die beiden hatten sich da schon mit- AfD 11,0 Union ist auf besondere Weise eine Män-
einander verschworen, die 60-jährige Ka- nerpartei. Was auch an den Frauen liegt.
tholikin aus dem Eichsfeld und die junge CDU/CSU 20,7 Bisher kam die Politik immer auf Nadine
Juristin aus Sonneberg. Sie telefonierten, Walbrach zu, nicht umgekehrt. Und Na-
als ihnen klar wurde, dass von den Frauen FDP 22,5 dine Walbrach hat jedes Mal Ja gesagt. Ja
in der Fraktion nur sie den Wiedereinzug zum Elternsprecheramt am Gymnasium,
geschafft hatten, beide mit einem Direkt- SPD 42,1 das ihre vier Kinder besucht haben. »Ja,
mandat. »Wir werden die Fahne hochhal- okay, wenn ihr meint« zum Sitz für die
ten für die Frauen«, sagte die Ältere. »Wir Linke 53,6 CDU im Stadtrat. Und Ja zur Kandidatur
werden in dieser Fraktion eine andere Rolle für den Kreistag. Vor zwei Jahren trat sie
spielen müssen«, sagte die Jüngere. Grüne 58,2 sogar gegen die amtierende SPD-Bürger-
Im Landtag kamen dann viele Kollegen meisterin in Luckenwalde an. »Ich war
auf Christina Tasch und Beate Meißner zu. überrascht von meiner eigenen Courage.«
Bundestag gesamt 31,0
Sie bedauerten es, nur noch zwei Kolle- Aber sie hatte keine Chance. Denn die So-
ginnen in der Fraktion zu haben. Selbst zialdemokraten trommelten gemeinsam
die, die mit Frauenförderung bisher nicht CDU-Frauenanteil. . . mit der Linkspartei für die Amtsinhaberin.
viel am Hut hatten, sprachen die beiden . . . in den Länderparlamenten, in Prozent Kurz darauf erreichte sie ein Anruf aus der
Abgeordneten darauf an. Fraktionschef Schleswig- Nähe von Trier. »Die wollten mich als Bür-
Mike Mohring sagte zu Beginn der ersten Holstein Mecklenburg- germeisterin haben.« Das kam für sie aber
Sitzung, dass dies ein Einbruch sei und die Vorpommern nicht infrage, fern der Heimat. Und jetzt,
Partei nun kein gutes Bild abgebe. Hamburg was kommt als Nächstes? Sie lacht über
Dabei hatte die CDU in Thüringen etwas 16,0 die Frage. Sie hat nichts geplant.
25,0
getan, was sie noch nie zuvor gewagt hatte. Walbrach ist Ende vierzig und will ihr
Bremen* 10,0
Sie trat für die Landtagswahl mit einer Liste Geld lieber weiter als Unternehmerin
an, auf der die vorderen Plätze mit genauso Berlin verdienen. Das liegt auch daran, wie es
vielen Frauen wie Männern besetzt waren. 33,3 in der Politik zugeht. Frauen woll-
Nieder-
Doch kein einziger Sitz wurde über die sachsen 12,9 Brandenburg* ten sachorientiert arbeiten, sagt
Liste vergeben, da die Union bei den Sachsen- sie und schließt sich selbst da ein.
Zweitstimmen stark verloren hatte. Und Nordrhein- Anhalt Das Gezänk und Parteigedöns
Westfalen 18,0 26,7
von den zwölf CDU-Frauen, die in auf kommunaler Ebene sei ab-
Wahlkreisen als Direktkandidatin- 6,5 schreckend. »Frauen haben kon-
nen angetreten waren, konnten nur 23,6 krete Probleme und wollen dafür
Tasch und Meißner die Wähler Sachsen* Lösungen. Sie sind lieber im Hin-
überzeugen. Die beiden holten so- Hessen* Thüringen* tergrund tätig als in der ersten Rei-
gar das zweit- und drittbeste Ergeb- Rheinland- 22,2 he.« Und sie würden auch anders
nis für die CDU. Doch ausgerechnet Pfalz 22,5 9,5 behandelt. Als sie in der Kommunal-
ihre junge, aber erfahrene Abgeord- politik anfing, sei sie das Küken gewesen,
nete Meißner ließ die Fraktion am 25,7 obwohl sie da schon 43 Jahre alt war. »Ich
Mittwoch durchfallen, als es um die bin kein Küken.« Frauen würden immer
Kandidatur zum Vizelandtagspräsi- noch belächelt. »Ich merke es in der Kreis-
Saarland
denten ging. Ein landespolitisch wenig Bayern* (CSU) arbeit. Die Frauen dort arbeiten mehr,
ehrgeiziger Kollege gewann die Wahl. Baden- intensiver. Meistens sind sie es, die Ver-
Das Frauenproblem der Union ist ein 25,0 Württemberg anstaltungen vorbereiten.« Aber die Lor-
21,2
uraltes, aber gerade wird es schlimmer. beeren ernteten die Männer.
Nicht nur in Thüringen, auch im Bundes- 23,3 Das Landtagsmandat in ihrem Wahl-
tag sitzen seit der vergangenen Wahl we- kreis ist besetzt, von einem Mann. Würde
niger Frauen für die Union als in den Jah- sie kandidieren, wenn die Partei fragen
ren zuvor. Dabei ist die Union für Frauen würde? »Ich weiß es nicht.« Ihre vier Kin-
durchaus attraktiv, mit Angela Merkel der sind zwar schon aus dem Haus. »Aber
steht eine Frau an der Spitze des Landes, Quelle: Bericht zur politischen Gleichstellung von Männern und Frauen ich weiß nicht, ob ich meine Firma dafür
in der CDU; Stand: September 2018; *aktueller Stand
mit Annegret Kramp-Karrenbauer eine aufgeben würde.«
Frau an der Spitze der Partei. Bei der Bun- . . . an Parteiämtern und -gremien In den Städten und Gemeinden sind
destagswahl haben mehr Frauen als Män- noch verhältnismäßig viele Frauen ehren-
ner die Union gewählt. Aber in der CDU 38,1 amtlich engagiert. In den Kreistagen und
33,3% 34,4
selbst, die seit 19 Jahren von Frauen ge- Gemeinderäten machen sie im Schnitt gut
führt wird, sind sie unterrepräsentiert. ein Viertel aus. Doch wenige von ihnen
Die Frauen Union hat deswegen einen wagen den Schritt in die Berufspolitik. Nur
Antrag auf dem Leipziger Parteitag einge- jeder zehnte Landrat und jeder zwölfte
bracht. Es geht um das Quorum der Partei, 12,5 Oberbürgermeister ist weiblich. Und die
nach dem Vorstände und Parteilisten min- Entwicklung geht nicht voran, die Zahlen
destens zu einem Drittel aus Frauen be- Präsidium Bundes- Delegierte Ausschuss- sinken sogar. Im Bundestag sitzen so
stehen sollen. Bisher werde das häufig um- vorstand beim Bundes- vorsitzende wenige weibliche Abgeordnete wie seit
gangen oder als »zu erreichende Obergren- parteitag 20 Jahren nicht mehr, 220 von 709. Auch

19
anderen Parteien wie der SPD fehlt der delt zwischen Berlin und Regensburg, wo
weibliche Nachwuchs. Aber das größte ihr Mann und ihr Sohn leben. Außerdem
Problem hat, abgesehen von der AfD, führt sie einen Wahlkampf in der Heimat,
die Union. weil sie im März Oberbürgermeisterin von
Auch im sächsischen Landtag gibt es Regensburg werden will.
wenige Frauen der CDU. Im Kreisverband Freudenstein hat gute Aussichten, sie
Dresden hatten Christdemokraten vor der spricht von einer »Riesenchance«. Aber
Wahl fieberhaft nach Kandidatinnen ge- natürlich kennt auch sie die Entbehrungen
sucht. Heike Ahnert, Ende dreißig, Stadt- ihres Traumberufs: »Politik – egal ob auf
rätin in Dresden, wurde mehrfach gefragt. kommunaler Ebene oder im Bund – ist
Nichts zu machen. Sie wollte ihrer Familie nicht sehr familienfreundlich.«
und sich selbst ein Landtagsmandat nicht Ihre Fraktion im Stadtrat hat kürzlich ei-
zumuten. »Wenn ich so ein Amt ernsthaft nen Antrag gestellt, der unter anderem vor-
mache, dann sind das mehr als 60 Stunden sieht, dass die Kosten für die Kinderbetreu-
in der Woche.« ung während der Ratssitzungen von der

GENE GLOVER / DER SPIEGEL


Auf 60 Stunden kommt sie jetzt schon. Stadt übernommen werden. »So könnte
Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbei- man Müttern signalisieren, dass sie in der
terin im Landtag 40 Stunden die Woche. aktiven Politik erwünscht sind«, meint
Dazu kommen 20 Wochenstunden als eh- Freudenstein. Der Antrag wurde abgelehnt.
renamtliche Stadträtin. Der Alltag sei mit Es ist vor allem die Basis, die alle Be-
zwei Schulkindern schwer zu organisieren. mühungen der Parteiführung um ein weib-
So geht es vielen Frauen, während Männer Kommunalpolitikerin Walbrach licheres Erscheinungsbild ausbremst. Der
sich bei der Kinderbetreuung oft noch auf »Bin kein Küken« Widerstand gegen Instrumente aus dem
ihre Partnerin verlassen können. Frauenförderwerkzeugkasten hängt zum
»Das schafft man nur«, sagt Ahnert, »in- daturen. Es ist ein strukturelles Problem, einen mit dem Prinzip der Leistungs-
dem man abends noch mal den PC an- gegen das weder Frauenquoten noch Pari- gerechtigkeit zusammen, dem viele in kon-
macht und E-Mails schreibt bis 23 Uhr und tätsgesetze oder Mentoringprogramme servativen Parteimilieus anhängen. Nur
morgens um sieben die nächsten beant- helfen. Paritätisch besetzte Listen ändern wer etwas leistet, soll mit Posten belohnt
wortet.« Von einer Quote hält sie nichts: in vielen Fällen nichts. Das Ticket ins Par- werden. Zum anderen sind Zwangsmaß-
»In meinem Kreisverband sind 25 Prozent lament ist häufig ein Direktmandat. Oft nahmen wie eine Quote nur schwer ver-
der Mitglieder Frauen – wie sollen die ist diese Position bereits lange von einem mittelbar in einer Partei, die die Grünen
33 Prozent der Posten besetzen?« Dann Mann besetzt. »Und gegen einen amtie- als Bevormundungspartei geißelt.
würden sich nicht mehr die Besten renden Abgeordneten kandidiert man sel- Die Grünen haben selbstverständlich
durchsetzen. So sehen das viele an der ten«, sagt die CSU-Bundestagsabgeordnete schon lange eine Frauenquote, selbst die
Parteibasis. Astrid Freudenstein. Wird mal ein Nach- Redebeiträge sind quotiert, 50 zu 50 für
In Bayern, wo die Schwesterpartei CSU folger gesucht, setzen sich eher Männer Männer und Frauen. Das wird auch dann
ebenfalls männlich geprägt ist, hatte Mi- durch, weil sie häufig das stabilere Netz- nicht aufgehoben, wenn gar keine Frauen
nisterpräsident Markus Söder kürzlich werk haben. mehr reden wollen. Nun kommt sogar noch
beim Parteitag für die Quote geworben. Freudenstein bewarb sich vor der letz- erschwerend hinzu, dass dann ausschließ-
»Sorry, wenn ich das jetzt sage: Aber wir ten Bundestagswahl um ein Direktmandat lich Frauen darüber entscheiden dürfen, ob
schneiden bei den ganz jungen Frauen ver- im Wahlkreis Regensburg – und scheiterte überhaupt weiterdebattiert werden darf.
heerend ab«, rief Söder ins Delegierten- an ihrem Mitbewerber. Zwei Stimmen Das kann man für übertrieben halten, aber
plenum, »verheeeerend!« Hinter ihm auf machten den Unterschied aus. »Ich denke eines ist sehr wahrscheinlich: Der Erfolg
der Bühne saß die Sitzungsleitung: drei nicht, dass ich verloren habe, weil ich eine von Annalena Baerbock ist kaum denkbar
Männer mit bangen Gesichtern. Am Ende Frau bin«, so Freudenstein. Ihr fehlte die ohne die Parteisatzung der Grünen samt
der hitzigen Diskussion knickte die Frauen Hausmacht in den Hinterzimmern. ihrem Frauenstatut. Vor knapp zwei Jahren
Union auf Druck der Basis ein und ver- Im Zweifel für den Platzhirschen. Es wurde sie eher zufällig zur Bundesvorsit-
zichtete auf ihre Forderung nach einer ver- sind simple Machtmechanismen wie diese, zenden gewählt, neben Robert Habeck, der
pflichtenden Frauenquote von 40 Prozent die an der Parteibasis Frauenkarrieren schon damals um einiges prominenter war
für Kreisvorstände. verhindern. In den zehn Wahlkreisen, in als sie. Es gab lediglich eine Gegenkandi-
Auch Susanne Eisenmann, CDU-Kul- denen die CSU vor der vergangenen Bun- datin, der Job war nicht sehr beliebt.
tusministerin in Baden-Württemberg, ist destagswahl neue Direktkandidaten such- Die Grünen bezeichnen sich nach wie
gegen eine Frauenquote in ihrer Partei. te, konnten sich nur zwei Frauen durch- vor als feministische Partei, sie haben die
»Ich tue mich schwer damit«, sagt sie. Auf setzen. Den unterlegenen Kandidatinnen zentralen Ideen der Frauenbewegung auch
der Führungsebene seien Frauen in der mangelte es nicht an Können oder Einsatz. institutionell festgeschrieben. Auf den Lan-
CDU stark, das Problem bestehe im Un- Sie hatten schlicht nicht den richtigen deslisten steht grundsätzlich eine Kandi-
ter- und Mittelbau. »Ich habe nicht den Stallgeruch, den man sich in einer Partei datin auf dem ersten Platz. Vor Baerbock
Eindruck, dass Frauen nicht aufgestellt wie der Union am Bratwurstgrill im Orts- haben davon Claudia Roth, Simone Peter,
werden.« Stattdessen seien Frauen weni- verein erwirbt. Renate Künast und weitere profitiert.
ger bereit, für Wahlen zu kandidieren. Astrid Freudenstein sagt, es sei wichtig, In der Union aber ist der politische Wil-
»Ich würde den Frauen manchmal gerne sich von Niederlagen nicht entmutigen zu le, mit festen Regeln mehr Frauen in die
zurufen: Mehr Mut! Mehr Ego!«, sagt lassen und auch aus vermeintlich aussichts- Politik zu holen, nicht erkennbar. Annette
Eisenmann, die als Spitzenkandidatin bei loser Position heraus anzugreifen: »Ich Widmann-Mauz, die Vorsitzende der Frau-
der Landtagswahl 2021 antreten wird. habe das Gefühl, oft fehlt da Frauen eher en Union, sagt: »Das ist ein nicht geliebtes
Ein Großteil des Ungleichgewichts zwi- als Männern der Mut zu einer Kampfkan- Thema, da brauchen wir uns nichts vorzu-
schen Mann und Frau entsteht nicht auf didatur.« Sie rückte im Juli über die Liste machen. Das wissen wir seit Jahrzehnten,
den Listen, sondern bei den Direktkandi- in den Bundestag nach. Freudenstein pen- in denen es nie ohne Verhandlung, ohne

20 DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019


Deutschland

Kampf vorangegangen ist.« Doch wenn ist, gibt es praktisch keine Frau ohne Pos- die neben Markus Söder am kreativsten
man sie fragt, wie es jetzt weitergehe, ten oder Ministeramt. Was einer der Grün- neue Ideen schmiedet.
klingt sie wenig rebellisch: Die Frauen de dafür sein dürfte, dass viele männliche Ihre Kinder sind drei und ein Jahr alt.
Union habe für den Parteitag Vorschläge Fraktionsmitglieder keine glühenden Quo- Wenn es gut läuft, bringt Gerlach Sohn
gemacht, die Spielraum böten. Eine Kom- tenfans sind. und Tochter einmal die Woche in den Kin-
mission, die erst noch eingesetzt werden Der Aufstieg Judith Gerlachs zur jüngs- dergarten. Mehr ist nicht drin. Als sie Mut-
muss, wird sich damit befassen. »Dann ten Ministerin Bayerns erfüllte vor einem ter wurde, war sie eine der zwei jüngsten
müssen wir im Detail darüber sprechen, Jahr viele in ihrer Partei mit Neid. Gerlach Abgeordneten im Landtag. Dass die Poli-
was in welcher Nuance entwickelbar ist.« war 33 Jahre alt und gerade zum zweiten tik nicht auf Frauen wie sie vorbereitet ist,
Wirklich helfen würden Quoten aber Mal in den Landtag eingezogen, als sie wurde ihr klar, als sie auf der Suche nach
nur, wenn sie auch für die Direktmandate überraschend zur Digitalministerin er- einem Stillraum im Maximilianeum im
gälten, ähnlich wie in Frankreich. So weit nannt wurde. Während männliche Partei- »Raum der Stille« landete.
geht der Vorschlag der Frauen Union aber kollegen schon seit Jahren mit ihrem En- Gerlach will Frauen Lust auf Politik
nicht. Ein ähnliches Vorhaben für eine gagement in Arbeitskreisen, Ausschüssen machen. In ihrer Heimat Aschaffenburg
Wahlrechtsänderung ist im Bundestag bis- und Ehrenämtern mühsam die Karriere- spricht sie Frauen an, organisiert Frühstü-
her noch nicht weit gekommen. Es sieht leiter emporkletterten, nahm Gerlach den cke. Man müsse um die Frauen mehr als
vor, die Wahlkreise in Deutschland zu für junge Frauen reservierten Aufzug nach um die Männer werben, ihnen Angebote
vergrößern, dafür aber in jedem Wahlkreis oben. »Digitalisierung ist jetzt sicher nicht machen, sie zum Mitmachen auffordern,
zwei Kandidaten aufzustellen: einen mein Spezialbereich, aber ein absolutes sagt Gerlach: »Wer wacht schon morgens
Mann und eine Frau. Zukunftsthema«, sagte sie damals. Als auf und denkt sich: ›Heute habe ich Lust,
Bis es so weit ist, sind quotierte Wahl- Juristin könne sie sich schnell in neue The- mich in der Union zu engagieren‹?«
listen wohl die einzige Möglichkeit, auf mengebiete einarbeiten, schob sie nach. Melanie Amann, Anna Clauß,
Geschlechtergleichheit in der Politik hin- Vom Stempel »Quotenfrau«, der ihr an- Milena Hassenkamp, Julia Amalia Heyer,
zuarbeiten. fangs noch auf der Stirn prangte, hat sie Lydia Rosenfelder
Letztlich bleibt es Sache der Chefs, sich befreit. »Was am Ende zählt, ist meine
Frauen zu fördern. Besonders engagiert Leistungsbilanz«, sagt sie. Und die ist gut.
gibt sich gerade Söder. An seinem Kabi- Die Hälfte der Mitarbeiter in ihrem Mi- Video
Kinder statt
nettstisch sitzt aufseiten der CSU auf fast nisterium ist weiblich. Gerlach treibt die CDU-Karriere
jedem zweiten Stuhl eine Frau. In der papierlose Verwaltung voran, hat ein För- spiegel.de/sp482019frauen
CSU-Fraktion im bayerischen Landtag, in derprogramm für Frauen in Digitalberufen oder in der App DER SPIEGEL
der nur jede fünfte Abgeordnete weiblich gestartet und gilt als diejenige im Kabinett,

Lungenkrebs.
2.070.000 Tipps
sind dazu im
Internet zu finden.
Hier der wichtigste:
Fragen Sie Ihren Arzt:
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teste-deinen-lungenkrebs.de
DE-21789/19

Google-Suche nach „Lungenkrebs Tipps“. Suchergebnis am 12.08.2019.


Deutschland

Verzweifelt in Erfurt
nauer-Stiftung verweist in ihrer Wahlana-
lyse auf eine Umfrage von Infratest dimap,
wonach 68 Prozent der CDU-Anhänger
der Ansicht seien, »dass über eine Koali-
tion mit der Linkspartei neu entschieden
Wahlen Vier Wochen nach der Landtagswahl in werden solle«. Über die AfD sagten das
Thüringen ist keine stabile Regierung in Sicht. Der Freistaat nur 17 Prozent.
wird zum Testlabor für Parlamente ohne Mehrheiten. Thüringens CDU-Generalsekretär Ray-
mond Walk fasst Gespräche mit seinen hin
und her gerissenen Parteimitgliedern so

M it politischem Vabanquespiel ken-


nen sich die Thüringer aus. Schon
die erste Wahl im neu gegründe-
ten Land vor fast hundert Jahren kannte
tiger für das Land, als dass es nur um par-
teipolitische Interessen geht.« Man konnte
das als Angebot einer Koalition verstehen.
In Brandenburg hatten Christdemokra-
zusammen: Ein Viertel sei für eine Öff-
nung nach links, ein Viertel für eine Öff-
nung nach rechts – den Rest drohe man
zu verlieren, wenn man sich in eine der
keinen Sieger: Es regierte eine Minder- ten bereits Lockerungsübungen Richtung beiden Richtungen bewege.
heitsregierung aus Sozialdemokraten und links unternommen, in Schleswig-Hol- Was tut man in einer Situation, in der
Liberalen – toleriert von einer linken SPD- stein erweckte CDU-Ministerpräsident nichts tun ebenfalls keine Option ist? Moh-
Abspaltung. Ein knappes Jahr hielt das Ex- Daniel Günther den Eindruck, er halte ring könnte gegen den Willen der Berliner
periment, dann kam das nächste Bündnis Koalitionen mit der Linken im Osten für Zentrale eine Regierungskoalition schmie-
ohne Mehrheit, jetzt geduldet von der möglich. Und vor den Wahlen hatte Ex- den. Nicht nach rechts, weil die Personalie
KPD. Die Farbenspiele wurden immer Bundestagspräsident Norbert Lammert Höcke jede Bewegung verhindert und die
schillernder: Auf eine bürgerlich-demokra- (CDU) noch zu Protokoll gegeben, er Sitze von AfD und CDU ohnehin nur für
tische Minderheitsregierung folgte bald halte die Sorge für übertrieben, dass die eine Minderheitsregierung reichen.
eine rechtsbürgerliche. Und am Ende über- neuen Länder unregierbar würden: »Es Sondern nach links. Das wäre möglich,
nahmen die Nationalsozialisten. gibt in Deutschland nach wie vor eine weil mit Bodo Ramelow ein Politiker an
Hundert Jahre nach der Gründung Thü- beachtliche Mehrheit für Parteien, die de- der Spitze der Regierung steht, der eher
ringens gibt es wieder wacklige Verhält- mokratische Werte teilen.« als Sozialdemokrat gilt und zweifelsohne
nisse im Freistaat – und die Sorge, dass Mohrings Charmeoffensive hielt wenige die von Lammert angesprochenen demo-
politisches Chaos in ein paar Jahren die Stunden. Der Bundesvorstand der CDU kratischen Werte teilt. Die Union könnte
AfD an die Regierung bringen könnte, sammelte die Offerte umgehend wieder den Linken in einem CDU-Linken-Not-
angeführt von einem amtlich bestätigten ein. Mohring hatte sich mit niemandem bündnis vermutlich größte Opfer abver-
Faschisten. abgesprochen, der eigene Landesverband langen und sich zugleich dem Frust un-
Sachsen-Anhalt und Brandenburg konn- rebellierte. Es dauerte nicht lange, bis der dankbarer Oppositionsarbeit entziehen.
ten sich gerade noch in schwarz-rot-grüne stellvertretende CDU-Fraktionschef Ge- Berührungsängste mit alten Genossen,
Keniakoalitionen retten, auch in Sachsen die es in Ramelows Partei natürlich noch
wird es wohl so kommen. In Erfurt sind reichlich gibt, sind vielleicht überwindbar,
die einstmals großen Volksparteien CDU Schwierige Partnersuche weil man auch früher gut zusammenge-
und SPD zu schwach für das Manöver, die Sitzverteilung im Thüringer Landtag arbeitet hat. Gerade hat eine unabhängige
Ränder links und rechts zu stark. Die Wäh- Historikerkommission im Auftrag Moh-
ler haben den Politikern eine Aufgabe ge- Grüne FDP rings die Geschichte der Thüringer CDU
stellt, die mit der gängigen Farbenlehre SPD 5 5 CDU von 1945 bis 1990 untersucht. Fazit: Die
der Bundesrepublik nicht mehr zu bewäl- 8 21 einstige Blockpartei habe in der DDR »zur
tigen ist. Stabilisierung des Systems« beigetragen.
FDP und CDU wollen weder mit den Linke Absolute AfD Bei der Rekrutierung von Bezirksvorsit-
Linken noch mit der AfD über eine Regie- 29 Mehrheit: 22 zenden und Kreissekretären hätten SED
46 Sitze
rungsbildung auch nur reden, deshalb wird und Stasi stets mitgeredet.
es keine stabile Regierung im Freistaat ge- Die Thüringer CDU sei eine »von Ka-
ben können. Linke und AfD stellen zusam- dern gelenkte Partei nach kommunisti-
men 51 von 90 Abgeordneten im Erfurter schem Vorbild« gewesen. »Für die CDU-
Parlament, eine deutliche Mehrheit. Es spräche mit der AfD forderte. Mit jener Funktionäre war daher die Zusammen-
reicht weder für Rot-Rot-Grün noch für Partei also, der Flügel-Frontmann und arbeit mit der SED etwas Alltägliches. Sie
eine Keniakoalition. Selbst eine Tolerie- Rechtsausleger Björn Höcke vorsteht. Was akzeptierten generell die Rangordnung
rung oder eine Duldung scheiden bislang CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak sofort zwischen beiden Parteien und stimmten
aus. Das kleine Thüringen wird zu einer als »irre« einstufte, fand weitere Unter- sich regelmäßig mit SED-Vertretern ab.«
Art Testlabor für eine gespaltene Republik. stützer aus der Provinz: 17 Funktionäre Ausreisewillige Parteimitglieder etwa habe
Die thüringische CDU steht im Zentrum stellten sich öffentlichkeitswirksam hinter die Block-CDU »systemkonform« aus der
des Dilemmas. Fast zwölf Prozentpunkte die Forderung nach einem Rechtsschwenk. Partei geworfen.
verlor die Union, die nach der Wende 24 Seither herrscht Chaos. Während Bodo Könnte die Union sich also einen Ruck
Jahre lang unangefochten das Land regiert Ramelow fröhlich weiter sein Amt ausübt, geben? Für einen derartigen Schwenk nach
hatte, bei der Wahl im Oktober. Holte sie den argentinischen Botschafter empfängt, links brauchte sie einen starken Anführer.
1999 noch die absolute Mehrheit, steht sie dem Bischof von Fulda die Hand schüttelt Der ist Mohring nicht mehr. Bei der Wahl
nun hinter der Linken und der AfD. und Erfurter Schülern »Rocco Randale« als Fraktionschef kassierte er sieben Ge-
Parteichef und Spitzenkandidat Mike vorliest, zerlegen sich die Christdemokra- genstimmen, obwohl es keinen Gegenkan-
Mohring hatte das noch am Wahlabend ten in aller Öffentlichkeit. Ausgerechnet didaten gab. Zudem wurde seine Amtszeit
erkannt und angekündigt, auf den linken der CDU-Landrat aus dem katholischen auf zwei Jahre begrenzt. Der von ihm no-
Ministerpräsidenten Bodo Ramelow zuzu- Eichsfeld wirbt für ein Bündnis mit den minierte Fraktionsvorstand kam nur mit
gehen: »Mir sind stabile Verhältnisse wich- Linken. Und die parteinahe Konrad-Ade- knapper Not durch, seine Kandidatin für

22
SASCHA FROMM / THÜRINGER ALLGEME / FUNKE FOTO SERVICES
Spitzenpolitiker Höcke, Mohring, Ramelow am Wahlabend des 27. Oktober: »Mehr Demokratie und weniger Parteibuch wagen«

das Amt der Landtagsvizepräsidentin eine Mehrheit, die FDP scheidet als Mehr- zubringen, die Rot-Rot-Grün bisher abge-
scheiterte. Stattdessen tritt ausgerechnet heitsbeschaffer aus: Die Liberalen wollen lehnt habe.
ein CDU-Mann an, der bis 1989 Mitglied einer Regierung unter Ramelow weder an- Kann derart vage tatsächlich ein Land
der SED war. Aus der eigenen Landespar- gehören noch sie tolerieren. regiert werden? Ramelow macht zunächst
tei gibt es Rücktrittsforderungen wegen Als ob alles nicht kompliziert genug einfach weiter, die Verfassung Thüringens
des schlechten Wahlergebnisses. Mohring wäre, gelten auch die Grünen als Wackel- gibt keinen Endtermin seiner Regierung
ist plötzlich ein Parteichef auf Bewährung, kandidaten. Ihr schwaches Abschneiden vor. Ende Februar, Anfang März 2020 will
keiner, der ein bahnbrechendes Bündnis hat ein innerparteiliches Beben ausgelöst. er sich zur Wahl als Ministerpräsident stel-
durchsetzen könnte. Die Grünen überlegen, ob sich die Regie- len. Bis dahin wird er weiter nach vier
Die Verzweiflung darüber treibt sonder- rungsverantwortung am Ende negativ aus- Stimmen suchen. Es sei denn, die AfD wür-
bare Blüten, die Mohring mit Simbabwe gewirkt hat. Unter Umständen, sinniert de kommende Woche, wenn der Landtag
liebäugeln lässt. Die Flagge dieses Landes Spitzenkandidatin Anja Siegesmund, sei erstmals zusammentritt, die Wahl eines
steht für grün, gelb, rot und schwarz. Moh- es besser, sich eine neue Regierung »von Ministerpräsidenten erzwingen, indem sie
ring hat die Idee, sich von einem solchen den Zuschauerrängen anzusehen«. einen Kandidaten aufstellt. Mohring und
Bündnis zum Ministerpräsidenten wählen Wahlsieger Bodo Ramelow ist einer der Ramelow müssten dann wohl auch in den
zu lassen. 39 Sitze hätte Simbabwe, sieben wenigen, die das komplizierte Ergebnis Ring steigen. In dritten Wahlgang würde
unter der absoluten Mehrheit. des Urnengangs noch immer gelassen se- es für einen der Kandidaten reichen.
Es gibt Gespräche, doch SPD und Grüne hen. Es sei eine »Chance, das Parlament Es ist eine Thüringer Spezialität, dass
wollen das Bündnis nicht. Die SPD nimmt zu stärken«, sagt er. Man müsse »mehr De- bei der Ministerpräsidentenwahl ohne Ge-
Mohring seine »nassforsche Art« übel, als mokratie und weniger Parteibuch wagen«. genkandidaten in der dritten Abstimmung
man noch in einer Großen Koalition regier- Thüringens CDU-General Walk sagt in- eine einzige Stimme zur Wahl reicht, selbst
te. Die Grünen fanden sein Wahlkampfge- zwischen, man werde sich gemeinsamen wenn das restliche Parlament mit Nein
töse gegen die wenigen Windräder im Land Projekten nicht grundsätzlich verschlie- stimmt oder sich enthält. Es zählen laut
unanständig. Und: Einzelne Abgeordnete ßen. Man könne sich vorstellen, gemein- einem verfassungsrechtlichen Gutachten
der AfD oder der Linken müssten auch die- same Lösungen zu finden, etwa zur Behe- nur die Jastimmen. Das Land hätte wo-
ses Bündnis stützen, damit es reicht. bung des Lehrermangels oder in Fragen möglich plötzlich einen neuen Minister-
Die wahrscheinlichste Lösung für Thü- der inneren Sicherheit. Absprachen darü- präsidenten. Eine stabile Regierung hätte
ringen bleibt daher Rot-Rot-Grün unter ber solle es aber nicht geben. Alles werde es nicht. Steffen Winter
Ramelow, diesmal als Minderheitsregie- erst im Parlament ausgehandelt. Mohring Mail: steffen.winter@spiegel.de
rung. Vier Sitze fehlen dem Bündnis für kündigt an, zügig Gesetzesinitiativen ein-

DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019 23


Deutschland

den Berliner Betrieb, und »die da unten«,

Im Namen des Herrn also die Parteibasis, von der niemand so


genau weiß, wer das eigentlich ist. Es ist
ein sensibles Thema in der SPD. Aber
Schmidt geht dieser Tage nicht übermäßig
SPD Vizekanzler Olaf Scholz wäre nicht denkbar ohne seinen sensibel vor.
hyperaktiven Staatssekretär Wolfgang Schmidt. Doch im Am Mittwoch dieser Woche etwa sitzt
Rennen um den SPD-Vorsitz schießt sein Vertrauter übers Ziel hinaus. Schmidt in seinem Büro im Bundesfinanz-
ministerium und ist sich keiner Schuld be-
wusst. Es geht um einen seiner Tweets, der

D er vergangene Dienstag ist ein eher


durchschnittlicher Tag im Leben
des Wolfgang Schmidt. Er geht sei-
ner Arbeit als Staatssekretär im Bundes-
Unterstützer sorgen sich manche, dass
Schmidt es übertreiben könnte.
Die Frage, die mitschwingt, lautet: Wie
fair geht es zu in diesem Wahlkampf? Hat
es besonders in sich hatte. Auch wenn
Schmidt das nicht wahrhaben will. Er habe
da nur ein Interview geteilt, sagt er.
Es war am 14. November, kurz vor halb
finanzministerium nach und setzt auf Scholz mit seinem Apparat im Rücken Vor- zwei am Morgen. Schmidt, der gern mal
Twitter zwölf Beiträge über Olaf Scholz teile gegenüber Esken und Walter-Bor- bis in die Nacht liest, war auf ein Interview
ab. Bei normalen Menschen würde das als jans? Und es geht, wie so häufig in der von Esken und Walter-Borjans gestoßen.
außerordentlich hoher, vielleicht etwas ma- SPD, mal wieder um »die da oben«, also Darin hatte Esken auf die Frage, was sie
nischer Ausstoß durchgehen, für Schmidt
ist es nicht weiter ungewöhnlich. Aber
Schmidt ist auch nicht ganz normal.
Am Dienstag twittert er den Hinweis
auf eine Talkshow, in der Scholz und seine
politische Partnerin Klara Geywitz auftre-
ten. Er verbreitet das Bekenntnis eines
Genossen, der für Scholz und Geywitz als
SPD-Chefs gestimmt hat. Und er twittert,
dass ihn das zuletzt überraschend lebhafte
Auftreten des Vizekanzlers nicht über-
rasche: »Kenne ihn quasi nur so munter.«
Wenn es um Olaf Scholz ging, konnte
Schmidt schon immer etwas anstrengend
werden. Aber jetzt hat er auch noch eine
Mission: Scholz muss siegen. Es geht, so
sieht es Schmidt, um alles. Also gibt auch
er alles. Noch mehr als sonst.
Bis Ende nächster Woche dürfen die Ge-
nossen abstimmen, ob Scholz und Gey-
witz oder ihre Kontrahenten Saskia Esken
und Norbert Walter-Borjans die SPD füh-
ren sollen. Bis dahin läuft der Wahlkampf,
auf offener Bühne und im Hintergrund.
Schmidt ist überall mittendrin.
Der 49-Jährige ist der Mann hinter Olaf
Scholz, sein engster Vertrauter. Kaum je-
mand im Berliner Betrieb ist so gut ver-
netzt wie er, in der SPD, im Regierungs-
apparat, in den Medien. Schmidt diente
Scholz als Büroleiter im Willy-Brandt-
Haus, in der Bundestagsfraktion und im
Arbeitsministerium, später als Bevoll-
mächtigter Hamburgs beim Bund, nun ist
er unter dem Finanzminister Scholz Staats-
sekretär. Vor 17 Jahren stellte er sein poli-
tisches Leben in den Dienst von Olaf
Scholz. Seither denkt er Scholz, atmet er
Scholz, lebt er Scholz.
Einen besseren Hintermann kann man
THOMAS KOEHLER / PHOTOTHEK.NET

sich kaum wünschen. Doch jetzt, da


Scholz nach der SPD-Spitze greift, wird
Schmidts Leidenschaft für seinen Chef auf
den letzten Metern zum Problem.
Die Vehemenz, mit der sich der politi-
sche Beamte in den innerparteilichen
Wahlkampf wirft, ist mittlerweile ein The-
ma in der SPD. Scholz’ Gegner regen sich
darüber auf, und selbst im Lager seiner Minister Scholz, Mitarbeiter Schmidt: »Wir brauchen doch Leute, die den Job können«

24
als SPD-Chefin befähige, etwas umständ- hanseatischer Rheinländer. Scholz hat oft
lich geantwortet, indem sie auf ihre Zeit wenig Lust, sich selbst und seine Motive
als Vizevorsitzende des Landeselternbei- zu erklären. Schmidt kann stundenlang
rats in Baden-Württemberg verwies, auf Scholz-Exegese betreiben. Scholz will
ihre Kontakte in die Zivilgesellschaft und Kanzler werden. Es gibt wenig Zweifel
ihr Verständnis der digitalen Welt. daran, wer in diesem Fall sein Kanzler-
Schmidt twitterte nur die Passage mit amtschef würde.

HANS CHRISTIAN PLAMBECK / LAIF


dem Elternbeirat. Kommentarlos, aber die Schmidt hält Scholz, was nicht allzu oft
Botschaft war klar: Seht mal, die meint, vorkommt, für noch klüger als sich selbst.
unsere Partei führen zu können, nur weil Er bewundert den Chef, auch nach den
sie mal ein paar Eltern an einen Tisch ge- 17 gemeinsamen Jahren.
holt hat. Die will gegen Olaf antreten? Vielen SPD-Leuten sind Schmidts gute
»Ich finde, so einen Tweet lässt man, Verbindungen zu den Hauptstadtjourna-
oder man schreibt ohne Umschweife, dass listen suspekt. Der Mann sei »einer der
man die Aussage lächerlich findet«, ant- schlimmsten Finger«, klagte der ehemalige
wortete Juso-Chef Kevin Kühnert. SPD-Chef Martin Schulz mal intern. Mitt-
Schmidt findet die Aufregung absurd. Als Scholz zögerte, für lerweile können die beiden wieder mit-
Es sei doch richtig, die Frage nach der Eig- den Vorsitz zu kandi- einander.
nung der Kandidaten zu stellen. »Wir brau- Andere Genossen fragen in vertrau-
chen doch Leute, die den Job können.«
dieren, war es Schmidt, lichen Gesprächen, wie sich eigentlich der
Für Schmidt ist die Lage der SPD klar: der darauf drängte. innerparteiliche Wahlkampf mit Schmidts
Olaf kann es, die anderen können es nicht. Aufgaben als beamteter Staatssekretär ver-
Wenn Olaf verliert, ist die SPD am Ende. einbaren lasse.
Es ist diese Arroganz der Regierungsprag- länger Scholz zögerte, desto vehementer In einem Gutachten der Wissenschaftli-
matiker, die viele in der Partei rasend drängte er. Es ist fraglich, ob es diese Kan- chen Dienste des Bundestags heißt es dazu:
macht. Schließlich, so sehen es diese Ge- didatur ohne Schmidt gegeben hätte. Ein Beamter habe sich im Dienst »grund-
nossen, waren es die Pragmatiker, die ihre Dabei hätte er auch so genug zu tun. Als sätzlich jedweder politischen Betätigung
Partei heruntergewirtschaftet haben. Staatssekretär ist Schmidt nicht nur für in- zu enthalten«. Als Privatperson könne er
Zuletzt verging kaum ein Tag, an dem ternationale Finanz- und Währungspolitik sich aber »grundsätzlich uneingeschränkt«
sich nicht irgendein führender Genosse zuständig, sondern auch für die Koordi- auf die Meinungsfreiheit berufen.
für Scholz und Geywitz aussprach. Das ze- nierung der SPD-Ministerien mit der Und was ist mit den Tweets während
mentierte den Eindruck, von dem Esken Unionsseite. Trotzdem schafft er es, neben- der Arbeitszeit? Schmidt grinst und sagt:
und Walter-Borjans profitieren wollen: bei die frohe Kunde vom Wirken des gro- Laut Arbeitsvertrag habe er eine 41-Stun-
dass sie als Underdogs gegen das Esta- ßen Olaf zu verbreiten. Zwischendurch den-Woche. »Die hab ich mittwochs er-
blishment kämpfen. Das Fatale an fliegt er schon mal für 24 Stunden nach Pe- ledigt.«
Schmidts Verve ist, dass er diesen Ein- king oder, wie neulich, für einen zwölfstün- Tatsächlich bestreiten nicht einmal seine
druck noch verstärkt. Wenn Schmidt für digen Aufenthalt nach Japan, um dort auf Gegner Schmidts irres Arbeitspensum. Al-
Scholz trommelt, wird er nicht nur als einem Podium zu sitzen. Vier bis fünf Stun- lein mit der Grundrente und der Halbzeit-
Schmidt gesehen, sondern als Teil des den Schlaf reichten meist, sagt Schmidt. bilanz der Großen Koalition hatte er in den
mächtigen Apparats. Da kann er noch so Beim Gespräch fischt er zwischendurch vergangenen Wochen zwei dicke Brocken
oft betonen, als Privatmann auf Werbe- eine Mappe von seinem Schreibtisch, zieht auf seinem Schreibtisch, und nicht einmal
tour zu sein. ein Papier heraus und faltet es auf. Die seine Gegner sagen, er habe da etwas
Schmidt ist dieser Tage wie besessen un- Grafik zeigt die Zustimmungswerte der schleifen lassen. Trotzdem: Gesundheits-
terwegs. Er beschallt Journalisten. Er be- SPD seit Eintritt in die Große Koalition, minister Jens Spahn (CDU) ging im ver-
klatscht seinen Chef, wenn der im TV-Du- zu jedem Einbruch in den Umfragen ist gangenen Jahr sensibler vor. Als er für den
ell einen Punkt macht. Er wirbt bei seinen das entsprechende Ereignis verzeichnet: CDU-Vorsitz kandidierte, nahm sein Ver-
örtlichen Berliner Sozialdemokraten für der Wirbel um den damaligen Verfassungs- trauter, der Vizechef der Planungsabteilung
Scholz. Und dann Twitter, immer wieder schutzchef Hans-Georg Maaßen, die De- in Spahns Ministerium, für die Zeit des in-
Twitter. batte um die Sozialismusthesen von Juso- nerparteilichen Wahlkampfs Urlaub.
»Interessante Liste«, schreibt Schmidt Chef Kevin Kühnert. Nie war Scholz Sollte Scholz SPD-Vorsitzender und
über eine Wahlempfehlung mehrerer Süd- schuld. Aber die Ausschläge nach oben? Kanzlerkandidat werden, wird sich die
westgenossen. »Vielleicht ein wichtiger Sind natürlich Scholz zu verdanken. Frage noch drängender stellen: Als was ist
Hinweis«, postet er über die Wahlempfeh- »Hier«, sagt Schmidt, »im September Schmidt eigentlich genau unterwegs? Als
lung von Heidemarie Wieczorek-Zeul, für 2018, da gehen wir auf 23 Prozent in der Diener des Staates oder seines Chefs? Die
viele mittlerweile das linke Gewissen der Stimmung hoch. Das war auch das Ergebnis Union dürfte es nicht versäumen, das zu
SPD. Und als Forsa ermittelt, dass Scholz von Olafs Initiative zur Rentengarantie.« thematisieren.
in der Kanzlerfrage der CDU-Chefin ent- Im Berliner Betrieb sind Leute wie Mittwoch Mittag, das Gespräch in
eilt ist, setzt sein Vertrauter ein schlichtes Schmidt unverzichtbar. Gerhard Schröder Schmidts Büro ist fast vorbei, eine Frage
»hübsche Grafik« über die Umfrage. hatte Frank-Walter Steinmeier. Angela noch: Ob er nicht manchmal fürchte, dass
Schmidt ist eine Ein-Mann-Propaganda- Merkel hat ihre Büroleiterin Beate Bau- alles zu viel werden könnte, die Finanz-
maschine mit zwölf Zylindern. mann. Scholz hat Schmidt. politik, der Wahlkampf, die Reisen, der
Für Scholz ist es die entscheidende Pha- Beide kommen aus Hamburg, beide Druck?
se seiner Karriere, er kann alles verlieren sind Juristen, beide wurden im linken Flü- Schmidt: »Nö.« Er sieht aus, als verstün-
oder viel gewinnen. Dabei wollte er nach gel der Jusos sozialisiert. Doch Schmidt de er die Frage nicht so ganz.
dem Abgang von Andrea Nahles erst gar hat manches, was Scholz nicht hat. Christoph Hickmann, Veit Medick,
nicht antreten. Doch Schmidt kam zur Der Chef ist spröde, während Schmidt Christian Teevs
Überzeugung: Olaf muss es machen. Je mit Leuten kann, er ist so etwas wie ein

DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019 25


Deutschland

»Scheiß nicht auf


deine Kinder!«
SPIEGEL-Gespräch Roger Hallam, umstrittener Mitinitiator von »Extinction Rebellion«, vergleicht
den Klimawandel mit dem Holocaust und seine Bewegung mit der Weißen Rose. Meint er das ernst?

Hallam, 53, sitzt in Wales auf seinem Bau- Kanzleramts. Im Oktober blockierten sie in Menschen sterben. Das ist doch Panik-
ernhof. Nachdem er im September 2019 Berlin mehrere Kreuzungen und Brücken. mache!
Spielzeugdrohnen in der Nähe des Flugha- Das Gespräch findet per Videoübertra- Hallam: Der Weltklimarat sagt bis Ende
fens Heathrow starten wollte, um gegen den gung statt – bevor diese Woche Äußerungen des Jahrhunderts eine globale Erwärmung
Bau einer Startbahn zu protestieren, wurde in der »Zeit« bekannt werden, in denen Hal- von bis zu vier bis fünf Grad voraus. Hin-
er festgenommen. Inzwischen ist Hallam lam den Holocaust verharmlost und der Ull- zu kommen Extremwetterereignisse auf-
wieder frei, muss sich aber jeden Tag auf stein-Verlag daraufhin ein Buch Hallams grund des sich verändernden Jetstreams,
einer Polizeistation in der Nähe melden. zurückzieht, das kommende Woche erschei- eines Starkwindbandes. Das bedeutet,
Hallam war viele Jahre Biobauer. Nach nen sollte. Extinction Rebellion Deutschland dass sich Getreide nicht mehr im großen
mehreren verregneten Ernten, so sagt er oft, hat sich von Hallam distanziert. Stil anbauen lässt. Unsere Zivilisation be-
habe er seinen Betrieb aufgegeben. Danach Nachfragen dazu beantwortete Hallam ruht aber auf dem Anbau von Getreide,
wollte er am Londoner King’s College über schriftlich und autorisierte den Wortlaut das man lange lagern kann. Die Folge ist
Widerstandsbewegungen promovieren. Die des Interviews am Mittwochnachmittag. massenhafter Hunger, der führt zu mas-
Doktorarbeit stellte er nie fertig, er gründete Am Donnerstagnachmittag entschuldigte senhaft Toten und irgendwann zum gesell-
im vergangenen Jahr mit einigen anderen er sich auf Facebook für seine Äußerungen. schaftlichen Kollaps. Darauf folgt dann ein
»Extinction Rebellion«, eine Bewegung, die Es sei nicht seine Intention gewesen, den Völkermord oder Massenmigration oder
mit friedlichen Blockaden und publikums- Holocaust herunterzuspielen. eine Kombination aus beidem.
wirksamen Aktionen die Regierungen der SPIEGEL: Sind das nicht ziemlich viele An-
Welt dazu bringen will, ihre Treibhausgas- SPIEGEL: Herr Hallam, Sie behaupten, nahmen, die Sie da treffen? Allein dass
emissionen zu senken. In Deutschland kette- durch die Klimakrise würden in den sich nicht mehr genügend Getreide anbau-
ten sich im Juni Aktivisten an den Zaun des nächsten zwei Generationen Milliarden en lässt, geht ja sehr weit.

EVERT ELZINGA / PICTURE ALLIANCE / ANP

Umweltaktivist Hallam: »Die Klimakrise ist nur das Rohr, durch das Gas in die Gaskammer fließt«

26
Hallam: Es ist ehrlich gesagt Ihre Verant- SPIEGEL: Niemand hat den Klimawandel soph John Locke befand, die Wahrheit zu
wortung als Journalisten, diese Berechnun- bewusst geplant, um jemandem zu scha- sagen sei die erste Tugend. Und die Wahr-
gen anzustellen. Meine Verantwortung ist den. Er ist schlichtweg eine Auswirkung heit ist: Wir sind gerade dabei, die Kinder
es, eine Rebellion gegen die Regierungen unserer Lebensweise. der Welt zu ermorden.
zu organisieren. Warum schreiben Sie kei- Hallam: Aber die Eliten haben die Mög- SPIEGEL: Der Ullstein-Verlag distanzierte
nen Artikel über den Zusammenhang von lichkeit, etwas dagegen zu unternehmen. sich nicht nur von Ihren Äußerungen,
Klimawandel und Vergewaltigung? Die Politiker sind sich der Gefahr bewusst, sondern stoppte die für Montag geplante
SPIEGEL: Wie bitte? blasen aber weiter CO in die Atmosphäre. Auslieferung Ihres Buches. Was werden
²
Hallam: Was wird zur schwerwiegendsten Erinnern Sie sich an die Nürnberger Pro- Sie jetzt tun?
Folge des Klimawandels für Frauen auf der zesse, als Nazis nach dem Zweiten Welt- Hallam: Ich kann nichts anderes tun, als
ganzen Welt werden? Der wirtschaftliche krieg vor Gericht gestellt wurden. Die ein- so gut wie möglich die Wahrheit zu sagen.
und gesellschaftliche Zusammenbruch. Das fache deutsche Bevölkerung wurde nicht Was dann passiert, passiert. Wenn der
bedeutet Krieg, das Abschlachten von Män- gehenkt, weil davon ausgegangen wurde, Verlag beschließt, mein Buch nicht zu ver-
nern und die Vergewaltigung von Frauen. dass die Leute nicht genügend Einfluss hat- öffentlichen, dann ist das dessen Wahl.
SPIEGEL: Sie können doch nicht den Kli- ten. Diejenigen, die Teil der Regierung wa- SPIEGEL: Zurück zu Ihrer Bewegung – im-
mawandel dafür verantwortlich machen, ren, konnten Entscheidungen treffen – mer mehr Länder setzen sich ambitio-
dass Frauen im Krieg vergewaltigt werden. oder eben nicht. Sie haben sich mitschul- niertere Klimaziele, der demokratische
Hallam: Nein, der Klimawandel ist nur dig gemacht an dem Projekt Genozid. Prozess scheint zu funktionieren. Wozu
das Rohr, durch das Gas in die Gaskammer SPIEGEL: Glauben Sie, dass es Ihrer Sache brauchen wir trotzdem eine Revolution?
fließt. Es ist nur der Mechanismus, durch nutzt, wenn Sie den Umgang mit dem Kli- Hallam: Wenn Sie in einem Laster mit
den eine Generation eine andere tötet. mawandel mit der Schreckensherrschaft 50 km/h auf eine Betonwand zufahren
SPIEGEL: Sie vergleichen den Klimawan- der Nationalsozialisten gleichsetzen? und dann die Geschwindigkeit auf 48
del mit der systematischen Ermordung Hallam: Ich glaube eben, dass die Dinge km/h drosseln, reicht das nicht, um die
von Millionen Juden durch die Nazis? Das vergleichbar sind. Katastrophe abzuwenden. Alle ducken
ist doch hoffentlich nicht Ihr Ernst. SPIEGEL: Einer Journalistin der »Zeit«, de- sich weg. Die Politiker sind besorgt, nicht
Hallam: Viele Extinction-Rebellion-Akti- ren Artikel diese Woche erschien, sagten wiedergewählt zu werden. Viele Umwelt-
visten sind mit Nazivergleichen nicht ein- Sie wörtlich, der Holocaust sei »nur ein verbände wehren sich gegen effektive
verstanden. Ich bin nicht der Sprecher der weiterer Scheiß in der Menschheitsge- Aktionen, weil sie glauben, es bringe
Bewegung. Aber meine persönliche Mei- schichte«. Daraufhin distanzierten sich die nichts, und die Bevölkerung geht nicht
nung ist: Die Eliten haben die bewusste deutschen Organisatoren von Extinction zur Wahl, weil sie denkt, die Politiker
Entscheidung getroffen, die nächste Gene- Rebellion von Ihnen. Inzwischen stehen machen eh nichts.
ration zu zerstören, um an der Macht blei- Sie ziemlich allein da. Ist es das alles wert? SPIEGEL: Können Sie Ihre Vorwürfe kon-
ben zu können. Hallam: Extinction Rebellion wurde ge- kretisieren?
gründet, um die Wahrheit über die Klima- Hallam: Natürlich. Ich habe dem Green-
Das Gespräch führten die Redakteure Laura Backes krise zu sagen – und zwar in einer für alle peace-Chef vor einiger Zeit von dem Plan
und Raphael Thelen. verständlichen Sprache. Schon der Philo- erzählt, mithilfe von massenhaftem zivilen

CARSTEN KOALL / GETTY IMAGES

»Extinction Rebellion«-Proteste in Berlin im Oktober: »Ich kann nichts anderes tun, als so gut wie möglich die Wahrheit zu sagen«

DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019 27


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Ungehorsam gegen die Klimakrise zu Sie wirklich, die geben ihre Macht an ei-
kämpfen. Er antwortete: »Roger, die Kli- nen von Ihnen propagierten Bürgerrat ab?
makrise ist zu abstrakt, dafür wirst du die Hallam: Vor 1789 glaubten die Menschen
Massen nicht mobilisieren.« Er war prag- auch nicht, dass die französische Aristo-
matisch. Jeder wartet darauf, dass ein kratie jemals ihre Macht aufgeben würde.
anderer handelt. Ich nenne das die Todes- Kommen Sie, haben Sie ein bisschen his-
spirale des Pragmatismus. Ziviler Unge- torische Vorstellungskraft!
horsam bricht mit dieser Spirale. SPIEGEL: Na ja, wenn Sie schon die 200
SPIEGEL: Und führt dann wozu? Jahre zurückgehen müssen.
Hallam: Wir wollen die Regierungen in ein Hallam: Gab es irgendwen beim SPIEGEL,
Dilemma treiben. Entweder verhaften sie der 1988 den Fall der Berliner Mauer
uns, das löst Sympathie für die Bewegung vorausgesagt hat?
aus und bringt noch mehr Leute auf die SPIEGEL: Wie soll Ihre Idee der Bürgerräte
Straße. Oder die Regierungen akzeptieren funktionieren?
die Störung des öffentlichen Raumes. Wenn Hallam: Ein nationaler Bürgerrat entschei-
diese beiden Optionen untragbar werden, det, was die Regierung zu tun hat, um die
müssen die Politiker sich auf eine dritte Op- Wahrscheinlichkeit des Klimachaos und
tion einlassen: Verhandlungen. Das ist un- eines gesellschaftlichen Kollapses zu mini-
sere Theorie des Wandels, die auf der Ar- mieren. Die Mitglieder werden nach dem
beit der US-Wissenschaftlerinnen Erica Zufallsprinzip ausgewählt und sind souve-
Chenoweth und Maria Stephan basiert. Ih- rän und unabhängig. Die Regierung muss
rer Forschung zufolge führte friedlicher Wi- tun, was der Rat sagt.
derstand im vergangenen Jahrhundert in SPIEGEL: Wieso glauben Sie, dass die Bür-
53 Prozent der Fälle zum Ziel, gewalttätiger gerräte bessere Entscheidungen treffen als
Protest in 26 Prozent. Die Strategie der Ge- die existierenden Parlamente?
waltlosigkeit hat etliche Male funktioniert, Hallam: Es gibt eine Forschungstradition
zum Beispiel in Ostdeutschland 1989. in der Politischen Theorie, der zufolge das
SPIEGEL: Sie selbst wurden allerdings erst höchste Ausmaß an Rationalität erreicht
mal außer Gefecht gesetzt. werden kann, wenn freie Individuen zu-
Hallam: Ich wäre für die Aktion in Heath- sammenkommen und über ein Thema
row ins Gefängnis gegangen, auch wenn beraten, das alle besorgt.
niemand etwas davon mitbekommen hät- SPIEGEL: Was tun Sie, wenn der Bürgerrat
te. Das ist wie mit den Mitgliedern der sich nicht um den Klimawandel schert?
Weißen Rose, die Flugblätter gegen die Na- Hallam: Die Wahrscheinlichkeit, dass Men-
zis verteilten. Sie machten das nicht, weil schen ihre eigenen Kinder in den Tod schi-
sie dachten, sie könnten gewinnen, son- cken, ist ziemlich gering.
dern weil sie als moralische Wesen nicht SPIEGEL: Selbst wenn ein Bürgerrat die aus
damit leben konnten, danebenzustehen Ihrer Sicht richtigen Entscheidungen trifft,
und nichts zu tun. kann es sein, dass manche Leute immer

Dieses Outfit SPIEGEL: Verheben Sie sich da nicht schon


wieder? Die Mitglieder der Weißen Rose
noch gern SUV fahren und Fleisch essen.
Hallam: Ich wollte gerade einen Witz ma-

macht Karriere
wurden von den Nazis enthauptet. chen und sagen: Die werden alle erschos-
Hallam: Natürlich war ihr Opfer viel grö- sen! Aber Sie würden mich natürlich zitie-

nach Maß
ßer als meins. Es geht darum zu tun, was ren und daraus ableiten, dass ich ein Ex-
moralisch richtig ist, unabhängig davon, tremist und Antidemokrat bin.
ob du erfolgreich bist. Diese Haltung hat- SPIEGEL: Sie haben mal gesagt: »Wenn
ten die meisten Rebellen in der Geschichte. eine Gesellschaft unmoralisch handelt,
Das passende Outfit für Ihren Erfolg: SPIEGEL: Wenn die Eliten, wie Sie sie nen- wird Demokratie irrelevant. Dann kann
nen, nichts tun – kommt dann der Tag, an es nur noch direkte Aktionen geben, um
Maßhemd Super-Comfort-Stretch, ab 99 € dem Gewalt für Sie zur Option wird? das zu stoppen.«
Maßanzug 100 % Merinowolle Super 150 Hallam: Ich habe Ihnen die Zahlen ge- Hallam: Ich beteuere hiermit, dass ich auf-
(Lanificio F.LLi Cerruti), ab 799 € nannt, friedlicher Protest ist vielverspre- richtiger und leidenschaftlicher Demokrat
chender! Wenn Sie allerdings eine so- bin. Allein eine real existierende Demo-
ziologische Prognose wollen, dann ist es kratie ist kein absoluter Wert an sich. Das
selbstverständlich wahrscheinlich, dass moralische Recht hingegen schon.
Exklusiv erhältlich bei die Proteste gewalttätig werden. Die For- SPIEGEL: Wie definieren Sie moralisches
schung über Protestbewegungen zeigt, Recht?
KUHN Maßkonfektion dass die Gewalt die Gewaltlosigkeit ver- Hallam: Es ist nicht gerechtfertigt, das Le-
Die erste Adresse drängt. Deshalb müssen erfolgreiche ge- ben und die Lebensgrundlage anderer zu
fürs Business-Outfit waltfreie Bewegungen null Toleranz ge- zerstören, einfach nur weil es den eigenen
genüber Gewalt haben. Wird Gewalt to- Interessen dient. In anderen Worten:
leriert, steuert die Gesellschaft auf einen Scheiß nicht auf deine Kinder!
Bürgerkrieg zu. Man kann das derzeit SPIEGEL: Herr Hallam, wir danken Ihnen
in Hongkong beobachten. für dieses Gespräch.
SPIEGEL: Nehmen wir mal an, es gelingt Mail: laura.backes@spiegel.de,
Ihnen tatsächlich, die Regierungen an den raphael.thelen@spiegel.de
2 x Berlin Bonn Dortmund Düsseldorf 2 x Frankfurt Ham-
burg Hannover Köln Mainz Mannheim 2 x München Verhandlungstisch zu bringen. Glauben
Nürnberg Stuttgart Wien Schneeberg (Stammhaus)
KUHN Maßkonfektion KG, Bühlweg 7, 63936 Schnee- 28 DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019
berg (Medieninhaber) www.kuhn-masskonfektion.com
Deutschland

strittigen Frage könnte die klimapolitische


Harmonie in der GroKo zerbrechen, die
beide Parteien mit dem Klimaprogramm
im September präsentieren wollten.
Ein Unterstützer des Gesetzes ist der
einflussreiche CDU-Wirtschaftspolitiker
Carsten Linnemann. »Im Gegensatz zur
SPD ist unsere Partei auf dem Land sehr
verwurzelt«, sagt der Paderborner Abge-
ordnete, dort bekomme man den Protest
hautnah mit. Linnemann ist wie Pfeiffer
Mitglied des konservativen Wirtschaftsflü-
gels seiner Partei. Für die Energiewende
fordern die Konservativen mehr Rücksicht
auf die Marktwirtschaft und ein geringeres

SCHEIDEL,MARCUS / ACTION PRESS


Tempo beim Ausbau der Erneuerbaren.
Um nicht nur als Bremser dazustehen,
verfolgen sie eine neue verwegene Idee:
Wasserstoff aus der Wüste. Geht es nach
der Unionsgruppe, dann sollen etwa in
Marokko oder Ägypten große Wind- und
Solarparks entstehen. Die Idee ist nicht
neu. Schon vor ein paar Jahren hatte sich
Windpark beim thüringischen Struth: »Die Akzeptanz ist weg« in Deutschland ein Konsortium namens
Desertec gegründet, das grandios floppte.
Dem neuen Vorschlag zufolge soll aus
promisses, den die Große Koalition Ende dem Strom per Elektrolyse Wasserstoff er-

Gegenwind September ausgehandelt hat. Es geht um


neue Abstandsregeln für Windkraftan-
lagen. Sie müssen künftig mindestens
zeugt werden, der dann per Pipeline oder
Schiff nach Deutschland gelangen soll. »In
der Perspektive werden wir auch Wasser-
Klima Die CDU leidet unter den 1000 Meter von Siedlungen entfernt sein. stoffimporte benötigen, um unsere Klima-
Die Regelung steht in einem Gesetzent- ziele zu erreichen«, sagt Linnemann.
Protesten gegen die Windkraft. wurf, den Pfeiffers Parteikollege und Bun- Einer seiner Mitstreiter, der Hamburger
Neue Abstandsregeln sollen die deswirtschaftsminister Peter Altmaier vor- CDU-Abgeordnete Christoph Ploß, schreibt
Bürger besänftigen – vergangene Woche vorgelegt hat. Er soll gerade an einer entsprechenden Strategie
die Bereitschaft der Menschen erhöhen, für seine Partei. »Mit Wasserstoff können
und Ökostrom aus der Wüste. die Anlagen zu tolerieren. Das zumindest wir den Energiebedarf Deutschlands de-
sieht Pfeiffer so. Seine Gegner sagen, der cken, ohne dass Windkraftanlagen zu nah

W indkraftanlagen produzieren nicht


nur Strom. Sie entfachen auch
politische Stürme. Diese Erfah-
rung machte Joachim Pfeiffer bei der ver-
CDU-Mann wolle mit seinen Initiativen
nur eines: die Energiewende abwürgen.
Argumentativ werden die Kritiker des
Gesetzes von Wissenschaftlern unterstützt.
an Wohngebieten stehen«, behauptet er.
Ploß plädiert dafür, mit sonnen- und wind-
reichen Regionen zu kooperieren und die
notwendige Technik nach Afrika und in
gangenen Bundestagswahl. Sein Wahlkreis Die neuen Abstandsregeln würden den den Nahen Osten zu exportieren. »So ver-
Waiblingen östlich von Stuttgart ist ein so- Ausbau der Windkraft und die Energie- binden wir eine vernünftige Klimaschutz-
genanntes Vorranggebiet. Nach dem Willen wende behindern, so deren einhellige Mei- mit einer vernünftigen Wirtschaftspolitik,
der baden-württembergischen Landesregie- nung. Das Potsdamer Forschungsinstitut die neue Arbeitsplätze schafft«, sagt Ploß.
rung sollen die Menschen von dort aus mit IASS, das einst von CDU-Umweltvorden- Klimaschützer lehnen den Vorschlag ab,
grünem Strom versorgt werden. ker Klaus Töpfer geleitet wurde, kommt nicht nur wegen der politischen Instabilität
Pünktlich zur Wahl im Herbst 2017 er- zu dem Ergebnis, dass die potenziellen in Afrika. Bei der Umwandlung von Strom
richtete der Energiekonzern EnBW in Waib- Windkraftflächen bei einer Erhöhung des in Wasserstoff und zurück gehe sehr viel
lingen drei gut 160 Meter hohe Windräder. Abstands von 600 auf 1000 Meter um 65 Energie verloren, sagt Patrick Graichen
Die Parteien, die gegen die Anlagen pro- Prozent reduziert würden. »Mit dieser von der Denkfabrik Agora Energiewende.
testiert hatten, wurden mit guten Wahler- Mindestabstandsregelung steht das Klima- Er sieht im Wasserstoff durchaus Potenzial,
gebnissen belohnt: Die AfD bekam 13 Pro- ziel der Bundesregierung für das Jahr aber für andere Zwecke: Bei der Herstel-
zent, die FDP sogar 16 Prozent. Unions- 2030 auf der Kippe«, so die Analyse. lung von Stahl könne er die Kohle erset-
mann Pfeiffer erlitt herbe Verluste. Diese Kritik teilt auch der Koalitionspart- zen. Ökologisch produzierter Wasserstoff
Für den 52-Jährigen ist spätestens seit ner der CDU. »Wir sind mit dem Vorschlag werde künftig Flugzeuge antreiben und im
diesem Moment klar: Die Bürger wollen nicht einverstanden«, sagt Bundesumwelt- Lastverkehr eingesetzt werden.
keine Anlagen vor ihrer Haustür. Sein bit- ministerin Svenja Schulze (SPD). An der Allerdings könne Wasserstoff aus dem
teres Fazit: »Die Akzeptanz für die Wind- Ausland, der wieder in Strom verwandelt
kraft ist weg.« wird, die Windkraft daheim nicht kompen-
Pfeiffer hat seine Erfahrungen aus dem sieren, sagt Graichen. »Heimische Wind-
Wahlkreis in den Bundestag eingebracht. »Mit der Mindestabstands- und Solaranlagen sind für die Versorgung
Er ist energiepolitischer Sprecher der regel steht das Klimaziel von Wirtschaft, Haushalten und Autos die
Unionsfraktion und einer der lautesten Kri- kostengünstigsten Energiequellen, denn
tiker der Energiewende. Er gilt als einer
2030 der Bundesregierung jeder Import ist teuer.« Gerald Traufetter
der Architekten eines umstrittenen Kom- auf der Kippe.«
29
Deutschland

Gemischte Doppel
Führung Die Grünen haben Erfolg mit ihrer Doppelspitze, die SPD versucht es nun auch.
Doch was macht ein gutes Duo aus? Eine Psychologin nennt acht Punkte fürs Gelingen.

D
ies ist das Jahr, in dem Deutsch- Leute, die Konflikte haben.« Auf das The- Nein, überzeugt sei sie wirklich nicht
lands Mitte kaputtging und mit ma sei sie gekommen, als ihre Tochter an von der Doppelspitze, acht Punkte aber
ihr gleich zwei Anführerinnen der Uni eine Arbeit über die Grünen ge- ringt sie sich dennoch ab, die Doppelspit-
der Volksparteien CDU und SPD: schrieben habe. So habe sie den Bedarf zen dringend beachten müssten, wenn sie
Annegret Kramp-Karrenbauer und An- entdeckt, selbst publiziert – und schon erfolgreich sein wollten. Was für Führungs-
drea Nahles. Sie traten an, ihre Parteien bald hätten sich immer mehr Doppelspit- kräfte gelte, sei übrigens auch für die wohl
aus der Krise zu führen. Es gab einen guten zen von ihr helfen lassen. älteste Doppelspitze richtig: für Eltern.
Anfang, ein Momentum, doch bald, und Die Beraterin hat Theologenpaare ge-
im Fall von Kramp-Karrenbauer sehr bald, coacht, die eine Gemeinde führten, VW-
1. Gleichauf sein
erodierte ihre Autorität. Nahles ist längst Manager, Ärzte und Physiotherapeuten,
Geschichte, Kramp-Karrenbauer könnte die sich Praxen teilten, Ressortleiter- Die Partner müssten im Bildungsstand
es bald sein. paarungen in Medienunternehmen und, und bei den Kompetenzen ähnlich qua-
Es gibt offenkundig ein Führungspro- ja, Politiker. »Die sind besonders schwierig, lifiziert sein oder sich zumindest so füh-
blem in der politischen Klasse, zugleich weil sie so überängstlich sind, die haben len, sonst komme es, manchmal auch
scheint es eine große Sehnsucht nach ge- immer Sorge, dass jemand davon erfährt, unbewusst, zu Rivalitäten, sagt Schreyögg.
lungener Führung zu geben. Viele suchen dass sie sich Hilfe suchen.« Sie ist sofort wieder bei den Problemen:
nach politischer Autorität, allerdings nach Politiker hätten es ohnehin »unglaublich In Robert Habeck, Co-Chef der Grünen,
einer anderen, als Donald Trump, Recep schwer« heutzutage, das Ausmaß an Krän- sieht sie ein Ausnahmetalent, gerade
Tayyip Erdoğan, Boris Johnson oder Wla- kungen sei doch ungeheuerlich, »die brau- durch seine Kenntnisse in der Philosophie
dimir Putin sie verkörpern. chen ein so dickes Fell«, sagt Schreyögg habe er die Fähigkeit, die Komplexität
Komplexität zu reduzieren, wie es die und spreizt Daumen und Zeigefinger so unserer Zeit zu erfassen. »Im Denken hat
Trumps und Johnsons tun, wird den Auf- weit wie möglich. er die Qualitäten eines Habermas«, sagt
gaben nicht gerecht. Sich den verschie- Aber zu zweit kann man sich doch hel- sie und verweist damit auf den wohl ein-
denen Aufgaben zu stellen, indem man fen? Steht der eine im Shitstorm, könnte flussreichsten deutschen Philosophen der
ständig Strategie und Auftreten ändert, das der andere sich schützend davorstellen. Gegenwart. Und Annalena Baerbock, die
stiftet Verwirrung. Zu verschwinden, wie Astrid Schreyögg sagt: »Kann gut gehen, Co-Chefin, wirke zwar »frisch«, aber der
es Kanzlerin Angela Merkel derzeit prak- muss aber nicht.« Kampf gegen den Großen an ihrer Seite
tiziert, ist auch keine Lösung. Die SPD tue ihr übrigens leid, wie da sei ihr anzumerken: »Sie schreit oft so.«
Ist das Führen dem Einzelnen nicht mehr verantwortungsvoll beschäftigte Kandida- In der öffentlichen Bewertung allerdings
zuzumuten? Machen es die Grünen richtig, ten in dem monatelangen Auswahlverfah- kommt Annalena Baerbock im Schnitt bes-
die ihr schon lange erprobtes und nicht im- ren ihre »Ressourcen verschleudert« hät- ser weg – bei der Wiederwahl am vorigen
mer gelungenes Prinzip der Doppelspitze ten – »schlimm«. Aber der Glaube an die Wochenende erzielte sie sogar ein höheres
neu erfunden haben – und ihre aktuellen Doppelspitze komme nun mal aus dem Ergebnis als Habeck.
Protagonisten gerade mit Ergebnissen jen- linken, basisdemokratischen, antihierar- Schreyöggs Sicht auf die SPDler Olaf
seits der 90 Prozent bestätigten? Auch die chischen Denken. Frau Schreyögg seufzt. Scholz und die 18 Jahre jüngere Klara Gey-
Sozialdemokraten setzen ihre Hoffnungen witz ist ebenfalls kritisch: Er sei so viel
nun auf dieses Führungsprinzip. bekannter, so viel erfahrener als sie. Und
Aufbruch zu Astrid Schreyögg, Psycho- deren Konkurrenten Norbert Walter-Bor-
login, Coachin, Wissenschaftlerin und Spe- jans und Saskia Esken? Immerhin in ihrem
zialistin für das wenig erforschte Gebiet relativen Unbekanntsein, meint die Exper-
der Doppelspitze. Wir gehen, dem Thema tin, lägen die beiden gleichauf, das könne
angemessen, zu zweit hin, eine Frau, ein durchaus ein Vorteil sein.
Mann. Ihre Wohnung, in der auch ihre Pra-
xis untergebracht ist, liegt am Berliner
2. Unterschiede betonen
Schlachtensee. Die Tür öffnet sich, zwei
Heilige-Birma-Katzen schauen interessiert Wer sich wiederum sicher sei, auf Augen-
heraus. »Zwillinge«, sagt Frau Schreyögg, höhe unterwegs zu sein, könne auch selbst-
DOMINIK BUTZMANN / DER SPIEGEL

selbst die Haustiere gibt es bei ihr im Dop- bewusst die Unterschiede betonen. Und
pel. Sie bittet in ihr Beratungszimmer, zwei das sei entscheidend, denn hier liege ein
Sessel stehen da, einer rot, einer blau: wesentlicher Vorteil der Doppelspitze: Sie
»Nehmen Sie Platz, da sitzen immer meine könne ein breites Spektrum an Sicht-
Klienten.« weisen und Identifikationsflächen anbie-
Astrid Schreyögg, 73 Jahre alt, ist durch ten. Wenn Klara Geywitz nun beispiels-
ihre jahrzehntelange Beschäftigung mit weise herausstreichen würde, so Schrey-
dem Prinzip nicht zu seinem Fan gewor- öggs Empfehlung, dass sie aus Ostdeutsch-
den. »Mit Problemen bei Doppelspitzen Beraterin Schreyögg land kommt, und auf die Tradition der ar-
kenne ich mich aus. Zu mir kommen ja die »Kann gut gehen, muss aber nicht« beitenden Frau in der DDR verwiese,

30 DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019


FOTOS: PETER RIGAUD / DER SPIEGEL
SPD-Vorsitz-Kandidatenpaare Walter-Borjans und Esken, Scholz und Geywitz: »Ressourcen verschleudert«

dann böte sie sowohl ein positives Identi- lationsstopp herbeiführe. Frau Schreyögg, ten gern mal Bündnisse mit Dritten, um
fikationsangebot für den Osten als auch kaum verwunderlich, rät zu regelmäßi- gegenüber dem als überlegen empfun-
für den Westen, wo viele arbeitende Frau- gem Coaching, auch in Einzelgesprächen: denen Partner die eigene Machtbastion
en aus Familien mit Hausfrauenmüttern »Da können die Partner mal Luft rauslas- zu sichern. Das, so Schreyögg, sei »der
stammten und nach Vorbildern suchten. sen, ohne Angst zu haben, die Beziehung Anfang vom Ende«.
zu gefährden.« Danach wieder Treffen
zu dritt, um gemeinsam auf Lösungen
3. Konflikte besprechen 6. Reife mitbringen
zu kommen.
Da aber Partner in Doppelspitzen wüssten, Mächtige müssten mit Kränkungen um-
dass sie sich gut verstehen sollten, um ihre gehen können, das heiße für Politiker: aus-
5. Ein Dreieck kann
Posten nicht zu gefährden, verhindere dies zuhalten, wenn der andere mehr Inter-
gefährlich werden
oft, Unterschiede zu betonen und Konflik- viewanfragen bekomme. Außerdem gelte
te anzusprechen. Konflikte aber gebe es Zu dritt seien Doppelspitzen sowieso im- es, Mechanismen zu finden, damit es ge-
immer, und Doppelspitzen hätten nun mal mer, auch wenn sie sich das nicht klar- recht zugehe. Frau Schreyögg erinnert sich
niemanden über sich, der sie lösen könne, machten. Sie müssten ja führen, eine an ein Pfarrerspaar, das sie gecoacht hat.
was ihnen also fehle, sei der »Eskalations- Mannschaft also, die Frau Schreyögg »das Die Frau war schon länger in der Gemein-
stopp«. Konflikte würden vor sich herge- Dritte« nennt. Psychologen reden bei El- de, der Mann kam dazu. Aber weil die
schoben, irgendwann türmten sie sich auf. tern von der »Triangulation«, die gelingen Frau bekannter war, gingen die meisten
müsse, damit Partnerschaften mit Kindern Anfragen für Taufen, Hochzeiten, Beer-
nicht scheitern. Auch Frau Schreyögg digungen an sie. Die Frau hat auch immer
4. Beratung suchen
spricht von der Triangulation: Untergebe- schön zugesagt – nach einem Jahr hat
Doppelspitzen sollten also nicht nur ne versuchten, Allianzen mit einem der der Pfarrer die Scheidung eingereicht. Sie
miteinander im Gespräch bleiben, auch beiden Partner einzugehen, um an der hätte mehr abgeben müssen, er hätte
über Unangenehmes, sondern sich je- Macht teilzuhaben und das Paar zu schwä- weniger gekränkt reagieren können, hier
mand Drittes dazuholen, der einen Eska- chen. Auch unterlegene Partner schmiede- fehlte es wohl beiden an Reife.

31
7. Sich selbst kennen
Reif sein, reif handeln könne nur, wer sich
Hyggelige Weihnachten. selbst kenne. Über die eigene Rolle zum
Beispiel in der Familie Bescheid zu wissen,

Hört sich gut an: mit DAB+.


sei hilfreich. Frau Schreyögg sagt, sie sei
die Älteste zu Hause gewesen und ertap-
pe sich immer wieder dabei, mit Ältesten
am besten auszukommen. Mit Frauen, die
Bis zu 30 % Rabatt auf in Geschwisterkonstellationen die Jün-
geren seien, laufe es bisweilen nicht so
DAB+ Radios sichern : flüssig und locker, da müsse sie aufpassen,
dabplus.de/rabatt sich kontrollieren: »Wenn die mich so Hil-
fe suchend anschauen – nein.« Wer so et-
was von sich wisse, könne sich und an-
deren viel Kummer ersparen. Sie könne
Scholz/Geywitz oder Baerbock/Habeck
nur raten, sich über sich selbst genauso
viel Gedanken zu machen wie über den
anderen.

8. Narzissten raus
Aus allen vorherigen Punkten folge, dass
Doppelspitzen mit Narzissten unbedingt
zu vermeiden seien. Narzissten seien
kränkbar, sie wollten immer groß, immer
die Nummer eins sein. Narzissten könn-
ten zwar einfühlsam sein, aber nicht um
des anderen willen, sondern nur um
festzustellen, wo der Feind sei, wo der
andere ihnen nützen könne. Narzissten
könnten es mit Gleichrangigen nicht aus-
halten, nur mit Dienern. Sie wollten sich
auch nicht beraten lassen, weil sie in sol-
chen Situationen merkten, dass sie über
sich selbst gar nicht nachdenken könnten.
»Sie kommen nur in die Beratung, wenn
ihnen das Wasser bis zum Hals steht,
dann aber muss es der beste Berater sein,
um diesem dann zu beweisen, ihm ja doch
überlegen zu sein.«
Trump verkörpere den Prototypus des
Narzissten. Sie sei sonst sehr vorsichtig
mit Ferndiagnosen, aber diese traue sie
sich zu.

Frau Schreyögg seufzt wieder. In ihrem Re-


gal stehen etliche Bücher über Narzissmus.
Die beste, erfolgreichste und langlebigste
Form der Führung, so sagt sie zum Schluss,
sei die verdeckte Doppelspitze. Also eine
formale Nummer eins, kombiniert mit ei-
ner starken Stellvertreterposition: beide
reif, beide reflexionsfähig, beide beratungs-
bereit, unterschiedlich, damit sie Sichtwei-
sen kombinieren, Identifikation in viele
Richtungen stiften könnten. Im Konfliktfall
gäbe es aber den einen, der sage, wie es
nun gemacht werde.
Sollte es für die kommende Doppelspit-
ze der SPD jemals ums Kanzleramt gehen,
und für die Grünen gilt dasselbe, müssten
sie sich sowieso entscheiden. Ins Kanzler-
amt kann nur eine. Oder einer.
Susanne Beyer, Marcel Rosenbach
Mehr Klangqualität, mehr Programmvielfalt:
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32 DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019
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Deutschland

Vereinter
Ärger
Finanzen Minister Olaf Scholz
will Steuervorteile streichen,
wenn Vereine allzu politisch
sind. Das könnte Karnevalisten
oder Freizeitsportler treffen.

O laf Scholz ist ein Vereinsmeier, wie


er im Mitgliederverzeichnis steht.

MAURITIUS IMAGES
29 Vereine führen den Finanzminis-
ter als einen der ihren. Darunter finden
sich Pflichtadressen für einen SPD-Mann
wie der Arbeiter-Samariter-Bund und die
Arbeiterwohlfahrt, aber auch der Deut- Karnevalszug in Düsseldorf: Für manchen Verein ein schwerer Schlag
sche Alpenverein, der Freundeskreis Alto-
na oder der Ruder-Club Allemannia von
1866. Schon von Berufs wegen muss ein Alarm löst vor allem eine geplante Er- der Steuer abziehen«, schimpft Giegold.
Politiker Kontakt halten mit dem Volk, gänzung der Abgabenordnung (AO) aus, »Politisches Engagement für gemeinnützi-
und das trifft er nicht zuletzt in einem der die Scholz derzeit in einer gemeinsamen ge Ziele sollte steuerlich unschädlich sein«,
rund 600 000 Vereine. Sie haben Dutzen- Arbeitsgruppe von Bund und Ländern dis- fordert der Grünenpolitiker.
de Millionen Mitglieder, allein bei Sport- kutieren lässt. In dem Entwurf heißt es, Ver- Die Experten des Bundesfinanzminis-
klubs sind es mehr als 27 Millionen. eine würden »auch dann noch« steuerlich teriums wiegeln in einem Positionspapier
Und trotzdem legt sich Scholz mit dieser begünstigt, »wenn eine gemeinnützige Tä- ab. Ihr Ziel sei es, »das ehrenamtliche und
größtmöglichen Klientel an. Vor zwei Wo- tigkeit mit politischen Mitteln begleitet zivilgesellschaftliche Engagement zu un-
chen kam heraus, dass er reinen Männer- wird«. Auf Deutsch: Vereine dürfen sich terstützen und zu fördern«. Die Novelle
vereinen im Rahmen der Reform des Ge- politisch äußern, aber nur, wenn es ihrem wolle nach den Urteilen des BFH »recht-
meinnützigkeitsrechts Steuerprivilegien Vereinszweck dient. Die Absicht, politische liche Klarheit schaffen«. Ungelöst bleiben
streichen will. Wer Frauen außen vor lasse, Parteien oder die staatliche Willensbildung damit Probleme solcher Vereine, deren al-
verfolge alles Mögliche, nur nicht die Inte- zu beeinflussen, müsse dabei aber »weit in leiniger oder überwiegender Zweck in ih-
ressen der Allgemeinheit, so argumentiert den Hintergrund« treten, heißt es in dem rer Satzung ein politischer ist.
er. Empörung war programmiert. Papier. Ähnliche Formulierungen gab es bis- Genau das ist das Problem von Organi-
Doch die Überlegungen des Finanz- lang schon in einem Anwendungserlass für sationen wie Attac, die vor Kurzem ihre
ministers gehen viel weiter als bisher be- die Finanzämter, doch mit der Änderung Steuerprivilegien verloren hat. Für sie rei-
kannt und dürften noch mehr Aufruhr der AO bekommen sie eine neue Qualität. che eine Ergänzung der Abgabenordnung
erzeugen. Scholz will Vereinen nämlich Betroffene argwöhnen, dass die Regelung nicht aus, heißt es in dem Positionspapier.
auch die Steuerbegünstigung streichen, wie ein Maulkorb wirkt. »Ein Karnevalsver- »Dazu braucht es eine andere Lösung, bei-
wenn sie sich allzu sehr in die Politik ein- ein, der sich gegen einen Naziaufmarsch en- spielsweise im Wege des Körperschaftsteu-
mischen. gagiert, würde demnach absurderweise sei- errechts.«
Kritiker des Vorhabens befürchten, dass ne Steuerbegünstigung aufs Spiel setzen«, Dabei stehen Scholz und seine Leute
sich die Neuregelung fatal auswirken könn- sagt Sven Giegold, Abgeordneter der Grü- vor einer schwierigen Aufgabe: Sie müs-
te auf das bürgerschaftliche Engagement nen im Europaparlament. Der Mann kennt sen sicherstellen, dass Vereine, die sich für
von Vereinen. Dürfte dann etwa ein Frau- sich aus. Er war lange Finanzchef von Attac, das demokratische Gemeinwesen einset-
enfußballklub noch ein Aktionsbündnis einem als Verein geführten Aktionsbündnis zen, »steuerliche Vorteile erhalten, ohne
gegen rechts unterstützen? Was geschähe von Globalisierungskritikern. ungewollte Nebeneffekte zu schaffen, die
mit dem Schützenverein, wenn er sich Ein Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH), etwa eine verdeckte Parteienfinanzierung
einer Bürgerinitiative gegen Windkraftan- das Attac die Steuerbegünstigung ab- ermöglichen«.
lagen anschließt? Und kann sich ein Ge- erkannte, ist Anlass für die Aktivitäten des Im Klartext: Scholz und seine Beamten
sangsverein auch künftig in der Flüchtlings- Finanzministers. »Ich finde es ebenso frag- befürchten, dass Parteien auf die Idee kom-
hilfe engagieren? würdig wie empörend, wenn Scholz men könnten, die Beschränkungen des
Der Verlust der Gemeinnützigkeit wür- die Gemeinwohllobbys behindert, wäh- Parteiengesetzes zu umgehen, indem sie
de für manchen Verein einen schweren rend Unternehmen ihre Lobbykosten von Vereine mit ihrer politischen Zielsetzung
Schlag bedeuten. Er dürfte dann für Geld- gründen. Die könnten dann viel mehr
geber keine steuermindernden Spenden- Spenden entgegennehmen als Parteien.
quittungen mehr ausgeben, im Falle von »Das wäre die Neuauflage der Staatsbür-
Sportvereinen könnten Mitarbeiter nicht »Politisches Engagement gerlichen Vereinigung«, heißt es im BMF.
mehr die Übungsleiterpauschale in An- für gemeinnützige Sie war Mittelpunkt der Parteispenden-
spruch nehmen. Beides würde das Enga- affäre, die in den Achtzigerjahren aufflog.
gement für den Verein empfindlich treffen,
Ziele sollte steuerlich
Christian Reiermann
so die Befürchtung. unschädlich sein.«
33
Deutschland

Viele Torpedos
Karrieren Das Amt der Verteidigungsministerin soll der angeschlagenen CDU-Chefin Annegret
Kramp-Karrenbauer doch noch den Weg ins Kanzleramt ebnen. Ein riskantes Manöver.

S
ie ist neu hier. Die Frage ist des- ist. Als CDU-Vorsitzende ist sie von Zweif- der Leyen nach Brüssel war klar«, vertei-
halb, wie Annegret Kramp-Kar- lern und Gegnern umringt, die auf dem Par- digte die neue Ressortchefin ihren Schritt,
renbauer auftreten wird vor den teitag an diesem Wochenende ihre Grenzen »dass es um die Frage geht: Mit welcher
Königen des Parlaments. So sehen austesten werden. Aber als Ministerin hat Priorität versehen wir das Verteidigungs-
sie sich selbst, die Abgeordneten des Haus- sie sich inzwischen halbwegs etabliert und ministerium?«
haltsausschusses. Wer ihnen gegenüber- etwas Respekt und Rückhalt erkämpft. Die Frage beantwortete sie selbst. In Zu-
tritt, kommt als Bittsteller. Als Kramp-Karrenbauer Mitte Juli das kunft werde »das politische Gewicht der
Die Haushälter bestimmen über das schwierige Verteidigungsministerium über- Vorsitzenden der größten Regierungspar-
Geld, im Gegenzug erwarten sie Demut. nahm, war es das Eingeständnis eines vor- tei mit in dieses Amt« fließen, beteuerte
Am späten Donnerstagabend der vergan- läufigen Scheiterns. Sieben Monate lang die CDU-Chefin. In Wahrheit hofft sie,
genen Woche hat der Ausschuss
die Verteidigungsministerin gela-
den. Sie soll ihren Haushalt begrün-
den. Kramp-Karrenbauer bringt
ihre wichtigsten Mitarbeiter mit,
drei Staatssekretäre, mehrere Ab-
teilungsleiter, einen Tross aus 30,
40 hohen Beamten und Offizieren.
Sie ist gewappnet, falls es kompli-
ziert werden sollte. Und es wird
kompliziert.
Der Grünenabgeordnete Tobias
Lindner will wissen, warum die
Luftwaffe zwei neue Transport-
maschinen vom Typ A400M nicht
annehmen will. Was genau sind die
Qualitätsprobleme? Es ist eine Fra-
ge für Nerds, das weiß auch Lind-
ner. Er rechnet damit, dass »AKK«
die Frage an ihren Rüstungsstaats-

FRANK HOERMANN / SVEN SIMON


sekretär delegieren wird. Ursula
von der Leyen hätte es so gemacht.
Sie hielt Distanz zu unschönen De-
tails, die ihr hätten politisch gefähr-
lich werden können.
Wie wird die Neue reagieren?
Zugeben, dass sie keine Ahnung
hat? Einen Mitarbeiter antworten Rekruten bei öffentlichem Gelöbnis in München: Happy, dass man nicht mehr so getriezt wird
lassen? Die Ministerin beugt sich
zu ihrem Staatssekretär, der schiebt
ihr einen Zettel zu, ein kurzer Blick, dann hatte sie als Parteivorsitzende versucht, dass nicht sie dem neuen Amt, sondern
liest Kramp-Karrenbauer vor: »Die Ma- der CDU ihren Stempel aufzudrücken und das neue Amt endlich ihr das notwendige
schinen mit der Serialnummer MSN096 ihren Weg ganz nach oben ins Kanzleramt Gewicht verleiht, um den Aufstieg ganz
und MSN100 …« vorzubereiten. nach oben zu schaffen, ins Kanzleramt.
Im Bundestag gehört Lindner zu den Tatsächlich aber schrumpfte die CDU Kann ihr das gelingen? Sich als Ministe-
schärfsten Kritikern der Ministerin. Doch unter ihrer Führung weiter, zuletzt bei den rin zu profilieren, während sie gleichzeitig
jetzt ertappt sich der grüne Verteidigungs- Landtagswahlen in Thüringen um fast als Parteivorsitzende scheitert? Es ist ein
politiker dabei, dass er ihren Auftritt ir- zwölf Prozentpunkte. Ihre eigenen Zustim- spannender politischer Feldversuch, den
gendwie cool findet. Sie schwafelt nicht he- mungswerte haben sich in knapp einem es so noch nie gegeben hat. Und es gibt
rum wie ihre Vorgängerin, weicht nicht aus, Jahr halbiert, ihre innerparteilichen Geg- Indizien dafür, dass er zumindest am An-
sondern beantwortet Fragen. Und anders ner verspüren inzwischen so wenig Res- fang weitgehend geklappt hat, mithilfe
als von der Leyen ist sie bereit, ins politi- pekt vor ihr, dass manche Solidarität noch einer Politik der kleinen Schritte und der
sche Risiko zu gehen. Sie zeigt Demut. nicht einmal heucheln mögen. großen Ankündigungen.
So macht Kramp-Karrenbauer an diesem Mit dem Amt der Verteidigungsministe- Wenn in diesen Tagen hohe Offiziere
Abend einen Punkt, auch bei ihren Geg- rin musste »AKK« ihre vorherige Zusiche- nach ihrer Chefin gefragt werden, sind fast
nern. Wie überhaupt ihr Start im Verteidi- rung kassieren, nicht ins Kabinett zu wech- alle voll des Lobes. Sie interessiert sich für
gungsministerium ganz ordentlich gelaufen seln. »Mit dem Wechsel von Ursula von uns, hört zu, entscheidet und beansprucht

34
für die Bundeswehr eine stärkere Rolle in Chefin in der Kantine des Ministeriums Amtsantritt merkte, dass eines der Projekte
der Außenpolitik. ihrer ersten Mitarbeiterversammlung. Alle gefährdet war, die sie in ihrer Regierungs-
So viel Lob macht misstrauisch. »Glau- waren erleichtert, als sie versprach, bei ihr erklärung angekündigt hatte – nämlich der
ben Sie keinem von denen«, sagt einer der gebe es keinen »Generalverdacht«. Plan, alle Soldaten umsonst mit der Bahn
besten Kenner der Bundeswehr, der wie Die Neue gilt als gute Zuhörerin, sie fahren zu lassen – erklärte sie die Angele-
fast alle Gesprächspartner des SPIEGEL wägt die Argumente, lässt sich beraten und genheit zur Chefsache.
nicht genannt werden will. »In der Gene- entscheidet schnell. Manchmal vielleicht Bisher hatten ihre Beamten mühsam
ralität steht in den nächsten Monaten eine zu schnell. Im Gegensatz zu von der Leyen mit der Bahn um Preise und Buchungskon-
große Beförderungskette an. Diese Chance hat Kramp-Karrenbauer kein Problem, ditionen feilschen müssen. Jetzt griff sie
will sich niemand durch Kritik an der mit einfachen Soldaten ins Gespräch zu selbst zum Telefon, um mit dem Gewicht
Chefin versauen.« Außerdem seien alle kommen. Wenn es sein muss, nimmt sie der CDU-Vorsitzenden und der Rücken-
ganz happy, dass sie nicht mehr so getriezt auch mal eine Waffe in die Hand. Das deckung des Kanzleramts den Managern
würden wie von der Vorgängerin. Das hatte die Vorgängerin immer vermieden. des Staatsunternehmens einzuheizen. Hat-
Leben sei unter Kramp-Karrenbauer ein- Bei von der Leyen wurden Truppen- te sie damit nicht den Nachweis erbracht,
deutig entspannter geworden im Berliner besuche penibel durchchoreografiert. Die dass es sinnvoll war, neben dem Parteivor-
Bendlerblock. Soldaten dienten meist nur als Staffage, sitz auch noch ein Ministeramt zu über-
Nach fünf Jahren im Amt schien es um die Ministerin auf den Bildern gut aus- nehmen?
kaum noch jemanden im Apparat zu ge- sehen zu lassen. Die politische Botschaft, Die Mission glückte. Nur Tage später
ben, den Ursula von der Leyen nicht gegen die sie mit ihrem Besuch setzen wollte, war konnte Kramp-Karrenbauer ihren Solda-
sich aufgebracht hatte. Dass sie der Bun- im Voraus sorgfältig geplant. Ihre Nachfol- ten verkünden, dass sie ab dem Jahr 2020
gratis in allen ICE fahren können.
Noch ist der Deal nicht perfekt.
Die unabhängigen Regionalbah-
nen verhandeln nach wie vor zäh
um die Fahrpreise für die Soldaten.
Ein kleiner Sieg war es aber auch
so für die neue Befehlshaberin.
Ähnlich entscheidungsfreudig
machte Kramp-Karrenbauer wei-
ter und räumte gleich zwei Pro-
blemprojekte ihrer Vorgängerin ab.
Seit Jahren hatte von der Leyen
vergebens versucht, das ineffizien-
te Beschaffungsamt zu reformie-
ren. Für viel Geld ließ sie immer
neue Gutachten erstellen. Am
Ende aber scheute sie das Risiko,
FELIPE TRUEBA / EPA-EFE / REX / SHUTTERSTOCK

die Koblenzer Monsterbürokratie


in eine Rüstungsagentur umzubau-
en, die wie ein Privatunternehmen
hätte agieren können. Ein Konflikt
mit der Personalvertretung der fast
10 000 Rüstungsbeschaffer schien
ihr politisch zu gefährlich zu sein.
Auch ihre Nachfolgerin vermied
den Großkonflikt mit dem Koblen-
zer Beamtenapparat; auch weil ein
Ressortchefin Kramp-Karrenbauer: Belegte Brötchen für die Mitarbeiter Komplettumbau die Behörde ver-
mutlich für mindestens zwei Jahre
außer Gefecht gesetzt hätte.
deswehr im Frühjahr 2017 ein generelles gerin dagegen stellt sich einfach vor einen Kramp-Karrenbauer verzichtete zunächst
»Haltungsproblem« attestierte, ist ihr bis Panzer und erzählt der Presse aus dem darauf, alle 58 Einzelmaßnahmen umzu-
zum Schluss nicht verziehen worden. Stegreif, was sie in der letzten halben Stun- setzen, die eine Reformkommission emp-
Das Grundgefühl, das die frühere Mi- de so erlebt hat. fohlen hatte. Stattdessen setzt sie auf eine
nisterin verströmte, war Misstrauen. Ihre Noch empfinden viele in der Bundes- Reform in vielen kleinen Etappen.
»Tischgespräche« waren gefürchtet, bei de- wehr diese neue Lässigkeit als Befreiung. Eine typische Kramp-Karrenbauer-Lö-
nen die leitenden Mitarbeiter einbestellt Da scheint endlich mal einer vor allem sung: ein kleiner Schritt, der keinen Ärger
und von der Chefin in die Mangel genom- Mensch zu sein. Und natürlich hat sich im mit den mächtigen Personalvertretungen be-
men wurden. Unerbittlich hakte sie nach, Ministerium rumgesprochen, dass die Che- reitet, aber eben auch wenig bewirken wird.
mischte sich in die Verantwortungsberei- fin neulich an einem Abend einen Servier- Auch bei dem zweiten Chaosprojekt
che ein und vergaß nie einen Fehler. Em- wagen über die Gänge schob, um an ihre ihrer Vorgängerin fackelte die Ministerin
pathie für ihre Leute schien ihr fremd, Mitarbeiter die belegten Brötchen zu ver- nicht lange. Über Jahre hatte von der
selbst nach Jahren engster Zusammen- teilen, die nach einer Besprechung übrig Leyen daran gearbeitet, die Panzerwerk-
arbeit kannte sie nicht jeden in ihrem Büro geblieben waren. stätten der Bundeswehr zu privatisieren.
mit Namen. Auch Unentschlossenheit kann man der Bis zu ihrem Abgang nach Brüssel hatten
Wer so eine Vorgängerin hat, kann nur neuen Ministerin nach ihren ersten Mona- Anwälte und Berater einen zweistelligen
gewinnen. Im Sommer stellte sich die neue ten nicht vorwerfen. Als sie kurz nach Millionenbetrag für Konzepte und Studien

DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019 35


Deutschland

verbrannt. Noch heute versucht der Unter- weiht, das Ministerium nicht, der Kabi-
suchungsausschuss zur Berateraffäre, diese nettskollege im Außenamt nicht und die
Geldverschwendung aufzuklären. Fraktion schon gar nicht. Aufgebracht be-
Die neue Ministerin arbeitete sich kurz schwerten sich die führenden Politiker der
ein, dann entschied sie sich für einen völlig Koalition, warum sie nicht informiert wor-
anderen Weg. Den verdutzten Verteidi- den seien. Bis sie feststellten, dass die Mi-
gungspolitikern ihrer eigenen Fraktion teil- nisterin niemanden eingebunden hatte.
te sie mit, dass sie die Panzerwerkstätten Alle waren gleich schlecht behandelt wor-
in Staatshand lassen und gleich noch den. So konnte sich immerhin keiner be-
160 Millionen Euro investieren werde. nachteiligt fühlen.
Von der Leyen hatte immer argumentiert, In der Unionsfraktion fanden viele den
eine eigene Panzerwerkstatt lohne sich Vorschlag gut. Annegret Kramp-Karren-
nicht für die Truppe. Ihre Nachfolgerin bauer hatte dem farblosen SPD-Außen-
konterte, eine schlagkräftige Bundeswehr minister Heiko Maas endlich die Show
brauche eine eigene Instandsetzung, sonst gestohlen. Und der zwang mit seinem
sei man zu abhängig von der Industrie. Es beleidigten Genörgel auch noch die letzten
ist eine sinnvolle Entscheidung. Zweifler in den Reihen der Union an die
Alle Probleme, die schon von der Leyen Seite der Verteidigungsministerin.
vor sich herschob, kann die Ministerin Doch wie geht es jetzt weiter? Im Mi-
allerdings mit solchen Aktionen nicht ab- nisterium scheint niemand davon auszu-
räumen. In diesen Tagen bereiten ihre Be- gehen, dass der Vorschlag irgendwann Rea-
amten im Bendlerblock den jährlichen Be- lität werden könnte. Eine Anweisung an
Taschenbuch. € (D) 11,–
richt über die Einsatzbereitschaft der Bun- das Einsatzführungskommando in Pots-
Verfügbar auch als E-Book deswehr vor. In den vergangenen Jahren dam, einen Nordsyrieneinsatz der Bundes-
kam der jedes Mal einem Offenbarungseid wehr zu planen, gibt es nicht. Und was ist
gleich. Seite für Seite wurde dort dargelegt, mit den anderen außenpolitischen Vor-

IM
schlägen der Ministerin nach einem Natio-
nalen Sicherheitsrat oder neuen Einsätzen
Irgendwann wird man in Afrika und im Südchinesischen Meer?
fragen, was aus Mit ihren Vorstößen hat Kramp-Kar-

ZICKZACK ihren Ankündigungen


renbauer Punkte bei der Partei und auch
bei der Bundeswehr gemacht, und sie hat
geworden ist. sich vorsichtig von der Kanzlerin eman-

DURCH
zipiert. Doch irgendwann wird man fra-
gen, was aus ihren Ankündigungen gewor-
wie mies es um die Panzer, Flugzeuge und den ist.

DIE
Hubschrauber der Truppe bestellt ist. Noch heikler ist das Versprechen aus
Das wird sich in diesem Jahr nicht ihrer ersten Regierungserklärung, die Ein-
ändern. Warum auch? Die Lage, die in satzbereitschaft der Truppe nachhaltig zu
geheimen Listen beschrieben wird, ist so verbessern. Daran wird sie nun gemessen.

WELT- dramatisch wie eh und je. Besonders bei


den Waffensystemen, die für die Einsätze
relevant sind, ist die Lage verheerend, ob
Und daran könnte ihr Traum von der
Kanzlerschaft scheitern.
»Bis jetzt hatte jeder Verständnis«,

GESCHICHTE beim Kampfhubschrauber »Tiger« oder


beim neuen Schützenpanzer »Puma«.
Noch kann Kramp-Karrenbauer die
droht schon André Wüstner, der Vorsit-
zende des Bundeswehrverbandes, »sie
war neu, sie musste viel Energie für die
Probleme auf ihre Vorgängerin abschie- Partei aufwenden. Das ist mit dem Partei-
ben. Doch wie lange noch? Wenn es keine tag vorbei. Will sie ihren Vertrauensvor-
In sieben Schritten Neuwahlen gibt, könnte sich ihre Amtszeit schuss rechtfertigen, muss ihr neuer
bis zu den regulären Bundestagswahlen Schwerpunkt in Zukunft die Bundeswehr
entstehen die verblüffendsten 2021 hinziehen. Spätestens dann werden sein. Ab jetzt gilt Mission IBuK First!«
von der Leyens Probleme auch ihre sein. »IBuK« nennen sie beim Militär die »In-
Zusammenhänge – so Es ist das große Risiko, das sie mit ihrem
zweiten Amt eingegangen ist. Schafft sie
haberin der Befehls- und Kommandoge-
walt«. Mit Sorge beobachtet Wüstner, wie
überraschend, vergnüglich rechtzeitig den Sprung nach oben, um die
Probleme hinter sich zu lassen? Das fragen
sich viele im Ministerium zurücklehnen.
Die Ressortchefin hat für gute Laune ge-
und unterhaltsam war sich auch ihre Unterstützer in der Unions-
fraktion. »Sie hat viele Torpedos zu Was-
sorgt und einige schnelle Erfolge eingefah-
ren. Auf Dauer wird sie mit dieser Methode
ser gelassen«, sagt ein einflussreicher keinen Erfolg haben. Nicht nur Wüstner fin-
Geschichte noch nie. CDU-Mann, der sich trotz aller Kritik zu det, dass die Ministerin endlich führen muss.
ihren Befürwortern zählt. »Die schwim- »Im Verteidigungsministerium oder in
men da jetzt rum, und wer weiß, wann sie der Sicherheitspolitik ist es wie bei dem
hochgehen.« berühmten Rudern gegen den Strom«,
Ihr Vorschlag, mithilfe der Bundeswehr sagt er. »Wer aufhört, der fällt zurück.«
eine Schutzzone in Nordsyrien einzurich- Matthias Gebauer,
ten, zum Beispiel. Die Idee ist in wenigen Konstantin von Hammerstein
Tagen entstanden. Niemand war einge-

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tats- und Teamprodukte), die Energielieferverträge E.ON Strom Pur und E.ON Erd-
gas Pur, E.ON Smart Strom und E.ON Smart Erdgas, E.ON Regional Strom und E.ON
Regional Erdgas, E.ON Kombi Strom und E.ON Kombi Erdgas, E.ON BerlinStrom,
E.ON Solar Cloud Basis, HanseDuo Hamburg, HanseDuo Mecklenburg-Vorpom-
mern, Lifestrom flex, Lidl-Strom flex sowie Heizstromverträge. Die aktuelle Über-
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falls Sie einen Neukundenbonus einschließlich Sachprämie über 50 € bekommen
haben. Der Rabatt von 60 € pro Vertrag ergibt sich immer im Vergleich zu nicht
gebündelten Tarifen von E.ON, z. B. dem E.ON KlassikStrom in PLZ 67655 Kaisers-
lautern (Arbeitspreis 24,44 Cent/kWh, Grundpreis 125,02 €/Jahr, Jahreskosten bei
4.000 kWh: 1.102,73 €, Bruttopreise inkl. 19 % Umsatzsteuer), Stand 15.10.2019.
In anderen PLZ-Gebieten können die Preise abweichen.
Deutschland

Er ist wieder da
Intensivtäter Clanchef Ibrahim Miri wurde nach langem Ringen im Juli aus Bremen in
den Libanon abgeschoben, im Oktober kam er zurück und beantragte Asyl.

CHRISTOPH KELLNER
Angeklagter Miri im Jahr 2014 vor dem Bremer Landgericht: »Lackmustest für die wehrhafte Demokratie«

S
pezialkräfte hatten ihn mitten in Mit seinem Laissez-passer-Papier, einer Miris Vorgehen zeugt von Chuzpe, die
der Nacht aus dem Bett geholt. Art Passersatz, von den libanesischen Be- Vertreter der Sicherheitsbehörden erzürnt.
Sie hatten ihm Augen und Ohren hörden überraschend ausgestellt, wurde er Gleichzeitig zeigt der Fall Miri die Absur-
verbunden, ihn mit dem Hub- ins Land gelassen. Im Duty-free-Shop habe ditäten eines Asylsystems auf, das sich pro-
schrauber nach Berlin verfrachtet und er Zigaretten gekauft. Erst mal eine rauchen. blemlos aushebeln lässt. Manche Straftäter
dann mit einem Learjet in den Libanon. Dann habe er sich von einem Libanesen und Migranten, deren Anträge abgelehnt
Da stand er nun am 10. Juli am Flughafen ein Handy geliehen und über einen Mes- wurden, werden mit riesigem Aufwand
von Beirut: Ibrahim Miri, einer der Chefs sengerdienst Vertraute über die Abschie- und nach langen Gerichtsverfahren außer
des weitverzweigten libanesischstäm- bung informiert. Landes gebracht. Und sind kurz darauf
migen Familienclans. Ein bulliger Typ So schilderte der Clanchef deutschen wieder da. Die Bundespolizei registrierte
mit Glatze, Ex-Boss der Rockergang Behörden die Geschichte seiner Rückkehr 2018 etwa 1200 Personen, gegen die ein
»Mongols MC Bremen«, der schon elf- in den Libanon. Einreiseverbot bestand.
mal in Deutschland im Gefängnis gesessen Denn er ist schon wieder zurück. Der Fall ist zu einem Politikum gewor-
hatte. Dreieinhalb Monate nach seiner Ab- den. Bundesinnenminister Horst Seehofer
Als 13-Jähriger war er 1986 mit seinen schiebung kam er wieder in Bremen an. (CSU) erklärte den Umgang der Behörden
Eltern nach Deutschland gekommen. Der Er ignorierte, dass ihm die deutschen Be- mit Miri zu einem »Lackmustest für die
Asylantrag der Familie war abgelehnt wor- hörden jegliche Wiedereinreise für sieben wehrhafte Demokratie« und kündigte har-
den, aber sie blieben. Seit 1998 versuchte Jahre untersagt hatten. Nach eigenen An- tes Durchgreifen an. Die erneute Abschie-
der deutsche Staat ernsthaft, Miri loszu- gaben flog er in die Türkei und ließ sich bung des Clanchefs ist Chefsache.
werden, was auch damit zusammenhing, von dort auf dem Landweg nach Deutsch- Als Reaktion auf die heimliche Wieder-
dass er inzwischen Straftaten in Serie be- land schleusen. Und marschierte mit sei- einreise von Miri ordnete Seehofer ver-
ging. Nun, mehr als 20 Jahre später, hatten nem Anwalt am 30. Oktober in die Bre- stärkte Kontrollen und Schleierfahndung
die Behörden es tatsächlich getan. Sie hat- mer Zentralstelle für Asylsuchende. Er be- an den Grenzen zu den europäischen
ten ihn abgeschoben. antragte Schutz. Nachbarn an. Der Innenminister will zu-

38 DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019


Deutschland

dem das Aufenthaltsrecht verschärfen. Bedrohung und immer wieder Drogen- Nürnberg angekommen. Von dort hätten
Wer trotz Wiedereinreisesperre im Land handel. Den Behörden ist er zudem unter ihn Kollegen mit nach Bremen genommen.
aufgegriffen wird, soll bis zum Ende des diversen Aliasnamen bekannt. In der Anhörung versuchte er, sich als
Abschiebeverfahrens in Haft genommen Auf Facebook-Fotos, die wohl erst vor harmloser Flüchtling und geläuterter Straf-
werden können. einigen Wochen im türkischen Mersin ent- täter zu präsentieren. Er wolle als Schlos-
Im Fall Miri sind jetzt erst einmal Rich- standen sind, posiert Ibrahim Miri mit Hei- ser arbeiten und mit seiner Frau und sei-
ter am Zug, der Anwalt des Clanchefs hat sem C. – einem Clanmitglied, das sich vor nem Sohn außerhalb von Bremen ein neu-
Rechtsmittel eingelegt. Zwei Gerichte be- einigen Jahren nach einem Mord im Bre- es Leben beginnen, sagte er. Ein zweites
schäftigen sich mit dem Asylbewerber. mer Umland in die Türkei abgesetzt hatte. Kind soll im Dezember zur Welt kommen.
Miri selbst sitzt seit Ende Oktober in ei- C. war unter Tatverdacht geraten, die Kri- Außerdem müsse er seine kranke Mutter
ner Abschiebezelle im Polizeipräsidium in po fand seine Fingerabdrücke auf einer Pa- pflegen.
Bremen-Vahr. Am 6. November befragte tronenhülse aus der Tatwaffe. Deutsche Die Mitarbeiter der Sicherheitsbehör-
ihn dort ein Mitarbeiter des Bundesamts Ermittler zählen Heisem C. zur sogenann- den glauben davon kein Wort. »Das sind
für Migration und Flüchtlinge (Bamf) über ten Callcenter-Mafia, kriminellen Netz- Erzählungen aus 1001 Nacht«, sagt ein
die Gründe seines erneuten Asylantrags. werken, die mit Telefonbetrug vor allem Spitzenbeamter, der mit dem Fall befasst
Miri erzählte dem Mann eine abenteuer- ältere Leute um ihr Geld bringen. ist. Ähnlich sah das auch der Asylentschei-
liche Geschichte über die Rückkehr nach Die deutschen Behörden rechneten da- der. Miris Antrag wurde zwei Tage nach
Beirut, die Tage im Libanon und seine mit, dass Miri zurück nach Deutschland der Anhörung als »offensichtlich unbe-
Reise zurück nach Bremen. Was davon kommen wollte. Mehr als einen Monat vor gründet« abgelehnt. Das Bamf verwies auf
stimmt, weiß nur Miri selbst. Das Proto- Miris Rückkehr erfuhr die Bundespolizei die strafrechtliche Vorgeschichte und eine
koll der Anhörung ist ein Dokument mit aus dem Libanon, dass er einen neuen li- sechsjährige Freiheitsstrafe wegen Drogen-
Widersprüchen und Erinnerungslücken. banesischen Pass erhalten hatte und abge- handels. Man müsse von Wiederholungs-
Er brauche Asyl, weil im Libanon sein reist war. Am 17. September schrieb das gefahr ausgehen, Miri sei eine Gefahr für
Leben durch Blutrache bedroht sei, sagte die Allgemeinheit. Außerdem zweifelt das
er demnach. Wegen eines Mordes in Bre- Amt an der Geschichte von der Blutrache-
men im Jahr 2009 sei die einflussreiche fehde. Für eine Bedrohung im Libanon lä-
Familie El Zain hinter ihm her. Ob denn gen keine Anhaltspunkte vor.
seit 2009 einem Mitglied der Familie Miri Miris Rechtsanwalt Albert Timmer geht
etwas passiert sei, in Bremen oder im Li- gegen den Asylentscheid und die Abschie-
banon, fragte der Bamf-Beamte. Darauf behaft gerichtlich vor. Das Bremer Amts-
konnte Miri nichts Konkretes vorbringen. gericht hat entschieden, dass Miri bis zum
Namen und Adressen sind dem Antrag- 2. Dezember in Abschiebehaft bleiben
steller oft entfallen. Als Miri einen Cousin muss. Die nächste Instanz, das Landge-
DER SPIEGEL

erwähnt, fragt der Beamte nach dessen Na- richt, soll in diesen Tagen entscheiden.
men. Den habe er vergessen, er habe ihn Das Bremer Verwaltungsgericht be-
»Cousin« genannt, das schwöre er, sagt Miri. schäftigt sich mit der Klage gegen den ne-
Seinen Reiseweg zurück nach Deutsch- Miris Laissez-passer-Papier gativen Asylbescheid und einem Eilantrag.
land schildert er etwas präziser. Er sei Schon nächste Woche in ein Flugzeug? Damit will Miris Anwalt erreichen, dass
schon am siebten Tag im Libanon nach sein Mandant bis zur letztinstanzlichen ge-
Deutschland aufgebrochen. Mithilfe eines Bundespolizeipräsidium Miri mit seinem richtlichen Entscheidung über den Asyl-
Passes, für den er 7500 Euro bezahlt habe, neuen Pass zur Fahndung aus. Bei einer antrag nicht abgeschoben werden darf.
sei er zunächst in die Türkei geflogen. In Kontrolle wäre der Libanese wohl aufge- Das könnte noch Monate dauern.
der Stadt Mersin habe er bei einem Be- fallen. Doch an den Landesgrenzen wird Bis zum Redaktionsschluss des SPIEGEL
kannten gewohnt und überlegt, wie er zu- nicht durchgängig kontrolliert. am Donnerstagabend lag noch keine Ent-
rück nach Deutschland kommen könnte. In seiner Anhörung sagte der Clanchef, scheidung vor – weder ob der Clanchef in
Als Miri vor mehr als 30 Jahren als staa- er sei schließlich nach Istanbul gefahren. Abschiebehaft bleiben muss, noch ob sein
tenloser Kurde nach Deutschland kam, Überall habe er Leute gekannt, bei denen Eilantrag Erfolg hat.
wurde sein Asylantrag mit der Begründung er habe unterkommen können. Ein Kurde Falls das Verwaltungsgericht Miris Eil-
abgelehnt, eine systematische Verfolgung habe ihn mit Leuten zusammengebracht, antrag zurückweist, könnten Seehofers Be-
von Kurden im Libanon sei nicht bekannt. die den Trip nach Deutschland organisie- amte den Mann schon nächste Woche in
Fortan wurde die Familie in Deutschland ren konnten. Er sei in einem Lastwagen ein Flugzeug setzen. Die Abschiebung,
geduldet, weil es keine »Heimreisedoku- gekommen, der auch Drogen transportiert zweiter Versuch, ist bereits bis ins Detail
mente« gegeben habe, wie es in Dokumen- habe, notiert der Bamf-Mitarbeiter laut organisiert. Bremen hat dem Häftling vor-
ten des Bamf heißt. Der Libanon weigerte Protokoll. Später lässt Miri den Satz kor- sorglich bereits eine Abschiebung ab dem
sich, Papiere für die Familie auszustellen. rigieren. Nein, es sei doch ein normaler 27. November angekündigt.
Die Ausländerbehörde Bremen versuch- Lkw gewesen, der ihn zusammen mit einer Der Hubschrauber für den Transport
te, Miri auszuweisen. 1998 schickte das Handvoll weiterer heimlicher Passagiere zum Flughafen, die Papiere aus dem Liba-
Amt einen Bescheid mit der unbefristeten auf der Ladefläche mitgenommen habe. non – sobald das Gericht entschieden hat,
Ausweisung aus dem Bundesgebiet, 2006 Frage: Welche Farbe hatte der Lkw? Au- wird alles bereit sein. In diesem Fall könn-
folgte eine Ausweisungsverfügung der tokennzeichen? Irgendein Aufdruck? te das funktionieren, sagt ein hochrangiger
Stadt Oldenburg. Doch Miri blieb. Antwort: Der Container habe keinen Beamter, bei vielen anderen »greift aber
Eine aktuelle Ausweisungsverfügung der Aufdruck gehabt. Die Farbe wisse er nicht. niemand von ganz oben zum Hörer, um
Bremer Innenbehörde listet 18 rechtskräf- Ob er denn Kontakt zum Fahrer gehabt Druck zu machen, weil die eben nicht so
tige Verurteilungen Ibrahim Miris zwischen habe, Miri spreche ja Türkisch. Nein, mit bekannt sind wie Miri«.
1989 und 2016 auf: Raub, Diebstahl, erpres- dem Fahrer, einem Rumänen oder Bulga- Hubert Gude, Roman Lehberger
serischer Menschenraub, Körperverletzung, ren, habe er sich nicht unterhalten können. Mail: hubert.gude@spiegel.de
Hehlerei, Beihilfe zum Wohnungseinbruch, Am Freitag, dem 25. Oktober, sei er in

40 DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019


Unser Planet:
30 % Land,
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100 % Staunen.
Photography Espen Rekdal © BBC NHU

Terra X: Sieben Kontinente – Ein Planet


ab So 24. November | 19:30
Im Herbst 2012 stößt R. nach Angaben
der Staatsanwaltschaft auf einer einschlä-
gigen Plattform auf einen Eintrag mit dem
Pseudonym »excited girl«: Dahinter ver-
bergen sich Peter Scully, 56, und Liezyl
Margallo, 25, eine seiner philippinischen
Lebensgefährtinnen. Scully war ein Jahr
zuvor aus Melbourne nach Manila geflo-
hen, weil er wegen Betrugs eine Gefäng-
nisstrafe fürchtete. Auf der Insel Mindanao
lernt er später Margallo kennen. Scully
entwickelt den Plan, kinderpornografische
Bilder und Videos zu produzieren.
Er sucht Geldgeber und findet Johann R.
Ihm bietet er die elf Jahre alte Lyza an. Jo-
hann R. will das Kind treffen und über-

MICHAEL RUFFLER
weist 1043,40 US-Dollar. Innerhalb eines
Jahres stellt Johann R. dem Australier
7700 US-Dollar zur Verfügung.
Als Johann R. ihnen schreibt, dreht Scul-
Angeklagter R., Verteidiger Lindberg: Tausende US-Dollar überwiesen ly mit seinen Lebensgefährtinnen schon
einen sechsteiligen Film, den sie »Daisy’s
Destruction«, Daisys Zerstörung, nennen.
Laut Anklage ist 45 Minuten lang zu sehen,

Unterm Küchenboden wie die maskierte Margallo ein eineinhalb


Jahre altes Mädchen foltert.
Weil R. im November 2012 Geld über-
wies, als »Daisy’s Destruction« noch nicht
Missbrauch Das Landgericht Mannheim verhandelt einen Fall fertig war, wirft Staatsanwältin Haltrich
wie aus einem Horrorfilm. Es geht um die ihm auch Beihilfe zum schweren sexuellen
Verbrechen von Kinderschändern auf den Philippinen. Missbrauch vor. Mit der Überweisung habe
Scully Produktionskosten bezahlen oder
seinen Lebensunterhalt bestreiten können.

A ls Staatsanwältin Tina Haltrich schil-


dert, unter welch grausamen Um-
ständen das elfjährige Mädchen
starb, weint der Angeklagte. Dann kommt
Auf den Philippinen wurde wegen sei-
ner Taten die Wiedereinführung der To-
desstrafe diskutiert. Scully drehte Filme,
in denen Kinder vergewaltigt und gefoltert
Der Verteidiger von Johann R., Steffen
Lindberg, entgegnet, sein Mandant habe
lediglich Vertrauen zu dem Paar aufbauen
wollen. Es sei nicht geklärt, ob R.s Geld in
die Staatsanwältin darauf zu sprechen, wurden, das jüngste war 18 Monate alt. die Produktion des Films geflossen sei.
dass er, Johann R., dieses Kind vor dessen Als Scully festgenommen wurde, fand die Im Dezember 2012 fliegt Johann R. auf
Tod missbraucht habe. Und sie schildert, Polizei unter dem Küchenboden das Ske- die Philippinen. In der Stadt Cagayan de
dass R. versuchte, Bilder zu vernichten, lett eines Mädchens. Oro auf Mindanao checkt er mit Scully
die zeigten, wie er sich an dem Mädchen Die Staatsanwaltschaft wirft Johann R. und Margallo in einem billigen Hotel ein.
verging. Das Kind wurde Barbie genannt. auch vor, solche Taten mit ermöglicht Noch vor seinem Abflug auf die Philip-
Der Mannheimer Johann R., 44, ist an- zu haben, weil er Scully Tausende US- pinen hatte ihm Scully erklärt, Lyza stehe
geklagt wegen des Verdachts des schweren Dollar überwies. Der Fall zeigt, wie Pädo- nicht mehr zur Verfügung. Aber es gebe
sexuellen Missbrauchs von Kindern, Bei- sexuelle auf Länder ausweichen, in de- ein anderes 13-jähriges Mädchen. Philip-
hilfe zur Vergewaltigung, gefährlicher Kör- nen große Armut und ein vermeintlich pinischen Ermittlern zufolge versprachen
perverletzung und Verbreitung kinderpor- schwächerer Staat den Zugang zu Opfern Scully und seine Komplizinnen verarmten
nografischer Schriften. Im Juli 2016 wurde leichter erscheinen lassen. Und wie sie Familien Geld, damit sie ihnen ihre Kinder
er festgenommen. Nachdem er ein Geständ- sich dabei über Internetplattformen ver- zeitweise überließen, oder sie sprachen
nis abgelegt hatte, kam er ein paar Wochen netzen. Kinder direkt auf der Straße an.
später frei. Seitdem ist er auf freiem Fuß. Scully, so sagt R. später gegenüber Er-
Die 5. Strafkammer des Landgerichts mittlern aus, habe ihm erzählt, dass er den
Mannheim will noch in diesem Monat das Bau eines Kellers plane, in dem Kinder
Urteil in dem Fall sprechen, der in einen untergebracht werden sollten. Zahlungs-
Abgrund führt. Die Staatsanwaltschaft kräftige Kunden aus dem Ausland sollten
wirft R. vor, über Internetplattformen von die Kinder dort missbrauchen können. Jo-
Pädosexuellen Kontakt zu einem Paar auf hann R. überweist erneut Geld. Damit soll-
den Philippinen aufgenommen zu haben, te ein Bagger gemietet und Baumaterial
das ihm Kinder zum Missbrauch zuführte. gekauft werden, so R. Er habe verspro-
Zweimal ist Johann R. dorthin geflogen. chen, bei den Arbeiten vor Ort zu helfen.
Der Mann, der den Missbrauch organi- Im April 2013 fliegt R. wieder auf die
sierte, heißt Peter Scully und wurde 2018 Philippinen. Scully und seine Freundin ha-
auf den Philippinen zu einer lebenslangen ben ein Mädchen namens Barbie bei sich,
AFP

Freiheitsstrafe verurteilt. Die Taten des elf Jahre alt. Johann R. mietet für alle ein
Australiers gehören zu den schlimmsten Festgenommener Scully (r.) 2015*
Fällen von Kindesmissbrauch weltweit. Ein Keller, um Kinder unterzubringen * Auf der philippinischen Insel Mindanao.

42
Haus. Sie verbringen dort laut Anklage
mehrere Wochen, R. missbraucht die Elf-
Flexibel bleiben.
jährige mutmaßlich, der Missbrauch wird
gefilmt und fotografiert. Abends sperrt das
Lesen Sie den SPIEGEL,
Trio das Kind in ein Zimmer ein.
Irgendwann gibt es Streit, Johann R.
reist überstürzt zurück nach Mannheim.
solange Sie möchten.
Am 20. Februar 2015 wird Peter Scully Frei Haus.
verhaftet. Johann R. erfährt davon via In-
ternet. Das Skelett, das die Ermittler unter
Der SPIEGEL jede Woche direkt nach Hause
dem Küchenboden einer der Unterkünfte 4 % sparen.
Scullys finden – es ist Barbie, jenes Mäd- Für nur € 5,10 pro Ausgabe statt € 5,30 im Einzelkauf
chen, das R. bei seinem letzten Besuch mut-
maßlich missbraucht hatte. Ohne Risiko.
Im Landgericht Mannheim berichtet Jederzeit kündbar, Urlaubsservice möglich
der Polizist, der die Ermittlungen gegen
Vergünstigte Tickets.
Johann R. leitete, wie dieser ins Visier ge-
riet, weil australische und niederländische Für ausgewählte SPIEGEL-Veranstaltungen
Ermittler die Spur Scullys aufgenommen auf www.spiegel-live.de
hatten. Nach seiner Festnahme schrieb
Scully im Gefängnis auf hundert Seiten
auf, wie er und seine Helferinnen vorgin-
gen. Verteidiger Lindberg legt Wider-
spruch dagegen ein, dass die Angaben aus
dem Schriftstück verwendet werden. Es
sei unklar, unter welchen Bedingungen es Einfach jetzt anfordern:
zustande gekommen sei.
In dem Dokument tauchen viele Tatver-
dächtige auf, der Einzige aber, der sich in
abo.spiegel.de/flexibel
ein Flugzeug setzte und auf die Philippi- oder telefonisch unter 040 3007-2700
nen reiste, war Johann R.
(Bitte Aktionsnummer angeben: SP19-215)
Er wuchs als Einzelkind auf, seine Mutter
besaß viele Immobilien. Einen Beruf erlernte
ihr Sohn nie. »Ich bin Privatier«, sagt Johann Keine
R. im Gericht. Er lebe von den Mieteinnah- Mindest-
men der 27 Immobilien, die er geerbt habe.
Im Herbst 2015 konnten Fahnder von laufzeit
Bundeskriminalamt und der Gießener Zen-
tralstelle zur Bekämpfung der Internet- und
Computerkriminalität Johann R. identifi-
zieren. Ab diesem Zeitpunkt überwachten
sie sein Telefon, verfolgten seine Spuren im
Internet. Am 5. Juli 2016 stürmten sie sein
Haus in Mannheim und nahmen ihn fest.
Er kam in Untersuchungshaft.
Auf Anraten seines Anwalts nannte Jo-
hann R. andere Verdächtige, im August
2016 kam er frei. Er begann eine Therapie,
das war Bedingung für die Entlassung. Erst
musste er sich dreimal pro Woche bei der
Polizei melden, seit dem Sommer muss er
nicht einmal diese Auflage mehr beachten.
Ein psychiatrisches Gutachten haben
weder Staatsanwaltschaft noch das Gericht
in Auftrag gegeben – ein Risiko, denn so
weiß niemand, ob Johann R. krank ist und
deswegen vielleicht grundsätzlich eine
Gefahr für Kinder. Dem Chefermittler, der
mit ihm während der Hausdurchsuchung
in der Küche saß, sagte R., er wisse von
seiner Neigung seit seiner Jugend. Johann
R. habe sich trotzdem uneinsichtig gezeigt.
»Ich würde doch nie ein Kind von der
Straße wegholen«, habe er gesagt.
Julia Jüttner
Mail: julia.juettner@spiegel.de

DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019 43


Deutschland

Abgezockt
Angefangen, so schildert es Blanka H.,
habe es 2013. Ihre Tante, damals 85 Jahre
alt, habe sich sehr verändert in dieser
Zeit. Sie habe Sätze wiederholt, sonder-
bare und wirre Gedankengänge gespon-
Prozesse Eine vermögende Witwe, die den Lebenspartner ihrer nen, ihr Tag-Nacht-Rhythmus sei durch-
Bankberaterin adoptiert – ein Fall aus dem Taunus ist einandergeraten. Es sei vorgekommen,
exemplarisch für das zunehmende Phänomen der Erbschleicherei. dass sie nachts am Bett ihrer Untermiete-
rin gestanden habe, die im Souterrain
wohnte, und sie aufweckte. Ihrer dama-

U m das Millionenvermögen ihrer ver-


storbenen Tante gehe es ihr und ih-
ren Geschwistern gar nicht mehr
vorrangig, sagt Blanka H. Ein paar persön-
Von da sei es nur noch ein kleiner
Schritt, den älteren Menschen dazu zu
bringen, den neuen Freund im Testament
zu berücksichtigen. Oder sich unter dem
ligen Haushaltshilfe erzählte sie mehrfach,
dass Diebe es auf sie abgesehen hätten und
jemand versucht habe, über das Dach des
Hauses einzudringen.
liche Andenken hätten sie gern, alte Fotos Vorwand, auch in Zukunft gut für den Äl- Wera S. war die Witwe eines erfolgrei-
der Familie, einige Erinnerungs- und teren sorgen zu wollen, eine Vorsorgevoll- chen Rechtsanwalts. Sie hatte keine eige-
Schmuckstücke, die einst ihrer Großmut- macht mit Zugriff auf das Vermögen aus- nen Kinder, aber vier Neffen und Nichten.
ter gehörten. stellen zu lassen. Anwalt Theiss spricht in Vor allem Blanka H. hatte sich, weil sie in
Alles andere, die Wertpapiere, die Villa diesem Zusammenhang gern von den »ty- derselben Stadt wohnte, nach dem Tod
im Taunus, das verbliebene Geld, das alles pischen drei As«: »Anschleichen, abschir- des Ehemanns von Wera S. vor mehr als
solle an eine gemeinnützige Stiftung über- men, abzocken.« zehn Jahren intensiv um sie gekümmert,
tragen werden, schlägt Blanka H. dem Im Fall von Wera S., so der Name der so erzählt sie es.
Nachlassgericht vor. Wichtig sei ihr und Tante, gibt es ein besonders pikantes De- Die alte Dame besaß Geld und Wert-
ihren Geschwistern nur noch eines: »Die- tail: Hier stellte die Bankberaterin der ver- papiere in Millionenhöhe sowie eine statt-
ser Mann«, Andreas S., dürfe nichts mehr liche Hanglagenvilla nicht weit von einem
vom Vermögen ihrer Tante bekommen: Golfplatz entfernt. Um ihre Wertanlagen
»Wir wollen nicht, dass er für sein Tun kümmerte sich die Beraterin der Deut-
auch noch belohnt wird.« schen Bank in der Filiale vor Ort.
Blanka H., Juristin aus der Region um Dieser Beraterin gegenüber klagte Wera
Frankfurt am Main, ist mit ihren Geschwis- S. bei einem Termin in der Bank im Früh-
tern vor Gericht gezogen. Es gehe darum, jahr 2013, dass es ihr allmählich schwer-
einen »krassen Fall von Erbschleicherei« falle, den Überblick über ihre Dokumente,
zu verhindern, sagt sie. Einen dieser Fälle, Bankbelege und Rechnungen zu behalten.
in denen ein jüngerer Mensch mit viel Die Beraterin wusste sofort eine Lösung:
Geschick das Vertrauen eines älteren er- »Bei mir macht das mein Mann.« Der kön-
wirbt und es irgendwie schafft, dessen ne das ja auch bei Wera S. tun.
Alleinerbe zu werden, zum Erstaunen der Andreas R., so hieß der Mann damals,
Verwandten und alten Vertrauten, die ist ein charmanter Mittfünfziger mit er-
schlimmstenfalls leer ausgehen. grautem Haar und angenehmen Umgangs-
»Wir haben immer mehr solcher Fälle«, formen. Anfang 2013 arbeitete er bei einer
sagt der Münchner Rechtsanwalt Wolfram Sicherheitsfirma am Frankfurter Flughafen
Theiss von der Arbeitsgemeinschaft Erb- im Schichtdienst. Ende April 2013, mit
recht im Deutschen Anwaltverein. Häufig 51 Jahren, kündigte er den Job. Bald hatte
seien es Pflegekräfte, mitunter auch Nach- er viel Zeit für Besuche bei Wera S. Zum
barn, Anwälte, Pfarrer, Ärzte oder Steuer- Witwe Wera S., Adoptivsohn S. Vorwurf, ein Erbschleicher zu sein, will er
berater, die versuchten, an das Erbe vermö- Anschleichen und abschirmen sich nicht äußern. Er sagt nur, dass Wera
gender alter Menschen heranzukommen. S. ihn adoptiert habe, jetzt gebe es darum
Auch die Hamburger Rechtsanwalts- Streit: »Das ist ein laufendes Verfahren,
kanzlei Rose und Partner, die unter ande- mögenden Witwe den Kontakt zwischen deshalb sage ich dazu gar nichts.«
rem auf Erbstreitigkeiten und Nachlassge- dieser und ihrem späteren Alleinerben her. Aus Sicht der Verwandten von Wera S.
staltung spezialisiert ist, hält solche Fälle Die Angestellte war die zuständige Bera- entwickelte sich die Sache so: Ab Mitte
für ein »wachsendes Phänomen«. Es gebe terin der alten Dame und kannte deren 2013 sei Andreas R. immer häufiger und
immer mehr alte, hilfsbedürftige wohlha- Eigentumsverhältnisse genau. Der spätere irgendwann fast täglich bei der reichen An-
bende Menschen, viele von ihnen fühlten Alleinerbe ist ihr langjähriger Lebensge- waltswitwe aufgetaucht, auch an Wochen-
sich einsam: Das sei der »demografische fährte. Und ihr Arbeitgeber, die Deutsche enden. Er habe sie zu Einkaufsbummeln
Nährboden für Erbschleicherei«. Bank, sah darin erstaunlicherweise kein begleitet, teure Geschenke bekommen,
Das Muster sei immer gleich, sagen die Problem. auch Bargeld und einen »schicken BMW«.
Juristen: Erbschleicher versuchten, ihre Die Nichte Blanka H. hat zusammen Die Tante habe Andreas R. irgendwann
Opfer zunächst mit selbstlos erscheinen- mit ihren Geschwistern das Testament »Liebling« genannt und ihm vor einem Res-
den Hilfsangeboten zu beeindrucken und beim Amtsgericht im Juli 2018 ange- taurantbesuch Geldbündel zugesteckt, mit
viel Zeit mit ihnen zu verbringen. Nicht fochten. Der Lebensgefährte der Bank- denen er bezahlt habe, so schildert es Blan-
selten gelinge es ihnen, sich zwischen die beraterin habe die verwirrte Tante »mas- ka H. in einer eidesstattlichen Versicherung.
betreute Person und ihre Familie zu drän- siv beeinflusst«, um an ihr Vermögen zu Gleichzeitig seien die ehemals herz-
gen, sich als einziger vertrauenswürdiger kommen, so der Vorwurf. Seitdem läuft lichen Beziehungen von Wera S. zu frühe-
Ansprechpartner darzustellen und den das Verfahren. Es ist hoch kompliziert ren Vertrauten frostiger geworden. Ihrer
Kontakt zu den Familienmitgliedern zu er- und nicht öffentlich. Ein Ende ist nicht Untermieterin, einer Altenpflegerin, die
schweren. in Sicht. sich bis dahin rührend um die alte Dame

44
Wera S. 2015 eine knappe Bescheinigung
aus: Sie sei aus medizinischer Sicht »voll
geschäftsfähig«. Das müsse die Notarin
bei der Beurkundung des Testaments auch
so gesehen haben, sonst hätte sie ja Ein-
wände erhoben, argumentiert der Anwalt
vor Gericht.
Hausärzte allerdings, das haben Studien
ergeben, tun sich oft schwer, eine Demenz
im Frühstadium zu erkennen. Auch Notare
sind dafür nicht ausgebildet. Der Bonner
Erbrechtsexperte Andreas Frieser hält
Notare in Fragen der Testierfähigkeit sogar
für »denkbar ungeeignete Zeugen«. Kom-
pliziert wird es dadurch, dass sich manche
Demenzkranke bei wichtigen Terminen
bemühen, keine Defizite erkennen zu
lassen. »Fassadenverhalten« nennen das
Fachleute.
Für Angehörige, so Erbrechtsexperten,
sei es extrem schwer, im Nachhinein nach-
zuweisen, ab wann die Senioren nicht
mehr in der Lage gewesen sind, einen eige-
nen freien Willen zu äußern – vor allem
dann, wenn der mutmaßliche Erbschlei-
cher den Kontakt des alten Menschen zur
Familie erschwert oder unterbunden habe.
Blanka H. und ihre Geschwister haben
mittlerweile zahlreiche Zeugenaussagen
und Indizien zusammengetragen, die be-
legen sollen, dass ihre Tante bereits ab 2013
an Wahnvorstellungen gelitten habe und
2015 nicht mehr geschäfts- und testierfähig
gewesen sei. Den Kontakt zu Blanka H.,
die sie bis dahin trotz aller Widrigkeiten
so oft es ging besucht hatte, brach die Tante
damals komplett ab. Gegenüber einem Nef-
fen äußerte sie später den Vorwurf, eine
TIM WEGNER / DER SPIEGEL

ihrer Nichten habe sie vergiften wollen.


Die Geschwister beschwerten sich bei
der Deutschen Bank, schickten empörte
Briefe. Dass eine Bankberaterin ihre Ver-
trauensstellung derart missbrauche, falle
natürlich auch auf die Bank zurück,
Villa der Verstorbenen in Hessen: Sie erklärte ihn zum Alleinerben schrieb Blanka H. im Spätsommer 2015.
Im Antwortbrief hieß es, die Deutsche
Bank könne nach einer Prüfung »keinerlei
gekümmert habe, habe Wera S. 2014 plötz- dreas R. gedroht, er werde das Haus ver- Anhaltspunkte für ein Fehlverhalten un-
lich wegen Eigenbedarf gekündigt. Sie lassen, wenn Wera S. diesen Besuch nicht serer Mitarbeiter feststellen«.
glaubte, dass Gegenstände aus dem Haus gleich abbreche. Die Tante habe R. darauf- Zwei Jahre später, im Oktober 2017,
verschwunden seien. Auch die bisherige hin verzweifelt am Arm festgehalten. Sie starb Wera S. In den Monaten davor sei
Haushaltshilfe wurde entlassen. Stattdes- sei, so schien es den Verwandten, zuneh- sie mehrfach schwer gestürzt, so wurde
sen habe sich Andreas R. im Leben von mend von ihm abhängig geworden. es Blanka H. später berichtet, sie sei ag-
Wera S. breitgemacht. Im Juni 2015 unterschrieb Wera S. für gressiv, aufbrausend und extrem unleidlich
Für ihre Verwandten, so sagt Blanka H., ihren 34 Jahre jüngeren Bekannten eine gewesen. Blanka H. sagt, sie habe vom
sei es immer schwieriger geworden, den General- und Altersvorsorgevollmacht. Er Tod ihrer Tante erst Monate später erfah-
Kontakt zu Wera S. zu halten, zumindest sollte über ihre Konten verfügen, nach Be- ren, als sie die Ehefrau eines ihrer Ärzte
wenn der neue Vertraute in der Nähe ge- lieben Geld abheben dürfen. Sie erklärte zufällig in einem Supermarkt getroffen
wesen sei. Zu Familienfesten sei die Tante ihn in einem Testament zum Alleinerben habe.
nicht mehr erschienen, nicht einmal zur und beantragte bald darauf eine Adoption. Eine Hoffnung musste Blanka H. schon
Hochzeit ihrer Großnichte, trotz vorheri- Dadurch wurde Andreas R., der Bekannte, aufgeben. Den Vergleichsvorschlag, die
ger Zusage. zu Andreas S., dem Sohn. Nahe Angehö- Vermögenswerte aus dem Nachlass an
Die Weihnachtsfeiertage habe sie nun rige haben deutlich höhere Freibeträge bei eine gemeinnützige Stiftung zu geben,
bei Andreas R. und seiner Lebensgefährtin der Erbschaftsteuer als Bekannte. habe Andreas S. abgelehnt.
verbracht, der Bankberaterin. Als eine der Tat Wera S. das alles aus freiem Willen? Matthias Bartsch
Nichten die Tante bei einem unangekün- Für den Anwalt von Andreas S. besteht Mail: matthias.bartsch@spiegel.de
digten Besuch in der Villa traf, habe An- daran kein Zweifel. Ihr Hausarzt stellte

DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019 45


Reporter
»Die Fans haben ein Reklamationsrecht.« ‣ S. 48

Justiz
Sind Scheidungen zu
kompliziert, Herr Krömer?
SPIEGEL: Müssen zwei Menschen, die
nicht mehr miteinander verheiratet sein
wollen, zwingend vor den Richter?
Krömer: Wenn es nach mir ginge: nein.
Für mich ist ein Gericht eine Instanz, die
über Streitfragen urteilt. Bei einvernehm-
lichen Scheidungen, bei denen weder um
Kinder noch um Geld gestritten wird,
müsste es viel einfacher sein. In mehreren
europäischen Ländern sind Privatscheidun-
gen bereits möglich. Wir hängen hinterher.
SPIEGEL: In Italien kostet eine einver-
nehmliche Scheidung 16 Euro.
Krömer: Auch in Griechenland gibt es eine
Variante durch einen Notar.
SPIEGEL: Wo hakt es in Deutschland?
Krömer: Wir haben das Thema auf unserer
Verbandstagung 2015 auf die Tagesord-
HUCKY KOCAK

nung gesetzt. Es gab Gespräche im Bundes-


innenministerium, im Justizministerium
und auch mit verschiedenen Bundestags-
abgeordneten. Gebracht hat es nichts.
SPIEGEL: Warum nicht?
Familienalbum Leider konnte niemand helfen, etwas Krömer: Es heißt in Berlin, es gebe keinen
Neues zu finden, auch die Stadt hatte Handlungsbedarf, das Thema sei politisch
Endzeit, 2015 nur schulterzuckend zugesehen. Ich
denke, solche Klubs verschwinden
irrelevant. Außerdem ergäben sich bei
vielen Trennungen, die zunächst unkom-
Christian Heine, 54: auch deswegen, weil es keine Jugend- pliziert erschienen, in der Praxis immer
Das war die letzte, wirklich die aller- kultur mehr gibt, die sich wirklich mit wieder Streitpunkte.
letzte Party in unserem Klub, dem Musik identifiziert. Man ist nicht SPIEGEL: Warum ist es so teuer, sich schei-
Atomic Café. Zweieinhalb Stunden mehr Fan, sondern hört Musik eher den zu lassen?
später drehte sich der Schlüssel um, beiläufig, in seiner Playlist. Wir hat- Krömer: Es gibt in Deutschland in Ehe-
für immer. Der Leichenzug war schon ten die Arctic Monkeys, hatten Mum- sachen den Anwaltszwang. Der Anwalt
zu Ende, mit dem wir den Klub in der ford & Sons oder auch Muse, bevor sie kassiert seine Gebühren.
Maximilianstraße symbolisch zu Gra- richtig groß geworden sind. Das Ato- SPIEGEL: Könnte ich nach Rom fliegen
be getragen hatten, ein paar Stamm- mic Café war ein Klub für Leute, und mich dort für 16 Euro scheiden lassen?
gäste und Mitarbeiter waren noch da denen Musik wirklich etwas bedeute- Krömer: Die dortige Stelle muss ihre
und wir, die beiden Geschäftsführer: te, das war uns wichtig, das war unse- Zuständigkeit bejahen. Dies setzt voraus,
Roland (der mit der Brille) und ich re Politik an der Tür. Es war nicht dass Sie oder Ihre Frau Italiener sind oder
(der mit der Mütze), mit einem unse- leicht, aber wir haben es geschafft, dort leben.
rer DJs. Fast 20 Jahre lang hatten wir mit einer schwarzen Null rauszuge- SPIEGEL: Sollten gerichtsfreie Scheidungen
BURAZIN / GETTY IMAGES

diesen Klub mitten in der teuren hen. Seit Neujahr 2015 ist es also vor- in Deutschland irgendwann erlaubt werden:
Münchner Altstadt; es war eine Art bei. Was ich mache? Ich suche Arbeit. Wer würde die Ehen dann auflösen?
Gegenwelt – Mods, Rocker, Punk, Ach ja, wo wir früher waren, ist heute Krömer: Wir Standesbeamte. Wir sind,
New Wave, Britpop, Indie-Musik, übrigens eine Lacoste-Filiale. was Ehen angeht, wohl am nächsten an
Black Music, Soul: alles Mögliche, Aufgezeichnet von Benedikt Herber den Menschen dran. NESH
aber kein Techno. Nach 2500 Konzer-
ten und dreimal so vielen Partys hatte Karl Krömer, 62, ist Vorsitzender
‣ Sie haben auch ein Bild, zu dem
jemand den Stecker gezogen – der Sie uns Ihre Geschichte erzählen des Fachausschusses des
Mietvertrag wurde nicht verlängert, möchten? Schreiben Sie an: Bundesverbands der
Investoren kauften die Immobilie. familienalbum@spiegel.de deutschen Standes-
beamtinnen und
Standesbeamten.

46
mit den Jahren weiter ab: drei Semester Philosophie, dann
Eine Anzeige und ihre Geschichte
Restaurant und Tätowierer.
Das mit dem Tätowieren kam so: Zwei seiner Freunde tä-

»Außen wild, towierten, und eines Abends nahm er sich selbst die Maschine
und verpasste sich ein Tattoo, auf den Unterarm: »Wer immer
nur das macht, was er kann, bleibt immer der, der er ist«.

innen mild« Im Nachhinein, sagt er, sei das die Phase gewesen, in der
er sich am meisten verloren gefühlt habe. Anfang 2017 trenn-
ten sich seine Freundin und er nach drei Jahren.
Im Juni 2017 klingelte es an der Tür, zwei Polizeibeamte
Warum eine Kennenlernanzeige, die irre klingt, standen im Treppenhaus. »Mein Beileid, Ihre Mutter ist ge-
ernst gemeint sein kann storben«, sagte der eine. Der Tod kam plötzlich, im Schlaf.
Zu ihr, Rechtsanwältin von Beruf, habe er ein »unfassbar
gutes Verhältnis« gehabt, sagt Grothe. Als er ein paar Tage

E s war nach der Reise im Sommer gewesen, sechs Wo-


chen Portugal, Spanien, Frankreich, als er auf der Rück-
fahrt allein in seinem Škoda saß und fühlte, dass er
mittlerweile Platz hatte für eine Frau in seinem Leben. Er
nach ihrem Tod in ihrer Wohnung stand und alles einpackte,
das Silber, den Tisch, realisierte er etwas: »Familie und den
großen Traum gab es nie. Den muss ich mir selber bauen.«
Er besorgte sich, zum ersten Mal, eine »schöne« Wohnung.
wollte sie kennenlernen, aber auf seine Art. Er hatte früher Dachte, zum ersten Mal, dass Tätowierer ein super Beruf sei,
Tinder probiert, die Dating-App, aber sie nach ein paar Tagen aber vielleicht auf Dauer nichts für ihn. Erinnerte sich daran,
wieder gelöscht. Seit zwei Jahren war er Single. dass er als Zivildienstleistender im Krankenhaus auf der Dia-
Also Zeitungsanzeige, dachte er. Eigentlich out für einen lysestation gearbeitet hatte und wie sinnvoll das gewesen
Mann mit 32 und somit witzig. Wo? Im »Zeit-Magazin«, weil war. Zehn Jahre hatte es gedauert, bis er einen Sinn gefunden
er das gern las und es nach »Hu- hatte. Und jetzt sitzt Konstantin
mor« dann schon die zweite Infor- Grothe an diesem Tisch und sagt:
mation über ihn wäre, Konstantin »Ich bereue nichts.«
Grothe aus Hamburg. Er studiert gerade Medizin, im
Er fuhr also auf der Autobahn dritten Semester, hockt mit 19-Jähri-
und formulierte den Text im Kopf, gen im Hörsaal, aus der Generation
tippte ihn an einer Raststätte in sein Z, lauter Geradlinige. Und er? Sei
Handy. Ließ ihn liegen, wartete Generation Y, die Kurvigen. Grothe
zwei Tage, überprüfte die Details: arbeitet nebenbei noch immer im
Kommas, Punkte, Leseflow. Alles Restaurant, außerdem nimmt er die
sollte genauso wirken, wie er es Leichen an in der Rechtsmedizin.
fühlte. Dann schickte er ihn los. Im Sommer leistete er sich den
Sechs Zeilen, die so begannen: »Ka- Urlaub, den ersten großen seit Lan-
MARIA FECK / DER SPIEGEL

ter (außen wild, innen mild) sucht gem, baute den Škoda zum Schla-
Katze (außen heiß, innen nice) ...« fen um, fuhr los. Er weiß, dass seine
Sein Text sollte sich abheben Anzeige nicht leicht zu verstehen
von den gewöhnlichen Anzeigen, ist. Aber wenn sie dann jemand ver-
»Mann mit Format, 46/180 sucht« steht, umso besser. »Große Schnitt-
oder »Unternehmer 183 cm/83 kg, menge«, sagt er und grinst.
golfbegeistert«, weil er ja stolz da- Grothe Kater sucht Katze? »Ich mag ein-
rauf war, dass er endlich, nach zehn fach Katzen.«
Jahren oder vielleicht zum ersten Der große Dream?»Ist die Ent-
Mal in seinem Leben, so richtig schärfung des großen Traums.«
wusste, wer er war. In fünf Jahren Arzt? »Genau.«
Er hatte eine ganze Weile da- Vater und verheiratet? »Soll hei-
nach gesucht, die Spuren dieser Su- ßen, dass ich Lust habe auf Verbind-
che sind in Bildern und Wörtern lichkeit, aber auch auf ein freies
auf seinen Körper tätowiert – die Aus dem »Zeit-Magazin« und schönes Leben.« Geist, Körper,
Buchstaben »ZEIT« und »RAUM« Hände? Nach zwei Stunden Ge-
auf den Fingern, ein Segelschiff auf spräch ergibt das dann alles Sinn.
dem Oberarm, darunter alles schwarz. Das Meer? Ȇber- Mitte Oktober war die Anzeige erschienen, schon mittags
tätowierter Schrott«, sagt er in einem Café am Hamburger erreichte ihn die erste Antwort, sie beginnt wie folgt: »So, so,
Hafen. Er wohnt nicht weit von hier. die Katze und der Kater«. Mochte er gleich. Berührte ihn, weil
Sitzt da, redet gern über sich, klare Worte, die Haare er spürte, dass ihn tatsächlich jemand verstanden hatte.
blond, in welligen Strähnen zurückgelegt, ein Surfertyp. Be- Es kamen mehr Briefe, 22 insgesamt. Langweilig fand er
schreibt ausführlich seinen Werdegang, was wichtig sei, sagt die mit den Lebensläufen, auch noch gut fand er den Text, in
er, um die Anzeige zu verstehen, die lustig ist, aber auch dem eine Frau seine Geschichte fortschrieb: »In 5 Jahren bin
ernst. ich Mutter von Zwillingen und überlege mit Dir, ob wir noch
Vieles war am Anfang schwer gewesen: ohne Vater aufge- ein drittes Kind bekommen.« Auch sie hatte ihn verstanden.
wachsen, oft umgezogen, Internat, keine Lust mehr auf In- Mit beiden Frauen traf er sich. Sie redeten, gingen spazieren.
ternat, doch Abitur gemacht, 1,1, das beste der Schule. Dann Gefunkt, sagt er, habe es nicht. »Aber: Der Weg hierher hat schon
Bootsbauer gelernt, weil er, wie er sagt, »die Extreme eines Spaß gemacht«, sagt er, bevor er wieder auf sein Fahrrad steigt.
Spektrums« wollte. Wollte nicht nur Kopf, sondern auch Kör- Seine Mailadresse in der Zeitungsanzeige lautete übrigens:
per. In der Werkstatt in Wedel nutzte er seine Hände und lenavireestleport@gmail.com. Heißt übersetzt: »Das Schiff
schloss, wieder erfolgreich, ab. Die Extreme wechselten sich ist der Hafen.« Barbara Hardinghaus

DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019 47


Reporter

Brüder, zur Sonne


Mythen Borussia Mönchengladbach ist der Lieblingsverein aller Fußballromantiker. Doch der
Klub muss sich verändern, wenn er überleben will. Wie lässt sich ein Gefühl
vermarkten, ohne die Liebe der Fans zu gefährden? Von Hauke Goos und Marc Hujer

Seit über 100 Jahren zieht’s


uns magisch zu dir hin.
Du, die Sonne unsrer Heimat,
nach dir steht uns der Sinn!
»Die Seele brennt«, Einlaufhymne von
Borussia Mönchengladbach

A
lle 14 Tage versammeln sich in
Mönchengladbach, einer Indus-
triestadt am linken Niederrhein,
etwa 50 000 Menschen zu einer
Feier des deutschen Mittelstands. Sie zie-
hen Trikots an und legen grün-weiße Schals
um, sie tragen Wimpel, Kutten, Banner,
manche haben sich die Haare grün gefärbt.
Viele haben sich die Namen längst abge-
wanderter Helden auf ihr Trikot flocken
lassen: Reus, Effenberg, Dante.
Reus, Dante und viele andere sind längst
weg, sie, die Fans, sind noch da. Wohin
sollten sie auch gehen? Und weil die Zu-
kunft ungewiss ist, feiern sie die Vergan-
genheit – Borussia Mönchengladbach ist
eine Marke, die heller strahlt als die Stadt,
aus der sie kommt: ein Ausdruck deutscher
Wertarbeit, so wie Kettler, wie Rosenthal,
wie Schiesser, wie Märklin.
Der Unterschied: Anders als Rosenthal
und Kettler ist Gladbach immer noch da.
Die Frage ist: warum eigentlich?
Exakt zehn Minuten vor Spielbeginn
macht sich im Borussia-Park, in dem der
Verein seit ein paar Jahren seine Heimspie-
le austrägt, ein Mann auf den Weg in den
Innenraum, wegen seiner Körpergröße von
zwei Metern nennen sie ihn nur »Tower«.
Er passiert den Tunnel, durch den die
Mannschaften gleich ins Stadion laufen
werden, er betritt den Innenraum und wen-
det sich nach links, dorthin, wo die Trainer-
bank von Borussia Mönchengladbach steht:
vor ihm die Nordkurve, wo die wahren, die
echten, die treuen Fans stehen, die zwei
große Wünsche haben. Dass alles besser
wird. Und dass alles so bleibt, wie es ist.
Dann ertönt über die Stadionlautspre-
cher die Hymne.
Tower, der eigentlich Thomas Wein-
mann heißt, hat diesen Song selbst einge-
spielt, als Schlagzeuger der Projektband
B. O., der einzigen Fanband der Fußball-
bundesliga, die das komplette Liedgut ih-
res Vereins selbst geschrieben hat.

48 Fotos: Sonja Och für den SPIEGEL


Zwei Minuten und 16 Sekunden dauert Verein, ergriffen von dem Moment, mit- war Mönchengladbach neben dem FC
es, bis das Schlagzeug einsetzt – Wein- gerissen vom eigenen Trommelwirbel, der Bayern der beste Fußballklub Deutsch-
manns Schlagzeug. Kurz darauf betreten dem Gesang eine schöne Dringlichkeit ver- lands. Zwischen 1970 und 1979 wurden
die Spieler den Rasen. Alle singen, Block leiht. Erst wenn das Lied verklungen ist, die Gladbacher fünfmal Meister, einmal
16, die ganze Nordkurve, das ganze Stadion. geht er zu seinem Platz. Pokalsieger, zweimal Uefa-Cup-Sieger.
Stolzer Blick zurück – volle Kraft nach vorn. Es ist das Spiel gegen Fortuna Düssel- In einer gesichtslosen, vom Krieg zer-
Für den Namen, den die Welt so glorreich dorf, die fünfte Begegnung der laufenden störten Stadt spielten sie einen Fußball,
kennt! Saison. Nach sechs Minuten schießt Düs- den die Deutschen bis dahin nicht kannten;
Er denke in diesen Minuten nicht, sagt seldorf das 1:0. in der Tristesse von Reihenhaussiedlungen
Weinmann, weil er so sehr mit dem Singen Es gab mal eine Zeit, in den Siebziger- entstand eine Schönheit, die diese Tris-
beschäftigt sei: erfüllt vom Stolz auf diesen jahren des vergangenen Jahrhunderts, da tesse vergessen ließ. Am äußersten Rand
der Bundesrepublik gelegen, vermittelte
Mönchengladbach ein paar Jahre lang eine
Idee davon, wie Strukturwandel in Deutsch-
land aussehen könnte: kaufmännische
Sparsamkeit gepaart mit Wagemut, die
Werte der alten Bundesrepublik gepaart
mit dem Willen zu Erneuerung und Auf-
bruch. Mönchengladbach gelang im Fuß-
ball das, was der SPD mit dem Ruhrgebiet
gern gelungen wäre.
Damals war Gladbach eine echte Alter-
native zu den Bayern, ein Gegenmodell,
der letzte Verein der Bundesliga, der sich
gegen Trikotwerbung stemmte. Als Fan
musste man sich entscheiden: zwischen
dem jungen, ungestümen Fußball vom Nie-
derrhein – und dem kontrollierten Fußball
der Bayern. Das war ähnlich schwer wie
die Entscheidung zwischen Levi’s und
Wrangler, Coca-Cola und Pepsi oder
Beatles und Rolling Stones – es ging um
eine Haltung, um Grundsätzliches also.
Lange hat Borussia Mönchengladbach
von der Rolle des Underdogs profitiert. An-
dere Klubs standen für Nüchternheit und
Pragmatismus, Gladbach stand für Utopie.
Wegen ihres Spielstils und ihrer Jugend
wurde die Mannschaft »Fohlen« genannt.
Bayern steht bis heute für Erfolg, während
Gladbach lange in der Bedeutungslosigkeit
versank.
München verbindet man mit Siemens
und BMW, Finanz und Hightech; die Stadt
Mönchengladbach zählt fünf Tedi-Filialen,
zehn kik-Läden und ein sympathisch ver-
blichenes »Haus der Geschenke«.
Die Fans sind mit ihrem Verein alt ge-
worden. Thomas Weinmann sagt: »In der
Nordkurve haben wir jetzt einen Alters-
durchschnitt von 47,3 Jahren ermittelt, das
ist verdammt alt. Es zeigt die Treue, aber
auch die Kluft: Uns fehlt eine ganze Ge-
neration.«
»Wenn wir zehn Jahre weiter denken«,
sagt Weinmann, »sind die Fans in der
Nordkurve 57,3 Jahre alt. Ob die dann
noch in der Nordkurve stehen?«
Natürlich wussten alle, dass es so nicht
ewig weitergehen konnte. Das Stadion
zu klein, die Einnahmen zu gering, fast
immer musste der Verein die besten Spie-

Fans in der Nordkurve im Borussia-Park beim


Spiel gegen Düsseldorf am 22. September
Wohin sollten sie auch gehen?

DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019 49


Vereinspräsident Königs, Klubidole Heynckes, Netzer, chinesische Nachwuchsspieler: »Im Hier und Jetzt leben«

ler verkaufen, meistens an die Konkur- Sie machten keine Politik, sie brauchten renz unterscheide – und was, möglicher-
renz. 20 Jahre nach dem letzten Europa- keine Polemik, sagt Königs, wenn er über weise, ein Alleinstellungsmerkmal sein
pokaltriumph hatte Borussia 30 Millio- die Borussia spricht. »Das würde nicht zu könnte. Mit anderen Worten: Er zwang
nen Mark Schulden und stand kurz vor uns passen.« diesen Klub, der von Menschen wie Tho-
der Pleite. Erstmals spielte der Verein in Königs, 78 Jahre alt, ist ein Kaufmann, mas Weinmann nahezu religiös verehrt
der Zweiten Liga. dem etwas daran liegt, dass den Kunden das wird, zu dem, was in der Wirtschaft »Re-
Dass er den Wiederaufstieg schaffte, Produkt gefällt. Wenn seine Borussia ver- strukturierung« heißt.
dass sich die Mannschaft stabilisierte, zu- liert, ist ihm das peinlich. »Die Fans haben Er habe dem Verein eine »Struktur« ge-
meist im oberen Mittelfeld, hat damit ein Reklamationsrecht«, sagt er. Ein Verein geben, sagt Königs. Er hat die Schulden
zu tun, dass an die Stelle der Träumer ir- wie Mönchengladbach ist, mit den Augen abgetragen und den Bau eines neuen, grö-
gendwann Kaufleute traten. eines Mittelständlers gesehen, ein Produ- ßeren Stadions vorangetrieben, er hat in
2004 wurde der Manager Rolf Königs zent von emotionalen Momenten, die an- der Vereinsführung die Ehrenamtlichen
zum Präsidenten gewählt. Königs ist, deren Vereine sind für Königs »Mitanbie- durch Profis ersetzt und das Lizenzspie-
wenn er sich nicht gerade um Gladbach ter«. Wie jeder Hersteller kann er sich nur lergeschäft in eine GmbH überführt. Kö-
kümmert, Geschäftsführer der Aunde, das eine bestimmte Ausschussquote erlauben, nigs hat erkannt, dass die Sympathie, die
steht für Achter und Ebels, Marktführer wenn er nicht vom Markt verschwinden will. in den Siebzigern erarbeitet wurde, ein Al-
für Lkw-Sitzbezüge. Königs hat den La- Ausgerechnet Königs, der Kaufmann al- leinstellungsmerkmal sein kann. Er hat das
den vom Textilhersteller zum System- ter Schule, ist der Erfinder der modernen Merchandising ausgebaut und die Roman-
lieferanten der Automobilindustrie ent- Borussia. Als er kam, hat er allen erklärt, tik, die Leute wie Thomas »Tower« Wein-
wickelt, mit 24 500 Mitarbeitern weltweit dass die Borussia eine Marke sei. Damals, mann so lieben, vorsichtig gedimmt.
macht das Unternehmen rund drei Mil- erzählt er, hätten alle gesagt: Der Königs Sie müssen den Jungen etwas bieten, das
liarden Euro Umsatz. ist verrückt. Mittlerweile habe sich die ist die Herausforderung, gleichzeitig dürfen
Vor dem Spiel gegen Düsseldorf wartet Meinung gedreht. sie die Alten nicht vergraulen. Sie haben
er in einem Besprechungszimmer. Schwar- Königs stellte die Frage, was eigentlich einen Mythos, den andere Klubs gern hät-
zer Anzug mit Gladbach-Raute, schwarze der Markenkern von Borussia Mönchen- ten, sie müssen ihn entstauben, ohne ihn
Schuhe, eine Krawatte in den Vereins- gladbach sei. Wie sich die Zielgruppe des zu zerstören. Sie müssen zeigen, dass sie
farben, die er selbst entworfen hat. Vereins von den Zielgruppen der Konkur- die Erinnerungen hochhalten, gleichzeitig

50
Reporter

haben sie sich einen neuen Claim verpasst: sich Ziele gesetzt: WM-Teilnahme bis noch Geld zu verdienen. Königs hat, wenn
»Zeit für neue Erinnerungen«. 2040, WM-Ausrichtung bis 2050. »Wir man so will, die Fertigungstiefe erweitert
Aus dem Verein sollte ein Unternehmen sehen das als Verpflichtung für den deut- und die Wertschöpfung erhöht.
werden, die Herzensangelegenheit ein wirt- schen Fußball, uns dort zu beteiligen. Wir Warum ein Jugendlicher heute Fan von
schaftliches Fundament bekommen. Königs machen das, was wir können: Wir bringen Borussia Mönchengladbach werden sollte?
wird dafür respektiert, aber nicht geliebt. unsere Fohlenphilosophie in andere Teile Königs lächelt. »Wir sind seit 2013 jedes
Die Fans misstrauen einem Mann, der kühl der Welt.« Jahr zum familienfreundlichsten Klub der
und leidenschaftslos rechnet, selbst wenn Einerseits ist das natürlich eine ziemlich Bundesliga gewählt worden«, sagt er.
seine Nüchternheit am Ende den Verein smarte Idee, ausgerechnet in Shanghai, im Was der Verein seinen jungen Mitglie-
rettet. Dafür steigen die Mitgliederzahlen. Herzen des chinesischen Staatskapitalis- dern zu bieten habe?
Im Jahr 2000 hatte die Borussia rund mus, eine Art Wärmekammer für deutsche Königs zählt die Erfolge auf. Den »Jün-
6000 Mitglieder, heute sind es 90 000. Mittelklassetugenden einzurichten: den terclub« für Kinder bis zwölf, benannt nach
»Die Heimat von Borussia ist und bleibt Chinesen beispielsweise zu zeigen, dass Günter Netzer. »Die Kinder können sich
Mönchengladbach«, twitterte der Klub un- ein moderner Klub auch im 21. Jahrhun- hier auf Spiele vorbereiten und Oma und
längst ein Königs-Zitat. »Aber wir dürfen dert wie ein Familienbetrieb geführt wer- Opa mitbringen; die Kinder kriegen hier
nicht stehen bleiben. Deshalb haben wir den kann. mehr geboten und können sich besser ent-
ein Büro in Shanghai eröffnet.« Andererseits gibt es kaum einen Chine- falten.«
Für das Büro, knapp 13 Flugstunden sen, der den Vereinsnamen aussprechen Was Königs rechtzeitig erkannt hat, an-
von Mönchengladbach entfernt, ist Ste- kann. Es geht vor allem darum, bereit zu ders als die Manager von Kettler, Märklin
phan Schippers zuständig, Geschäftsführer sein. Und wenn dann eines Tages ein In- oder Rosenthal: Man kann die Erinnerung
seit 1999, dem Jahr des ersten Abstiegs. vestor kommt, der nach China will, sagt an die alten Zeiten pflegen – und gleich-
Schippers, gelernter Finanzfachmann, Schippers, »dann sind wir im Markt ver- zeitig vermarkten. Als Königs kam, vor
ist ein angenehm unaufgeregter Mensch, treten«. Sie hoffen darauf, dass potenzielle 15 Jahren, fragte er beispielsweise, wo die
der in kurzärmeligem Hemd in der Ge- Investoren wissen wollen, wer im Markt alten Spieler seien, all die glanzvollen
schäftsstelle erscheint und die Sorge seines ist. »A: Bayern München. B: Borussia Namen, die jeder Fan bis heute im Schlaf
Pressesprechers, er könne sich als Ge- Dortmund. Und C ist dann schon Glad- aufsagen kann: Wimmer und Vogts, le
schäftsführer so auf keinen Fall für den bach.« Es ist ein Versuch. Sie wissen, dass Fevre und Stielike, Heynckes, Laumen und
SPIEGEL fotografieren lassen, lässig bei- es ihnen nicht schaden kann. Und wenn Bonhof.
seitewischt. es in fünf Jahren nicht nennbar »auf die Die alte Vereinsführung, hieß es, wollte
In einem Verein, das ist bei einem Fuß- die Alten nicht, weil sie nur meckerten.
ballklub nicht anders als in einem Unter- Und weil es im alten Stadion zu wenig Plät-
nehmen, gibt es meist zwei Lager: die Tra- Die alte Vereinsführung ze gab, um die einstigen Stars mit Frei-
ditionalisten und die Reformer. wollte die Alten karten zu versorgen.
Die Traditionalisten wollen, dass alles Königs änderte das. Jetzt werden die
bleibt, wie es ist. Die Reformer wollen, nicht, weil sie nur Alten dazugeholt, als Ratgeber oder als
dass sich ein paar Dinge ändern, damit das meckerten. Glücksbringer, wie neulich im Europa-
meiste bleiben kann, wie es war. pokalspiel gegen den AS Rom.
Schippers war dabei, als Mönchenglad- Günter Netzer, der in diesem Jahr
bach, als Ersatz für das alte Bökelberg- Marke einzahlt«, wie Schippers sagt, dann 75 Jahre alt geworden ist, hat nach Sylt
stadion, eine neue Arena baute, für 87 Mil- machen sie das Büro halt wieder dicht. eingeladen, wo er regelmäßig seinen
lionen Euro. Er half Königs, den Verein zu Unterdessen bauen und planen sie. Ne- Sommerurlaub verbringt.
entschulden und solide zu planen. Und ben dem Chinaexperiment gibt es ein Ho- Netzer, von 1963 bis 1973 Spieler der
jetzt Shanghai. tel am Stadion, in dem Fans vor und nach Borussia, steht wie kaum ein anderer für
Natürlich sind die anderen längst da, dem Spiel übernachten können. Königs re- den Zwiespalt, in dem sich der Verein seit
Real Madrid und Manchester United und det vom »Digital Circle«, einem externen rund 50 Jahren befindet: ein Held, ein Re-
Bayern sowieso; wer sich weltweit als Mar- Expertenteam für digitale Projekte, oder bell, weil er sich, gegen den Willen seines
ke etablieren will, kommt an China nicht vom Einstieg in den E-Sport, bei dem Men- Trainers, selbst einwechselte. Und wenige
vorbei. Die Klubs wollen den Chinesen schen sich am Computer im sportlichen Minuten nachdem er den Platz betreten
die Fernsehrechte an den Spielen verkau- Wettkampf messen. hatte, das Siegtor schoss. Ein Popstar, der
fen, damit die Stars aus Europa im chine- Vor Kurzem haben die Gladbacher ihrer sich im Morgengrauen, nach einer Nacht
sischen Programm zu sehen sind. Im Mai Vergangenheit sogar ein eigenes Museum in der Diskothek, mit dem Ferrari auf der
dieses Jahres reiste die Mannschaft von errichtet, gleich hinter dem neuen Stadion: Rheinbrücke fotografieren ließ: der be-
Borussia Mönchengladbach nach China, Wimpel und Pokale sind dort ausgestellt, kannteste Sohn der Stadt, der eine erfolg-
um ein Testspiel zu absolvieren und das die Pfostentrümmer aus dem Bremen- reiche Karriere machte und irgendwann
Büro zu besuchen. Spiel (die Partie wurde abgebrochen und einfach verschwand.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, eine mit 2:0 für die Bremer gewertet, weil der Was kann, was muss der Verein bewah-
Tradition zu vermarkten, die vor mehr als Torpfosten umknickte) oder die Cola- ren, damit Fans wie Thomas Weinmann
40 Jahren begründet wurde. Die Reise Dose, die einen gegnerischen Spieler am weiterhin ins Stadion kommen?
nach China ist eine solche Möglichkeit. Um Kopf traf und die dazu führte, dass die Netzer hat in Madrid gespielt und den
wettbewerbsfähig zu werden, muss der Uefa das rauschhafte 7:1 gegen Inter Mai- HSV gemanagt, seit vielen Jahren lebt er
Klub expandieren, neue Absatzmärkte er- land annullierte – wer in den Siebziger- in Zürich. Die Gladbacher Zeit ist inzwi-
schließen, seine Bekanntheit steigern. und vor allem Achtzigerjahren Fan dieses schen sehr weit weg.
Für Mönchengladbach, sagt Schippers, Vereins war, gewöhnte sich an den Gedan- Er habe es viele Jahre nicht nach Glad-
der Geschäftsführer, gehe es jetzt noch ken, von den Großen betrogen und um bach geschafft, sagt Netzer. Er sei erst wie-
nicht in erster Linie darum, in China Geld den verdienten Sieg gebracht zu werden. der hingefahren, als Anfang Mai das Ver-
zu verdienen. »Das ist ein Bildungsauf- Das Museum ist der Versuch, mit der einsmuseum, die »Fohlenwelt«, eröffnet
trag, den wir dort haben.« China habe Vergangenheit zu werben und damit auch wurde. Die Vergangenheit in den Vorder-

DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019 51


dann brauchen wir nicht alle Hoffnung fah-
ren zu lassen.«
Gladbach, sagt Petzold, sei »die utopi-
sche Sehnsucht, dass aus Piefigkeit, aus
Carport und Glasbausteinen, aus Müll-
trennung und Seidensticker-Hemden
Schönheit entstehen kann«. Petzold war
17, als Mönchengladbach zum letzten Mal
Meister wurde. Wie lange kann ein Verein,
oder ein Unternehmen, durchhalten, wenn
die Fans, oder die Kunden, langsam weg-
sterben, die sich an die großen Zeiten erin-
nern können? Fans, die es ertragen, wenn
ihre Kinder beim Besuch in der Fohlenwelt
rufen: »Papa, ich hab ja gar nicht gewusst,
dass Gladbach fünfmal Meister war.«
Vor ein paar Wochen, als Netzer seinen
75. Geburtstag feierte, begrüßte Rainer
Bonhof, inzwischen Vizepräsident, die
Helden von einst auf der Bühne. Berti
Vogts war gekommen, der ein paar Kilo-
meter entfernt in Korschenbroich lebt,
Jupp Heynckes, der sich in Schwalmtal
einen Bauernhof hat bauen lassen, Her-
Vereinsmuseum »Fohlenwelt«: Sehnsucht nach Aufbruch bert Laumen und drei Dutzend andere.
Sie standen nebeneinander, machten Wit-
ze, sie freuten sich und waren ein wenig ge-
grund zu stellen, halte er für völlig falsch, dem gibt es bei Netzer eine Verbunden- rührt darüber, dass es die Borussia noch gibt.
sagt Netzer. »Man muss im Hier und Jetzt heit zur Heimat, die sich in Geschichten In den Achtzigern hatten sich die Wege
leben.« Es sei schön, wenn man eine Ver- auflöst. von Bayern München und Mönchenglad-
gangenheit habe, aber diese sei nichts ge- Die Fans, die mit diesen Geschichten bach getrennt. Am 7. Dezember werden
gen den Zins, der vom aktuellen Erfolg aufgewachsen sind, bewahren sie und ge- sie sich gegenüberstehen, im Borussiapark,
ausgehe. »Der Erfolg sorgt dafür, dass dir ben sie an ihre Kinder weiter. es ist gut möglich, dass Gladbach die
die Fans zulaufen.« Alte Geschichten seien In einer Ecke der Fohlenwelt können Münchner als Tabellenführer empfängt.
nur gut für den Sympathiefaktor, mehr die Besucher einen Nachbau von Netzers Es ist das Duell zweier Geschäftsmodel-
nicht. berühmter Diskothek »Lover’s Lane« be- le: Schönheit gegen Effizienz, Nostalgie
Der Fan, sagt Netzer, sei am Ende an treten, ausgestellt ist der originale Tresen gegen Flagshipstore, 173 Millionen Euro
schönen Geschichten allein nicht interes- mit den Partygetränken von damals. Noch Umsatz gegen 750 Millionen.
siert: weder an den Mythen der Vergan- heute erzählt der Mönchengladbacher Thomas Weinmann, »Tower« genannt,
genheit noch an den Idealen eines Klubs, Oberbürgermeister, wie er bei Netzers wird rechtzeitig im Stadion sein.
der in China Entwicklungsarbeit leistet. Umzug von Mönchengladbach nach Ma- Er wird sich auf den Weg in den Innen-
Dass der Verein lange stolz darauf war, drid im Jahr 1973 half – und mit eigenen raum machen, er wird den Tunnel passie-
kleine Ziele mit überschaubaren Mitteln Augen sah, dass Netzer eine schwarze Ba- ren, durch den die Mannschaften ins Sta-
anzustreben, hat Netzer früh genervt. Fir- dewanne besaß. dion laufen, er wird die Arena betreten
men wie Märklin gerieten auch deswegen Es gehört zu den Widersprüchen des und sich nach links wenden, dorthin, wo
in Schwierigkeiten, weil die Visionen ir- Gladbacher Projekts, dass die im Museum die Trainerbank von Borussia Mönchen-
gendwann so klein wurden, dass sie in eine ausgestellte Vergangenheit immer beides gladbach steht. Er wird auf die Nordkurve
Museumsvitrine passten. beschwört: das Solide, Buchhalterisch-kor- blicken und auf den Trommelwirbel war-
Es ist ansonsten ein wunderbarer Nach- rekte, Provinzielle – und die Sehnsucht ten, der die Hymne begleitet, die er selbst
mittag mit Günter Netzer. Der Mann, der nach dessen Überwindung. eingespielt hat:
so überzeugt im Heute lebt, erzählt ausgie- Der Filmregisseur Christian Petzold, Denn du lebende Legende Fohlenelf vom
big von früher. Von seiner Zeit als HSV-Ma- 1960 in Hilden geboren, ist seit Mitte der Niederrhein,
nager, von Herbert Wimmer, seinem Glad- Siebzigerjahre Gladbach-Fan. Er hat dem schriebst ein Stück Fußballgeschichte.
bacher Mannschaftskollegen, der nach dem Kino mit Werken wie »Wolfsburg« oder Und so wird’s auch in Zukunft sein!
Training immer in die Umkleidekabine »Barbara« ein paar großartige Filme ge- Er wird dahin gehen, wo die wahren,
sprintete, weil er auf dem Heimweg nicht schenkt, in jedem benennt er eine Figur die echten, die treuen Fans stehen, die, wie
vor einer geschlossenen Bahnschranke war- nach einem Gladbacher Spieler. Als Fan alle echten Fans, konservativ sind, und er
ten wollte; vom Pokalfinal-Siegtor gegen der Borussia hat er lange über den Zusam- wird zwei große Wünsche in seinem Her-
den 1. FC Köln, als er den Ball nicht richtig menhang zwischen Provinz und Schönheit zen tragen: dass alles besser wird. Und
traf und der Schuss dennoch, oder vielleicht nachgedacht. dass alles so bleibt, wie es ist.
gerade deswegen, im oberen linken Tor- »Ich bin in einer Reihenhaussiedlung
dreieck einschlug. groß geworden«, sagt Petzold, »wo es
Netzer ist froh, Mönchengladbach wahrscheinlich ziemlich genauso aussieht Video
Wie hält man vier Elfmeter
rechtzeitig verlassen zu haben. Sein Blick wie in Mönchengladbach. Und da hab ich hintereinander, Uwe Kamps?
auf den Verein ist geschäftsmäßig, unsen- gedacht: Wenn die das schaffen, einen so spiegel.de/sp482019moenchenglad-
timental. Er wollte weg aus der Provinz, schönen Fußball zu spielen, aus der Häss- bach oder in der App DER SPIEGEL
eben weil er die Provinz kannte. Trotz- lichkeit, aus dem Provinzialismus heraus,

52 DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019


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E
in Jahr und acht Monate nachdem eine Mutter auf Augen. Frommann sagt, er habe sich bemüht, sein Vertrauen
der Polizeiwache von Bad Vilbel ihren Sohn als ver- zu gewinnen, ihn vergessen zu lassen, dass da ein Polizist
misst gemeldet hatte, befreiten Arbeiter in einem vor ihm saß, er habe versucht, ihm zu zeigen, dass sich ein
Waldstück wenige Kilometer entfernt ein Bachbett Mensch für ihn interessierte.
von Ästen. Es war der 6. Januar 1981, auf dem Boden Frommann wusste, Wilfried M. war im Dorf ein Außen-
lag Schnee, und im Bach Scheidgraben fanden die Männer seiter. Er lebte bei seinen Großeltern in einem Hinterhaus,
unter Ästen die Leiche eines Kindes. Sie hatte lange im Was- der Hof zugemüllt mit alten Waschmaschinen, Fahrradteilen,
ser gelegen, anhand eines Gummistiefels und des Anoraks Stühlen. Im Haus ein Topf mit verschimmelter Erbsensuppe,
konnte man den Jungen identifizieren. Kaninchen in verdreckten Ställen, Katzen, Papageien und
Einen Tag nachdem die Lei- Ratten. Im Dorf hieß es, Wil-
che gefunden worden war, über- fried M. wasche sich nicht.
nahm Ernst Frommann, damals Viele Eltern wollten nicht,
Kriminaloberkommissar, den dass ihre Kinder sich mit ihm
Fall. Hubert, acht Jahre alt, war abgaben. Er habe den Fußball-
das erste tote Kind seiner Poli- verein verlassen müssen, weil
zeilaufbahn. er gestunken habe, und auch
Fast 39 Jahre später sitzt den Schützenverein. Es würde
Ernst Frommann in seinem etwas passieren, wenn er nicht
Wohnzimmer in Altenstadt, ne- verschwände. In seiner Verneh-
ben ihm seine Frau Inge, und mung sagte er, auch die Mutter
sagt, sein Sohn sei im selben von Hubert habe keine Ge-
Alter wie der tote Junge gewe- legenheit ausgelassen, ihn zu
sen. Immer wieder habe er die verhöhnen.
Vermisstenakte gelesen, irgend- Neun Stunden lang dauerte

V. GRUND / WETTERAUER ZEITUNG


wann habe er »in dem Sachver- die Befragung. Wilfried M. er-
halt gelebt«. zählte schließlich, wie er mit
Zweieinhalb Monate lang Hubert am 29. April 1979 zum
fuhr er in das Dorf, in dem Hu- Wald gegangen sei, wo er ihn
bert gelebt hatte, ging von Haus in den Bach gestoßen habe, den
zu Haus, rekonstruierte den knapp einen halben Meter tie-
Tag, an dem Hubert nicht mehr fen Scheidgraben. Er habe den
nach Hause gekommen war. Er Jungen so lange unter Wasser
sprach mit Lehrern, mit Leuten Mein Fall gedrückt, bis der sich nicht
vom Fußballverein, er sprach mehr bewegt habe.
mit dem Pfarrer. In seinem Wohnzimmer er-
Er erfuhr: Hubert, das jüngs-
te von drei Geschwistern, war
oft allein unterwegs. Der Vater
Tod im Bach innert sich Ernst Frommann,
mittlerweile pensioniert, noch
immer »an die tiefe Traurigkeit
war früh verstorben, die Mutter in seinem Blick«, als Wilfried
hatte wenig Zeit für ihren Sohn, M. ihm gestand, wie er Hubert
die Nachbarn sahen den Jungen In einem kleinen Dor f in Hessen wird getötet habe. Wilfried M. sei
schon morgens und abends ein Junge ertränkt. Der zuständige ein Mensch gewesen, der nicht
noch lange draußen, auf den Kommissar ermittelt Monate in dem in die Norm gepasst habe, aus-
Straßen von Burg-Gräfenrode, geschlossen aus der Gemein-
etwa 800 Häuser, rund 20 Ki- Ort und fragt sich, 39 Jahre später, schaft. Ein Außenseiter, der
lometer vor Frankfurt am Main. ob er doch etwas versäumt hat. sich schwach fühlte – bis er ei-
Frommann wollte immer vor nen noch Schwächeren fand,
Ort sein. Er richtete sich in der an dem er sich für alles rächen
Gemeindeverwaltung von Burg- konnte.
Gräfenrode ein Außenbüro ein, Schreibtisch, Telefon, mehr Er war zu der Tatzeit 19 Jahre alt und wurde nach Ju-
brauchte er nicht. Ermittler müssten die richtigen Fragen gendstrafrecht verurteilt. Er habe nach dem Geständnis
stellen, sie müssten vor allem zuhören, auch denen, die sonst erleichtert gewirkt, sagt Frommann.
keiner hört. Das wisse er seit diesem Fall, sagt Frommann. Einen Verdächtigen dazu zu bringen, dass er zu ebenje-
Wenn er in jenen Tagen ins Dorf fuhr, fiel ihm hin und nem Polizisten Vertrauen fasst, der gegen ihn ermittelt, ist
wieder ein junger Mann auf, der am Ortseingang mit seinem das nicht eine Form des Verrats?
Moped stand und ihm zuwinkte. Manchmal hielt Frommann Bis heute beschäftigt Ernst Frommann die Frage, ob er sich
an und kurbelte die Scheibe herunter. Der junge Mann er- mehr um den Täter hätte kümmern müssen, nach der Fest-
kundigte sich nach dem Fortgang der Ermittlungen. nahme, nach der Verurteilung – aber wie kann sich ein Kom-
Zwei Männer waren an jenem Tag, an dem Hubert ver- missar um einen Verbrecher kümmern? Maik Großekathöfer
schwand, mit ihm gesehen worden, beide waren 1979 schon
vernommen worden, ohne Ergebnis. Den einen konnte Ernst Frommann,
Frommann schnell als Täter ausschließen. Der andere war 70, fing 1966 in Frankfurt am Main als Schutz-
der Mann mit dem Moped. polizist an. Bei der Kripo war er zuständig
An einem Märzmorgen um acht Uhr lud Frommann ihn für Mord, Totschlag, Raub und Betrug, später
zur Vernehmung. Wilfried M. bewegte unkontrolliert seine war er beim Sittendezernat und beim Staats-
Hände, schwitzte und blickte dem Kommissar nicht in die schutz. Seit 2008 ist er im Ruhestand.

54 DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019


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Wirtschaft
»Wir haben den Wohlstand nicht auf ewig gepachtet.« ‣ S. 58

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Spendengala »Ein Herz für Kinder« 2018

Philanthropie

Deutsche spenden mehr als 30 Milliarden


Fundraising Verband hält Potenzial für »noch lange nicht ausgeschöpft«, besonders bei Hochvermögenden.
 Die Bundesbürger sind nach neuen Berechnungen des auch die Kirchensteuer einbezogen werden, da man freiwillig
Deutschen Fundraising Verbands (DFRV) deutlich freigebiger Mitglied sei – also weitere 12,4 Milliarden Euro. Der Gesamt-
als angenommen. Mit dem seit Jahren relativ konstanten spendenumsatz liege damit bei jenseits von 30 Milliarden
Wert um 5,3 Milliarden Euro, der auf Marktforschungsdaten Euro und damit über dem Umsatz von Dax-Unternehmen
beruht, werde das tatsächliche Spendenvolumen »dramatisch wie E.on oder SAP. Dennoch sei das Volumen damit »noch
unterschätzt«, sagt DFRV-Geschäftsführerin Larissa Probst. lange nicht ausgeschöpft«, meint Probst, »in den USA wird
Darin seien weder Erbschaften noch Großspenden enthalten, pro Kopf etwa zweieinhalb Mal so viel gespendet«. Potenzial
die bei spendensammelnden Organisationen aber immer sieht die Verbandschefin vor allem bei den wohlhabendsten
wichtiger würden. Nach den Berechnungen ihres Verbands zehn Prozent der Bevölkerung. Ohnehin gebe es einen
liege allein das Volumen privater Spenden eher bei 12 Milliar- »deutlichen Trend, dass weniger Menschen höhere Beträge
den Euro, also mehr als doppelt so hoch. Hinzu kämen Unter- spenden«. Ein weiterer Befund sei, dass gerade bei Hoch-
nehmensspenden, die laut einer Studie der Bertelsmann- vermögenden »die Bereitschaft zum Spenden steigt, wenn
Stiftung bei etwa 9,5 Milliarden Euro liegen. Zudem müsse die Zinsen sinken«. ROM

Niedrigzinsen entspreche 3,9 Prozent des Bruttoinlands- lung sind die Unternehmen – sie wurden
Bürger und Banken produkts (BIP). Noch größer seien die um 166 Milliarden Euro entlastet – und
Ersparnisse in Spanien mit 181 Milliarden die öffentlichen Haushalte (184 Milliarden
zahlen drauf Euro oder 16,5 Prozent des BIP gewesen. Euro). Zusammengerechnet ergibt das für
Größter Verlierer in absoluten Beträgen Deutschland jenes Plus von 114 Milliarden
 Spanien, Deutschland und Italien sind ist Frankreich mit Nettoverlusten von Euro. Die Studienautoren haben die Zins-
die größten Gewinner der ultraniedrigen 63 Milliarden Euro, vor allem weil die effekte der einzelnen Jahre mit dem Basis-
Kapitalmarktzinsen. 2008 bis 2018 hätten Banken dort weniger Zinsüberschüsse jahr 2008 verglichen und anschließend
die privaten und staatlichen Haushalte erwirtschaften. In Deutschland gehören kumuliert. 2008 hatte die Europäische
sowie die Finanz- und Industrieunter- die Banken mit Zinsverlusten von 114 Mil- Zentralbank begonnen, die Leitzinsen zu
nehmen in Deutschland netto 114 Milliar- liarden und die privaten Haushalte mit senken; zudem kauft sie Staats- und
den Euro an Zinszahlungen eingespart, einem Minus von 123 Milliarden Euro zu Firmenanleihen, was vor allem die Lang-
heißt es in einer Studie der Allianz. Das den Verlierern. Gewinner der Entwick- fristzinsen drückt. BAZ

56 DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019


Standesvertretungen Audi ist von 4000 bis 5000 Stellen, die Audi
Politische Einigung mit Betriebsrat über Altersteilzeit- und Vorruhestands-
regelungen abbauen will. Streit gibt es
Mundhygiene verzögert sich auch über die Dauer der Jobgarantie, die
noch bis 2025 gilt. Die Arbeitnehmer-
 Unter Schleswig-Holsteins Zahnärz-  Die Audi-Führung konnte sich vor vertreter fordern eine Verlängerung bis
ten tobt ein Streit über den Umgang der Aufsichtsratssitzung am vergangenen mindestens 2030, was Audi bislang
mit einem in der AfD aktiven Standes- Mittwoch nicht wie geplant mit dem ablehnt. Das Unternehmen drängt jedoch
vertreter. Im August war der Landes- Betriebsrat auf ein Zukunftspaket einigen. auf eine schnelle Einigung – und gibt sich
vorsitzende des Freien Verbands Die Gespräche verliefen lautstark, aber weiter optimistisch: Mit einer Einigung
Deutscher Zahnärzte (FVDZ), Roland ergebnislos. Uneinigkeit herrscht darüber, sei noch in der kommenden Woche zu
Kaden, nach seiner Wahl zum stell- welche und wie viele Stellen der Auto- rechnen, heißt es aus Audi-Kreisen. SH
vertretenden Landesvorsitzenden der hersteller tatsächlich abbauen soll. Der
AfD zurückgetreten. Anfang November, Betriebsrat will zunächst Tätigkeiten
auf der Landesversammlung des FVDZ, definieren, die künftig nicht mehr benö-
kandidierte der Zahnarzt erneut und tigt werden. Der Abbau soll dann über
wurde mit einer Stimme Mehrheit wie- Umschulungen abgefedert werden. Das

STEFAN WARTER / AUDI AG


dergewählt. Weil er seine Kandidatur, Audi-Management dagegen will rasch mit
wie es in einer Stellungnahme des Stellenkürzungen anhand einer »Abbau-
FVDZ heißt, »bis zur letzten Minute kurve« beginnen. Die jährliche Produkti-
geheim« gehalten hatte, traten fünf von onskapazität in den Werken in Ingolstadt
acht gewählten Mitgliedern des Vor- und Neckarsulm soll um je 100 000 Fahr-
stands zurück. »Für eine vertrauens- zeuge reduziert werden, die Zahl der Mit-
volle Zusammenarbeit« gebe es »keine arbeiter entsprechend sinken. Die Rede Fertigung im Werk Ingolstadt
Basis« mehr, erklärten sie. Der Konflikt
droht nun auch die Zahnärztekammer
zu spalten, in der AfD-Funktionär
Kaden als stellvertretender Vorsitzen- Deutsche Bahn tig die stationären ersetzen sollen. Das
der amtiert. Eine Gruppe von Lübecker Mit der EC-Karte neue System wird derzeit auf der Strecke
Zahnärzten hat für die Kammerver- München–Bremen–München getestet,
sammlung an diesem Wochenende ins Bordrestaurant im Dezember dürfte der Probebetrieb
einen Antrag eingebracht, der auf ausgeweitet werden. Immer wieder
Kadens Ablösung zielt, wenn auch nur  Die Bahn will einen Anachronismus kommt es beim Test zu Problemen mit
indirekt: Die Kammer möge beschlie- abschaffen. Im Laufe des ersten Quartals dem Mobilfunknetz. »Die Qualität der
ßen, dass Führungspositionen in politi- 2020 soll es für einen Großteil der Fahr- Datenverbindung steht und fällt mit
schen Parteien nicht mit Führungs- gäste möglich sein, im Bordrestaurant der Ausleuchtung der Bahnstrecken mit
positionen in der Standesvertretung mit der EC-Karte zu bezahlen. Bisher ist Mobilfunk seitens der Telekommunika-
vereinbar seien, heißt es da. Der Präsi- der Einsatz von Girokarten dort nicht tionsunternehmen«, sagt eine Bahn-
dent der Zahnärztekammer Schleswig- möglich, die Bahn akzeptiert neben Bar- sprecherin. Eine Bezahlung mit EC-Karte
Holstein Michael Brandt stellt sich geld nur Kreditkarten. Immer wieder fra- sei grundsätzlich jedoch auch ohne
der Forderung nach politischer Mund- gen Kunden, ob sie auch mit einer Giro- Empfang möglich. Die Bordgastronomie
hygiene entgegen: Kaden leiste seit karte bezahlen könnten – die angejahrte kämpft seit Längerem mit logistischen
Jahren »hervorragende sachbezogene Kartenart ist in Deutschland nach wie Problemen. Auch die derzeitigen Kassen-
Arbeit« und bekenne sich ausdrücklich vor beliebt. Möglich werden soll der für systeme fallen gelegentlich aus, und die
»zu unserer freiheitlich-demokratischen die Bahn neue Bezahlweg durch die Ein- Bordgastronomen müssen dann ein Kas-
Grundordnung«. GLA führung mobiler Kassen, welche langfris- senbuch führen – mit der Hand. MUM

Lufthansa jedoch, unter anderem weil die Lufthansa-


Streithähne verprellen Führung plötzlich Zweifel hegte, ob ein
Vermittler allein ausreiche. Nun soll nur
Schulz als Schlichter noch über ausgewählte Themen gespro-
chen werden. Auch ist das gegenseitige
 Der ungelöste Tarifkonflikt zwischen Misstrauen so groß, dass jede Seite darauf
der Lufthansa-Führung und der Flugbe- besteht, einen eigenen Schlichter auszu-
gleitergewerkschaft UFO strapaziert nicht wählen. Schulz hat das Hin und Her offen-
nur die Nerven der Passagiere. Auch ein bar so verärgert, dass er als Vermittler
prominenter Politiker gehört neuerdings bis auf Weiteres nicht mehr zur Verfügung
zu den Opfern des Streits: der ehemalige steht. Für die UFO soll nun erneut der
SPD-Parteivorsitzende und Kanzler- ehemalige brandenburgische Minister-
kandidat Martin Schulz. Noch in der ver- präsident Matthias Platzeck (SPD) ran. Er
gangenen Woche hatten sich beide Seiten hatte schon 2016 geholfen, einen Kompro-
STEFFEN ROTH

darauf geeinigt, den Sozialdemokraten miss auszuhandeln, und will nun daran
als alleinigen Schlichter für die Lösung anknüpfen. Vorausgegangen war der
aller offenen Tariffragen bei der Lufthan- bislang längste Streik der Flugbegleiter in
sa zu benennen. Die Vereinbarung platzte Schulz der Lufthansa-Geschichte. DID, VME

57
14000 (Dax)
Punkte
350 (Dow)

10 000
250

Drohender Absturz? Die Autoren


Aktuelle Dax-Entwicklung Marc Friedrich und
im Vergleich zu historischen Matthias Weik
Börsencrashs prognostizieren bis 2023
den größten
Crash aller
Zeiten.

6000
150

Quelle: Refinitiv Datastream 2000


50
AS H L E Y G IL B ERTS O N / VI I / L A IF

1919 1929 Dow Jones (Wirtschaftskrise 1929)


2003 2008 Dax (Finanzkrise 2008)
2009 2019 Dax aktuell

58 DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019


Wirtschaft

Mutter aller Blasen


Finanzmärkte Die Notenbanken drucken Geld, als gäbe es kein Morgen,
das Ersparte bringt keine Zinsen, und die Konjunktur droht einzubrechen: goldene Zeiten
für Crash-Propheten. Doch was ist dran an ihren düsteren Prognosen?

M
agier der Märkte wurde Alan Hier in Lorch, am Rande der Schwäbi- der amerikanischen Autoindustrie »De-
Greenspan genannt. Der lang- schen Alb, haben Friedrich und Weik ihr stroyed« geworden sei, warnt er, könne
jährige Präsident der ameri- Büro. Auf dem Boden stapeln sich Exem- aus Stuttgart auch »Kaputtgart« werden.
kanischen Notenbank Fed plare ihres neuen Bestsellers. Tags zuvor Die alten Gewissheiten lösen sich auf,
war fest davon überzeugt, dass man eine erst, rechtzeitig vor dem Auftritt, war eine und keine war, gerade Schwaben, so wich-
spekulative Preisblase erst im Nachhinein Palette frisch gedruckter Bücher eingetrof- tig wie die, dass Sparen Früchte trägt.
erkennen kann. Wenn sie geplatzt ist. fen. »Die Stimmung haben wir nicht initi- Doch Zinsen gibt es nicht mehr, jedenfalls
Marc Friedrich, 44, und Matthias Weik, iert. Sie kommt von den Menschen«, sagt keine positiven, wer sein Geld dem Staat
43, wissen es besser: nämlich schon vorher Friedrich. »Es waren keine Anarchisten oder soliden Unternehmen leiht, bekommt
und auch noch mit Zeitangabe. Spätestens im Saal. Das war die Mittelschicht.« am Ende der Laufzeit weniger zurück, als
2023 werde sie platzen, die größte aller Eine Mittelschicht in Angst. Angst ums er gegeben hat. Als erstes Geldinstitut ver-
Blasen, sagen sie und prophezeien einen Geld. Angst vor dem Abstieg. langt die Volksbank Raiffeisenbank Fürs-
Crash, der weit über die Finanzmärkte hi- Überall auf der Welt gingen Menschen tenfeldbruck von jedem Neukunden, der
nausgehen und die gesamte Gesellschaft auf die Straße, in Frankreich an jedem Wo- ein Tagesgeldkonto eröffnet, Minuszinsen
erfassen werde. Über tausend Menschen chenende. »Das sind ja nicht nur Schwach- in Höhe von 0,5 Prozent.
jubeln den Verkündern dieses Unheils zu. maten«, sagt Friedrich. Auch hierzulande Ist es da ein Wunder, dass Crash-Pro-
So viele sind am Donnerstag vergange- könne es relativ ungemütlich werden, pheten Konjunktur haben? Zeitgleich mit
ner Woche in die Stadthalle nach Göppin- wenn die Rezession oder gar eine Depres- Friedrich und Weik ist Max Otte in die
gen gekommen, wo die beiden Ökonomen sion komme. Oder wenn der Euro zusam- SPIEGEL-Bestsellerliste vorgestoßen, sein
ihr jüngstes und düsterstes Werk vorstell- menbreche. »Dann gibt’s Rambazamba.« 600-Seiten-Wälzer trägt den Titel »Welt-
ten: »Der größte Crash aller Zeiten«. Das Noch hat die Rezession nicht begonnen, system Crash«. Otte wurde bekannt, weil
Buch war kaum erschienen, da schoss es aber nach zehn Jahren Aufschwung meh- er die Finanzkrise von 2008 mit seinem
schon von null auf Platz eins der SPIEGEL- ren sich die Krisenzeichen, auch und gera- Buch »Der Crash kommt« ziemlich treff-
Bestsellerliste. Und war dann erst mal aus- de rund um Stuttgart. Die Autoindustrie, sicher vorhersagte.
verkauft. an der hier Zigtausende Arbeitsplätze Lange habe er sich geweigert, einen
»Wer glaubt, dass die Krise von 2008 hängen, steht vor einer unsicheren Zu- Nachfolger zu liefern, nun hält er die Zeit
gelöst ist?«, fragen die beiden Ökonomen kunft. Der Zulieferer Schuler hat beschlos- offenbar für reif, denn »die Welt hat eine
das Publikum. Ein, zwei Hände gehen sen, die Neumaschinenproduktion in sei- Richtung genommen, wie ich sie in ›Der
hoch. »Wer glaubt, dass etwas schiefläuft nem Stammwerk Göppingen einzustellen. Crash kommt‹ zwar leise als Gefahr ange-
in diesem Land?« Einhellige Zustimmung. Bosch und Mahle wollen im Großraum deutet, mir sie aber ansonsten für meine
Sie sind sich offenbar einig, die Ökono- Stuttgart ebenfalls Stellen streichen. Albträume reserviert habe«, schreibt er
men mit dem jugendlichen Outfit und ihr »Wir haben den Wohlstand nicht auf im Vorwort: der Schuldenstand auf dem
bürgerliches Publikum. Es gibt viel Beifall, ewig gepachtet«, sagt Friedrichs Partner höchsten Niveau aller Zeiten, Krieg und
wenn Friedrich und Weik verkünden, dass Weik. So wie aus Detroit, dem Zentrum Krisen, Migrations- und Terrorwelle,
Komiker das Land regierten und die Eu- Europa und die Gesellschaft zunehmend
ropäische Zentralbank (EZB) das Bargeld zerrissen und polarisiert. Deshalb drohe
abschaffen wolle – um zu retten, was nicht »nicht nur ein Finanzcrash, sondern ein
mehr zu retten sei. Weshalb am Ende das Crash des Weltsystems«.
komplette System zusammenbrechen und Während Otte noch hofft, der große Zu-
eine Währungsreform die Vermögen der sammenbruch könne abgewendet werden,
Bürger vernichten werde. legen sich Friedrich und Weik fest: Vier
Es muss tatsächlich etwas schieflaufen im Bücher lang hätten sie gewarnt und Refor-
Land, wenn diese Thesen bei so einem Pu- men angemahnt, sagen sie, nichts sei pas-
blikum solchen Anklang finden. Dass über siert. Nun sei es zu spät – und der Crash
tausend Leute gekommen seien, sei »ein nicht mehr zu verhindern.
Indikator dafür, was das für Zeiten sind«, Für ihr erstes Buch über die Finanzkrise,
VERENA MÜLLER / DER SPIEGEL

sagt Friedrich, »ein Fieberthermometer«. »Der größte Raubzug der Geschichte«, ge-
Lorch, unweit von Göppingen, am schrieben 2012, fanden die beiden Schwa-
nächsten Morgen. Friedrich ist noch im- ben anfangs nicht einmal einen Verlag, in-
mer voller Adrenalin vom Auftritt am Vor- zwischen haben sie von ihren bisherigen
abend, er habe Gänsehaut am ganzen Kör- Büchern eine halbe Million Exemplare ver-
per gehabt, sagt er. 300 Bücher hätten sie kauft. Das neueste wird das letzte seiner
nach dem Auftritt verkauft, ein Besucher Art sein. »Danach kann nichts mehr kom-
habe sich gleich 15 Exemplare signieren Autoren Friedrich, Weik men«, sagt Friedrich. Weil spätestens 2023
lassen – als Weihnachtsgeschenke. »Dann gibt’s Rambazamba« das herrschende Geldsystem untergegan-

59
Wirtschaft

gen und das Land im Chaos versunken Billiges Geld Der Krieg gegen das Bargeld hat, wenn
sein wird. Oder weil die beiden nicht mehr man den beiden Autoren Glauben schenkt,
Leitzinsen der EZB und der US-Fed in Prozent
glaubwürdig sind. längst begonnen. Krieg ist allerdings ein
Es ist deshalb ziemlich mutig (und für 6
großes Wort für das, was bisher geschehen
Crash-Propheten ungewöhnlich), sich so Fed ist. Der 500-Euro-Schein wird nicht mehr
festzulegen. Das spricht immerhin dafür, ausgegeben, und »wenn man mehrere Tau-
dass Friedrich und Weik überzeugt sind send Euro abheben will, wird man schief
4
vom dem, was sie sagen und schreiben. angesehen auf der Bank. Und gefragt, wo-
EZB
Ihre Argumentation geht so: Seit der für«, sagt Friedrich. »Das habe ich selbst
Finanzkrise 2008 hat sich nichts Grund- schon erlebt.« Sein Publikum offenbar
legendes verändert, die weltweite Ver- auch. Den stärksten Beifall bekommt er
schuldung ist seither um zwei Drittel ge- in Göppingen für den Satz: »Es geht nie-
stiegen. Die Politiker haben es versäumt, manden etwas an, was ich wann zu wel-
das Finanzsystem umzubauen, und statt- 0 chem Preis kaufe.«
dessen die Banken auf Kosten der Steuer- Friedrich und Weik verbindet mit ihrem
zahler gerettet. So sind die Reichen immer 1999 2010 2019
Publikum neben der Angst ums Geld vor
reicher und die Krisenversursacher, die Quelle: Refinitiv Datastream
allem das Misstrauen gegenüber den
Banken, Krisengewinner geworden. Wo- Mächtigen: unfähige Eliten, inkompetente
rauf die Bürger zuerst das Vertrauen in Verschuldung Veränderung Politiker, manipulierende Medien. »Wir
gegenüber
die Banker und dann in die Politiker ver- in Billionen Dollar 1997 lassen uns den Schnabel nicht verbieten«,
loren haben. sagt Friedrich, als ob das jemand versu-
Die Notenbanken drucken Geld, um das 70 Nicht-Finanzunternehmen 73 +248 % chen würde, und: »Wir reden Tacheles.«
Schlimmste zu verhindern. Sie haben die Staaten 67 +253 % Tacheles heißt: Irrsinn oder Wahnsinn,
Zinsen auf ein Rekordtief gesenkt und er- Finanzunternehmen 60 +216 % wohin man blickt, alles ist ein Kasperle-
kaufen sich damit Zeit, zulasten der Bür- theater oder gar ein »Gehirnfurz«, Politi-
50
ger. Die niedrigen Zinsen – und die Auf- 47 +213 % ker sind allesamt Clowns oder Komiker,
käufe von Staatsanleihen durch die EZB – überall sehen die beiden Anzeichen einer
halten die Staaten im Süden Europas, beginnenden Diktatur. Es ist die Sprache
deren Banken und viele ökonomische 30 Haushalte der Populisten.
Zombiefirmen künstlich am Leben. Im Gegensatz zu Otte, der aus seiner
Die Analyse dürfte im Kern kaum ein Nähe zur AfD keinen Hehl macht, wehrt
Ökonom bestreiten. Viele fragen sich, wie 10
sich Friedrich dagegen, politisch eingeord-
die Staaten und die Notenbanken sich aus net zu werden. »Wir wollen die Gräben
diesem Dilemma je wieder befreien wol- jeweils 1. Quartal Quelle: IIF nicht vertiefen«, sagt er in Göppingen und
len, etliche bezweifeln, dass sie das über- 1997 2007 2017 2019
nimmt einmal sogar Kanzlerin Angela
haupt noch können. Gerade in der Finanz- Merkel in Schutz (»Ich bin sicher, dass sie
szene sind solche Sorgen weitverbreitet. das Beste will«). Zum Entsetzen des
Doch die Schlüsse, die die Autoren aus Bis dahin werde die EZB allerdings Publikums: Der ganze Saal buht.
dieser Analyse ziehen, sind mehr als ge- noch einiges unternehmen, um »den Kau- Wie aber kann sich der Bürger vor all
wagt. Der Kollaps des Systems, schreiben gummi in die Länge zu ziehen«, wie Marc dem Unheil schützen? Sachwerte seien der
sie, sei unausweichlich: »2008 war eine Friedrich sagt. Sie werde die Geldschleu- einzig verlässliche Wertspeicher – und »das
leichte Brise, jetzt kommt der Tsunami.« sen weiter öffnen und, so seine Prognose, Einzige, was die Notenbanken nicht dru-
Und der reiße alles mit sich: Die Börsen, die Zinsen auf minus vier bis sechs Prozent cken können« (Friedrich), also empfehlen
sagen sie voraus, würden um 80 Prozent senken, um die Rezession zu stoppen. Und sie Gold, Silber, Diamanten, Wald, sogar
und mehr einbrechen, eine Hyperinflation weil das nicht klappe, wenn die Bürger ihr Whisky (natürlich nur bestimmte Sorten
werde das Ersparte entwerten, die Arbeits- Bargeld horten, werde sie versuchen, das und Chargen) und die Kryptowährung Bit-
losigkeit werde auf 10 bis 20 Prozent stei- Bargeld zu besteuern. Und genau dafür, coin (vor der Otte allerdings ausdrücklich
gen – ein Neustart in Form einer Wäh- jetzt wird es verschwörungstheoretisch, sei warnt). Rund 20 Prozent des Vermögens
rungsreform sei unausweichlich. Christine Lagarde an die Spitze der EZB sollten in Form von physischen Banknoten
Auslöser dieses Tsunamis könnte ein Zu- gesetzt worden. in Tresoren oder Schließfächern gebunkert
sammenbruch des Euro sein, dem die Au- Die Indizien sind, aus Sicht von Fried- werden (wo sie nach einer Währungsreform
toren keine Überlebenschance geben, oder rich und Weik, offenkundig. Tatsächlich indes auch nichts mehr wert wären).
eine schwere Rezession, die wiederum den wurden in einem Thesenpapier des Inter- Wem das alles zu kompliziert ist, der
Euro sprengen würde. Oder eine neue nationalen Währungsfonds (IWF) Maß- kann sein Geld in »Deutschlands ersten
Flüchtlingskrise, die Europa nicht stem- nahmen zur Bargeldabschaffung erörtert, offenen Sachwertfonds« stecken, den
men könne. Oder eine neue Bankenkrise, um Negativzinsen auch bei Privatperso- Friedrich und Weik initiiert haben, oder
die nur eine Frage der Zeit sei. nen durchzusetzen. Etwa indem man Bar- sich persönlich von ihnen beraten lassen.
Wie oder was es auch immer sein wird: abhebungen beschränkt und bei jeder Ab- Bislang hat der Fonds zwar nur wenig Er-
Am Ende, so die These, würden sich die hebung einen negativen Zinssatz abzieht. trag gebracht, aber er soll das Vermögen
Staaten auf Kosten ihrer Bürger und Lagarde war Chefin des IWF, als dort ja auch nicht mehren, sondern sichern.
Schuldner entschulden müssen, weil die solche Gedankenspiele erörtert wurden. Und was ist, wenn der Crash bis 2023
Pläne der EZB, die Wirtschaft durch billi- Nun solle sie diese Pläne bei der EZB um- gar nicht kommt?
ges Geld am Laufen zu halten, nicht funk- setzen. So jedenfalls unterstellen es Fried- »Dann machen wir eine Flasche Whisky
tionierten. »Das größte Notenbankexpe- rich und Weik. Gibt es dafür irgendwelche auf und freuen uns«, sagt Friedrich.
riment aller Zeiten« sei zum Scheitern ver- Belege? »Es wird so kommen«, sagt Fried- Armin Mahler
urteilt: Die »Mutter aller Blasen«, die Blase rich. »Der IWF macht solche Gedanken- Mail: armin.mahler@spiegel.de
der Staatsanleihen, sie werde platzen. spiele ja nicht aus Jux und Dollerei.«

60 DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019


Alle reden
vom Wetter.
Wir machen
Strom draus.
Alle brauchen Strom – Kinder wie Erwachsene, kleine
wie große Unternehmen. Strom ist Licht, Wärme und
Kommunikation. Strom ist medizinische Versorgung,
Mobilität und Wirtschaft. Strom ist Leben. Wir machen ihn.
Sauber, sicher und bezahlbar. Die neue RWE.
Klimaneutral bis 2040.
gen machte er seine Spitzeltätigkeit als IM
»Peter Bernstein« publik – nachdem ihn
Reporter der »Welt am Sonntag« längst
mit seiner Stasi-Akte konfrontiert hatten.
Seitdem schmilzt Friedrichs Image als
ostdeutscher Vorzeigemillionär, der aus
»zivilgesellschaftlichem Engagement«, wie
er selbst sagte, einem maroden Traditions-
blatt eine Zukunft schenken will. Tagelang
war seine »Berliner Zeitung« damit be-
schäftigt, »in eigener Sache« Stellung zum
neuen Eigentümer zu nehmen. »Wir wer-
den in Zukunft für Transparenz sorgen«,
versprach das Blatt, »indem wir unsere Be-
richterstattung ausnahmslos darauf prüfen
werden, ob geschäftliche Interessen des
Unternehmerehepaares Friedrich oder un-
seres Hauses davon berührt sind.«
Das könnte ziemlich viel Arbeit berei-
ten, denn Friedrich hat vielfältige Ge-
schäftsinteressen. Zusammengeführt sind
etliche davon in der Holding CCG Com-
mercial Coordination Germany – deren
Name manche an die »Kommerzielle Ko-

HERMANN BREDEHORST / DER SPIEGEL


ordinierung« des einstigen DDR-Devisen-
beschaffers Alexander Schalck-Golod-
kowski erinnert. Mit der CCG steuert
Friedrich ein Netz von Firmen und Betei-
ligungen. Da scheinen potenzielle Konflik-
te mit der unabhängigen Berichterstattung
seiner Zeitung programmiert.
So findet sich – ebenfalls in der Ausgabe
Verlegerpaar Friedrich: »Ostdeutsche Erfolgsstory« vom 8. November – ein ganzseitiger Bei-
trag, der inmitten einer Artikelserie über
das Jubiläum des Mauerfalls seltsam he-
raussticht. Unter der Überschrift »Eine

Kommerziell koordiniert Welt ohne Schein« preist ein Gastautor


die Vorzüge des bargeldlosen Bezahlens.
»Bargeld behindert und reduziert unsere
Verlage Nach Bekanntwerden der Stasi-Kontakte des neuen Möglichkeiten in einer immer digitaleren
Welt«, zudem fänden sich auf Banknoten
Hauptstadt-Verlegers Holger Friedrich geraten schon mal »Spuren von Milzbrand, Diph-
nun seine vielfältigen Geschäftsbeziehungen in die Kritik. therie und verschiedener Drogen«.
Der Artikel sei, so heißt es in einer Fuß-
note, Auftakt einer neuen »Finanz-Kolum-

D ie »Berliner Zeitung« vom 8. No-


vember 2019 ist eine bemerkens-
werte Ausgabe. Wer durch die
40 Seiten blättert, erhält ungeahnte Ein-
samt Verlag, Druckerei und diversen Fir-
menbeteiligungen übernommen haben,
beschäftigen sie jedenfalls ihre eigene Re-
daktion und eine ganze Branche.
ne, in der Mitglieder eines ›Payment &
Banking Teams‹ regelmäßig in die nahe
Zukunft der Finanz- und Bankenwelt«
blickten. Was die Leser nicht erfuhren:
blicke in die Lebens- und Geschäftswelt Holger Friedrich griff offenbar bisweilen Auch eine Firma des Verlegers Friedrich
der Eigentümer Holger und Silke Friedrich. in den redaktionellen Teil seiner Neu- befasst sich intensiv mit dem Thema Zu-
Los geht es auf der Titelseite. Dort fin- erwerbung ein. Im Fall der Rostocker Bio- kunft ohne Banknoten.
det sich eine »ostdeutsche Erfolgsstory« techfirma, so räumte die »Berliner Zei- Als Managing Director und Teilhaber
über eine Rostocker Biotechfirma, an der tung« ein, habe er der Redaktion persön- des Berliner Techunternehmens Core SE
Softwareunternehmer Holger Friedrich be- lich einen »Hinweis« gegeben, über das kennt sich Friedrich mit bargeldlosem Zah-
teiligt ist. Die Seiten 2 und 3 hat die Re- Unternehmen zu berichten. Dabei ver- lungsverkehr aus. Die Firma wurde einst
daktion für einen Essay freigeräumt, in schwieg er seinen Journalisten, dass er Auf- damit beauftragt, in Deutschland ein Ge-
dem das Verlegerpaar über den Zustand sichtsratsmitglied und Aktionär des Unter- meinschaftsprojekt von privaten Banken,
Berlins, Deutschlands und der Welt philo- nehmens sei (SPIEGEL 47/2019). Sparkassen und Volksbanken aufzusetzen,
sophiert. Auf Seite 26 schließlich versucht Ähnlich lückenhaft informierte er über mit dem diese gegen den US-Anbieter Pay-
sich Silke Friedrich, Leiterin einer großen seine Biografie. In jenem Essay vom 8. No- Pal antreten wollten: Paydirekt. Ein teurer
Privatschule, als Journalistin. Gemeinsam vember und auch in mehreren Interviews Flop. Der Bezahldienst rangiert unter fer-
mit einer Redakteurin führt sie ein Inter- ging er ausführlich auf sein Leben in der ner liefen. Ein weiterer Akteur im Geschäft
view zum Thema »Schule der Zukunft«. DDR ein, ohne zu erwähnen, dass er Ende mit bargeldlosen Zahlungsmodellen ist die
Ganz schön viele Aktivitäten für zwei der Achtzigerjahre zeitweise Inoffizieller Firma Verimi, an der Friedrichs Core be-
Eigentümer. Zu viele? Seit Holger und Sil- Mitarbeiter (IM) des Ministeriums für teiligt ist. Verimi ist auf digitale Identitäts-
ke Friedrich im September das Blatt mit- Staatssicherheit war. Erst vor wenigen Ta- nachweise spezialisiert – ein wichtiger

62 DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019


Wirtschaft

Baustein bei der Abwicklung elektroni- nen wir prinzipiell jede Dienstleistung aus- Dabei hat die Redaktion schon genug
scher Zahlungen. spielen.« mit ihrem neuen Eigentümer zu tun. Sie
Über die Firmen Core und Verimi un- Gemeint waren offenbar Anwendungen will nun die Stasi-Vergangenheit Friedrichs
terhielt Friedrich offenbar auch Geschäfts- wie digitalisierte Unterschriften, automa- durchleuchten und mithilfe unabhängiger
kontakte zum Payment & Banking Team, tischer Steuernummernabgleich, elektro- Experten bewerten.
einer Runde von Unternehmern aus der nische Bezahllösungen – alles Bausteine Friedrich selbst hatte sich in einer Stel-
Industrie, die nun die neue Finanzkolum- aus Friedrichs Unternehmenswelt. Der- lungnahme gegenüber der »Welt am Sonn-
ne der »Berliner Zeitung« mit Zukunfts- artige Digitallösungen gehören etwa zum tag« damit verteidigt, er habe in den
visionen füllen sollen. So sponserten Core Portfolio von Techfirmen wie Verimi, die Achtzigerjahren nur »unter Zwang« eine
und Verimi laut Payment-&-Banking-Web- Core mit der nötigen IT ausgestattet hat Verpflichtungserklärung als »Inoffizieller
site eine Fachtagung des Teams im Sep- und wo Friedrich bis vor Kurzem als Tech- Mitarbeiter« unterschrieben. Zuvor war
tember 2018 in Berlin. nikchef wirkte. er laut Aktenlage selbst ins Visier der
Zur Frage, wie die Bargeldkritiker nun Im Berliner Senat lösten dessen Be- Staatssicherheit geraten, 1987, während
in die »Berliner Zeitung« kamen, erklärt kenntnisse Unruhe aus. Der Senat war seiner dreijährigen Armeezeit in Parchim.
deren Chefredaktion: Holger Friedrich 1998, damals CDU-geführt, eine sogenann- Der Verdacht: Der damals 21-jährige
habe den Kontakt zum Payment & Ban- te Public Private Partnership eingegangen, Friedrich wolle Fahnenflucht begehen. Die
king Team hergestellt. Der Artikel vom Verdachtsmomente wogen schwer, Holger
8. November sei ein »redaktioneller Bei- Friedrich saß im Arrest. In der Haft suchte
trag eines Gastautors«, der »auf Veranlas- ihn ein Stasi-Offizier auf, hielt ihm offen-
sung der Redaktion« erschienen sei. bar Belastungsmaterial vor und drängte
Verträge mit dem Payment & Ban- ihn – als »Wiedergutmachung« – zur
king Team gebe es keine, der 100% Firmenanteil inoffiziellen Mitarbeit.
Autor sei mit »dem üblichen Zei- Holding CCG Friedrich willigte ein. Er ging zu
lensatz honoriert« worden. Alles in einer Hand bündelt Friedrichs konspirativen Treffs, seine Be-
Überdies seien der Redaktion Das Unternehmens- Geschäfte richte unterschrieb er mit dem
»keine aktuellen geschäft- netzwerk von Holger unter 50% 1,8% Decknamen »Peter Bernstein«
lichen Verbindungen zwi- Friedrich, Auswahl oder mit seinem Klarnamen.
schen Herrn Friedrich, sei- CORE SE Friedrich erhielt Aufträge,
nen Firmen und dem ›Pay- 25,2%
Auftrags- Tech-Firma Sponsor Kameraden zu überwachen
ment & Banking Team‹ nehmer und auszuspionieren.
bekannt. Daher sehen wir Berlin Online Autoticket Payment & Und er lieferte: Mal be-
keinen Interessenkonflikt«. Land Berlin CENTOGENE richtete er über einen Sol-
darunter Betreiber der Banking Team 100%
Investitionsbank Biotech-Firma
Core spielte auch beim berlin.de Pkw-Maut Finanzberatung daten, der im Urlaub mit
umstrittenen Pkw-Maut- einem ungültigen Personal-
Projekt der Bundesregie- ausweis herumlaufe, mal
rung eine Rolle. Laut inter- 74,8% berichtet berichtet druckte berichtet über Trunkenheit im Dienst
nen Unterlagen fungierte über über Gastbeitrag über oder über »Wachvergehen«.
die Beratungsfirma als Un- Auch Meldungen über Kirch-
terauftragnehmer des Maut- gänge und »Ausreisegedanken«
betreibers Autoticket. Das Maut- »Berliner von Soldaten finden sich in
konsortium war den Dokumen- Zeitung« der Akte.
ten zufolge auch Untermieter von Allerdings erlahmte die Auskunfts-
100%
Core in einer Friedrich-Immobilie bereitschaft von »Bernstein« schon
in Berlin. BV Deutsche bald, die Stasi beklagte sich, der letzte be-
Auf die Frage, ob Friedrich Einfluss auf Zeitungsholding kannte Treffbericht datiert aus dem Fe-
GmbH
die Berichterstattung über die Pkw-Maut bruar 1989.
genommen habe, verweist die Chefredak- Als das Jahr zu Ende ging, war die Mau-
tion der »Berliner Zeitung« darauf, dass um Berlin.de betreiben zu können. Die Be- er gefallen. Eine neue Zeit begann. Mit un-
der Autor der entsprechenden Beiträge treibergesellschaft gehört heute zu 25,2 Pro- ternehmerischer Freiheit, die Holger Fried-
seit Jahren als unabhängiger Journalist zent dem Land Berlin und zu 74,8 Prozent rich für seine vielfältigen Aktivitäten zu
über das Thema berichte und »sich nicht der Eigentümerfirma der »Berliner Zei- nutzen wusste. Und mit einer freien Pres-
beeinflussen« lasse. tung«. Im vorigen Jahr hat das Land den se, die nun all seine Angaben überprüft.
Ein anderes Geschäftsfeld von Friedrich Betreibervertrag fristgerecht zum 31. De- Die Journalisten der »Berliner Zeitung«
beschäftigt inzwischen die Berliner Lan- zember 2021 gekündigt. Der Senat wollte sind bereit, für ihre Unabhängigkeit zu
despolitik. Auslöser war ein Interview des vermeiden, dass Privatunternehmen von kämpfen. Am Donnerstag wurde bekannt,
Verlegerpaars in der »Neuen Zürcher Zei- sensiblen Bürgerdaten profitieren könnten. dass sie einen Redaktionsbeirat gründen
tung«. Darin gab Holger Friedrich Einbli- Sprach Friedrich in dem Interview das und ein Redaktionsstatut erlassen wollen.
cke in den Entscheidungsprozess, der zum kostbare Portal an, um den Ausstieg des Darin würden die Kompetenzen von Ver-
Kauf des Verlags geführt hatte. Senats zu verhindern oder zumindest den lag und Redaktion geregelt – um Interes-
Er berichtete, dass der eigentliche Preis in die Höhe zu treiben? Behörden- senkonflikte künftig zu vermeiden.
»Schatz unseres Deals« weder die Zeitung intern werden derzeit zwei Szenarien Am selben Tag gab Holger Friedrich be-
FOTO: JENS ROETZSCH / DPA

noch die Druckerei sei – sondern die In- durchgespielt: Entweder verkauft das kannt, dass er sein Aufsichtsratsmandat in
ternetseite Berlin.de, das offizielle Verwal- Land seine Anteile an Friedrich, oder es der Rostocker Biotechfirma mit sofortiger
tungsportal der Hauptstadt. Friedrich hat übernimmt Friedrichs Anteile. In jedem Wirkung ruhen lasse.
durch den Kauf die Mehrheit an dessen Fall ein bemerkenswerter Vorgang, an Tim Bartz, Sven Becker, Stefan Berg,
Betreibergesellschaft übernommen. Im In- dem die Journalisten der »Berliner Zei- Sven Röbel, Andreas Wassermann
terview ergänzte Silke Friedrich: »Da kön- tung« nicht vorbeikommen werden.

63
Wirtschaft

Bei Freymuth, einem ehemaligen Rallye- »Die ganze Truppe kommt mir irgendwie

Tatort- fahrer, der über seine Blessuren großzügig


hinwegsieht, wuchs der Ärger. Wie der
Wagen überhaupt eine Zulassung erhalten
spanisch vor«, sagt er.
Freymuths Unfall ist nicht der erste die-
ser Art. Laut Experten brennen Elektro-

reiniger konnte, wenn die Entsorgung der Batte-

und erhöhte den Druck: Er ging zur »Kro-


autos zwar nicht häufiger als normale Pkw,
aber wenn sie Feuer fangen, kann das ver-
rien nicht sichergestellt sei, fragte er sich –
heerende Folgen haben.
Autoindustrie Bei einem Unfall nen Zeitung« und ins Fernsehen, das Wrack Im vergangenen Jahr verbrannte ein
explodiert die Batterie eines vom Walchsee machte in Österreich die Deutscher in seinem Tesla nach einem Un-
Runde. fall auf einer Autobahn im Schweizer Kan-
E-Autos von Tesla. Doch das Diese Woche dann kam Bewegung in ton Tessin. In einem später gelöschten
Unternehmen ist auf die Entsorgung die Sache. Tesla hatte sich in Greiderers Facebook-Eintrag vermutete die Tessiner
des Wracks schlecht vorbereitet. Werkstatt angekündigt. Per E-Mail kamen Feuerwehr, der Lithium-Ionen-Akku kön-
vorab Anweisungen von einem Manager ne als Brandbeschleuniger gewirkt haben.
aus Zürich: Die Operation müsse »zwin- »Sie können das Feuer bei Bränden solcher

A m 4. Oktober wäre Dominik Frey-


muth fast verbrannt. In seinem Tes-
la war er in der Nähe seines öster-
reichischen Wohnorts Walchsee von der
gend in einem für andere Personen unzu-
gänglichen Bereich stattfinden«, Journa-
listen sei der Zugang zu verweigern.
Greiderer und Freymuth sind nicht un-
Autos nicht einschätzen«, sagt der Ge-
schäftsführer eines auf Gefahrguttranspor-
te und Recycling spezialisierten Schweizer
Unternehmens. Als damals die Rettungs-
Straße abgekommen und gegen einen bedingt die Typen, die so etwas einschüch- kräfte eintrafen, soll der Wagen noch unter
Baum geprallt. tert, und so warten am Mittwochmorgen Strom gestanden haben. Laut Hersteller
Das 102 000 Euro teure Model S stand bereits zwei Kamerateams mit ihnen, um kann das eigentlich nicht sein: Tesla ver-
innerhalb von Sekunden in Flammen. Als die Tesla-Leute zu empfangen. sichert, dass nach dem Auslösen auch nur
sein Ersthelfer ihm den Gurt lö- eines Airbags die potenziell ge-
sen wollte, erinnert sich Frey- fährliche Hochspannung abge-
muth, habe es eine »riesige Ex- schaltet werde. Fragen dazu be-
plosion« gegeben. Vor dem bren- antwortete Tesla nicht.
nenden Wrack knickten dem Auch Dominik Freymuth ver-
57-Jährigen dann die Beine weg. mutet eine Lücke im Sicherheits-
Minuten später war der Ret- system: »Nach Auslösen des Air-
tungshubschrauber unterwegs. bags hätte der Wagen von der
Als Freymuth 14 Tage später Bordelektronik getrennt werden
aus dem Krankenhaus entlassen müssen«, sagt er. Die Klima-
wurde, waren seine drei Rippen- anlage habe aber weiter den gif-
brüche und die Brustbeinquet- tigen Rauch ins Innere des Autos
schung für ihn kaum noch der geblasen. Von den meterhohen
Rede wert, aber ein Problem war Flammen und der Explosion
immer noch da: sein Tesla. Ein träume er noch immer.
Haufen Elend. Ein zerknittertes Am Donnerstagmorgen war
Ungetüm aus geschmolzenem er wieder vor Ort in der Werk-
BERNHARD RIEDMANN / DER SPIEGEL

Blech, grauen Sitzskeletten und statt in Walchsee, um nach dem


angesengten Kabeln, unter dem Wrack zu sehen. Man wolle sich
die 600 Kilogramm schwere um eine »artgerechte« Ent-
Lithiumbatterie ruhte, von der sorgung kümmern, versicherte
niemand genau weiß, welche gif- Tesla. Doch zum Zerlegen der
tigen Bestandteile sie enthält. Batterie und zum Transport des
Drei Tage lang musste das Wrack Gefahrguts fehlen der verschwie-
in einem gewässerten Spezial- genen Werkscrew offenbar die
container abklingen, dann brach- Ausgebrannter Tesla in Walchsee: Ein Haufen Elend Genehmigungen aus dem Um-
te Freymuths Bekannter, der welt- und Verkehrsministerium.
Abschleppunternehmer Georg Die sechs Plastikfässer, die zuvor
Greiderer, die »Wasserleiche« auf sein Fir- Um 12.30 Uhr erscheint eine schwarze zum Abtransport bestellt worden waren,
mengelände. Er stellte das Wrack am hin- Tesla-Limousine mit abgedunkelten Fens- bleiben leer. Das werde wohl »weitere
teren Ende des Platzes ab. Man wisse nie, tern. Einer der drei Insassen steigt aus, sechs Wochen dauern«, vermutet Frey-
so Greiderer, »ob das Ding noch mal in prüft kurz die Lage, scheint Komplikatio- muth und kichert. Allmählich empfindet
Flammen aufgeht«. nen zu wittern – und rauscht wieder ab. er das Ganze nur noch als schlechte
Dann begann das Warten. Niemand, so Eine gute Stunde später fährt der Wa- Komödie. Am Nachmittag bahnt sich
schien es, wollte sich an dem Sondermüll gen erneut vor. Das Risiko scheint nun ver- schließlich eine Lösung an: Die ausgebaute
die Finger verbrennen. Tesla behauptet tretbar, der Tesla-Trupp macht sich an die Batterie wird als Ganzes in eine ange-
zwar auf seiner Internetseite, über ein Arbeit. Die Männer ziehen sich graue lieferte Sicherheitsbox aus Stahl gehievt –
»großes Netzwerk von autorisierten Recy- Overalls und Schutzbrillen an, sie wirken und zu einem Entsorger im Nachbarort
cling- und Entsorgungspartnern« zu ver- wie eine Gruppe von der Spurensicherung, gefahren.
fügen. Doch für Unfallautos ist das Unter- wie Tatortreiniger. Als ein ORF-Reporter Er werde sich in kein Elektroauto mehr
nehmen kaum gerüstet. In einer E-Mail an den Chef interviewen will, schiebt der ihn setzen, sagt Freymuth. Er fährt inzwischen
Freymuth räumte der Autobauer ein, die wortlos beiseite und lässt die Fragen an wieder einen Diesel. Nils Klawitter
Prozesse seien »noch nicht gänzlich gere- sich abprallen. Freymuth beobachtet die Mail: nils.klawitter@spiegel.de
gelt«. Ansonsten tauchte Tesla erst mal ab. Szenerie aus dem nahen Tankstellencafé.

64 DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019


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Aktivist Browder in London: Er bezeichnet sich selbst als »Putins Staatsfeind Nummer eins«

66
Wirtschaft

Story ohne Held


Kampagnen Wenn die USA Sanktionen wegen Menschenrechtsverletzungen verhängen, berufen
sie sich auf den Fall eines in Russland angeblich ermordeten Gefangenen. Sie stützen sich
dabei auf die Berichte des Investors Bill Browder. Ist der Westen einem Blender aufgesessen?

I
m Nordosten von Moskau steht ein Büro im Londoner Viertel Finsbury aus sen die Täter in Zukunft mit Konsequenzen
Grabstein aus schwarzem Stein. Da- koordiniert er eine Kampagne, die sich rechnen, zumindest in Form von Einreise-
rauf ist ein Foto im Goldrahmen zu »Gerechtigkeit für Sergej Magnitski« verboten und Kontosperrungen, wie sie der
sehen; es zeigt einen Mann mit ei- nennt. Er will erreichen, dass weitere Län- »Global Magnitsky Act« vorsieht. Das Ge-
nem freundlichen, etwas unsicheren Blick. der wegen des Falls Magnitski Sanktionen setz macht die von Autokraten oft belächel-
Hier ruht Sergej Leonidowitsch Magnitski, verhängen. Bislang sind bereits vier wei- ten Menschenrechte ein wenig wehrhaft.
geboren 1972 in Odessa, gestorben im No- tere Staaten dem Vorbild der USA gefolgt. Doch es gibt eben auch eine zweite Ver-
vember 2009 in Moskau. Er ging elendig Derzeit ist Europa sein Schwerpunkt. sion der Geschichte von Sergej Magnitski.
zugrunde in der Zelle eines Moskauer Un- Browder hat in Norwegen, Schweden und Sie ist widersprüchlicher als Browders Er-
tersuchungsgefängnisses, unter Umstän- Frankreich bei Politikern vorgesprochen. zählung und schwieriger zusammenzufas-
den, die bis heute – zehn Jahre danach – Im Mai war er in Berlin unterwegs, sprach sen, denn sie füllt Dutzende Ordner Justiz-
nicht restlos geklärt sind. mit dem Chef des Auswärtigen Ausschus- unterlagen, nicht nur in Moskau, sondern
Es gibt zwei Versionen des Geschehens, ses des Bundestags und hatte einen Termin auch in London und New York, Tausende
das zu Magnitskis Tod führte. Die eine, be- im Kanzleramt. Seiten. Nach ihrer Durchsicht stellt sich
kannte Version hört sich an wie ein Thril- Browder kann spannend schildern, wie die Frage, ob es das perfide politische
ler. Sie ist in Tausenden Artikeln erzählt der angebliche Whistleblower Magnitski Mordkomplott überhaupt gegeben hat –
worden, in TV-Interviews und in Anhö- ermordet worden sein soll. Diese Story ist oder ob der Westen mit Browder womög-
rungen vor Parlamentariern. Der Mann wie eine Eintrittskarte in die Politik, des- lich einem Blender aufsitzt. In den Papie-
auf dem Friedhof ist darin ein aufrechter halb empfangen ihn Abgeordnete und Di- ren verlieren sich die Gewissheiten der
Kämpfer gegen ein korruptes System, das plomaten. Bei vielen Menschenrechtlern Magnitski-Geschichte, allen voran die
ihn aus diesem Grund am Ende ermordet. und Politikern läuft er in offene Arme. Sie scheinbar klare Verteilung der Rollen von
Die zweite ist komplizierter, und es gibt unterstützen die Magnitski-Gesetze, weil Gut und Böse. Als fragwürdig erweisen
in ihr keinen Helden. diese humanistisch geprägt und ein Präze- sich nicht nur die Darstellungen der russi-
Die erste Version der Geschichte ist zu denzfall sind: Wo immer auf der Welt kor- schen Behörden. Auch Bill Browder ver-
einem Faktor der Weltpolitik geworden. rupte Regime Bürgerrechte verletzen, müs- wickelt sich in Widersprüche.
Auf ihrer Grundlage wurde 2012 ein US- Der Fall wirft für den Westen unan-
Gesetz verabschiedet, das Sanktionen ge- genehme Fragen auf. Europäer und Ame-
gen Russland ermöglicht und den Namen rikaner argumentieren Russland gegen-
des Moskauer Toten trägt: der »Magnitsky Globale Folgen über oft aus einer Position moralischer
Act«, unterschrieben vom damaligen US- Nach dem Tod von Sergej Magnitski erlassene Überlegenheit heraus. Bei den Magnitski-
Präsidenten Barack Obama. Das Gesetz Gesetze zur Sanktionierung – Einreiseverbote oder Sanktionen stellt sich jedoch die Frage, ob
wurde von einer breiten überparteilichen das Einfrieren von Vermögen – mutmaßlicher sie sich vor den Karren des Aktivisten
Mehrheit verabschiedet, von Republika- Menschenrechtsverletzer Browder haben spannen lassen. Heiligt
nern und Demokraten. Wenn es etwas 2012 USA »Magnitsky Act« der gute Zweck wirklich Browders Me-
gibt, worauf sich die zerstrittenen politi- Sanktionen gegen von Bill Browder genannte thoden?
schen Lager in den USA noch einigen kön- russische Beamte im Todesfall Magnitski Nur eines ändert sich nicht: Wie man die
nen, dann dies: Mit Russland kann es kei- 2017 USA »Global Magnitsky Act« Geschichte auch dreht und wendet, Mag-
nen Falschen treffen. 2017 folgte der »Glo- weltweite Verfolgung von Menschenrechts- nitski bleibt darin unbestritten das Opfer,
bal Magnitsky Act«. Er ermächtigt die verletzern und Sanktionsmöglichkeiten; dem grauenhaftes Unrecht widerfahren ist.
USA, Menschenrechtsverletzungen welt- darunter: burmesische Militärs
weit mit Sanktionen zu ahnden. nach Massakern an Rohingya; Magnitskis Ende
Erreicht hat das alles der Mann, der in Innen- und Justizminister der Türkei; Am Abend des 16. November 2009 stirbt
Moskau lange Magnitskis Chef war: Bill der Beteiligung am Khashoggi-Mord Sergej Magnitski in einer Zelle des Mos-
verdächtige Saudi-Araber
Browder. »Magnitski wurde der ultima- kauer Untersuchungsgefängnisses »Matro-
tiven Prüfung ausgesetzt, er wurde zum An den »Magnitsky Act« angelehnte Gesetze senruhe«. Ein Gefängnisarzt hatte bei ihm
ultimativen Helden«, sagt er. Browder ist in anderen Ländern: viereinhalb Monate zuvor eine Entzün-
in den USA geboren. Seine Firma Hermi- 2016 Estland dung der Bauchspeicheldrüse festgestellt,
tage Capital war jahrelang einer der größ- 2017 Kanada, Litauen doch kurz vor der OP wurde der Häftling
ten ausländischen Investoren in Russland. 2018 Lettland in ein anderes Gefängnis verlegt, eines
Damals war Browder ein Fürsprecher des 2019 EU-Resolution mit der Aufforderung an ohne die für den Eingriff notwendige Aus-
russischen Präsidenten Wladimir Putin im die 28 Mitgliedstaaten, ähnliche Gesetze rüstung. Seine Zelle habe renoviert wer-
Westen. Bis ihm 2005 die Einreise nach wie den »Magnitsky Act« zu erlassen den müssen, heißt es. Ob das stimmt?
Russland verwehrt wurde. Gesetze werden derzeit diskutiert in Australien, Selbst nach seinem Tod haben die Arbei-
Heute bezeichnet er sich selbst als »Pu- der Ukraine, den Niederlanden, Frankreich, ten dort nicht begonnen. Das hat eine Un-
tins Staatsfeind Nummer eins«. Von einem Dänemark, Großbritannien und Schweden. tersuchungskommission festgestellt. Sie

DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019 67


hat unmittelbar nach dem Tod Nachfor-
schungen aufgenommen, weil die Empö-
rung über den Fall in Moskau so groß war.
Der Kommission gehörten angesehene
Menschenrechtler an, Kremlgegner. Sie
werteten Notizen und Haftbeschwerden
aus, von denen Magnitski Unzählige ver-
fasst hat. Und sie befragten das Gefäng-
nispersonal, das Magnitski hätte helfen
müssen, ihn aber sterben ließ.
Der Kommissionsbericht gibt auf 20 Sei-
ten detailliert Einblick in die sadistische
Kälte des russischen Justizvollzugs. Mag-
nitski wird in den Monaten vor seinem
Tod unentwegt von Zelle zu Zelle verlegt.
Seine Mutter bringt ihm Medikamente,
die aber 18 Tage lang nicht bei ihm an-
kommen. Im September muss er nachts in
seiner Jacke schlafen, weil im Zellenfens-
ter die Glasscheibe fehlt. Fäkalien steigen
aus dem Klo empor. Einmal werden Mag-
nitskis Bauchschmerzen so stark, dass sein
Zellennachbar verzweifelt an die Tür tritt
und nach Hilfe ruft. Magnitski wird aber erst
nach fünf Stunden zu einem Arzt gebracht.
An Magnitskis letztem Tag verschlech-
tert sich sein Zustand. Er wird in das Ge-
fängnis zurückverlegt, in dem er ursprüng-
lich schon Monate zuvor hätte operiert
werden sollen. Dort gerät der Sterbende
in Panik. Er wird ruhiggestellt, Wärter
fesseln ihn mit Handschellen. Vermerkt ist
in Akten auch die »Anwendung eines Gum-
miknüppels«. Magnitski bleibt allein in der

MISHA JAPARIDZE / AP / PICTURE ALLIANCE / DPA


Zelle, ohne Beobachtung, ohne Arzt. »Man
hat den Kranken in kritischem Zustand
praktisch eine Stunde und 18 Minuten ohne
medizinische Hilfe sterben lassen«, schreibt
die Untersuchungskommission. Ihr Bericht
ist eine Chronologie erbarmungslos unter-
lassener Hilfeleistung. Für einen gezielten
Mord finden sich darin keinerlei Belege.
Browders Version der Geschichte ist dra-
matischer: Magnitskis Festnahme und Tod
werden darin zum gezielten Racheakt der
russischen Justiz an einem Antikorrup-
tionsaktivisten. Browder sagt, er habe »sei-
nen Anwalt« Magnitski 2007 mit Nach- Ungereimtheiten und Widersprüche Das Grab von Sergej
forschungen beauftragt, in deren Verlauf Magnitski auf dem Moskauer Preobraschenski-Friedhof.
dieser auf ein Verbrechen ungeahnten Aus- Er starb 2009 in einer Moskauer Gefängniszelle. Sein Chef
maßes gestoßen sei: den größten Steuer- Bill Browder sagt: Das war Mord.
betrug in der russischen Geschichte, began-
gen von einer korrupten Seilschaft inner-
halb von Polizei und Behörden. struiert und die Erstattung von 230 Millio- geschildert. Magnitski sei »ermordet« wor-
Es geht dabei um eine Summe von 230 nen Dollar Steuern veranlasst, die Brow- den, so hat Browder es vor dem US-Kon-
Millionen Dollar und einen komplexen ders Firmen zuvor gezahlt hatten. Der Poli- gress erzählt. Er sei »eine Stunde und
Masterplan. In dessen Zentrum stehen laut zist Karpow sagt, mit dem Betrug und der 18 Minuten von acht Wärtern geschlagen
Browder zwei Schurken: die Moskauer Verhaftung Magnitskis nichts zu tun ge- worden. Anschließend fand man ihn tot
Polizisten Artjom Kusnezow und Pawel habt zu haben: »Browder ist ein Lügner.« auf dem Boden der Zelle«, trug Browder
Karpow. Die beiden hätten zunächst fin- Kusnezow war für eine Stellungnahme im kanadischen Parlament vor.
gierte Steuerermittlungen gegen Browders nicht zu erreichen. Darauf angesprochen, verweist er als
Fonds Hermitage eingeleitet und dann drei Laut Browder soll Magnitski beiden auf Beleg auf den Bericht der Untersuchungs-
ursprünglich von Browders Leuten ge- die Schliche gekommen sein. Er soll sie kommission. Den führt er auf seiner Web-
gründete Briefkastenfirmen gekapert. Mit bei den Behörden angezeigt haben. Die- site auch als Beleg dafür an, dass dieselben
beschlagnahmten Firmenurkunden seien selben Beamten hätten dafür gesorgt, dass Beamten, die Magnitski belastet habe,
die Firmen Mittelsmännern überschrieben er ins Gefängnis kam und dort umgebracht »ihn gezielt folterten und schließlich er-
worden. Diese hätten Fantasieverluste kon- wurde. So hat Browder es unzählige Male mordeten«. In dem Dokument selbst fehlt

68 DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019


Wirtschaft

aber jeder Hinweis auf eine vorsätzliche Das Protokoll selbst spricht eine andere Hermitage ermittelt – und dabei einen
Tötung. Die beiden Polizisten Karpow und Sprache. Zwar erwähnt Magnitski die Mann entdeckt, der Browder bei der Kon-
Kusnezow – angeblich Drahtzieher des Namen der beiden Ermittler fast 30-mal struktion der Steuersparmodelle half: Ser-
Mordes – tauchen im russischen Original und beschreibt ihre Rolle bei einer Durch- gej Magnitski. Browders Standpunkt ist,
des Kommissionsberichts nicht auf. Kus- suchung. Er erhebt aber an keiner Stelle die Praxis sei damals üblich gewesen.
nezow wird nur in einer englischen Über- einen konkreten Vorwurf gegen sie per- Wenn Browder vor westlichem Publi-
setzung auf Browders Website erwähnt. sönlich. In einem zweiten Protokoll ei- kum über sein Schicksal spricht, dann hört
Browders Kampagne hat sich inzwi- ner Aussage vom 7. Oktober werden Kar- er sich an, als hätten die Ermittlungen
schen einen eigenen Referenzrahmen ge- pow und Kusnezow gar nicht genannt. der Steuerpolizei Hermitage getroffen wie
schaffen, eigene vermeintliche Belege. So Aus der Form des ersten Schriftstücks geht Blitze aus heiterem Himmel. Der Fahnder
sind in den vergangenen Jahren Berichte zudem hervor, dass Magnitski die Aus- Kusnezow sei 2007 aufgetaucht, jäh und
des Europarats entstanden, auf die Brow- sagen nicht ganz aus freien Stücken tätig- ohne Vorwarnung. So hat es Browder in
der gern verweist, die aber offenkundig te, sondern als Zeuge in einem Verfahren. seinem Buch und in Interviews geschildert.
weitgehend auf Darstellungen von ihm Es lief bereits seit Februar, wie aus an- Das ist bedeutsam, weil es zu unterstrei-
selbst basieren. So schreibt etwa eine Be- deren Quellen hervorgeht. Das hat dem chen scheint, wie »eindeutig konstruiert«
richterstatterin des Europarats, die ehema- SPIEGEL auch ein Mann bestätigt, der bei das Verfahren gewesen sei, initiiert einzig
lige Bundesjustizministerin Sabine Leut- der Aussage dabei war: Magnitskis dama- mit dem Ziel, notwendige Unterlagen für
heusser-Schnarrenberger (FDP), Magnitski liger Anwalt Dmitrij Charitonow sagt, sein den von langer Hand geplanten Betrug
sei ein »unabhängiger Rechtsanwalt« ge- Mandant sei zu der Aussage vorgeladen über 230 Millionen Dollar zu bekommen.
wesen. Ein Blick in online zugängliche Do- worden. Das Datum stimmt aber nicht. Der
kumente hätte genügt, um zu erfahren, Name Kusnezow taucht bereits im Juni
dass Magnitski als Steuerexperte bei einer Browders Geschäfte 2006 in Schreiben an Browders Firmen
Wirtschaftsprüfungsgesellschaft angestellt Browder hat ein gut dokumentiertes Ta- auf: Die Polizei fordert darin die Heraus-
und jahrelang für Browder tätig gewesen war. lent, einen Sachverhalt so zu verkaufen, gabe von Bankdaten. Browders Team hat
Browder sagt, es gehe darum, »Krieg dass dieser seine Version einer Geschichte nachweislich Kenntnis von den Papieren,
um Gerechtigkeit« zu führen. Womöglich stützt. In Moskau war das Teil seines Ge- sie befinden sich in seinem Besitz.
ist er damit so erfolgreich, weil seine Schil- schäftsmodells als Investor. 1500 Prozent, Es gibt ein weiteres Verhörprotokoll,
derung gut zu passen scheint in das ver- so viel Rendite hat der Hermitage Fonds das er nicht so prominent ins Netz stellen
nichtende Bild, das Russland seit Jahren laut eigener Aussage in wenigen Jahren er- ließ. Es stammt aus dem Oktober 2006,
abgibt. Viele Medien glauben ihm. Brow- wirtschaftet. Niedriger waren die Steuer- also lange bevor Magnitski angeblich erst
der hat unzählige TV-Interviews zu dem sätze: Russischen Ermittlern zufolge hat den großen Steuerbetrug auffliegen ließ,
Thema gegeben. Bei manchen der Aufnah- eine Firma aus Browders Fondskonstrukt der ihn laut Browder dann bei den Behör-
men kann man im Hintergrund die Artikel zu Unrecht nur 5 Prozent Steuern gezahlt. den in Misskredit brachte.
internationaler Leitmedien sehen, die er De facto seien 15 Prozent fällig gewesen, Magnitski wird laut dem Protokoll von
an seine Bürowände gehängt hat: der »Wa- ein Doppelbesteuerungsabkommen mit Ermittlern zu einer der dubiosen Briefkas-
shington Post«, der »Financial Times«, der Zypern hätte nicht angewendet werden tenfirmen befragt, die Behinderten Ar-
russischen »Nowaja Gaseta«. Die Berichte dürfen. Browder bestreitet das. beitsverträge gegeben hatte. Er gibt an,
sind feierlich gerahmt wie Urkunden und Browders Geschäftsmodell war jeden- Browders Leute hätten ihn gebeten, dort
scheinen jedes Wort von Browder zu stüt- falls einträglich: Sein Hermitage-Fonds »eine Zeit lang als Geschäftsführer zu fun-
zen. Auch der SPIEGEL hat über die Kam- kaufte von Ende der Neunzigerjahre an gieren«. Aus anderen Dokumenten wird
pagne geschrieben und Interviews mit billig Aktien russischer Staatskonzerne deutlich, dass Magnitski schon 2002 mit
Browder geführt. Die »New York Times« wie Gazprom oder der Staatsbank Sber- den Firmen befasst war.
gewann sogar den Pulitzerpreis für ihre Jus- bank. Dann legte er sich mit der Konzern-
tizberichterstattung aus Russland, auch zu führung an, prangerte die weitverzweigte Widersprüche
Magnitski. Es gibt Filme und ein Theater- Korruption an und forderte Reformen. Tra- Einige der von Browder beschuldigten Per-
stück über den Fall. ten die ein, stieg der Wert von Browders sonen haben begonnen, sich gegen die Vor-
Das wirft die Frage auf, wie gut die Anteilen. Wenn nicht, wuchs zumindest würfe zu wehren. Der Moskauer Polizist
Faktenbasis ist, aufgrund derer Politik und die Bekanntheit seines Fonds. Pawel Karpow etwa, von dem Browder
Medien in diesem Fall urteilen. Dabei sind Gazprom stand besonders unter Brow- behauptet, er habe zusammen mit Kus-
diverse Ungereimtheiten und Widersprü- ders Beobachtung. 1998 war der gesamte nezow Magnitski als Vergeltung für seine
che in Browders Darstellung bereits an- Konzern gerade einmal 3,5 Milliarden Aussagen in Haft genommen und dort für
hand jener Dokumente erkennbar, die Dollar wert. Sieben Jahre später waren es seine Tötung gesorgt. Karpow hat 2012 ein
Browders Leute selbst im Internet ver- 160 Milliarden Dollar. Hermitage hielt vie- Verfahren wegen übler Nachrede in Lon-
öffentlicht haben. Zu diesen Papieren le Anteile über Briefkastenfirmen. Einige don angestrengt.
zählen zwei abfotografierte PDF-Dateien. davon heuerten pro forma Behinderte an, Der zuständige Richter Justice Simon
Es sind Verhörprotokolle, die belegen die auf dem Papier als »Analysten für erklärte die britische Justiz zwar formal
sollen, wie Sergej Magnitski den Steuer- Wertpapiere« eingesetzt wurden, tatsäch- für nicht zuständig. In die schriftliche Be-
betrug über 230 Millionen Dollar mutig lich aber keinerlei Kenntnisse in dem Be- gründung seiner Entscheidung schrieb er
zur Anzeige brachte, nachdem er ihn reich hatten, wie mehrere Gerichte später jedoch für Browder vernichtende Sätze:
aufgedeckt hatte. Browder schreibt darü- feststellten. Der sei ein »Storyteller« – ein Geschich-
ber in seinem Buch: »Sergej vereinbarte So kamen die Firmen in den Genuss ei- tenerzähler. Browder sei »nicht mal nahe
für den 5. Juni 2008 einen Termin beim ner Steuervergünstigung, die gedacht war dran gewesen, seine Beschuldigungen mit
Staatlichen Ermittlungskomitee … Er setz- für Betriebe mit einer Behindertenquote Fakten zu untermauern«. Simon schrieb
te sich, legte seine Beweismittel vor und von mindestens 50 Prozent der Beleg- auch, seine Einschätzung sei ausdrücklich
gab seine Zeugenaussage ab, in der er schaft – und nicht als Steuersparmodell als »Rehabilitation« Karpows zu sehen.
Kusnezow und Karpow explizit als Tat- für westliche Investmentfonds. Russische Nur: Die Worte des Richters fanden in
beteiligte bezeichnete.« Behörden haben deshalb über Jahre gegen der Öffentlichkeit damals keine Beach-

69
tung. Der »Guardian« und andere briti-
sche Medien meldeten die angeblich kra-
chende Niederlage des Polizisten Karpow
und verbreiteten die Lesart und teils For-
mulierungen aus der Pressemitteilung von
Browders Kampagne.
In einem zweiten Verfahren in New York
ging es um die Sperrung von Konten eines
reichen russischen Politikerclans, der Ka-
zyw-Familie. Die US-Behörden hatten die
Sanktionen verhängt, weil Browder darauf
gedrängt und behauptet hatte, Geld aus
dem Millionenbetrug sei bei den Kazyws
gelandet. Die Russen heuerten daraufhin
New Yorker Staranwälte an, um sich gegen
die Anschuldigungen zu wehren.
Browder, sonst redselig, wollte sich ei-

CHARLES DHARAPAK / AP / PICTURE ALLIANCE / DPA


ner Befragung entziehen. Ein Video zeigt,
wie er Reißaus nimmt, als ihm eine Vorla-
dung überreicht werden soll. Im April 2015
muss er dann doch erscheinen. Unter Eid
und konfrontiert mit zahlreichen Doku-
menten, antwortet er – ganz anders als bei
seinen öffentlichen Auftritten – kleinlaut.
Sechs Stunden lang nimmt ihn Anwalt
Mark Cymrot ins Kreuzverhör, ein bärbei-
ßiger Jurist mit Schnauzer. War Magnitski
nun Anwalt oder Steuerexperte?
»Er hat mich vor Gericht vertreten.«
Hatte er einen Juraabschluss?
Der »Magnitsky Act« US-Präsident Barack Obama unterzeichnet
»Nicht, dass ich wüsste.«
2012 das Gesetz, das unter anderem russische Beamte mit
Hat er eine juristische Fakultät besucht?
»Nein, er hat keine juristische Fakultät Sanktionen bestraft. Einige von ihnen sollen verantwortlich sein
besucht.« für Magnitskis Tod.
Wie oft haben Sie erzählt, dass er Ihr
Anwalt war? 50-, 100-, 200-mal?
»Ich weiß es nicht.« der leitende Moskauer Ermittler eigentlich hier also wirklich noch um »Gerechtigkeit
Haben Sie auch jemals erzählt, dass er habe sprechen wollen. für Sergej Magnitski«, wie Browders Kam-
keinen juristischen Abschluss hatte? Zur Untermauerung ihrer Story legen pagne heißt? Oder führt er einen persön-
»Nein.« Browder und seine Leute auch einen Ar- lichen Rachefeldzug?
Der SPIEGEL hat Browder in London tikel eines US-Journalisten vor, der mit Zu den Eigenheiten des Falls gehört,
aufgesucht, um die Klärung von Unge- Magnitski kurz vor dessen Verhaftung ge- dass Beteiligte gelegentlich jäh ihre Ein-
reimtheiten gebeten und ihn mit den Wi- sprochen hatte. Die Polizisten Kusnezow schätzung ändern, um dann das Gegen-
dersprüchen seiner Story konfrontiert. und Karpow hätten Magnitski wegen der teil dessen zu vertreten, was sie zuvor
Daraus hat sich ein insgesamt vier Stun- Veröffentlichung des Artikels festnehmen gesagt haben. Soja Swetowa zum Bei-
den dauerndes Gespräch entwickelt, ein lassen, »immediately« – unverzüglich. In spiel. Die Moskauer Menschenrechtlerin
zähes Ringen um Daten, Fakten und De- dem entsprechenden Text findet sich aber war Mitautorin des Untersuchungsbe-
tails. Das Treffen im gläsernen Konferenz- nichts, was die Verhaftung erklären würde: richts. Sie steht in Opposition zum Kreml
raum in den Büros in Finsbury liefert Ein- Weder wird Magnitski erwähnt noch die und schreibt Berichte für »MBK News«,
blicke in Browders Masche: Gemeinsam Namen Karpow und Kusnezow. Der Jour- ein Medienprojekt des Exil-Oligarchen Mi-
mit seinen russischen Partnern Iwan nalist selbst sagt, er könne sich nicht vor- chail Chodorkowski. Swetowa hat sich in-
Tscherkassow und Wadim Kleiner legt er stellen, dass sein Text die Verfolgung Mag- tensiv mit dem Fall Magnitski beschäftigt
Dutzende weitere Unterlagen vor, die nitskis ausgelöst habe. und regelmäßig Artikel darüber veröffent-
ihre vermeintlich eindeutige Aussagekraft Seine Kampagne hat Browder zu einer licht. Sie plant ein Buch.
vor allem durch Browders Einordnung globalen Berühmtheit gemacht. Sein Ver- Im Juli hat sie in einem Interview mit
bekommen. Einer anschließenden Prü- lag bewirbt das Buch »Red Notice« als dem SPIEGEL erklärt, auch zehn Jahre
fung halten nicht alle stand. »New York Times«-Bestseller. In Inter- nach Magnitskis Tod nicht viel von der
Da ist eine bislang unveröffentlichte views ruft er zur weitgehenden Isolierung These eines Mordkomplotts zu halten.
E-Mail von Sergej Magnitski. Sie soll un- Russlands auf. Er greift Politiker scharf an, Man könne annehmen, dass er mit den
termauern, dass er tatsächlich aus eigenem die anderer Meinung sind. John Kerry, da- Ärzten, den Mitarbeitern in Streit geriet,
Antrieb als Whistleblower zu den Behör- mals US-Außenminister, hat er »Putins weil er nicht medizinisch behandelt wurde.
den ging. Aus ihr geht aber hervor, dass er Schoßhund« genannt und ihm »Appease- »Sie haben ihn geschlagen, um ihn ruhig-
auf Weisung eines ranghöheren Anwalts ment« vorgeworfen. Browder hat schon zustellen«, so hat es Swetowa im Sommer
von Browder handelte. Dieser räumt bei mal zur Abkoppelung Russlands vom in- formuliert. Auf eine gezielte Ermordung
dem Treffen in London ein: Magnitski sei ternationalen Bankensystem Swift aufge- würden die Schläge nicht hindeuten. Dafür
als Vertreter für den Generaldirektor einer rufen, was verheerende Folgen auch für gebe es keinerlei Belege. »Welchen Sinn
Briefkastenfirma geschickt worden, den die russische Bevölkerung hätte. Geht es hätte es gehabt, ihn umzubringen?« Weil

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Wirtschaft

er nicht weiter von dem 230-Millionen-


Dollar-Betrug erzählen sollte? Darüber sei
damals doch bereits längst überall berich-
tet worden. »Magnitski hat kein Geheim-
nis enthüllt«, sagte Swetowa im Juli.
In ihrem Untersuchungsbericht wird er-
wähnt, in Haft sei Druck auf den Häftling
Was nicht passt,
wird auch nicht
ausgeübt worden. »Sie wollten Aussagen
gegen Browder haben. Das war die Moti-
vation. Er sollte Browder beschuldigen,
Steuern nicht gezahlt zu haben. Magnitski

passend gemacht.
war eine Geisel. Er selbst war für nieman-
den von Interesse. Sie wollten Browder.«
Swetowa hat auch gesagt, Magnitskis
Schicksal sei grässlich, untypisch aber sei
es nicht: Unterlassene Hilfeleistungen und
schwere Misshandlungen kämen in russi-
schen Gefängnissen häufig vor. Sie hat
bereits 2010 einen Artikel über das Thema
geschrieben. Laut Daten des Europarats Wer frei denken will, braucht kontroverse Standpunkte
kamen im Jahr 2014 etwa 4000 Häftlinge und diskursfähige Positionen.–Diese finden Sie seit
in Russland ums Leben, in Deutschland
waren es 150. »Sie müssen wissen«, so hat 70 Jahren täglich in der Frankfurter Allgemeinen.
es Swetowa im Juli formuliert, »das russi-
sche Gefängnissystem ist sehr brutal.«
Vor Veröffentlichung dieses Textes hat
sie plötzlich ihre Meinung geändert. Nun
vertritt Swetowa das Gegenteil: Sie habe
inzwischen »das Gefühl, dass man ihn Freiheit hat viele Seiten.
extra in das Gefängnis »Matrosenruhe«
Jetzt mehr erfahren und testen.
verlegt hat, um ihn zu töten«. Sie habe in freiheitimkopf.de
der Zwischenzeit alte Unterlagen noch
einmal gesichtet. Sie blicke nun ganz an-
ders auf das Geschehen.
Der Europäische Gerichtshof für Men-
schenrechte hat im August sein Urteil im
Fall Magnitski verkündet: Russland muss
den Angehörigen des Toten 34 000 Euro
zahlen, weil der Staat das Leben und die
Gesundheit des Gefangenen hätte schüt-
zen müssen. Von einem Mord steht nichts
im Urteil. Die Richter nehmen aber die
Story des angeblich aus Rache inhaftierten
Whistleblowers auseinander: Magnitskis
Verhaftung sei nicht willkürlich gewesen,
das Vorgehen der Behörden nicht arglistig.
Die Ermittlungen gegen Magnitski hätten
2004 begonnen, lange also vor seinem ers-
ten Gang zu den Behörden. So steht es auf
Seite 39 der Urteilsbegründung. Auf Twit-
ter bezeichnet Browder die Entscheidung
trotzdem als »überwältigenden Sieg«.
Seine Kampagne hat eine Art argumen-
tatives Perpetuum mobile geschaffen, ein
Schwungrad, das sich selbst immer wieder
anstößt. Neulich haben ihn Diplomaten
aus Finnland empfangen, das Land hat die
EU-Ratspräsidentschaft inne. Es ging um
europäische Magnitski-Sanktionen. »Das
europäische Magnitski-Gesetz wird Reali-
tät«, hat Browder Mitte Oktober getwit-
tert. Die Chancen für einen Erfolg stehen
nicht schlecht: Seine Geschichte ist einfach
zu gut, um falsch zu sein.
Benjamin Bidder
Mail: benjamin.bidder@spiegel.de
Frankfurter
Allgemeine Freiheit beginnt im Kopf.
71
Casino Royale
Konzerne Der österreichische Chiphersteller AMS möchte die dreimal so große
Traditionsfirma Osram schlucken. Ein ziemlich riskanter Deal – bei dem
zwei grundverschiedene Manager nebenbei noch alte Rechnungen begleichen.

D
ie Szene wirkt etwas gekünstelt, heiligtum, das auf keinen Fall in die Fänge Spaß als sein Untergebener. Bauer ist Elek-
in einen echten »James Bond«- ausländischer Käufer geraten darf. trotechniker, ein durch und durch nüch-
Film hätte sie es wohl nie ge- Doch der Deal entbehrt nicht einer ge- terner und eher distanzierter Typ. Eine
schafft. Doch Alexander Everke wissen Logik. Manche Experten halten Aufnahme zeigt Bauer, wie er im traditio-
alias 007 ist mit Feuereifer dabei. Im sil- den Plan, AMS und Osram zusammenzu- nellen Thaihemd verdienten Infineon-
berfarben glitzernden Overall, das Gesicht führen, für die einzige Möglichkeit, die Zu- Verkäufern Hai-Skulpturen als Auszeich-
hinter einer schwarzen Sturmhaube ver- kunft beider Unternehmen dauerhaft zu nung überreicht und sich dabei ein gequäl-
borgen, wirft er sich auf zwei gegnerische sichern. Nun geht es in die nächste Runde. tes Lächeln abringt.
Agenten und vermöbelt sie. Sie sollen Be- Am 5. Dezember läuft die Frist für das Die Wege der beiden Männer trennten
triebsgeheimnisse des Münchner Chipher- zweite AMS-Übernahmeangebot an die sich bald wieder, nicht ganz zufällig, wie
stellers Infineon geklaut haben. Infineon-Insider berichten. Aston-
Das Ganze endet in einer wilden Martin-Fan Everke war Bauer of-
Schießerei, aus der 007 – natürlich fenbar zu forsch. Everke ging zum
– als Sieger hervorgeht. Konkurrenten NXP, wo er die
Everke ist kein Schauspieler, er Chance aufs große Geld witterte.
ist Manager. 2003, als das Filmchen Bauer machte bei Infineon Karrie-
gedreht wurde, war er Vertriebslei- re, stieg zum CEO auf und verließ
ter bei Infineon. Mit dem Agenten- das Unternehmen erst 2012 aus ge-
Heimvideo wollte er die Verkäufer- sundheitlichen Gründen. Er hatte
truppe des Chipherstellers anhei- Infineon vor der Pleite gerettet, aus
zen, die sich im thailändischen dem Krisenladen hatte er ein Vor-
Phuket zu ihrer Jahrestagung traf. zeigeunternehmen gemacht.
Everke war Hauptdarsteller, Autor Kein Wunder also, dass Siemens-
und Regisseur in einer Person. Chef Joe Kaeser auf den grundsoli-
Das schrille Werk wird neuer- den Bauer verfiel, als er 2013 je-
dings gern herumgereicht, und das manden suchte, der Osram eine
liegt vor allem an 007-Everke. Er Perspektive eröffnen sollte. Sie-
ist heute Chef des österreichischen mens hatte die Tochterfirma gerade
Halbleiter- und Sensorspezialisten aus der Familie verstoßen. Bauer
AMS, und als solcher mischt er ge- und der von ihm geholte Vorstands-
rade das Münchner Traditionsun- chef Olaf Berlien verkauften die
ternehmen Osram auf, den ehema- klassische Leuchtmittelsparte und
ligen Glühbirnen- und heutigen konzentrierten sich auf LED-Be-
LED-Hersteller. Osram ist dreimal leuchtungselemente und Sensoren,
so groß wie Everkes AMS. Den- wie man sie in Büros, Autos oder
BRIDGEMAN ART LIBRARY

noch sieht es so aus, als ob der Klei- Handys benötigt.


ne den Großen schlucken würde. Doch der Plan ging nicht auf.
Seit bald einem halben Jahr lie- Die Konkurrenz auf dem LED-
fern sich die zwei Hightechunter- Markt wuchs schneller als gedacht,
nehmen eine Übernahmeschlacht, das schwächelnde Pkw-Geschäft
die, anders als Everkes krudes Film- Osram-Werbung 1927: Stolz, Intrigen und Risiko schlägt mit voller Wucht auf die Zu-
chen, durchaus kinoreif wäre. Es lieferer durch. Bauer und Berlien
geht um Intrigen und um alte Feind- mussten in den vergangenen 18 Mo-
schaften, um Stolz und Tradition, um viel Osram-Aktionäre aus. Diesmal könnte es naten drei Gewinnwarnungen absetzen
Geld und hohes Risiko. klappen. und wiederholt Verluste ausweisen.
Das Osram-Management hatte eigent- Gegenspieler von Everke ist ein Mann, In dieser misslichen Lage tauchte aus-
lich einen anderen Plan. Es wollte sich in den der AMS-Chef noch gut aus seiner gerechnet der Mann auf, der wohl noch
die Arme von Finanzinvestoren wie Bain, Zeit bei Infineon kennt: Osram-Aufsichts- eine Rechnung offen hat mit Bauer: 007-
Carlyle oder Advent flüchten, um an fri- ratschef Peter Bauer. Er versieht den Job Everke. Und er kam nicht mehr als Un-
sches Geld zu kommen. Doch dann eilte als Oberkontrolleur nur nebenbei. Die tergebener, sondern als Usurpator, der
AMS herbei und spielte sich als Retter auf. meiste Zeit arbeitet er als Coach – und Bauers Alterswerk zu zerstören droht, die
Der erste Anlauf zur Fusion scheiterte hilft Managern in Krisensituationen, wie geplante Neuausrichtung von Osram aus
noch, weil viele Osram-Aktionäre argwöh- er sie selbst gerade durchlebt. eigener Kraft.
nisch waren und ihre Anteile nicht verkau- Bauer war damals Chef von Everke. Er Everkes Firma AMS hat ihren Sitz in ei-
fen wollten. Manch einer sieht die ehema- war auch bei der Phuket-Sause 2003 dabei, nem Schlösschen in der 6000-Seelen-Ge-
lige Siemens-Tochter Osram als National- hatte aber ganz offensichtlich weniger meinde Premstätten bei Graz. Den reprä-

72 DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019


Wirtschaft

sentativen Firmensitz hat AMS dem Or- zent – und zunächst auch der Kurs von Everke steuerte gegen. Er erhöhte Ende
den der Comboni-Missionare abgekauft. AMS. Er erreichte bis dahin ungeahnte Januar die Wachstumsprognose für 2018
In der hauseigenen Kapelle, scherzt ein Höhen: 121,20 Franken für die an der Zür- deutlich und legte Anfang Februar noch
AMS-Manager, hole man sich den nötigen cher Börse notierten Papiere. einmal nach. »Wir haben noch jedes Ziel
göttlichen Beistand. Es war nicht nur ein Fest für die Aktio- erreicht«, erklärte er siegesgewiss im Inter-
Everke, eher dem Weltlichen zuge- näre, sondern auch für das Management, view mit dem Schweizer Fachblatt »Finanz
wandt, lädt an einem verregneten Novem- wie ein Blick in das Register des Schweizer und Wirtschaft«. Jährliche Umsatzsteigerun-
bermorgen ein, um zu erklären, warum Börsenbetreibers SIX zeigt. Kaum hatte gen von 60 Prozent seien locker drin. Der
die Übernahme von Osram aus seiner Everke bei AMS angeheuert, handelten Kurs erholte sich bis Anfang März auf den
Sicht ein großartiger Plan ist. Er hat nicht die Führungskräfte im großen Stil mit neuen Rekordwert von mehr als 120 Fran-
mehr ganz die Form, die er 16 Jahre zuvor Aktien und Optionen auf den Kurs der ken. Die AMS-Manager lösten ziemlich
als 007-Darsteller zeigte, den silbernen eigenen Firma. Allein zwischen Dezem- treffsicher bei 118 Franken ihre Wettscheine
Kampfanzug hat er gegen ein dunkelblau- ber 2016 und 2017 wurden in mehr als ein und machten Kasse. Dann ging es wie-
es Businessmodell getauscht; die gülden 60 Transaktionen Papiere im Wert von der abwärts. Ende April wurde bekannt,
durchwirkte Krawatte passt perfekt zum mehr als 18 Millionen Schweizer Franken dass Apple aufgrund des enttäuschenden
Einstecktuch. gekauft und für fast 50 Millionen Franken iPhone-X-Absatzes die Produktion drosselt
»Glaube an das Unmögliche«, steht auf abgestoßen. »So etwas gab es in dieser Di- und neu ordnet. Die Nachricht bescherte
einer Glastafel im AMS-Hauptquartier, in mension noch nie in der Schweiz«, sagt AMS einen unerwarteten Verlust. Die Aktie
der die Unternehmenswerte eingraviert ein eidgenössischer Investor. verlor in der Spitze fast 15 Prozent.
sind. Der Spruch passt zu Everke. Er wolle Dort werden, anders als in Deutschland, Als »Finanz und Wirtschaft« im Juni
einen »globalen Leader« für Sensoren und die Namen der handelnden Manager nicht über die auffälligen Börsengeschäfte erst-
optische Prozessoren bauen, sagt er. Und veröffentlicht. In der Schweiz wird vermu- mals berichtete, flauten die auf einmal
dann, entschlossen: »Wir werden es hin- tet, dass viele der Deals auf das Konto von deutlich ab. AMS sagt dazu, man kommen-
bekommen.« Everke gingen. Außer ihm saßen damals tiere private Anlageentscheidungen nicht.
Zumindest fehlt es ihm nicht an Aggres- nur zwei weitere Manager im Vorstand. Die Firma halte sich an alle einschlägigen
sivität. Kaum war er im März 2016 an die Beide hatten bis zu Everkes Einstieg aller- Börsen- sowie interne Complianceregeln
Spitze des Spezialchipherstellers gerückt, dings wenig Neigung zu geballten Trans- und kontrolliere deren Einhaltung. Han-
schlug er einen Expansionskurs ein. Es sah aktionen mit AMS-Aktien gezeigt. delsverbote, etwa vor der Bekanntgabe
nicht gut aus für die Firma. Aufträge des Das Unternehmen verweist auf die offi- wichtiger Zahlen, würden berücksichtigt.
Hauptkunden Apple standen auf der Kip- ziellen Mitteilungen der Schweizer Börse Über die Geschäftsentwicklung würde die
pe. Die Zahlen verschlechterten sich. über Handelsgeschäfte von Führungskräf- Öffentlichkeit stets zeitnah informiert.
Der neue Mann setzte alles auf eine Kar- ten dort notierter Firmen. Zu einzelnen Immerhin prüft die Wirtschafts- und
te. Er kaufte für viel Geld einen Spezialis- Transaktionen nimmt AMS nicht Stellung. Korruptionsstaatsanwaltschaft in Wien
ten für optische Sensoren, das asiatische Everkes Kalkül schien aufzugehen. derzeit, ob ein AMS-Mitarbeiter unterhalb
Unternehmen Heptagon. AMS kettete sich Apple wirkte wie ein Turbo für die AMS- des Vorstands womöglich Insiderhandel
damit noch enger an Apple, weil auch Hep- Aktie, bis der Großkunde um die Jahres- betrieben haben könnte. Erst Anfang Ok-
tagons Sensoren vor allem in den Smart- wende 2017/18 auf einmal enttäuschende tober soll es zu einer Durchsuchung ge-
phones des US-Konzerns verbaut werden. Absatzzahlen für das iPhone X meldete. kommen sein. AMS erklärt, darüber sei
In Singapur baute AMS Produktionsstät- Prompt sackte der AMS-Kurs ab. Zu dem der Firma nichts bekannt, etwaige Vorgän-
ten mit Tausenden Mitarbeitern auf. Zeitpunkt hatten die AMS-Manager gera- ge, die bereits ausgeschiedene Mitarbeiter
Weitere kleinere Zukäufe folgten dem- de neue Millionenwetten auf weitere Kurs- beträfen, könne man nicht kommentieren.
selben Muster. Der Anteil der Erlöse mit gewinne abgeschlossen – die nun zu plat- Das Auf und Ab der Kurse zeigt, wie
Apple stieg zeitweise auf bis zu 70 Pro- zen drohten. anfällig das Geschäftsmodell von AMS

Flackernder Kurs 7./9. März 2018: 117,75*


AMS-Manager lösen Aktien und Aktienoptionen ein
AMS-Aktie, in Schweizer Franken

24. April 2018: 87,00


Schlechte Absatzzahlen für das
Apple iPhone belasten das AMS-Ergebnis
24. Oktober 2016: 30,20
AMS übernimmt Heptagon,
der Apple-Anteil am Umsatz 12. August 2019: 43,27
steigt auf 30 Prozent AMS legt erstes Übernahme-
angebot für Osram vor
21. November
6. Februar 2018: 98,60 2019:
1. März 2016: 31,05 AMS-Chef Everke hebt 44,90
Alexander Everke wird Umsatzprognosen an
Vorstandschef von AMS

18. Oktober 2019: 42,75


Quelle: Refinitiv Datastream * 9. März 2018: 119,75 CHF AMS bietet erneut für Osram

73
Wirtschaft

positiven Votum für die Offerte der Öster-


reicher auf. Damals buhlten auch die Fi-
nanzinvestoren Bain und Advent noch um
Osram. Everke und Co. nutzten die Zeit
bis zum Ablauf ihres Angebots Anfang Ok-
tober, sich am Markt 20 Prozent der An-
teile zu sichern. Wirtschaftsanwälte wun-
dern sich, warum das Management die
Sperre nicht auf diesen Zeitpunkt termi-
nierte. So aber zogen Bain und Advent
sich zurück, obwohl AMS mit dem ersten
Übernahmeangebot gescheitert war. Ein
Bieterwettkampf fand nicht mehr statt.
Ob und wann Everke bei Osram durch-
regieren kann, hängt zunächst davon ab,
ob AMS die selbst gesteckte Zielgröße von
55 Prozent der Osram-Aktien Anfang De-

QUELLE INFINEON
zember erreicht. Danach wollen Everke &
Co. ihren Anteil auf mindestens 75 Pro-
zent hochschrauben. Nur so können die
Aufkäufer auf die liquiden Mittel von Os-
Manager Everke (l.) in Firmenvideo 2003: »Wir haben noch jedes Ziel erreicht« ram zugreifen und strategische Entschei-
dungen durchboxen. Im letzten Schritt will
Everke Osram von der Börse nehmen.
ist. Die Firma ist den Entscheidungen von Bei Osrams Arbeitnehmern verfängt die Berlien rechnet damit, dass bis dahin
Apple ausgeliefert. Sollte sich der Tech- Charmeoffensive bislang nicht. »Den Zu- noch mindestens drei Jahre vergehen. Er
Multi aus Cupertino einen anderen Liefe- sagen fehlt die Verbindlichkeit«, sagt IG- selbst und Chefaufseher Bauer wären
ranten suchen, würde es eng. Metaller Klaus Abel, der im Osram-Auf- dann wohl draußen.
»AMS steckt in einer strategischen Sack- sichtsrat sitzt. Everke selbst macht keinen Es sei denn, andere Spieler durchkreu-
gasse, und Everke weiß das«, sagt ein Os- Hehl daraus, dass er die Neuerwerbung zen Everkes Pläne. Der Bieterkampf hat
ram-Manager. Mit dem Kauf von Osram rasch zerschlagen will. »Der Großteil des aggressive Hedgefonds angelockt, die mit-
ließe sich diese Abhängigkeit auf einen Digitalgeschäfts wird sicher verkauft«, sagt verdienen wollen und mittlerweile weit
Schlag spürbar verringern. Osram macht der AMS-Chef. »Da wollen wir nicht mehr mehr als zehn Prozent der Osram-Anteile
kaum Umsatz mit Apple, ist dafür aber investieren.« halten. Ein Teil davon dürfte von dem Ver-
mit anderen Smartphoneherstellern wie Was bleibt dann noch von Osram? Ber- sicherungskonzern Allianz stammen, der
Samsung gut im Geschäft. Everke spielt lien erzählt stolz, das fusionierte Unter- sein Osram-Paket von ehemals zehn Pro-
die Bedeutung von Apple für AMS herun- nehmen werde weiterhin den Traditions- zent bis auf einen kleinen Rest verkauft hat.
ter. »Die Abhängigkeit sinkt durch die Fu- namen tragen. Sicher ist das nicht. »Das Die Hedgefonds spekulieren darauf,
sion, aber auch ohne sie«, argumentiert er sollten wir nicht übers Knie brechen«, sagt dass sie AMS für ihre Aktien zu einem spä-
und führt das wachsende Geschäft mit An- Everke lässig, »der Name soll ja für 20, 40 teren Zeitpunkt noch mehr Geld abpres-
droid-Smartphones an. oder 100 Jahre gelten.« sen können. Deshalb dürften sie einen Teil
Noch profitiert AMS von seinem Groß- Erstaunlich ist, dass Berlien und Bauer der Papiere zurückhalten. Sind es zu viele,
kunden, nur deshalb ist den Österrei- ihrem Gegner nicht härter zusetzten. Zwar verfehlen die Österreicher Anfang Dezem-
chern der Angriff auf Osram überhaupt musste sich AMS, wie in solchen Übernah- ber womöglich die von ihnen gesetzte
möglich. »Apple finanziert gewisserma- meverfahren üblich, gegenüber dem Ma- Schwelle von 55 Prozent.
ßen die Übernahme von Osram«, mokiert nagement verpflichten, keine Aktien zu Am Ende könnte es also auf die rund
sich ein Investor. Drei Banken haben erwerben, während die Bücher von Osram 400 000 Osram-Kleinaktionäre ankom-
AMS einen Kredit für die Übernahme in geprüft wurden. Doch die Osram-Führung men. Die meisten von ihnen haben die Ak-
Höhe von 4,42 Milliarden Euro gewährt. hob diese Sperre am 21. August mit einem tien 2013 als Beigabe in ihr Siemens-Depot
Zurückgeführt werden soll er zu einem gelegt bekommen und stehen in Treue fest
großen Teil aus Apple-Gewinnen, solange zu der Traditionsfirma. Viele von ihnen
sie noch fließen. Breit gestreut denken über das Angebot von AMS wie
Die Osram-Führung mit Bauer und Ber- Osrams Aktionärsstruktur, Anteile in Prozent Bettina Ohlmeyer. Sie hat bereits im Sep-
lien an der Spitze scheint sich mit ihrem 20,0 tember dem Werben der Österreicher wi-
Schicksal inzwischen abgefunden zu ha- derstanden und nicht verkauft. »Aus
AMS
ben. Es werde eine Fusion unter Gleichen, Deutschland sind inzwischen so viele alt-
beteuerte der Osram-Chef vergangene 5,8 eingesessene Firmen verschwunden oder
Woche. Immerhin habe AMS weitgehende Sand Grove ins Ausland verkauft worden«, sagt sie,
Zugeständnisse gemacht, was den Erhalt Capital »dazu will ich nicht auch noch beitragen.«
(Hedgefonds)
von Standorten und Arbeitsplätzen ange- Auch dieses Mal will sie standhaft blei-
he. Man begegne sich auf Augenhöhe. 4,8 Barclays ben, aus Respekt vor Osram, seinen Mit-
Everke lässt den Kollegen in München 3,7 Credit Suisse arbeitern und der Tradition. Die Firma,
gern in dem Glauben, macht aber klar, wer 3,7 Blackrock sagt sie, »gehört zu München wie die Thea-
wirklich das Sagen hat. Ziel sei, Osram zu 52,7 tinerkirche und das Hofbräuhaus«.
Sonstige* 3,3 Norges Bank
100 Prozent zu kaufen. »Aber es ist positiv, 2,9 3,1 DNCA Finance Dinah Deckstein, Martin Hesse
wenn da ein Gefühl ist, dass wir es gemein- Quelle: Allianz Mail: martin.hesse@spiegel.de
sam machen«, sagt er gönnerhaft. Osram Group *darunter Hedgefonds

74 DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019


Ausland
»Im Innersten wird die Kommunistische Partei von der Furcht vor dem Machtverlust getrieben.« ‣ S. 86

CHAIDEER MAHYUDDIN / AFP


Mit einem Koran, einer Gebetskette und dem traditionellen arabischen Gewand haben Eltern in Banda Aceh ihr Baby
ausstaffiert. Die Provinz Aceh im Nordwesten Indonesiens gilt als Hochburg des islamischen Fundamentalismus,
das geltende Recht ist die Scharia. Radikale Religiosität gewinnt im ganzen Land an Boden: Präsident Joko Widodo
gelang im Frühjahr nur im Bündnis mit einem erzkonservativen Geistlichen die Wiederwahl.

Analyse

Unregierbar
Der Premier ist angeklagt, die Koalitionsgespräche sind gescheitert: Israel ist ein zerrissenes Land.

Benjamin Netanyahu wohnt immer noch da, wo er aus seiner spaltet: Er sät Hass und Häme, attackiert seine Gegner persönlich
Sicht hingehört: Smolenskin-Straße 9, Ecke Balfour-Straße, Jeru- und greift die arabische Minderheit rassistisch an. Den Wahl-
salem, in der Residenz des Premierministers – und das, obwohl kampf hat Netanyahu als Freund-Feind-Konflikt inszeniert: »Wir«
er zwei Wahlen innerhalb eines Jahres nicht gewinnen konnte, gegen das andere, Fremde. Rhetorisch abzurüsten, sich über Sach-
obwohl er es zweimal nicht geschafft hat, eine Regierung zu bil- fragen zu verständigen wird dadurch unmöglich.
den. Und trotz einer Anklage wegen Bestechlichkeit, Betrug Populismus, das zeigt der Fall Israel, nutzt seinen Vertretern
und Untreue, zu der sich der Generalstaatsanwalt des Landes am nur dann, wenn er solide Mehrheiten schafft. Zum Kompromiss
Donnerstag entschieden hat. Den Wohnsitz verdankt Netanyahu ist der Populist nicht fähig. Netanyahu hält seine Likud-Partei in
seinen Gegnern: Sie sind zu schwach, ihnen fehlen die Macht dieser Falle gefangen. Zwar gibt es dort Politiker, die als Putschis-
und der Wille, eine Regierung zu bilden. Sein Herausforderer, ten gehandelt werden. Sie könnten versuchen, ihren Vorsitzen-
Benny Gantz, musste am Mittwoch eingestehen, dass er mit seiner den zu stürzen, um dann eine Einheitsregierung mit Gantz und
Wahlliste Blau-Weiß ebenfalls keine Koalition hinbekommt. dem Rechtsaußen Avigdor Lieberman zu schmieden. Aber bis-
Die einzige Demokratie im Nahen Osten ist unregierbar. Schuld lang hat sich dort keiner hervorgewagt. Und so drohen Israel wie-
daran ist vor allem Netanyahu, der Israel mit seiner Propaganda der Neuwahlen – und Netanyahu ein Prozess. Dominik Peters

76 DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019


Burkina Faso Italien
Auf dem Weg nach Aufstand der
Sahelistan Sardinisten
 Bislang war Burkina Faso eine Insel Zehntausende junge Bürger
der Stabilität in Westafrika. Nun gewin- machen gegen Auftritte von
nen islamistische Terroristen an Einfluss, Matteo Salvini mobil. Ihr Sym-

BRANCOLINI / FOTOGRAMMA / ROPI


viele Menschen fliehen – der Norden bol ist die Sardine. Nach dem
des Landes droht ins Chaos abzugleiten. ersten »Fischmob« in Bologna
Derzeit sind etwa 500 000 Binnen- mit mehr als 10 000 Teil-
flüchtlinge in dem 20-Millionen-Land nehmern sind gut 40 Kund-
unterwegs, warnt die Uno. Sie retten gebungen von Mailand bis
sich vom Norden in Richtung Süden, Palermo geplant. Michele
weil die Trockenheit die Äcker un- Esposito, 33, gehört zu den
fruchtbar macht und weil Mörderban- Initiatoren. »Fischmob« in Bologna
den wie die Fundamentalistentruppe
Ansar al-Islam Anschläge verüben. SPIEGEL: Warum nennen sich die Esposito: In jeder Situation suchen sie
Erst in dieser Woche griffen Islamisten Demonstranten Sardinen? einen Feind. Früher ging es gegen die
einen Armeestützpunkt an. Dabei star- Esposito: Der Name ist vor gerade mal Italiener hier im Süden. Dann gegen die
ben 19 Menschen. Anfang November einer Woche entstanden, als vier Leute in sogenannten Zigeuner. Und jetzt
hatten Fundamentalisten einen Konvoi Bologna diesen neuen Volksprotest gegen die Linken. Immer geht es ihnen
überfallen und 37 Minenarbeiter ermor- gestartet haben. Die Sache mit Sardinen darum, eine Gruppe von Menschen
det. Die Terroristen sind über Grenzen ist, dass sehr, sehr viele von ihnen an zu Gegnern zu machen, um damit Stim-
hinweg vernetzt, verbünden sich mit einem Ort zusammenkommen können, men einzusammeln.
lokalen Rebellen, verdienen am Verbre- wie bei einem Schwarm. Unsere Demons- SPIEGEL: Was unterscheidet die Sardi-
chen – vor allem am Schmuggel von trationen zeigen, dass wir gegen Salvini nen-Proteste von normalen politischen
Menschen, Waffen und Drogen durch zahlreich sind. Wir haben auch hier in Demonstrationen?
die Wüste. Sie bedrohen auch Lehrer, Sorrent, im Südwesten Italiens, einen Esposito: Wir sind nicht laut oder aggres-
sodass Schulen schließen und mehr als Aufruf gegen einen Salvini-Besuch gestar- siv, sondern versuchen, kreativ zu sein.
300 000 Kinder nicht weiter lernen tet. Auf Facebook haben sich daraufhin Wir haben beispielsweise dazu aufgeru-
können. Der Einfluss der Regierung über 25 000 Menschen gemeldet. So vie- fen, Salvini ein Geschenk zu machen.
reicht kaum bis in den Norden. Burkina le haben wir nicht erwartet. Jeder konnte ein Buch mit einer persön-
Faso werde, so fürchten Experten vom SPIEGEL: Was wollen Sie erreichen? lichen Botschaft vorschlagen.
Welternährungsprogramm der Uno, Esposito: Ich bin für zivile Proteste, die SPIEGEL: Salvini hat gegen Ihre Protest-
immer mehr zu einem Teil jener Zone unabhängig von Parteien und frei von bewegung das Foto einer Katze gepostet,
in der Südsahara, die Sahelistan genannt Dogmen sind. Wir wollen zeigen, dass in die eine Sardine frisst.
wird: Sie erstreckt sich vom Senegal Italien nicht alles im Niedergang ist, wie Esposito: Es stört ihn sicher, wenn wie
im Westen über Mali, Niger und den die Lega behauptet. Und wir wollen in Bologna oder Modena mehr Sardinen
Tschad bis nach Somalia im Osten. beweisen, dass man anderer Meinung auf der Straße sind als Anhänger
Dort gedeiht der Terror auf dem Nähr- sein kann, ohne zu brüllen. Salvinis. Und jetzt versucht er, das zu
boden von Anarchie und Armut. JPU SPIEGEL: Was stört Sie an der Lega? banalisieren. HOR

Nordkorea Kim vage bleibt, befürchten


Ende der Prahlerei Nordkorea-Experten wie
Andrei Lankov, Professor in
 Als großen Durchbruch hatte US-Präsi- Seoul, neue Provokationen.
dent Donald Trump seine Treffen mit Selbst Tests von Langstre-
dem nordkoreanischen Machthaber Kim ckenraketen sind nicht ausge-
Jong Un inszeniert, ein »Deal« solle den schlossen. Von den großen
historischen Konflikt beilegen, hieß es. Hoffnungen, die vor allem
Nun, rund eineinhalb Jahre nach dem Südkoreaner in die Gesprä-
Gipfel in Singapur, läuft Trump die Zeit che setzten, ist kaum etwas
davon. Das nordkoreanische Regime geblieben. Zwischen den bei-
SUSAN WALSH / AP

besteht darauf, dass die USA bis Ende des den Koreas sollten Züge fah-
Jahres wichtige Zugeständnisse machen. ren, Wirtschaftsprojekte auf-
Kim Jong Un ist es offenbar ernst mit die- leben, getrennte Familien
sem Ultimatum, denn erstmals seit Länge- sich austauschen.
rem kommt aus seiner Hauptstadt Pjöng- Trump, Kim im Juni im Grenzort Panmunjon Es war auch der Versuch,
jang sogar direkte Kritik an Trump: Einen die koreanische Halbinsel
weiteren Gipfel der Staatsspitzen lehne lenkt von Impeachment-Anhörungen, in endlich zu befrieden, die sich seit
man ab, um dem US-Präsidenten nicht nur ein paar Wochen eine große diploma- 69 Jahren im Kriegszustand befindet.
weitere »Gelegenheit geben zu prahlen«, tische Initiative gelingt, scheint unrealis- Die Gelegenheit für eine Annäherung ist
sagt ein Berater des nordkoreanischen tisch. Was passiert, wenn das Ultimatum vertan, eine Chance wie diese wird
Außenministeriums. Dass Trump, abge- verstreicht? Auch wenn die Führung um wohl so schnell nicht wiederkommen. KGP

77
Ausland

»Dafür lohnt es sich


zu sterben«
SPIEGEL-Gespräch Boliviens langjähriger Staatschef Evo Morales ist nach Mexiko geflohen, ins Exil.
Von dort erklärt er, wie es zu dem Umsturz kam und wann er bereit ist zurückzukehren.

Morales, 60, war der erste indigene Präsi- tern vertraut habe. Sie haben sich auf die SPIEGEL: Der General, der vorige Woche
dent in der Geschichte Boliviens. Der ehe- Seite der Putschisten geschlagen. Ihren Rücktritt verlangte, wurde von Ih-
malige Anführer der Kokabauern ist eine SPIEGEL: Aber die Wahlbeobachter haben nen selbst eingesetzt. Welche Rolle spielte
Symbolfigur der lateinamerikanischen Lin- noch in der Wahlnacht Beweise für Mani- das Militär bei Ihrem Rückzug?
ken, er regierte von 2006 bis zu seinem er- pulationen vorgelegt. Morales: Ich hatte immer ein gutes Ver-
zwungenen Rücktritt in der vorvergange- Morales: Es ist ein vorläufiger Bericht. Er hältnis zu den Streitkräften. Als einziger
nen Woche. Wahlbeobachter der Organisa- besagt, dass es Unregelmäßigkeiten und Präsident in der Geschichte Boliviens habe
tion Amerikanischer Staaten (OAS) hatten andere Probleme gab, aber er bezichtigt ich Wehrdienst geleistet. Ich habe die
»Unregelmäßigkeiten« bei seiner vierten mich nicht des Betrugs. Die Wahlbeob- Streitkräfte gut behandelt, habe sie mit
Wahl am 20. Oktober festgestellt, es kam achter haben von 35 500 Urnen im Land Flugzeugen und Hubschraubern ausgerüs-
zu gewalttätigen Unruhen. Vergangene 72 Urnen geprüft und sagen nun, ich hätte tet. Jetzt muss ich im Fernsehen mitanse-
Woche forderte ihn das Militär zum Rück- mehr Stimmen bekommen als in früheren hen, wie sie diese Waffen gegen das Volk
tritt auf. Morales fürchtete um sein Leben, Wahlen. Aber es handelt sich dabei um einsetzen. Aber am schlimmsten war die
er flüchtete ins Exil nach Mexiko. Dort lebt Urnen aus ländlichen und indigenen Ge- Polizei. Wenn die sich nicht gegen mich
er an einem geheimen Ort in Mexiko-Stadt, bieten, in denen die Leute immer massiv erhoben hätte, hätten wir diesen Putsch
die Regierung stellt ihm vier Leibwächter für mich gestimmt haben. Ich habe OAS- niedergeschlagen.
und einen gepanzerten SUV. Generalsekretär Luis Almagro gebeten, SPIEGEL: Seit Ihrem Rücktritt kamen bei
ein paar Tage mit der Veröffentlichung zu Auseinandersetzungen mit Regierungs-
SPIEGEL: Herr Morales, wie soll man Sie warten, weil es sonst in Bolivien Tote ge- truppen mehr als 30 Ihrer Anhänger ums
anreden? Herr Ex-Präsident? ben würde. Aber das wollte er nicht. Es Leben. Droht Bolivien ein Bürgerkrieg?
Morales: Nach meinem Rücktritt kann man war eine politische Entscheidung, keine Morales: Die Toten gehen auf das Konto
mich eigentlich nicht mehr Präsident nen- technische oder juristische. der Putschisten. Bis zu meinem Rücktritt
nen. Andererseits hat das Parlament meinen SPIEGEL: Sie mussten mit einem Vor- hatten Polizei und Streitkräfte nicht einen
Rücktritt noch nicht angenommen. Meine sprung von mindestens zehn Prozentpunk- einzigen Menschen erschossen. Ich habe
Fraktion steht bislang geschlossen hinter mir. ten vor Ihrem Widersacher Carlos Mesa im Fernsehen gesehen, wie sie in Cocha-
SPIEGEL: Ihre Gegner behaupten, Sie sei- gewinnen, um eine Stichwahl zu vermei- bamba vom Hubschrauber aus auf die Pro-
en freiwillig zurückgetreten. den. Als die ersten Ergebnisse eintrafen, testierenden feuerten. Es macht mir Angst
Morales: Das war ein Putsch, der von lan- sah es so aus, als würden Sie das nicht und stimmt mich sehr traurig. Sie bringen
ger Hand geplant war. Es begann damit, schaffen. Da wurde die Auszählung plötz- meine indigenen Brüder und Schwestern
dass sie Puppen von mir verbrannt haben, lich unterbrochen. Als es weiterging, ver- um. Einfache Landarbeiter.
dann zerstörten sie Wahlunterlagen und lief die Tendenz zu Ihren Gunsten. SPIEGEL: Ihre Anhänger sollen zum Bür-
steckten Häuser von Angehörigen meiner Morales: Die Unregelmäßigkeiten, die die gerkrieg aufgerufen haben, sie blockieren
Partei und von Gewerkschaftsführern in OAS festgestellt hat, haben mir mehr ge- wichtige Städte im Land. Haben Sie die
Brand. Dann hat schließlich die Polizei ge- schadet als der Opposition. Die offizielle nicht unter Kontrolle?
meutert, und die Streitkräfte haben sich Auszählung wurde nie unterbrochen, an- Morales: Ich weise Gewalt zurück, das
gegen die verfassungsmäßige Ordnung er- gehalten wurde nur die Schnellauszählung. habe ich mehrmals gesagt. Aber sie ist eine
hoben und meinen Rücktritt gefordert. Die offizielle Auszählung findet öffentlich natürliche Reaktion, nachdem die Armen
Das soll ein freiwilliger Rücktritt sein? Ich statt, unter Beteiligung der Parteien. Die- so gedemütigt wurden. Die Putschisten ha-
bin zurückgetreten, damit sie nicht noch ses Ergebnis wurde nicht angefochten, auf ben sogar die Wiphala-Flagge verbrannt,
mehr Bolivianer umbringen. dieser Auszählung beruht das Endergeb- das Symbol der Indigenen und unser na-
SPIEGEL: Die Organisation Amerikanischer nis. Deshalb habe ich eine Neuauszählung tionales Emblem.
Staaten wirft Ihnen vor, das Wahlergebnis Urne für Urne, Stimme für Stimme gefor- SPIEGEL: Wer ist denn aus Ihrer Sicht für
manipuliert zu haben. dert. Ich habe anerkannt, dass es normale diesen Umsturz verantwortlich?
Morales: Genau das ist der Grund, wes- Irrtümer gab wie bei jeder Wahl, aber kei- Morales: Alle die, die das Wahlergebnis
halb progressive, linke und gemäßigte Re- nen Betrug. Fehler sind menschlich, man nicht anerkennen. Oppositionsführer Car-
gierungen dieser Organisation misstrauen: muss sie anerkennen und berichtigen. los Mesa, der die Wahl verloren hat, und
Sie dient den Reichen und Mächtigen, ich SPIEGEL: Warum wurde die Auszählung Luis Fernando Camacho, der Präsident
erfahre das am eigenen Leib. Ich habe unterbrochen? des sogenannten Bürgerkomitees von San-
mich getäuscht, als ich den Wahlbeobach- Morales: Bei der ersten Hochrechnung lag ta Cruz. Er stammt aus einer sehr rassisti-
ich mit sieben Prozentpunkten vorn, da schen Familie, sein Vater hat die Diktatur
Das Gespräch führte der Redakteur Jens Glüsing in habe ich gesagt: Okay, mit den Stimmen des Generals Hugo Banzer unterstützt und
Mexiko-Stadt. vom Land gewinnen wir. damit viel Geld verdient. Der angebliche

78
JORDI RUIZ CIRERA / DER SPIEGEL

DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019 79


bitterarmen Verhältnissen, mit acht Jahren
habe ich angefangen zu arbeiten. Ich woll-
te auch kein Gewerkschaftsführer werden,
aber als die Kokabauern mir das antrugen,
habe ich es akzeptiert. So ging es weiter,
bis ich die Gelegenheit erhielt, Präsident
zu werden. Es war nicht mein Traum, es
war nicht geplant, ich hätte auch einfach
nach Hause gehen und glücklich sein kön-
nen. Ich habe es auf mich genommen, weil
ich die Repression und die Ungerechtigkeit
nicht mehr ertragen habe.
SPIEGEL: Es sieht aber schon so aus, als
würden Sie sich an die Macht klammern.
Gegner werfen Ihnen vor, dass Sie in Boli-
vien eine sozialistische Diktatur wie in Ve-
DIEGO VALERO / DPA

nezuela oder Nicaragua errichten wollten.


Morales: Sozialismus ist für mich soziale
Gerechtigkeit. Dafür lohnt es sich zu ster-
ben. Ohne soziale Gerechtigkeit gibt es
Interimspräsidentin Añez: »Das ist eine Diktatur« keinen Frieden. Mit unseren Sozialpro-
grammen haben wir es geschafft, die ex-
treme Armut von 15 auf 8 Prozent zu drü-
Wahlbetrug war nur ein Vorwand für diese land sitze. Drittens: Die Morde müssen cken. Wir haben ein Wirtschaftsmodell ge-
Leute, um mich zu stürzen. aufhören. fördert, das uns Wachstum erlaubt und uns
SPIEGEL: Sie machen auch die US-Regie- SPIEGEL: Das Land ist extrem polarisiert. gleichzeitig den Internationalen Wäh-
rung mitverantwortlich. Sie haben dazu aufgerufen, den Frieden rungsfonds vom Leib hält. Wir hatten zu-
Morales: Als ich das erste Mal zum Präsi- zu bewahren. Hat das unter diesen Bedin- letzt ein höheres Wirtschaftswachstum als
denten gewählt wurde, warnten mich die gungen überhaupt eine Chance? Chile, das immer als Vorbild gefeiert wur-
Minenarbeiter, die unter der Militärdikta- Morales: Das ist jedenfalls mein großer de. Entgegen den Empfehlungen des IWF
tur gelitten hatten: Sieh dich vor der US- Wunsch. Die Versöhnung muss schnell ge- haben wir den Energiesektor verstaatlicht.
Botschaft vor! 2008 haben wir den US- hen. Die Militärs müssen verstehen, dass Aber man verzeiht uns nicht, wenn das
Botschafter des Landes verwiesen, weil er wir alle eine große Familie sind. Einige Modell einer sozialistischen, pluralisti-
gegen uns konspiriert hatte. Während des glauben, dass sie das Land beherrschen schen, linken und antiimperialistischen Na-
letzten Wahlkampfs habe ich den stellver- können, weil sie viel Geld haben. Diese tion funktioniert. Es ist ein Klassenkampf.
tretenden Missionschef einbestellt, weil er Mentalität muss sich ändern. SPIEGEL: Aber Sie haben die Justiz kon-
auf dem Land gegen mich agitierte. Wa- SPIEGEL: Laut Verfassung muss die neue trolliert und damit Macht an sich gerissen.
shington hat auch als erste Regierung das Präsidentin bis Januar Neuwahlen ausru- Morales: Ich habe immer die Gesetze res-
Putschistenregime anerkannt. fen. Glauben Sie, dass es dazu kommt? pektiert. Wenn sie mich eines Tages wegen
SPIEGEL: Jeanine Añez, die Vizepräsiden- Amtsmissbrauch vor Gericht stellen soll-
tin des Senats, hat sich unter Berufung auf ten, liegt das daran, dass ich keinen ver-
die Verfassung zur Interimsstaatschefin nünftigen Anwalt habe. Ich bin nicht Prä-
ausgerufen. Erkennen Sie sie an? »Man verzeiht uns nicht, sident geworden, um reich zu werden, son-
Morales: Woher bezieht sie denn ihre Le-
gitimität? Sie hat sich selbst zur Präsiden-
wenn eine sozialistische, dern aus Patriotismus.
SPIEGEL: Bolivien verfügt über viele Bo-
tin ausgerufen, die Militärs haben ihr die pluralistische, linke denschätze, darunter das weltweit begehrte
Schärpe umgehängt. Das ist keine Über-
gangsregierung, sondern eine Diktatur.
Nation funktioniert.« Lithium, das für Elektroauto- und Handy-
batterien gebraucht wird. Sie haben mehr-
SPIEGEL: Sie haben zu einem nationalen fach behauptet, dass das eine Rolle bei
Dialog aufgerufen. Schließt das auch die Ihrem Sturz gespielt habe. Warum?
Interimsregierung von Jeanine Añez ein? Morales: Die Frist endet schon am 22. Ja- Morales: Wir hatten ein schönes Abkom-
Morales: Wir haben die internationale nuar. Ich habe keine Ahnung, wie die Put- men mit Deutschland, das den Aufbau ei-
Gemeinschaft gebeten, einen Dialog zu schisten das bewerkstelligen wollen. ner eigenen Lithiumfabrik vorsah. Aber
erleichtern. Wir stellen aber drei Bedin- SPIEGEL: Werden Sie selbst wieder zur einigen multinationalen Konzernen hat
gungen. Erstens: Bevor es zu Verhandlun- Wahl antreten? das nicht gepasst. Sie sind dagegen, dass
gen kommt, muss eine Kommission ein- Morales: Ich habe das Recht zu kandidie- wir unsere Rohstoffe selbst verarbeiten.
gesetzt werden, die die Verantwortlichen ren, aber wenn es der Befriedung des Lan- SPIEGEL: Aber es hieß doch, dass Ihre Re-
für Morde an unseren Unterstützern be- des dienlich ist, verzichte ich. gierung das Projekt stoppen wollte?
nennt. Die Angriffe sind Verbrechen ge- SPIEGEL: Sie haben bereits drei Amtszei- Morales: Ich hatte eine Strategie, wie wir
gen die Menschlichkeit, sie dürfen nicht ten hinter sich. Warum haben Sie sich weitermachen sollten, aber da ich nicht
ungesühnt bleiben. Zweitens: Wenn je- überhaupt entschieden, ein viertes Mal zu mehr Präsident bin, habe ich keinen Ein-
mand vor Gericht gestellt wird, müssen kandidieren, obwohl die Mehrheit der Bo- fluss mehr auf diese großen Projekte. Die
seine verfassungsmäßigen Rechte gewahrt livianer das in einem Referendum abge- Putschisten werden das Abkommen jetzt
sein. Zurzeit werden Leute verfolgt, nur lehnt hat, das Sie selbst einberufen hatten? zweifellos aufkündigen.
weil sie meiner Regierung angehört haben. Morales: Ich klammere mich nicht an die SPIEGEL: Die Interimspräsidentin Jeanine
Ich fühle mich schuldig, weil meine Minis- Macht, das Verfassungsgericht hat mir die Añez hat angekündigt, Sie wegen Korrup-
ter verfolgt werden, während ich im Aus- Kandidatur ermöglicht. Ich stamme aus tion und Wahlmanipulation vor Gericht

80 DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019


Ausland

zu stellen, wenn Sie zurückkehren. Haben SPIEGEL: Jeanine Añez behauptet auch, sie 16 Jahre lang regiert, behaupte ich doch
Sie Angst? dass der bolivianische Konflikt von außen auch nicht, dass sie autoritär sei.
Morales: Ich bin nicht für die Organisation gesteuert worden sei. Agenten aus Vene- SPIEGEL: Das lässt sich nicht vergleichen.
der Wahl verantwortlich. Ich bin schon un- zuela und Kuba hätten Ihre Bewegung in- Deutschland hat ein parlamentarisches Sys-
ter früheren Regierungen als Mörder und filtriert. Stimmt das? tem, die Regierung kann jederzeit abge-
Drogenhändler angeklagt worden, die Be- Morales: In Wahrheit sind in den vergan- wählt werden – in präsidialen Systemen
weise waren gefälscht, ich weiß also, wie genen Monaten viele Venezolaner ins Land wie Venezuela ist das nicht möglich. Wann
das läuft. Ich habe keine Angst, denn ich gekommen, um gegen mich Wahlkampf zu wollen Sie nach Bolivien zurückkehren?
bin nicht korrupt und habe keinen Wahl- machen. Wir haben mehr als 1000 Vene- Morales: Wenn es möglich wäre, sofort,
betrug begangen. zolaner ausgewiesen, weil sie politisch aktiv ich vermisse meine Heimat sehr. Ich ver-
SPIEGEL: Ihre Gegner bezeichnen Sie als waren. Was die Kubaner betrifft: Ich habe misse meine Arbeit, ich habe jeden Tag
gottlos und vom Teufel besessen. Die neue immer Fidel Castro bewundert. Er hat uns von fünf Uhr morgens bis zehn oder elf
Präsidentin ist mit einer dicken Bibel unter bei der Gesundheitsversorgung geholfen, Uhr abends gearbeitet. Jetzt werden wohl
dem Arm in den Präsidentenpalast einge- kubanische Ärzte haben über 700 000 Bo- zukünftige Generationen diesen Kampf
zogen. Wie erklären Sie diesen religiösen livianer kostenlos am Grauen Star operiert. fortführen müssen.
Fundamentalismus? Das nenne ich Solidarität unter Armen. SPIEGEL: Wie geht es für Sie persönlich
Morales: Bevor wir eine neue Verfassung SPIEGEL: Lateinamerika ist ideologisch so weiter?
beschlossen haben, war der Katholizismus gespalten wie zuletzt während des Kalten Morales: Meine Sicherheit in Bolivien
Staatsreligion. Wir haben durchgesetzt, Krieges, das liegt vor allem an der Krise muss garantiert sein. Wenn sie mir den
dass Bolivien ein laizistisches Land wird. in Venezuela. Prozess machen wollen, nur zu, das stehe
Alle Kirchen haben dieselben Rechte, kei- Morales: Ich bewundere Venezuela, erst ich durch. Aber sie können mich nicht ins
ne Religion wird bevorzugt. Der Glaube Chávez, jetzt Maduro. Maduro hat den In- Gefängnis stecken, weil ich unschuldig bin.
ist etwas Heiliges, er vermittelt Werte, er terventionismus der Amerikaner besiegt SPIEGEL: Herr Morales, wir danken Ihnen
sollte der Versöhnung dienen. Die Putschis- und einen Putschversuch überstanden. Er für dieses Gespräch.
ten missbrauchen ihn, um Hass und Ras- wird auch die Wirtschaftsblockade über-
sismus zu verbreiten. Ich bin katholisch, winden.
aber ich glaube auch an die Pachamama, SPIEGEL: Maduro geht brutal gegen die Video
So lief das Interview
die Mutter Erde, und unsere indigenen Göt- Opposition und Journalisten vor. Halten mit Evo Morales
ter. Jetzt behaupten meine Gegner, dass Sie ihn ernsthaft für ein Vorbild? spiegel.de/sp482019morales
die Pachamama Teufelszeug sei, ich sei der Morales: Wie lange ist denn Frau Merkel oder in der App DER SPIEGEL
Satan in Person. Ich verstehe das nicht. in Deutschland an der Macht? Nur weil

In Afrika bauen Ingenieure für Wasserwirtschaft ihr Geschäft aus, indem sie mit Spezial-Herstellern
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fedex.com/de/possibilities
Ausland

völlig, wenn sie abends kurz zu Hannity

Großer Schwindel reinzappen, wo er derzeit ständig zu Gast


ist. Oder auf Facebook einen Videoschnipsel
von ihm oder seinen Kollegen teilen, in dem
sie es der Gegenseite mal wieder zeigen.
USA Je enger sich die Schlinge um den Hals des Präsidenten zieht, Bei nüchterner Betrachtung der Dinge
desto aggressiver verteidigen ihn die Republikaner. kann es keinen vernünftigen Zweifel mehr
Es geht dabei nicht um die Wahrheit, sondern um den besten Videoclip. daran geben, dass der amerikanische Prä-
sident seine Macht missbraucht hat. Ein
gutes Dutzend Zeugen hat inzwischen aus-

F ast schien es so, als wäre Devin


Nunes zur Einsicht gekommen. Der
republikanische Abgeordnete thron-
te in seinem breiten Ledersessel vor dem
berichten, werden die Amerikaner sie sich
auf andere Art und Weise beschaffen.«
Genau darin besteht Nunes’ Absicht. Er
versucht erst gar nicht ernsthaft, die Vor-
gesagt, dass Trump den neuen ukraini-
schen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj
dazu nötigen wollte, Ermittlungen gegen
den Sohn von Joe Biden aufzunehmen,
Zeugen und seinen Anwälten, über ihm würfe gegen Trump zu entkräften. Es geht seinen schärfsten politischen Rivalen.
waren nur noch der Kronleuchter und ihm darum, ein »Narrativ« zu schaffen; es Aber keine dieser Aussagen ist vollkom-
mächtige Adler aus Stein zu sehen. Nunes ist ein Wort, das er oft benutzt. Das Nar- men widerspruchsfrei. Auch der beste Zeu-
beklagte den »Zirkus«, der nun schon rativ muss nicht unbedingt stimmen. Wich- ge offenbart Gedächtnislücken. Das nut-
in den fünften Tag gehe und nur dazu die- tiger ist, dass es mit der Weltanschauung zen Nunes und seine Leute gnadenlos aus.
ne, den Wählern Sand in die Augen zu seiner Wähler harmoniert. Am Mittwoch eröffnete Gordon Sond-
streuen. Glaubt man Nunes, ist Trump das Opfer land seine Anhörung vor dem Kongress
Er beschrieb eine Partei, die sich heillos von machtgeilen Beamten, die mithilfe will- mit einer Sensation. Sondland ist ein rei-
in Verschwörungstheorien verstrickt habe fähriger Medien einen rechtmäßig gewähl- cher Hotelier aus Oregon, den man schon
und inzwischen vollständig in die Hand ten Präsidenten stürzen wollen. Der Präsi- deshalb schwerlich als Trump-Hasser ein-
radikaler Extremisten gefallen sei. »Die dent sieht das ganz genauso. Ein paar Stun- sortieren kann, weil er im Jahr 2016 dem
sind auf einem Kreuzzug«, warnte Nunes. den nach Nunes’ Tirade gegen Journalisten Wahlsieger Trump eine Million Dollar ge-
»Sie haben längst den Punkt überschritten, erklärt Trump: »Es gibt keine Pressefrei- spendet hat. Sondland ist seit Juni 2018
an dem eine Umkehr noch möglich ist.« heit in diesem Land, im Gegenteil. Wir ha- EU-Botschafter in Brüssel, obwohl er kei-
Ein flüchtiger Zuhörer konnte auf die ben durch und durch korrupte Medien.« ne Erfahrung als Diplomat hatte, und als
Idee kommen, dass Nunes über seine eige- Ein Impeachment-Verfahren ist kein ju- solcher auch für die Ukraine zuständig,
ne Partei sprach. Aber nichts lag Donald ristischer Prozess, es geht um Politik. Am das war Trumps ausdrücklicher Wunsch.
Trumps treuem Parteisoldaten ferner. Ende gewinnt, wer die öffentliche Meinung Der Botschafter schilderte vor dem Aus-
Nunes meinte die Demokraten, die an die- für sich dreht. Es geht darum, die knalligste schuss ausführlich, wie begeistert er von
sem Mittwoch den achten Zeugen ins Re- Botschaft zu setzen, den emotionalsten Selenskyj war, der am 20. Mai als neuer
präsentantenhaus geladen hatten, um ein ukrainischer Präsident vereidigt wurde.
Amtsenthebungsverfahren gegen den Prä- Sondland flog eigens zur Amtseinführung
sidenten vorzubereiten. Die Medien in den nach Kiew. Drei Tage später berichtete er
Devin Nunes ist ein ehemaliger Milch- Vereinigten Staaten sind Trump von der Reise und dem jungen re-
bauer aus Tulare County, einem ärmlichen formfreudigen Politiker in Kiew.
Winkel Kaliforniens, der fest in republika- genauso gespalten Sondland drängte Trump, Selenskyj ins
nischer Hand ist. Er liebt Anzüge mit brei- wie das Land selbst. Weiße Haus einzuladen. Aber Trump
ten Streifen und formt sein Haar mit Gel. sprach nur schlecht über die Ukraine, wie-
Wahrscheinlich wäre er nie einem breite- derholte eine Verschwörungstheorie, wo-
ren Publikum aufgefallen, hätte er nicht Dreh. Die Medien in den USA sind genau- nach die Ukraine Hillary Clinton im Wahl-
diese einzigartige Gabe, mit besonders so gespalten wie das Land selbst. Auf CNN kampf 2016 geholfen habe, und verwies
schrillen Auftritten den Präsidenten zu ver- und MSNBC bestätigen sich die Kommen- ihn auf Rudy Giuliani. »Talk with Rudy«,
teidigen. Nur Katzenvideos verbreiten sich tatoren jeden Tag aufs Neue in ihrer Mei- sprich mit Rudy, soll der Präsident gesagt
im Netz noch schneller als die Clips des nung, dass Trump nun endgültig nicht haben. Trumps persönlicher Anwalt, so
Abgeordneten Nunes. mehr zu halten sei. Dagegen hämmert verstand es Sondland, war gleichzeitig
Nunes ist das oberste republikanische Mit- Sean Hannity auf Fox News seinen Zu- auch Trumps persönlicher Bevollmächtig-
glied im Geheimdienstausschuss, der im Mo- schauern ein, dass ein wild gewordener lin- ter für die Ukraine.
ment die Untersuchungen gegen Trump ker Medienmob dabei sei, den erfolgreichs- Für Sondland war bald klar, dass Giu-
führt. Er sitzt direkt neben Adam Schiff, dem ten Präsidenten in der Geschichte der USA liani hoffte, mithilfe der neuen Kiewer Re-
Chefermittler der Demokraten, die im Aus- wegzuputschen. Es ist alles laut und schrill, gierung Trumps Wiederwahl zu sichern.
schuss die Mehrheit haben. Wenn Nunes re- und die einzige Gemeinsamkeit besteht da- Sie sollte das nötige Material liefern, um
det, ist Schiffs Gesicht so starr, als hätte er rin, dass sich alles um Trump dreht. den Demokraten zu schaden. Es dauerte
eine Überdosis Botox abbekommen. In den Siebzigerjahren stürzte Richard eine Weile, dann verstand Sondland, dass
Am Dienstag wandte sich Nunes direkt Nixon, weil die Nation am Fernsehapparat es vor allem um Joe Biden ging. Dessen
»an das amerikanische Volk«, wie er sagte. über Monate die Senatsanhörungen zur Sohn hatte sich im Mai 2014 von dem win-
Er klang, als wollte er eine Regierungs- Watergate-Affäre verfolgt hatte und sich digen Besitzer des Gaskonzerns Burisma
erklärung abgeben. Er könne die Bürger so ein eigenes Bild der Affäre machte. Die anstellen lassen. Zu einem üppigen Gehalt.
nur davor warnen, den »Mainstream-Me- Republikaner haben daraus gelernt. Im Impeachment-Verfahren gegen
dien« zu glauben, sagte Nunes. Diese seien Nunes wird nicht müde zu betonen, dass Trump geht es in erster Linie um die Frage,
fest in der Hand der Demokraten. »Aber das Impeachment-Verfahren ein großer ob es ein Quidproquo gab: Hat der Präsi-
die Amerikaner haben gelernt, Fake News Schwindel mit miserablen Einschaltquoten dent ein Treffen im Weißen Haus und auch
zu erkennen. Und wenn die Mainstream- sei. Er will nicht, dass sich die Bürger ein eine millionenschwere Militärhilfe davon
Medien es nicht schaffen, die Fakten zu vollständiges Bild verschaffen. Es reicht ihm abhängig gemacht, dass Selenskyj ein Ver-

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ALEX BRANDON / AP

Republikaner im Geheimdienstausschuss des Kongresses*: »So was habe ich ja noch nie erlebt!«

fahren gegen Bidens Sohn einleitet? Die Ringer aus Ohio, brüllte Sondland aus vol- nicht akzeptieren, dass Trump sich den
Republikaner und Trump bestreiten das. lem Hals an: »So was habe ich ja noch nie Staat persönlich untertan macht. Dank er-
Am Mittwoch sagte Sondland, es habe erlebt! Was wollen Sie eigentlich?« Sond- halten sie dafür nur von den Demokraten.
sehr wohl ein Quidproquo gegeben. »Und land saß da wie ein Schuljunge. Kurz da- Am Montag wurde Außenminister Mike
jeder wusste davon.« rauf twitterte der »Trump War Room« die Pompeo wiederholt gefragt, warum er sich
Der Satz war nichts Geringeres als eine Szene durchs Netz. nicht vor Marie Yovanovitch gestellt habe.
Bombe. Selbst Vizepräsident Mike Pence Noch scheint diese Strategie aufzuge- Pompeo druckste nur feige herum.
und Außenminister Mike Pompeo seien hen. Kein einziger republikanischer Sena- Die einstige US-Botschafterin für die
im Bilde gewesen. Es war ein rarer Mo- tor hat bisher erklärt, dass er Trump fallen Ukraine wurde von Trump gefeuert, nach-
ment in der Trump-Präsidentschaft, die lassen könnte. Zu groß ist die Angst, von dem Giuliani kübelweise Schmutz über sie
davon gekennzeichnet ist, dass alle rund der aufgehetzten Basis zur Rechenschaft ausgekippt hatte. Sie wollte sich nicht da-
um den Präsidenten eine Omertà befolgen, gezogen zu werden. Um Trump zu stürzen, ran beteiligen, für Trumps Wiederwahl zu
ein Schweigegelübde. Der Millionär Sond- müssten im Senat mindestens 20 Republi- arbeiten. Als sie am Freitag vergangener
land allerdings scheint keine Lust zu ver- kaner gegen ihren Präsidenten stimmen. Woche öffentlich aussagte, attackierte
spüren, für Trump wegen Meineid ins Ge- Danach sieht es im Moment nicht aus. Trump sie während ihres Auftritts per
fängnis zu wandern. Die langfristigen Folgen für die Partei Tweet – prompt warfen die Demokraten
Für einen kurzen Moment sah es so aus, aber könnten verheerend sein. Die mode- dem Präsidenten vor, Zeugen einzuschüch-
als wäre Trump überführt. Aber dann raten mittelständischen weißen Wähler in tern. Am Mittwoch wurde der Präsident
berichtete Sondland von einem Telefon- den Vorstädten, auf die republikanische nun gefragt, was er von Sondland halte,
gespräch mit Trump Anfang September. Präsidentschaftskandidaten einst angewie- seinem Mann im Brüssel: »Ich kenne ihn
Sondland verlangte eine Erklärung, warum sen waren, wenden sich von der Partei zu- kaum«, antwortete Trump.
in der Ukraine-Politik nichts vorangehe. nehmend ab. Die Republikaner haben Er stellte sich auf den Rasen vor dem
Trump wimmelte Sondland demnach mit einen Pakt mit einem Präsidenten geschlos- Weißen Haus und las von einem mit Groß-
ein paar dürren Sätzen ab. Aber er soll auch sen, der keine Loyalitäten kennt. Die Re- buchstaben bekritzelten Zettel etwas ab,
gesagt haben: »Ich will kein Quidproquo.« publikaner waren lange die Partei des Mi- das klang wie ein Song von Whitney Hous-
Das klingt nach einer Schutzbehaup- litärs und des diplomatischen Corps. Nun ton: »I want nothing. I want nothing. I
tung. Zu diesem Zeitpunkt hatten schon hat Trump im Sicherheitsapparat eine bei- want no quid pro quo«, rief er. Was das
mehrere Diplomaten hinterlegt, dass sie spiellose Revolte provoziert. Diplomaten genau heißen sollte, war nicht ganz klar.
schwere Bedenken gegen Trumps Versuch und Offiziere riskieren lieber ihre Karriere, Aber der Clip verbreitete sich wieder ein-
hegten, die ukrainische Regierung für den als weiter den Mund zu halten. Sie wollen mal so schnell wie ein Katzenvideo.
amerikanischen Wahlkampf einzuspan- René Pfister
nen. Aber für die Republikaner genügt die- * Sitzend: Devin Nunes, Steve Castor, Jim Jordan am Mail: rene.pfister@spiegel.de
ses Soundbite. Jim Jordan, ein ehemaliger Mittwoch.

DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019 83


Ausland

EPA-EFE / REX
Protestierende in Teheran: »Einem Kommilitonen in den Kopf geschossen«

»Hat die Welt uns vergessen?«


Iran Armut, Not und Aussichtslosigkeit treiben die Menschen auf die Straße. Augenzeugen
berichten von den dramatischen Ereignissen in den Städten des Landes.

In Dutzenden Städten Irans demonstrieren Lehrerin, 37, Teheran: »Die Nachricht, eine wichtige Frage an unsere Staatsfüh-
seit dem vergangenen Wochenende Tau- dass die Benzinpreise verdoppelt würden, rung: Ihr seid so stolz auf die vielen Rake-
sende Menschen gegen die Regierung und von 1500 Tuman auf jetzt 3000 Tuman ten, die ihr gebaut habt gegen Israel. Spart
den Revolutionsführer Ali Khamenei. Die pro Liter (rund 60 Cent –Red.), war wie ihr da eigentlich auch am Benzin?« Mein
Sicherheitskräfte griffen gewaltsam ein, es ein Knall. Am Anfang gab es einen stillen Bruder ist 27 Jahre alt. Er studiert Jura.
soll mehr als hundert Tote gegeben haben, Protest vor dem Universitätsgebäude. Als Das Netz war tot. Die Telefone funktio-
sagt die Menschenrechtsorganisation Am- Gymnasiallehrerin promoviere ich neben- nierten nicht. Wir klapperten die Polizei-
nesty International. Der Auslöser der Pro- bei in Architektur. Ich stand zufällig dabei, stationen ab. Die Revolutionswächter hat-
teste war eine Ankündigung in der Nacht als Sicherheitskräfte in Zivil einen Teil der ten ihn verhaftet. Wir verhandelten so lan-
zum Freitag vergangener Woche: Das Ben- Demonstranten einkreisten und abführten. ge, bis mein Bruder endlich freikam. Er
zin wird rationiert und sein Preis drastisch Ich wollte schnell nach Hause. Revolu- war fix und fertig, sie hatten ihn terrorisiert
erhöht, teilweise sogar verdreifacht. Wegen tionswächter hielten mich auf. Sie be- und gedemütigt. Er schämt sich, zu sagen,
der US-Sanktionen kann Iran sein Öl und schimpften mich als »Verräterin«, als was ihm in der Haft wirklich passiert ist.
seine Waren kaum mehr exportieren, die »Schlampe«, ich sei keine echte Muslimin. Wir wissen jetzt, dass viele junge Demons-
Folge ist eine Finanz- und Wirtschaftskrise. Sie verhafteten mich ebenfalls. Die Poli- tranten getötet wurden. Einfach so, er-
Zum Kalkül der US-Regierung gehört es, zeistation war vollkommen überfüllt. Sie schossen, auf der Straße.«
Proteste zu provozieren. Sie hofft, durch beleidigten mich, schüchterten mich ein.
eine Gegenrevolution das Regime zu Fall Nach ein paar Stunden durfte ich gehen. Studentin der islamischen Theologie,
zu bringen. Der SPIEGEL hat mit Augen- Ich eilte nach Hause. Mein Bruder war 56, Schiras: »Als ich diese Woche aus Te-
zeugen gesprochen. Die Namen werden nicht da. Seit 24 Stunden hatte niemand heran in meine Heimatstadt Schiras zu-
zum Schutz der Interviewten nicht ge- von ihm gehört. Ein paar Tage zuvor hatte rückkam, waren die Straßen im Norden
nannt, sie sind der Redaktion aber bekannt. er auf Instagram geschrieben: »Ich habe voller Menschen. Wir fuhren durch den

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Stadtteil Maliabad. Dort gibt es zwei Tank- rin, ich bin Webdesigner, und mein Bruder sich nach vorn zu bewegen, noch zurück.
stellen. Sie brannten. Der Fahrer sagte, die ist bei der Stadt beschäftigt. Durch die Dieses Land hat keinen Plan für die Zu-
Leute protestierten gegen die Benzinprei- hohe Inflation haben wir trotzdem nicht kunft. Die wirtschaftliche Lage ist nicht
se. Sie hätten die Tankstellen angezündet. genug Geld, um beispielsweise täglich mehr auszuhalten. Es ist vollkommen un-
Ich bin sehr fromm und habe spät ein Obst zu kaufen. Wir fahren nie in den Ur- klar, was noch passiert. Vielleicht gehen
Studium der islamischen Theologie begon- laub. Wir laden kaum noch Freunde ein. sich die Iraner demnächst gegenseitig an
nen. Ich vertraue der Weisheit unseres Fleisch leisten wir uns nur noch einmal die den Hals?
geistlichen Führers Khamenei. Die Nähe Woche. Die jüngste Preiserhöhung war Meine Frau versucht gerade, ein Studen-
zu Gott erfüllt mich. Die Demonstranten einfach zu viel. Nach jedem Aufstand wird tenvisum für Kanada zu bekommen. Ich
sind die Feinde unserer Republik. Sie wer- die Situation noch schlechter. Ich würde will dieses Land nur noch verlassen.«
den von unseren Gegnern, den Zionisten, gern eine Familie gründen. Aber das kann
manipuliert. Sie unterstützen die imperia- ich mir nicht leisten. Niemand hilft uns. Geschäftsmann, 37, Teheran: »Wir sind
listischen Ideen von US-Präsident Donald Hat die Welt uns vergessen?« ein Familienunternehmen und verkaufen
Trump. Die Amerikaner wollen den Islam technisches Equipment. Das lief ganz gut,
zerstören. Stadtführer, 30, Schiras: »Unser Büro aber seit die Sanktionen wieder voll in
Ich denke, in Wirklichkeit gibt es in Iran liegt direkt an der großen Sand-Straße, wo Kraft sind, ist alles wieder auf null. Wir le-
gar keinen Mangel an Benzin. Das ist alles die Proteste stattfanden. Viele Touristen, ben von unseren Ersparnissen. Die Kosten
Propaganda. Präsident Hassan Rohani will die sich für diese Tage angesagt hatten, aus steigen permanent, und die Einkommen
Unruhe schüren in der Islamischen Repu- Europa, aus Schweden, Deutschland, Eng- sinken. Dieser wirtschaftliche Druck auf
blik, um den Amerikanern zu gefallen. Er land, haben ihre Reise wegen der Unruhen das Volk hat jetzt zu dieser Gegenreaktion
ist eine Marionette des Imperialismus. Er storniert. Für uns bedeutet das, dass wir geführt.
muss vom Glauben abgekommen sein. wieder nichts verdienen. In Teheran waren es die Ärmeren aus
Ich wohne in Farhangschahr, einer gut- Meine Cousine Rubina rief an. Sie war dem Süden, die auf die Straße gingen. Sie
bürgerlichen Gegend. Auch dort hatten aufgeregt, sie weinte und sagte, sie sei vor setzten Banken in Brand, als Statement
sich die Staatsfeinde versammelt. Die Si- der Uni in Maliabad in eine Demonstra- gegen die Inflation. In der nahe gelegenen
cherheitskräfte drängten die Demonstran- tion geraten. Dort habe sie gesehen, wie Stadt Karadsch produzierten die Men-
ten zurück. Sie sagten den Protestieren- einem Kommilitonen in den Kopf geschos- schen absichtlich Staus auf der Autobahn.
den, sie sollten nach Hause gehen. Dann sen wurde. Er sei zu Boden gefallen, alle Die Wut ist unbändig. Aber die Revolu-
fielen Schüsse. Es müssen Agenten Israels hätten geschrien. Rubina glaubt, dass er tionswächter waren überall sofort zur
und Amerikas gewesen sein, die versuch- schon nicht mehr lebte, als der Kranken- Stelle. Sie gingen mit aller Härte gegen die
ten, Demonstranten weiter gegen die Re- wagen kam und ihn abtrans- Demonstranten vor.
gierung aufzuwiegeln. portierte. Die Revolutions- Das Misstrauen in Iran gegen
Wir werden von außen mit falschen In- wächter mischen sich ein- Präsident Hassan Rohani
formationen bombardiert. Deshalb ist es fach unter die Protestieren- Teheran wächst. Die Regierung ist
gut, wenn die Regierung das Internet ab- den. Deshalb wissen wir chaotisch. Das Volk leidet ex-
stellt. Dann können die USA und Israel nicht mehr, wer von den De- IRAN trem darunter, dass kaum
die Menschen hier nicht mehr falsch und monstranten zu uns gehört ein Land mit Iran zusam-
negativ beeinflussen.« und wer zu denen. Schiras menarbeiten will. So kann
Am Dienstag verabredeten sich es nicht weitergehen.
Webdesigner, 32, Schiras: »Anfangs lie- meine Cousine und ich im Zentrum, Buschehr Wir haben inzwischen
fen wir Demonstranten nur schweigend an der Kreuzung am Kino Saadi. De- das Gefühl, hier völlig
die Straße hinunter. Es wurden immer monstranten hatten dort gleich Banken in abgehängt zu sein. Ob sie
mehr. Einige riefen dann Parolen wie: Brand gesteckt. Sie wollten ein Zeichen uns verfolgen oder töten, das kriegt doch
›Nicht Libanon, nicht Gaza, ich opfere setzen gegen die Inflation. Überall standen außerhalb niemand mehr mit.«
mich nur für mein Vaterland Iran!‹ Ge- Polizisten und Geheimdienstleute. Es war
meint war, dass Iran sich nicht in die Kon- chaotisch. Wir hielten uns im Hintergrund, Kunstpädagogin, 43, Schiras: »Seit einer
flikte der arabischen Länder einmischen weil wir fürchteten, dass wieder geschos- Woche erlaube ich meinem Sohn nicht
sollte. Eine andere Parole war: ›Unser sen würde. mehr, in die Schule zu gehen. Wir haben
Feind ist hier, unser Feind ist nicht Ameri- Sie blockieren das Internet, damit nichts das Haus seit Beginn der Unruhen kaum
ka!‹ Schüsse fielen. Sie wollten uns Angst davon nach außen dringt. Sie schalten uns verlassen. Die Stimmung draußen ist auf-
machen. Sie setzten Tränengas ein. Zivil- ab. Wieder wird vergebens Blut vergossen. geheizt und beruhigt sich nur langsam.
polizisten, die gerade noch in der Masse Wir brauchen diese Verbindung nach drau- Banken und andere Institutionen in Tehe-
mitgelaufen waren, als gehörten sie zu den ßen. Ruft an! Kommt in unser Land! Ver- ran sind ausgebrannt und wurden zerstört.
Demonstranten, begannen plötzlich, Pro- gesst uns nicht.« Geblieben ist ein Gefühl großer Unsicher-
testierende zu verhaften. Die Menschen heit. Unser Vertrauen in diese Regierung
liefen in Panik auseinander. Architekt, 28, Buschehr: »Die Preiserhö- ist aufgebraucht. Betrug und Korruption
Wir wollten eigentlich nur, dass jemand hungen haben die Menschen sehr aufge- machen sich überall breit. So kann es nicht
unsere Probleme anhört: der Bürgermeis- bracht. Die Demonstranten waren norma- weitergehen. Ich kann hier nichts Gutes
ter von Schiras zum Beispiel oder ein le, meist ärmere Leute. Sie machten kei- mehr erkennen. Ich und mein Mann ver-
Imam. Aber niemand kam. Die Realität nen Hehl daraus, wie satt sie die Regierung dienen beide, trotzdem reicht es hinten
hier ist, dass mit den Benzinpreisen auch haben. Sie wollen einen Regimewechsel. und vorne nicht. Wir sind diesen Kampf
alle anderen Preise raufgehen: Brot, Eier, Überall standen Polizei und Revolu- so leid. Ich wünschte, eine Zeitreise würde
Fleisch, Miete. Viele verlieren gerade auch tionswächter. Sie zielten mit heißem mich zurückführen in die Tage vor der Re-
noch ihren Job. Wasser auf die Demonstranten, setzten volution. Alles muss sich ändern. Ich wür-
Wir sind vier Personen in unserer Fami- Tränengas ein. Ich habe es selbst gesehen. de gern in einem anderen Land leben.«
lie. Wir leben alle in derselben Wohnung. Es war unheimlich zu beobachten, dass Aufgezeichnet von Susanne Koelbl
Vater arbeitet als Maler, Mutter als Lehre- sie den Protestierenden weder erlaubten,

DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019 85


Ausland

»Dieses perfide System


kommt einem kulturellen
Genozid gleich«
SPIEGEL-Gespräch Der deutsche Anthropologe Adrian Zenz hat aufgedeckt, wie Peking in
einem Lagersystem mehr als eine Million muslimische Uiguren interniert. Er kritisiert
die Indifferenz des Westens und sieht die Verantwortung direkt bei Staatschef Xi Jinping.

C
hinas Diplomaten hüten sich, sei- Aber ich habe öffentlich zugängliche In- muss für Xi Konsequenzen haben, auch
nen Namen öffentlich auszuspre- formationen wie Stellenausschreibungen, aus einer historischen Perspektive.
chen, obwohl viele von ihnen bei- Bau- und Budgetpläne ausgewertet. Wenn SPIEGEL: Diese Dokumente gehen offen-
nahe täglich mit ihm konfrontiert man alles zusammennimmt, liegt diese sichtlich auf eine Quelle im Apparat zu-
werden: Der deutsche Anthropologe Adri- Zahl nahe an der Wahrheit. rück. Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?
an Zenz, 45, hat fast im Alleingang eine SPIEGEL: Die »New York Times« hat so- Zenz: Der Beamte, der das Material wei-
Debatte ausgelöst, die Chinas Führung eben weitere interne Papiere veröffent- tergab, wollte damit bezwecken, dass Xi
stark zusetzt. Er hat die Geschichte der licht, die viele Details Ihrer Forschungen und andere in der KP sich ihrer Verant-
Unterdrückung der muslimischen Minder- bestätigen. wortung nicht entziehen können. Das
heit der Uiguren erforscht und das System Zenz: Dieser Datensatz ist außerordent- zeigt, dass es in der Regierung stärkeren
von Internierungs- und Umerziehungs- lich wichtig. Er zeigt, dass Chinas Staats- Widerstand gegen diese Menschenrechts-
lagern aufgedeckt, das Peking im Westen chef Xi Jinping die Regierung im Autono- verletzungen gibt, als bislang bekannt war.
des Landes errichtet hat. Über eine Million miegebiet Xinjiang dazu aufgefordert hat, Dieser Beamte ist ein extrem hohes persön-
Muslime sitzen laut Zenz in diesen Lagern noch viel härter durchzugreifen als zuvor. liches Risiko eingegangen, was wiederum
fest, ohne Verfahren, ohne Gerichtsurteile. Möglicherweise geht die Internierungs- darauf hindeutet, dass er die Situation als
Was Zenz’ Forschung für Peking so un- kampagne der vergangenen Jahre direkt extrem ernst beurteilt.
angenehm macht: Er arbeitet mit chinesi- auf ihn zurück. Zumindest aber hat er sie SPIEGEL: Chinas Regierung hatte zuletzt
schen Regierungsdokumenten und teilt die angestoßen und genehmigt. Wir waren behauptet, die Zahl der Festgehaltenen
Ergebnisse mit internationalen Organisa- auch vorher davon ausgegangen, dass Xi gehe aktuell zurück. Stimmt das?
tionen, den Regierungen in Kanada und für Pekings Xinjiang-Politik Verantwor- Zenz: Peking spricht offiziell ja nur von
den USA sowie den Vereinten Nationen. tung trägt, doch der Inhalt dieser Papiere sogenannten Berufsbildungslagern. Inzwi-
»Das erklärt vermutlich«, sagt er, »warum schen gibt es eine Tendenz, die »härteren
mich Chinas Regierung bis heute nie direkt Fälle« per Gerichtsurteil aus Internierungs-
kritisiert hat oder auf meine Forschung lagern in Haftanstalten und die weniger
eingegangen ist. Sie haben meinen Quel- harten in Berufsbildungslager und damit
len im Kern nichts entgegenzusetzen.« in die Zwangsarbeit zu schleusen. Wenn
Zenz hat über Chinas Minderheiten- die Regierung nun sagt, dass viele »entlas-
politik gegenüber den Tibetern promo- sen« worden seien, dann kann das auch
viert, zuletzt hat er an der Akademie für heißen, dass der Insasse eines Internie-
Weltmission, einer evangelikalen Bildungs- rungslagers nach wie vor in derselben Zel-
einrichtung bei Stuttgart, unterrichtet. Er le sitzt wie zuvor, aber dass er statt in einen
ist im Sommer in die USA gezogen. Unterrichtsraum eben in eine Fabrik geht.
SPIEGEL: Was bezweckt die chinesische
SPIEGEL: Herr Zenz, Ihren Erkenntnissen Regierung mit diesem Lagersystem?
zufolge werden bis zu 1,5 Millionen Men- Zenz: Es geht nicht nur um das Lagersys-
schen in chinesischen Internierungs- und tem. Peking hat einen langfristigen Plan,
Umerziehungslagern festgehalten, die eine ganze Gesellschaft in Unfreiheit heran-
meisten von ihnen Angehörige der Uigu- zuziehen. Die Menschen im Autonomie-
SONJA OCH / DER SPIEGEL

ren. Wie kommen Sie zu dieser Zahl? gebiet Xinjiang, vor allem die ethnischen
Zenz: Chinesische Regierungsdokumente Uiguren und Kasachen, werden von einem
legen nahe, dass eine Million die Unter- System der sozialen Kontrolle erfasst, das
grenze ist. Streng wissenschaftlich betrach- von der Zwangsausbildung und Zwangs-
tet ist diese Zahl spekulativ, weil es keine arbeit in den Lagern tief in das Leben der
unabhängig überprüfbaren Statistiken gibt. Menschen, bis in ihre Dörfer, ja in die
Forscher Zenz in Stuttgart Haushalte hineinwirkt. Selbst wenn je-
Das Gespräch führte Redakteur Bernhard Zand. »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« mand aus einem Lager entlassen wird, ist

86 DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019


GILLES SABRIE / NYT / REDUX / LAIF

Überwachungskameras in Kaschgar: »Peking hat den Plan, eine ganze Gesellschaft in Unfreiheit heranzuziehen«

das nur die Entlassung in die Ohnmacht in und aus Xinjiang heraus verübt worden überleben wollen, brauchen wir die Un-
eines Freiluftgefängnisses. Alle, die einmal waren. abhängigkeit.
im Lager saßen, wissen, dass ihre Familien Zenz: Die Gewaltbereitschaft ist nach SPIEGEL: Wiederholt sich in China ein
auf Generationen hinaus nicht mehr frei 2009 deutlich angestiegen, und man muss Muster der Radikalisierung, das man aus
sein werden, dass sie als Eltern mit ihren anerkennen, dass Peking vor allem nach dem Nahen Osten oder aus Tschetsche-
Kindern nicht frei sprechen dürfen, weil den Anschlägen auf dem Platz des Himm- nien kennt?
die alles ihren Lehrern erzählen müssen. lischen Friedens und in Kunming auf den Zenz: Diese Gefahr besteht. Menschen,
Es ist ein perfides, allumfassendes Konzept Plan gerufen wurde. die schon vorher zur Radikalisierung neig-
der sozialen Kontrolle, das SPIEGEL: 2013 raste in Peking ein ten, radikalisieren sich jetzt erst recht. Und
einem kulturellen Genozid Uigurisches Autonomes Auto in eine Menschenmenge; bei vielen anderen hat die Maßlosigkeit
Gebiet Xinjiang
gleichkommt. 2014 töteten in Kunming Be- der Repression jedes Vertrauen in den
SPIEGEL: Die Regierung sagt, waffnete 31 Menschen und Staat erschüttert. Ihnen scheint nur die be-
die soziale Kontrolle sei ein verwundeten 143 weitere. dingungslose Hinwendung zu ihrer eige-
legitimes Mittel im Kampf ge- Peking Beide Taten werden militanten nen Kultur und Religion zu bleiben.
gen den Terrorismus. Uiguren zugeschrieben. SPIEGEL: Bislang ist es kaum einem Staat
CHINA
Zenz: Es ist von Uiguren Ge- Zenz: Die chinesische Bevöl- gelungen, religiös motivierten Widerstand
walt ausgegangen. Menschen kerung erwartet, dass ihre allein mit repressiven Mitteln zu brechen.
sind getötet worden, auf brutale Weise. Regierung sie vor solchen Atta- Bislang hatte aber auch kein Staat die Mit-
Unter Randgruppen hat eine islamisti- cken schützt. Doch der Staat hat tel des chinesischen Überwachungsstaats.
sche Radikalisierung stattgefunden. Aber so hart zurückgeschlagen, dass inzwi- Ist es denkbar, dass China den Uiguren
wenn in Deutschland zum Beispiel ein schen viele Menschen brutalisiert wurden, ihre Kultur und ihre Religion austreibt?
muslimischer Mann mit einem Beil auf die nicht nur nichts getan haben, sondern Zenz: Theoretisch ist das möglich, aber es
Menschen losgeht, kann der Staat nicht Beispiele gelungener Integration waren. gibt zwei praktische Probleme. Das eine
alle Muslime kriminalisieren, sie in Lager Wir sprechen hier von Uiguren, die flie- sind die Hunderttausende, die bereits
stecken und Eltern von ihren Kindern tren- ßend Chinesisch sprechen, ja sich teil- durch die Lagerhaft gegangen und in ihrer
nen. Wenn er das machte, hätten wir einen weise als Chinesen fühlten. Viele Min- Kernidentität traumatisiert worden sind.
Polizeistaat. Das würde der Radikalisie- derheiten, die nie nach Unabhängigkeit Diese Menschen können ihr Trauma ja
rung massiv Vorschub leisten. strebten, sind vom Ausmaß und von den nicht einmal ausdrücken. Denn man be-
SPIEGEL: Chinas Regierung argumentiert Schrecken des Lagersystems so scho- spitzelt sie, man hört sie ab, man liest bei
mit mehreren schweren Anschlägen, die ckiert, dass sie heute sagen: Wenn wir Polizeikontrollen ihre Handys aus. Sie

87
Zedong dramatische Fehler gemacht wur-
den, drakonisch regiert wurde und ganze
Dörfer gezwungen wurden, Schweine-
fleisch zu essen. Der Kommunismus ver-
folgt in China, aber auch grundsätzlich,
das System der Umerziehung durch Pro-
paganda. Und wenn das nicht funktioniert,
dann greift er eben zu noch härteren Mit-
teln wie Umerziehungslagern. Das kom-
munistische Regime kann seine Ziele ei-
gentlich gar nicht anders als durch Umer-
ziehung durchsetzen.
SPIEGEL: Die Entwicklung in Xinjiang ist
also eine Folge der kommunistischen Ideo-
logie?
Zenz: Richtig. Die Bedeutung der Ideologie

GETTY IMAGES / AFP


wurde lange unterschätzt, weshalb auch vie-
le von den Maßnahmen des heutigen Re-
gimes überrascht sind. Ich bin davon nicht
überrascht, ich halte diese Maßnahmen für
Uiguren vor einer Moschee in Hotan: »Menschen radikalisieren sich jetzt erst recht« ideologisch konsequent. Ideologie mag
nicht der grundlegende Antrieb des Men-
schen sein, das sind eher Furcht und Selbst-
erhalt. Im Innersten wird die Kommunisti-
sche Partei von der Furcht vor dem Macht-
verlust getrieben. Aber die Ideologie erklärt,
wie dieser Selbsterhalt durchgesetzt wird,
nämlich mit Umerziehung und Unterdrü-
ckung, mit Atheismus und Zwangsarbeit.
SPIEGEL: Sie haben Chinas Vorgehen in
Xinjiang als »Kulturrevolution 2.0« be-
zeichnet. Worauf stützen Sie diesen Ver-
gleich mit Maos Massenkampagne der
Sechzigerjahre?
Zenz: Es ist derselbe Versuch einer gewalt-
samen ideologischen Gleichschaltung. Auf-
grund der technischen Möglichkeiten wird
er heute viel systematischer und raffinier-
ter durchgeführt, aber die Methoden glei-
chen sich: Menschen werden auf den ge-
ringsten Verdacht hin festgenommen, und
es werden pauschal riesige Menschenmas-
sen kriminalisiert, nicht nur einzelne, son-
AFP

dern ein ganzer Teil der Bevölkerung.


Mutmaßliches Umerziehungslager bei Hotan: »Gewaltsame ideologische Gleichschaltung« SPIEGEL: Aber die Kulturrevolution hatte
etwas Aufrührerisches, es war eine Bewe-
gung gegen das Establishment der Partei,
haben keinen Ausweg, und das macht sie Zenz: Die Chinesen haben schon andere gegen die staatlichen Autoritäten. In Xin-
potenziell zu lebenden Zeitbomben. Völker assimiliert, ironischerweise manch- jiang ist es der Staat selbst, der seinen Wil-
SPIEGEL: Und das zweite Problem? mal auch ihre eigenen Besatzer. Doch die- len durchsetzt.
Zenz: Das ist die nächste Generation. Seit se Assimilierung lief nach einem anderen Zenz: Ja, aber der Effekt ist derselbe. Auch
2017 werden viele uigurische Kinder in Muster ab als heute in Xinjiang: Sie wurde in der Kulturrevolution wurde ohne jedes
staatlichen Internaten erzogen. Dort müs- nicht von oben oktroyiert, sondern die At- Gerichtsverfahren geurteilt. Wer in Xin-
sen sie Chinesisch sprechen. Religiöse traktivität der chinesischen Kultur und jiang nur irgendetwas mit Religion zu tun
Bräuche dürfen nicht ausgeübt werden. Sprache zog andere Völker an. So war es hat, jeder, auf dessen Handy nur ein einzi-
Viele sind von ihren Eltern getrennt. selbst an den Rändern chinesischer Sied- ger Koranvers gefunden wird, wird ohne
Diese Kinder spüren natürlich, dass sie lungsgebiete, wo sich Tibeter über Gene- Verfahren einer brutalen Umerziehung un-
anders sind. Das führt zu einer unver- rationen freiwillig assimilierten, weil das terzogen. Und wie in der Kulturrevolution
meidlichen Frage: Wenn ich nicht genau Vorteile hatte. Noch vor über zehn Jahren, geht es auch heute um die Schaffung einer
wie die Chinesen bin, wer bin ich dann? als ich dort forschte, sagte mancher prag- neuen Gesellschaft.
Und die Frage »Wer bin ich?« ist die matische Tibeter: Was hilft es mir, wenn SPIEGEL: Unterscheidet sich China in die-
stärkste Frage des Menschen. Früher oder ich Tibetisch kann, aber arbeitslos bin? ser Hinsicht von anderen Staaten, die Min-
später werden sich viele diese Frage stel- SPIEGEL: Warum funktioniert das in Xin- derheiten diskriminieren – die Türkei etwa
len und darauf stoßen, was ihnen wider- jiang nicht? die Kurden, das sunnitische Saudi-Arabien
fahren ist. Zenz: Weil der Ansatz des modernen Chi- die Schiiten?
SPIEGEL: Und deshalb wird die Assimilie- na im Umgang mit Xinjiang plump und Zenz: Grundsätzlich nicht. Aber das chi-
rung der Uiguren scheitern? undifferenziert war, weil schon seit Mao nesische Regime verfolgt eine noch stär-

88 DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019


2001
SCHNELLE HILFE.
2001 führten wir mit Volvo On Call schon
frühzeitig ein SOS-System ein. So konnte im
Notfall erstmals schneller geholfen werden –
17 Jahre bevor diese Notruffunktion in der EU
für alle Hersteller verpflichtend wurde.

2020
SCHNELLER SICHER.
Ab 2020 sichert Volvo alle Fahrzeuge bei 180 km/h ab.
Mit diesem Schritt bleiben wir unserer Vorreiterrolle treu und
machen die Straßen sicherer für alle Verkehrsteilnehmer.

MEHR AUF VOLVOCARS.DE/180

SCHNELLER SICHER. VOLVO FÄHRT 180.


Das Wissen kere Kolonialisierungstendenz. China ver-
steht sich schon traditionell als das »Reich
des Individuums kritisch debattieren. Eine
solche Debatte gibt es in China nicht, dort

der Besten der Mitte«, als eine Hochkultur, welche


die Minderheiten in ihrem Umkreis nach
und nach assimiliert. Von diesem Verständ-
hat der Staat ein Macht-und-Daten-Mono-
pol. Im Westen besteht eine Art Oligopol:
Private Firmen wie Google oder Facebook
Jetzt im Handel nis ist auch die Kommunistische Partei ge-
prägt, und diesen Gedanken nutzt sie aus.
verfügen über eine Fülle an Daten – aber
der Staat kann nicht uneingeschränkt auf
Die Neigung, auf andere Völker herabzu- sie zugreifen, jedenfalls nicht, ohne kriti-
blicken – die es natürlich auch in anderen sche Debatten auszulösen, wie das Beispiel
Ländern gibt –, ist in China sehr ausge- Snowden zeigt. Diese Debatten haben Fol-
prägt. In der Kombination mit Pekings gen: In San Francisco zum Beispiel wurde
wirtschaftlicher und technologischer Stär- der Einsatz von Gesichtserkennung durch
ke ist dieser chinesische Ethnozentrismus Behörden im Frühjahr verboten.
aber zunehmend problematisch, auch über SPIEGEL: Sie haben jahrelang in Deutsch-
Xinjiang hinaus. land geforscht und gelehrt, nun sind Sie in
SPIEGEL: Wie erklären Sie sich das Schwei- die USA gezogen. Warum?
gen der islamischen Welt? Muslimische Or- Zenz: Ich habe mich mit meinem Thema
ganisationen und Regierungen sprechen in Deutschland zuletzt etwas allein gefühlt.
sich sonst deutlich aus, wenn es um die Ein besonders trauriger Aspekt an Xin-
Diskriminierung von Muslimen geht. Zu jiang ist ja, dass dort über eine Million
Xinjiang aber ist kaum Kritik zu hören. Menschen in Lagern sitzen, während sich
Zenz: Regierungen islamischer Länder sind die Welt weiterzudrehen scheint, als wäre
oft autoritär und haben selbst Probleme nichts geschehen. In den USA wird Xin-
mit ethnischen und religiösen Minderhei- jiang mit viel größerer Aufmerksamkeit be-
ten. Nach außen mögen sie Werte wie Re- obachtet. In vielen europäischen Ländern
ligionsfreiheit vertreten, im Inneren ist in rückt China oft erst in den Vordergrund,
der Regel der Machterhalt ihr höchster wenn unsere Wirtschaft betroffen ist.
Wert – wie beim chinesischen Regime. Das SPIEGEL: Haben Sie Sorge, dass Sie in den
ist der Grund, warum diese Regierungen USA politisch vereinnahmt werden könn-
die Uiguren eiskalt verkaufen. In China ha- ten? Die Regierung betrachtet China als
ben sie einen Partner, der ihr eigenes auto- geopolitischen Rivalen.
ritäres Modell unterstützt. Auf zynische Zenz: Ich habe Kontakte mit Vertretern
Weise sind sie und die atheistische Regie- der US-Regierung, und ich würdige deren
Schwerpunkt Entscheiden rung in Peking natürliche Verbündete. Einsatz für die Religionsfreiheit. Bei Men-
SPIEGEL: Glauben Sie, dass autoritäre Re- schenrechtsorganisationen steht die Reli-
Wie Sie Ihr Bauchgefühl gime eines Tages dieselben Mittel des gionsfreiheit oft im Schatten der Meinungs-
überlisten und die richtige Überwachungsstaates gegen Minderheiten und Pressefreiheit, manchmal geht sie fast
einsetzen werden? unter. Teile der US-Regierung setzen sich
Wahl treffen Zenz: China ist bereits aktiv dabei, diese stark für die Uiguren ein, ohne dass ihnen
Technologien zu exportieren. Der Netz- dadurch ein Vorteil erwächst. Andere –
werkausrüster Huawei etwa hat afrikani- wie den Präsidenten selbst – halte ich für
KÜNSTLICHE INTELLIGENZ schen Ländern geholfen, Oppositionelle Opportunisten, für die es nicht wirklich
oder Dissidenten zu bespitzeln und zu ver- zählt, wie es den Uiguren geht.
So gelingen KI-Projekte haften. In Kirgisistan wurde vor Kurzem SPIEGEL: Eine Gruppe von US-Senatoren
in Unternehmen chinesische Überwachungstechnologie in- und Abgeordneten drängt die Regierung,
stalliert, die Gesichter und Nummernschil- den Hauptverantwortlichen für Chinas
der erkennen kann. In Usbekistan und Xinjiang-Politik die Einreise zu verweigern
OFFSITE-MEETINGS Serbien richtet Huawei die gleiche Art von und, falls sie welches haben, ihr Vermögen
Technologie ein, die in Xinjiang bereits in den USA einzufrieren. Sollten das auch
Sechs Tipps für Ihr im Einsatz ist. Die Erfahrung mit der Deutschland und Europa tun?
nächstes Strategietreffen Unterdrückung der Uiguren wird damit Zenz: Ja, ich bin dafür. Nicht wegen der
zu einem kommerziellen Marktvorteil. finanziellen oder wirtschaftlichen Folgen
Die Überwachungssysteme werden mit einer solchen Maßnahme, sondern wegen
Schlagworten wie »Safe City«, »Smart der politischen Aussage, die sie enthält:
City« und »harmonische Gesellschaft« an- Was mit den Uiguren geschieht, ist ein Ver-
gepriesen. Da geht es darum, Städte effi- brechen gegen die Menschlichkeit. Chinas
zienter zu organisieren, diese Konzepte Regierung wird sich natürlich scharf gegen
haben aber auch eine starke Überwa- einen solchen Schritt wehren, so wie sie
chungskomponente. China ist also jetzt sich gegen die Ergebnisse meiner For-
schon dabei, autoritäre Regierungen welt- schungen wehrt. Aber sie wird die Bot-
weit mit solchen Überwachungsfähigkei- schaft verstehen. Solange uns der Einsatz
ten auszurüsten. für unsere Werte nichts kostet, sind sie für
SPIEGEL: Über die Werkzeuge des Über- Chinas Regierung nicht real. China ist eine
wachungsstaats verfügt auch der Westen. Kultur, in der das Reden billig ist.
Worin besteht der Unterschied? SPIEGEL: Herr Zenz, wir danken Ihnen
Jetzt App Zenz: Er besteht darin, dass wir im Westen für dieses Gespräch.
downloaden über die Mittel des Staats und die Rechte

90 DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019


harvardbusinessmanager.de
Ausland

Wer wusste Bescheid?


Analyse Das missglückte Fernsehinterview des britischen Prinzen Andrew zeigt, wie viele ungeklärte
Fragen es im Missbrauchsskandal um Multimillionär Jeffrey Epstein immer noch gibt.

F
ast vier Monate sind vergangen, seit sich der Multi- dert, spannende Leute zusammenzubringen. Dieser stellte
millionär Jeffrey Epstein in einer New Yorker Gefäng- dem Prinzen seine Häuser und Apartments zur Verfügung,
niszelle erhängte, aber ruhiger geworden ist es in der wann immer es ging, was Andrew dankbar annahm.
Sache nicht. Der Fall Epstein ist eine Art Zombie Andrew war zu Gast auf Epsteins Privatinsel und auch auf
unter den Skandalen, er stiftet Chaos und Unfrieden. Das dessen Anwesen in Palm Beach, flog in dessen Privatjet und
bekam nun auch das britische Königshaus zu spüren. Prinz nutzte die Freundschaft, wo und wann es ging. Nach Epsteins
Andrew, das dritte Kind von Königin Elizabeth, war seit Be- Entlassung aus der Haft 2010 reiste der Prinz zu dem Multi-
kanntwerden des Falls so vielen Anschuldigungen über seine millionär nach New York, um ihm, wie Andrew sagt, persön-
mögliche Verstrickung in den Missbrauch ausgesetzt, dass er lich die Freundschaft zu kündigen. Vier Tage lang wohnte
am vergangenen Samstag einen Fehler beging: Er gab einer der Prinz in Epsteins Haus auf der Fifth Avenue in New York.
Journalistin der BBC im Buckingham Palast ein langes Inter- Andrew war in dem BBC-Interview wohl deshalb sprachlos,
view, in dem er über seine recht innige Freundschaft mit weil es auf die Frage, warum ein Mitglied des britischen Kö-
Epstein reden wollte. nigshauses vier Tage lang im Haus eines verurteilten Sexual-
Das Interview sollte ein Akt der Befreiung werden, statt- straftäters wohnt, keine gute Antwort geben kann.
dessen endete es in einem Desaster. Der Prinz redete sich Der Auftritt des Prinzen war aber nicht deshalb so verhee-
um Kopf um Kragen, rechtfertigte sich für Dinge, für die es rend, weil er ein ungutes Licht auf die britische Monarchie
keine Rechtfertigung gibt – zum Beispiel dafür, dass er Ep- wirft, sondern weil er zeigt, wie ignorant das frühere Umfeld
stein zur Geburtstagsparty seiner damals 18-jährigen Tochter von Jeffrey Epstein bis heute ist. Viele Leute, mit denen sich
einlud. Und zwar nach- dieser umgab, wollen
dem gegen Epstein ein noch immer nicht wahr-
Haftbefehl erlassen wor- haben, dass sie durch ihr
den war: wegen des Ver- Wegsehen eine Mitschuld
dachts sexuellen Über- tragen. Wer derart eng
griffs gegen ein minder- mit diesem Mann war,
jähriges Mädchen. dass er in dessen Häusern
Mit keinem Wort er- ein und aus ging, kann die
wähnte Andrew in dem Opfer und deren Leiden
BBC-Interview die Dut- nicht einfach ignorieren.
zenden, womöglich weit Epstein verkehrte mit al-
BBC NEWS / DPA

über hundert Frauen, die len möglichen Figuren


von Epstein mutmaßlich aus Politik, Forschung,
missbraucht wurden. Es Mode, Adel und Kultur –
schien, als verstehe der BBC-Interviewerin, Prinz Andrew hat wirklich kein einziger
Prinz nicht, was die gan- seiner zahlreichen Be-
ze Aufregung über seinen kannten von seinen Nei-
früheren Kumpel überhaupt solle. Vielleicht liegt das auch gungen etwas mitbekommen? Prinz Andrew war bei Weitem
daran, dass Andrew früher als Partyprinz bekannt war, der nicht der Einzige. Epstein brachte die Mächtigen zusammen,
den Spitznamen »Randy Andy« trug, notgeiler Andy. sie reisten in seinen Flugzeugen, übernachteten bei ihm,
Dabei hätte er es googeln können: Jeffrey Epstein, einst saßen an seinem Dinnertisch.
Besitzer dreier Flugzeuge und Eigentümer von Anwesen zwi- Das ist der wahre Epstein-Skandal, bis heute: dass um
schen New York, Florida und den Virgin Islands, verging sich ihn so viele Menschen kreisten wie Satelliten, die jetzt
an minderjährigen Mädchen, manche erst 14 Jahre alt, die zumindest so tun, als wüssten sie nichts. Viele Fragen sind
von Mitarbeitern gecastet und ihm zugeführt wurden. Er ließ offen. Was machen Epsteins mutmaßliche Komplizen, allen
sich von ihnen massieren, fasste sie an, masturbierte vor ih- voran Ghislaine Maxwell? Wo sind all jene, die seine Nähe
nen, einige gaben an, vergewaltigt worden zu sein. Ab 2005 suchten und von seinem Geld und Einfluss profitierten, auch
begannen Ermittlungen gegen den Multimillionär, 2008 wur- in Europa?
de er zu einer Haftstrafe wegen Zuhälterei verurteilt. Seitdem Vier Tage nach dem furchtbaren Interview kündigte Prinz
war er im US-Sexualstrafregister als Wiederholungstäter ge- Andrew in einem Statement an, vorerst keine öffentlichen
führt. Und doch wollte sich Andrew nicht zu Epsteins kranken Termine mehr wahrzunehmen. Es ist dieselbe Strategie, die
Neigungen verhalten, schon gar nicht sich von ihm distan- viele von Epsteins Bekannten von Anfang an wählten. In sei-
zieren. Im Grunde bestand das Interview aus dem lauten nem Statement sagte Andrew, er bereue, mit dem Multimil-
Schweigen eines Mannes, der nichts verstanden hat. lionär befreundet gewesen zu sein. Mit seinem missglückten
Es war 1999, als sich der Multimillionär und der Prinz Auftritt hat der Prinz unfreiwillig das Scheinwerferlicht auf
über eine gemeinsame Freundin kennenlernten, die Britin Epsteins Umfeld gelenkt. Es muss sich nun all den unbeant-
Ghislaine Maxwell, die zuvor mit Epstein liiert war und dann worteten Fragen stellen, die der Aufklärung harren. Man
zu dessen Assistentin und mutmaßlicher Komplizin wurde. muss Andrew fast dankbar sein, dass er so versagt hat.
Andrew erzählt, er habe Epstein für dessen Fähigkeit bewun- Christoph Scheuermann

91
Ausland

Mann im Schatten
Ukraine Der Oligarch Ihor Kolomojskyj hat mitgeholfen, den TV-Comedian Wolodymyr Selenskyj
zum Präsidenten zu machen. Doch jetzt wird er für den Politiker zum Problem.

F
rüher, als Wolodymyr Selenskyj gegen russische Truppen und Separatisten stank der Straße, davon krieg ich ’nen Stei-
noch nicht Präsident der Ukraine ist seiner Meinung nach kein Hinderungs- fen«, sagt er. Es ist ein Zitat aus dem
war, sondern ihr bekanntester TV- grund, »in fünf oder zehn Jahren ist das Gangsterfilm »Es war einmal in Amerika«.
Comedian, machte er auf der Büh- Blut vergessen«. Andere Oligarchen haben ihr Image mo-
ne gern den Milliardär Ihor Kolomojskyj Aber wie groß ist Kolomojskyjs Einfluss dernisiert. Er ist der Alte geblieben.
nach. Der Comedian zog dann die Augen- wirklich? Und was ist das für ein Mann, Vielleicht ist das der Grund, warum Ko-
brauen hoch und rümpfte die Nase, ver- der mal eben das politische Kiew erschüt- lomojskyj der einzige Milliardär ist, der in
wundert und abschätzig zugleich, und rief tern kann? seinem Land die Fantasie der Menschen
dazu ständig »Hääääh?« oder »Waaaas?« Um das herauszufinden, muss man be- beflügelt. Was man von ihm weiß: Er hat
in den Saal. Es war eine Lieblingsnummer harrlich sein. Kolomojskyj hat nämlich kei- in seiner Heimatstadt Dnipro das wohl
in seinem politischen Kabarett – der Oli- nen Pressesprecher. Man schreibt ihm eine größte jüdische Gemeinde- und Geschäfts-
garch als Nervensäge, als jemand, der vor WhatsApp-Nachricht, und wenn er Lust zentrum der Welt gebaut (er sagt: »Ur-
niemandem Respekt hat, am allerwenigs- hat und den Absender kennt, schreibt er sprünglich sollte es ein Holocaust-Museum
ten vor dem damaligen Präsidenten Petro zurück. Er empfängt in seinem modernen werden«), er hat in seinem Büro ein Aqua-
Poroschenko. Bürogebäude in der Kiewer Innenstadt, rium mit Haifischen einbauen lassen (»Die
Es ist merkwürdig, sich diese gar nicht so auf dem Bürgersteig stehen Sicherheits- Haie sind verreckt. Waren nur Ammen-
alten Szenen anzuschauen. Seit Selenskyj leute in Zivil. Im achten Stock ein Vorraum haie, die essen niemanden«), er kontrol-
Präsident ist, wird nämlich in Kiew und mit vielen Überwachungskameras, rechts liert eine Fluglinie und einen Fernsehkanal
im Ausland darüber gemutmaßt, ob sein geht es in das Büro von Kolomojskyjs Ge- und einen Basketballklub (dort spielt sein
Wahlsieg nicht vor allem ein Sieg Kolomoj- schäftspartner, links in ein unterkühltes Sohn) sowie Manganhütten und E-Werke
skyjs sei, seines Unterstützers. Der und Immobilien, und er war ein-
Schauspieler Selenskyj und der von mal der mit Abstand größte Ban-
ihm gespielte Oligarch, sie wären kier des Landes. Im Volk nennen
in Wahrheit ein und dieselbe sie ihn »Benja«.
Figur – der eine hat das Amt, der Es gab sogar eine Zeit, da war
andere die tatsächliche Macht. Benja ein Nationalheld. Das war
Kolomojskyj hat Selenskyj mit 2014, als nach der Euromaidan-
seinem Fernsehsender gefördert, Revolution und unter russischem
die beiden sind geschäftlich ver- Druck die Ukraine auseinander-
bunden, Kolomojskyjs persön- zufallen drohte. Kolomojskyj
licher Anwalt ist jetzt Stabschef übernahm in Dnipro selbst das
CHRISTIAN ESCH / DER SPIEGEL

des Präsidenten. Und dass Kolo- Amt des Gouverneurs und finan-
mojskyj sich als Wahlsieger fühlte, zierte Freiwilligenbataillone für
war offensichtlich: Kaum hatte Se- den Kampf im Donbass.
lenskyj gewonnen, da kehrte er Aber dann wurde aus dem Hel-
aus dem Exil in die Ukraine zu- den doch wieder ein Bösewicht.
rück, wo ihm unter Poroschenko Im Frühjahr 2015 kam es zum
Strafverfahren gedroht hatten. So- Showdown mit Poroschenko: Das
gleich dachte er laut nach, wer für Kolomojskyj-Skizze: Bilanz einer Problembank Parlament beschnitt Kolomojskyjs
welches Regierungsamt tauge. Einfluss auf zwei staatliche Ölfir-
Wie weit der Milliardär und der Präsi- Besprechungszimmer. Grellweißes Licht, men, er tauchte wütend nachts mit Bewaff-
dent in der Öffentlichkeit zusammenge- an der Wand das cartoonähnliche Bild neten am Firmensitz auf. Vielleicht ist es
bracht werden, zeigt ein Vorfall aus jüngs- eines Kiewer Künstlers. doch keine gute Idee, wenn Oligarchen
ter Zeit. Da stellte Selenskyjs Sprecherin Aus der Nähe betrachtet, hat Kolomoj- Privatarmeen aufbauen, dachten damals
eigens auf Twitter klar, Kolomojskyj könne skyj den Charme eines gemütlichen On- viele.
nicht »im Namen der Ukraine oder des kels mit rundem Gesicht und dichtem, wei- Im Dezember 2016 verlor er das Herz-
Präsidentenbüros« sprechen. ßem Vollbart, der auch gern lacht. Aber stück seines Imperiums, die riesige Privat-
Es war die Reaktion auf abenteuerliche er lässt einen immer spüren, dass die Ge- Bank mit 20 Millionen Kunden. Das Insti-
Äußerungen des Milliardärs, die im Inland mütlichkeit schnell enden kann. Sein Rus- tut sei faktisch als Finanzpyramide geführt
Gefühle verletzt und im Ausland Sorgen sisch ist breit und grob, voller Schimpfwör- worden und insolvent, sagte die Zentral-
geweckt hatten. Kolomojskyj hatte der ter und angedeuteter Drohungen, als lebte bank, der Staat musste ein Loch von
»New York Times« gesagt: Statt sich vom er immer noch in den Neunzigerjahren, 5,5 Milliarden Dollar schließen.
Internationalen Währungsfonds (IWF) ab- als der Kapitalismus in der Ukraine jung Ein Untersuchungsbericht sprach von
hängig zu machen, solle die Ukraine lieber war und die Sitten der Reichen noch nicht dubiosen Geschäften in Höhe von 470 Mil-
»100 Milliarden Dollar von den Russen verfeinert. Gegner sind für ihn »Schwuch- liarden Dollar, die über die Bankfiliale auf
nehmen. Ich glaube, die würden sie uns teln«, »Nutten«, »Debile«. Es gefällt ihm, Zypern gelaufen seien. »Wenn das stimmt,
jetzt gern geben«. Der Krieg im Donbass ungeschliffen zu sein. »Ich mag den Ge- wäre es der größte Fall von Geldwäsche

92
EVGENIY MALOLETKA / DER SPIEGEL
Geschäftsmann Kolomojskyj: »Im Westen schauen sie auf die Ukraine, als wären wir so etwas wie Simbabwe«

in der Geschichte«, kommentierte ein Er habe mit Kolomojskyj nie über den leicht mehr Kontakt«, sagt Kolomojskyj.
Bankexperte. Als Ermittlungen gegen Ko- Fall gesprochen, machte Selenskyj im Ok- »Ab und zu schicken wir einander eine SMS
lomojskyj aufgenommen wurden, zog er tober klar: »Wozu auch? Er kennt meine oder lustige YouTube-Videos. Zuletzt hab
es vor, die Ukraine zu meiden. Er hielt sich Haltung, es ist die Haltung des Staats.« ich ihm vor einem Monat etwas geschickt.«
in Genf auf und dann in Israel, dessen Eine Rückgabe schloss er aus. Neulich wurde allerdings Präsidenten-
Staatsbürgerschaft er ebenfalls besitzt. Selenskyjs Premier plauderte allerdings berater Serhij Schefir gesichtet, wie er Ko-
Kolomojskyj streitet die Vorwürfe ab. gegenüber der »Financial Times« aus, man lomojskyjs Bürozentrum in Kiew aufsuch-
Die beanstandeten Transaktionen seien in arbeite an einem »Kompromiss« mit Ko- te. »Ich habe ihn nur am Fahrstuhl be-
der Ukraine üblich gewesen, die Bank in lomojskyj. Gemeint war offenbar eine Ver- grüßt«, behauptet Kolomojskyj. Schefir
guter Ordnung. Er nimmt ein DIN-A4- rechnung gegenseitiger Forderungen, Ko- habe für Selenskyjs Produktionsfirma aus-
Blatt und malt die Bilanz von damals auf, lomojskyj würde dann zwar die Bank nicht gehandelt, was auf Kolomojskyjs Fernseh-
wie er sie sieht. Das Blatt füllt sich schnell erhalten, aber eine Entschädigung dafür. kanal gezeigt werde. Ein Präsidentenbera-
mit Zahlen, Pfeilen, Kringeln. Es sieht Der Währungsfonds war entsetzt. ter, der nebenher noch Comedyprodukte
kompliziert aus, aber sein Argument ist Die Frage, wie es um die Kontakte und vertreibt – das ist eine typische Nachricht
einfach: Die Bank wurde nicht gerettet, das Verhältnis zwischen Selenskyj und Ko- aus dem Kiew der Gegenwart.
sondern zerstört, im Auftrag von Poro- lomojskyj derzeit steht, ist das Geheimnis Selenskyj wiederum würde den Milliar-
schenko, weil der Kolomojskyjs Fernseh- der beiden. Er habe »gar kein Verhältnis«, där am liebsten so behandeln wie alle. Sein
kanal haben wollte. hatte Selenskyj schon im Wahlkampf ge- Modell klingt einfach, aber vielleicht auch
Der Verlust der PrivatBank ist die große sagt, Freunde seien sie nicht, sie stammten etwas naiv. Er möchte sich nicht im Kampf
Kränkung im Leben des Ihor Kolomojskyj, aus unterschiedlichen Generationen. Se- mit einzelnen Oligarchen aufreiben, sie
wenn man seinen Aussagen traut. »Das ist lenskyj ist 41 Jahre alt, Kolomojskyj 56. ausschalten oder Gerechtigkeit für vergan-
meine persönliche Tragödie – alles andere »Selenskyj ist längst nicht mehr Kolomoj- gene Untaten bestrafen. Eine »Ent-Oligar-
ist bloß Business.« Er hat in erster Instanz skyjs Handlanger, und vielleicht war er es chisierung« hat er – anders als Poroschen-
bereits erfolgreich gegen die Verstaat- nie«, sagt Serhij Leschtschenko, ein Jour- ko – nie versprochen. Er möchte die
lichung geklagt. Der Staat, sagt er, habe da nalist und ehemaliger Selenskyj-Berater. Oligarchen persönlich überreden, ihr Ver-
ein echtes Problem (er nennt es »Hämor- Kontakte mit Kolomojskyj sind für Se- mögen für das Land einzusetzen, etwa für
rhoiden«), das er nicht mehr loswerde. lenskyj nicht ungefährlich. Das erste förm- den Wiederaufbau des Donbass. Rinat
Es ist das Pech von Selenskyj, dass er liche Treffen in der Präsidialverwaltung rief Achmetow, einst »Herr des Donbass« und
dieses Problem von Poroschenko geerbt einen Entrüstungssturm hervor. Dabei ging heute immer noch der mit Abstand reichs-
hat. Keine andere Frage droht seinen Ruf es offiziell nicht um die PrivatBank, son- te Ukrainer, hat nach einer Ermahnung
so zu beschädigen wie die, ob die Privat- dern um den Energiemarkt. Außerdem hat- 200 Krankenwagen gespendet.
Bank an ihre alten Eigentümer Kolomoj- te Selenskyj zuvor andere Oligarchen emp- Ausgerechnet Kolomojskyj, der unter al-
skyj und Hennadij Boholjubow zurückge- fangen. »Wenn ihr Journalisten das nicht len Oligarchen Selenskyj am nächsten steht,
geben wird – so wie die beiden es fordern. so aufblasen würdet, dann hätten wir viel- hält gar nichts von diesem Modell. »So mit

DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019 93


Ausland

Die Eltern
im Alter

UKRAINIAN PRESIDENTIAL PRESS SER / REUTERS


begleiten
SPIEGEL-Gespräch
live in der Urania

Gesprächspartner Selenskyj (M.), Kolomojskyj: Auch offizieller Kontakt ist gefährlich

dem Big Business umzugehen – ›bitte Wolodymyr Fessenko. In diesem Punkt er-
schön, klaut gern eine Milliarde Dollar im innere er an Boris Beresowski, den russi-
Jahr, aber dann spendiert jeder von euch schen Oligarchen. Der hatte sich 1999 in
200 Krankenwagen‹ – das halte ich für der Rolle dessen gefallen, der Wladimir
einen großen Fehler«, sagt er. Putin in den Kreml gebracht hatte, aber
Die größte Gefahr droht Kolomojskyj dann stellte sich heraus, dass Putin sich
derzeit aus dem westlichen Ausland. Der von Beresowski wenig sagen ließ.
ukrainische Staat hat die ehemaligen Pri- Das Verhältnis zwischen Selenskyj und
vatBank-Eigentümer nämlich in London Kolomojskyj ist schon sichtlich belastet.
Mama baut ab, und Papa wird seltsam? verklagt, wegen Betrug. Der High Court »Ich sehe da keine Zuneigung. Aber es
Was mache ich denn jetzt? Wie helfe ich? hat Vermögenswerte von mehr als 2,5 Mil- gibt auch keinen offenen Krieg«, sagt
Und wer hilft mir? liarden Dollar »eingefroren«, Kolomojskyj Leschtschenko, der Journalist und ehema-
darf jetzt nur noch 20 000 Pfund je Woche lige Selenskyj-Berater. Die idealistische
Die Betreuung alternder oder bereits ausgeben. Und in den Vereinigten Staaten Rhetorik des Präsidenten passt jedenfalls
pflegebedürftiger Eltern stellt Familien ermittelt das FBI offenbar wegen Geldwä- nicht zu Kolomojskyjs bisherigem Ge-
vor immense Herausforderungen. sche, außerdem läuft eine Zivilklage. Ko- schäftsgebaren. Man wundert sich, dass
lomojskyj streitet auch diese Vorwürfe ab. die beiden so lange und gut miteinander
Über die wichtigsten Fragen rund Der Druck aus dem Ausland erklärt klarkamen. Hat es Selenskyj nie gestört,
ums Älterwerden diskutieren die auch Kolomojskyjs Tiraden gegen den dass sein Geschäftsfreund Kolomojskyj
Westen. Dass der IWF sich jetzt noch ein- einen dermaßen schlechten Ruf hatte?
Altersforscherin Prof. Dr. Katja Werheid mischt, hat das Maß nur vollgemacht. »Darüber hat er gar nicht nachgedacht«,
und Dr. Annette Dieing, Oberärztin im »Der IWF ist kein Weltgericht. Wenn er sagt Fessenko. »Das ist wie mit Frank Si-
Vivantes Klinikum am Urban und kein Geld geben will, soll er halt keins ge- natra, der hatte sogar Freunde bei der Ma-
ben, aber er soll nicht vorschreiben, wer fia, die er als Menschen interessant und
Gerd Evers, Pflegedienstleiter (Caritas),
ins Gefängnis kommt, wer verurteilt und angenehm fand.« Mittlerweile ärgere sich
mit SPIEGEL-Redakteur Markus Deggerich. was beschlagnahmt wird«, wettert er. Selenskyj über Kolomojskyjs Auftreten.
Ein Abend für alle, die schon damit leben, »Sonst wendet sich die Ukraine morgen »Aber zum Bruch ist er nicht bereit.«
und auch alle, die es noch betreffen wird. um 180 Grad nach Osten.« Kolomojskyj hört und liest derzeit, was
Seine Gegner dämonisierten ihn, klagt sie im fernen Washington über ihn sagen.
er: »Die laufen von Botschaft zu Botschaft In den Impeachment-Anhörungen taucht
Montag, 2.12.2019, 19 Uhr, und sagen: ›Kolomojskyj ist zurück, mor- immer wieder sein Name auf. »Wir waren
Urania Berlin, gen gibt es eine Katastrophe!‹ Als könnte extrem besorgt über Selenskyjs Verhältnis
ein Land von 40 Millionen Einwohnern zu diesem Gentleman«, so formulierte es
An der Urania 17, von einem einzigen Menschen abhängen.« eine ehemalige Spitzenbeamtin aus dem
10787 Berlin Kolomojskyj ist nicht plötzlich prorus- Weißen Haus.
sisch geworden, so wenig, wie er je pro- Die Anhörungen zeigten vor allem eines,
westlich war. Er ist pro-Kolomojskyj, und sagt Kolomojskyj: »Im Westen schauen sie
das konsequent und seit Jahren. Dabei ist auf die Ukraine, als wären wir so etwas wie
es ungewiss, ob die oft übertriebenen War- Simbabwe oder Burkina Faso.« Er lacht.
nungen vor seinem Einfluss ihm schaden Was er nicht sagt: Auch er hat seinen
oder ob sie ihm nicht umgekehrt nützen, Teil dazu beigetragen, dass der Ruf des
Tickets sind in der Urania Berlin oder an allen weil sie ihm mehr Gewicht verleihen. Landes nicht besser ist.
bekannten Vorverkaufsstellen, online unter
www.urania.de, erhältlich.
»Kolomojskyj ist ein Narzisst. Er genießt Christian Esch
Eintrittspreise: es sichtlich, dass ihn jetzt alle für den Kö- Mail: christian.esch@spiegel.de
9,50 €, ermäßigt 8,00 €, Schüler/Studenten 4,50 €, nigsmacher halten«, sagt der Politologe
zuzügl. Gebühr.
Bildnachweise: Kai Bublitz
94
Bildnachweis: freestockgallery
Sport
»Jeden Tag wachte er auf, guckte an sich runter – und alles war falsch.« ‣ S. 99

Deutsche Ski-Weltcuperfolge seit der Saison 1989/90


Frauen Männer
Siege nach Disziplinen Siege nach Disziplinen
Abfahrt 43 Kombination 7 Slalom 17
Super-G 34 Parallelrennen 1 Abfahrt 4
Riesenslalom 31 City Event 1 Super-G 3
Slalom 12 Riesenslalom 2
City Event 2
Platzierungen insgesamt

IMAGO SPORT (2)


1. Plätze 2. Plätze 3. Plätze
129 131 128
Platzierungen insgesamt
1. Plätze 2. Plätze 3. Plätze
28 35 42
Katja Seizinger Felix Neureuther
36 Siege 13 Siege

Frauenpower im Schnee: 157 Siege im Weltcup holten die deut- zu den Weltklassefahrern zählte, glänzten bei den Frauen
schen Skialpinfahrer in den vergangenen 30 Jahren – 129 davon Katja Seizinger (36 Siege), Maria Höfl-Riesch (27) und Viktoria
gingen auf das Konto der Frauennationalmannschaft. Während Rebensburg (17). In den Neunzigerjahren fuhr die Olympia-
unter den Männern nur der nach der vergangenen Saison zurück- siegerin Seizinger mehr Siege ein als das gesamte Männerteam,
getretene Slalomspezialist Felix Neureuther (13 Siege) konstant das in 30 Jahren lediglich 28-mal den Gewinner stellte.

Magische Momente SPIEGEL: Dennoch lagen die beiden

»Als könnte ich über Wasser laufen«


mit 0:2 Sätzen zurück.
Pilić: In diesen Situationen war es
unheimlich wichtig, dass die Spieler vor
Tennislegende Niki Pilić, 80, über seinen ersten Daviscup-Triumph mir Respekt hatten. Ich sagte, dass wenige
Punkte alles ändern können und wir jetzt
SPIEGEL: Herr Pilić, im Pilić: Boris war in Topform, und der Sieg in den dritten Satz gehen, als wären es die
Daviscup-Finale gegen die von Charly gab ihm einen zusätzlichen ersten fünf Minuten. Die Jungs nahmen
Schweden war Deutsch- Schub. Die fantastische Stimmung im meinen Rat ernst. Nur so geht es.
land 1988 mit Ihnen als Team war ein ausschlaggebender Faktor. SPIEGEL: Drei Spiele, drei Siege – das
Teamchef und Boris SPIEGEL: Auch im Doppel? Wunder von Göteborg war perfekt.
Becker als Spitzenspieler Pilić: Unbedingt. Boris und Eric Jelen ver- Pilić: Wir hatten den Mount Everest in
nur Außenseiter. Warum? standen sich unheimlich gut. Außerdem Rekordzeit bestiegen. Ich fühlte mich, als
Pilić: Mats Wilander war damals die Num- spielte Jelen einen starken Flugball, seine könnte ich über Wasser laufen.
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mer eins der Welt, Stefan Edberg die fünf, Reflexe waren gut, und er schlug solide SPIEGEL: Nach dem Triumph wurden Sie
und Anders Järryd war einer der besten auf. Das reichte mit Boris an seiner Seite. zum Bundespräsidenten geflogen.
Doppelspezialisten. Zudem spielten Pilić: Richard von Weizsäcker war
wir in Göteborg auf Sand – was dort ein Tennisfan. Den Empfang in
passierte, konnte keiner ahnen. Bonn werde ich ebenso wenig
SPIEGEL: Im Match seines Lebens vergessen wie unsere nächtliche
bezwang Carl-Uwe Steeb Superstar Feier in einer Diskothek in Göte-
Wilander. Wie ging das? borg und den Moment, als mir
Pilić: Charly war perfekt vorberei- der Boris von hinten eine Flasche
tet. Wir hatten mit Marián Vajda Champagner in den Anzug
SVEN SIMON / DDP IMAGES

eigens einen Weltklassespieler für kippte. Er durfte das – ausnahms-


unser Training engagiert, der den weise.
Stil von Wilander kopierte. Hinzu SPIEGEL: Spielen Sie eigentlich
kamen sein unmenschlicher noch Tennis?
Siegeswille und das nötige Glück. Pilić: Ich war gerade heute für
SPIEGEL: Anschließend schlug drei Stunden auf dem Platz und bin
Becker Edberg in drei Sätzen. Daviscup-Team mit Pilić (M.) in Göteborg 1988 dafür sehr dankbar. PK

DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019 95


Sport

Der Goldjunge
Fußball Kylian Mbappé ist Stürmer von Paris Saint-Germain, Weltmeister und Idol der Franzosen.
Das Ausnahmetalent kommt aus der Banlieue, sein Marktwert: 200 Millionen
Euro. Für seine Bodenhaftung sorgen in erster Linie zwei Frauen. Eine Begegnung in Paris.

D
er Superstar kommt im Dunkeln Dann geht es los. Mbappé greift zum Kylian Mbappé stammt aus Bondy, aus der
vorgefahren, in einem schwarzen Schneebesen, verrührt weiche Butter und Banlieue von Paris. Seine Mutter kommt
VW-Bus. Er hält vor einem Pavil- ein wenig Zucker, als würde er mit einem aus Algerien, sein Vater Wilfrid aus Kame-
lon im Bois de Boulogne, dem Pinsel ein Kunstwerk malen. An seinem run. Mbappé hat zwei Brüder, der ältere
Stadtwald von Paris. Die Fenster sind teil- Handgelenk trägt er eine mit Diamanten ist ebenfalls Fußballprofi. Das Zuhause der
weise abgeklebt. Niemand soll sehen, wer besetzte Uhr mit blauem Lederband. Familie war lange Zeit ein mehrstöckiger
hier gleich in aller Frühe, um acht Uhr, Zum Schluss soll der Teig mit den Händen Sozialbau aus den Fünfzigerjahren.
Kekse backt. geknetet werden. Mbappé verzieht das Ge- Schon als kleiner Junge verbringt Mbap-
Im Innern laufen hektisch PR-Leute hin sicht, die Masse klebt an seinen Fingern. pé viel Zeit auf dem Fußballplatz, sein Va-
und her. In einer Showküche werden die Eine Frau mit dunklen langen Haaren lacht ter ist Trainer beim AS Bondy. Mit 16 gibt
letzten Vorbereitungen getroffen, Kinder lauf. Sie sitzt auf einem Stuhl am Rand, auf Kylian Mbappé sein Debüt als Profi beim
ziehen gelbe und blaue T-Shirts mit großen ihrem Schoß ein camelfarbener Trenchcoat. AS Monaco. Obwohl er dort bereits viel
Comicaugen an. Eine Handvoll Journalis- Es ist seine Mutter Fayza Lamari, 45. »Welch Geld verdient, fährt ihn seine Mutter mit
ten und Fotografen ist zu dem Termin ein- ein Talent«, ruft sie. Auch Mbappé lacht. einem alten Auto zum Training. 2017 wird
geladen, sie lauern im Flur auf den promi- Dann gehen die vergleichsweise gesunden er mit der Mannschaft französischer Meis-
nenten Gast. Kekse in den Ofen. Es folgt eine kurze Kost- ter. Im gleichen Jahr wechselt er zu PSG,
Dann geht die Tür geht auf. Und da ist probe, nach einer Stunde ist alles vorbei. bildet mit dem Brasilianer Neymar das pro-
er. Der Mann, dessen Marktwert sich auf Nach dem Termin nimmt sich Mbappé minenteste Sturmduo der Welt.
200 Millionen Euro beläuft. Der Mann, Zeit für ein Gespräch mit dem SPIEGEL. Mit 18 wird er in die Nationalmann-
der für viele Franzosen ein Nationalheld schaft berufen, als zweitjüngster Franzose
ist. Der Mann, der gerade mal 20 Jahre alt nach dem Krieg, 2018 werden sie Welt-
ist und in diesem Moment wie ein verschla- »Meine Eltern haben mir meister. Mbappé räumt so ziemlich alle
fener Teenager in Jeans und blauer Jacke früh vermittelt, dass es Ehrungen ab, die man bekommen kann.
aussieht. »Bonjour«, sagt Kylian Mbappé. Er ist ein Goldjunge. In Frankreich tragen
Niemand antwortet ihm. Er sagt noch mal gut ist, sich nicht auf die Menschen T-Shirts mit der Aufschrift: Li-
»bonjour«. Wieder keine Antwort. Über Füße treten zu lassen.« berté, Égalité, Mbappé.
seinem Kopf hängen Mikrofone an Tele-
skopstangen, Kameras klicken, filmen. SPIEGEL: Ein Kind hat sie mal den »Gott
Es gibt bestimmt schönere Morgen. Er setzt sich in einen grauen Sessel in ei- von Bondy« genannt. Wie fühlt sich das an?
Mbappé verschwindet zum Abpudern in nem Nebenraum, entschuldigt sich: »Ich Mbappé: Das freut mich. Aber ich weiß
einem Zimmer. Kurz darauf wird der Stür- kenne leider keine schönen Wörter auf schon: Ich bin nicht Gott! Es ist toll, dass
mer von Paris Saint-Germain (PSG) über Deutsch. Nur Schimpfwörter wie Scheiße. ich in meiner Stadt Anerkennung bekomme.
einen verwinkelten Flur in die Küche ge- Mein Trainer ist Deutscher, und der sagt Es gibt nichts Schöneres, als andere stolz
führt. Man könnte denken, sie warten auf das ständig, wenn ihn etwas nervt. Schei- zu machen. Ich bleibe trotzdem auf dem
ihren Lehrer, scherzt er, als er sieht, wie die ße, Scheiße!« Mbappé lacht. Er spricht von Boden der Tatsachen: Ich bin ein 20-jähri-
Mädchen und Jungen aufgereiht an Tischen Thomas Tuchel, seinem Trainer bei PSG. ger Fußballer, der versucht, auf dem Spiel-
stehen, vor sich die Backutensilien. feld das Beste zu geben und auch außerhalb
Die Kinder wirken unbeeindruckt, als SPIEGEL: Herr Mbappé, als Sie reinkamen den Menschen eine Freude zu machen.
Mbappé den Raum betritt, sie kennen ihn und Guten Morgen sagten, hat niemand ge- SPIEGEL: Sie sind inzwischen das Idol für
bereits aus unterschiedlichen sozialen Pro- antwortet. Geht Ihnen das häufiger so? Millionen Menschen. Haben Sie selbst
jekten. Nur die Augen eines Neunjährigen Mbappé: Ich bin das gewohnt. Wenn ich noch Vorbilder?
werden groß. Er hat ein Preisausschreiben auf der Straße Leute grüße, sind sie oft ein Mbappé: Nein, ich glaube, ich habe keine
der Firma Good Goût, eines Sponsors wenig gehemmt und antworten nicht. Ich Vorbilder mehr. Sobald man dort ange-
Mbappés, gewonnen, die das Keksbacken sage aber trotzdem immer Hallo. langt ist, wo ich jetzt bin, braucht man
organisiert. Sie produziert biologische Le- SPIEGEL: Es gibt nicht viele Fußballer in auch keine. Ich suche eher nach Inspira-
bensmittel für Kinder, die weitgehend aus Ihrem Alter, die sich neben ihrer Rolle als tionen.
natürlichen Zutaten bestehen sollen, auf Markenbotschafter für soziale Projekte en- SPIEGEL: Welche Menschen inspirieren
viel Zucker verzichten. gagieren. Sie sind für einige Stiftungen ak- Sie?
Mbappé schlendert an einen Tisch in tiv, die Kindern helfen. Warum? Mbappé: Sportler aus allen Disziplinen,
der Mitte. Er weiß nicht so richtig, wo er Mbappé: Ich mag Kinder sehr. Ich finde die etwas erreicht haben und erklären kön-
mit seinen Händen hinsoll. Eine Küche mich in ihnen wieder, denn ich war voller nen, wie sie das geschafft haben. Diese Ge-
scheint kein vertrautes Terrain für ihn zu Träume, so wie sie. Ich mache viel mit schichten höre ich mir gern an, denn sie
sein. Die Kinder legen ihre Schürzen an. kranken und sozial benachteiligten Kin- können hilfreich sein.
Mbappé sucht seinen Tisch ab. »Kriege ich dern, aber auch mit Kindern, denen es gut SPIEGEL: Welche Bedeutung haben Ihre
keine?«, fragt er und erntet kleine Lacher. geht, die aber keine Träume haben. Eltern für Sie?

96 DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019


JEROME BONNET / DER SPIEGEL

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Mbappé: Eine sehr große. Sie sind immer ihm schon mal gesagt: »Wenn du willst, SPIEGEL: Ihr Alltag ist komplett durchge-
an meiner Seite. Sie haben mir geholfen, dann hören wir sofort mit allem auf. Aber taktet. Wie schwer ist es da, sich als junger
meine Karriere aufzubauen. Mit meiner An- er meinte: ›Ich will Fußball spielen, das ist Mensch zu emanzipieren?
wältin sorgen sie dafür, dass wir immer ein der Preis, den ich dafür zahlen muss.‹« Mbappé: Es gibt ja Ferien, in denen ich
Bild von mir vermitteln, das wirklich mich mich auch mal ein wenig gehen lassen
zeigt. Ich bin ihnen dankbar, dass sie das ge- SPIEGEL: Sie sind bekannt für Ihr Selbst- kann. In denen ich nicht nur ein Name und
schafft haben, denn das macht mich zu ei- vertrauen. Woher rührt das? eine Nummer bin, die Leistung bringen
nem ausgeglichenen Menschen. Ab dem Mbappé: Das hatte ich schon immer. Mei- und geregelt wie ein Uhrwerk laufen muss.
Zeitpunkt, wo Sie etwas darstellen sollen, ne Eltern haben mir früh vermittelt, dass SPIEGEL: Sie sind fast täglich in den Me-
was Sie gar nicht sind, zerbrechen Sie daran. es gut ist, sich nicht auf die Füße treten zu dien, weltweit. Erinnern Sie sich an einen
lassen – solange man die anderen respek- Artikel oder eine Überschrift, die sie sehr
Während des Interviews sind Mbappés An- tiert. Selbstvertrauen ist wichtig, um na- amüsiert hat?
wältin Delphine Verheyden, 48, und seine türlich und spontan zu sein. Und das ist Mbappé: Da gibt es einige. Einmal rief
Mutter anwesend. Mbappé hat keinen das, was die Leute an mir schätzen. mich meine Mama beim Training an und
Spielerberater, was sehr ungewöhnlich ist. SPIEGEL: Zweifeln Sie manchmal? sagte: »Gratuliere, Kylian. Du hast einen
»Wir wollten keine Agenten, weil wir schon Mbappé: Klar. Ich bin manchmal beunru- Ferrari gekauft.« Dabei habe ich doch nicht
einmal erlebt haben, wie so etwas funktio- higt, ich bin ängstlich. Ich bin schließlich einmal einen Führerschein! Ich habe geant-
niert, bei unserem großen Sohn«, hat seine ein ganz normaler Mensch. wortet: Der Schlüssel ist in meinem Zim-
Mutter kurz vor dem Interview erklärt. SPIEGEL: Haben Sie ein Beispiel? mer, du kannst ihn fahren, wenn du willst.
Verheyden hätten sie übers Internet gefun- Mbappé: Wenn man als Spieler versagt,
den. »Ich habe mir mehrere Anwälte für zweifelt man. Wenn man bei einem großen Seine Anwältin Delphine Verheyden sagt,
Sportrecht rausgesucht, doch sie alle rede- Match verliert, ist da gleich die Frage: Ist dass es manchmal schier verrückt sei mit
ten sofort von Prozentanteilen und Zahlen. das jetzt das Ende? Es war schön, aber den Medien. Insbesondere vor zwei Jah-
Als ich Delphine am Telefon hatte, sagte jetzt ist es vorbei! Das hält aber nie lange ren, als nicht klar war, wohin Mbappé vom
sie nur: Ob jemand 100 000 Euro oder eine an, denn das Gute im Fußball ist: Sie ha- AS Monaco wechseln würde. Real Madrid,
Million verdient, ich rechne immer den- ben nicht viel Zeit zum Nachdenken. Das Manchester City, PSG – sie alle waren in
selben Preis pro Stunde ab.« nächste Spiel wartet meist schon. der Verlosung. »Wir bekamen Anrufe von
Mbappés Vater habe sie sofort gemocht. SPIEGEL: Ist Ihnen der ganze Fußballzir- Leuten, die sagten: Wir wissen, dass er
Er kümmert sich um das Sportliche, Ver- kus auch mal zu viel? morgen einen Termin in Madrid hat. Wo
heyden um die Verträge. Fayza Lamari Mbappé: Hier und da kann es einem im ich nur sagen konnte: Ach ja, da wissen
macht eine kurze Pause, dann fügt sie hin- Alltag schon überdrüssig werden. Weil Sie mehr als ich!« Zeitweilig, so Verhey-
zu: »Ich bin seine Mutter, ich will und muss sich die Tage gleichen, weil wir immer den, habe sie das alles sehr an Science-Fic-
ihn beschützen.« so viel Aufmerksamkeit bekommen. Das tion erinnert.
kann manchmal nerven. Wir Fußballer
SPIEGEL: Sie werden oft mit der brasilia- leben in einer Blase, uns ist nicht immer SPIEGEL: Sie sind in diesem Jahr erneut für
nischen Fußballlegende Pelé verglichen. klar, wie privilegiert wir eigentlich sind. den Ballon d’Or als bester Spieler der Welt
Wie gehen Sie mit den Erwartungen um, Da muss man sich schnell wieder bewusst nominiert. Wie sehen Sie Ihre Chancen?
die solche Vergleiche mit sich bringen? machen, dass wir zu einer Minderheit Mbappé: Ich glaube nicht, dass ich ihn ge-
Mbappé: Da gibt es keinen Druck, denn gehören, die das Glück hat, ihren Traum winnen werde. Da gibt es einige andere
ich weiß, dass ich niemals Pelé sein werde. auszuleben. Spieler.
Er hat dreimal die Weltmeisterschaft ge- SPIEGEL: Wer ist Ihr Favorit?
wonnen, gilt als König des Fußballs. Ich Mbappé: Messi. In individueller Hinsicht
versuche, meine eigene Geschichte zu war er in diesem Jahr der Beste.
schreiben. SPIEGEL: Sie waren noch ein Kind, als Sie
SPIEGEL: Gab es Momente, in denen Ih- prophezeiten, dass Sie einmal Weltmeister
nen Ihr Talent nicht mehr als Gabe, son- werden und bei Real Madrid spielen wür-
dern als Last erschien? den. Der erste Teil ist abgehakt, was ist
Mbappé: Ja, denn es gibt schon viele Sa- mit dem zweiten?
chen, die ich nicht mehr machen kann. Mbappé: Der zweite Teil ist, dass ich einen
Aber das gehört nun mal zu meinem Beruf. Klub und einen Vertrag habe. Ganz einfach.
Niemand hat mich dazu gezwungen, Fuß-
ball zu spielen und mit all diesen Dingen Die letzte Frage beantwortet er wie alle
konfrontiert zu werden. Es gibt wirklich Fragen, ohne zu zögern, jedoch mit einem
Schlimmeres im Leben. leichten Grinsen. Nicht nur auf dem Fuß-
SPIEGEL: Wie schaffen Sie sich Inseln der ballplatz ist Mbappé inzwischen ein Voll-
Freiheit? profi. Dann steht er auf, bedankt sich, ver-
Mbappé: Ich gehe essen, feiere Partys mit schwindet zu einem Werbefotoshooting
meinen Freunden, suche mir dafür aller- eine Tür weiter. Kurz darauf nimmt sein
dings diskrete Orte aus. Chauffeur auf dem Sessel Platz, auf dem
zuvor Mbappé gesessen hat. Ein Journalist
Zuvor sagte seine Mutter dazu: »Es ist versucht, ihn in ein Gespräch zu verwickeln.
nicht leicht für ihn, weil alles so früh be- Mbappés Fahrer lächelt ihn freundlich an.
IMAGO SPORT

gonnen hat. Kylian kann nicht einfach ir- »Ich bin nicht autorisiert, Fragen zu beant-
gendwo ein Eis essen gehen, in ein Bistro worten.« Die Mauer um Mbappé steht.
um die Ecke, wie er das gern mag. Nur in Interview: Petra Truckendanner,
großen Restaurants oder Hotels wird er in Stürmer Mbappé Antje Windmann
Ruhe gelassen.« Auch deshalb habe sie »Wir Fußballer leben in einer Blase«

98 DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019


Sport

Ausgewechselt
Transsexualität Mit 8 Jahren wollte Antonia nur noch Anton heißen. Mit 16 sah er aus
wie ein Junge. Trotzdem spielte er Fußball in einer Mädchenmannschaft.
Die Geschichte einer Verwandlung, die die Regeln der Sportwelt sprengt.

K
urz vor Anpfiff fassen sich die jun-
gen Fußballer des Sportvereins
Pullach an den Schultern und bil-
den einen Kreis. Sie schwören
sich auf das Spiel ein. Es dämmert, sechs
Flutlichter erhellen den Kunstrasen. »Jeder
muss dabei sein, jeder muss Feuer geben«,
ruft der Kapitän. Leise zählt er: »Eins, zwei,
drei.« Stille. Dann ein lautes »Sieg«.
Eine der Stimmen gehört Anton Dali-
chau, dem Spieler mit der Nummer 6. Das
gelbe Trikot ist dem 17-Jährigen etwas zu
weit, es schlackert über den Hüften. Er
trägt Handschuhe und eine lange Thermo-
unterhose, in Pullach südlich von Mün-
chen sind es an diesem Novembernachmit-
tag vier Grad.
Anton spielt erst seit dem Sommer in
dieser Mannschaft bei den Jungen. Zehn
Jahre lang durchlief er zuvor alle Jugend-
mannschaften des Vereins – als Mädchen.
Anton ist transsexuell. Er konnte sich
nicht mit seinem angeborenen Geschlecht
identifizieren, er fühlte sich, als wäre er
im falschen Körper geboren. Wie ihm
geht es einigen Zehntausend Menschen
in Deutschland.
Der Fußball hat Anton Grenzen aufge-
zeigt – und Anton hat die Strukturen des
Sports herausgefordert. Die Einteilung in
Mann oder Frau bestimmt Wettkampfklas-
sen, Ligen, das komplette System des Leis-
tungs- und Breitensports. Wie soll man
umgehen mit Menschen wie Anton, für
die der Sport keine Regeln hat?
Sein Wechsel zu den Männern ist ein
JULIAN BAUMANN / DER SPIEGEL
Bruch mit der Vergangenheit, ein notwen-
diger Schritt, aber er hatte auch Zweifel:
Würden ihn die Jungs akzeptieren? Würde
er im neuen Team mithalten können? Es
sind Unsicherheiten, auf die ihn niemand
vorbereitet hat.
Einige Wochen zuvor sitzt Anton mit ge-
gelten blonden Haaren und dunkler runder Fußballer Anton: »Dass ich ein Tor geschossen habe, war die pure Genugtuung«
Brille weit zurückgelehnt auf einem weißen
Sessel in seinem Zimmer. Die Füße hat er
lässig über Kreuz auf einem kleinen Holz- Sport treiben darf Anton zu jenem Zeit- dass er sich im eigenen Körper unwohl
tisch abgelegt, ein riesiges dunkles Bücher- punkt nicht. Fußball spielen erst recht fühlte. Aber es fing schon früh an. In der
regal im Rücken. Er plaudert, weiß auf alles nicht. Verdeckt unter seinem T-Shirt trägt zweiten Klasse bittet Antonia ihre Mitschü-
eine Antwort, keine Frage oder Anekdote er einen Kompressionsverband. Er soll vor ler, sie Anton zu nennen. Anton will nicht
lässt er aus. Er wirkt wie jemand, der mit Erschütterungen schützen und die Haut mehr auf das Mädchenklo, harrt stunden-
sich im Reinen ist. Nur über unschöne Mo- straffen. Einige Wochen zuvor hat sich lang aus.
mente spricht er weniger gern. Er manö- Anton seine Brüste abnehmen lassen. Es Rückblickend sagt Anton: »Ich wusste
vriert geschickt an ihnen vorbei oder war eine Befreiung für ihn. Anton sagt, er nicht, wo ich mich zuordnen kann, soll,
nimmt ihnen mit Humor die Schärfe. wisse nicht mehr, wann es begonnen habe, muss.« Dass es so etwas wie Transsexua-

99
Sport

lität überhaupt gibt, weiß Anton lange Zeit sagt sie. Sie trägt ihre braunen Haare nur nen, wie sich die Stimme verdunkelt. In-
nicht. Bis er im Sommer 2015 Carl aus der noch wenige Millimeter kurz. Aber sie zwischen klingt Anton so, wie man es von
Klasse über sich kennenlernt, der schon versichert, dass sich die Eltern wegen der einem jungen Mann in seinem Alter er-
bei einem Spezialisten in Behandlung ist. ungewöhnlichen Frisur keine Sorgen ma- wartet.
»Jemanden zu kennen, der das Gleiche chen müssten. »Ich hatte einfach Lust Aber sosehr sich die Geschwister über
durchmacht, ist 100-mal mehr wert als drauf.« die körperlichen Veränderungen auch freu-
jeder Therapeut«, sagt Anton. Mit Carl Zu Beginn sind es auch bei Anton die en, im Sport nehmen die Konflikte zu. Im
tauscht er sich aus, fortan durchforstet er kurzen Haare, die ihn jahrelang auffallen Oktober vergangenen Jahres spielen die
das Internet nach Informationen. Irgend- lassen. Als seine Mannschaft bei einem Frauen des SV Pullach gegen den TSV
wann ist er sich zu 100 Prozent sicher, dass Hallenturnier gerade pausiert, so erinnert Allach. Anton ist 16, Leistungsträger im
er transsexuell ist. sich Anton, habe sich eine ältere Dame ne- Mittelfeld, äußerlich unterscheidet er sich
Er beginnt, seine Brüste mit einem Spe- ben ihn gesetzt und geradeheraus gefragt, kaum noch von einem Jungen.
zialbinder optisch verschwinden zu lassen, wie es denn so sei, »als Bub in einer Mäd- Die Wirkung der Hormone bringt An-
einer Art Mieder für den Oberkörper. Bea- chenmannschaft«. Er habe keine passende ton in ein Dilemma: Für die Jungs ist er
trice Dalichau, 56, hofft zu diesem Zeit- Antwort gehabt. noch nicht Junge genug, aber er ist auch
punkt noch auf eine Laune. Antons Mutter Vor etwa einem Jahr macht Anton ei- kein Mädchen mehr.
ist Richterin. Mehrere Monate lang ver- nen entscheidenden Schritt, um sein Le- Als die beiden Mannschaften gerade ein-
sucht sie, Anton umzustimmen. Sie will ben zu verändern. Er beginnt, ein ver- laufen, so erzählt es Anton, sei der Gäste-
ihm aufzeigen, welche Chancen als Frau männlichendes Hormon einzunehmen. trainer direkt auf ihn zugekommen, habe
er später einmal haben wird. Alle drei Monate bekommt er nun eine ihn bedrängt und verlangt, seinen Perso-
Anton lässt sich nicht überzeugen. Spritze – er wird das Mittel bis zu seinem nalausweis zu sehen. Antons Trainer sei
Nach einigen Monaten wird seiner Mutter Lebensende nehmen müssen. dazwischengegangen, habe versucht, auf-
klar: »Entweder wir gehen mit ihm, oder Was das Testosteron auslöst, kann An- zuklären und zu schlichten. Nach 17 Mi-
wir verlieren ihn.« Zum Wir gehört An- ton an seinem Körper ablesen: breitere nuten schießt Anton das Führungstor zum
tons Vater Harald. Für den pensionierten Schultern, mehr Akne, kantigeres Gesicht. 1:0. Der Trainer der gegnerischen Mann-
Professor für Theoretische Elektrotechnik Einmal im Monat zeichnet er seine Stim- schaft tobt und protestiert. »Er hat noch
bleibt es lange Zeit schwierig, die Orien- me auf und vergleicht die Aufnahmen. das ganze Spiel über am Rand weiterge-
tierung seines Kindes anzunehmen. Er Jackie freut sich mit ihm, wenn sie erken- keift«, erzählt Anton. Sein Team gewinnt
hält sich eher aus den Diskussionen in der schließlich mit 3:2. »Dass ich in dem Spiel
Familie heraus, befürchtet aber stets, dass ein Tor geschossen habe, war die pure Ge-
ihn Anton später einmal zur Verantwor- nugtuung.«
tung ziehen könnte, wenn er ihn jetzt Transsexualität Für Sportler ist die Frage des Ge-
nicht vor einer falschen Entscheidung schlechts bedeutsam. Der Kölner Sport-
‣ Transsexualität liegt eine Diskrepanz
schütze. wissenschaftler Hans-Jürgen Tritschoks
zwischen der Geschlechtsidentität und
Doch Anton lässt nicht locker. Anfang sagt, dass ein Frauenspiel im Schnitt um
2017 hat er seinen ersten Termin in der den körperlichen Geschlechtsmerk- ein Drittel langsamer sei als ein Spiel bei
Kinder- und Jugendpsychiatrie des Univer- malen zugrunde. den Männern. Das höhere Tempo im
sitätsklinikums in München. Er ist 14. Mit ‣ Das kann zu einer sogenannten Männerfußball liege schlicht an der grö-
dem Arzt über sexuelle Dinge zu sprechen Geschlechtsdysphorie, einem psycho- ßeren Muskelmasse, die Männer ab der
habe ihm Grenzen aufgezeigt, sagt er. Pubertät aufbauen. 2017 waren die Welt-
sozialen Leidensdruck, führen,
Über Küssen, Liebe und Geschlechtsver- meisterinnen aus den USA in einem Test-
die Stress und sogar eine Depression
kehr zu reden überfordert ihn. »Es waren spiel gegen die U-15-Jungenmannschaft
Fragen, die ich mir so noch nicht gestellt zur Folge haben kann. des FC Dallas chancenlos und unterlagen
habe.« Bei jedem weiteren Termin soll An- ‣ Um die Diagnose so sicher wie mit 2:5.
ton beantworten, ob er sich mit seiner Ent- möglich zu machen, ist eine Auch für Antons Schwester werden die
scheidung sicher sei. psychotherapeutische Begutachtung Fußballspiele zunehmend zu einer Belas-
Zur gleichen Zeit schreitet die Pubertät tung. Jackie erinnert sich an Zuschauer,
notwendig.
voran, seine Brüste wachsen, die Entwick- die sich am Spielfeldrand echauffierten.
lungen seines Körpers werden für ihn ‣ Laut dem Bundesamt für Justiz haben Es sei getuschelt worden, Gegenspielerin-
mehr und mehr zur Belastung. »Jeden Tag seit Mitte der Neunzigerjahre rund nen seien irritiert gewesen und hätten
wachte er auf, guckte an sich runter – und 20 000 Personen mithilfe des Trans- während des Spiels bei Anton nachge-
alles war falsch«, erzählt Antons Mutter sexuellengesetzes ihr Geschlecht offi- fragt, ob er denn nun ein Mädchen oder
über diese belastende Zeit. ziell angeglichen. Wie hoch die Zahl der ein Junge sei. Jugendliche hätten auf dem
Damals spielt Anton noch in der Mäd- Sportplatz »Transe« gerufen.
Betroffenen insgesamt ist, lässt sich
chenmannschaft Fußball. Gemeinsam mit Als die Hormonbehandlung weiter fort-
nur schwer abschätzen. Die Bundes-
seiner Zwillingsschwester Jacqueline, die geschritten ist, fragt Anton, wann ein
von allen Jackie genannt wird. Mit sieben regierung rechnet in ihrem Gesetzent- Wechsel zu den Jungen möglich sei. Der
Jahren beginnen beide beim SV Pullach, wurf mit 3000 Beratungen im Jahr. Bayerische Fußball-Verband kann ihm
anfangs steht Anton im Tor, später spielen ‣ Die Kriterien für gerechtfertigte Ope- und seinem Trainer nur eine Auskunft ge-
sie gemeinsam im Mittelfeld. »Man hat rationen sind insbesondere bei Kindern ben: Das Geschlecht stehe im Pass, und
einfach gemerkt, dass wir auf dem Platz das gelte. Anton tut nichts Unrechtes, in-
streng und müssen medizinisch
gleich denken«, sagt Jackie. dem er einfach als Antonia bei den Mäd-
begründet sein. In der Regel erfolgt
Als kleines Kind spielte Antonia mit chen weiterspielt. Und trotzdem fühlt es
Puppen, war sensibel, Jackie hingegen eine Operation nur bei einem starken sich falsch an.
eher die Wilde. Die Rollen kehrten sich Leidensdruck und erst ab dem Transsexualität ist für die meisten Be-
um. Jackie ärgert das. »Ich war nicht ge- 18. Lebensjahr. Nur in besonderen Ein- troffenen eine große persönliche Belas-
wohnt, dass so viel Kraft in ihm steckt«, zelfällen sind Ausnahmen möglich. tung. Verstärkt wird das oft durch die Un-

100 DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019


in einen Binder, eine Art Sport-BH. Häu-
fig hat er deshalb am Abend Schmerzen.
Die hören erst auf, als er sich im Septem-
ber in einer Düsseldorfer Spezialklinik
seine Brüste entfernen lässt. Danach
muss er sechs Wochen lang eine Kompres-
sionsweste tragen und darf keinen Sport
treiben.
Nun, ein paar Wochen später, fällt ihm
das Atmen leichter. Dass er nie bei seinem
Wunschkörper ankommen wird, ist ihm
längst klar. Ob weitere Operationen hin-
zukommen werden, weiß er noch nicht.
Mit der Entscheidung will er sich Zeit las-
sen, denn es sind weitreichende Eingriffe,
lebenslange Nebenwirkungen nicht ausge-
schlossen.
Anton studiert jetzt Elektrotechnik. Er
kann sich vorstellen, irgendwann eine Fa-
milie zu gründen. Alle Unterlagen, die das
Transthema betreffen, heftet er in seinem
schwarzen Aktenordner ab.
Als er im Fußball zu den Jungs wechselt,
ist der Alltag unkompliziert, sein neues
Team nimmt ihn gut auf. Die Reaktionen
seien »normaler, als ich es erwartet habe«,
sagt sein Trainer Felix Coenen. Einige
Spieler habe Anton schon vorher vom
Sehen gekannt. Einer habe gesagt: Der
spielt gut. Das ist, was zählt.
»In meinem ersten Training habe ich
mich wie jemand gefühlt, der neu in eine
Mannschaft kommt – mehr war da nicht«,
sagt Anton. Ein bisschen unsicher sei er
gewesen, natürlich. »Aber nur, weil ich
nicht wusste, ob ich mithalten kann.«
Das kann Anton. Gegen Viktoria Mün-
chen an diesem kalten Novembertag spielt
JULIAN BAUMANN / DER SPIEGEL

er von Beginn an, steuert einige Vorlagen


bei, Pullach gewinnt 8:1. Sein Team bleibt
Tabellenführer. Anton ist nicht der Typ,
der bei Siegen zur Euphorie neigt. Das
Spiel ist für ihn ein weiterer Schritt zur
Normalität.
Am selben Tag wird im Berliner Fuß-
Zwillingspaar Jacqueline, Anton Dalichau: »Auf dem Platz gleich gedacht« ball-Verband (BFV) Antrag Nummer 53
angenommen, es ist eine Art Pilotprojekt.
In Zukunft dürfen in Berlin Personen, die
beholfenheit des Umfelds, das nicht weiß, Gemeinsam mit der Familie entschei- sich nicht dem männlichen oder weib-
wie es mit ihnen umgehen soll. det er sich für einen Zweitnamen: Jona- lichen Geschlecht zugehörig fühlen, selbst
Claudia Krobitzsch ist beim Deutschen than. Dieser steht seit Juli auch auf sei- entscheiden, für welche Mannschaft sie
Fußball-Bund für die Themen Vielfalt und nem Abiturzeugnis, Notendurchschnitt spielen möchten.
Antidiskriminierung zuständig, darunter 1,0. Er hat sein Abitur mit 17 Jahren ge- Außerdem erhalten Personen wie An-
fällt auch die geschlechtliche Vielfalt. Sie macht, weil er eine Klasse übersprungen ton, die sich einer Geschlechtsanpassung
sagt, dass sich der DFB beim Thema Trans- hatte. unterziehen, die Spielberechtigung für
sexualität aktuell in der »Phase des Er- Bevor sich Anton wieder auf Fußball die Mannschaft des Geschlechts, an das
fahrungsaustauschs« befinde. In Zukunft konzentrieren kann, steht für ihn noch sie ihren Körper angleichen lassen. Der
wünscht sich Krobitzsch einen Ansprech- eine der wichtigsten Entscheidungen an. BFV sendet mit dieser Entscheidung ein
partner in allen Landesverbänden. Bisher Bisher zwängt er sich vor den Spielen richtungweisendes Signal – ein erster
werde in den meisten Fällen eine indivi- Schritt für trans- und intergeschlechtliche
duelle Lösung angestrebt. Personen zu mehr Gleichberechtigung im
Um wieder Fußball ohne Anfeindungen Sport.
spielen zu können, bleibt Anton nur die Seine Schmerzen »Es ist schön zu sehen, dass tatsächlich
Lösung, seine Personenstandsänderung hören erst auf, als irgendwo etwas vorangeht«, kommentiert
abzuwarten. Zwei Buchstaben weniger in
seinem Namen, damit wird Anton im Früh- er sich seine Brüste Anton die Entscheidung aus Berlin.
Markus Sutera
jahr 2019 auch formal zum Mann. entfernen lässt
101
Wissenschaft+Technik
Irgendwann schien es, als habe der Tod Gustav Gerneth vergessen. ‣ S. 104

TOM HEGEN / SWNS / ACTION PRESS


Pretty in Pink, das ließ sich bisher selten über Gewächshäuser sagen. Tag und Nacht beleuchten LEDs
die Nutzpflanzen in diesem Betrieb im niederländischen Westland. Hier wird die Landwirtschaft der Zukunft
erprobt: Dank der zielgerichteten Bestrahlung kann das Pflanzenwachstum präzise gesteuert werden. Ob
rosa, blau, rot, LED-Farben beeinflussen, wie gut etwas sprießt – und wie süß, weich oder gehaltvoll es wird.

Einwurf

Gram der Gatten


Ein zu hohes Einkommen von Frauen setzt Männer unter Stress.

Mädchen bekommen in der Schule die besseren Noten und wertlos, verzweifelt. Frühere Studien hatten Ähnliches zutage
machen häufiger Abitur als Jungen. Trotzdem verdienen Frauen gefördert, wie jene, die zeigten, dass ein zu hohes Einkommen
später im Durchschnitt 21 Prozent weniger als Männer – warum der Frau nicht nur zur Impotenz ihres Gatten führen, sondern
nur? Eine mögliche Erklärung für diese fortwährende und him- ihn auch in den frühzeitigen Exitus treiben kann. Im Ernst.
melschreiende Ungerechtigkeit könnte in der äußerst sensiblen Kaum zu fassen, dass wir im 21. Jahrhundert leben.
Psyche der Männer liegen. Es zeigte sich jetzt nämlich, dass sie Liegt die Rettung nun darin, dass die Frau auf ihre Beförde-
von gut verdienenden Frauen überfordert ist. Ja, Sie haben rung verzichtet? Oder die Mehreinnahmen vor ihrem Mimosen-
richtig gelesen: Zu viel Geld für die Frau schmerzt die männliche mann versteckt? Seine Chefin besticht, ihm mehr auszuzahlen?
Seele. Das hat eine große Studie der britischen University of Natürlich nicht, denn das Problem liegt nicht bei ihr. Es ist das
Bath ergeben, die auf einer Befragung in 6000 Haushalten be- überholte Rollenbild des Familienernährers, das den Gatten auf
ruht. Zwar tut es Männern gut, wenn ihre Frau dazuverdient Dauer so grämt, ein Bild, dem viele Männer meinen genügen zu
und sie von der alleinigen Verantwortung des Brötchenverdie- müssen, auch wenn sich die Zeiten längst geändert haben.
ners entlastet. Aber wehe, das Gehalt der Ehefrau ist zu hoch! Dass es anders geht, zeigen die Ehemänner in der Studie aus
Und »zu hoch«, so zeigte die Studie, beginnt schon bei 40 Pro- Bath, denen bereits vor der Hochzeit klar war, dass ihre Liebste
zent Anteil am Haushaltseinkommen. Von da an steigt auch der die Hauptverdienerin sein würde. Sie blieben angesichts der
psychosoziale Stress des Ehemanns, er fühlt sich häufiger traurig, Gehaltsabrechnung ihrer Partnerin gelassen. Veronika Hackenbroch

102 DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019


Tiere

43
Fußnote
Sonnenbad im Sand
 Einst lebten Gangesgaviale – eine für
ihre lange, sehr schmale Schnauze
bekannte Krokodilart – in allen großen
Flüssen des nördlichen indischen Sub-
kontinents. Inzwischen sind diese Tiere
vom Aussterben bedroht, es gibt in freier Minuten Schlaf, die Collegestudenten

RIKKI GUMBS / ZSL


Wildbahn höchstens noch 900 erwachse- auf Bitten von Forschern im Schnitt
ne Exemplare. Umso erfreuter waren an ihre gewohnte Nachtruhe dranhäng-
Artenschützer, als sie im Juni im Bardia- ten, verbesserten ihre Gesundheit: Der
Nationalpark im Westen Nepals mehr als Blutdruck sank, sie fühlten sich wacher
100 Gangesgavial-Junge entdeckten. Gangesgavial-Junges und nickten seltener im Unterricht ein,
Dort war zuletzt 1982 Nachwuchs dieser das ergab eine Studie der Pennsylvania
Fischfresser beobachtet worden. Die haben die jungen Reptilien – perfekte State University. Zu wenig Schlaf ist
rund 30 Zentimeter langen Krokodilchen Miniaturversionen ihrer rund vier Meter ein Problem bei jungen Leuten – 36 Pro-
sonnten sich auf einer Sandbank, bei langen und 160 Kilo schweren Eltern – zent kommen nicht auf die empfohlene
ihnen waren drei erwachsene weibliche bereits den ersten Monsunregen über- Mindestruhezeit von sieben Stunden,
Tiere und ein Männchen. Inzwischen standen. VH 14 Prozent nicht einmal auf sechs.

Ökologie Schmidt: Ja. Wetterereignisse wie 2018


sorgen vielleicht sogar dafür, dass die
»So etwas haben wir noch nie gesehen« Arktis den arktischen Lebewesen vorbe-
halten bleibt, weil weniger angepasste
Der Biologe Niels Martin Schmidt, 50, von der dänischen Universität Aarhus Arten es dann dort nicht mehr schaffen.
über die Folgen von zu viel Schnee auf Grönland Aber wenn die Häufigkeit der Extrem-
ereignisse zunimmt und sich der Klima-
SPIEGEL: Ihr Team ist Weil weniger Blumen blühten, gab es wandel rasch vollzieht, könnten sich
auf ein ungewöhnliches im folgenden Jahr weniger Insekten, was auch einheimische Arten nicht schnell
Wetterphänomen ge- dann ebenfalls weniger Futter für Zug- genug anpassen.
stoßen. Worum geht es? vögel bedeutete. Wir beobachten dieses SPIEGEL: Glauben Sie, dass sich diese
Schmidt: Seit Jahren er- Areal seit 1998, aber so etwas haben Rekordwinter wiederholen werden?
forschen wir ein Areal am wir noch nie gesehen. Schmidt: Das ist schwer vorhersagbar. In
Zackenberg im Nordosten Grönlands. SPIEGEL: Kann es sein, dass es aufgrund diesem Jahr war es ja genau andersherum.
Normalerweise kommt dort im April der des Klimawandels dort mehr geschneit hat? Es fiel kaum Schnee, was ebenfalls ganz
Frühling, aber 2018 lagen noch immer Schmidt: Ich bin da kein Experte, aber eigene Probleme mit sich brachte; viele
Massen an Schnee. Pflanzen schafften es natürlich kann der Klimawandel häufiger Pflanzen bekamen in diesem Frühjahr
nicht durch die Schneedecke, Zugvögel Extremwetterlagen bringen. Außerdem deshalb einfach nicht genug Feuchtigkeit,
fanden keine passenden Nistplätze. Und nimmt wärmere Luft mehr Feuchtigkeit das hatte wiederum Auswirkungen auf
so fiel die Brutsaison 2018 einfach aus. auf, was tatsächlich zu mehr Schneefall den Rest der Nahrungskette. Wir beobach-
SPIEGEL: Es gab also eine Art ökologische führen kann. ten da eine Kaskade, die das ganze Sys-
Kettenreaktion? SPIEGEL: Sind die arktischen Tier- und tem durchzieht. Ich bin schon gespannt
Schmidt: Genau – und zwar mit Effekten, Pflanzenarten nicht perfekt an extreme auf 2020 – im April reisen wir wieder
die über das eine Jahr hinausreichten. Bedingungen angepasst? nach Grönland. HIL

SHUTTERSTOCK

Häuser in Aasiaat, Grönland

103
104
JILL GREENBERG COURTESY CLAMPART GALLERY, NEW YORK
Titel

Wird er
130?
Medizin Der Jungbrunnen ist ein Menschheitstraum,
ewig schon versuchen Forscher, das Altern
zu besiegen, die Lebensuhr zurückzudrehen. Das ist
ihnen nun gelungen – bei Fischen und Mäusen.
Jetzt sind wir dran.

DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019 105


Titel

L
ange merkte niemand, dass Gerneth ins Visier der Biowissenschaften Zwar weigern sich die Zulassungsbehör-
Gustav Gerneth anders war geraten. Sie sind zu Hoffnungsträgern der den bisher, die Bekämpfung des Alterns
als die anderen Menschen. Er Wissenschaft des Alterns geworden. Denn als Therapieziel neuer Verfahren zu akzep-
arbeitete als Maschinist auf irgendwo in ihrer Lebensweise, ihrem tieren. Deshalb gelten die ersten klinischen
Binnenschiffen, dann sattelte Stoffwechsel oder Erbgut muss das Ge- Versuche vorerst nur altersbedingten Lei-
er um auf Flugzeugmechanik. heimnis der langen Gesundheit verborgen den. Doch kaum verhohlen werben die
Zuletzt war er Installateur in einem Gas- liegen. Verfechter der neuen Methoden auch mit
werk an der Havel. Und nie fiel er dabei Viele Forscher begnügen sich nicht da- der Verheißung eines längeren Lebens.
als außergewöhnlich auf. mit, das Alter zu verstehen. Sie wollen es So wird Alzheimerpatienten in Kalifor-
Das änderte sich erst, als er schon seit besiegen. Die Natur, davon sind sie über- nien ein Blutplasma-Enzym junger Pro-
vielen Jahren in Rente war. Gerneth feierte zeugt, habe uns eine Art Drehbuch mitge- banden appliziert, in der Hoffnung, dass
seinen 80. Geburtstag, seinen 90., seinen geben, in dem festgelegt ist, wie die Haut dies nicht nur ihren kognitiven Verfall auf-
100., und irgendwann schien es, als hätte runzelt, die Arterien verhärten und das hält, sondern ihnen zusätzlich etwas Ju-
der Tod ihn vergessen. Seine Frau Char- Hörvermögen schwindet. Mit ein paar gendfrische verleiht. In anderen Fällen
lotte starb nach 58-jähriger Ehe. Ihm stand richtig platzierten Regieanweisungen hof- werden Substanzen, die im Tierversuch le-
da noch ein mehr als 30-jähriges Leben fen sie den Verlauf dieses Dramas ändern bensverlängernd wirken, am Menschen als
als Witwer bevor. zu können. Mittel gegen Makuladegeneration, eine
Natürlich konnte selbst einer wie Ger- In einer von der Vergreisung geprägten häufige Augenerkrankung bei über 50-Jäh-
neth dem Tod nicht ewig trotzen. Doch Wohlstandsgesellschaft wird das Altern als rigen, oder gegen altersbedingte Immun-
als es am 21. Oktober dieses Jahres, knapp Kränkung empfunden, die viele nicht län- schwäche getestet.
eine Woche nach seinem 114. Geburtstag, ger bereit sind hinzunehmen. Vor allem in Demnächst läuft in den USA ein Groß-
schließlich so weit war, da ging er als Welt- der fortschrittseuphorischen Elite Kalifor- versuch an, der einer ursächlichen Behand-
rekordhalter: Der Rentner aus Havelberg niens regt sich der Widerstand. Der Fi- lung des Alters besonders nahe kommen
in Sachsen-Anhalt war zum Zeitpunkt sei- nanzexperte Joon Yun, der dort einen der wird. Der New Yorker Gerontologe Nir
nes Ablebens der älteste Mann auf Erden. großen Gesundheits-Hedgefonds verwal- Barzilai will dazu mehr als 3000 gesunden
Vier Bundespräsidenten, von Horst Köh- tet, bringt das Credo auf den Punkt: »Wir Probanden den Wirkstoff Metformin ver-
ler bis Frank-Walter Steinmeier, hatten ihm können den Code des Alterns knacken. abreichen. Die Erfahrung mit diesem ge-
ihre Glückwünsche übermittelt, so wie es Und einen Code, den wir knacken können, bräuchlichen Diabetesmittel deutet darauf
das deutsche Staatsoberhaupt bei Geburts- können wir auch hacken.« hin, dass es möglicherweise als eine Art
tagen von über Hundertjährigen tut. Bis zu- Schon gibt es spektakuläre Erfolge zu Rundumschutz gegen Altersleiden wie
letzt wohnte Gerneth allein in seiner Zwei- vermelden. Im Tierversuch ist die Lebens- Herzinfarkt, Schlaganfall, Demenz und
zimmerwohnung in der Havelberger Fischer- verlängerung zur Laborroutine geworden. Krebs wirkt. Die Lebensverlängerung,
straße. Viele Stunden, viele Wochen, viele Mit einer Vielzahl von Arzneimitteln, Hor- sagt Barzilai, zähle zwar nicht zu den er-
Jahre hat er dort am Fenster gesessen und monen und Genmanipulationen gelingt es klärten Zielen. »Aber sie könnte als eine
hinaus auf den Stadtgraben und den dahin- Forschern, die Alterung von Fruchtfliegen Nebenwirkung auftreten.«
ter emporragenden Domberg geschaut. oder Mäusen hinauszuzögern. Mit ausge- Vielleicht noch bedeutsamer als die kli-
Mit seinem unbeugsamen Überlebens- tüftelten Wirkstoffcocktails stellen sie da- nischen Fortschritte sind die Erkenntnisse,
willen stieß Gustav Gerneth vor in unkar- bei immer neue Langlebigkeitsrekorde auf. die Forscher auf dem Weg dahin über das
tiertes Gelände: Was war sein Geheimnis? Die Lebensspanne winziger Fadenwürmer Wesen des Alterungsprozesses zutage ge-
Wessen bedarf es, um 114 Jahre leben zu können sie verzehnfachen. fördert haben. Im Innern unserer Zellen,
können? Und wie alt kann ein Mensch Selbst eine Verjüngung betagter Ver- so fanden sie, tickt eine molekulare Uhr
überhaupt werden? suchstiere scheint möglich zu sein. So im Gleichtakt mit unserem Leben. Verblüf-
hauchten Kölner Wissenschaftler gealter- fend genau lässt sich an ihr das Alter eines
ten Fischen neue Lebenskraft ein, indem Menschen ablesen.
Das Projekt Jungbrunnen sie sie mit der Darmflora jugendfrischer
In einer Analyse globaler demografischer Artgenossen behandelten. Amerikanische
Daten kamen New Yorker Wissenschaftler Kollegen wiesen unterdessen im Blut jun- Unsterblichkeit – warum nicht?
vor drei Jahren zu dem Schluss, dass ger Mäuse die Existenz einer Art Jung- Und nicht nur das: Experimente zeigen,
Menschen selbst unter günstigsten Um- brunnensubstanz nach. dass Eingriffe in dieses Räderwerk des Le-
ständen kaum mehr als 115 Jahre alt Noch handelt es sich nur um experimen- bens möglich sind. In den Labors der Al-
werden können. Wenn das zutrifft, wäre telle Verfahren, deren Wirkweise längst ternsforscher ist es nicht nur gelungen, die
Gustav Gerneth in Havelberg dem Maxi- nicht ganz verstanden ist. Trotzdem wol- innerzelluläre Uhr zu bremsen, sondern
mum des Menschenmöglichen sehr nahe len sich jene, die dem Alter den Kampf sogar sie zurückzudrehen. Noch sind viele
gekommen. ansagen, nicht auf bloße Tierexperimente Fragen offen, aber die Indizien dafür meh-
Jetzt wollen die Forscher wissen, wa- beschränken. Die Ära der Menschenver- ren sich, dass der Alterungsprozess um-
rum. Unvermittelt sind Rekordgreise wie suche hat begonnen. kehrbar ist.

Augen Ohren Lunge


Zahn
der Zeit Ungefähr mit 15 Jahren nimmt Etwa ab 20 Jahren nimmt die Mit20 Jahren nimmt die
Wie schnell altern die Elastizität der Linse ab, mit etwa Zahl der für die Wahrnehmung von Produktion von Lungenbläschen
unsere Organe?
40 Jahren lässt die Sehfähigkeit in der Tönen wichtigen Haarzellen in der ab. Dadurch dass auch die Elasti-
Nähe merklich nach. Im hohen Alter Gehörschnecke ab. Oft setzt ab 60 zität der Lunge abnimmt, wird das
droht der graue Star. Jahren eine Altersschwerhörigkeit ein. Luftvolumen kleiner, das ein- und
ausgeatmet werden kann.
106
tur überleben diese kleinen Süßwasser-
»Der Stoff- polypen meist nur wenige Monate, im
Labor dagegen zeigen sie selbst nach acht
wechsel von Jahren noch keine ersichtliche Lebensmü-
digkeit.
Hundert- Biologisch betrachtet, scheint ein ewiges
Leben also keineswegs ein Ding der Un-
jährigen möglichkeit zu sein. Nur hat die Natur nor-
malerweise keinen Grund dafür, unsterb-
sieht meist liche Geschöpfe hervorzubringen.
Denn der Fortlauf der Evolution wird
kerngesund von der natürlichen Selektion bestimmt,
und diese kennt nur ein Kriterium: die
aus.« Zahl der überlebensfähigen Nachkommen.
Begünstigt werden ausschließlich solche
Merkmale, die den Fortpflanzungserfolg
mehren – und Unsterblichkeit gehört nicht
dazu.
Wenn ein Organismus Nachkommen in
MARK KUIPERS

die Welt gesetzt und so für den Fortbe-


stand seiner Gene gesorgt hat, dann hat
Gerontologin Slagboom er seine natürliche Aufgabe erfüllt. Das
Leben über diesen Zeitpunkt hinaus fort-
zusetzen, ist der weiteren Verbreitung der
Ehe der Jungbrunnen Wirklichkeit wird, ihm zu, mit jeder Mahlzeit und jedem Gene nicht mehr zuträglich. Für die Evo-
ist noch viel Grundlagenforschung notwen- Atemzug nimmt er Giftstoffe auf. lution hat unser Leben damit seine Bedeu-
dig. Es fängt schon damit an, dass keine Anders als Maschinen verfügt der Kör- tung verloren. Die Wartungsarbeiten kom-
Einigkeit darüber herrscht, was »Alter« per allerdings über die Fähigkeit, sich men deshalb allmählich zum Erliegen.
eigentlich ist: Setzt es mit 65 ein, wenn selbst zu reparieren. Überall im Gewebe Die Unerbittlichkeit, mit der die Natur
der Rentenbescheid kommt? Mit 40, wenn sind Wartungstrupps am Werk, deren Job uns dem Tod überantwortet, nachdem wir
die ersten Härchen ergrauen? Oder be- es ist, jeden Schaden zu beheben. unsere Schuldigkeit getan haben, mag
ginnt es schon mit der Geburt? Passiert es Ein Mensch ist, im biologischen Sinne, grausam erscheinen. Doch die Logik der
von allein, oder handelt es sich um einen nicht mehr derselbe, der er gestern war. Evolution enthält auch einen tröstlichen
aktiven Prozess? Ist es Teil jedes normalen, Denn Tag für Tag sterben Myriaden alters- Kern, denn sie lehrt uns, dass eine Verlän-
gesunden Lebens? Oder ein krankhafter müder Haut-, Leber- oder Blutzellen ab gerung des Lebens möglich ist.
Verlust von Körperfunktionen? und werden durch frische ersetzt. Der Kör- Die Natur kennt vielerlei Schalter, mit
Aristoteles hielt innere Wärme für eine per ist ein sich unermüdlich erneuerndes denen sich die Lebensspanne eines Orga-
Grundvoraussetzung des Lebens. In unse- Gebilde. Selbst ein 90-Jähriger besteht zu nismus regulieren lässt. Den Gesetzen der
rem Innern brenne ein Feuer, und wenn einem großen Teil aus frisch entstandenem Evolution folgend, maximiert die Einstel-
dieses erlösche, trete der Tod ein. Das Al- Gewebe. lung dieser Schalter den Fortpflanzungs-
tern begriff er als allmähliche Erkaltung. Theoretisch sind diesem Reparaturbe- erfolg einer Spezies. Wir Menschen können
Der Gedanke des antiken Philosophen trieb keine Grenzen gesetzt. Wenn die In- nun versuchen, sie nach unserem Gutdün-
leuchtet ein: Das langsame Dahinschwin- standhaltung eines Körpers 5 Jahre lang ken neu zu justieren.
den eines immer schwächer flackernden anstandslos klappt, dann kann sie auch 50
Lebenslichts gibt das Erleben des Alterns oder 500 Jahre funktionieren.
gut wieder. Es wird empfunden als Verfall, In der Natur gibt es durchaus Beispiele Chaos im Erbgut
Verlust, als Niedergang. Es ist, als bekäme dafür, dass ein Leben fast ohne Altern Dario Valenzano vom Kölner Max-Planck-
ein jeder seine Ration Lebenskraft mit auf möglich ist. Westliche Grannenkiefern Institut für die Biologie des Alterns wollte
den Weg, von der er zehrt, bis sie irgend- etwa sind extrem langsam wachsende Bäu- zuschauen, wie die Evolution Lebenszeit
wann aufgebraucht ist. me, in deren Gewebe die Forscher bisher reguliert. Schnell war ihm klar, dass er
Doch das Gefühl trügt. Der menschliche vergebens nach Anzeichen des Alterns dazu die geeigneten Studienobjekte finden
Körper ist keine Maschine, die verschleißt gesucht haben. Die Zellen von 20- und musste.
und irgendwann ihren Dienst aufgibt. von 4000-jährigen Bäumen unterscheiden Der Italiener entschied sich für afrika-
Zwar ist der Mensch vielen Widrigkeiten sich nicht erkennbar voneinander. Hydra nische Killifische. Diese etwa daumenlan-
ausgesetzt; Witterung, Stress, Mikroben ist ein weiteres Lebewesen, das sich dem gen, bunt schillernden Süßwasserfischchen
und die kleinen Unfälle des Alltags setzen Altern zu widersetzen scheint: In der Na- zeichnen sich durch zwei Eigenschaften

Reproduktionsorgane Gelenke Haut Haare

Etwa ab 25 Jahren
nimmt die Fruchtbarkeit der
Ab 30 Jahren verliert
der Knorpel des Bewegungs-
Mit30 Jahren sieht
man erste Spuren des Alterns.
Ab Mitte 30 ergrauen die
Haare, weil die Produktion des für
Frau ab. Beim Mann sinkt der apparats an Elastizität und Ver- Die Haut kann weniger Feuchtigkeit die Haarfarbe entscheidenden
Testosteronspiegel. formbarkeit. Die Bandscheiben binden und verliert an Elastizität. Farbstoffs Melanin erst nach-
werden zunehmend steifer. lässt und dann ganz aussetzt.

107
Titel

Leiden lehrt, hat dafür die genetischen Da-

STEVE BAUERSCHMIDT / IMAGO


ten von mehr als 13 000 greisen Proban-
den ausgewertet; herausgefunden hat sie –
fast nichts. Zwei, drei Gene konnte sie
dingfest machen, die dem gesunden Altern
SALK INSTITUTE FOR BIOLOGICAL STUDIES

zuträglich sind. Doch deren Einfluss ist


viel zu gering, als dass sich das lange Le-
ben damit erklären ließe.
Slagboom verlegte sich darauf, statt im
Erbgut im Blut von Greisen nach Auffäl-
ligkeiten zu suchen. Dort wurde sie rasch
fündig: »Der Stoffwechsel von Hundert-
jährigen sieht meist kerngesund aus«, kon-
statiert sie.
All jene Vorgänge, die bei Normalsterb-

DENNIS FLAHERTY /NAS / OKAPIA


lichen mit dem Niedergang einhergehen,
Forschungsorganismen Maus*, sind bei ihnen verzögert: das Nachlassen
Killifisch, Westliche Grannenkiefer der Nierenfunktion, die Ablagerungen an
Schalter der Natur den Gefäßwänden, die Zunahme entzünd-
nach Gutdünken neu justieren licher Prozesse. »Was den Stoffwechsel be-
trifft, sind sie das exakte Gegenteil eines
fettleibigen, arteriosklerotischen Diabeti-
kers«, sagt sie.
Aus den Daten von 44 168 Menschen
aus: Zum einen sind einige von ihnen nicht notwendig ist. Ungestraft können hat Slagboom eine Art Formel zur Mes-
extrem kurzlebig, schon nach wenigen sich Defekte im Erbgut ansammeln, die sung des gesunden Alterns destilliert.
Wochen erreichen sie die Geschlechtsreife, durch allgegenwärtige Giftstoffe oder 14 Laborwerte – darunter Blutzucker, Fett-
wenig später beginnt der Verfall. Zum an- durch Strahlung entstehen; immer früher säuren, Proteine und verschiedene Amino-
deren leben verschiedene Killifischarten setzt der Alterungsprozess ein. säuren – hat sie identifiziert, anhand deren
sehr unterschiedlich lang. Valenzano un- Noch weiß Valenzano nicht, ob er es sich sehr zuverlässig vorhersagen lässt, wie
tersuchte insgesamt 45 Spezies, deren Le- hier mit einer Besonderheit zu tun hat, die lange ein alter Mensch noch leben wird.
bensspanne zwischen fünf Monaten und sich nur bei den Killifischen findet. Doch Bisher, sagt sie, sei das Verfahren für den
fünf Jahren variiert. er vermutet, dass es sich um ein universel- klinischen Einsatz nicht ausgereift genug.
Valenzanos Projekt erwies sich als vol- les Phänomen handelt. Ein kurzes Leben Aber schon bald hofft sie, den Ärzten ein
ler Erfolg. So viel Aufsehen hat er mit sei- wäre demnach Ausdruck genetischer Ver- wirkmächtiges Prognoseinstrument an die
ner Forschung erregt, dass einer seiner Mit- wahrlosung. Hand geben zu können.
arbeiter nun einen guten Teil seiner Zeit Das könnte erklären, warum es sich bis- Auch für Alternsforscher ist Slagbooms
damit verbringt, Killifischembryonen in her als so schwierig erwiesen hat, das Ge- Labortest ein bedeutsamer Fortschritt.
alle Welt zu verschicken. Die Fischchen heimnis der Hundertjährigen zu knacken – Denn ihr Set aus 14 Biomarkern macht es
sind zum Modelltier der Alternsforscher vielleicht gibt es dieses Geheimnis gar möglich, den Alterungsprozess im Körper-
geworden. nicht. Möglicherweise verdanken die gewebe zu verfolgen.
Valenzanos wichtigster Befund: Das Hochbetagten ihre Langlebigkeit nicht ir-
Erbgut kurzlebiger Spezies ist krankhaft gendwelchen Schutzfaktoren, sondern an-
vergrößert. Viele DNA-Abschnitte liegen dersherum: Ins Erbgut all der anderen, die Uhrwerk des Lebens
in mehrfachen, oft fehlerhaften Kopien früher sterben, haben sich Fehler einge- Steve Horvath von der University of Cali-
vor, allerorten finden sich Mutationen: schlichen, die dem vorzeitigen Altern Vor- fornia in Los Angeles (UCLA) geht noch
»Ein genetisches Desaster«, sagt der For- schub leisten. Die Methusalems wären, so einen Schritt weiter. Er will den Motor fin-
scher. betrachtet, nur die wenigen Glücklichen, den, der diesen Prozess vorantreibt; er
Kurzlebigkeit, so schlussfolgert er, sei die von solcherlei Defekten in der DNA hofft, einen Blick direkt in den Maschinen-
keine Anpassung an bestimmte ökologi- verschont geblieben sind. raum des Alterns werfen zu können.
sche Umstände. Sie tritt auf, wenn ein lan- Eine von Valenzanos Kolleginnen am Schon als Jugendlicher, damals in
ges Leben für den Fortbestand der Art Kölner Max-Planck-Institut hat kürzlich Frankfurt am Main, hat sich Horvath für
eine gründliche Erbgutanalyse unter Hun- das Thema interessiert. Regelmäßig trafen
* Mäuse im kalifornischen Salk Institute; die rechte
dertjährigen durchgeführt. Eline Slag- er und sein Zwillingsbruder sich mit einem
Maus wurde mit Yamanaka-Faktoren behandelt, das boom, die auch als Professorin für mole- Schulfreund, um philosophische Fragen
Geschwistertier nicht. kulare Epidemiologie an der Universität zu diskutieren. »Gilgamesch-Club« nann-

Knochen Muskeln Stoffwechsel Nieren

Zwischen ungefähr 30 und


40 Jahren beginnt der Knochen-
Ab40 Jahren beginnt
der Abbau der Muskeln. Ein
Ungefähr ab40 Jahren
wird mehr Fett eingelagert.
Mit 50 Jahren lässt
die Filtrationsleistung nach.
abbau den -aufbau zu überwiegen. 65-Jähriger hat etwa zehn Der Energieverbrauch sinkt. Das Die Blutreinigung dauert
Ein 80-Jähriger hat nur noch etwa Kilogramm weniger Muskel- Gewicht kann um ein bis zwei länger und ist weniger effektiv.
50 Prozent der maximalen masse als ein 25-Jähriger. Kilogramm pro Jahr steigen, trotz
Knochensubstanz. Beibehaltung der Essgewohnheiten.
108
ten sie sich, nach dem Helden des baby-
lonischen Epos, der auszog, das Geheim- »Der Einwand
nis der Unsterblichkeit zu erfahren. Es
ging – »sehr naiv«, wie Horvath heute ein- war stets der-
räumt – um Erkenntnistheorie, um Science-
Fiction und um den Sieg über das Altern. selbe: Meine
Horvath kann sich gut an seinen Schock
erinnern, als er begriff, wie kurz das Leben
sein würde, das er vor sich hatte. Er wollte
Ergebnisse
die Welt verstehen. Und dafür, so dachte
er damals, werde es nötig sein, Physik,
seien zu schön,
Mathematik, Philosophie, Informatik und
Medizin zu studieren. Bis er all das ab-
um wahr zu
solviert hätte, wäre schon fast die Rente
in Sicht.
sein.«
BRAD TORCHIA / DER SPIEGEL
Am Ende machte Horvath ein paar
Abstriche von seinen Studienplänen. Er
wurde Humangenetiker und Bioinforma-
tiker. An der UCLA ist es nun seine Auf-
gabe, im unermesslichen Ozean biologi-
scher Daten nach interessanten Zusam-
menhängen zu suchen. Sein Lebensthema, Genetiker Horvath
das Rätsel des Alterns zu knacken, verlor
er nicht aus den Augen, doch er vermied
es, sich ihm ganz zu verschreiben. »Ich Im Innern der Zellen hatte Horvath da- Inzwischen wurden seine Messungen
wollte meine Karriere nicht durch verrück- mit eine Uhr gefunden. Eine Uhr, die ge- vielfach bestätigt. Die Horvath-Uhr ist im
tes Zeug gefährden«, sagt er. treulich die verstrichene Lebenszeit auf- Begriff, zum Standardinstrument der Al-
Irgendwann begannen er und seine zeichnet. Und sie schien erstaunlich genau ternsforscher zu werden. Ein Rätsel aller-
Kollegen, sich für Epigenetik zu interes- zu gehen. Nur in wenigen Fällen lag die dings ist bis heute ungelöst: Was genau
sieren. Es geht dabei um kleine chemische auf Grundlage der epigenetischen Uhr drückt diese Uhr eigentlich aus?
Veränderungen, die sich im Lauf der Zeit getroffene Vorhersage um mehr als zwei, Noch ist unklar, ob sie unabhängig von
am Erbgut vollziehen. Insbesondere drei Jahre daneben. allem biologischen Geschehen tickt oder
heften sich an einigen Stellen Methyl- Was die Biologen noch mehr erstaunte: ob sie ursächlich etwas mit dem Alterungs-
gruppen an den DNA-Strang. Diese soge- Die epigenetische Uhr tickt in allen Zellen prozess zu tun hat. »Natürlich hoffen wir
nannte Methylierung reguliert, welche des Körpers im Gleichtakt. Ganz egal ob inständig, dass sie direkt mit dem Altern
Gene in einer Zelle an- und welche abge- Horvath die Methylierung in Haut-, Le- zusammenhängt«, sagt Horvath. »Sie
schaltet werden. ber- oder Bindegewebszellen maß, sie funktioniert einfach zu gut, als dass sie gar
Eigentlich ging es in ihrem Projekt um alle lieferten denselben Wert für das nichts damit zu tun haben könnte.«
ganz andere Dinge, aber aus purer Neugier Lebensalter – und dies, obwohl die Zellen Tatsächlich taugt die epigenetische Uhr
testete Horvath, ob vielleicht das Alter ih- selbst ein sehr unterschiedlich langes Le- als Maß der biologischen Alterung besser
rer Probanden einen Einfluss auf die epi- ben hinter sich hatten. Weiße Blutkörper- als die bloße Zahl der Lebensjahre. So
genetischen Veränderungen hätte. »Der chen zum Beispiel werden fortwährend zeigt sich, dass stark Übergewichtige,
Effekt war drastisch«, sagt der Forscher. neu gebildet, viele von ihnen sind nur we- epigenetisch betrachtet, beschleunigt al-
Es gab keinerlei Zweifel: Die Methylierung nige Tage alt. Ein großer Teil der Nerven- tern. Regelmäßige Bewegung hingegen
des Erbguts ist altersabhängig. zellen dagegen entsteht schon im Mutter- lässt die epigenetische Uhr langsamer
Horvath war elektrisiert; er wollte alles leib und überdauert ein Leben lang. Wie ticken. Sie scheint also einen biologischen
über diesen Zusammenhang wissen. kann es sein, dass beide dasselbe Alter Zustand anzuzeigen – und nicht nur die
17 000 Stellen im Erbgut von 13 000 Ge- anzeigen? vergangene Zeit.
webeproben analysierte er. Sie stammten So verblüffend waren Horvaths Resul-
von Personen unterschiedlichsten Alters, tate, dass er anfangs große Mühe hatte, da-
vom Frühchen bis zum 102-jährigen Greis. mit Gehör zu finden. Immer wieder schick- Weckruf der Jugend
Mit all den vielen Daten fütterte er den te er sie an Fachzeitschriften, immer wie- Doch was, wenn sich das Uhrwerk im
Computer, er tüftelte und optimierte, bis der wurden sie abgelehnt. »Der Einwand Innern unserer Zellen verstellen ließe?
er am Ende 353 Orte in der DNA identifi- war stets derselbe«, sagt Horvath. »Die Würde das nicht bedeuten, dass wir un-
ziert hatte, deren Methylierung Auskunft Gutachter meinten, meine Ergebnisse sei- seren Körper verjüngen könnten? Am
über das Alter eines Menschen gibt. en zu schön, um wahr zu sein.« Salk Institute in La Jolla, gut zwei Auto-

Gehirn Geschmackssinn Herz Immunsystem

Ungefähr ab 60 Jahren
sinkt die Reaktionsfähigkeit,
Ab60 Jahren schwächeln
die Geschmacksknospen.
Mit65 Jahren kann das
Herz Zeichen einer Altersschwäche
Mit 65 Jahren
erhöht sich die Anfälligkeit
Gedächtniseinbußen machen Man braucht mehr Würze im Essen, aufweisen, weil beispielsweise die für Infekte, weil die Zahl
sich bemerkbar, das Koordinations- um Geschmacksrichtungen aus- Blutgefäße verkalken. Dann muss das der Abwehrzellen im Blut
vermögen verschlechtert sich. einanderhalten zu können. Organ gegen einen höheren Wider- abnimmt.
stand anpumpen.
109
Ihr Fell begann wieder zu glänzen, die
»Es handelt Muskeln wurden kräftiger, ihre Bewe-
gungen geschmeidiger – eine wahre Jung-
sich um eine brunnenkur.
Allerdings ist die Verjüngung nicht ohne
Art Karikatur Risiko. Als die Forscher die Dosis erhöhten,
sprangen die Mäuse zunächst besonders
des Alterns – munter im Käfig umher. Doch einige der
verjüngten Zellen verwandelten sich in Tu-
so lassen sich moren. Die Tiere starben an Krebs.
Wenn Izpisúa Belmonte von seinen Ex-
die Effekte perimenten spricht, wählt er seine Worte
mit Bedacht. Er spricht langsam, etwas
gut demons- zögerlich, fast als könnte er selbst seine
Befunde nicht glauben.
trieren.« In der Tat fällt es schwer, sie mit der
landläufigen Vorstellung des Alterungs-
prozesses in Einklang zu bringen. Wie ist
es möglich, dass vom Leben erschöpfte
Zellen plötzlich ihre Jugendlichkeit wie-
derfinden? Heißt dies nicht, dass in unse-
Zellforscher Izpisúa Belmonte rem Körper die Erinnerung an die eigene
Jugend schlummert? Und dass diese
jederzeit durch einen Weckruf wieder auf-
stunden südöstlich von Horvaths UCLA- die Produktion der Yamanaka-Faktoren leben kann?
Labor, sitzt ein Mann, der genau das in ihren Zellen an- und ausknipsen kann. Die Verjüngung mithilfe von Yamanaka-
versucht. Betätigen lässt sich dieser Schalter mittels Faktoren werde helfen, das Rätsel des Al-
Juan Carlos Izpisúa Belmonte ist ein einer chemischen Substanz, die dem Trink- terns zu knacken, davon ist der italienische
Meister der Stammzellzucht. Er versucht, wasser der Tiere beigesetzt wird. Stammzellforscher Vittorio Sebastiano
menschliche Herzen in Schweinekörpern Izpisúa Belmontes Mitarbeiter stellten von der Stanford-Universität in Kalifor-
wachsen zu lassen. Und er hält den Welt- viele solcher Mäuse her, und sie probierten nien überzeugt. Das Prinzip des Jung-
rekord im Päppeln von Primatennach- lange mit verschiedenen Dosierungen he- brunnens sei tief im Gefüge der Natur ver-
wuchs außerhalb der Gebärmutter; gera- rum. Schließlich hatten sie die optimale ankert.
de gelang es ihm, Makakenembryonen Rezeptur ausgetüftelt: jeweils zwei Tage »Individuen altern, biologische Spezies
20 Tage lang in der Petrischale am Leben »an« und dann fünf Tage »aus« erwies sich nicht«, sagt Sebastiano. Würde jede Gene-
zu erhalten. als die beste Schalterstellung. ration gegenüber derjenigen ihrer Eltern
Das erstaunlichste Experiment gelang Das Ergebnis war frappierend: Wenn die auch nur um ein klein wenig gealtert ge-
ihm mit altersschwachen Mäusen. Hier Salk-Forscher mit ihrer Yamanaka-Kur boren, würde die Spezies Homo sapiens
vollzog er nicht nur natürliche Entwick- schon wenige Wochen nach der Geburt der unweigerlich irgendwann der Altersschwä-
lungsprozesse im Labor nach – er ließ sie Mäuse begannen, verzögerte sich der Alte- che erliegen. Deshalb, sagt Sebastiano, sei
rückwärts laufen. rungsprozess. Das Leben der Tiere verlän- jede Reproduktion mit einer Verjüngung
Izpisúa Belmonte nutzte dafür die vier gerte sich um rund 30 Prozent im Vergleich verbunden. »Nur so kann jede Generation
sogenannten Yamanaka-Faktoren. Es zu unbehandelten Leidensgenossen. wieder bei null starten.«
handelt sich dabei um vier körpereigene Warteten die Wissenschaftler mit der Dieses Verjüngungspotenzial macht sich
Eiweißstoffe, die eine geradezu wunder- Therapie, bis die Mäuse gebrechlich wur- die Yamanaka-Kur zunutze. Sebastiano
same Wirkung haben. Wenn sie für rund den, ihr Haarkleid schon stumpf und strup- führt dazu ähnliche Experimente durch
zwei Wochen auf eine beliebige Zelle un- pig war, vollzog sich gleichsam ein Wunder. wie Izpisúa Belmonte. Auch er frischt Zel-
seres Körpers einwirken, stellen sie die len mithilfe von Yamanaka-Faktoren auf.
Entwicklungsuhr darin wieder auf null. Aber statt mit vorzeitig alternden Mäusen
Mit anderen Worten: Sie versetzen die Zel- Republik der Greise 1980*: 975 arbeitet Sebastiano mit menschlichem Ge-
le in den embryonalen Zustand zurück. Einwohner Deutschlands, webe. Bindegewebs-, Knorpel- und Mus-
Der japanische Forscher Shinya Yamanaka die 100 Jahre und älter sind kelzellen hat er einer Jungbrunnenthera-
erhielt für diese spektakuläre Entdeckung pie ausgesetzt. Danach maß er ihr Alter
im Jahr 2012 den Medizinnobelpreis. Quellen: Statistisches Bundesamt, 2000: 5699 mithilfe der Horvath-Uhr. Sie waren um
Human Mortality Database,
Izpisúa Belmonte wollte herausfinden, Robert Bosch Stiftung; bis zu acht Jahre jünger geworden.
*BRD und DDR
ob er mithilfe dieser Faktoren die Entwick- Sebastiano weist darauf hin, dass keine
lungsuhr nur um ein paar Monate oder der Zellen Anzeichen der Entartung ge-
2017: 14 194
Jahre zurückstellen kann. Um seine Idee zeigt habe. Das ist ihm wichtig, denn als
zu prüfen, wählte er Mäuse mit einer Erb- Nächstes möchte er die Yamanaka-Kur
krankheit, die sie vorzeitig und rasant al- medizinisch nutzbar machen – dafür
tern lässt. »Es handelt sich um eine Art muss er jederlei Krebsgefahr ausschließen
In 20 Jahren werden es 140 000 sein.
Karikatur des Alterns«, erklärt der For- können.
scher. »Deshalb lassen sich Effekte, die das Im Silicon Valley hat Sebastiano ein
Altern betreffen, an ihnen besonders gut Start-up mitgegründet, das für die Ent-
demonstrieren.« wicklung von Jungbrunnentherapien zu-
Diesen Mäusen baute Izpisúa Belmonte ständig sein soll. »Turn Back Time« lautet
einen Genschalter ins Erbgut, mit dem er das Motto. Drei Malaisen des Alters will

110 DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019


Alter von 92 Jahren starb. Ein solches
Schicksal wolle er den Menschen ersparen.
US-Mode-Ikone Wenn Sinclair vom Alter redet, dann
Iris Apfel spricht er von Gebrechlichkeit, von Siech-
tum, von Schmerzen, Not und kognitivem
Verfall. Zu seinen Vorlesungen und Vor-
trägen bringt er gern einen »Age-Suit« mit,
damit die Zuhörer das Elend des Altseins
am eigenen Leib erfahren können. Wer in
diesen Anzug schlüpft, dem lähmen Blei-
gewichte die Glieder, Bandagen versteifen
die Gelenke, Ohrschützer dämpfen das
Hören, eine Brille trübt den Blick. Und
KARSTEN MORAN / NYT / REDUX / LAIF

wenn Sinclair seine Probanden dann auf-


fordert, sich die Schuhe zuzubinden, wird
vollends klar: Das Alter ist ein Martyrium.
Geradezu besessen führt Sinclair seinen
Feldzug. Er ist an mehr als einem halben
Dutzend Firmen beteiligt, die Mittel zur
Lebensverlängerung entwickeln sollen; ih-
nen stellt er sich als Versuchskaninchen zur
Verfügung. Alltäglich schluckt der heute
50-Jährige allerlei Pillen in der Hoffnung,
dass er damit das Auftreten erster altersbe-
die Firma bekämpfen: den Muskel- wachsen werde – das hieße also, der dingter Wehwehchen hinauszögern kann.
schwund, den Gelenkverschleiß und das Mensch wäre unsterblich. Eines allerdings unterschlägt Harvards
Nachlassen der Wundheilung. Aber wollen wir das überhaupt? Möch- Anti-Aging-Prophet. Dass die Mehrzahl
Einerseits sind dies Begleiterscheinun- ten wir es miterleben, wenn unsere Enkel der Alten zufrieden ist. Wieder und wieder
gen des natürlichen Alterungsprozesses, goldene Hochzeit feiern und unsere Uren- haben Glücksforscher Befragungen durch-
andererseits können sie zu erheblichen Be- kel in Rente gehen? Sinclair meint, es sei geführt, stets mit dem gleichen Ergebnis:
schwerden führen. »Die Zulassungsbehör- höchste Zeit, sich solche Fragen zu stellen. Die heute 70-Jährigen sind zumeist glück-
den werden nicht umhinkommen, sich den Für Sozialpolitiker und -philosophen ist licher, als sie es im Alter von 45 waren.
Realitäten einer alternden Gesellschaft an- die Vorstellung einer Republik der rüstigen So hartnäckig bestätigt sich dieser Be-
zupassen«, sagt Sebastiano. »Sie müssen Greise ein Graus. Denn wie soll ein Ren- fund in sämtlichen Untersuchungen, dass
das Alter wenn nicht als Krankheit, so tensystem noch funktionieren, wenn die die Forscher dem Phänomen einen eige-
doch zumindest als behandlungsbedürftig Menschen mehr Jahre im Ruhestand als nen Namen gegeben haben: Sie sprechen
einstufen.« in Arbeit verbringen? Wie verändert sich von der U-Kurve des Glücks. Sie findet
eine Gesellschaft, in der die 80-Jährigen sich bei Frauen wie Männern, bei Russen,
den Ton angeben? Und lässt es sich ver- Amerikanern und Chinesen. Sie scheint
Glücklich mit 100 hindern, dass sich am Ende nur die Rei- einem universellen Gesetz der mensch-
Es wird noch viel Zeit vergehen, bis Ver- chen die ewige Jugend leisten können? lichen Psychologie zu folgen.
jüngungspillen in der Apotheke zu haben Mit solchen Problemen müssen sich Sin- Die 20- bis 25-Jährigen sind demnach,
sind, darin sind sich Sebastiano und clair und seine Mitstreiter nicht herumschla- wenn sie voller Zuversicht ihr Leben als
Izpisúa Belmonte einig. Sie schätzen, dass gen. Für den Forscher ist die Sache einfach: Erwachsene beginnen, am glücklichsten.
zumindest Menschen, die im Babyalter Das Alter sieht er als Geißel, die es mit allen Sie haben die Zukunft noch vor sich, die
sind, eines Tages davon profitieren Mitteln zu bekämpfen gilt. Er habe Elend Welt scheint ihnen unerschöpfliche Mög-
können. »Das erste Kind, das 130 wird, ist und Verzweiflung seiner Großmutter Vera lichkeiten zu bieten.
heute schon geboren«, vermutet Izpisúa miterlebt, die am Ende langer Qualen im Je älter sie werden, desto häufiger sto-
Belmonte. ßen sie an Grenzen. Die Stimmung leidet,
Vollmundiger klingen die Verheißungen wenn Beruf und Beziehung Stress mit sich
von David Sinclair, der an der Harvard U-Kurve des Glücks bringen und es Streit mit den halbwüchsi-
Medical School in Boston eine neue Ära Durchschnittliche Lebenszufriedenheit gen Kindern gibt. Der Tiefpunkt ist, mal
des Anti-Aging verkündet. Bereits jetzt in Europa, nach Alter in Jahren Mitte vierzig, mal Anfang fünfzig, mit der
sorgten die Fortschritte der Medizin dafür, Midlife-Crisis erreicht. Der Zenit des Le-
dass wir für jeden Monat, den wir länger eher bens ist überschritten. Es wird klar, dass
am Leben blieben, eine weitere Lebens- hoch es von nun an abwärtsgeht.
woche hinzugewönnen, sagt er. Die Al- Genau an diesem Punkt vollzieht sich
ternsmedizin werde diesen Prozess rasant die Wende. In dem Maß, in dem die Kräfte
beschleunigen, sodass künftig ein Anstieg schwinden, nimmt die Zufriedenheit zu.
um zwei oder drei Wochen pro Monat zu Während wir all das, was wir immer für so
erwarten sei. kostbar hielten, verlieren – Vitalität, Fit-
Am Ende dieses Jahrhunderts schließ- ness, begehrenswertes Aussehen –, gewin-
lich, rechnet Sinclair in seinem jüngst eher nen wir, wonach wir immer gestrebt haben:
gering
erschienenen Buch über »Das Ende des Glück. Die Psychologen erklären dieses Pa-
Alterns« vor, könne der historische Mo- 20 30 40 50 60 70 80 90 radox damit, dass die Alten, deren Zeit be-
ment erreicht sein, an dem die Lebens- grenzt ist, sich weniger Sorgen um die Zu-
erwartung um vier Wochen pro Monat Quelle: David Blanchflower / Andrew Oswald, 2017 kunft machen müssen.

112 DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019


Titel

Natürlich gilt das nicht für alle Menschen. funktioniert ja erst für einzelne Zellen und kaum spüren und deren Nebenwirkungen
Es gibt auch einsame Alte, die verzweifeln, Gewebe. Und für Mäuse, aber da löst er sich kaum abschätzen lassen. Realistischer
unter Depressionen leiden. Die U-Kurve ist noch Krebs aus. Bis die Zauberpille sicher sei es, glaubt sie, die Jugendlichkeit durch
ein statistisches Phänomen, sie beschreibt ist, verfügbar, bezahlbar, werden Jahrzehn- die richtige Lebensführung zu bewahren.
einen Mittelwert, der auf der Befragung ei- te vergehen. Mindestens die Babyboomer Sie hört sich nicht so sexy an wie David
ner großen Zahl von Probanden beruht. müssen wohl noch durch das Tal der Trä- Sinclairs Traum von ewiger Jugend, aber
Erst im ganz hohen Alter verliert die nen gehen, ihre Kinder vermutlich auch. Slagbooms Idee versprüht den spröden
U-Kurve ihre Gültigkeit. Wenn die Leiden Was also tun? Wie lässt sich bis dahin Charme der Machbarkeit: Eine Art perso-
überhandnehmen, die Menschen bettläge- dem Schmerz, dem grausamen Sterben nalisierte Altersmedizin schwebt ihr vor;
rig werden, wenn sie chronische Schmerzen entkommen? Alternsforscher haben dafür ihre 14-Werte-Formel wäre die Grundlage.
plagen, dann schwindet die Zufriedenheit. eine pragmatische, aber zugleich faszinie- Sie möchte die Alten anleiten, genau das
Das ist das Dilemma der Medizin. Zwar rende Idee, sie trägt den sperrigen Namen zu tun, was ihnen jeweils, ganz persönlich,
gelingt es den Ärzten mit ihren ausgefeil- Morbiditätskompression. hilft, die Jahre bis in die rettende 100 zu
ten Methoden, das Leben der Menschen Denn das Verrückte ist: Die ganz Alten, überbrücken. Denn: »Was gut ist für den
immer stärker auszudehnen, doch je wei- die über Hundertjährigen, die sich guter einen, kann dem anderen schaden.«
ter sie den Tod hinauszögern, umso leid- Gesundheit erfreuen, sterben leichter, Regelmäßiges Fasten etwa tue den meis-
voller ist oft das Lebensende. Ein Gutteil schneller, ohne zähes Siechtum. Die Dauer ten gut, erklärt Slagboom. Wessen Muskeln
der gewonnenen Zeit wird inzwischen im des Krankseins (»Morbidität«) ist bei ihnen aber schon schwänden, sollte absehen da-
Krankenbett verbracht. verkürzt (»komprimiert«). von. Oder hoher Blutdruck: Bei einem 60-

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Dieses Problem gründet im Wesen der Deshalb richten viele Alternsforscher Jährigen schadet er, weil er das Risiko der
modernen Medizin. Oft melden sich, kur- ihren Blick im Moment noch nicht auf das Arterienverkalkung erhöht. Bei einem 80-
ze Zeit nachdem die Ärzte die Krankheit ganz große Ziel, die ewige Jugend, die Jährigen dagegen kann er von Vorteil sein,
eines alten Patienten in den Griff bekom- Unsterblichkeit. Sie nehmen die Zeit ins weil er die Sauerstoffversorgung befördert.
men haben, die Symptome eines zweiten Visier, die es heil zu überstehen gilt, bis »Es reicht nicht, die Leute einfach mit dem
Leidens. Kaum haben die Mediziner die- man es ins gelobte Land jenseits der 100 guten Rat ›gesund essen und viel bewegen‹
ses unter Kontrolle bekommen, kommen geschafft hat, in dem ein friedliches Ster- nach Hause zu schicken«, sagt sie.
ein drittes und ein viertes hinzu. ben die Regel ist. Ganz gegen die Jugendpillen ist Slag-
Am Ende stehen die Ärzte einem multi- Wie sich diese Zeit überbrücken lässt, boom nicht. Sie würde allerdings erst dazu
morbiden Greis gegenüber, der morgens, weiß Eline Slagboom. Der Gerontologin raten, wenn Fitness- und Ernährungstipps
mittags, abends Pillen schlucken muss. ist die Alternsforschung ohnehin zu stark versagen. Dann, sagt sie, sei immer noch
Die Medizin am Lebensende gleicht dem pharmakologisch ausgerichtet. »Bei uns in Zeit, an eine Jungbrunnenkur zu denken.
Bemühen, die Lecks eines Bootes zu stop- den Niederlanden spielt die Pharmaindus- Johann Grolle
fen, das von den Wellen fortwährend auf trie eine geringere Rolle als in den USA«,
neue Klippen getrieben wird. Der Tod tritt sagt sie. »Vielleicht ist das der Grund dafür,
am Ende ein als unwürdige Niederlage in dass wir auch nach anderen Lösungen me- Video
Wie Forscher das Altern
einem Kampf, der nur verlängert, nie ge- dizinischer Probleme suchen.« stoppen wollen
wonnen werden kann. Slagboom glaubt, dass die Menschen spiegel.de/sp482019jung
An diesem Drama wird sich in näherer keine Lust haben, täglich Verjüngungspil- oder in der App DER SPIEGEL
Zeit nichts ändern – der Jungbrunnen len zu schlucken, deren Segen sie im Alltag

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von acht Wochen, beginnend mit dem Belastungsdatum, die Erstattung des belasteten Betrags verlangen. Es gelten dabei die mit meinem Kreditinstitut vereinbarten Bedingungen.
Wissenschaft

abnehmen, viermal so viel wie bisher. hebt eine Entsorgungsgebühr von derzeit
Tödliche Noch teurer kann es in Lissabon werden:
Das portugiesische Parlament hat kürzlich
60 Cent pro verkaufter Zigarettenpa-
ckung und nimmt so von den Rauchern
Bußgelder von bis zu 250 Euro beschlos- jährlich mehrere Millionen Dollar ein. Der
Illusion sen, das kanadische Calgary kann sogar
die doppelte Summe einstreichen.
große Rest der Welt allerdings scheitert
daran, die Hersteller oder Konsumenten
Seitdem die meisten Raucher nach für den Zigarettenmüll in die Pflicht zu
Umwelt Zigarettenfilter machen draußen müssen, um sich eine anzuste- nehmen.
das Rauchen nicht gesünder, cken, stellen viele Städte vermehrt kom- Die EU hat wegen des gewaltigen Kunst-
dafür vergiften die Kippen munale Aschenbecher auf. Andere wer- stoffmüllproblems immerhin entschieden,
ben auf Plakaten für den Mitnehm-Ascher dass Einwegbesteck, Wattestäbchen und
die Natur. Jetzt droht vielerorts in der Jackentasche und für mehr Sauber- Strohhalme aus Plastik von 2021 an ver-
Bußgeld fürs Wegwerfen. keit im öffentlichen Raum. Bisher haben boten werden. Doch ausgerechnet eines
sie unterschätzt, welche ökologische Ge- der am häufigsten weggeworfenen Einweg-
fahr von der Flut der Zigarettenstummel produkte hat die EU von dieser Regelung

M üll gehört in die Tonne und nicht


auf die Straße, das ist eine Selbst-
verständlichkeit für den größten
Teil der Menschen. Eine Gruppe indes ver-
ausgeht.
Anders als viele Raucher glauben, sind
die Filter in der Natur nur sehr langsam
biologisch abbaubar. Sie bestehen aus
ausgenommen: Zigarettenfilter bleiben le-
gal, obwohl sie gar keinen Nutzen haben.
Die Tabakindustrie hat die Filter in den
Fünfzigerjahren populär gemacht – als
stößt gewohnheitsmäßig gegen dieses An- mehr als 15 000 Fasern des beständigen Reaktion auf Forschungsergebnisse, wo-
standsgebot: Raucher. Kunststoffs Celluloseacetat. Diese über- nach Zigarettenrauch Krebs verursacht.
Zwei Drittel aller Zigarettenkippen, das dauern die Zigarette um Monate und oft Der Filter soll besorgten Rauchern sugge-
sind jährlich etwa 4,5 Billionen Stück, lan- um Jahre, denn sie zersetzen sich erst, rieren, dass er gefährliche Inhaltsstoffe des
den nicht im Müll, wie die Weltgesund- wenn UV-Licht und bestimmte Mi- Qualms zumindest teilweise zurück-
heitsorganisation WHO schätzt. Raucher kroorganismen in der richtigen hält. Das ist aber nichts als Illu-

74
werfen sie achtlos auf die Straßen, auf Geh- Weise zusammenwirken. sion: »Zigarettenfilter sind ein
Marketinginstrument ohne je-
den Gesundheitsnutzen«,
sagt der Epidemiologe Tho-
Mrd. Zigaretten wurden mas Novotny von der San
2018 allein in Deutschland Diego State University. In
offiziell verkauft. einem Editorial im »British
Medical Journal« plädiert er
Quelle: Statistisches
Bundesamt
jetzt zusammen mit zwei Kolle-
gen dafür, sie zu verbieten.
Mit den raffiniert designten Filtern ha-
ben Tabakkonzerne die Zigarette sogar
noch gefährlicher gemacht. Winzige Lö-
cher im Filterpapier bewirken die soge-
nannte Filterventilation. Bei jedem Zug
nimmt der Raucher durch sie auch etwas
Umgebungsluft in die Lunge auf. Der ver-
dünnte Qualm fühlt sich für ihn daher
sanfter und unbedenklicher an. Er kann
ihn tiefer inhalieren, länger einhalten und
DDP IMAGES

öfter an der Zigarette ziehen – was dazu


führt, dass krebserregende Stoffe tiefer
ins Lungengewebe eindringen können.
Zigarettenkippen: Mikroplastik in den Mägen von Fischen, Vögeln – und Menschen Heutige Filterzigaretten, so heißt es in
einem Bericht des Surgeon General, des
obersten Gesundheitsbeamten der USA,
wege, in Parks, auf Spielplätze oder Strän- Bis dahin wabert das Celluloseacetat als sind riskanter als jene aus den Fünfziger-
de. Viele Raucher verschmutzen ihre Um- lästiges Mikroplastik durch Flüsse, Seen jahren, als die Filterventilation noch un-
gebung ohne jeden Anflug von Unrechts- und Ozeane. Es dringt vor in die Mägen bekannt war. Sie haben vor allem zu ei-
oder Problembewusstsein. Immer mehr von Fischen und Vögeln und in den Nah- nem scharfen Anstieg des Adenokarzi-
Städte sagen ihnen jetzt den Kampf an. rungskreislauf der Menschen. Den sich zer- noms geführt, der inzwischen häufigsten
Wer in Köln erwischt wird, wie er setzenden Kippen entweichen zudem Form des Lungenkrebses.
einen Zigarettenstummel auf den Asphalt Hunderte toxische Substanzen, darunter Eine US-Firma hat immerhin eine sinn-
schnipst, zahlt seit September ein Ver- Nikotin, Arsen, Formaldehyd und Schwer- volle Verwendung gefunden für das wohl
warngeld von 50 Euro. 55 Euro werden in metalle. Wie Tests ergeben haben, reicht nutzloseste Produkt der Welt. Das Unter-
Hamburg und München fällig, in Mön- bereits ein einziger Zigarettenstummel pro nehmen TerraCycle reinigt eingeschickte
chengladbach sogar 100 Euro. Stuttgart Liter Wasser, und schon stirbt die Hälfte Zigarettenstummel und verarbeitet sie zu
brummt den Stummelsündern zusätzlich der darin schwimmenden Fische. Hartplastik. Daraus macht sie dann zum
eine Verwaltungsgebühr auf, insgesamt In San Francisco macht Zigarettenmüll Beispiel Industriepaletten – und Aschen-
103,50 Euro. ein Viertel des von Straßenkehrern ein- becher. Marco Evers
Ab Januar wird die Stadt Brüssel ihren gesammelten Abfalls aus. Die Stadt hat Mail: marco.evers@spiegel.de
qualmenden Schmutzfinken gleich 200 Euro daraus Konsequenzen gezogen: Sie er-

116 DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019


Handelsblatt
Podcast
Global Challenges
Der Blick über den deutschen Tellerrand
mit Sigmar Gabriel und Bert Rürup.

NEU

Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit: In „Global Challenges“


analysiert der ehemalige Bundesaußenminister Sigmar Gabriel
gemeinsam mit Bert Rürup, Präsident des Handelsblatt Research
Institute, die geopolitische Lage.
Jeden zweiten Freitag neu.

Jetzt reinhören: handelsblatt.com/globalchallenges


MARCUS SIMAITIS / DER SPIEGEL

JOCHEN ECKEL / SZ PHOTO / LAIF


Pharmakologe Steffen, historische Apothekerflaschen: »Ich habe Strafanzeige gegen einen selbst ernannten Vitaminpapst gestellt«

»Alles Märchen«
Medikamente Der Pharmakologe Christian Steffen erklärt, warum in Deutschland so viele unwirksame
Arzneimittel auf dem Markt sind – und weshalb es so schwer ist, etwas dagegen zu unternehmen.

Steffen, 74, arbeitete 25 Jahre lang am SPIEGEL: Heißt das, dass ein Großteil der Alternativmedizinerin Veronica Carstens
Bundesinstitut für Arzneimittel und Medi- alten Medikamente unwirksam ist? eine wichtige Rolle, deren Ehemann Karl
zinprodukte (BfArM), das über die Zulas- Steffen: Viele Präparate, bei denen jeder 1979 Bundespräsident wurde; sie hat un-
sung neuer Medikamente entscheidet, und Beleg für eine Wirksamkeit fehlte, wurden glaublich viel Lobbyarbeit betrieben. Das
bei dessen Vorgängerorganisation. zum Glück negativ bewertet und sind nicht Paar gründete 1982 eine Stiftung, um un-
mehr auf dem Markt. Andere konnten ihre konventionelle Methoden in der Medizin
SPIEGEL: Herr Steffen, in 25 Jahren haben Wirksamkeit mit Studien belegen, etwa so zu fördern. Seitdem sind erhebliche Mittel
Sie Hunderte Zulassungen von Arzneimit- bekannte Medikamente wie Penicillin oder nicht nur durch die Stiftung, sondern auch
teln verantwortet. Können sich die Patienten Acetylsalicylsäure. Wieder andere mussten durch die Bundesregierung in die alterna-
darauf verlassen, dass alle hierzulande er- immerhin ihre Zusammensetzung ändern, tive Medizin geflossen.
hältlichen Arzneimittel auch wirksam sind? um die Nachzulassung zu erhalten. Zum SPIEGEL: Sind solche alternativmedizini-
Steffen: Leider nein. Beispiel das homöopathische Erkältungs- schen Medikamente einfach nur wirkungs-
SPIEGEL: Das müssen Sie uns erklären. medikament Meditonsin, dessen Gehalt an los, aber harmlos – oder können sie den
Steffen: Erst seit 1976, als das neue Arz- Quecksilbercyanid um den Faktor 10 000 Patienten schaden?
neimittelgesetz beschlossen wurde, müs- vermindert werden musste. Aber es gab Steffen: Sie können verhindern, dass eine
sen Hersteller die Wirksamkeit ihrer auch Mittel, bei denen die Bewertungskri- wirksame Therapie erfolgt. Kürzlich habe
Medikamente in klinischen Studien nach- terien überhaupt nicht streng waren. ich in einer Wochenzeitung eine Anzeige
weisen. Davor musste nicht wissenschaft- SPIEGEL: Welche Mittel waren das? für ein angeblich neues pflanzliches Arz-
lich geprüft werden, ob ein Mittel wirksam Steffen: In der sogenannten Alternativ- neimittel namens Glycowohl gesehen.
ist. medizin, bei den anthroposophischen und »Phyto-Therapeutikum ›bremst‹ Diabe-
SPIEGEL: Und all die alten Präparate sind homöopathischen Präparaten, denn da gel- tes«, hieß es dort. In »klinischen Human-
noch auf dem Markt? ten Sonderregelungen. Die dafür einge- studien« sei eine starke antidiabetische
Steffen: Viele Tausend. Diese alten Mittel richteten Kommissionen haben diese Wirkung nachgewiesen worden, behaup-
wurden im Rahmen einer Nachzulassung Medikamente in der Nachzulassung nach tet der Hersteller – doch eine solche Stu-
bewertet. Das war ein sehr mühsamer und ihren eigenen Regeln bewertet, ohne dass die in ausreichender Qualität wurde nie
langwieriger Prozess, der erst nach mehr diese Kriterien nachvollziehbar waren. So veröffentlicht. Laut Werbung kann das
als 30 Jahren abgeschlossen war. Es wur- war das im Arzneimittelgesetz vorgesehen. homöopathische Mittel sogar Diabetes
den sogenannte Monografien erstellt, die SPIEGEL: Wer hat all das veranlasst? vorbeugen. Alles Märchen! Der Hersteller
den Stand des Wissens darstellen sollten. Steffen: Überzeugte Homöopathen und bietet das Präparat zwar als Ergänzung
Dadurch blieb den Firmen aber in vielen Anthroposophen waren und sind in allen zu einer ärztlichen Diabetestherapie an.
Fällen erspart, eigene Wirksamkeitsbelege Parteien vertreten. Sicher haben die Her- Doch Patienten könnten trotzdem auf eine
vorzulegen oder gar eigene klinische Prü- steller ebenfalls massiv Druck auf die Poli- wirksame Behandlung verzichten und
fungen durchzuführen. tik ausgeübt. Und dann spielte auch die schlimme Folgeschäden davontragen.

118 DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019


Wissenschaft

SPIEGEL: Warum sind Patienten oft so men. Aber es gibt eben auch Kollegen, die
leichtgläubig? davon überzeugt sind, dass die Sonder-
Steffen: Um bei dem Beispiel zu bleiben: regeln für Homöopathie und pflanzliche
Die Werbung ist raffiniert gemacht. Auf Arzneimittel richtig sind.
der Website des Präparats berichtet eine SPIEGEL: In der Arzneimittelbehörde ar-
sympathische Elise Löwe aus 09526 Pfaff-
roda mit strahlendem Lächeln, das Mittel
beiten Anhänger der Homöopathie?
Steffen: Selbstverständlich. Auf diesem Die
europäische
habe die Blutzuckerwerte ihres Mannes Gebiet wird keiner eine Stelle annehmen,
verbessert. Das Foto derselben Frau – aber der diese Therapierichtung vollkommen
mit anderem Namen – taucht seltsamer- ablehnt. Leider gibt es auch Auswüchse,
weise auch in der Werbung für ein anderes
Präparat desselben Herstellers auf sowie
die sich der Zuständigkeit des BfArM ent-
ziehen. Im Bereich Nahrungsergänzungs- Aristokratie
auf der Website eines Zahnarztes in Le- mittel zum Beispiel, da wird oft gelogen,
xington im US-Bundesstaat Kentucky. was das Zeug hält. Zimt etwa, wird seit
SPIEGEL: Der Hersteller erklärt das damit, Jahren behauptet, soll gegen Diabetes
SPIEGEL-Gespräch im
dass er aus Gründen des Datenschutzes helfen. Dabei gibt es keine gute Studie,
auf Agenturbilder zurückgreife. Warum die das belegt! Einem Auswuchs der Alter-
Bucerius Kunst Forum
wurde Glycowohl überhaupt von Ihrer Be- nativmedizin konnte ich allerdings nur als
hörde zugelassen? Privatmann Einhalt gebieten: Ich habe
Steffen: Bis vor Kurzem konnten sich Her- Strafanzeige gegen einen selbst ernannten
steller auf die alten Monografien berufen Vitaminpapst gestellt, der seinerzeit
und die entsprechenden Substanzen als Deutschland mit Plakaten überzogen hat-
scheinbar neue Präparate verkaufen. Im te, »Vitamine gegen Krebs« stand darauf.
Fall des angeblich neuen Diabetesmittels Er wurde damals zu einer Geldstrafe von
Glycowohl, das zu den homöopathischen 45 000 Euro verurteilt und hat danach
Produkten gehört, ist ein Alt-Arzneimittel hierzulande keine Werbung mehr ge-
unter neuem Namen vermarktet worden. schaltet.
SPIEGEL: Alte Quacksalberei in neuer Ver- SPIEGEL: Was müsste sich ändern, damit
packung? bei den Medikamenten endlich die wirk-
Steffen: Dafür gibt es viele Beispiele. En- samen Mittel von den Zauberpülverchen
zympräparate, die bei Verdauungsinsuffi- getrennt werden?
zienz wirksam sind, sollten gegen Entzün- Steffen: Der Patient muss kritischer wer- »Adel« kommt von »edel«: Angeblich hatten
dungen und Gelenkverschleiß helfen. den. Mein Tipp lautet: Wenn Sie bei einem Aristokraten angeborene hervorragende
Waren sie tierischer Her- Arzneimittel lesen, es Eigenschaften; viele Adelsfamilien blicken
kunft, wurden sie ne- sei »mild wirksam«,
gativ bewertet. Wurden Pharmadschungel dann heißt das über- stolz auf ihre Familientradition. Politische
ähnliche Enzyme aus Zugelassene und registrierte setzt: Wirksamkeit ist Macht hat der Adel kaum mehr – dennoch
Ananas gewonnen, wur- Arzneimittel in Deutschland gleich null. »Traditionelle faszinieren die europäischen Aristokratien
den sie, als pflanzliches Anwendung« bedeutet,
frei verkäuflich nach wie vor. Welche Rolle spielt der Adel
Arzneimittel, positiv be- dass trotz jahrzehnte-
wertet. Das Problem: 33,2 % langer Anwendung kei- im kollektiven Bewusstsein? Und wie ein-
apotheken-
Diese Enzyme werden pflichtig ne ausreichenden Bele- flussreich ist er noch? Darüber sprechen
nach Einnahme im insgesamt 18,0 % ge für die Wirksamkeit die SPIEGEL-Redakteurinnen Bettina Musall
Darm in Aminosäuren 103 332 gefunden wurden. Au-
zerlegt und können des- ßerdem sollten die Kran- und Eva-Maria Schnurr mit der Historikerin
halb nicht die behaupte- verschreibungspflichtig
kenkassen nur bezahlen Karina Urbach.
te Wirkung haben. 46,9 % dürfen, was auch nach-
SPIEGEL: Warum haben gewiesenermaßen wirkt. Donnerstag, 28.11.2019,
Sie nichts dagegen un- SPIEGEL: Und Werbung
20 Uhr, Bucerius Kunst Forum,
betäubungsmittelrezeptpflichtig, sonderrezept-
pflichtig: 1,9 %; Stand: Oktober 2019; Quelle: BfArM
ternommen, dass Ihre für fragwürdige Mittel
Behörde fragwürdige sollte weiterhin erlaubt Alter Wall 12, 20457 Hamburg
Präparate zulässt? sein?
Steffen: Jeder Beamte muss sich an die Steffen: Verstöße gegen das Heilmittel-
Gesetze halten. Es war ja politisch ge- werbegesetz müssen auf jeden Fall konse-
wollt und im Bundestag beschlossen, quenter verfolgt werden. Jeden Tag stoße
dass in einigen Bereichen keine wissen- ich im Internet auf Arzneimittelwerbung,
schaftlichen Maßstäbe angewandt werden die klar gegen das Gesetz verstößt. Aber
sollten. solange niemand dagegen klagt, passiert
SPIEGEL: Das BfArM beschäftigt rund nichts. Man überlässt es dem Wettbewerb,
Tickets sind im Bucerius Kunst Forum und an allen
1100 Mitarbeiter, darunter viele Natur- die Verstöße abzumahnen. Deshalb fände
bekannten Vor verkaufsstellen erhältlich.
wissenschaftler, Ärzte, Pharmakologen. ich es sehr sinnvoll, wenn Schwerpunkt-
Die Eintrittskarte (10 Euro/8 Euro) berechtigt am
Wie muss man sich die Stimmung in einer staatsanwaltschaften gebildet würden, die
Veranstaltungstag zum Besuch der Ausstellung
Behörde vorstellen, in der so viele hilflose sich gezielt Arzneimittelwerbung ansähen
»AMERIKA! DISNEY, ROCKWELL, POLLOCK, WARHOL«
Experten arbeiten? und Gesetzesverstöße verfolgten.
(19.10.2019 bis 12.1.2020)
Steffen: Natürlich frustriert das. Viele Mit- Interview: Jörg Blech, Veronika Die Ausstellung ist am Veranstaltungsabend von
arbeiter versuchen trotzdem, im Rahmen Hackenbroch 19.00 bis 19.45 Uhr exklusiv für Veranstaltungsgäste
ihrer Möglichkeiten etwas zu unterneh-
geöffnet. Änderungen vorbehalten.
Bildnachweise: Kai Bublitz
119 Bildnachweis: Pixabay.com
Kultur
»Ich sehe den Tod als Gegner, zu dem man in den Boxring steigt.« ‣ S. 128

BARBARA NITKE / UNIVERSUM FILM


Lopez in »Hustlers«

Kino der Finanzkrise 2008 die Kundschaft ausbleibt, werden die Me-
thoden krimineller. Es kommt zum Konflikt zwischen der

Tolle Trickserei divenhaften Anführerin Ramona (Lopez) und ihrer zunehmend


skrupulösen Schülerin Destiny (Constance Wu), die ihre Gangster-
story einer Journalistin (Julia Stiles) in Rückblicken beichtet. Es
 Ah, der Film mit Jennifer Lopez als Stripperin? Allein dank ist eine tolle Geschichte über feministische Selbstermächtigung,
dieser Wortverknüpfung hatte es »Hustlers« im September beim die leider nicht ganz so schwungvoll erzählt wird, wie Lopez’
Filmfestival in Toronto nicht schwer, einen Hype zu erschaffen, aufregende Poledance-Szene zu Beginn verheißt. Der männliche
der jetzt sogar über Oscarchancen mutmaßen lässt. Tatsächlich Blick auf den Mythos Stripklub wird zwar amüsant gebrochen,
bietet der Film von Regisseurin Lorene Scafaria mehr als den auch dank Gastauftritten von Rapperin Cardi B und R-&-B-Wonne-
Voyeurismus früherer Stripper-Dramolette wie »Striptease« oder proppen Lizzo. In die Tiefe der Schicksale, die er aufreißt,
»Showgirls«. Basierend auf einer Magazinreportage, illustriert dringt der Film mit seiner allzu biederen Dramaturgie jedoch kaum
er, wie eine Bande New Yorker Animiertänzerinnen mit viel Reiz vor. Sein größter »Hustle«, seine tollste Trickserei also, bleibt das
und Raffinesse reiche Wall-Street-Banker ausnimmt. Als nach unwahrscheinliche Kino-Comeback von J.Lo. BOR

Pop witz, 44, macht auf seinem neuen Album weite der Oder und lässt mit Breakbeats,
Die neue Moldau »Oderbruch« flussnahe Programmmusik, Bässen und Jagdhornsamples eine ganze
samt Grillenzirpen und Froschquaken. Welt entstehen. Seit Bedřich Smetanas
 Dass Techno, eine Musik, die einst als Aber nicht nur das: Er erzählt in den neun »Moldau« ist kein Fluss mehr so bewegend
Abgesang auf das Industriezeitalter Stücken auch von nächtlichen Autofahr- vertont worden. Im Berliner Nachtleben
aus den verwaisten Innenstadtvierteln von ten durch einsame Brandenburger Alleen, schaut man ja oft etwas indigniert herun-
Detroit, Sheffield oder Berlin aufstieg, von der Grenze zu Polen, die zu DDR- ter auf die Dreiviertelhosenraver, die
eines Tages dazu taugen würde, eine Land- Zeiten stärker gesichert war als heute, und am Wochenende aus dem Umland in die
schaft wie den Oderbruch zu vertonen: von den Seelower Höhen, wo eine der Stadt kommen. Zu Unrecht. Sie können
Damit war wirklich nicht zu rechnen. Der letzten großen Schlachten des Zweiten Welt- nicht nur am besten feiern. Sie haben auch
Technoproduzent Shed alias René Pawlo- kriegs stattfand. Pawlowitz lebt in Sicht- die beste Musik. RAP

120 DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019


Literatur In Frankreich blieb sie auch nach Elke Schmitter Besser weiß ich es nicht
Geerbter Roman ihrem Tod weltberühmt, und als
in ihrem Nachlass das Manu- Jenseits der Lounge
 Der Anfang ist fulminant: skript des Romans »Die dunklen
Françoise Sagan braucht nur Winkel des Herzens« auf- In lange vergangenen, seligen
zwei Seiten, um die »architek- tauchte, wurde das als Sen- Zeiten gab es ein Plakat der
tonische Kakofonie« eines sation gehandelt. Mit läs- Bahn mit dem Slogan: »Alle
französischen Landhauses zu siger Erbarmungslosigkeit reden vom Wetter. Wir
entwerfen und ihre beiden erzählt Sagan davon, wie nicht.« Lakonisch, selbst-
Protagonisten einzuführen, Ludovic nach einem Auto- bewusst, gekonnt. Und mit
das noch junge Ehepaar unfall über zwei Jahre hinweg so viel Bewährung in der
Marie-Laure und Ludovic. falsch behandelt und zum Wirklichkeit, dass er kaum gegen sie
Deren Beziehung ist ungefähr so unstim- Pflegefall gemacht wird, den seine Frau verwendet wurde.
mig wie das Äußere des Hauses. »Häss- Marie-Laure nur noch abwimmeln Inzwischen ist dieses staatseigene
lichkeit ist oft leichter zu betrachten als möchte. Doch er stammt nun mal aus Unternehmen das verwahrloste Kind
Schönheit, als Harmonie, die man immer- einer reichen Familie. Leider ver- einer Gesellschaft, die gelernt hat,
zu überprüft und bewundert.« Die franzö- siegen nach wenigen Seiten alle Bös- mit Ausfällen der Infrastruktur und der
sische Schriftstellerin wurde für die bitter- artigkeit und aller Esprit. Entweder Infantilisierung ihrer Bürger zu leben.
süße Leichtigkeit ihrer Romane gefeiert. hat Sagan beim Schreiben der Witz ver- Die abenteuerliche Ausredenprosa der
Der berühmteste ist bis heute »Bonjour lassen, oder ihr Sohn Denis Westhoff, Bahn wäre ein Kapitel für sich. Wäh-
tristesse«, den sie im Alter von 17 Jahren der das Manuskript nach eigener rend immer weniger Kinder draußen
schrieb. Ihr eigenes Leben geriet nach die- Aussage ergänzt hat, hat nicht mal spielen, scheint es immer mehr spielen-
sem Erfolg so romanhaft, als hätte sie es einen Funken des Talents seiner Mutter de Kinder auf den Gleisen zu geben.
erfunden. Dass aus dem verschlafenen geerbt. CLV Auch das liebe Vieh, das in Megaställen
Saint-Tropez an der Côte d’Azur ein Treff- vor sich hin vegetiert, marodiert vor-
Françoise Sagan: »Die dunklen Winkel des
punkt für jeden und alles wurde, wird Herzens«. Aus dem Französischen von Waltraud
geblich auf bahneigenem Gelände. Ein
auch ihr zugeschrieben. Sagan starb 2004 Schwarze und Amelie Thoma. Ullstein; anderes ist die Mischung aus Langmut
und hinterließ ein umfangreiches Werk. 192 Seiten; 20 Euro. Erscheint am 26. November. und Melancholie, mit der der eine Teil
der Reisenden den erbarmungswürdi-
gen Bahnangestellten begegnet, wäh-
rend der andere mit Empörung reagiert.
Ausstellungen Elíasson auch seine Aufnahmen von Dazwischen wartet die große Gruppe
Quallen fürs Klima schmelzendem Gletschereis zeigt. Gleich-
zeitig lassen Rimini Protokoll die Aurelia
der diffus Erduldenden. Tröstende,
auch herablassende Delikatesse einer-
 Umweltschutz boomt, auch im Kunst- beim Essener Festival »Try Again, Fail seits, infantile Wut andererseits: Das ist
betrieb. »win > < win« heißt eine Instal- Again, Fail Better – Impuls Bauhaus« die Verhaltensschere, mit der Gewiss-
lation des Theaterkollektivs Rimini Proto- schwimmen (Zeche Zollverein, bis heiten gekürzt werden und das nationa-
koll, die gerade zum internationalen 15. Dezember 2020), ebenso in der Aus- le Selbstbewusstsein Kränkungen ver-
Hit wird. Der Besucher betrachtet Qual- stellung »2219: Futures Imagined« in Sin- arbeitet. Denn inzwischen ist ja selbst
len, die in einem Aquarium schwimmen. gapur (ArtScience Museum, bis 5. April). dem letzten erschöpften Schlange-
Während er sich dem kontemplativen Vor Ort arbeiten die Theatermacher mit steher klar, während er an seinem Ent-
Anblick der elegant pulsierenden Aurelia lokalen Zoos und Aquarien zusammen, schädigungsheißgetränk nippt: Was
aurita hingibt, klären ihn Meeresbiologen denn die Quallen brauchen spezielle an Investitionen in der Hardware nötig
und Klimaforscher über Kopfhörer da- Pflege. »In Gefangenschaft werden die gewesen wäre, wurde bislang in die
rüber auf, dass Quallen zu den wenigen eigentlich robusten Lebewesen sehr Software gepumpt; heiße, freundliche
Tieren gehören, die von Erwärmung, empfindlich.« CPA Luft statt simpler materialistischer
Verschmutzung und Über- Streckennetzpflege.
fischung der Meere profi- Die Deutsche Bahn, sie ist tatsäch-
tieren. »Wenn der Mensch lich wie das Wetter: Reden wir über sie,
sein Verhalten nicht dann reden wir über uns. Über entglit-
ändert, wird die gehirn- tene Selbstverständlichkeiten, über die
lose Qualle ihn überle- Privatisierungen der vergangenen Jahr-
ben«, sagt Helgard Haug zehnte, über eine neue Klassengesell-
von Rimini Protokoll. schaft – »DB Lounges«, was für ein
Die Installation diene Name, allein für die Premiumkunden
dazu, diese wissenschaft- der Bahn, der Rest soll sich herum-
liche Erkenntnis emotional treiben. Auch über die ratlose Entmuti-
erlebbar zu machen. Ein gung einer eigentlich wohlhabenden
spielerischer Ansatz für Gesellschaft, die mit einem professio-
ein ernstes Problem. Zu nell moderierten »fare well« ihre sozial-
HOLLIE ADAMS / GETTY IMAGES

sehen ist die Installation demokratischen Standards vertändelt.


aktuell in der Londoner Und die so mehr Schaden anrichtet,
Ausstellung »Eco-Visio- als sie durch Werbekampagnen wieder
naries« (Royal Academy of gutmachen kann.
Arts, bis 23. Februar),
in der der dänisch-isländi- Kunstinstallation »win > < win« An dieser Stelle schreiben Elke Schmitter
sche Künstlerstar Ólafur und Nils Minkmar im Wechsel.

121
ETHNOLOGISCHES MUSEUM / SMB / PREUSSISCHER KULTURBESITZ / FOTOGRAF: JÜRGEN LIEPE

Büste einer Königinmutter aus dem 16. Jahrhundert im Ethnologischen Museum Berlin
Was, wenn an den Artefakten Blut klebt?

122
Kultur

Wem gehört die Königin?


Restitution Die Eroberung Afrikas war ein riesiger Raubzug. Heute sind die europäischen Museen
voll von afrikanischer Kunst, die afrikanischen Museen darben. Die Benin-Bronzen könnten
nun zum Präzedenzfall für eine Übergaberegelung werden – wichtige Objekte sind in Deutschland.

D
rei Männer sitzen in einer Gebäu- Augen primitive Wilde und Affen waren«, kaner, denen es um die eigene Geschichte
deruine, nur noch die Außenwän- sagt Umogbai. geht, um die Erinnerung daran, woher
de stehen, das Dach ist zerstört. Am Ende des Rundgangs durch die Aus- man kommt, und um Jahrhunderte, in de-
Sie tragen weiße Baumwollklei- stellung tritt er demonstrativ vor das nen ihnen dieses Recht abgesprochen wur-
dung und Strohhüte, rauchen lässig Ziga- Wandbild, das die drei britischen Plünde- de. Sondern auch für die Europäer. Wenig
retten. Der Lehmboden vor ihnen ist mit rer zeigt, und fragt: »Wer sind eigentlich ist so fest wie unser Glaube an die Macht
Reliefplatten übersät. die Barbaren? Wir oder die Weißen?« der Kultur, wenn es darum geht, die
Die Männer sind britische Kolonialisten, Seit der Unabhängigkeit 1960 fordert Menschheit zu einen. Doch was, wenn die
die nach dem vernichtenden Feldzug ge- Nigeria die Rückgabe der Artefakte. Doch Museen, in denen wir diese Geschichte er-
gen das Königreich Benin ihre Kriegsbeute lange Zeit seien die Anfragen von den zu- zählen, voller Raubgut sind? Wenn an den
sortieren. Das Foto, aufgenommen im Jahr ständigen Stellen abgeschmettert oder gar kulturellen Artefakten Blut klebt? Wenn
1897, wahrscheinlich in der damals zerstör- nicht beantwortet worden. »Aber wir las- der Kolonialismus kein Kapitel aus der
ten Hauptstadt Benins, ist als großflächiges sen uns nicht mehr so einfach abweisen.« fernen Vergangenheit ist, sondern weit in
Wandbild im Nationalmuseum von Benin- Die Nigerianer sind nicht die Einzigen, unsere Gegenwart hineinragt? Wenn es im
Stadt zu besichtigen, heute eine Millionen- die Restitutionsansprüche erheben. Auch Gespräch miteinander, »auf Augenhöhe«,
metropole im Süden Nigerias. andere afrikanische Ex-Kolonien wie Na- wie es Angela Merkel den afrikanischen
Hier wird eine repräsentative Regierungschefs beim Berliner
Auswahl der Kulturgüter gezeigt, Afrika-Gipfel versprach, eben nicht
die nach der großen Plünderung nur um schöne Worte geht, um
des damaligen Königreichs übrig »Hilfe« und »Investitionen«, son-
geblieben sind: Elfenbeinschnitze- dern auch darum zurückzugeben,
reien und Ahnenköpfe, Altarglo- was die Vorfahren unrechtmäßig
cken, Tanzmasken und Holztrom- an sich genommen haben?
REGINALD K. GRANVILLE / BRIDGEMAN IMAGES

meln, Metalltafeln, die den König, Die Rückgabe der Kulturschätze


den Palastmetzger, die Scharfrich- ist zu einem politischen Streit-
ter oder Ogiuwu, den Gott des To- thema geworden, das die Beziehun-
des, darstellen. Und in einer Glas- gen zwischen afrikanischen und eu-
vitrine das schönste aller Exponate: ropäischen Regierungen belastet.
Iyoba, die Büste der Königinmutter, Die erbitterte Diskussion um das
mit der unverkennbaren Hühner- Humboldt-Forum in Berlin ist be-
schnabelkrone, die sie aus allen herrscht vom Umgang mit den
Frauen des Reiches hervorhebt. Im außereuropäischen Sammlungen.
Original eine der wichtigsten der Frankreichs Präsident Emmanuel
berühmten Benin-Bronzen, einer Kolonialisten, Beutegut in Benin 1897 Macron kündigte im November
Gruppe von mehr als tausend Tausende und Abertausende Kunstwerke 2017 an, sein Land werde binnen
Metallarbeiten, die einst den Palast fünf Jahren alle geraubten afrika-
des Königs schmückten, hauptsächlich mibia, Ghana oder Kenia wollen das Gros nischen Kunstwerke zurückgeben. »Das
Büsten und Reliefs. der Raubgüter zurückhaben. Der sene- afrikanische Erbe darf kein Gefangener
»Aber das ist leider nur eine Replik aus galesische Intellektuelle Felwine Sarr, des- europäischer Museen sein«, twitterte der
Gips, das Original befindet sich in einer sen wegweisendes Buch »Afrotopia« An- Élysée-Palast. Die Benin-Bronzen könnten
Sammlung in Berlin«, sagt Theophilus fang des Jahres auf Deutsch erschienen ist, nun zu einem Präzedenzfall für künftige
Umogbai, 55, der Kurator des Museums. schreibt darin, dass der Wettlauf der euro- Übergaberegelungen werden.
»Der Großteil unserer geraubten Kultur- päischen Eroberer um die Ressourcen des Eines der geraubten Objekte, die vor
schätze ist in England und Deutschland ge- Kontinents zu einer der größten Kultur- mehr als hundert Jahren auf verschlunge-
landet.« plünderungen der Menschheitsgeschichte nen Wegen ins deutsche Kaiserreich ge-
Vor allem die Bronzeköpfe waren in geführt habe. Tatsächlich: Es geht um langten, befindet sich in Hamburg. Es trägt
Europa begehrt. Ihre ästhetische Qualität Tausende und Abertausende Objekte, um die Inventarnummer C289 in der Samm-
verblüffte die Experten so sehr, dass sie Schädel und Gebeine, die rassenbiolo- lung des ehemaligen Völkerkundemuse-
glaubten, sie wären von fremden Meis- gischen Forschungen dienten, um rituelle ums: eine Benin-Bronze, die in Wirklich-
tern geschaffen worden, nicht von Afri- Gegenstände, Ahnenaltäre, Masken, Thron- keit aus Messing ist, 16. Jahrhundert, zehn
kanern. Der berühmte Afrikaforscher sessel, Musikinstrumente, Töpferware, Kilogramm schwer; sie zeigt den König
Leo Frobenius hielt sie für das Werk alter Schmuck, traditionelle Werkzeuge und mit zwei Hofschranzen.
Griechen aus dem untergegangenen At- Waffen. Barbara Plankensteiner, der Direktorin
lantis. »Die Europäer trauten uns solche Es sind die ganz großen Fragen, die hier des mittlerweile in »Museum am Rothen-
Fähigkeiten nicht zu, weil wir in ihren verhandelt werden. Nicht nur für die Afri- baum. Kulturen und Künste der Welt« um-

DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019 123


gerianischen Stadt Ile-Ife. Damals ver-
schwanden zahlreiche Terrakotta- und
Messingbüsten; sie wurden vermutlich von
Mitarbeitern verhökert. Noch ein Jahr da-
nach bot der Hauptraum des Museums
einen jämmerlichen Anblick: Jeder zweite
Wandsockel, auf dem die Meisterwerke
gestanden hatten, war leer. »Billige Aus-
reden«, sagt Umogbai. »Unter zwölf Jün-
gern ist immer ein Judas. Aus unserem Mu-
seum wurde noch nie etwas gestohlen.«
Jahrhundertelang hatten die Edo-Herr-
scher verstanden, ihre Unabhängigkeit zu
wahren, hatten Sklaven, Pfeffer und Elfen-
bein gegen Metalle, Glasperlen und Waf-
fen aus Europa getauscht. Der König wur-
de von seinen Untertanen wie ein Gott
verehrt, er herrschte über einen Hofstaat
mit fein verästelten Hierarchien und gro-
ßem historischen Selbstbewusstsein. In sei-
nem Palastbezirk durften sich auch Euro-
päer aufhalten, aber er ließ sich nicht mis-
sionieren. Der mächtige Oba war, auch aus
europäischer Sicht, kein zurückgebliebe-
ner Hirtenfürst. Um die Hauptstadt seines
Reichs stand eine Mauer aus rotem Lehm,
mit Unterbrechungen sage und schreibe
16 500 Kilometer lang, das längste Erd-
werk, das je von Menschen gebaut wurde.
Heute zeugen nur noch ein paar Hügel
und zugewachsene Gräben davon.
PHILIPP SCHMIDT / DER SPIEGEL

Im 19. Jahrhundert gerieten die Oba mit


dem ausgreifenden britischen Empire in
Konflikt. Und weil Portugal den Sklaven-
handel verbot, brachen die Einkünfte weg.
1892 sah sich der Herrscher genötigt, einen
Freihandelsvertrag mit den Briten zu un-
terzeichnen. Allerdings dachte er nicht
Museumschefin Plankensteiner mit Benin-Bronze: »Diese Sachen gehören uns nicht« daran, sich buchstabengetreu an das Ab-
kommen zu halten. Er verhängte weiter-
hin Zölle – was den Kolonialherren einen
benannten Hauses, ist dieses Stück beson- Köpfe von zwei Portugiesen, Handelsleu- willkommenen Vorwand lieferte, im Ja-
ders lieb. Sie hat es in ihr loftiges Büro un- ten, mit denen seit dem 16. Jahrhundert nuar 1897 eine Strafexpedition in die Stadt
ter dem Dach schaffen lassen und auf ein Austausch bestand, dem die Obas ih- Benin zu entsenden. Doch die Krieger des
schwarzem Samt gebettet. Die 56-jährige ren Reichtum verdankten. Oba rieben die Invasoren auf, nur 2 Euro-
Ethnologin ist eine der weltweit besten Auch das Museum in Benin-Stadt be- päer und 20 afrikanische Träger sollen
Kennerinnen der Benin-Kunst. 2007 hat sitzt noch ein paar Gusstafeln, die portu- überlebt haben.
sie eine Ausstellung mit grandiosen Expo- giesische Händler abbilden: hagere Män- Schon im Februar jenes Jahres schickte
naten aus dem alten Königreich organi- ner mit Spitzbart, Wams und Federhut, die London eine neue Truppe los, 1200 Mann
siert. Sie wirkt maßgeblich in der Benin als Zahlungsmittel Manillen mitführen, unter dem Kommando von Admiral Harry
Dialogue Group mit, einem Gremium von Armreife aus Kupfer oder Messing. Rawson, schwer bewaffnet mit modernen
Fachleuten aus Europa und Nigeria, die Doch wenn man dort mit dem Kurator Maxim-Maschinengewehren: Der Königs-
Rahmenbedingungen für den Umgang mit Theophilus Umogbai durch die Sammlung sitz der Edo sollte dem Erdboden gleich-
dem Raubgut aushandeln. geht, kann es passieren, dass der Ausstel- gemacht und der Oba gehängt werden.
»Hier sitzt der König auf seinem Thron, lungsraum plötzlich im Halbdunkel ver- Tagelang brannten die Soldaten Haus
trotzdem stützen ihn seine Begleiter an sinkt. Das Licht ist ausgegangen, das Rat- für Haus nieder, vernichteten das könig-
den Unterarmen. Das soll zeigen: Nie- tern der Klimaanlage verstummt. »Strom- liche Heer – und erbeuteten zahllose Kul-
mand kann herrschen ohne Unterstützung ausfall«, sagt er. »Solche Probleme dienen turgüter. Queen Victoria gratulierte zum
des Volkes – auch nicht der Oba von Be- als Vorwand, um die Restitution zu ver- Sieg. Für sie wurden die schönsten Stücke
nin.« Plankensteiner beugt sich über das weigern.« Oft heiße es, die Afrikaner hät- reserviert, der Rest wurde an das British
Kunstwerk: Der Machthaber trägt das ri- ten keine ordentlichen Museen und könn- Museum verschickt und unter den Solda-
tuelle Gewand aus Korallen, dazu eine ten die wertvollen Artefakte nicht fach- ten aufgeteilt.
Gürtelschnalle mit Krokodilmotiven, in gerecht aufbewahren. Oder diese würden »Die Obas hatten nach unserem Wis-
der Hand hält er einen Hammer als Zei- aus schlecht gesicherten Sammlungen ge- sensstand Bronzen nur in ganz seltenen
chen seiner Würde. Eingraviert sind Fluss- stohlen werden. Fällen verschenkt und schon gar nicht
blätter, Symbole des Meeresgottes und Eine der spektakulärsten Diebstahl- damit gehandelt«, erklärt Barbara Plan-
rechts und links, hinter dem Herrscher, die serien ereignete sich 1993/94 in der ni- kensteiner. »Auch unsere Platte wäre nie-

124 DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019


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Kultur

mals nach Hamburg gelangt, wenn die entstanden. »Man stelle sich die Folgen torische Wunden zu heilen, sei vielmehr
Briten nicht das Reich von Benin überfal- vor, wenn Michelangelo oder Picasso vor die Repatriierung der Bronzen. Der König
len hätten.« vielen Jahrzehnten dem Blick der europäi- habe bereits den Standort eines neuen Mu-
Es ist nicht klar, wie das Objekt C289 schen Öffentlichkeit entzogen worden wä- seums für die Artefakte ausgewählt, Ent-
in die Hansestadt kam. Viele Bronzen ver- ren. Genau das haben die Briten hier be- würfe von Architekten lägen vor.
steigerten die Briten damals an europäi- wirkt: Sie haben uns von der eigenen Kul- Auf Macrons große Worte seien bislang
sche Museen, Kunstsammler oder Händler. turgeschichte abgeschnitten.« kaum Taten gefolgt, sagt Akenzua. »In
Möglicherweise auch an einen Hamburger Man muss dazu wissen, dass das Volk unseren Verhandlungen wird immer we-
Kaufmann namens John Lembke, von ihm der Edo die Objekte nicht als Kunstwerke niger über Restitution gesprochen, man
sind Briefe aus Benin-Stadt überliefert. wahrnimmt, sondern als Medien kulturel- redet lieber von Leihgaben oder Zirku-
»Provenienzforschung« heißt die wis- ler Selbstvergewisserung – sie erzählen lation.«
senschaftliche Disziplin, die sich mit der die eigene Geschichte. Ein Symbolsystem, Wie deutsche Institutionen in dieser Fra-
Herkunft und den Erwerbsumständen von das besondere Ereignisse, Kriegsverläufe ge herumeiern, zeigen die »Eckpunkte
Kulturgütern befasst. »Es ist unsere Pflicht, oder Rituale festhielt, ersetzte die schrift- zum Umgang mit Sammlungsgut aus ko-
genau herauszufinden, woher die Stücke liche Überlieferung. Auf dem Stuhl, der lonialen Kontexten«, die die zuständigen
stammen und wie sie in unseren Besitz ge- dem von den Briten gestürzten König ins Bundesminister, die Kulturminister der
langt sind«, sagt Museumschefin Planken- Exil nachgesandt wurde, finden sich etwa Länder sowie kommunale Spitzenverbän-
steiner. Juristisch gebe es zwar keine Hand- geschnitzte Piktogramme, die nur der Ver- de im März vorgelegt haben. Darin wird
habe, die Besitzansprüche seien verjährt. bannte entschlüsseln konnte; sie informier- in krudem Amtsdeutsch empfohlen, dass
Doch moralisch fällt ihr Urteil eindeutig ten ihn über die Lage in seiner Heimat. der »Sachverhalt« von der »Aufarbeitung
aus: »Diese Sachen gehören uns nicht. Das NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kul-
sind geraubte Schätze.« turgutes« zu trennen sei. In dem Papier
»Aber Teile der Benin-Kunstwerke soll- wird zwar die »generelle Bereitschaft zur
ten in Europa weiterhin zu sehen sein, ge- Rückführung« signalisiert, aber man will
rade jetzt. Diese Meinung teilen auch un- die »Lösungsansätze« in eine »gemeinsa-
sere Partner in Nigeria«, sagt die Direkto- me postkoloniale Erinnerungskultur« ein-
rin. »Denn sie zeugen davon, dass es in gebettet wissen.
Afrika schon im Mittelalter komplexe Derartige Worthülsen sind auch in der
staatliche Systeme und eine hochwertige Debatte um das Berliner Humboldt-Forum
Kunstproduktion gegeben hat, wie in zu hören, in dem demnächst Objekte aus
Europa.« »kolonialen Kontexten« ausgestellt wer-
Zugleich war das alte Benin ein krie- den sollen, darunter einige der prächtigs-
gerisches Imperium, das Nachbarvölker ten Bronzen aus Benin. Als »geteiltes
plünderte und mit Sklaven handelte – und Menschheitserbe« will man ethnologische
manche dieser Völker sollen den Unter- Schätze aus aller Welt zeigen, mit einem
gang des Edo-Reichs mit Schadenfreude neuen, universellen Blick, der die eurozen-
REY BYHRE / DER SPIEGEL

verfolgt haben. Aber dieses dunkle Ka- trische Deutungshoheit überwindet.


pitel der Vergangenheit wurde verdrängt In Nigeria glaubt man, die hinter den
oder vergessen. In der verwahrlosten Erklärungen verborgenen Absichten durch-
Dependance der nigerianischen National- schaut zu haben. Es gehe in Wahrheit da-
bibliothek in Benin-Stadt findet sich rum, möglichst viel »Sammlungsgut« zu
nur ein einziges Buch über die Geschichte behalten, sagt Aiko Obobaifo, 62. »Denn
der Edo. Kurator Umogbai ihr habt Angst, dass eure schönen Völker-
Nicht weit entfernt vom Museum, in ei- »Wer sind die Barbaren?« kundemuseen leer sein könnten, wenn ihr
ner Werkstatt in der Igun Street, kreischen alles zurückgeben müsst.«
schon seit Sonnenaufgang die Schleifma- Ethnologen vergleichen die Zeichen mit Obobaifo ist Sekretär des Institute for
schinen. Brennöfen glühen, der Lehm- den Emojis des digitalen Zeitalters. Benin Studies, das ein digitales Archiv zur
boden ist mit Metallspänen übersät. Ein Ogbebor, ein Hüne mit Stentorstimme, Geschichte der Edo aufbaut. Er ist der
Dutzend Handwerker schleift Messing- berät den Gouverneur des Bundesstaates einzige Gesprächspartner in Benin-Stadt,
rohlinge, formt Wachs- oder Tonmodelle, Edo in Restitutionsfragen. Er glaubt, dass der nicht nur die Verzögerungstaktik der
stanzt, ziseliert und poliert Objekte. Die sich in Europa viel mehr als die geschätz- Europäer kritisiert, sondern auch die man-
Technik zur Herstellung der Bronzen – ten 3500 bis 4000 gestohlenen Objekte gelnde Qualifikation seiner Landsleute.
»Guss in verlorener Form« – wurde vermut- aus dem Königreich Benin befinden. »Wir haben viel zu wenig Experten, die
lich im zwölften Jahrhundert entwickelt, »Aber wir können sie nicht sehen, weil fachkundig mit den Kulturgütern umgehen
einst durften sie nur die Iguneromwon an- nur wenige von uns ein Visum erhalten.« können. Unsere Museen werden von
wenden, die Gilde der Bronzeschmiede, Prinz Gregory Akenzua schlägt in die Staatsbeamten verwaltet, die wenig Ah-
die vom König persönlich beauftragt wur- gleiche Kerbe. Als Mitglied des Königs- nung haben. Ich frage mich voller Sorge,
den. Heute werden die Produkte für den hauses vertritt er Ewuare II., den amtie- was mit den Objekten geschieht, wenn sie
Touristenmarkt gefertigt. renden Oba, in der Benin Dialogue Group. heimgekehrt sind.«
»Sieht alles ziemlich gleich aus«, sagt Der Medizinprofessor ist eine gravitätische Aiko Obobaifo ahnt, dass solche Sätze
der Künstler Enotie Ogbebor und deutet Erscheinung, er trägt ein traditionelles die Zauderer und Zweifler in Europa be-
auf die Figuren im Verkaufsschuppen, die Männergewand, eine weiß-graue, mit Sil- stärken könnten. Deshalb stellt er gleich
wie eine Armee aus Zinnsoldaten aufge- berfäden durchwirkte Babanriga. klar: »Natürlich wollen wir alle Raubgüter
stellt sind. »Denn für neue Ideen fehlen »Wir warten zwar immer noch auf eine zurückhaben, sie sind unser Eigentum,
die authentischen Vorlagen.« Durch den offizielle Entschuldigung für den Kunst- und es ist allein unsere Sache, was wir da-
Kunstraub im 19. Jahrhundert sei eine Lü- raub, aber das ist nicht entscheidend«, sagt mit machen.« Bartholomäus Grill, Jan Puhl
cke im Verstehen der eigenen Traditionen Akenzua. Der wichtigste Schritt, um his-

126 DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019


oder digital auf manager-magazin.de/premium
Kultur

»Ich habe es
immer vorgezogen,
frei zu sein«
SPIEGEL-Gespräch Die französische Schauspielerin
Fanny Ardant erklärt, warum sie mit unserer
Zeit hadert, nichts für ihre Gesundheit tun will,
nie wählen gegangen ist – und trotz der
Vergewaltigungsvorwürfe zu Roman Polanski hält.

Der Ort, den Fanny Ardant, 70, für das zigen Mann geliebt hätte, würde ich han-
Gespräch vorgeschlagen hat, ist unge- deln wie sie. Denn sie gibt ja nicht auf,
wöhnlich: keine Hotelsuite wie sonst üb- sie sieht, dass ihr Mann Victor sich von
lich, sondern der Kellerraum eines Restau- ihr entfernt, und nun tut sie alles, um ihn
rants am Boulevard Saint-Germain. An aufzurütteln.
den Wänden lehnen Sonnenschirme und SPIEGEL: Na ja, sie schmeißt ihn ziem-
gestapelte Korbstühle, daneben stehen lich brutal aus dem Ehebett mit dem
Kartons mit Kürbissen und frischen Eiern. schönen Satz: »Ich habe das Gefühl, ich
Der Wirt hat einen Bistrotisch und zwei werde schneller alt, wenn ich neben dir
Stühle für das Interview bereitgestellt. Um einschlafe.«
Punkt zwölf Uhr kommt Ardant die steile Ardant: Stimmt, sie ist sehr hart, ich woll-
Holztreppe herunter, nicht mit zarten, son- te diese Szene erst nicht so spielen. Ich
dern mit sehr festen Schritten. Sie trägt mag es nicht, wenn ältere Frauen in Dreh-
an jedem Finger erstaunlich große Ringe. büchern immer als verbittert und frus-
Und sie spricht schon mittags mit dieser triert dargestellt werden. Was ist das für
dunklen, hingehauchten Veloursstimme, ein Frauenbild? Warum ist Alter gleich-
die sie berühmt gemacht hat – als ob sie zusetzen mit Frustration? Ich habe des-
seit Stunden geraucht und getrunken halb lange mit dem Regisseur Nicolas
hätte. »Die schönste Zeit unseres Lebens«, Bedos diskutiert, bis er mir erklärt hat, sie
der 78. Film ihrer Karriere, läuft seit müsse so hart sein, weil sie es ernst meint,
Anfang November mit großem Erfolg in weil sie wirklich nicht mehr so leben will.
Frankreich. Am Donnerstag kommt er Nicht weil sie alt ist.
auch in Deutschland ins Kino. SPIEGEL: Sie beendet also ihre seit
Jahrzehnten andauernde Ehe, weil sie
SPIEGEL: Madame Ardant, in Ihrem neu- diesen Mann an ihrer Seite nicht mehr
en Film geht es um ein Paar, das gemein- aushält. dachte ich, wenn man heiratet, dann muss
sam alt geworden ist, und um Liebe, die Ardant: Und weil jeder Abenteuer braucht, es für immer sein, dann trennt man sich
verblasst. Also um lauter Dinge, die Sie weil jeder sich mal in Gefahr begeben nicht nach ein paar Jahren.
aus eigener Erfahrung nicht kennen: muss. Keine Liebesgeschichte ist sicher SPIEGEL: Und das haben Sie sich nicht zu-
Sie haben drei Kinder von drei verschie- vor einem Unbekannten, der in die Bar getraut?
denen Männern. Sie haben nie geheira- kommt. Das hat Marguerite Duras gesagt, Ardant: Nein, ich kenne mich ziemlich gut.
tet. Sie sagen, Sie seien immer gegangen, und zwar in den frühen Sechzigerjahren, Aber ich bewundere Paare, die nach Jahr-
bevor die Liebe schwand. War die Rolle zu einer Zeit, als unsere Gesellschaft noch zehnten immer noch verliebt sind. Wenn
der Ehefrau Marianne deshalb interes- nicht so frei war wie heute. Das hat mich ich so ein Paar im Restaurant sehe, dann
sant für Sie? damals schon sehr beeindruckt. betrachte ich es wie ein Kunstwerk. Es
Ardant: Ich mag diese Marianne, weil sie SPIEGEL: Sie selbst haben aus Überzeu- rührt mich. Auch meine Eltern haben eine
ihren Mann lange geliebt hat und jetzt gung nie geheiratet? Amour fou füreinander geteilt.
aber nicht einfach sagt, okay, es ist eben Ardant: Unabhängigkeit ist für mich ein SPIEGEL: François Truffaut, der Sie mit
vorbei, c’est la vie! Sie kämpft um ihn. hohes Gut. Ein sehr zerbrechliches auch, dem Film »Die Frau nebenan« berühmt
Wenn ich in meinem Leben nur einen ein- weil wir alle Angst haben: Angst vor dem gemacht hat, ist der Vater Ihrer zweiten
Morgen. Angst, nicht mehr geliebt zu wer- Tochter. Auch eine Amour fou?
Das Gespräch führte die Redakteurin Britta Sandberg den. Angst, allein zu sein. Ich habe es im- Ardant: Eine große Liebe. Er war nach
in Paris. mer vorgezogen, frei zu sein. Außerdem meinem Vater der zweite Mann in meinem

128
CAROLE BELLAICHE / H&K
Filmstar Ardant: »Diese ganze Political Correctness geht mir total auf die Nerven«

Leben, der einen wirklich unabhängigen mich auch früh mit dem Tod beschäftigt. taurant, das Sie für unser Gespräch ausge-
Geist hatte. Er war intelligent, neugierig, Ich sehe ihn nicht unbedingt als etwas sucht haben, hat Detoxsäfte und frische
begeisterungsfähig, mit einer großen Lei- Negatives, Düsteres an, eher als einen Salate auf der Karte.
denschaft für alles, was er tat. Er hatte Gegner, zu dem man in den Boxring Ardant: Ich habe es ausgesucht, weil es
ein unglaubliches Vorstellungsvermögen. steigt. Man weiß, dass man am Ende k. o. nahe an meiner Wohnung liegt. Ich hasse
Und obwohl er ein großer Regisseur war, gehen wird, aber man kann bis dahin die Idee, sich exzessiv um den eigenen
hatte er sich eine kindliche Seite bewahrt, die Schläge abfedern. Mit 70 rückt der Körper zu kümmern. Ich hasse auch diese
er fing mit jedem Film wieder von Neuem Tod immer näher, er ist der Endpunkt Dialoge, die man neuerdings führt: Huch,
an. Das habe ich sehr bewundert. zu allem. du isst Fleisch. Huch, du trinkst Wein. Auf
SPIEGEL: Sie sind in diesem Jahr 70 Jahre SPIEGEL: Was Ihnen nicht unbedingt keinen Fall Gluten essen. Das ist doch
alt geworden. War das schwierig? Angst zu bereiten scheint. fürchterlich. Ich mag die Gainsbourgs die-
Ardant: Nein, überhaupt nicht. Ardant: Es gab um mich herum immer ser Welt, Leute, die gefährlich leben. Und
SPIEGEL: Damit sind Sie eine Ausnahme viele Frauen, die ihr Alter akzeptiert ha- deshalb esse ich Fleisch und trinke Wein
unter den Frauen im Großraum Paris. ben, die in Würde alt wurden – meine und Bier. Allerdings rauche ich nur noch
Ardant: Ich habe schon mit 30 über das Großmutter, meine Mutter und andere. die Zigaretten der anderen, seitdem ich
Alter nachgedacht. Damals fing es an, Das hat mir sehr gefallen. Tuberkulose hatte.
dass mich Journalisten fragten, wie ich SPIEGEL: Tun Sie etwas für sich und Ihren SPIEGEL: Warum reagieren Sie so aggres-
damit umgehe, älter zu werden. Ich habe Körper, wie es gerade alle tun? Dieses Res- siv auf den Versuch, gesund zu leben?

DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019 129


Ardant: Weil ich diese neue Gesell- SPIEGEL: Sie haben noch nie in
schaftsordnung, die sich da abzeich- Ihrem Leben gewählt?
net, nicht mag. Es wird vorgegeben, Ardant: Nein, noch nicht mal bei
was man machen, essen, tun sollte. Regionalwahlen. Meiner Mutter
Nach Gluten werden uns demnächst war das fürchterlich peinlich, als
sicher bestimmte Worte verboten. wir eine Zeit lang in einem klei-
SPIEGEL: Was meinen Sie damit? nen Dorf lebten und alle sehen
Ardant: Diese ganze Political konnten, dass ich nicht wählen
Correctness geht mir total auf die gehe. Ich habe gesagt, lass sie doch,
Nerven. Ich habe mir nie etwas es ist eine bewusste Entscheidung
untersagt. Je puritanischer eine von mir. Ich finde, dass die Politik
Gesellschaft sich verhält, desto ein schmutziges Geschäft ist, und
gefährlicher wird es. Es gibt keine nicht zu wählen ist meine Art,
politischen Dogmen mehr, aber mich davon fernzuhalten. Natür-
stattdessen breitet sich unterschwel- lich kommt dann immer der Vor-
lig etwas anderes aus – eine neue wurf, dass ich so den extremen
Definition dessen, was gut und was Parteien helfe.
schlecht ist. Ich mache da nicht mit. SPIEGEL: Was stimmt.

JEAN-CLAUDE DEUTSCH / PARIS MATCH / GETTY IMAGES


Es gibt keinen Raum mehr für Ex- Ardant: Ja, aber die Welt wird
zesse, für Widersprüche. Für mich schon nicht stehen bleiben, nur
machen aber die Widersprüche weil ich armes Mädchen nicht
den Reichtum eines Menschen aus. wählen gehe. Das können ja die
SPIEGEL: Gilt das auch für die anderen machen, ich bekehre nie-
#MeToo-Bewegung? manden.
Ardant: Ich mag es nicht, einfach SPIEGEL: Es heißt, dass Sie das
nur Verdächtigungen öffentlich in mondäne Leben nicht mögen und
den Raum zu stellen. Eine Bewe- sich bei Filmpremieren auf eine
gung, die die Rolle der Justiz über- Caféterrasse flüchten, um ein Bier
nimmt, interessiert mich nicht. Heu- zu trinken.
te kann jeder irgendeine Anschul- Ardant: Diese Empfänge langwei-
digung rauspusten. Eine Presse, die Paar Ardant, Truffaut 1981 len mich. Aber ich habe eine Me-
ihren Pflichten nicht mehr nach- »Eine große Liebe« thode entwickelt, langweilige Mit-
kommt, verbreitet sie dann. Aber tagessen zu vermeiden. Ich frage die
wenn wir der Justiz nicht mehr vertrauen, Kinder groß werden sollen? Eine Gesell- Männer, die neben mir sitzen, ob sie ihre
dann ist das das Ende der Demokratie. schaft, in der es reicht, dass andere mit Frau noch lieben. Das gibt sehr interessante
SPIEGEL: Haben Sie damals den Gastbei- dem Finger auf jemanden zeigen, und Antworten, müssen Sie mal ausprobieren.
trag von Catherine Deneuve und anderen alle schreien: Uhh, uh, uh? SPIEGEL: Und was machen Sie, wenn Sie
prominenten Französinnen, mit dem sie SPIEGEL: Und wenn sich die Vorwürfe als nicht arbeiten und in Paris sind?
sich von der #MeToo-Bewegung distan- wahr herausstellen sollten? Ardant: Eigentlich nichts Besonderes. Ich
ziert haben, unterzeichnet? Ardant: Dann würde ich Polanski immer laufe in der Stadt herum, ich liebe Paris,
Ardant: Nein, nein, nein! Ich hasse Grup- noch lieben. Kompromisslos. Er ist für auch wenn es mittlerweile an die Touristen
pen, und ich hasse Gruppendenken – auch mich wie ein Teil meiner Familie. Und verkauft wurde und zu einem großen Frei-
wenn man nur gemeinsam stark sein wenn eine meiner drei Töchter jemanden lichtmuseum geworden ist. Ich gehe allein
kann –, ich weiß, das ist ein Widerspruch. umgebracht hätte, würde ich sie vor der ins Kino. Ich spiele Klavier. Oder ich liege
SPIEGEL: Seit einiger Zeit gibt es neue Vor- Polizei verstecken. Ich würde immer mei- auf dem Bett, lese und esse Schokolade.
würfe gegen den Regisseur Roman Polans- ne Familie verteidigen – auch wenn das Herrlich. Und ich sehe meine Töchter und
ki, der ein enger Freund von Ihnen ist. ein moralisches Dilemma ist. Enkelkinder, wir sind sehr eng miteinan-
Ardant: Es ist schwierig für mich, über SPIEGEL: In vielen Porträts über Sie taucht der, ich bin ein absoluter Familienmensch.
Polanski zu sprechen. Er ist ein Mann, den irgendwann der Begriff Rebellin auf. Se- SPIEGEL: In Ihrem neuen Film kann man
ich sehr liebe. Und wenn ich jemanden hen Sie sich selbst als eine? in die Vergangenheit reisen und sich eine
wirklich liebe, dann halte ich zu ihm, bis Ardant: Nein, das ist ein Klischee. Ich bin Epoche aussuchen, in der man gern gelebt
sein Kopf unterm Henkersbeil liegt. kein Che Guevara. Es gab eine Zeit, als hätte. Gibt es bei Ihnen eine Zeit, die Sie
SPIEGEL: Und die Vorwürfe, er habe vor ich Politische Wissenschaften in Aix-en- noch mal erleben möchten?
Jahren in seinem Schweizer Chalet eine Provence studiert habe, da wollte ich in Ardant: Nein, ich bin immer jemand ge-
18-Jährige vergewaltigt, ändern nicht Ih- die Politik gehen. Aber dann war mein wesen, der im Moment lebt. Und sosehr
ren Blick auf Ihren Freund? Polanski lässt Egoismus, Schauspielerin werden zu wol- ich über die jetzige Zeit schimpfe, nichts
sie über seinen Anwalt abstreiten. Aber len, irgendwann größer. Aber ich be- kann die Gegenwart ersetzen, in der an
das Opfer hat schon damals mehreren Leu- wundere Leute, die ihr Leben einer Sa- jeder Ecke ein neues Abenteuer wartet.
ten von der angeblichen Vergewaltigung che widmen. SPIEGEL: Madame Ardant, wir danken
erzählt, die Frau wirkt eher glaubwürdig. SPIEGEL: Waren Sie froh, als Frankreich Ihnen für dieses Gespräch.
Ardant: Ich lese keine Zeitungen mehr, ich 2017 einen neuen Präsidenten bekam?
kenne nicht die Details. Aber ich komme Ardant: Ich bin vielleicht ein wenig naiv,
immer wieder auf denselben Punkt zurück. ich warte immer noch darauf, dass etwas Video
Fanny Ardant in ihren
Ich finde skandalös, was mit Kevin Spacey passiert. Aber ich gebe Emmanuel Macron größten Filmen
geschehen ist, er wurde ausgelöscht, ohne einen Vertrauensvorschuss, ich sage mir, spiegel.de/sp482019ardant
dass bisher ein juristisches Urteil erfolgt lass ihn jetzt erst mal weitermachen. Aber oder in der App DER SPIEGEL
wäre. Ist das die Gesellschaft, in der unsere ich gehe nicht wählen, grundsätzlich nicht.

130 DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019


Unsere Weine sind
so individuell wie
wir – und gemacht
fürs Miteinander.
Weine aus Rheinhessen:
Qualität, die man schmeckt.

Die 13 deutschen Weinregionen sind


geschützte Ursprungsbezeichnungen.

Rheinhessen ist eines der 13 deutschen Anbaugebiete, das die EU als


geschützte Ursprungsbezeichnung anerkannt hat. Es ist die größte
deutsche Weinregion und erstreckt sich linksrheinisch am Rheinbogen
von Worms über Mainz nach Bingen. Im trockenen Klima wachsen zu
70% weiße Rebsorten – vor allem Riesling, die Burgundersorten sowie
der Silvaner. Mehr Informationen zur geschützten Ursprungs-
bezeichnung Rheinhessen: www.rheinhessen.de/gu
Kultur

Letzte
Lieben, viele Leben lang. Das hat Botho mehr, auch wenn der Ruhm noch ganz
Strauß natürlich nicht, zwischendurch hat ordentlich ist.
er sich immer mal wieder in irre manie- Die andere Grundmelodie, die aus den

Freiheit
rierte stilistische Scheinhöhen verloren – vielen kurzen Texten dringt ist: Reue. Und
und dann in die politische Essayistik. Jetzt der Wille, etwas wiedergutzumachen.
ist er aber endlich wieder dort, wo er am Oder auch einfach: zurückzukehren an
besten ist: beim »Sie und Er«. Wie steht einen Ort, wo man mal glücklich war, oder
Literatur Botho Strauß blickt in es damit aus der Perspektive des alten zu einem Menschen. An einer Stelle
seinem neuen Buch wie ein Mannes? schreibt Strauß: »Nun beginnen sie noch
Seine Liebes- oder besser Unglücks- einmal, beide mit etwas zittrigen Händen,
Insektenforscher auf die Liebe formel der Gegenwart geht so: »Falsche und es sind seine Hände, die sich be-
und unsere Gegenwart. Vorstellung der Frau von ihrem Leben schwichtigend auf ihren Unterarm legen
prallt gegen falsche Vorstellung des Man- am Ende der erregten Begegnung und die

E in alter Mann tritt ab. Er spürt den


Ruhm im Rücken, die ihm nach-
schauende Schar der Bewunderer
stärkt ihn. Sein Arm: ruhmgesteuert, der
nes von seinem Leben. Generalzerrüt-
tung beginnt. Die Freiheit, sich jederzeit
aus seinen Verhältnissen stehlen zu kön-
nen, führt unvermeidlich zu deren Zer-
sie, wiederum unversöhnt, von ihrem Arm
nimmt und ihm zurückgibt.«
Reue empfindet »der alte Romancier«,
der immer auftaucht, auch über früh
Schritt: schlendernd. Ein gemachter Mann. störung.« Geschriebenes: »Über dem Spiegel, auf
Doch wehe er blickt hinter sich. Da ist Das spielt er durch. Die Freiheit, sich der Tischplatte stand in wachskrustigen
in Wirklichkeit nichts, kein Ruhm, kein aus den Verhältnissen zu stehlen – und Buchstaben, was er an Verwerflichem
Glanz: »Doch hat sein Rücken falsch ge- sich in neue hineinzustehlen. Manchmal in seinen Büchern geschrieben hatte. Und
fühlt: Niemand, gar niemand steht als ein für Sekunden. Manchmal, nachdem sich an der Wand klebte ein abscheuliches
Zurückgebliebener hinter ihm, und keiner zwei beinahe ein Menschenleben lang Zitat, das ihm tatsächlich verfolgungswür-
schaut ihm nach.« schon kannten. dig erschien.« Und seufzt: »Ja, man
So beschreibt Botho Strauß den Erzäh- Der Grundton des Buches ist melancho- schrieb es hin. Und es blieb stehen. Man
ler in seinem neuen Buch. Strauß, der Paar- lisch und rückwärtsgewandt. Der Erzähler trug es über die Jahre. Immer mit demsel-
sezierer, Menschendurchschauer und Ma- scheint nicht wirklich überrascht zu sein, ben Kopf voll Reue.«
gnetkünstler der Liebe, wird Anfang De- dass da hinter ihm, wo der Ruhm sein soll- Es ist eine alte Welt, die Strauß mit gna-
zember 75 Jahre alt. Zur Feier des Tages te, keiner steht. Ein wenig selbstmitleidig denlosem Blick beschreibt, junge Men-
ist er wieder mal zu seinem alten Verlag und larmoyant ist der Ton trotzdem – schen sieht er nur aus großer Ferne. Ein-
Hanser zurückgekehrt, der ihn mit der denn viele Leser hat Botho Strauß nicht mal immerhin ahnt der Erzähler von einer
Neuauflage seiner besten Bü- neuen, sanft gelockerten Ge-
cher ehrt. Außerdem erscheint schlechteridentität: »Also ob
ein neues Theaterstück bei sei- mein Mann es mag, kann ich
nem Zwischenverlag Rowohlt. nicht sagen. Aber der Mann in
Vor allem aber kommt ein neu- mir mag es. Und von meinem
er Prosaband bei Hanser he- Mann kann ich nur so viel sa-
raus. »Zu oft umsonst gelä- gen, dass die Frau in ihm es
chelt« heißt er, und darin auch sehr mag. Der Die, die
macht Strauß, was er am bes- Der ... mit jedem Pulsschlag
ten kann: Paare beobachten, wechselt das Geschlecht.«
wie sie zusammenkommen, ei- Man ahnt hier nur, wie
nander verfehlen, aneinander enorm der Strauß-Kosmos der
festgeklebt durchs Leben lei- Beziehungsreigen sich erwei-
den. Wie sie sich zurückseh- tern ließe, wenn er sich wenigs-
nen nach dem einen verpass- tens auf einige der neuen Iden-
ten Moment des Lebens. Nie- titätsmöglichkeiten einließe
mand kann das alles so gut in beim Beobachten und Schrei-
Mikroromanen, Aphorismen ben. Er könnte noch mal neu
und Kurzeinblicken beschrei- beginnen.
ben wie Strauß. Doch in Wahrheit nähert
Stilistisch und auch in der Botho Strauß sich einem
Beobachtungstechnik ist er da Ende. Blickt zurück. Und
nicht viel weiter gekommen hofft auf eine Zukunft der
als in seinem frühen Meister- Literatur: »Eines Tages näm-
werk »Paare Passanten«, das lich, wenn man der Infamien
1981 erschienen ist. Der kalte und brutalen Entblößungen
Blick des Beziehungsmechani- überdrüssig sein wird; wenn
kers hat sich nicht erwärmt in die alt-mächtige Liebe auf ein-
dem ganzen Leben, das dazwi- mal den Zauber eines unterge-
WOLFGANG STAHR / LAIF

schenliegt. Das ist eine gute gangenen Reichs besitzt, dann


Nachricht. »Meisterwerk« – soll man uns finden in einem
das Niveau muss man ja erst gut geschriebenen Buch, in
mal halten, viele Bücher, viele Lust umschlungen und in der
ergiebigsten Stellung: schwarz
Botho Strauß: »Zu oft umsonst gelä- auf weiß.« Volker Weidermann
chelt«. Hanser; 214 Seiten; 22 Euro. Autor Strauß: »Immer mit demselben Kopf voll Reue«

132
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control);
nähere Informationen finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller

Belletristik Sachbuch

1 (1) Sebastian Fitzek 1 (1) Jonathan Safran Foer


Das Geschenk Droemer; 22,99 Euro Wir sind das Klima!
Kiepenheuer & Witsch; 22 Euro
2 (3) Jussi Adler-Olsen
Opfer 2117 dtv; 24 Euro 2 (3) Edward Snowden
Permanent Record S. Fischer; 22 Euro
3 (2) Saša Stanišić
Herkunft Luchterhand; 22 Euro 3 (4) Bas Kast Der Ernährungskompass
C. Bertelsmann; 20 Euro
4 (6) Jojo Moyes Wie ein Leuchten
in tiefer Nacht Wunderlich; 24 Euro
4 (2) Marc Friedrich / Matthias Weik
Der größte Crash aller Zeiten
Eichborn; 20 Euro
5 (5) Ildikó von Kürthy
Es wird Zeit Wunderlich; 20 Euro
5 (5) Doris Dörrie Leben, schreiben,
atmen Diogenes; 18 Euro
6 (10) Delia Owens Der Gesang
der Flusskrebse Hanserblau; 22 Euro 6 (8) Stephen Hawking Kurze Antworten
7 (7) Eugen Ruge
auf große Fragen Klett-Cotta; 20 Euro
Das neue
8 (9)
Metropol
Cecelia Ahern
Rowohlt; 24 Euro 7 (7) Max Otte
Weltsystemcrash Finanzbuch; 24,99 Euro Kulturmagazin
Postscript. Was ich dir noch 8 (9) Peter Wohlleben
sagen möchte Fischer Krüger; 20 Euro Das geheime Band zwischen
Mensch und Natur Ludwig; 22 Euro
9 (4) Sabine Ebert Schwert und Krone. Themen im Dezember:
Herz aus Stein Knaur; 19,99 Euro
9 (6) Richard David Precht
Sei du selbst Goldmann; 24 Euro

10 (8) Maja Lunde 10 (10) Hans-Joachim Watzke / Michael Horeni Meisterin der Buchverfilmung:
Die Letzten ihrer Art btb; 22 Euro Echte Liebe C. Bertelsmann; 20 Euro
Nach »Der Junge muss an die
11 (12) Ursula Poznanski 11 (12) Thomas Pletzinger The Great
Erebos 2
frische Luft« bringt Caroline
Loewe; 19,95 Euro Nowitzki Kiepenheuer & Witsch; 26 Euro
Link jetzt »Als Hitler das rosa
12 (–) Matthias Brandt 12 (14) Harald Lesch
Blackbird Kiepenheuer & Witsch; 22 Euro Was hat das Universum mit mir Kaninchen stahl« ins Kino
zu tun? C. Bertelsmann; 18 Euro
13 (–) Derek Landy Skulduggery Pleasant –
Wahnsinn Loewe; 19,95 Euro 13 (15) Michelle Obama Historikerin mit Gespür
Becoming Goldmann; 26 Euro
für die große Erzählung:
14 (–) Christelle Dabos Die Spiegelreisende –
Das Gedächtnis von Babel Insel; 18 Euro 14 (13) Torsten Sträter Es ist nie zu spät, Jill Lepore hat eine
unpünktlich zu sein Ullstein; 16 Euro
mitreißende Geschichte
15 (15) Rebecca Gablé
15 (17) Carola Rackete Handeln statt hoffen der USA geschrieben
Teufelskrone Lübbe; 28 Euro
Droemer; 16 Euro

16 (13) Martin Suter Bekannt geworden ist sie als


Allmen und der Koi Diogenes; 22 Euro Kapitänin der »Sea-Watch 3«, Rapper ohne Eitelkeiten:
die Flüchtlinge aus dem
Mittelmeer fischte. Nun will Smudo von den
17 (16) Stephen King
sie das Klima retten. Fantastischen Vier beant-
Das Institut Heyne; 26 Euro

18 (20) John le Carré 16 (–) Michael Winterhoff Deutschland wortet – fast – alle Fragen
Federball Ullstein; 24 Euro verdummt Gütersloher Verlagshaus; 20 Euro

19 (17) Jo Nesbø Messer 17 (18) Thomas Gottschalk Romantikerin trotz Herzchen-


Herbstbunt Heyne; 20 Euro
allergie: Cecelia Ahern hat
Ullstein; 24 Euro
18 (11) Margot Käßmann Freundschaft, Millionen Bücher verkauft –
Der norwegische Krimiautor die uns im Leben trägt bene!; 18,99 Euro
hat erneut Erfolg mit seinem und ein Problem damit
Antihelden Harry Hole, einem 19 (–) Sascha Lobo Realitätsschock Bildnachweise: Kai Bublitz
von Alkohol und Sexaben-
Kiepenheuer & Witsch; 22 Euro
teuern gebeutelten Polizisten.
20 (–) Jürgen Habermas Auch eine Nächste Woche als
20 (–) Isabel Allende Geschichte der Philosophie
Dieser weite Weg Suhrkamp; 24 Euro Suhrkamp; 58 Euro Beilage im SPIEGEL
DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019 133
Kultur

Subversiver Maulwurf
Philosophie 2020 jährt sich der Geburtstag von Georg Wilhelm Friedrich Hegel zum 250. Mal.
Eine neue Biografie beschreibt den Denker als radikalen Demokraten und Kosmopoliten.

D
as war eine WG, die humanes, modernes Staats-
bis heute ihresglei- verständnis zum friedlichen
chen sucht: Hegel, Zusammenleben der Völker
Hölderlin und Schel- führen? In seiner Geschichts-
ling im Tübinger Stift, drei philosophie verband er den
große, immer noch leuchtende historischen Fortschritt mit der
Namen der Geistesgeschichte, Idee der Freiheit.
im Wintersemester 1790/91 Der Geburtstag des Tübin-
als Studenten in einem Schlaf- ger WG-Mitglieds Georg Wil-
saal vereint. Gemeinsam ver- helm Friedrich jährt sich im
tilgten die schwäbischen Jüng- August 2020 zum 250. Mal,
linge die billige Studentenkost, weshalb ihm das Literatur-
liefen durch »stinkende Gas- museum Marbach schon jetzt
sen«, saßen in »engen und eine Ausstellung mit dem pos-
dunklen Zimmern« und »nied- sierlichen Titel »Hegel und
rig drückenden Sälen«, so be- seine Freunde« widmet. Man
schrieb es der 20-jährige He- kann einen Kurzfilm von Ale-
gel, und exerzierten so gelang- xander Kluge betrachten, bei
weilt wie unterfordert die dem Hegel im schwäbischen
zeitgenössischen theologi- Idiom gesprochen wird, und
schen Wahnsysteme. Manches Zitate auf schön gestalteten
von dem Schwindel, der He- Karten einsammeln, eine um-
gel-Leser zuverlässig befällt, fassende Hegel-Betrachtung
ist sicher auf dieses schwäbi- ergibt sich allerdings nicht:
sche Institut der Scholastik zu- Den handschriftlichen Nach-
rückzuführen, das abstraktes lass des Philosophen betreut
Denken trainierte, Klarheit die Berliner Staatsbibliothek;
des Schreibens aber eher ver- das Hegel-Haus im Geburtsort
hinderte – einer Koranschule Stuttgart bereitet eine große
ähnlicher als einem heutigen Ausstellung erst für den Au-
DEAGOSTINI / GETTY IMAGES

Gymnasium. gust 2020 vor.


Doch wer bildungswillig Unter den Marbacher Ex-
und begabt, aber nicht von ponaten ist eine Seminar -
Adel oder finanziell bevorzugt arbeit über Hegel der Philo-
war, dem blieb in dieser Zeit sophin Judith Butler, 63, die
im Herzogtum Württemberg Ende der Siebzigerjahre den
eben nur die Ausbildung zum Hegel-Porträt von Jakob Schlesinger, 1831 deutschen Idealismus in Hei-
Pfarrer oder Lehrer. Der Schü- »Zeiten des Fürchtens und Hoffens« deggers Schriften studierte;
ler – für Mädchen war höhere inzwischen ist sie berühmt
Bildung ohnehin nicht vorge- für ihre radikalen Thesen zur
sehen – musste sich verpflichten, im Stu- werden können. Der Aufklärer und Welt- Gendertheorie. Die US-Amerikanerin
dium stets »untertänigst und gehorsam« bürger Immanuel Kant, 1804 gestorben, Butler hielt den Eröffnungsvortrag zur
zu sein, der Vater für die Laufbahn des ist der Spezialist für die ersten und letzten Ausstellung auf Deutsch und reklamierte
Sohnes seinen Besitz dem Herzog schrift- Fragen der menschlichen Erkenntnis: Was Hegel als einen Philosophen der Ver -
lich verpfänden. Wer sich mehr Freiheiten kann ich wissen, was soll ich tun, was ständigung: Das Bewusstsein werde
nahm als ein gelegentliches Besäufnis in darf ich hoffen, was ist der Mensch? Hegel, bei ihm erstmals als etwas Zwischen-
einer muffigen Kneipe, wer eigenes Den- sein Bruder in Geltung und Nachruhm, menschliches gedacht. Wer den anderen
ken oder gar Widerspruch riskierte, der dachte mit derselben energischen Liebe zerstöre, der zerstöre damit »letztlich
konnte des Stiftes verwiesen oder auch für das Grundsätzliche über eine moderne auch sich selbst«.
eingekerkert werden. politische Verfassung nach. Wie lassen Auch die Welt der Dinge um uns he-
Aus diesem Milieu der erbarmungswür- sich persönliche Freiheit und die Gesetze rum, die Umwelt wie die Natur, sei für
digen Enge, der Einschüchterung und Ab- des Staates sinnvoll vereinbaren, welche Hegel nicht »das andere«, sondern eben
richtung zum höheren Unsinn entstammt, Geltung haben die Subsysteme der Mo- auch »die Bedingung unserer Existenz«,
unwahrscheinlicherweise, der deutsche derne – Sittlichkeit und individuelle Ent- die es zu hüten und zu bewahren gelte.
Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel, faltung, Wirtschaft und Wohlfahrt, Freiheit Und schließlich sei das Gegenteil von Ab-
ohne den Staat, Bürgertum, Recht und der Presse wie der Kunst und die Würde hängigkeit – wie Hegel es in seinem legen-
Geschichte seither nicht mehr gedacht der Institutionen? Und wie könnte ein dären Herr-Knecht-Kapitel in der »Phä-

134 DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019


nomenologie des Geistes« analysiert – Der Hegel-Forscher Klaus Vieweg, 66, Berliner Gesellschaft eine geduckte, tief
eben nicht die Unabhängigkeit des Ein- Professor für Philosophie in Jena, plädiert entzweite. Frühere Weggefährten oder
zelnen, sondern eine Art »nachhaltige allerdings schon gegen die Frage selbst. Gesprächspartner Hegels wie der Roman-
Sittlichkeit« der Vielen. Es darf, so But- Als Quintessenz seiner gerade erschiene- tiker Achim von Arnim, der Staatsrechtler
lers linkshegelianische Pointe, nicht den nen umfangreichen Biografie postuliert Friedrich Carl von Savigny oder der Reli-
Individuen überlassen bleiben, wie sie er, »dass es keinen reaktionären Hegel gionsphilosoph Friedrich Schleiermacher
Knechtschaft oder Freiheit gestalten: gibt«**. Seine Indiziensuche in Hegels bezogen nationalistische, judenfeindliche
Der Mensch brauche neben einer leben- Leben wie in dessen Werk lässt tatsächlich Positionen; die Atmosphäre war von
digen Gesellschaft auch einen funktionie- nur einen Schluss zu: Den antidespoti- Zensur und Intrige vergiftet. Preußens Re-
renden Staat, der Gewaltfreiheit garan- schen, grunddemokratischen und emanzi- formen, energisch unter Wilhelm von
tiere und für das Gemeinwohl Verantwor- patorischen Impulsen seiner Jugend ist der Humboldt und Karl August von Harden-
tung übernehme. Philosoph immer treu geblieben. berg als Revolution von oben begonnen,
Am Ende der Marbacher Ausstellung Wer Vieweg in seinem Haus in einer blieben auf halbem Wege stecken, auch
kann das Publikum mit entsprechend be- stillen Gartenvorstadt trifft, besucht eine das Verfassungsversprechen von König
schrifteten Kugeln (unter anderem »Ab- Gelehrtenidylle, wie sie seinem Helden nur Friedrich Wilhelm III., inzwischen bereits
solutes«, »Wahres«, »Selbstbewusstsein«) einige Jahre vergönnt war, als Professor in fast ein Jahrzehnt alt, war Makulatur ge-
an einem grün bespannten Tisch Ideen- worden. »Ich bin gleich 50 Jahre alt«, klagt
billard spielen; eine Angst lindernde Hegel 1819, »habe 30 davon in diesen ewig
Maßnahme für verzweifelte Leser. Hegels Im Gefängnis sprach er unruhevollen Zeiten des Fürchtens und
labyrinthische Satzgefüge und seine Meis- mit den Studenten Hoffens zugebracht und hoffte, daß sei ein-
terschaft in der windungsreichen Refle- mal mit dem Fürchten und Hoffen aus.
xion erfordern höchste Aufmerksamkeit Latein, damit die Wachen Nun muß ich sehen, daß es immer fort-
und demütige Geduld, sie sind das eine es nicht verstanden. währt, ja, meint man in trüben Stunden,
Erbteil seiner pietistischen Erziehung im immer ärger wird.«
Stift. Das andere ist sein erfahrungsgesät- Die sogenannte Demagogenverfolgung
tigter Widerwillen gegen religiösen Funda- Heidelberg ab 1816 und dann noch einmal traf Georg Büchner und Karl Marx, Au-
mentalismus jeder Art und gegen politische kurz als Nachfolger Fichtes auf den Lehr- gust Heinrich Hoffmann von Fallersleben
Despotie. Die Französische Revolution, stuhl für Philosophie in Berlin: gänzlich und wie E. T. A. Hoffmann. Aber auch Studen-
geografisch nah, aber politisch sternen- unbedroht in bürgerlicher Lebensordnung ten Hegels wie Gustav Asverus und Julius
weit entfernt, entflammte die Studenten, dem Gegenstand des Denkens hingegeben. Niethammer standen unter Hochverrats-
die einen politischen Debattierklub grün- Denn die Berufung des Familienvaters verdacht. Hegel setzte sich diplomatisch
deten, heimlich französische Zeitungen Hegel nach Berlin erfolgte 1818, nur etwa wie praktisch für die Bedrohten ein; im
lasen und der Legende nach auf einer Wie- ein Jahr vor den Karlsbader Beschlüssen, Falle von Asverus führte er einen Prozess,
se nahe Tübingen einen »Freiheitsbaum« mit denen das republikanische Erbteil der sieben Jahre dauern sollte und erfolg-
errichteten. Napoleons und die Ideen der Aufklärung in reich mit dessen Begnadigung endete. Mit
Die »unglücklichsten Länder«, das war Österreich und den anderen Staaten im dem ebenfalls angeklagten Studenten Karl
bereits dem Studenten Hegel klar, sind Deutschen Bund getilgt werden sollten. Ulrich, genannt Ulrico furioso, stand er
jene, wo »die geistlichen Herren regieren«. Der restaurative Rollback unter der Füh- über Jahre in Korrespondenz – wobei die
Doch auch da, wo nicht der Gottesstaat rung des Fürsten Metternich machte aus beiden die Briefe »nach aufmerksamem
wütet, kann Widerstand zur Pflicht wer- einer aufbruchsbereiten, debattierfreudigen Durchlesen wie gewohnt zerreißen«. Bei
den: wenn nämlich die Armut der Vielen seinen Besuchen im Gefängnis sprach er
krass, der Reichtum der Wenigen obszön mit den Studenten Lateinisch, damit die
geworden ist. Den Pöbel machte der Bür- Wachen sie nicht verstehen konnten.
ger des wirtschaftlich rückständigen Preu- Hegel scheute also weder den offenen
ßen sowohl unten wie oben aus. »Bei de- juristischen Kampf noch das private Risiko;
nen, die nichts mehr zu verlieren haben«, als Bürger war er solidarisch mit den Ge-
schrieb er an die Adresse seines Staates, fährdeten und verlässlich auf der Seite des
gut 30 Jahre später, »tritt die ›Empörung‹ Widerstands gegen die Repression.
an die Stelle des Rechtsgehorsams – und Der Vorwurf gegen den »Staatsphiloso-
bei denen, die sich alles kaufen können, phen« verdankt sich vor allem seinem letz-
die Arroganz.« ten Werk, das unter dem Doppeltitel
Anders als Kant, dessen Lebenswerk »Grundlinien der Philosophie des Rechts«
ganz ohne Ambivalenzen genutzt und ge- und »Naturrecht und Staatswissenschaft im
feiert wird, gehört Hegel bis heute zu den Grundrisse« 1820 erschien. Zwar ist nicht
Philosophen, die Verehrung wie Misstrau- umstritten, dass die heutigen Demokratien
en auf sich ziehen. Die Frage, ob Hegel dieser Theorie Wesentliches verdanken.
selbst ein Rechtshegelianer war, also ein Das Eigentumsrecht, die bürgerliche Sphäre
angepasster, staatsfrommer Gesundbeter als Vermittlung zwischen dem Einzelnen
des preußischen Obrigkeitsstaates, oder und dem Staat, die Verpflichtung des Staa-
MARY EVANS / INTERFOTO

eben Linkshegelianer, progressiver Denker tes zum Gemeinwohl, ja sogar die Scho-
und eine Art Sozialdemokrat avant la nung der natürlichen Ressourcen für die Zu-
lettre, wird im Geburtstagsjahr wieder kunft – all dies wird von ihm zusammenge-
Thema sein. dacht als ein humanes Zusammenspiel.
Auch als Verteidiger der universellen
* In Jena 1806; Illustration in »Harper’s Magazine«,
1895.
Menschenrechte argumentierte er eindeu-
** Klaus Vieweg: »Hegel. Der Philosoph der Freiheit«. Denker Hegel (r.) trifft Kaiser Napoleon* tig: »Der Mensch gilt so, weil er Mensch
C. H. Beck; 824 Seiten; 34 Euro. »Was vernünftig ist, ist wirklich« ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant,

135
Kultur
Programm
Deutscher, Italiener ist.« Allerdings steht
in der Vorrede zur Rechtsphilosophie, die
Hegel kurz vor Drucklegung noch einmal
überarbeitete, eben auch der Satz, der sei-
nem Nachruhm zum Verhängnis werden
sollte: »Was vernünftig ist, das ist wirklich;
und was wirklich ist, das ist vernünftig.«
Eine aufrichtige Huldigung des preußi-
schen Staates oder immerhin eine servile
Geste in Richtung der Gesinnungspolizei?
Bis heute wird diese Formel von Hegel-Geg-
nern als eine von beiden Varianten gelesen.
Auch Hegels Bewunderer Heinrich Heine
hat bei der ersten Lektüre gestutzt. »Als
ich einst unmutig war über das Wort: ›Alles,
was ist, ist vernünftig‹, lächelte er sonderbar

SPIEGEL TV
und bemerkte: ›Es könnte auch heißen:
›Alles, was vernünftig ist, muß sein‹.«
Inhaftierter IS-Kämpfer Die Alltagssprache, so erläuterte Hegel
nicht nur Heine im Zwiegespräch, sondern
auch seinem Berliner Publikum – in dem
SPIEGEL TV hungstrainer, die ihnen beim Date neben den Studenten auch etliche Bil-
MONTAG, 25. 11., 23.25 – 24.00 UHR, RTL Verhaltenstipps via Ohrhörer zuflüs- dungsbürger saßen –, verwende irrefüh-
tern. Daneben gibt es eine nationale renderweise für jede »noch so verkümmer-
Videobotschaft eines Keuschheitsbewegung, aber auch te und vergängliche Existenz« die Bezeich-
IS-Kämpfers in kurdischer Freunde der Polygamie verzeichnen nung Wirklichkeit. In seiner »Wissenschaft
Gefangenschaft regen Zulauf – ein Film über das der Logik« aber habe er ja bereits klarge-
Die Doku zeigt, wie eine Berliner bewegte Liebesleben im Land der macht, dass sein Begriff der Wirklichkeit
Familie erfährt, dass ihr Sohn unbegrenzten Möglichkeiten. gewissermaßen höherer Ordnung sei und
noch lebt und warum er weiterhin von all »dem Zufälligen, was doch auch
an den Dschihad glaubt. Existenz hat«, klar zu unterscheiden:
»Was wirklich ist, ist vernünftig. Aber nicht
SPIEGEL GESCHICHTE alles ist wirklich, was existiert.« Das Wirk-
Schimmelbefall an den MITTWOCH, 27. 11., 21.55 – 23.25 UHR, SKY liche ist, mit anderen Worten, ein Ideal.
Wänden, Ungeziefer Der politische Prozess sollte es umsetzen.
in den Betten und seit I Am Paul Walker Eigentlich ist diese viewegsche Lesart
Wochen kein Strom Der Actionstar der »The Fast and schon fast ein halbes Jahrhundert in der
Der Zuschauer sieht, wie eine nord- the Furious«-Filme verunglückte bei Welt. Im SPIEGEL stellte der Hegel-For-
deutsche Immobilienfirma bundes- einem Autounfall am 30. November scher Karl-Heinz Ilting bereits 1973 die
weit ihre Mieter behandelt und wie 2013 in Los Angeles. Paul Walker These auf, Hegels gedruckte Vorrede sei
die Betroffenen damit umgehen. wurde 40 Jahre alt. Er hinterließ nicht ein Tarnmanuskript für die Zensur gewe-
sen. Und tatsächlich erstellte Hegel diese
Fassung erst nach der Anzeige eines staats-
treuen Journalisten bei der preußischen Re-
SPIEGEL TV WISSEN gierung. In der italienischen Forschung gilt
MONTAG, 25. 11., 21.05 – 22.05 UHR, SKY der Philosoph seither als »Maulwurf«, der
und bei allen führenden Kabelnetzbetreibern subversiv gearbeitet habe; die kritische
Ausgabe der Berliner Vorlesungen belegt
Sex und Liebe in Amerika diese Auffassung.
VINCE KRAUSE

Um den passenden Lebenspartner Vermutlich ist es kein Zufall, dass aus-


zu finden, treffen sich Singles in den gerechnet Vieweg in seiner Biografie noch
USA auf Veranstaltungen zur spiri- einmal gründliche Nachweise liefert, wie
tuellen Partnersuche oder leisten Walker in Puerto Rico 2010 Hegel, um mit Bertolt Brecht zu sprechen,
sich immer öfter kostspielige Bezie- die Wahrheit mit List verbreitete: Der in
nur eine kleine Tochter und seine Thüringen geborene Philosophiehistoriker,
Filmfamilie um Vin Diesel und ausgebildet und tätig in der DDR, ist bio-
Dwayne Johnson, sondern auch grafisch trainiert im Entziffern doppelter
Millionen Fans. Die Dokumentation Botschaften. Seine Biografie setzt wohl
begleitet die Karriere des Ausnahme- den Schlusspunkt unter eine Debatte, die
talents aus Südkalifornien. Freunde sich längst erledigt haben sollte. So wäre
und Familie zeigen bisher unver- der Weg frei für ein Hegel-Jahr, das den
öffentlichte Videoaufnahmen und radikalen Demokraten und Kosmopoliten
JAVA FILM

Fotos des jungen Schauspielers – feiert. Es wäre an der Zeit; das Gedränge
und erzählen von seiner Leidenschaft in diesen Rängen ist in der deutschen Phi-
Singles bei spiritueller Veranstaltung fürs Surfen und für Autorennen. losophiegeschichte ja nicht allzu groß.
Elke Schmitter

136 DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019


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Kultur

Pullman arbeitete vor seiner Schriftstellerkarriere als

Kreatives Dozent in Oxford, also dort, wo auch »Herr der Ringe« oder
einige der »Narnia«-Bücher entstanden, sein aufklärerischer
Ansatz unterscheidet sich aber eklatant von den Fantasyklas-

Wiederkäuen sikern. Er habe nichts gegen Religion, sagte Pullman in einem


SPIEGEL-Interview. Doch »immer wenn in Gottes Namen
Politik gemacht wird, geht das schief: Wenn Kirchen Armeen
aussenden und den Gläubigen exakte Vorschriften für ihr
Serienkritik Die Fantasyromane des britischen Leben diktieren, ist das falsch«.
Autors Philip Pullman sind ein Welt- 2007 gab es schon einmal eine Verfilmung des ersten Ban-
erfolg – BBC und HBO haben sie nun verfilmt. des. Doch »Der goldene Kompass« floppte, obwohl Nicole
Kidman und Daniel Craig in Hauptrollen zu sehen sind: Zu
Start: 25. November auf Sky viel Plot wurde in zu wenig Zeit gepresst. Jetzt gibt es einen
neuen Versuch, den Stoff aus dem Underdogstatus zu befreien.

K ann ein Roman ein ewiger Geheimtipp und ein globaler


Bestseller zugleich sein? Vor fast 25 Jahren veröffent-
lichte der britische Schriftsteller Philip Pullman den
ersten Band seiner Trilogie »His Dark Materials« um Lyra,
Die Co-Produktion des amerikanischen Pay-TV-Senders HBO
und der BBC nimmt sich dafür zunächst acht Folgen Zeit, und
die Dreharbeiten für die zweite Staffel laufen bereits.
Tatsächlich entfaltet sich die Geschichte mit mehr Muße
ein Mädchen, das in einer Fantasyvariante von Oxford als im Film. Das Selbstbewusstsein der Heldin Lyra, ver-
aufwächst; die Stadt ist vage an das ausgehende 19. Jahrhun- körpert von der britischspanischen Schauspielerin Dafne
dert angelehnt. Als Lyras bester Freund von Schergen des Keen, wird wirklich herausgearbeitet und nicht nur hin-
geworfen. Ruth Wilson spielt ihre
Mutter und Gegenspielerin. Auch
ästhetisch macht »His Dark Mate-
rials« viel her: Lyra reist im Laufe
der Folgen in andere Welten –
auch in unser reales Heute,
Smartphones und rote Doppel-
deckerbusse inklusive.
Misst man die Serie jedoch als
eigenständiges Werk, erschöpft sie
sich in der Verwaltung eines krea-
tiven Erbes. Drehbuchautor Jack
Thorne hatte im Vorhinein ange-
kündigt, er wolle möglichst nah an
den Romanen bleiben, das rächt
sich jetzt. Nur an wenigen Stellen
haben die Macher das Vorbild zag-
haft umgestaltet, etwa einen zeit-
SKY ATLANTIC

gemäßen Widerspruch herausge-


kehrt: Zu Lyras Verbündeten zäh-
len die Gypter, ein Volk, das in
Darstellerin Wilson in »His Dark Materials«: »Harry Potter« vergleichbar Clans organisiert auf Hausbooten
lebt. »Manche sehen uns als Außen-
seiter«, sagt einer – und das war’s
Staates entführt wird, macht sie sich auf die Suche und be- erst mal. So wichtig, dass er wirklich erzählt statt nur benannt
gehrt so, zunächst ahnungslos, gegen ein autoritäres Macht- würde, wird der Minderheitenkonflikt dann doch nicht ge-
system auf, das Politik und Kirche errichtet haben. Bald stellt nommen.
sich heraus, dass sie auserwählt wurde, eine größere Aufgabe Auch Pullmans großartiger Dæmonen-Einfall – was macht
zu bewältigen. es mit einer Gesellschaft, wenn die eigene Seele permanent
Pullmans Universum lässt sich mit dem der »Harry Pot- für die anderen sichtbar ist? – hätte sich viel tiefer erzählen
ter«-Bücher vergleichen. Seine Figuren sind keine Stereo- lassen. In der Serie werden die Tiere auf eine sehr eindeutige
typen, seine Geschichten voll großer Ideen. So begleiten in Signalwirkung reduziert: Bei Spionen lugt eine Schlange aus
Lyras Welt zum Beispiel sogenannte Dæmonen die Men- dem Kragen, Abenteurer hingegen werden von einer elegan-
schen, sprechende Tiere, die die Seele des Einzelnen verkör- ten Schneeleopardin begleitet.
pern – manch einer ist Löwe, manch anderer ein Käfer. Und »Du folgst den Regeln nicht«, sagt Lyras Dæmon in der
ja, auch Hexen tauchen auf. ersten Folge zu ihr. Sie antwortet: »Das bedeutet nicht, dass
Aber obwohl die Trilogie mittlerweile eine Millionenauflage ich sie nicht kenne.« Vielleicht hätte der Produktion ein ähn-
erreicht hat, ist sie meist nicht die erste Wahl, sondern eher liches Selbstbewusstsein gutgetan. So aber reiht sich die Serie
das Geschenk für leseverrückte Jugendliche, auf das man nicht ziemlich nahtlos in das kreative Wiederkäuen ein, das derzeit
selbst kommt, sondern das die Buchhändlerin empfiehlt. Viel- viele Studios betreiben: Disney produziert ein Trickfilmklas-
leicht liegt das daran, dass der Grundkonflikt der Bücher so siker-Remake nach dem anderen, Amazon arbeitet an einer
erwachsen daherkommt. Im Kern beschreibt Pullman den Serienadaption von »Herr der Ringe« – und HBO und BBC
Kampf zwischen einem humanistischen Menschenbild – ver- liefern mit »His Dark Materials« die Bilder nach, die sich
körpert von Lyra – und einem Glaubensstaat, der seine Macht Fans der Romane schon vorgestellt hatten.
auf Tabus und Verbote stützt. Konservative katholische Ver- Nichts falsch gemacht. Es ist schade, dass dies das größte
bände warnen deshalb immer wieder vor den Büchern. Kompliment ist, das sich der Serie machen lässt. Eva Thöne

138 DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019


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140 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Nachrufe
Terry O’Neill, 81 seine Verdienste um die
Er hatte sie alle: Audrey Fotografie einen königlichen
Hepburn, Catherine De- Orden verliehen. Diese
neuve, Claudia Cardinale. Auszeichnung ȟbertrifft
Aber auch Sean Connery, alles, was mir je widerfah-
Clint Eastwood, John Tra- ren ist im Leben«, sagte
volta – es wäre vielleicht er dazu. Terry O’Neill starb
einfacher, die Stars aufzu- am 16. November in Lon-
zählen, die der britische don an Krebs. KS
Fotograf Terry O’Neill nicht
vor seine Kamera bekam. Walter Freiwald, 65
Der Chronist der Swinging Am Anfang war seine Stim-
Sixties hat Fotografie- me. In der RTL-Show »Der
geschichte geschrieben, sei- Preis ist heiß« pries Walter
ne Werke hängen in zahl- Freiwald aus dem Off die zu
reichen Museen und sind taxierenden Waren an, fröh-
begehrte Sammlerstücke. lich überdreht, von 1989 an
Nachdem O’Neill von der acht Jahre lang. Der gelern-
te Kaufmann hatte in der
Promotionabteilung der
Plattenfirma EMI Electrola

PETER RIGAUD / LAIF


gearbeitet. Von dort wech-
selte er als Musikredakteur
zu Radio Luxemburg, wo
Programmchef Frank Elst-

TERRY O'NEILL / GETTY IMAGES


ner ihn bald auch als Mode-
Gustav Peichl, 91 rator einsetzte. Danach war
Sein Witz trug ihn durchs Leben. Als Wien noch besetzt Walter Freiwald für ein
war, in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, studierte halbes Dutzend weitere
Gustav Peichl Architektur beim berühmten Clemens Radiosender im Einsatz, im
Holzmeister an der noch berühmteren Akademie der bil- Laufe seines Berufslebens
denden Künste. Sein Studium habe er damals mit Kari- auch für ähnlich viele Tele-
katuren finanziert, sagte er dem SPIEGEL einmal: »Lange shopping-Sender. Freiwald
Amerikaner mit langen Nasen, die ich den Russen verkauft Schule abgegangen war, ließ kaum eine Station aus,
habe, und dicke Russen mit vielen Orden, die die Ame- schwebte ihm eine Karriere die das deutsche Privatfern-
rikaner bezahlten. So waren alle glücklich, und mir ist es als Jazzschlagzeuger vor, sehen zu bieten hat. Er
rasch ganz gut gegangen.« Schon mit 27 Jahren machte doch er bekam erst einmal wurde zweimal Erster beim
er sich als Architekt selbstständig, baute mangels Aufträ- einen Job am Flughafen »Perfekten Promi-Dinner«
gen aber zunächst ein Wohnhaus für sich selbst auf ein Heathrow. Dort gelang ihm und Sechster im Dschungel-
schmales Grundstück mit scharfen Bauvorschriften. »Das ein Schnappschuss vom camp, für die RTL-Show
war ein großes Glück, weil ich mir sonst wahrscheinlich damaligen Innenminister, »Schau mir in die Augen –
eine fürchterliche Villa hingesetzt hätte, wie es Architekten der auf einer Bank schlief. Promis unter Hypnose« ließ
immer machen.« So aber sei sein kleines, bescheidenes Mit diesem Bild begann er sich in Trance versetzen.
Haus im 19. Wiener Bezirk zum Klassiker geworden. Ande- O’Neills Karriere als Foto- Eine politische Karriere
re Wohnhäuser hat er nur wenige gebaut, Planungen für graf. Aufnahmen von den blieb ihm versagt: Sein
Freunde übernahm er grundsätzlich nicht: Zu groß sei sei- Beatles, von Winston Chur- Antrag, für die SPD für das
ne Angst gewesen, in Streit zu geraten, weil er »so eigen- chill, Frank Sinatra, Mu- Amt des Bundespräsiden-
artig und stur unterwegs« sein konnte. Peichls Durchbruch hammad Ali folgten – sein ten zu kandidieren, wurde
waren die sechs Landesstudios des Rundfunksenders Portfolio liest sich wie ein von der Partei zweimal
ORF, die er 1969 entwarf. Zu seinen wichtigen Bauten zäh- Verzeichnis berühmter Per- abgelehnt. Walter Freiwald
len die Bundeskunsthalle in Bonn, der Anbau des Städel- sönlichkeiten aus fast sechs starb am 16. November an
Museums in Frankfurt am Main, das Probengebäude der Jahrzehnten. 1977 entstand Krebs. AKÜ
Münchner Kammerspiele, die Betriebskindertagesstätte eines seiner bekanntesten
des Deutschen Bundestags in Berlin und das Karikatur- Bilder: Faye Dunaway am
museum in Krems. Dort hängen manche der mehr als Pool sitzend, sehr erschöpft
12 000 Karikaturen, die er neben seinem Hauptberuf als und sehr schön, am Abend
Architekt unter dem Pseudonym Ironimus zeichnete, vor zuvor hatte sie einen Oscar
allem für »Die Presse« und die »Süddeutsche Zeitung«. verliehen bekommen. Sie
Sein Lieblingsopfer war Österreichs Kanzler Bruno Kreis- wurde später seine Ehefrau.
ky. Gern zeichnete er auch Helmut Kohl, »der einen Die Queen ließ sich sogar
Narren gefressen hatte an mir und meinen Karikaturen«. zweimal von ihm ablichten;
Berühmt sei er für seine Zeichnungen nicht, urteilte er – mit einem Witz vom Pferde-
sondern berüchtigt. Die Karikatur sei das Ventil, das rennplatz habe er sie beim
IMAGO IMAGES

ihm den Psychiater ersetze, sagte er einmal. Gustav Peichl zweiten Shooting 1992 zum
starb am 17. November in seinem Haus in der Wiener Lachen gebracht, erzählte
Himmelstraße. TOB er. Dieses Jahr bekam er für

DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019 141


Personalien

Secondhand-
Liebe
G Die amerikanische Popmusikerin Billie
Eilish, 17, ist für ihre Fans zur Stilikone
geworden. Sie trägt weite Baggy-Hosen und
Shirts mit Luxuslabel- oder Cartoonfigur-
Aufdruck in schrillen Farben. Ihr Haar-
ansatz leuchtet mal grellgrün, passend zu
den Klamotten aus ihrer eigenen Linie, die
seit dieser Woche auch neongrüne Hoodies
für Kinder beinhaltet. Aber Eilishs Fans
wollen nicht nur ihren Stil nachahmen, son-
dern ihn auch mitbestimmen. Regelmäßig
wird sie bei Fantreffen beschenkt. Vergange-
nes Frühjahr bekam die »Bad Guy«-Sänge-
rin eine Windjacke in leuchtendem Lila,
Pink und Grün, dazu die Botschaft: »Stay
warm, Billie!« Doch statt in ihrem Kleider-
schrank landete die Jacke in einem Second-
handshop in Los Angeles. Samt Zettel. Dort
wurde sie nun zufällig gefunden. Manche
Fans sind bestürzt, dass Eilish nicht mal die
nett gemeinte Nachricht behalten hat.
Aber der Schenker nimmt es ihr nicht übel,
sondern verteidigt Eilish auf Instagram.
Man solle sich mal vorstellen, wie riesig ihr

PHOTOSHOT / PICTURE ALLIANCE / DPA


Schrank sein müsste, wenn sie alle Geschen-
ke von ihren Fans aufheben würde, schreibt
er dort, und dass er sie immer noch liebe.
Das muss für Eilish tröstlich sein, denn ihr
neuer Song »Everything I Wanted« ist von
einem Albtraum inspiriert, in dem die
Sängerin Selbstmord begeht und niemand
sich darum kümmert. RED

Unerträglich großes Kino. Das haben auch


die beiden Autoren Tom
eigentlich als eine Art Be-
werbung für zukünftige
talentiert Gormican und Kevin Etten Arbeiten gedacht, nicht als
JANE RUSSEL / ZUMA PRESS / IMAGO IMAGES

erkannt und ein Drehbuch ernsthaftes Angebot zur


G Vier Ehen, ein Oscar, mit dem Titel »The Un- Umsetzung. Doch mehrere
schwindelerregend hohe bearable Weight of Massive Studios zeigten Interesse,
Gagen, wilde Partys, exzessi- Talent« geschrieben. »Die eine Verfilmung wird immer
ves Arbeitsethos, immense unerträgliche Bürde eines wahrscheinlicher. Vor allem,
Steuerschulden, Karriere- gewaltigen Talents« erzählt seit der Hauptdarsteller
knick – das Leben des Holly- eine frei erfundene, völlig irre gefunden scheint: Wenn alles
woodstars, Exzentrikers, Geschichte mit dem Holly- gut geht, könnte Nicolas
Elvis-Fans Nicolas Cage, 54, woodstar Nicolas Cage im Cage bald sein Comeback als
bietet ohne Zweifel Stoff für Mittelpunkt. Das Buch war Nicolas Cage feiern. KS

142 DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019


tour ist in diesem Jahr eine
Nationalheldin von neun Auserwählten,
G Die in Großbritannien deren Bild in die Sammlung
geborene Modejournalistin aufgenommen wird, darun-
Anna Wintour, 70, besitzt ter auch die Band Earth
auch einen US-amerikani- Wind & Fire. Bei einer Gala
schen Pass – vergangenen mit mehr als 700 Gästen zur
Sonntag erhielt sie zusätzlich Feier der Geehrten wurden
eine Art Ritterschlag zur über zwei Millionen Dollar

MARTIN JEHNICHEN / DER SPIEGEL


All-American-Bürgerin: Ein für das Museum gesammelt.
Porträt Wintours wird ab Das Bild Wintours hat die
sofort in der National Por- Fotografin Annie Leibovitz,
trait Gallery hängen. Win- 70, im Jahr 2015 bei der ein-
flussreichen Publizistin
daheim geschossen;
sie wollte eine weiche-
re Seite der als knall-
hart geltenden Der Augenzeuge
»Vogue«-Chefin zei-
gen. Kein ganz leichtes
Unterfangen: »Stellen
Sie sich vor, Sie erklä-
»Mein Zuhause«
ren Anna Wintour, Vor anderthalb Monaten tötete ein Attentäter einen
PAUL MORIGI / AP

was sie anziehen soll«, Gast in einem Imbiss in Halle, jetzt ist der »Kiez-
scherzte Leibovitz Döner« wieder geöffnet. Der Eigentümer Izzet Cagac,
gegenüber dem »Holly-
41, hat ihn den beiden Mitarbeitern geschenkt, die
wood Reporter«. KS
den Angriff überlebten.

G »Am Tag des Attentats war ich in Istanbul. Zuerst rief


der Bibel sind die Fische im mich ein Stammgast an, dann meine Freundin. Was sie
Jesus im Kittel Eisblock tiefgefroren. An erzählten, hielt ich für einen schlechten Witz. Aber nach und
G Der nordkoreanische Dik- Kims Seite stehen Militärs, nach verstand ich: Ein Attentäter hatte versucht, in die
tator Kim Jong Un, inzwi- die demütig auf das Urteil Synagoge einzudringen, und tötete anschließend eine Passan-
schen wohl 36, weiß um die des lieben Führers zu warten tin und dann einen Gast in meinem Laden.
Macht der Bilder. Er zeigt scheinen. Was soll damit Seitdem habe ich viel erlebt. Ich habe mit der Bundesfami-
sich gern mit Menschen, die geschehen? Kann man die lienministerin gesprochen, dem Bundespräsidenten, selbst
von seiner Nähe überwältigt essen? Und, wenn ja, wie mit US-Außenminister Mike Pompeo. Vor ein paar Tagen
in Tränen ausbrechen, oder kommt man da ran? Ganz sagte der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, Max Privo-
allein, fröhlich lachend zum sicher weiß der wohlgenähr- rozki, er wisse nicht, ob er noch in Deutschland leben könne.
Beispiel beim Treckerfahren. te Spross der Kim-Dynastie Für mich ist das nicht so. Ich war sieben Jahre alt, als ich von
Einmal wird die unendliche eine Lösung, schließlich trägt Iğdır im Osten der Türkei mit meiner Familie nach Berlin
Verehrung für seine Person er einen weißen Kittel. Pro- kam. Deutschland ist mein Zuhause, ich habe mich hier
ausgedrückt, das andere Mal paganda des teuflischen Wes- immer sicher gefühlt. 1999 übernahm meine Familie den ers-
die atemberaubende Mo- tens hingegen unkt schon ten Dönerladen in Halle. Heute habe ich mehrere Kioske
dernität des Vaterlands. Das wieder von einer drohenden und Imbisse in der Stadt. Früher gab es hier kaum Menschen
neueste offizielle Bild aus Hungersnot. Unicef geht wie uns, also Migranten. Mich hat das nicht weiter beschäf-
dem abgeschotteten Land davon aus, dass bereits tigt, ich habe viel gearbeitet und hatte weniger Kontakt zu
zeigt Kim beim Besuch einer 30 000 Kinder vom Tod anderen. Heute ist das anders, auch durch die vielen Stamm-
Fischverarbeitungsfabrik: bedroht sind. Gerade hat Kim kunden. Deutscher, Ostdeutscher, Türke, Kurde – bin ich
Ernst inspiziert er die Ware. Hilfslieferungen aus Süd- wohl alles, aber mir ist das egal. Erfahrung mit Rassismus
Doch anders als bei Jesus in korea abgelehnt. KS habe ich nie so richtig gemacht.
Nach dem Attentat schrieben Leute in den sozialen Netz-
werken, ich hätte Geld vom Staat bekommen. Tatsächlich
hat Ministerpräsident Reiner Haseloff mir angeboten, sich
um eine Entschädigung zu kümmern. Ich habe das aber abge-
lehnt. Als die Tat passierte, standen meine Mitarbeiter Ismet
und Rifat Tekin im Laden. Die beiden Brüder sind für mich
wie Familie. Den älteren kenne ich vom ersten Tag an, als er
vor 14 Jahren nach Deutschland kam. Was hätte ich gemacht,
wenn sie getötet worden wären? Was hätte ich ihren Kindern
gesagt? Die beiden sind meine treuesten Mitarbeiter. Ich
KCNA VIA KNS / AFP

würde es nicht mehr aushalten, davon zu profitieren, dass sie


für mich weiter in diesem Laden stehen. Deshalb habe
ich ihnen das Geschäft geschenkt. Sie haben das verdient.«
Aufgezeichnet von Timo Lehmann

143
»Für Lügner, Manipulierer und Angstmacher sind Whistleblower
die größten Feinde – und das ist auch gut so.«
Gernot Hilge, Münster (Nordrhein-Westfalen)

Den Verrat liebe ich da – und stehen nicht wie die Üblichen Lesen Sie bitte »Permanent Record« von
auf der Titelseite für Macht und Geld. Sie Edward Snowden. Eine der Hauptbot-
Nr. 47/2019 Im Dienst der Wahrheit –
setzten alles daran, die bittere Realität zu schaften, wenn nicht die Hauptbotschaft
Von Watergate bis Trump: Macht und
Tragik der Whistleblower propagieren, egal welche Konsequenzen des Buches lautet doch: Was die chinesi-
es für sie hat. Endlich werden sie so auf sche Regierung ganz offen mit ihren Bür-
Im Zeitalter wieder zunehmend autoritä- dem weltweit vertriebenen SPIEGEL-Titel gern macht (die Totalüberwachung des
rer Staatsdoktrin sind Whistleblower un- dafür geehrt! Netzes), macht die NSA heimlich mit der
verzichtbare Akteure der Kontrolle und Manfred Rühmer, Frankenwald (Bayern) ganzen Welt. Und Huawei? Vor dem Hin-
Aufklärung. In Zukunft wird es wichtig, tergrund von Snowdens Buch ist das Pro-
wenn nötig diesen mutigen Menschen blem Huawei und 5G nur Peanuts.
rasch und unbürokratisch Asyl zu gewäh- Eckhart Boelger, Berlin
ren, um ihr Leben zu schützen und andere
zu ermutigen, ihrem Beispiel zu folgen. Um nicht unterzugehen

OLIVIER DOULIERY / AFP


Dr. Günther Witzany, Bürmoos (Österr.)
Nr. 46/2019 Warum sich Union und SPD im
Streit um die Grundrente so verhakt haben
Ein Denkmal für die Whistleblower! In ei-
ner Demokratie ist das Volk der Staat! Wie Meine Meinung zu dem Wahlgeschenk,
kann es sein, dass die gewählten Volksver- das ich als schlechte Lösung ansehe – be-
treter teilweise sogar kriminelle Machen- US-Präsident Trump sonders für die Jüngeren: Was ist die
schaften als Staatsgeheimnis bezeichnen Grundrente anderes als ein Kompromiss,
und vor dem Volk verbergen dürfen? Die- Schon vergessen? den die »Volksparteien« gemacht haben,
se dunkle Seite der Regierenden ermög- ein Versuch, Sympathie zu erhalten auf
Nr. 46/2019 Huawei darf nicht am 5G-Netz
licht erst den unkontrollierten Aufstieg zur Kosten der Steuerzahler? Wäre es nicht
in Deutschland beteiligt werden
Macht und Selbstbereicherung. Staaten besser, eine Reform des Rentensystems zu
mit Geheimnissen vor ihrem Volk sind der Der Redakteur breitet auf einer ganzen organisieren?
Demokratur näher als der Demokratie, Seite aus, welche Gefahren drohen, wenn August Wehrmann, Ismaning (Bayern)
und nicht der Whistleblower, sondern die sich ein chinesischer Konzern am Ausbau
verschleiernden Volksvertreter gehören unseres 5G-Netzes beteiligt. Er verliert Um nicht unterzugehen, hat sich die ma-
auf die Anklagebank. Den unabhängigen aber kein Wort darüber, dass amerikani- rode Große Koalition jetzt auf diese Mo-
Medien, die an der Wahrheitsfindung be- sche Konzerne per Gesetz verpflichtet gelpackung geeinigt: Wer 35 Beitragsjahre
teiligt sind und waren, gebührt der Pulit- sind, der Regierung Daten zuzuliefern, wie in der Rentenversicherung auf welche Wei-
zer-Preis. wir spätestens seit Snowden wissen, und se auch immer gesammelt hat, soll künftig
Uwe Engelage, Renningen (Bad.-Württ.) zwar ohne demokratische Kontrolle, wel- eine Rente von mindestens zehn Prozent
che Daten angefordert werden. Die ame- über der Grundsicherung erhalten. Wie
Machtbesessene Politiker lügen niemals, rikanische Seite hat bereits bewiesen, dass schon bei der GroKo-Mütterrente, so soll
sondern sagen nur die »Unwahrheit«. sie auch nicht vor den Daten der Bun- jetzt das jahrzehntelange faire Beitrags-
Raffaele Ferdinando Schacher, Rorschach (Schweiz) deskanzlerin, ihrer MinisterInnen und punktesystem der gesetzlichen Rentenver-
hochrangiger Politiker und Beamter halt- sicherung abermals geplündert werden.
Es gilt halt auch nach 2000 Jahren immer macht. Oder ist derartiger Datenmiss- Hier hat die GroKo unverantwortlich die
noch das alte Caesar-Wort: Proditionem brauch weniger gefährlich oder verurtei- Zukunft des Rentensystems aufs Spiel und
amo, sed proditores non laudo – den Ver- lenswert, weil er durch einen Bündnispart- obendrein falsche Signale und Anreize ge-
rat liebe ich, aber die Verräter lobe ich ner stattfindet? Ist der NSA-Skandal schon setzt. Wenn ein Teilzeitarbeitnehmer ge-
nicht. Umso mehr gilt der Respekt den vergessen? genüber einem Vollzeitarbeitnehmer künf-
Whistleblowern, die, dies wohl wissend, Mark Roach, Hamburg tig für den bequemeren Halbtagsjob auch
ihren Weg gegangen sind. noch belohnt wird, stimmt etwas nicht im
Volker Simshäuser, Saarbrücken Ihr Vorschlag, nur Huawei von Lieferun- System. Hier von »Gerechtigkeit« zu fa-
gen für 5G auszuschließen, lässt Lieferun- seln, kann nur Sozialisten in den Sinn kom-
Etablierte Politiker hassen Verrat und Ver- gen anderer chinesischer Hersteller wie men. Dass sich die Union für den Erhalt
räter gleichermaßen. Öffentlichkeit und ZTE weiter zu. Ihr Vorschlag, Huawei nur der GroKo hat über den Tisch ziehen las-
Mediengesellschaft lieben den Verrat mehr von 5G-Lieferungen auszuschließen, lässt sen, wird sich für alle drei Parteien bei
als die Verräter. Das muss anders werden! die großen Mengen an 2G-, 3G- und 4G- künftigen Wahlen rächen. Was wird die
Dr. med. Thomas G. Schätzler, Dortmund Geräten von Huawei in den deutschen Net- Folge dieses unverantwortlichen Kompro-
zen weiterhin im Betrieb. Wie damit eine misses sein? Immer mehr Arbeitnehmer
Zum Titelbild: Wie auf dieser farblich de- grundlegende Verbesserung der Sicher- werden künftig nur noch halbtags arbeiten
zenten Grafik der Collage erkennbar, füh- heitssituation erreicht werden kann, ist für wollen und angeblich Verwandte pflegen,
ren diese Whistleblower kein ausgelas- mich nicht nachvollziehbar. um so in den Genuss der Grundrente zu
senes luxuriöses Leben, sie sind einfach Friedhelm Hillebrand, Bonn gelangen. Wer darf für die Finanzierung

144 DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019


Briefe

dieses Wahnsinns geradestehen? Die un- zur Verfügung stellen, kann sich Deutsch- suchen die wärmende Sonne von MDMA,
gefragte Versichertengemeinschaft. Und land immer noch für die USA entscheiden. und Kokser wollen halt Klarheit und
selbige nochmals als Steuerzahler. Das Argument, Deutschland würde sich Power. Das Problem ist, dass man irgend-
Karl Kremer, Gaby Kulda, Bottrop mit Nord Stream 2 in die völlige Abhän- wann anfing, Drogen zu illegalisieren, sie
gigkeit von Russland begeben, erschließt und ihre Nutzer zu stigmatisieren und da-
Völlig abhängig sich mir nicht. Letztendlich entscheiden mit auch die verbundenen Riten zu zer-
Verträge über die Abnahme. Daran wür- stören oder gar nicht erst die Möglichkeit
Nr. 46/2019 Deutschland gerät beim Pipe-
den auch zehn Röhren nichts ändern. zu geben, gesellschaftlich anerkannte Tra-
lineprojekt Nord Stream 2 in einen Macht-
kampf zwischen den USA und Russland Nach Lesen dieses Berichtes frage ich mich,
vor wem sich Deutschland mehr fürchten
In den Verträgen hat Russland zwar zuge- muss – vor Russland oder vor den USA?
sichert, auch nach Fertigstellung von Nord Hans Amling, Panketal (Brandenb.)
Stream weiter einen definierten Teil der

DANIEL REINHARDT / DPA


Gaslieferungen nach Deutschland über die Wenn die Nord-Stream-Pipeline 55 Milli-
Ukraine abzuwickeln. Aber das steht auf arden Kubikmeter Gas im Jahr transpor-
dem Papier, und wenn erst das Gas durch tiert, scheint es mir unmöglich, durch Schif-
die Nordsee kommt, wird niemand mehr fe der Q-Max-Klasse eine vergleichbare
Putin daran hindern können zu tun, was Menge heranzuschaffen. Jedes Schiff fasst
für ihn ein weiterer wesentlicher Aspekt nur 266 000 Kubikmeter. Praktisch müss- Polizisten, beschlagnahmtes Kokain
von Nord Stream ist: die Ukraine weiter ten täglich Hunderte Transporter entladen
zu schwächen und ihre Autonomie maß- werden. Und dann liest man: »Seit April ditionen aufzubauen. Keine Oma erklärt
geblich zu gefährden, indem er die Durch- 2018 habe man bereits 85 Schiffe für die ihrem Enkelkind auf der Familienfeier, was
leitungen kurzerhand massiv reduziert Ausfuhr beladen.« Unter Berücksichtigung Haschisch ist, und schafft dadurch ein zu-
oder komplett abdreht. Dass Deutschland der Fakten bleibt für das US-amerikani- mindest vertrautes, sicheres Umfeld. Nicht
sich bei diesem so durchsichtigen und für sche Verhalten nur Kopfschütteln übrig. dass dies hundertprozentig helfen würde
die Ukraine lebensgefährlichen Plan zum Johannes Koop, Göttingen – wenn man sich den Alkoholkonsum an-
Komplizen Putins macht, kann ich einfach schaut. Doch es brächte eine Grundlage.
nicht verstehen. So sehr mich der Versuch Die wärmende Sonne suchen Die Illegalität unterstützt Kriege, sie führt
Trumps anwidert, wirtschaftlichen Druck zu Mord und Totschlag, zur Zerstörung
Nr. 46/2019 Hochreines Kokain über-
auf Deutschland auszuüben, um das Pro- von Familien, mehr als der eigentliche
schwemmt Europa, der Konsum steigt
jekt zu beenden: Die eigentliche Gefahr Drogenkonsum es tun würde.
sehe ich nicht in einer Abhängigkeit von Diesen informativen Artikel über den welt- Jo Hempel, Bonn
russischem Gas, sondern in diesem Angriff weiten Kokainhandel habe ich gerne gele-
Putins auf die Ukraine. Deshalb muss sen. Ein Aspekt ist mir aber zu kurz ge- Die logistischen Möglichkeiten, die der in-
Nord Stream umgehend gestoppt werden. kommen: Die wirklichen Opfer in diesem ternationale Handel bietet, und die perso-
Friedrich-Karl Bruhns, München Drama sind die Menschen in Kolumbien, nellen, finanziellen, juristischen und poli-
Peru und Bolivien. Sie sind dazu ver- tischen Ressourcen, die die Drogenfahn-
Ein guter Bericht mit sehr viel Hinter- dammt, in gescheiterten Staaten zu leben, dung erfordert, lassen, wenn man auch nur
grund. Der Anlass für den Bau der ersten in denen fast ausschließlich die organisier- halbwegs bei Verstand ist, nur eine Lösung
Röhren durch die Ostsee waren wohl der te Kriminalität das Sagen hat. Dass sich ei- zu: Legalize it!
Zustand der Trasse, die Transitgebühren, ner die Nasenscheidewand wegkokst, geht Peter Heine, Hamburg
aber insbesondere die Gasverluste. Trotz mich genauso wenig an, wie wenn er sich
zuverlässiger Einspeisung durch Russland, beim Motorradfahren das Genick bricht Spannend! Den Einstieg mit dem Wetter-
sogar im Kalten Krieg, kamen in Westeu- oder er sich einfach zu Tode säuft. Wir vergleich (»die Schneeräumer, Neu-
ropa nie die gleichen Mengen an. Die stän- sind ein freies Land. Das Einzige, was ich schnee«) fand ich jedoch sehr billig, aber
digen Querschüsse der USA hängen wohl den Koksnasen vorwerfe, ist, dass sie mit Geschmäcker sind verschieden. Was mich
damit zusammen, dass sie sich durch ihre ihren großzügigen Spenden Menschen- mehr gestört hat, war, dass im Vorspann
umstrittene Fracking-Technik in den letz- rechtsverletzungen und Massenmord der von »Narco-Syndikaten« zu lesen ist und
ten Jahren zur Gas-Exportnation entwi- internationalen Mafia finanzieren. Anstän- auch im Text vom »Narco-Geschäft«. Es
ckelt haben. Bereits 2017 brachte Trump dige Leute wie Krankenschwestern, Leh- wird im ganzen Artikel nicht erklärt, was
ein Gesetz durch den Kongress, das ihm rer, Kaffeepflücker und so weiter müssen »Narco« bedeutet.
erlaubt, alle Firmen vom Finanzmarkt aus- jeden Tag um ihr Leben fürchten, wenn Hubert Kickinger, Wien
zuschließen, die sich an russischen Export- sie versehentlich in die Schusslinie geraten.
Pipelines beteiligen. Ein Vorläufer der Iran- Ganz abgesehen davon, dass ihre Heimat DER SPIEGEL Lieber Herr Kickinger, Sie
Sanktionen! Sollten die USA ihr Flüssiggas wegen des permanenten Ausnahmezustan- haben recht, wir haben versäumt, das
umweltfreundlich erschließen und günstig des nie prosperieren wird. Wort zu erläutern: Der Begriff »Narcos«
Boris Steidle, München kommt aus dem Spanischen und bezeich-
net umgangssprachlich die Mitglieder von
Sie beschreiben Symptome mit grausamen Drogenkartellen. Mit herzlichen Grüßen
PAUL LANGROCK / DER SPIEGEL

Auswirkungen. Sie erfassen jedoch nicht Jürgen Dahlkamp, Autor im Ressort


das eigentliche Problem. Seit Jahrtausen- Deutschland/Panorama
den nimmt der Mensch Drogen. In Zeiten
wie diesen, hektisch, schnell, alle am Limit
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
mit ihrer Fähigkeit, die oftmals traurigen (leserbriefe@spiegel.de) gekürzt
Informationen dieser Welt zu verarbeiten, sowie digital zu veröffentlichen und unter
steigt das Bedürfnis nach Flucht. Die einen www.spiegel.de zu archivieren.
Nord-Stream-2-Anlandestation in Lubmin kiffen sich in andere Sphären, die nächsten

145
Hohlspiegel Rückspiegel

Aus der »Süddeutschen Zeitung«: Zitate


»Der Grüne Belit Onay hat die Chance,
Die »taz« über den SPIEGEL-
erster Oberbürgermeister
einer Landeshauptstadt mit Jetzt im Titel »Im Dienst der Wahrheit«
Migrationshintergrund zu werden.« (Nr. 47/2019):
Handel Die Wahl zum Wort
des Jahres steht noch
aus. Gute Chancen
dürfte jedoch der Be-
griff »Whistleblower«
Aus dem »Reutlinger General-Anzeiger« haben, der momen-
tan in aller Munde
ist: Edward Snowdens
Die »Badische Zeitung« über ein um- Autobiografie steht
strittenes Wappen aus der Franco-Zeit, auf den Bestseller-
das in Freiburg an einer Hausfassade listen; diese Woche schreibt der SPIEGEL
hängt: »Eine Musikerin, die schon lange unter dem Titel »Im Dienst der Wahrheit«
in Freiburg lebt und der die Falangistas von der Macht und Tragik dieser – je nach
in ihrer Heimat Angst machen, war Sichtweise – Aufklärer beziehungsweise
schockiert, als sie das Wappen dort neu- Geheimnisverräter … Umso wichtiger sind
lich erstmals entdeckte. ›Das verletzt Menschen, die sich nicht scheuen, von
mich‹, sagt sie zu dem Wappen.« manchen – anfangs vielleicht auch vielen –
als Verräter bezeichnet zu werden und
ihr Wissen über dunkle Machenschaften
des Staats oder auch von Wirtschaftsunter-
nehmen an die Öffentlichkeit zu bringen.

Die »Bild« über den SPIEGEL-Bericht


»Die CDU ist inhaltlich insolvent«
vom 15. November:
Aus der »Frankfurter Rundschau«
www.spiegel-wissen.de Baden-Württembergs CDU-Fraktionschef
Wolfgang Reinhart (63) geht vor dem Par-
Aus den »Badischen Neuesten teitag am kommenden Wochenende hart
Nachrichten«: »Die Stadtverwaltung will mit der CDU-Spitze ins Gericht. »Für die
beim geplanten Umbau des Platzes großen Fragen unserer Zeit hat die CDU
eng mit der Polizei zusammenarbeiten keine Antennen und keine Agenda mehr.
und durch eine bessere Beleuchtung Die Schubladen sind leer«, beklagt Rein-
sowie das Beseitigen von uneinsichtigen hart in einem internen Papier (SPIEGEL
Ecken für mehr Sicherheit sorgen.« ONLINE). Die Partei habe weder Entwür-
fe für die Gesellschaft noch für sich selbst:
»Die CDU ist inhaltlich insolvent.«

Lesen Sie in Die »Potsdamer Neuesten Nachrichten«


zum SPIEGEL-Artikel »Ausgeliefert« über
diesem Heft: das Pflegeheim »Haus am Zernsee« im
brandenburgischen Werder (Nr. 47/2019):
Zeitmanagement … die Werderanerin Barbara Freitag, die
Effizienter und nach eigenen Angaben bereits länger die
Heimleitung auf die Missstände aufmerk-
entstresst arbeiten sam machte, löste laut SPIEGEL im No-
vember 2018 einen Eklat aus, als sie in ei-
ner Sonnabendnacht die Polizei ins Heim
Coaching holte. Sie fand das gesamte Haus von Pfle-
Schild an einem Frühstücksbüfett in gern verwaist, auf Lichtrufsignale vor den
einem Hotel in Hurghada (Ägypten) Tipps und Tricks für Zimmern der Bewohner reagierte nie-
mand. Ein vergessenes mobiles Telefon,
gesunde Ernährung das eigentlich den Mitarbeitern diese Hil-
Das »Plieningen & Birkach Journal« ferufe unterwegs mitteilen sollte, fand
über einen Weihnachtsbaum: »Der Barbara Freitag im Zimmer ihrer Mutter,
Baum soll als Blickfang für den Ort Lebenszufriedenheit so berichtet der SPIEGEL. Danach musste
Plieningen dienen, daher ist der Platz am
Ortseingang bestens geeignet. Der Baum
Wie viel Vermögen die Heimleiterin gehen, und eine Mitar-
beiterin des zentralen Qualitätsmanage-
soll eine entsprechende Größe mitbringen,
ab 250 Meter aufwärts wäre ideal.«
brauche ich wirklich? ments von Korian übernahm die Füh-
rungsaufgabe.

146 DER SPIEGEL Nr. 48 / 23. 11. 2019


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