Kunstgeschichtliches Seminar
Seminar: Album, Atlas und Archiv
Prof. Dr. Michael Diers
SoSe 2008
Referentin: Sarah Poppel
5.05.2009
Gliederung
1. Freud
2. Foucault
3. Derrida
4. Abschließende Bemerkungen
5. Literatur
1. Freud
Das menschliche Gehirn aufgefasst als Archiv – verstanden als ein Ort, an dem sich Prozesse
der Selektion, Speicherung und des Löschens von Informationen vollziehen, findet sich bei
Freud, in dessen kurzem Artikel von 1925, Notiz über den Wunderblock.
Anfang der 1920er Jahre wird in den USA ein Spielzeug mit dem Namen Magic Slate patentiert,
das kurze Zeit später auch in Europa auf dem Markt erscheint. Bekannt heute als Zaubertafel,
ein löschbares Wachsmatritzen-Notiztäfelchen, das wohl jedem aus seiner Kindheit in
Erinnerung geblieben sein sollte, gereichte der Wunderblock Freud zur Veranschaulichung
seiner Auffassung von der Funktionsweise des menschlichen Gedächtnisses, von ihm auch
genannt seelischer Apparat, bzw. Wahrnehmungsapparat, womit in dieser Darstellung auch das
Verhältnis zwischen Wahrnehmung und Gedächtnis eingeschlossen ist.
Es handelt sich um ein mit transparenter Folie bespanntes Wachstäfelchen, auf dem man mit
einem Griffel schreiben und das Geschriebene sogleich wieder löschen kann, indem man die
Zellophanoberfläche, sowie das Wachsblatt anhebt. Wesentlich ist hierbei, dass die
Einschreibung von Information nicht direkt auf der Wachsfläche, sondern über das vermittelnde
Einritzen auf den darüberliegenden Schichten geschieht, als auch, dass nach dem
Löschvorgang durch Anheben der Deckblätter, die klare Kontur der Schrift zwar verschwindet,
allerdings bei geeigneter Belichtung lesbar bleibt.
Die Besonderheit des Gedächtnisapparates bestehe nun, laut Freud (1925: 4) eben darin, dass
er zum einen, „unbegrenzt aufnahmsfähig [ist]“ – Prinzip des Aufnehmens und Löschens –, zum
anderen „dauerhafte – wenn auch nicht unveränderliche – Erinnerungsspuren [schafft]“ – die im
begrenztem Rahmen, lesbar bleibende Schrift.
1
Freuds Analogie zwischen Wunderblock und Wahrnehmungsapparat
Skizze
Als Übergang soll kurz auf ein Beispiel aus der Kunst angesprochen werden, das sich direkt mit
der Rezeption des beschriebenen Gedächtnismodells auseinandersetzt.
Der in Berlin ansässige US-amerikanische Künstler Arnold Dreyblatt stellt in seinen
Kombinationen von elektronischen Medien und skulpturalen Rauminstallationen Fragen zur
Speicherung des kollektiven und individuellen Gedächtnisses.
2
Der Wunderblock, 2000
Tisch aus MDF (Mitteldichte Holzfaserplatte) mit eingelassenem TFT-Display (Thin-film
transistor, englisch für Dünnschichttransistor) und Computer, Stuhl.
Wurde in Berlin gezeigt, unter anderem in der Galerie Anselm Dreher, 2000 und der
Gemäldegalerie, 2001.
Die Parallelität der beiden Texte besteht für Dreyblatt in der Beschreibung des gleichen
Prozesses, „des Findens und Verlierens, des Sicherns und des Zerstörens“.
„Mit Hilfe der analytischen Methode durchsuchen und überprüfen wir den internen Speicher
unseres eigenen Bewußtseins nach vergrabenen Bedeutungen, ungefähr so, wie ein
Historiker aus einer Fülle von Aktenbergen in einem Archiv die Vergangenheit
rekonstruiert und zu interpretieren versucht.“2
Hiermit wird ersichtlich, welche Funktion dem Analytiker in Freuds Modell zukommt; dieser
bewegt sich zwischen Archäologe und Archivar. Er legt Erinnerungsspuren aus dem
Unterbewußten frei, transkribiert diese und hält sie in als archivarischen Analysebericht fest.3
Weitere Informationen zu Dreyblatts Werk, sowie ein Video zur Installation Der Wunderblock:
http://www.dreyblatt.de/html/art.php?id=&more=89#more
2. Foucault
Archiv = Ort der Analyse, bzw. ein allgemeiner Operationsraum, der die Aussagenanalyse und
die Archäologie umgibt
Zur Erklärung des Ausdrucks „Archäologie“ in Archäologie des Wissens (1995: 190)
„Dieser Ausdruck fördert nicht zur Suche nach irgendeinem Anfang auf; er rückt die Analyse
nicht in verwandtschaftliche Nähe zu Ausgrabungen oder geologischer Sondierung.
Er bezeichnet das allgemeine Thema einer Beschreibung, die das schon Gesagte auf dem
Niveau seiner Existenz befragt: über die Aussagefunktion, die sich in ihm vollzieht, über die
diskursive Formation, zu der er gehört, über das allgemeine Archivsystem, dem er
untersteht.“
Was sich mit Die Ordnung der Dinge (1974) in Foucaults Arbeiten verschiebt, ist, dass von
allgemeinen Erfahrungsordnungen (des Wahnsinns, des Verbrechens, der Sexualität) zu einer
Untersuchung „epistemischer Formationen“ (Ordnungen des Wissens) übergegangen wird.
Im Gegensatz zur traditionellen Auffassung geschichtlicher Abläufe folgen diese nicht einer
Logik der Kontinuität, sondern jener der Brüche und Diskontinuitäten.5
Die Beziehung zwischen Die Ordnung der Dinge (1974) und Archäologie des Wissens (1995)
war schließlich als Systematisierung der Methode gedacht.6
Aufbau der Methode auf drei Konzepten, die respektive aufeinander verweisen:
- Diskurse setzten sich aus all jenen Aussagen zusammen, die sich zu einer bestimmten
Zeit im Feld einer Wissenschaft finden lassen
Es sind die „Bedingungen der Möglichkeit von Aussagen“
Verbote, Grenzziehungen, Kommentare, Methoden, Theorien, Rituale und Doktrinen
In der 2. Dezember 1970 gehaltenen Antrittsvorlesung zu seiner Berufung auf den eigens für
ihn eingerichteten Lehrstuhl zur "Geschichte der Denksysteme" am Collège de France
exemplifiziert Foucault diesen Zusammenhang an der ursprünglichen Ablehnung der
Mendelschen Vererbungslehre.
In Die Ordnung des Diskurses (1974: 24) (L'ordre du discours (1971)) heißt es:
„Man hat sich oft gefragt, wie die Botaniker oder die Biologen des 19. Jahrhunderts es
fertiggebracht haben, nicht zu sehen, daß das, was Mendel sagte, wahr ist. Das liegt daran,
daß Mendel von Gegenständen sprach, daß er Methoden verwendete und sich in einen
theoretischen Horizont stellte, welche der Biologie seiner Epoche fremd war [...]. Mendel sagte
die Wahrheit, aber er war nicht "im Wahren" des biologischen Diskurses seiner Epoche:
biologische Gegenstände und Begriffe wurden nach ganz anderen Regeln gebildet.“
Also sind diskursive Formationen nun die Ordnungen dieser Bedingungen dafür, was in
einem spezifischen Zeitraum, einer Epoche, als wahr gedacht wird und was nicht.
Darstellende Form, gewinnt die Methode in dem, was Foucault Historisches Apriori nennt =
Realitätsbedingungen von Aussagen, genannt „Positivitätsform“.8
- Archiv
4
vgl. Gehring (2004), 45.
5
vgl. Foucault (1974), 24f.; ders. (1995), 14f.
6
Vgl. Foucault (1995), 28f.
7
Hier besteht die Parallelität zur strukturalistischen Analyse, z.B. aus linguistischer Sicht, wird auf
Wortebene von den kleinsten bedeutungstragenden Einheiten (der Sprache) – Phoneme – ausgegangen;
diesen übergeordnet sind Morpheme, deren Gesamtheit schließlich ein Wort konstituieren. Es gilt
allerdings zu beachten, dass sich Foucault gegen eine solche Bezeichnung seiner Methode als
strukturalistische entschieden abwendet und lediglich eine gewisse Verwandtschaft gelten lässt (vgl. u.a.
Foucault (1995: 27) ).
8
vgl. Foucault (1995), 184ff.
4
Foucaults Definition geht über die Materialität der Bestandssicherung auf einem Träger
oder in einer Institution hinaus
o „[…] nicht die Summe aller Texte, die eine Kultur als Dokumente ihrer Vergangenheit
oder als Zeugnis ihrer beibehaltenen Identität bewahrt hat;
o „[…] auch nicht die Einrichtungen, die in einer bestimmten Gesellschaft gestatten, zu
registrieren und zu konservieren, die man im Gedächtnis und zur freien Verfügung
behalten will.
o „[…], es ist im Gegenteil das, was bewirkt, dass so viele von so vielen
Menschen seit Jahrtausenden gesagte Dinge nicht allein gemäß den Gesetzen
des Denkens oder allein nach dem Komplex der Umstände aufgetaucht sind
[…]; sondern […] dank einem ganzen Spiel von Beziehungen erschienen sind,
die die diskursive Ebene charakterisieren.“9
Es geht Foucault nicht um die Bedeutungen von gesagten Dingen oder die Personen, die diese
äußerten, sondern darum „[…] das System der Diskursivität und die Aussagemöglichkeiten und
–unmöglichkeiten, die es ermöglicht, nach dem unmittelbaren Grund“ dafür zu befragen. Mit
anderen Worten, geht es um eine systematische Beschreibung, nicht um die Interpretation von
Diskursen.
Zusammenfassung
- Abgrenzung vom Konzept des Archivs, das Ideengeschichte enthält (also dessen, was
Menschen tatsächlich gesagt haben)12
- Anstatt dessen, begriffen als ein Feld von Aussagemöglichkeiten
„Spiel von Beziehungen“
- diskursive Praktik besteht in einem geschichtlich und wissenstheoretisch bedingten
selektiven Sammeln, sowie einem gleichsam konservierenden, als auch
tranformierenden Speicherns (dynamisches Archivmodell)
- Kritik: Definition zu unspezifisch, da „Gesetz dessen, was gesagt werden kann“, auch
die Diskurse definiert.13
3. Derrida
9
Foucault (1995), 187.
10
a.a.O., 188.
11
a.a.O., 189.
12
Zur Abgrenzung der archäologischen Methode zur Ideengeschichte, s. Foucault (1995), 193-200.
13
vgl. Assmann (2001), 270.
5
In Dem Archiv verschrieben (1997) geht es in im weitesten Sinne um die Geschichte Freuds
und der Psychoanalyse, bzw. dessen Einfluss auf den Begriff des Archivs und der
Archivierung.
Derrida leitete den Begriff “Archiv” aus dem altgr. Wort arché ab.
Arché: bedeutet sowohl Anfang als auch Gebot. Dieses Wort vereint also den Anfangsgrund
nach Maßgabe der Natur bzw. Geschichte mit dem Anfangsgrund nach Maßgabe des
Gesetzes. Der Begriff ‚Archiv‘ beinhaltet den Begriff Arché, stützt sich aber mehr auf dessen
nomologischen Sinn (Gesetz).
Archivum/ archium: das griechische Wort entstammt dem Begriff ‚archeion‘. ‚Archeion‘
beschreibt einen Ort, und zwar die Wohnsitze der obersten Magistratsangehörigen, der
‚árchontes‘.15
Frage: Welche Funktion kommt den Hütern (griech. Archonten) des Archivs zu?
Die Archontes sind die Bewahrer wichtiger offizieller Dokumente und somit auch
Machtträger, die nicht nur die physische Sicherheit ihrer Schriftsammlung sicherstellen
(Zugangsmöglichkeit), sondern auch ihre Rezeption und Interpretation überwachen.16
Die archontische Macht ist die Größe, welche das Archiv konstituiert und reguliert. Verstanden
in einer allgemeinen machtpolitischen Dimension heißt dies:
„Keine politische Macht, ohne Kontrolle des Archivs, wenn nicht gar des Gedächtnisses.
Die wirkliche Demokratisierung bemißt sich stets an diesem essentiellen Kriterium: an der
Partizipation am und dem Zugang zum Archiv, zu seiner Konstitution und zu einer
Interpretation.“18
14
Derrida (1997), 3.
15
vgl. a.a.O., 9f.
16
vgl. a.a.O., 11.
17
vgl. a.a.O., 13.
18
a.a.O., 14 (Anm.).
19
vgl. Enwezor (2008), 13/ 19ff.
6
- Sicherung der imperialen Macht durch geheime Erschließung Tibets (1865)
- Google Earth
These Derridas:
Archiv als Ort an dem Vergangenheit nicht nur gespeichert und aufbewahrt wird, sondern
gerade die Konstruktion und Produktion von Vergangenheit stattfindet. Die Archivierung bringt
„das Ereignis in gleichem Maße hervor, wie sie es aufzeichnet.“20
„Kein Archiv ohne einen Ort der Konsignation, ohne eine Technik der Wiederholung und
ohne eine gewisse Äußerlichkeit. Kein Archiv ohne Draußen.“22
20
Derrida (1997), 35.
21
a.a.O., 38.
22
a.a.O., 25.
23
Zu unterscheiden gilt hier zwischen mnéme/ anámnesis (Gedächtnis) und hypómnema
(mnemotechnisches Supplement/ Repräsentation, Hilfsmittel/ Gedächtnisstütze), d.h. zwischen
spontanem Gedächtnis und speicherndem Gedächtnis (letzteres, das innerliche Außen), vgl. Derrida
(1997), 25/ 39.
7
Zum Paradox des Archivs und dem Titel ‚le mal d’archive’ (Archivübel)
„Wenn es kein Archiv gibt ohne Konsignation an irgendeinem äußeren Ort, der die Möglichkeit
der Memorisierung, der Wiederholung, der Reproduktion oder der Re-impression sicherstellt,
so sollten wir zudem in Erinnerung rufen, daß die Wiederholung selbst, die Logik der
Wiederholung, ja der Wiederholungszwang nach Freud untrennbar bleibt vom
Todestrieb. Also von der Destruktion.“24
Die Konsequenz liegt in einem internen Widerspruch, bei welchem der Destruktionstrieb
einerseits gegen den Archivtrieb oder Erhaltungstrieb wirkt und diesen andererseits doch
bedingt. Das heißt, ohne die Möglichkeit des Vergessens, der Destruktion von Erinnerung, gibt
es kein Verlangen nach einem erhaltenden Archiv.
4. Abschließende Bemerkungen
Derrida und Foucault ist gemeinsam die Vorstellung des Archivs als Raum – Raum der Analyse/
Raum der Einschreibung, Zuweisung, dessen machtpolitische Dimension – Bestimmung von
Regeln/ Machtträgern, die Konzeptualisierung eines dynamischen Archivmodells –
Veränderung/ Modifikation des archivierten Inhalts.
5. Literatur
Freud, Sigmund (1925): Notiz über den Wunderblock. In: ders. (1976) Gesammelte Werke. Bd.
XIV, Frankfurt a.M.: Fischer, 1-8.
Foucault, Michel (1974) Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften.
Frankfurt a.M.: Suhrkamp. (Les Mots et les choses. Une archéologie des sciences
humaines, 1966)
Foucault, Michel (1995) Archäologie des Wissens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. (L'archéologie du
savoir, 1969)
Derrida, Jaques (1997) Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression. Berlin:
Brinkmann + Bose. (Mal d’ Archive, 1995)
Assmann, Aleida: Das Archiv und die neuen Medien des Archivs. In: Stanitzek, Georg und
Voßkamp, Wilhelm (2001) Schnittstelle. Medien und Kulturwissenschaften. Köln:
DuMont.
Enwezor, Okwui: Archive Fever. Photography between History and the Monument. In: ders.
(Hg.) (2008) Archive Fever. Uses of the Document in Contemporary Art. (Kat.)
International Center of Photography, New York. Göttingen: Steidl.
Gehring, Petra (2004) Die Philosophie im Archiv. Frankfurt/ New York: Campus.
Wirth, Uwe: Archiv. In: Roesler, Alexander und Stiegler, Bernd (Hgs.) (2005) Grundbegriffe der
Medientheorie. München: Fink, 17-27.
24
Derrida (1997), 25.
8