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Wörner, Felix (2017): Stefan Keym (Hg.), Motivisch-thematische Arbeit als Inbegriff der
Musik? Zur Geschichte und Problematik eines ›deutschen‹ Musikdiskurses (Veröffentli-
chungen des Staatlichen Instituts für Musikforschung XXII: Studien zur Geschichte der
Musiktheorie 12), Hildesheim: Olms 2015. ZGMTH 14/1, 195–202.
https://doi.org/10.31751/906
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Fraglos gehören die Kategorien ›motivische von Jonathan Dunsby oder Folker Froebe2,
Arbeit‹, ›thematische Arbeit‹ und ›motivisch- die die Verwendung und unterschiedliche Lei-
thematische Arbeit‹ für die Beschreibung und stungsfähigkeit thematisch-motivischer Kon-
Interpretation tonaler, seit Mitte des 18. Jahr- zepte anhand verschiedener musiktheore-
hunderts entstandener Kompositionen zum tischer Systeme diskutiert haben, deutlich
Kernbestand analytischer Methoden, die sich gemacht, dass motivisch-thematische Arbeit
insbesondere im deutschsprachigen Raum bis eine historisch wandelbare Analysekategorie
in die Gegenwart großer Beliebtheit erfreuen. darstellt, deren Potenzial unterschiedlich be-
Diese Popularität motivisch-thematisch ge- wertet wird.
prägter analytischer Zugangsweisen verdankt In dem auf ein Symposium zurückge-
sich sowohl einer bis in die Mitte des 19. henden Sammelband werden 13 Beiträge
Jahrhunderts zurückzuverfolgenden musik- unterschiedlicher Länge (der kürzeste Essay
analytischen und musikdidaktischen Tradition umfasst zehn, der umfangreichste 41 Sei-
als auch der Attraktivität, die sich aus einem ten) präsentiert, die im Duktus teils nahe am
scheinbar simplen Zugriff auf die motivisch- mündlichen Referat bleiben, teils aber wis-
thematische Anlage von Kompositionen ab- senschaftlich sorgfältig ausgearbeitete For-
leitet. Dass eine Betrachtung von Musik, die schungsbeiträge darstellen. Der Band zielt
primär hörbare (oder bei einem Studium der darauf ab, die Geschichte des musiktheore-
Partitur ›sichtbare‹) Identitäten und Ähn- tischen Begriffs der ›motivisch-thematischen
lichkeitsbeziehungen von motivischem und Arbeit‹ nachzuzeichnen – bekanntermaßen
thematischem Material als wesentliche Er- wurde im deutschen Kulturraum die moti-
gebnisse einer Analyse präsentiert, einerseits visch-thematische Arbeit seit Mitte des 19.
von einem naiven Verständnis dieser Analyse- Jahrhunderts in Kompositionslehren und mu-
kategorie ausgeht und andererseits das Risiko sikalischen Analysen zu einer zentralen satz-
birgt, nur einen Ausschnitt kompositorischer technischen Verfahrensweise erklärt. Dabei
Strukturmerkmale zu isolieren und einseitig sollen »strukturanalytische Aspekte« im Zu-
zu bevorzugen, dürfte im aktuellen musik- sammenhang breiterer kulturgeschichtlicher
theoretischen Diskurs unbestritten sein. So- Entwicklungen auf ihre »identitätsstiftende
mit stellt motivisch-thematische Arbeit keine Funktion« in unterschiedlichen zeitgeschicht-
problemlos verwendbare analytische Katego- lichen, ideologischen und politischen Kontex-
rie dar. Zudem haben sowohl die begriffsge- ten untersucht werden (5). Die Hauptrichtung
schichtlichen Untersuchungen Christoph von der Studien geht dabei von der Beobachtung
Blumröders1 im Handwörterbuch der musi- aus, dass Konzepte motivisch-thematischer
kalischen Terminologie als auch einführende Arbeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert eng
Überblicksdarstellungen wie beispielsweise mit der Überzeugung in Zusammenhang ge-
bracht wurden, die klassisch-romantische die sich aus verschiedenen Strängen speisen,
Instrumentalmusik deutscher Kulturtradition sich allmählich herausbilden und in unter-
unterscheide sich grundsätzlich von ande- schiedlichen Konstellationen zusammentre-
ren nationalen Kompositionsschulen. So be- ten. Während sich die Idee der ›Arbeit‹ im
ginnt der Sammelband mit Beiträgen, in denen Sinne der kompositorischen ›Ausarbeitung‹
die ästhetischen und satztechnischen Stereo- bis ins frühe 18. Jahrhundert zurückverfol-
typen des 19. Jahrhunderts im deutschspra- gen lässt, markieren folgende Momente die
chigen Raum dekonstruiert werden. Anschlie- Entwicklung im 19. Jahrhundert: Zu Beginn
ßend beschäftigen sich zwei Beiträge mit der des Jahrhunderts wird Joseph Haydn mittels
Verwendung und dem Bedeutungsspektrum des Konzeptes der musikalischen Logik die
des Begriffs in Frankreich. Die deutschspra- Nachfolge J.S. Bachs zugewiesen (12). Durch
chige Musiktheorie Anfang des 20. Jahrhun- die Schriften von Johann Christian Lobe und
derts wird am Beispiel der Schriften Heinrich Adolf Bernhard Marx dringt das Konzept der
Schenkers und Arnold Schönbergs untersucht; motivisch-thematischen Arbeit nachdrücklich
eine weitere Studie zur Auffassung von mo- in den Diskurs ein. Dabei gelingt es Marx,
tivisch-thematischer Arbeit bei Theodor W. Beethoven als maßgeblichen Vertreter ei-
Adorno schließt den Band thematisch ab. ner seriösen, durch ›Idee‹ und ›Arbeit‹ glei-
Weitgehend ausgeblendet bleibt die Rezep- chermaßen nobilitierten Kunst zu etablieren
tion des Konzeptes motivisch-thematischer (13f.). In einem weiteren Schritt ist es Hans
Arbeit in Russland, aber auch im englischen von Bülow, der in den 1870er Jahren durch
und US-amerikanischen Raum, wo zumindest seine Interpretations- und Herausgebertätig-
an der Ostküste bereits um 1900 viele Kom- keit ein modernes Beethoven-Bild lanciert,
ponisten aufgrund ihrer Ausbildung in Europa das durch die Schriften Hugo Riemanns end-
mit dem Konzept vertraut waren und seit den gültig durchgesetzt und popularisiert wird.
1930er Jahren das Thema vermittelt durch eu- Somit symbolisiert um 1900 die Linie ›Bach
ropäische Emigrant*innen – unter veränderten – Beethoven – Brahms‹ ein neues »Wertesy-
kulturellen Voraussetzungen und verbunden stem«, das motivisch-thematische Arbeit als
mit neuen musiktheoretischen Fragestellun- Grundlage der Analyse und wesentliches äs-
gen – eine zweite Blüte erfuhr.3 thetisches Kriterium begreift (19) und das in
In einer bemerkenswerten Argumentation den Schriften so unterschiedlicher Autoren
begründet Hans-Joachim Hinrichsen in dem wie Hermann Kretzschmar, Heinrich Besse-
eröffnenden Beitrag »Beethoven, Bach und ler und Ernst Bücken fortgeführt wird. Dieser
die Idee der motivisch-thematischen Ökono- Entwicklungslinie sind gleichzeitig konkurrie-
mie. Zur Genese eines wirkungsmächtigen rende Geschichtsmodelle von August Halm,
Rezeptionsklischees« die These, dass die in Ernst Kurth, Theodor W. Adorno und Erwin
Europa bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts Ratz entgegengesetzt, die – insbesondere in
häufig propagierte Entwicklungslinie ›Bach – Hinblick auf die Technik der Fuge – die Ver-
Beethoven – Brahms‹ auf einer wissenschaft- fahrensweisen von Bach und Beethoven eher
lich nicht begründeten allgemeinen »ästhe- als Gegensätze konstruieren. Unabhängig von
tischen Generaleinschätzung« (9) beruhte, die diesen partiell neuen Interpretationsweisen
durch das kompositionstechnische Konzept kann Hinrichsen konstatieren, dass die im
der motivisch-thematischen Arbeit abgestützt 19. Jahrhundert als Rezeptionsphänomen ge-
und partiell legitimiert wurde (10). In seiner formte Kette Bach – Beethoven – Brahms zu
Analyse ausgewählter Rezeptionsphasen zeigt Anfang des 20. Jahrhunderts in der Musikhis-
Hinrichsen schlüssig, dass diese Deutung der toriographie eine Akzeptanz erfuhr, die zwar
Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts auf all- aus heutiger Sicht ideologische Züge trägt,
gemeinen Wahrnehmungsmustern beruht, trotz neuerer Forschungsergebnisse und al-
ternativer Geschichtsbilder ihre Ausstrahlung
3 Vgl. Wörner 2009. dennoch nicht völlig eingebüßt hat (26f.).
Ende des Jahrhunderts dann allerdings zu- sung der Positionen von Lobe, Richard Stöhr,
nehmend undifferenziert eingesetzt wird und Riemann und Hugo Leichtentritt bietet einen
so unterschiedliche Aspekte wie motivische idealen Ausgangspunkt, Schönbergs Konzep-
Dichte, Durchführungsabschnitt oder Leit- tion und deren Entwicklung im Spannungsfeld
motivtechnik bezeichnet. In ihrer Rigaudières von Kontinuität und Bruch zur musiktheore-
Beitrag komplementierenden Untersuchung tischen Tradition zu erörtern. So bleibt zwar
wertet Inga Mai Groote ein breites Korpus von Schönbergs zuerst in seinem Manuskript Zu-
Quellen aus, die von Äußerungen bekann- sammenhang, Kontrapunkt, Instrumentation,
ter Komponisten (Debussy, Dukas, Ravel, Formenlehre (1917) formulierte Definition,
Henri Rabaud) über Musikkritiker bis hin zu ein musikalisches Motiv sei »eine tönende
Musikhistorikern sowie Konzerteinführungen rhyt[h]misierte Erscheinung, welche durch
reichen. Im Gegensatz zu Rigaudière schließt ihre (eventuell variierten) Wiederholungen im
Groote den offenbar häufiger verwendeten Verlaufe eines Musikstückes den Anschein zu
Begriff ›développer‹ ein, dessen semantische erwecken vermag, als ob sie dessen Material
Bedeutung in der Regel mit ›thematischer sei« (157) inhaltlich bis in die 1940er Jahre sta-
Arbeit‹ gleichgesetzt werden kann. Dabei bil. Seine Ablehnung der in den 1920er Jahren
verdeutlicht das breite Spektrum der ausge- durchaus gängigen Vorstellung des Motivs als
wählten Beispiele, dass die Verwendung des »Urzelle« (so Riemann, Belegstelle 160), als
Begriffs in Frankreich um 1900 nicht primär Keim einer organischen Entwicklung (161f.)
durch die Dichotomie ›deutsch‹ – ›franzö- und als metrisch bestimmter Einheit (ebd.)
sisch‹ bestimmt war, sondern ästhetische Strö- erleichtert es Schönberg, von der traditionell
mungen innerhalb des französischen Musikle- überragenden Bedeutung des Motivs und der
bens (›Debussysten‹, ›scholastische‹ Richtung, motivisch-thematischen Arbeit für die Ausbil-
133) ebenso relevant waren wie die Bezug- dung musikalischen Zusammenhangs abzurü-
nahme auf unterschiedliche Gattungskonven- cken, neben dem Motiv weitere Faktoren wie
tionen. Trotz – oder vielleicht gerade wegen Tonalität, Harmonik, rhythmische Konstruk-
– der Fülle der herangezogenen Quellen wer- tion sowie Instrumentation und Vortrag als
den die einzelnen Zitate und Autoren jedoch integrale Bestandteile musikalischer Zusam-
eher nebeneinander gestellt, als dass sie um- menhangsbildung zu betrachten und somit ab
fassender kontextualisiert und miteinander in den 1930er Jahren das umfassendere Konzept
Beziehung gebracht würden. So erreichen die des ›musikalischen Gedankens‹ als zentrale
Ergebnisse von Grootes Skizze der Situation Kategorie musikalischer Logik zu etablieren.
in Frankreich um 1900 nicht die Differenziert- Stellt Schönbergs musiktheoretisches Den-
heit, die beispielsweise vom Bandherausgeber ken für unseren Blick auf das frühe 20. Jahr-
in seinem Beitrag geleistet wird. hundert zweifellos eine zentrale Größe dar,
Die letzten vier Beiträge des Sammelbandes so ist die Resonanz seiner theoretischen
kehren mit Studien zur Musiktheorie Arnold Überlegungen selbst innerhalb des engeren
Schönbergs und Heinrich Schenkers sowie Schönberg-Zirkels weitaus schwieriger zu be-
zu Theodor W. Adorno zu Aspekten der Ent- stimmen. Dass der Begriff der thematischen
faltung des Konzeptes im deutschsprachigen Arbeit auch für Theodor W. Adorno eine
Raum im 20. Jahrhundert zurück. Andreas Ja- kritische Kategorie darstellte, diskutiert Niko-
cob analysiert, welchen Inhalt Schönberg den laus Urbanek in seinem Beitrag »Was heißt
Begriffen ›Motiv‹ und ›motivische Arbeit‹ in (a)thematische Arbeit? Einige Bemerkungen
seinem musiktheoretischen Denken zuweist. zu einer zentralen Kategorie der Musikästhe-
In seiner konzisen Darstellung erinnert Jacob tik Theodor W. Adornos«. Urbanek weist
zunächst daran, an welche gängigen Definiti- der Figur der thematischen Arbeit in Ador-
onen und Funktionsbeschreibungen von ›Mo- nos Denken eine »theoriearchitektonische
tiv‹ und ›motivischer Arbeit‹ Schönberg nach Schnittstelle« zu, die in musikhistorisch-mu-
1900 anknüpfen konnte. Seine Zusammenfas- siktheoretischen, musikphilosophischen und
sich durch die Wechselwirkung von kontra- Polth darin, dass Zusammenhänge stärker als
punktischen und harmonischen Verhältnissen, zuvor als dynamisch gerichtet konzipiert und
ohne dass Töne notwendigerweise Motive bil- wahrgenommen werden. Grundlage dafür sei,
den müssten (207f.). Anschließend erläutert so Polth, eine »Inszenierung von Strukturen«,
Polth die Differenzierung zwischen ›Struk- die entscheidend auf unterschiedlichen Mög-
tur‹ und ›Motiv‹; letzteres klassifiziert er als lichkeiten beruht, mittels Motiven metrische
›kategoriale[n] Mischbegriff‹, in dem »funkti- Dispositionen des Tonsatzes erfahrbar zu ma-
onale, ungesättigt-funktionale und non-funk- chen.
tionale Momente« aufeinandertreffen (211). Blickt man von Polths Studie auf die Ge-
Entscheidend für die Problemstellung ist der samtheit der Beiträge zurück, so werden Stär-
Umstand, dass im Motiv als Gestalt Rhyth- ken und Schwächen des Bandes gleicherma-
mus und melodische Kontur zwar »auf die ßen deutlich. Polths Überlegungen sind über
systemischen Qualitäten der Metrik bezogen seine genuinen Einsichten in Funktionsweise
sind«, ein vollständig-definierter Zusammen- und Konnex von Motiv, Thema und musika-
hang aber erst mit der Fixierung der Tonhöhen lischem Zusammenhang hinaus eine Demons-
entstehe (ebd.). Zur weiteren Klärung erörtert tration davon, über welches Potenzial Begriffs-
Polth die Differenzen zwischen »Motiv-Sein« und Konzeptionsanalysen musiktheoretischer
und »Struktur-Sein« für die Bildung musika- Denkweisen verfügen – insbesondere auch für
lischen Zusammenhangs (212f.), sowie die unsere aktuellen Diskurse. Die vielfach wert-
»Funktion der Riemann-Motive aus Schenke- vollen kulturwissenschaftlich und historisch-
rianischer Sicht« (213–215). Polth legt seine musiktheoretisch ausgerichteten Beiträge des
theoretischen Überlegungen anschließend Bands hätten möglicherweise ein schärferes
an Beispielen dar und ergänzt sie um weitere Bild zu zeichnen vermocht, wenn die Autoren
Aspekte (›motivische Singularität‹ vs. ›Struk- immer konsequent mit einer vergleichbaren
tur-Typen‹, 215–218; ›Subthematik‹, 219f.). argumentativen Schärfe und Differenziert-
Im Abschnitt »›Thema‹ und Formfunktion« heit vorgegangen wären. Dennoch darf die
entwickelt und demonstriert Polth die These, Konzeption des Sammelbands als äußerst
dass ein Thema, welches wie ein Motiv ein gelungen bezeichnet werden, handelt es sich
›ungesättigter Funktionsbegriff‹ sei (221), erst doch um den erfolgreichen Versuch, die his-
durch seine spezifische Stellung im tonalen torischen und kulturellen Dimensionen eines
Ablauf seine besondere thematische Funktion gängigen Konzeptes aufzuzeigen und gleich-
gewinne (222–225). Seine Überlegungen fasst zeitig musikhistorische und musiktheoretische
Polth im Abschnitt »›Kollokationen‹ bei Beet- Perspektiven aufeinander zuzuführen.
hoven« zusammen. Die tendenzielle neue
Qualität von Beethovens Kompositionen sieht Felix Wörner
Literatur
Blumröder, Christoph von (1991), »Themati- Brodbeck, David (2014), Defining Deutsch-
sche Arbeit, motivische Arbeit«, in: Hand- tum. Political Ideology, German Identity,
wörterbuch der musikalischen Termino- and Music-critical Discourse in Liberal Vi-
logie, hg. von Hans Heinrich Eggebrecht enna, New York: Oxford University Press.
und Albrecht Riethmüller, Stuttgart: Stei- Dunsby, Jonathan (2002), »Thematic and Mo-
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