Der Name Carl Gustav Jung taucht immer wieder auf, wenn die
Logotherapie erörtert wird. Z.B. der Frankl-Schüler Uwe Böschemeyer
verbindet in seiner Therapie bewusst die Logotherapie und Jungs
analytische Psychologie. Auch bei mir persönlich haben die Studien über
Viktor Frankl das Interesse gegenüber Jung geweckt, weshalb ich gut
verstehen kann, warum so mancher Logotherapeut den Blick gegen
Zürich richtet. Mit diesem Artikel möchte ich teils die Gemeinsamkeiten
zwischen Frankl und Jung beleuchten, teils einer Grenzziehung
nachstreben.
Carl Gustav Jung (1875–1961) arbeitete seit dem Jahr 1907 eng mit
Sigmund Freud zusammen. Der 19 Jahre ältere Freud sah Jung als
seinen Kronprinzen, als seinen „lieben Sohn und Nachfolger“: „…Sie
werden als Joshua, wenn ich der Moses bin, das gelobte Land der
Psychiatrie, das ich nur aus der Ferne erschauen darf, in Besitz
nehmen.“ (Freud/Jung: Briefwechsel: S. 29, 218, 379, 542.) Jung, der
Sohn eines reformierten Pfarrers, war der erste nicht-jüdische
hervorragende Psychoanalytiker. Die Zusammenarbeit mit Freud hatte
im Jahr 1913 aufgehört, da die Meinungsverschiedenheiten zwischen
den Männern nicht mehr zu überbrücken waren. Dadurch ergibt sich das
erste gemeinsame Element zwischen Jung und Frankl, der auch in
seiner Jugend mit Freud in Verbindung gestanden war. Dieser ließ im
Jahr 1924 Frankls ersten Artikel über eine psychologische Fragestellung
veröffentlichen („Zur mimischen Bejahung und Verneinung“:
Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse 10: S. 437–438). Frankl hat
Freud nur ein Mal – auf der Straße – getroffen, also kann man nicht von
einer Zusammenarbeit sprechen. Diese Gemeinsamkeit ist aber mit
einer anderen verbunden: Frankl hat Freud harsch kritisiert, hat ihn aber
trotzdem hoch geschätzt. Freud war der Riese, auf dessen Schultern er
saß. (Ärztliche Seelsorge: S. 10.) Dass Jung sich von Freud distanziert
hat, bedeutet keineswegs, dass er dessen Errungenschaften abgewertet
hätte. Er hatte eine Einseitigkeit bei Freud festgestellt, aber
hervorgehoben, dass dies nicht als Tadel aufzufassen sei: „Wir müssen
im Gegenteil froh sein, dass es Männer gibt, die den Mut zur
Maßlosigkeit und Einseitigkeit haben. Sie sind die, denen wir
Entdeckungen verdanken.“ (Gesammelte Werke [unten GW] 4: § 241.)
Ein anderer Grund zur Distanzierung Jungs von Freud war ihm zufolge
dessen ablehnende Haltung gegenüber Religion. Jung glaubte fest an
Gott, war zwar in den ersten Jahren der Zusammenarbeit dabei, sich die
Auffassung von der Unvereinbarkeit der Psychoanalyse mit der Religion
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Auf diesem Hintergrund könnte man annehmen, dass Frankl und Jung in
irgendeiner Verbindung gestanden hätten, da sie doch nicht sehr entfernt
voneinander lebten. Sie haben sich jedoch niemals getroffen. Frankl
weist in seinen Büchern einige Mal auf Jung hin, dem er vorwirft, „die
unbewusste Religiosität wiederum ins Es-hafte abgebogen zu haben.“
Der Jungschen Psychologie zufolge sei „die unbewusste Religiosität
etwas wesentlich Triebhaftes;“ dem Frankl entgegen hält, dass echte
Religiosität Entscheidungscharakter habe. „Damit wird die Religiosität
durchaus zu einer Angelegenheit des menschlichen Psychophysicums –
während sie doch in Wahrheit eine Angelegenheit des Trägers dieses
Psychophysicums ist, nämlich der geistigen Person.“ (Der unbewusste
Gott: S. 58-59.) Bei Jung gibt es Abschnitte, die als Erwiderungen dieser
Kritik aussehen, obwohl Frankl nicht namentlich genannt wird (ich bin in
Jungs Schriften niemals auf den Namen Frankl gestoßen):
Was uns bekannt ist betreffend Jungs Beziehung zur Religion, ist sie
meines Erachtens von seinem Krieg an zwei Fronten gekennzeichnet. Er
musste sich gegen Kritik obiger Art verteidigen sowie gegen solche, die
ihm vorwarf, die Psychologie in Religion umzuwandeln. Seine
Denkweise erschließt sich durch seine Antwort in einem
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Jungs Idee von Gott als einem Teil der psychischen Struktur des
Menschen ähnelt Frankls Gedanken von der Gleichheit des Gewissens
und Gottes:
Das Gewissen hat seine „Stimme“ und „spricht“ zu uns – ein unleugbarer
phänomenaler Tatbestand. Das Sprechen des Gewissens ist jedoch
jeweils ein Antworten. Hier erweist sich der religiöse Mensch
psychologisch gesehen als einer, der zum Gesprochenen den Sprecher
hinzu erlebt, also gleichsam hellhöriger ist als der Nichtreligiöse: In der
Zwiesprache mit seinem Gewissen – in diesem intimsten
Selbstgespräch, das es gibt – ist ihm sein Gott der Partner. (Ärztliche
Seelsorge: S. 73.)
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Wann immer wir ganz allein sind mit uns selbst, wann immer wir in letzter
Einsamkeit und in letzter Ehrlichkeit Zwiesprache halten mit uns selbst,
ist es legitim, den Partner solcher Selbstgespräche Gott zu nennen –
ungeachtet dessen, ob wir uns nun für atheistisch oder gläubig halten.
[…] Denn sollte es Gott geben, so bin ich sowieso davon überzeugt,
dass er es nicht weiter übelnehmen wird, wenn ihn jemand mit dem
eigenen „Selbst“ verwechselt und ihn daraufhin einfach umbenennt. (Der
unbewusste Gott: S. 114–115.)
Die Anschauungen Frankls und Jungs sind also ziemlich ähnlich. Ein
Unterschied dürfte darin bestehen, dass Frankl das Gewissen mit der
geistigen Dimension des Menschen verbindet, während Jungs
Ausgangspunkt nicht ein derartiges trichotomisches Menschenbild ist.
Man kann sich zwar auch vorstellen, dass Jungs Anschauung auf die
Beziehung der seelischen Dimension zu Gott bezogen ist, ohne eine
Stellungnahme zur geistigen. Die folgenden Zitate von Frankl und Jung
sprechen für sich selbst:
Ein Problem für sich ist es jedoch, was mit den faktisch nicht-religiösen
Menschen geschehen soll, wenn sie sich, lechzend nach einer Antwort
auf jene Fragen, die sie zutiefst bewegen, nun einmal an den Arzt
wenden (Ärztliche Seelsorge: S. 217.)
Unter allen meinen Patienten jenseits der Lebensmitte, das heißt jenseits
35, ist nicht ein Einziger, dessen endgültiges Problem nicht das der
religiösen Einstellung wäre. […] keiner ist wirklich geheilt, der seine
religiöse Einstellung nicht wieder erreicht… (GW 11: § 509.)
Die Psychoneurose ist im letzten Verstande ein Leiden der Seele, die
ihren Sinn nicht gefunden hat (GW 11: § 497).
Die Erwähnungen vom Sinn sind in Jungs Schriften ab dem Beginn der
1930erjahren zu belegen, während Frankl zum ersten Mal in seinem im
Jahr 1925 erschienenen Artikel „Psychotherapie und Weltanschauung“
(Internationale Zeitschrift für Individualpyschologie) darauf hingewiesen
hat, woher es also nicht völlig ausgeschlossen ist, dass Jung diese Idee
von ihm übernommen hatte.
Jung konnte sich auch in einer Weise äußern, die sehr Frankls
Gedanken über Selbsttranszendenz ähnelt:
Und die Erfahrung gab mir insofern recht, als ich des öfteren sah, wie
Menschen ein Problem einfach überwuchsen, an dem andere völlig
scheiterten. Dieses „Überwachsen“, wie ich es früher nannte, stellte sich
bei weiterer Erfahrung als eine Niveauerhöhung des Bewusstseins
heraus. Irgendein höheres und weiteres Interesse trat in den
Gesichtskreis, und durch diese Erweiterung des Horizontes verlor das
unlösbare Problem die Dringlichkeit. Es wurde nicht in sich selber logisch
gelöst, sondern verblasste gegenüber einer neuen und stärkeren
Lebensrichtung. Es wurde nicht verdrängt und unbewusst gemacht,
sondern erschien bloß in einem anderen Licht, und so wurde es auch
anders. Was auf tieferer Stufe Anlass zu den wildesten Konflikten und zu
panischen Affektstürmen gegeben hätte, erschien nun, vom höheren
Niveau der Persönlichkeit betrachtet, wie ein Talgewitter, vom Gipfel
eines hohen Berges aus gesehen. Damit ist dem Gewittersturm nichts
von seiner Wirklichkeit genommen, aber man ist nicht mehr darin,
sondern darüber. (GW 13: § 17.)
Und nur in dem Maße, in dem der Mensch solcherart sich selbst
transzendiert, verwirklicht er auch sich selbst; im Dienst einer Sache –
oder in der Liebe zu einer anderen Person! Mit anderen Worten: ganz
Mensch ist der Mensch eigentlich nur dort, wo er ganz aufgeht in einer
Sache, ganz hingegeben ist an eine andere Person. Und ganz er selbst
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Zur Vollendung des Lebens gehört das Gleichgewicht mit dem Tode.
Wenn ich den Tod annehme, dann ergrünt mein Baum, denn das
Sterben steigert das Leben. […] Wie sehr bedarf unser Leben des
Todes! Die Freude an den kleinsten Dingen kommt dir erst, wenn du den
Tod angenommen hast. […] Ohne den Tod wäre das Leben sinnlos,
denn das Langwährende hebt sich selbst wieder auf und leugnet seinen
eigenen Sinn. Um zu sein und deines Seins zu genießen, bedarfst du
des Todes, und die Beschränkung bewirkt, dass du dein Sein erfüllen
kannst. (The Red Book: liber secundus: S. 31 des Faksimiledrucks.)
Frankl schreibt in der „Ärztlichen Seelsorge“ über den Sinn des Todes:
Denn was geschähe, wenn unser Leben nicht endlich in der Zeit,
sondern zeitlich unbegrenzt wäre? Wären wir unsterblich, dann könnten
wir mit Recht jede Handlung ins Unendliche aufschieben, es käme nie
darauf an, sie eben jetzt zu tun, sie könnte ebenso gut auch erst morgen
oder übermorgen oder in einem Jahr oder in zehn Jahren getan werden.
So aber, angesichts des Todes als unübersteigbarer Grenze unserer
Zukunft und Begrenzung unserer Möglichkeiten, stehen wir unter dem
Zwang, unsere Lebenszeit auszunützen und die einmaligen
Gelegenheiten – deren „endliche“ Summe das ganze Leben dann
darstellt – nicht ungenützt vorübergehen zu lassen. Die Endlichkeit, die
Zeitlichkeit ist also nicht nur ein Wesenmerkmal des menschlichen
Daseins, sondern für dessen Sinn auch konstitutiv. (Ärztliche Seelsorge:
S. 83.)
Das Rote Buch ist zwar keine wissenschaftliche Arbeit, sondern auf
Jungs persönliche „aktive Imagination“ bezogene, nicht zur
Veröffentlichung bestimmte Aufzeichnungen. So ist aber auch der
angeführte Abschnitt der „Ärztlichen Seelsorge“ eher philosophischen als
medizinischen Charakters, obzwar expliziter ausgedrückt als die
Ausführungen Jungs. Auf jeden Fall ist die Ähnlichkeit der Denkweise
der beiden Schriftsteller auffallend.
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Im Jahr 1957 hat Frankl über das Thema Freud, Adler und Jung
vorgetragen. Er leitet seine Auseinandersetzung mit Jung mit
Anerkennung ein: es liege ein großes Verdienst darin, in den frühen
Jahren des 20. Jahrhunderts die Neurose als „das Leiden der Seele, die
nicht ihren Sinn gefunden hat“ zu definieren, gewagt zu haben. Damit ist
es aber Schluss mit der Anerkennung, und weiterhin zitiert Frankl
Kollegen, die Jung harsch kritisiert hatten. Victor E. von Gebsattel, der
Jung „endgültig entlarvt“ habe, vermisse im Jungschen Bild vom
Menschen „die Person als die überpsychologische Instanz“, die allein
vermöge, „auch in dem Chaos der ihr vom Unbewussten angebotenen
religiösen Motive und ‚inneren Erfahrungen‛ Ordnung zu stiften, indem
sie annehme und verwerfe.“ „Schmid” zufolge sei die analytische
Psychologie zur Religion geworden, wobei die Archetypen die neuen
Götter seien. Die Transzendenz werde sogar in die biologische
Immanenz hereingenommen, da sie sich mit der Hirnstruktur vererben.
(Das Leiden am sinnlosen Leben, S. 41–43.)
Diese Kritik, die Frankl eigentlich andere aussprechen lässt, ist mit der
schon anfangs angeführten Kontroverse (soweit es um eine solche geht)
darüber verbunden, in welche menschliche Dimension die Religiosität
gehöre. Möglicherweise haben Frankl und Jung nebeneinander
gesprochen; vielleicht hätte Jung antworten können, dass er die Person
als eine überpersönliche Instanz keineswegs ausschließen wollte, sich
aber gezielt auf die niedrigeren Dimensionen des Menschen konzentriert
hat. Betreffend Freud schreibt Frankl, dass er allzu genial war um sich
nicht dessen bewusst zu sein, dass er seine Forschung auf das
Untergeschoss, die tieferen Schichte, die niedrigeren Dimensionen des
Menschseins begrenzt hatte. In einem Brief an Ludwig Binswanger hat
Freud geschrieben: „Ich habe mich immer nur im Parterre und Souterrain
des Gebäudes aufgehalten.“ (The Will to Meaning, S. 10; Ärztliche
Seelsorge, S. 33–34.) Dies hat Frankl doch nicht daran gehindert,
ausgerechnet eine solche Begrenzung zu kritisieren, besonders bei
Freud. Jung scheint er jedoch nicht eine solche Bewusstheit zugemutet
zu haben.
als er im Unbewussten auch Dinge, die nicht nur sexuell waren, sondern
bis ins Religiöse hinein den ganzen Menschen betrafen, an das
Tageslicht gehoben hat: den Archetypus.“ Er lobt Jung wie vormals
dafür, die These geäußert zu haben, „die Neurose sei das Leiden der
Seele, die nicht ihren Sinn gefunden hat.“ Zwar habe er „es
psychologistisch abgebogen, aber es war eine Pioniertat sondergleichen,
die mit Recht in eine Reihe gestellt werden oder angereiht werden kann
der großen Tat von Sigmund Freud und der folgenden Leistung von
Alfred Adler.“ (Im Anfang war der Sinn: S. 13.)
Schlussfolgerung
Risto Nurmela
Quellen:
Viktor E. Frankl
Im Anfang war der Sinn. Von der Psychoanalyse zur Logotherapie. Ein
Gespräch. München 1997.
The Red Book. Liber novus. Edited by Sonu Shamdasani. New York
2009.