Il-Tschung Lim
Daniel Ziegler Hrsg.
Herausgegeben von
J. Ahrens, Gießen, Deutschland
J. Bonz, Innsbruck, Österreich
M. Hamm, Graz, Österreich
U. Vedder, Berlin, Deutschland
Kultur gilt – neben Kategorien wie Gesellschaft, Politik, Ökonomie – als eine
grundlegende Ressource sozialer Semantiken, Praktiken und Lebenswelten. Die
Kulturanalyse ist herausgefordert, kulturelle Figurationen als ebenso flüchtige wie
hegemoniale, dynamische wie heterogene, globale wie lokale und heterotope Phä-
nomene zu untersuchen. Kulturelle Figurationen sind Produkt menschlichen Zu-
sammenlebens und bilden zugleich die sinnstiftende Folie, vor der Vergesellschaf-
tung und Institutionenbildung stattfinden. In Gestalt von Artefakten, Praktiken und
Fiktionen sind sie uneinheitlich, widersprüchlich im Wortsinn und können doch
selbst zum sozialen Akteur werden. Die Reihe „Kulturelle Figurationen: Artefakte,
Praktiken, Fiktionen“ untersucht kulturelle Phänomene in den Bedingungen ihrer
Produktion und Genese aus einer interdisziplinären Perspektive und folgt dabei
der Verflechtung von Sinnzusammenhängen und Praxisformen. Kulturelle Figu-
rationen werden nicht isoliert betrachtet, sondern in ihren gesellschaftlichen Situ-
ierungen, ihren produktionsästhetischen und politischen Implikationen analysiert.
Die Reihe publiziert Monographien, Sammelbände, Überblickswerke sowie Über-
setzungen internationaler Studien.
Herausgegeben von
Prof. Dr. Jörn Ahrens Dr. des. Marion Hamm
Universität Gießen Karl-Franzens-Universität Graz
Deutschland Österreich
PD Dr. Jochen Bonz Prof. Dr. Ulrike Vedder
Universität Innsbruck Humboldt-Universität zu Berlin
Österreich Deutschland
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Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
Schmetterlingseffekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
Wissenschaft, Utopie und Dystopie in I am Legend
Sina Farzin
Contagio cine qua non oder wie Al Gore die Zukunft in Brand steckte . . 87
Zukunftswissen im Filmszenario
Jules Buchholtz und Philipp Schulte
V
VI Inhaltsverzeichnis
Die Beiträge des vorliegenden Bandes fragen nach den sozial- und kulturwissen-
schaftlichen Perspektiven einer gesellschaftlichen Reflexion von Krisen und kri-
senhaften Ereignissen im Medium des fiktionalen Films. Ihnen gemeinsam ist die
Annahme, dass Krisen nicht einfach in einer unzweideutig vorliegenden phänome-
nalen Realität gegeben sind, sie jedoch auch nicht lediglich diskursive Konstruk-
tionen ohne eine eigene Materialität darstellen. Krisen werfen nicht nur Probleme
ihrer operativen Bearbeitung auf, sondern konfrontieren Gesellschaften vor allem
auch mit einem Beobachtungs- und Darstellungsproblem. Was wird wann und von
wem als eine Krise bezeichnet? Welche Vorstellungen, Konzepte, Begriffe, Narra-
tive oder Bilder von Krisen zirkulieren in der Gesellschaft? Wie wird die Krise als
ein Wissensobjekt konstituiert? Mit diesen Fragen rücken die spezifischen Verfah-
ren und Prozeduren in der Bezeichnung und Repräsentation von gesellschaftlichen
Krisen in den Mittelpunkt der Analyse – und somit auch die jeweiligen Repräsenta-
tionsmedien, in denen sich die Krisenreflexionen ausdrücken.
Ein hinsichtlich seiner Reichweite und Anschlussfähigkeit zentrales kulturelles
Reflexionsmedium stellt der Film dar, dessen Qualitäten in der Beobachtung von
Krisen im Mittelpunkt des vorliegenden Bandes stehen. Die narrativen und ästheti-
schen Strategien filmischer Artefakte machen gesellschaftliche Krisendynamiken
und Krisenereignisse vorstellbar, darstellbar und auch antizipierbar. Hierin liegt
das ästhetisch-epistemologische Potenzial, das die Beiträge dieses Bandes den je-
weils diskutierten Filmen zurechnen. Eine soziologische Beobachtung gesellschaft-
licher Krisenphänomene als Filmanalyse behauptet demzufolge einen ästhetischen
Eigensinn filmischer Artefakte; sie fragt nach dem Informationswert filmischer
Krisensemantiken ebenso wie nach ihren spezifisch kinematografischen Mittei-
lungsverfahren und den Verstehensprozessen in konkreten Rezeptionsumgebungen.
Für eine soziologische Beobachtung von Filmen als Krisenanalyse hingegen, ist das
Versprechen eines epistemologischen Ertrags, der sich soziologisch abschöpfen lie-
1
2 Einleitung
ße, offen und erklärungsbedürftig. Denn worin der soziologische Mehrwert filmfik-
tionaler Krisendarstellungen liegt, ist eine Frage, die eine Klärung (oder zumindest
Selbstverständigung darüber) jener ganz anders lautenden Frage zur Voraussetzung
haben dürfte, ob nämlich kultursoziologische Filmforschung den Film als Thema
oder als Ressource begreift. Gemessen an der Elle dieser alten ethnomethodolo-
gischen Differenzierung wäre dann vielleicht auch ein produktives Kriterium zur
Identifikation einer kultursoziologischen Filmforschung gewonnen.
Aufgeworfen ist damit ein Problemhorizont, der auf den ersten Blick über das
Thema des vorliegenden Bandes hinausgeht und dabei sehr grundsätzliche Her-
ausforderungen für die fachliche Identität einer Filmsoziologie anspricht. In der
Forschungspraxis stellt sich die Frage nach der Besonderheit der Probleme, die
filmsoziologisch gestellt und gelöst werden, aber praktisch von selbst – zumindest
in all jenen filmsoziologischen Perspektiven, deren Anliegen es ist, Filme als eine
wichtige Instanz der Wissensproduktion für den soziokulturellen Selbstverständi-
gungsprozess zeitgenössischer Gesellschaften zu qualifizieren.
Insofern die hier versammelten Beiträge diesen Anspruch verfolgen, reagieren
sie, wenngleich auch zumeist implizit, auf die Feststellung einer ganz anderen Art
der Krise, die nicht auf das Beobachtete in der Filmsoziologie, sondern vielmehr auf
ihre Beobachterin abzielt. Dieser Wechsel von der Beobachtung zur Beobachterin
der Krise ist im Anschluss an C. W. Mills im soziologischen Fachdiskurs vielfach
als eine Krise der soziologischen Imagination beschrieben worden. Für diese Kri-
sendiagnose lassen sich Ursachen benennen, die von einem szientifistischen Glaube
an die Objektivität der Soziologie, über eine in der Profession stark ausgeprägten
Orientierung an quantitativen Methoden und der Entwicklung zu spezialdiskur-
siven Publikationsstrategien (Journals) bis hin zu der generellen Abwertung von
narrativen Rhetoriken als einem als unwissenschaftlich delegitimierten Sprachge-
brauch reichen. Und selbst theoretische Strömungen wie der Poststrukturalismus,
im Zuge dessen nicht zuletzt auch schlichte Repräsentationstheorien suspendiert
wurden, dürften ihren Anteil daran gehabt haben, dass auch noch der letzte Wirk-
lichkeitsrest eskamotiert wurde, den man im Filmmedium aufbewahrt sah.
Die soziologische Nutzbarmachung von Film wäre dagegen ein heuristischer
Ansatzpunkt, auf das Defizit an soziologischer Einbildungskraft und Darstellungs-
kompetenz zu reagieren. In vielerlei Hinsicht teilt die Filmsoziologie dabei das
Schicksal der Literatursoziologie, insofern auch die Rede von einer Filmsozio-
logie erst einmal Skepsis innerhalb der Disziplin aufkommen lässt, bevor ihre
Möglichkeiten überhaupt erwogen werden. Die Beiträge des vorliegenden Bandes
sind dementsprechend als Explorationen im Feld der Möglichkeiten soziologischer
Krisen-Expertise zu verstehen, die gleichzeitig mehr sein wollen als das bloß am-
plifikatorische Appendix soziologischer Erklärung.
Einleitung 3
ry Gilliams 12 Monkeys (1995) sowie Andy und Larry Wachowskis The Matrix
(1999), die vor dem Hintergrund moderner Selbstkonzepte fokussiert werden. Die
Post-Apokalypse ermöglicht dabei Einblicke in das kulturelle und gesellschaftliche
Selbstverständnis von Konzepten des Selbst und der Krise des modernen Selbst, die
sich in den filmisch dargestellten Helden manifestiert. Ebenso wie die im Vorange-
gangenen thematisierten Spielfilme greift auch der Dokumentarfilm auf Nicht-Wis-
sen zurück, das in Bezug auf die Auseinandersetzung mit krisenhaften Situationen
äußerst wirkmächtig erscheint. Jules Buchholtz und Philipp Schulte untersuchen
ebendiese Funktionen von prekären Zukunftsszenarien, in denen eine mögliche Be-
drohung die Zuschauer zum gegenwärtigen Handeln animiert. Das Szenario stellt
dabei eine Verbindung zwischen Gegenwart und Zukunft und damit auch zwischen
Realität und Fiktion her und ermöglicht es Krisen und Katastrophen filmisch durch-
zuspielen. Im Mittelpunkt des Beitrags steht die Analyse des Dokumentarfilms An
Inconvenient Truth (2006), in dem Al Gore vor globaler Klimaerwärmung warnt.
Unter Zuhilfenahme melodramatischer Elemente generiert der Film eine Schick-
salsgemeinschaft, die mit einer externalisierten und eindeutig identifizierbaren Be-
drohung konfrontiert wird, so dass die Gegenwart und ihre Akteure in eine Krise
geraten, aus der es sich zu befreien gilt.
Neben den unterschiedlichen, mitunter konkurrierenden Perspektiven filmischer
Interpretationen lässt sich feststellen, dass die Rolle der Film- bzw. Bildproduzentin-
nen innerhalb der Filmsoziologie wenig Beachtung findet. Einen aufschlussreichen
Einblick hinter die Kulissen der Bildproduktion respektive der Postproduktion, der
das Spannungsverhältnis zwischen Visual-Effects-Artists, ihren Auftraggebern und
den Zuschauern entlang der Frage nach Bildwissen und der Expertise des Sehens
thematisiert, bietet der Beitrag von Ronja Trischler. Dabei fokussiert Trischler auf
visuelle Postproduktionen für Film und Fernsehen, bei denen die Artists im Krea-
tionsprozess zwischen medialen und realen Bildern vermitteln, so dass schließlich
ein glaubhaftes, den Ansprüchen der Auftraggeber entsprechendes (Film-)Bild ent-
steht. Anhand von Interviews mit Visual-Effects-Artists zeigt Trischler die Schwie-
rigkeiten im Kreationsprozess auf, die auf ein grundlegendes Referenz- bzw. Reprä-
sentationsproblem einer sozial wie kulturelle geformten Wirklichkeit zurückgehen.
Dirk Medebach untersucht die filmische Auseinandersetzung mit Demenz am
Beispiel von Erik van Looys Thriller Totgemacht – The Alzheimer Case (2003).
Unter Rückgriff auf figurationssoziologische Theorien arbeitet Medebach die
Interdependenzen zwischen den verschiedenen Filmcharakteren heraus und zeigt
schließlich, inwieweit zentrale Aspekte der Demenzerkrankung sowohl filmtech-
nisch als auch narrativ umgesetzt werden. Von zentraler Bedeutung ist hierbei,
dass Demenz eher als individuelle Lebenskrise betrachtet werden muss, die durch
Minderung der eigenen Interaktionsfähigkeit gekennzeichnet ist und die nur in
Einleitung 5
Der Sammelband geht zurück auf die Ringvorlesung „Kino und Krise“, die im
Wintersemester 2014/2015 am Institut für Soziologie der Justus-Liebig-Universität
Gießen stattgefunden hat. Die Herausgeber bedanken sich bei allen Autorinnen und
Autoren dieses Bandes; unser Dank gilt ferner Anja Peltzer, Daniel Suber und Uwe
Wirth für ihre Beiträge zu der Ringvorlesung, Cori Antonia Mackrodt und Katha-
rina Vontz von Springer VS für die reibungslose Kommunikation, Jörn Ahrens für
die finanzielle Unterstützung der Ringvorlesung durch den Arbeitsbereich Kultur-
soziologie des Instituts für Soziologie der Justus-Liebig-Universität Gießen, den He-
rausgebern der VS-Reihe „Kulturelle Figurationen“ für die Aufnahme des Bandes
in die Reihe sowie den zahlreichen Studierenden für ihre Teilnahme an der Ring-
vorlesung. Felix Schütte danken wir für die redaktionelle Durchsicht der Beiträge.
Fehmi Akalin
1 Einleitung
Bei der Behandlung des Themenkomplexes ‚Kino und Krise‘ assoziiert man zu-
nächst wohl die nahezu seit Bestehen des Mediums aufgestellte Diagnose, wonach
das Kino in der Krise stecke, weil z.B. die Zuschauerzahlen stetig zurückgingen
und das Verbreitungsmedium Kino längst kein Monopol mehr auf die Distribution
der Kommunikationsform Spielfilm besitze: angestoßen zuerst durch den Sieges-
zug des Mediums Fernsehen, dann der Videokassette, der DVD, des HD-Fernse-
hens, zuletzt der Internetpiraterie usw. Man könnte in diesem Falle dann der Frage
nachgehen, wie die Kinobranche versucht hat und fortlaufend versucht, diesem
offenbar stets virulenten Problem zu begegnen, etwa indem sie innovative Dar-
bietungsformen erprobt, welche die Konkurrenzmedien nicht (oder noch nicht)
angemessen oder zufriedenstellend ausbeuten können. Kinogeschichte als Krisen-
geschichte ließe sich in dieser Optik schreiben als Krisen-induzierte, technisch
flankierte Erfolgsgeschichte: vom Tonfilm über den Farbfilm und den Breitwand-
film bis hin zum 3D-Film und dem digitalen Film.
Je nach Beobachterstandpunkt könnte man diese durchaus positiv konnotierte
technische Fortschrittsgeschichte aber auch in ihr Gegenteil verkehren und von exakt
denselben Faktoren ausgehend, exakt dieselben Entwicklungsphasen nachzeichnend,
sie als Geschichte eines Niedergangs umschreiben: so etwa als Krise des Erzählfilms.
Aus soziologischer Sicht stellt sich die Frage, ob das Phänomen ‚Krise‘ so be-
stimmt werden kann, dass es eine distinkte Form der Kommunikation darstellt, die
sich in sachlicher, zeitlicher und sozialer Hinsicht von anderen Kommunikations-
formen abgrenzen lässt. Die folgenden Ausführungen gehen davon aus, dass die
Krisenkommunikation in der Tat mit je spezifischen Unterscheidungen entlang der
genannten Sinndimensionen beobachtet werden kann.
‚Flirting with disaster‘ 9
von Entscheidungen. Indem sie dies feststellt, pflegt die Soziologie als Beobachter
höherer Ordnung eine nüchterne und analytische, zumindest eine entdramatisie-
rende Haltung zum Krisenphänomen.
Anders dagegen der Krisendiskurs in den populären Medien, die zur Drama-
tisierung neigen, auf folgenreiche Handlungen drängen und Krisen bevorzugt als
Konflikte inszenieren (vgl. Luhmann 1998, S. 1099f.) Um der selten reflektierten
Beobachtung, dass zwischen den Begriffen ‚Krise‘ und ‚Katastrophe‘ auffallend
häufig eine Affinität hergestellt wird und beide Terme häufig zueinander in Re-
lation gesetzt werden, eine konkrete Fassung zu geben, wollen wir uns an einen
Vorschlag von Tanja Busse (1999) anschließen. Busse hat als Bilanz ihrer begriffs-
geschichtlichen Rekonstruktion festgestellt, dass „Krise“ und ‚Katastrophe‘ (bzw.
„Zerstörung“) seit den frühesten mythischen Erzählungen als die ersten beiden
Akte einer dreistufigen „klassische(n) narrative(n) Form“ konzipiert werden, die
der letzten Phase des „Neubeginns“ jeweils vorangehen – dieses Narrativ nennt
sie die „apokalyptische Figur“ (S. 8). Diese habe ein „bestimmtes Welt- und Ge-
schichtsverständnis, das sich durch die Bewertung der Gegenwart als Krisenzeit“
(S. 3) auszeichne und als eine „traditionelle Form der Krisenbewältigung […] der
Erfahrung von Unsicherheit und Bedrohung einen höheren teleologischen Sinn“
verleihe (S. 1), indem sie in Aussicht stelle, dass „aus der Zerstörung des Alten
etwas Neues und Besseres entsteht“ (S. 3). Das apokalyptische Narrativ mit seinem
„radikalen Ende und dem radikalen Neuanfang“ eigne sich besonders gut für Kri-
senerzählungen1, fasziniere es doch durch seine „Totalität im Umgang mit dieser
Krise“ (S. 8).
Dabei verdanke das Narrativ seine Langlebigkeit auch seiner Konvertibilität,
denn es sei nicht an bestimmte kommunikative Gattungen oder Medien gebunden
und könne „in allen Kulturformen“ realisiert werden: in religiösen Schriften eben-
so wie in wissenschaftlichen Abhandlungen, in Zeitungsmeldungen genauso wie
in Kinofilmen, in Romanen und auch in Gemälden (S. 11). Allerdings sei die apo-
kalyptische Figur im historischen Ablauf Transformationen ausgesetzt gewesen:
während sie in mythischen Erzählungen und religiösen Schriften noch als drei-
aktige Komplettnarration verwirklicht worden sei, hätten wissenschaftliche Be-
arbeitungen des Narrativs den „imaginierten und symbolischen Apokalypsen“ der
Religion eine um ihr drittes Element, der „Erwartung des Neuanfangs“, reduzierte
Erzählung des nun sehr wohl „mögliche(n) Weltuntergang(s)“ entgegengesetzt –
um sie nun als „Inferno oder Katastrophe“ zu erzählen (S. 2). Eine Möglichkeit,
die Apokalypse in der Moderne wieder als Komplettnarration zu erzählen, bestehe
zum einen darin, die „Reichweite der Erzählung“ zu flexibilisieren: eine apoka-
lyptische Erzählung kann dann nach den rhetorischen Figuren des ‚pars pro toto‘
bzw. des ‚totus pro parte‘ von „einem einzelnen Menschen, einer Gesellschaft,
allen Menschen oder der gesamten Welt erzählen“ (S. 12).
Eine zweite Alternative bestehe in der Fiktionalisierung bzw. „Transformation
der apokalyptischen Erzählung in die Sphäre von Unterhaltung und Medienerleb-
nis“ (S. 5f.), welche jedoch besser als „Scheinapokalypsen“ beschrieben werden
sollten, da sie sich „apokalyptischer Elemente um des Effektes willen“ bedienten
– wie etwa die „Katastrophenfilme“ (S. 11). Insbesondere das amerikanische Kino
habe „den Weltuntergang und die bedrohte Menschheit“ als Thema aufgegriffen,
was nicht weiter erstaunlich sei, „denn Weltuntergänge sind bedrohliche Situatio-
nen und damit wirkungsvolle dramatische Elemente“ (S. 149). Aber nicht nur in
fiktionalen Gattungen, sondern auch in der „Katastrophenberichterstattung“ werde
auf die „Apokalypse als Verlaufsform und Erklärungsmodell“ rekurriert – und na-
hezu jedes Ereignis zur Katastrophe und damit „zum Zeichen für einen größeren
Untergang“ hochgespielt: „Das Schiff versinkt und die Welt geht unter. Der Rhein
hat Hochwasser und das Weltklima verändert sich. Die Aktien schwanken und die
Weltwirtschaft kollabiert“ (S. 1).
Diese überdramatisierende Form der Krisenerzählung ist jedoch nicht nur ein
Kennzeichen aktueller Berichterstattung, auch ein großer Teil der sich als ge-
sellschaftstheoretisch apostrophierenden Filmforschung greift mit Vorliebe auf
‚Krisenerzählungen‘ zurück. Im Folgenden sollen in diesem Zusammenhang
die beiden Protagonisten von Erzählungen über das Verhältnis von medialer und
außermedialer Realität vorgestellt werden: die Reflex- und die Wirkungshypothe-
se, 2 wobei die Auswahl exemplarischer Texte zu diesen Modellen nach der ex-
ponierten Bedeutung erfolgt, die sie dem Krisenphänomen jeweils beimessen.
2 Zur kritischen Diskussion der Reflex- und Wirkungshypothese am Beispiel der For-
schungsliteratur zum US-Liebesfilm vgl. Akalin 2014; siehe auch Kunczik 1979,
S. 102–113 sowie Lünnemann 1993.
12 Fehmi Akalin
Die Reflexhypothese, die zunächst diskutiert werden soll, sieht in medialen In-
halten, mithin auch in filmischen Texten, Widerspiegelungen außermedialer Er-
eignisse. Die klassische, an materialistischer Ästhetik geschulte Filmforschung
verortet diese Reflexe in der Regel nicht auf der manifesten, sondern vielmehr auf
der latenten Ebene und unterstellt eine Korrespondenz zwischen Medieninhalten
und den zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimmten Gesellschaft herr-
schenden Wertstrukturen.
nis gesetzt werden. Anders formuliert: die lose Kopplung zweier distinkter Ereig-
nisse (die Korrelation von Krisen und Katastrophen-Szenarien) wird nach Maßga-
be eines bestimmten Beobachtungsschemas (hier: ideologiekritische Gender- und
Race-Theorie) unter der Hand in ein festes Kopplungsverhältnis überführt – und
zwar, ohne dass die Kontingenz des eigenen Beobachterstandpunktes reflektiert
würde.
So werden etwa die beiden Klassiker Earthquake (Erdebeben; 1974; R.: Mark
Robson) und The Towering Inferno (Flammendes Inferno; 1974; R.: John Guiller-
min) zunächst jeweils auf ihre Metaphorik und verschlüsselten Strukturierungs-
mechanismen sowie latenten messages hin abgeklopft, sodann zueinander ins Ver-
hältnis gesetzt (die Filme wurden in etwa zeitgleich produziert und aufgeführt)
und schließlich mit sozio-politischen Prozessen im Produktionskontext kurzge-
schlossen. Konkret sieht die Argumentationsstruktur dabei folgendermaßen aus:
Earthquake thematisiere „die Vernichtung der Stadt Los Angeles durch eine als
weiblich konzipierte Erdbeben-Katastrophe“, wobei die „undomestizierten Was-
serfluten, die in die Stadt eindringen“ den „gesellschaftliche(n) Einfluss von nicht
kontrollierbaren politischen Entwicklungen“ symbolisierten (S. 12); letztlich wer-
de hier „das Erdbeben mit dem Weiblichen analogisiert […], das den männlichen
Raum der Stadt Los Angeles vernichtet“ (S. 64). In The Towering Inferno dagegen
sei „das Feuer, welches das männlich markierte Territorium des Hochhauses ver-
nichtet“ (S. 12f.), zu lesen als Metapher „für das Eindringen der emanzipierten
Frau in Männerwelten“ (S. 64). Auf einer höheren Abstraktionsstufe gehe es in bei-
den Filmen „um die Vernichtung von männlich kontrolliertem Raum durch eine
weiblich markierte Katastrophe“ (S. 172). Das Fazit der strikten Kopplung des Er-
gebnisses werkimmanenter Interpretation mit den Krisen im Produktionsumfeld,
mithin: die eigentliche reflexhypothetische Deutung, lautet: „Beide Filme sind in
ihren Gender- und Race-Topographien Ausdruck einer Krise, deren Ursache auf
die feministischen Emanzipationsbewegungen und Rassen-Unruhen der späten
60er und frühen 70er zu beziehen ist.“ (S. 13)
Entsprechend gelangt die Autorin bei ihrem letzten Filmbeispiel, The Day After
Tomorrow (2004; R.: Roland Emmerich), zu dem Schluss, dass der Film „nicht so
sehr von einer Klimakatastrophe“ handele, „sondern von einer männlichen Rück-
eroberung der Stadt New York, die von einer weiblich konnotierten neuen Eiszeit
vernichtet wurde“ (S. 14). Die semantische Kopplung dieser werkinternen Ausle-
gung mit werkexternen Ereignissen kulminiert dann in der Behauptung, dass der
Streifen das „Trauma des Machtverlusts durch die Terroranschläge von 9/11 […]
als Raumverlust“ (S. 173) erzähle, indem er die „weiblich markierte Blitzeis-Ka-
tastrophe aus der Luft […] mit den Terrorangriffen des 11. September analogisiert“
(S. 14).
14 Fehmi Akalin
new representational codes and social attitudes“. (S. 49) In Bezug auf die „crisis
films“ der Siebziger im Allgemeinen, die „disaster films“ im Besonderen sei die
Sachlage jedoch eindeutig.
Unter „crisis films” verstehen die Autoren dabei ganz allgemein jene Filme, die
ein diffuses Unbehagen am status quo der amerikanischen Gesellschaft artikulie-
ren – und auf diese Situation mit Abwehrmechanismen oder kompensatorischen
Lösungsangeboten reagieren. Was waren es nun für Krisen, die in den betreffen-
den ‚crisis films‘ in maskierter Form bearbeitet wurden? Der Untersuchungszeit-
raum der Studie, die siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, wird von den
Autoren im Anschluss an zeitgenössische soziologische Thesen als eine Periode
beschrieben, in der die USA sich einer durch innen- wie außenpolitische und öko-
nomische Krisen induzierten allgemeinen „legitimacy crisis” (S. 49) gegenüber-
sahen, die eine Erosion des Vertrauens in Institutionen und etablierte Herrschafts-
formen nach sich gezogen habe.
Die untersuchten disaster films zeigen für Ryan und Kellner eine „society in
crisis”, die versucht ihre „social and cultural problems” durch Relegitimation
starker männlicher Führungspersönlichkeiten, die Wiederherstellung traditionel-
ler moralischer Standards und die Wiederbelebung klassischer Institutionen wie
der patriarchalisch strukturierten Familie zu lösen (S. 52). Dabei sei keine dieser
tatsächlichen Probleme – „secularism, generational conflict, dissent, feminism“ –
„present on the screen“ (S. 54), aber gerade ihre Abwesenheit bzw. ihre metapho-
rische Maskierung als Erdbeben, Flutwelle, Feuer etc. sei vielsagend, ebenso wie
die Präsenz ihrer Gegenkonzepte. Zudem korrespondiere der Konservativismus
auf latenter Ebene mit einem „narrative of stasis, crisis, and resolution”, das „from
stability to disorder to a series of tests which select out a leader/savior and finally
to transcendence of the disaster“ (ebd.) voranschreite (S. 52).
Alles in allem jedoch entfalten die disaster movies für Ryan und Kellner ihre
eigentliche Wirkung als „therapeutic narratives“, als Beschwichtigungen von Kri-
sen. Als reaktionäre wie radikale Filme stellten sie letztlich „blueprints“ für den
konservativen Rechtsruck der US-Gesellschaft dar (S. 56f.).
ner Wirkungsthese: „Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 ist ein
durchaus brisanter Einfluss Hollywoods auf die realen Weltverhältnisse zutage ge-
treten.“ (S. 15) Die Ursache für die geradezu „explosionsartige Sinnproduktion“,
die man danach auch und gerade unter Rückgriff auf filmische Fiktionen habe
beobachten können, sei in der „weitreichenden Unlesbarkeit der Welt und ihrer
Zeichen“ zu finden. (S. 38) Ereignisse wie diese stünden „in Opposition zu All-
tagsroutinen“ und müssten deshalb als „offenkundige Krisen“ der Weltdeutung
begriffen werden (S. 32), als Suche nach „Antwort“, nach „Deutung der tatsäch-
lichen Katastrophe“ (S. 17). Aus Mangel an ‚realen Vorläufern‘, an alternativen
„Quelle[n] der Konkretisierung, der Verbildlichung und Versprachlichung“ hätten
hier Fiktionen, z.B. in filmischer Form, den vakanten Platz der „Ideologie-Er-
zeuger und Ideologie-Beschleuniger“ besetzt (S. 39f.). Damit wird nicht nur das
Kausalschema der Reflexhypothese auf den Kopf gestellt – wie es die Kontroll-
hypothese bereits vorgemacht hatte: Filme reflektieren nicht Ereignisse in ihrer
Umwelt, vielmehr bewirken sie Wirkungen in der Umwelt. Zusätzlich wird auch
in der chronologischen Anordnung des apokalyptischen Narrativs ein Positions-
tausch vorgenommen: nicht mehr Krisen gehen Katastrophen voran, sondern Ka-
tastrophen (in Form der Terroranschläge vom 11. September) führen zu Krisen
(der Wirklichkeitsdeutung).
Vor allem unter Bezugnahme auf das Paradebeispiel des Feuilletons im Struk-
turvergleich von 9/11 und Hollywood, Roland Emmerichs Katastrophenfilm Inde-
pendence Day (1998; R.: Roland Emmerich)3, stellt Scheffer die rhetorische Frage:
„Hat Hollywood weit über den einzelnen Film hinaus eine prophetische, geradezu
spiritistische Medienproduktion?“ (S. 15; Hervorh. FA) Habe man es in diesen
„apokalyptischen Szenarien“ etwa mit einer „Vorwegnahme“ zu tun, gar mit einer
Projektion dessen, „was den USA droht, wenn sie so agieren, wie sie nun einmal
agieren?“ (ebd.)
Im Folgenden diskutiert der Autor drei Ansätze, um die „scheinbar spektakulä-
ren Ähnlichkeiten zwischen filmischen und realen Geschehen zu erklären“ (S. 31),
von denen die ersten beiden jedoch relativiert werden mit der Begründung, sie
seien „unter-komplex“ (S. 30). Eine erste Erklärung würde etwa alle Ähnlichkeiten
zwischen Fiktion und Realität auf puren Zufall zurückführen und die „Behaup-
tung von ‚Übereinstimmungen‘“ als „Täuschung“ betrachten, als „nachträglich
hergestellt[e]“ Interpretation nach dem Muster von Horoskopen, bei denen man
3 Independence Day wirke „über weite Strecken jetzt wie eine technisch verbesserte
Dokumentation der tatsächlichen Anschläge vom 11. September – angesichts der Bil-
der von brennenden und einstürzenden Hochhäusern in New York und von Menschen,
die der Katastrophe zu entkommen versuchen.“ (S. 16)
18 Fehmi Akalin
hält er zwar an der dezidierten Unterscheidbarkeit von Fiktion und Realität fest –
dies allerdings nur, um darauf aufbauend und umso nachdrücklicher eine schein-
bar längst vollzogene „Hollywoodisierung des Realen“ (S. 42) zu behaupten. Und
spätestens dann, wenn diese gleichgesetzt wird mit der „Fiktionalisierung des
Realen“ (ebd.), wird deutlich, dass es letztlich ein fundamentaler Unterschied ist,
der Scheffers Aufsatz konsequent durchzieht: jener zwischen dem Fiktionalen und
dem Realen. Dieser ontologische Reduktionismus, die exklusive Beschränkung
des Films auf seinen vermeintlich fiktionalen Status7, führt in letzter Konsequenz
auch zu Behauptungen wie: „Hollywood steht für eine regressive, oft infantile My-
thisierung der Welt, allein schon dadurch, dass es — allemal entsetzlich unterkom-
plex — überschaubare Konflikte und simpel polarisierte Akteure schafft.“ (S. 38)
Ja mehr noch: Hollywood liefere „fortlaufend ‚Opium fürs Volk‘“ (S. 40).8
Dass es in der Filmkommunikation um etwas anderes gehen könnte als um ge-
scheiterte Wiedergaben des Realen, unterkomplexe Wirklichkeitskonstruktionen
oder kollektive Halluzinationen, kann im Rahmen dieses Ansatzes, der von der
Gleichsetzung von Film und Fiktionalität ausgeht und deshalb ausschließlich am
Verhältnis filmischer und außerfilmischer Zeichen interessiert ist, freilich nicht in
den Blick geraten.
7 Zur Kritik an fiktionstheoretischen Definitionen des Films vgl. Akalin (2012, S. 62f.).
8 Zu dieser bombastischen Krisenerzählung passt, dass Scheffer dieser Krise des Realen
‚Produktives‘ abgewinnen kann: getreu der dritten Komponente des apokalyptischen
Narrativs, dem Neubeginn, erblickt er in der Fiktionalisierung des Realen und der
„Verwechselbarkeit von Wirklichkeit und Fiktion […] die entscheidenden Impulse für
kulturellen und gesellschaftlichen Wandel“ (S. 42).
20 Fehmi Akalin
Ein Alternativmodell, für das im Folgenden geworben werden soll, geht im Gegen-
satz zu den oben beschriebenen Konzepten der Reflex- und Wirkungshypothese
von der Selbstorganisation filmischer Kunstkommunikation aus, die weder auf
politische, noch auf moralische, pädagogische und ähnliche Operationen reduziert
werden kann. Von dieser Prämisse ausgehend, lassen sich Filme, die Krisenereig-
nisse thematisieren, so modellieren, dass sie ihre Umwelt als Ressource zur For-
mung eines interessanten Werkes absuchen. Sie selektieren nach Maßgabe eigener
Präferenzen und halten am beobachteten Phänomen nur das für relevant, was sich
im Kontext des jeweiligen Films als interessant arrangieren lässt. Filme, die Kri-
sen ‚ausbeuten‘, beobachten dabei Realitätskonstruktionen ihrer Umwelt – etwa
des journalistischen Systems, welches dasjenige Kommunikationssystem in der
Umwelt ist, das die Gesellschaft über (aktuelle) Krisenereignisse informiert (diese
the disaster“, von denen erst seit dem Zyklus der 1970er zweifellos gesprochen werden
könne (Keane 2001, S. 15f.; Roddick 1980, S. 246).
22 Fehmi Akalin
Diese Überlegungen lassen sich von der systemtheoretischen Einsicht leiten, dass
‚Film‘ als ein nach spezifischer Eigenlogik autonom operierendes System mit je
eigener Codierung, Programmierung, spezifischem Funktionsbezug und besonde-
rem Inklusionserfordernis ist. In Anlehnung an Gerhard Plumpe und Niels Werber
(1993) sowie Werber (1992) soll Film – unabhängig davon, ob es sich um populäre
Mainstream-, um sog. Arthouse- oder um Experimentalfilme handelt – im Folgen-
den als Teil des Kunstsystems betrachtet werden, welches sich seit dem Ende des
18. Jahrhunderts auf die Lösung des Freizeitproblems und somit auf die Funktion
der Unterhaltung spezialisiert hat, diese Funktion codespezifisch bearbeitet, näm-
lich mit dem Dual interessant/langweilig, dabei spezielle Inklusionsrollen, die des
Künstlers und des Kunstpublikums, ausgebildet hat, deren Koordination über das
jeweilige Medium des Systems erfolgt. Wie an anderer Stelle vorgeschlagen, gehe
ich davon aus, dass das Kommunikationsmedium der Kunst sich als Genre fassen
lässt (vgl. Akalin 2012). Kunst- bzw. Film-Genres eignen sich vor allem deshalb
als Kommunikationsmedien, weil sie sozial bewährte Kommunikationskonventio-
nen darstellen und auf diese Weise gleichermaßen als Orientierungsrahmen für
Produzenten und Rezipienten dienen. Genres sind mithin Kristallisationspunkte
gegenseitiger Erwartungen.
‚Flirting with disaster‘ 23
Der von den oben diskutierten Ansätzen durchgehend als ‚realistisches‘ Genre
apostrophierte Katastrophenfilm legt in dieser Sichtweise im Rahmen des Para-
digmas „ästhetischer Illusion“ mit seiner Konzentration auf die histoire-Ebene
(das Was der Erzählung) eine Rezeptionshaltung der Immersion nahe – im Gegen-
satz zum Kunstprogramm der „Illusionsdurchbrechung“, die mittels Betonung der
discours-Ebene (das Wie der Erzählung) und der Offenlegung des Gemachtseins
des Kunstwerks, das eine distanzierte Rezeptionshaltung anregt (vgl. dazu um-
fassend Wolf 1993). Wie für jede gelingende Kommunikation, unterstellt auch die
Theorie „ästhetischer Illusion“ eine Konvergenz der gegenseitigen Erwartungen
der Macher und der Rezipienten – lediglich für das Komplementärprogramm der
„Illusionszerstörung“ (als Radikalisierung des Programms der „Illusionsdurchbre-
chung“) wird bisweilen eine Divergenz der Erwartungserwartungen konstatiert,
wenn z.B. Rezipienten an illusionsdurchbrechende Werke (als welche viele expe-
rimentelle Kunstwerke auftreten) mit ‚Realismus‘-Erwartungen herantreten, diese
jedoch aufgrund der daraus resultierenden Erwartungsenttäuschung als langweilig
empfinden (vgl. Hansen 1991). Eine entsprechende Divergenz in Bezug auf das
Programm „ästhetischer Illusion“ wird in der Forschung nicht ausdrücklich the-
matisiert. Gerade die Entwicklungsgeschichte des Katastrophenfilm-Genres bietet
hier eine wertvolle Erweiterung. In einer interessanten Studie zur Rezeptionsge-
schichte des disaster movie-Genres hat Ken Feil (2006) überzeugend nachgewie-
sen, dass die übliche „reductive polarity of identification versus distance” (S. 211)
auch für populäre Genres revisionsbedürftig ist.10
Feil geht dabei von der Beobachtung aus, dass mit zunehmender Vertrautheit
der Rezipienten mit Genrekonventionen, entsprechender Zunahme der Redundanz
betreffender Werke sowie der Übersättigung des Marktes, ein Teil des Publikums
immer mehr dazu neigte, die Offerte immersiven Eintauchens in das narrative
Geschehen nicht anzunehmen und stattdessen sein Augenmerk auf die Künstlich-
keit der Werke, auf ihr Gemachtsein zu richten – und gerade daraus Vergnügen
zu beziehen. Solche – ernstgemeinten – dramatischen Werke, wie es der Katas-
trophenfilm ursprünglich dargestellt habe, seien aufgrund ihrer „juxtaposition of
10 Siehe Groeben und Vorderer (1988, S. 202ff.) zur Kritik an der traditionellen Ent-
gegensetzung von identifikatorischer und distanzierter Rezeptionshaltung, wobei die
idealistische Kunstauffassung üblicherweise der distanzierten Rezeptionsweise den
Vorzug gibt und experimentelle bzw. avantgardistische Kunstwerke, die einen solchen
Rezeptionsmodus erfordern, prämiiert.
24 Fehmi Akalin
mass death and pleasure“ (S. 160) zunehmend als ‚unfreiwillig komisch‘ rezipiert
worden, eben als campy.11
Feil rekonstruiert diesen Umschwung in der Rezipientenreaktion Katastro-
phenfilmen gegenüber anhand der Auswertung eines umfangreichen Samples von
Kommentaren populärer Filmkritiker, die im Gegensatz zu ihren cineastischen
Kollegen von der seriösen Presse ausdrücklich auf das Unterhaltungsversprechen
der Filme abheben und sachfremde Anschlüsse (wie etwa politisch-ideologiekri-
tische, pädagogische, moralische etc.) so gut wie gar nicht realisieren. Das für
eine Kommunikationstheorie der Kunst Interessante an Feils Studie liegt nun vor
allem darin, dass er ebenfalls untersucht, wie die Filmemacher auf diese optionale
Rezeptionsstrategie des (Stellvertreter-)Publikums ihrerseits reagiert und typische
Anschlussstellen der camp-Rezeption fortan in die Werkstruktur der nachfolgen-
den Katastrophenfilme integriert haben. Als wenig erfolgreich erwies sich dabei
zunächst die Strategie der Produzenten, in Kenntnis der camp-Lesarten älterer
Werke die Zugehörigkeit aktueller Katastrophenfilme zum entsprechenden Genre
in Presseverlautbarungen zu negieren (S. 171). Wesentlich anschlussfähiger war es
hingegen, die Genre-Zugehörigkeit der Filme zwar auszustellen (das Genre konn-
te schließlich dank ständiger TV-Ausstrahlungen klassischer Katastrophenfilme
auch bei späteren Generationen auf feste Erwartungsstrukturen bauen), diese Ein-
ordnung in den Genrekontext jedoch zusätzlich mit ironischen Brechungen aus-
zustatten. Auf diese Weise konnte eine Konvergenz der Erwartungserwartungen
wiederhergestellt werden.
Im Folgenden zeigte sich jedoch, dass den Formierungen des Katastrophen-
films mit unterschiedlichen Ironie-Graden je unterschiedliche Kassenerfolge be-
schieden waren. In diesem Zusammenhang unterscheidet Feil „three basic types
of disaster movies“, nämlich: „camp, straightforward entertainment, and high con-
cept camp“ (S. 98). Die erste Kategorie, die des pure camp, meint dabei Filme, die
sich einer konsequent ironischen, selbst-reflexiven Erzählhaltung befleißigen (z.B.
Mars Attacks! [1996; R.: Tim Burton] und Lake Placid [1999; R.: Steve Miner]);
der zweite Typ, der geradlinige Katastrophenfilm, verzichtet auf jegliche Form
– und damit zum erfolgreichsten disaster movie seit Titanic avanciert: Roland Em-
merichs The Day After Tomorrow. Unbeeindruckt von der vermeintlich didakti-
schen Agenda des Films, hebt Feil darauf ab, dass die plotline des Films über glo-
bale Erwärmung und drohendem neuen Eiszeitalter als dramaturgischer Vorwand
eine hervorragende Motivierungsbasis für ausgedehnte Katastrophen-Szenarien
bietet (S. 146) Wiewohl der Film zahlreiche positive Rezensionen erntet, die „ce-
lebrate the film’s apocalyptic disaster imagery with unmittigated and unapolegetic
fun“ (S. 140), gibt es aber auch Besprechungen des Streifens, welche sich auf des-
sen vermeintliche Botschaft kaprizieren: die ökologisch motivierte Warnung vor
den Folgen der globalen Erwärmung – und die Katastrophen-Szenen als notwen-
diges Übel ansehen: als Mittel zu einem (pädagogischen = guten) Zweck (ebd.). Es
scheint, dass es nicht die primären Adressaten des Kunstsystems sind (in diesem
Fall: die interessante Unterhaltung erwartenden Kinozuschauer von The Day After
Tomorrow), die meinen, ihr Vergnügen am filmisch inszenierten Weltuntergang
mit vorgeschobener political correctness legitimieren zu müssen, sondern Teile
des Feuilletons, die nach wie vor Probleme damit zu haben scheinen, die Eigen-
logik unterhaltsamer Filmkommunikation anzuerkennen.
Ein hübsches Gegenbeispiel dafür, mithin für die nicht mehr rückgängig zu
machende Ausdifferenzierung des modernen Kunstsystems, zitiert Feil, wenn er
den ironischen Kommentar eines zeitgenössischen Rezensenten von The Day Af-
ter Tomorrow wiedergibt: „(T)he terrorists will have won if they keep us from
destroying New York onscreen.“ (Friend 2004, S. 8; zit. nach Feil 2006, S. 149)
Auf ähnlich ironische Weise rekurriert der Untertitel desselben Artikels auf die
Differenz zwischen politischer und künstlerischer Realität: „It’s okay to destroy
New York again – in the movies.“ (ebd.).
5 Fazit
Gegen mystifizierende Filmtheorien hat Tanja Busse (1999) in ihrer oben zitier-
ten Studie die rhetorische Frage: „Kann ein Weltuntergang unterhaltend sein?“
gestellt und an gleicher Stelle positiv beantwortet: „Offensichtlich kann er das,
denn Weltuntergangsverhinderung im Kino bedeutet Action, und Action ist unter-
haltsam.“ (S. 155) Gleichfalls gegen moralisierende und idealistische Kunstauffas-
sungen gerichtet und die unterhaltenden Gratifikationen von Katastrophenfilmen
für die Zuschauer ins Zentrum rückend, hat sie in unmissverständlicher Klarheit
festgestellt, dass der „Maßstab, mit dem die Fans diese Filme messen“, nicht de-
ren scheinbar minderwertige erzählerische Qualität betrifft, und „schon gar nicht
ihre Botschaft“, sondern primär „die Qualität des Spektakels“ (S. 167). Aus dieser
‚Flirting with disaster‘ 27
Literatur
Akalin, F. (2011). Die kulturellen Dimensionen des Sozialen. Ein Vergleich handlungstheo-
retischer und systemsoziologischer Kulturkonzepte. Hamburg: Verlag Dr. Kovač.
Akalin, F. (2012). Film als Kommunikation. Soziologie des Films aus systemtheoretischer
Perspektive. In C. Heinze et al. (Hrsg.), Perspektiven der Filmsoziologie (S. 60–77). Kon-
stanz: UVK.
Akalin, F. (2014). Neuromancer – Zum Verhältnis von Liebe als Kulturmuster und Liebe
als soziale Praxis am Beispiel des neuen US-amerikanischen Liebesfilms. In T. Mori-
kawa (Hrsg.), Die Welt der Liebe. Liebessemantiken zwischen Globalität und Lokalität
(S. 359–379). Bielefeld: transcript.
Baecker, D. (2011). Wie in einer Krise die Gesellschaft funktioniert. powision: Neue Räume
für Politik, Jg. VI, Heft 1, 4–7.
28 Fehmi Akalin
Filme
Armageddon (1998; R.: Michael Bay)
Deep Impact (1998; R.: Mimi Leder)
Earthquake (Erdebeben; 1974; R.: Mark Robson)
Godzilla (1998; R.: Roland Emmerich)
Independence Day (1998; R.: Roland Emmerich)
Lake Placid (1999; R.: Steve Miner)
Mars Attacks! (1996; R.: Tim Burton)
The Core (2003; R.: Jon Amiel)
The Day After Tomorrow (2004; R.: Roland Emmerich)
The Sum of All Fears (Der Anschlag; 2002; R.: Phil Alden Robinson).
The Towering Inferno (Flammendes Inferno; 1974; R.: John Guillermin)
Titanic (1997; R.: James Cameron)
Zombie-Szenarien und Krisen
der Interpretation
Daniel Ziegler
1 Einleitung
1968 erreichen die politischen Unruhen mit der Ermordung Martin Luther Kings
und der fortwährenden Eskalation im Vietnamkrieg in den USA ihren Höhe-
punkt. Im selben Jahr läuft in den Kinos Night of the Living Dead, der rück-
blickend als Wendepunkt im Horrorfilm bezeichnet werden kann. Während die
Eingangssequenz auf dem Friedhof und der Überlebenskampf gegen eine Horde
Untoter im verlassenen Landhaus auf den ersten Blick genretypisch erscheint,
untergräbt und entlarvt der Film systematisch etablierte Konventionen des Hor-
rorgenres. Vom Inventar, über das Setting bis zur Dramaturgie durchbricht Night
die filmische Ordnung und ermöglicht dadurch eine Vielzahl unterschiedlicher
Interpretationen, die in ihrer oftmaligen Willkürlichkeit auf eine Krise der Deu-
tungen schließen lassen. Der Debütfilm des zum damaligen Zeitpunkt 28-jährigen
Amateurfilmers George A. Romero reanimiert die Figur des Zombies und löst sie
los von ihrer rassistisch-stereotypisierten filmischen Darstellung der 1930er und
1940er Jahre. Romeros Zombies kommen weder aus der Karibik noch wurden
sie durch einen Voodoo-Zauber zu willenlosen Sklaven. Sie sind plötzlich auf der
Leinwand, ohne Motiv und Ursprung. Sie sind langsam, unbeholfen und breiten
sich virusartig aus, indem sie ihrem kannibalistischen Trieb nachgehen. Erstaun-
licherweise fällt das Wort ‚Zombie‘ in Night of the Living Dead kein einziges
Mal – stattdessen werden die Untoten als ‚ghouls‘ und ‚things‘ bezeichnet, die nur
durch Zerstörung des Gehirns aus ihrem Schwellenzustand zwischen dem Reich
der Lebenden und der Toten befreit werden können.
1 Petra Schrackmann (2015) untersucht bspw. die britischen TV-Serien The Fades
(2011) und In the Flesh (2013), in denen das Zombie-Motiv insofern variiert wird,
als die Wiederauferstandenen eine personale Identität haben und denken, fühlen und
sprechen können. Diese individualisierte Variante des Zombies stellt jedoch eine der
wenigen Ausnahmen dar.
2 http://www.forbes.com/sites/stevenbertoni/2016/11/22/exclusive-interview-how-jared-
kushner-won-trump-the-white-house/#45d0e462f50f, Zugriff: 24.11.2016
Zombie-Szenarien und Krisen der Interpretation 33
noch so ähnlich sind, entziehen sich jeder sinnhaften Zuschreibung und spotten
jeder Hermeneutik.“ (S. 526) Meteling spitzt diese Überlegung weiter zu, indem er
in diesem Zusammenhang von einer „allegorischen Entleerung“ und „einer rhe-
torischen Projektionsfigur, die allein das Begehren der Lebenden nach Verstehen
spiegelt“ (S. 527), spricht. Letztlich handelt es sich bei Zombiefilmen aber auch um
Horror- bzw. Splatterfilme, die den Körper des Zuschauers affizieren und die Film-
körper explizit zerstören. Zombiefilme zelebrieren die Überschreitung, sowohl mit
Blick auf graphische Gewalt als auch auf gängige Filminterpretationen. Darüber
hinaus erzeugen Zombiefilme durch ihr übermäßiges Interesse an der Zerstörung
und anormalen Veränderung von Körpern große Nähe zum Zuschauer, der sich
insbesondere deshalb nicht von den Bildern distanzieren kann, weil der Zombie-
film ebenso auf positiv besetzte Protagonisten und Projektionsfiguren verzichtet
wie auf ein Happy Ending. Neben der mehrdeutigen Figur des Zombies sowie der
extremen, invasiven Gewalt, ist es schließlich das seit Night of the Living Dead eta-
blierte Zombie-Szenario, das Filmkritiker genauso wie Zuschauer dazu angeregt
hat, nach dem tieferen Sinn des Gezeigten zu suchen. Insofern ist es nicht alleine
die Figur des Zombies, die mehr Fragen als Antworten aufwirft, sondern gerade
die Inszenierung der Filme, ihre genreübergreifenden Referenzen, die filmische
Unordnung und der szenische Realitätsgehalt, der Imaginäres und Faktisches zu-
sammenlegt.
Im Zentrum meines Beitrags steht Romeros Debütfilm Night of the Living, der
als Initiator des Zombie-Szenarios gesehen werden kann. Das Szenario orientiert
sich hierbei sowohl an Katastrophenfilmen als auch an klassischen Horrorfilmen.
Nichtsdestotrotz gelingt es Romero durch die Um- und Neuordnung bekannter
Muster etwas gänzlich Originäres zu erschaffen. Zu Beginn des Beitrags rekonst-
ruiere ich die Ursprünge der Figur und des Motivs des Zombies. Dabei steht zum
einen die kulturelle Bedeutung des Zombies im Fokus, zum anderen wird aufge-
zeigt, in welcher Form und vor welchem geschichtlichen Hintergrund der Zombie
als Figur erstmals filmisch umgesetzt wird. Unter Berücksichtigung filmhistori-
scher Entwicklungen erfolgt sodann eine knappe Einordnung des Zombiefilms
innerhalb des Horrorgenres. Neben den ersten US-amerikanischen Zombiefilmen,
die sich aus stereotypen Vorstellungen aus der Zeit der kolonialen Besetzung Hai-
tis speisen, richtet sich das Hauptaugenmerk anschließend vorwiegend auf Night
of the Living Dead. Auf eine übersichtsartige inhaltliche Kontextualisierung und
Bestandsaufnahme folgt die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Filminter-
pretationen. Leitend ist hierbei die zu Beginn bereits skizzierte These, der Zombie-
film vergegenwärtige eine Krise filmischer Interpretationen. Abschließend erfolgt
eine Reflexion über die Bedeutung des Zombiefilms für gegenwärtige gesell-
schaftspolitische Themen und Krisen. Hierbei ziehe ich eine parallele zwischen
34 Daniel Ziegler
der Bedeutung von Szenarien in Zeiten, in denen die Wahrnehmung von globaler
Unsicherheit realpolitisches Denken bestimmt, und der Visualisierung apokalypti-
scher Zombie-Szenarien. Abgesehen von Night of the Living Dead werden an man-
chen Stellen weitere Beispiele hinzugezogen, wie etwa die auf den Comics von Ro-
bert Kirkman beruhende TV-Serie The Walking Dead. Obgleich die Darstellung
der Zombies je nach Film und Serie unterschiedlich ausfällt, wird im Folgenden
verallgemeinernd von der Figur des Zombies und dem Zombiefilm die Rede sein.
Dieses Vorgehen begründet sich aus einigen klar identifizierbaren Merkmalen, die
in fast jeder Umsetzung zu finden sind.
Die Figur des Zombies verdankt ihre aktuelle Popularität weitestgehend der
Zombiefilmreihe George A. Romeros. Insbesondere Romeros Trilogie (Night,
Dawn und Day) gilt als stilprägend für die filmische Darstellung und Etablie-
rung des Zombies. Der Begriff ‚Zombie‘ und die damit verbundene kulturelle
Praktik der Zombifizierung lässt sich bis zum späten 17. Jahrhundert zurückver-
folgen. Als erste Quelle vermutet Gudrun Rath (2014) den Roman „Le Zombi du
Grand Pérou, ou la comtesse de Cocagne“ von Blessebois (1697). Bemerkens-
wert sei hierbei das Fehlen einer eindeutigen Definition, das den Schluss zuließe,
der Begriff könne bereits vor Blessebois Roman verwendet worden sein (vgl.
S. 14). Durch den fehlenden Ursprung des Zombies ist der Figur eine gewisse
Uneindeutigkeit eingeschrieben, die zu ihrer Bedeutungsvariabilität entschei-
dend beiträgt. Im anglo-amerikanischen Sprachraum erscheint der Begriff Jamie
Russell (2014) zufolge erstmals 1819 im Oxford English Dictionary. Größeren
Bekanntheitsgrad erlangt der Begriff letztlich aber erst 1889 durch einen Artikel
im Harpers Magazine. Der vom Journalisten und Amateur-Anthropologen Laf-
cadio Hearn verfasste Artikel trägt den Titel „The Country of the Comers-Back“.
Der hier beschriebene Zombie weicht insofern von anderen Beschreibungen ab,
als er in unterschiedlicher Gestalt auftritt und sich plötzlich enttarnt (vgl. Russell
2014, S. 9).
Der Ursprung des Zombie-Motivs geht überwiegend auf die haitianische Kolo-
nialgeschichte zurück, auch wenn verschiedene Quellen sehr ähnliche Motive be-
reits vor der Kolonialisierung Haitis in Westafrika lokalisieren (Rath 2014, S. 12).
Nach der Befreiung von der französischen Kolonialherrschaft 1791 wurde Haiti
von 1915 bis 1934 durch die USA besetzt. In diesem Zusammenhang entstanden
rassistische Erzählungen über schwarze Magie und religiöse Praktiken der ein-
Zombie-Szenarien und Krisen der Interpretation 35
heimischen Bewohner, zu denen auch die Zombifizierung gehört. Rath fasst die
haitianische Bedeutung des Zombies wie folgt zusammen:
„Unter einem zombi wird im Imaginären Haitis bis heute eine Person verstanden,
die – so wenigstens eine mögliche Variante – nach ihrer Bestattung und neuerlichen
Ausgrabung vollkommen dem Willen eines bòkò (MagierIn) unterworfen ist und
folglich als ‹lebender Toter› fortbesteht. Der Tod der betreffenden Person kann da-
bei sowohl natürlich als auch gewaltsam herbeigeführt worden sein; eine – wie fast
alle Charakteristiken des zombi, abgesehen von seinem untoten Zwischenzustand
– kontroversiell diskutierte ethno-biologische Studie hat die Praxis der Zombifizie-
rung auch auf das in einem Kugelfisch vorkommenden Nervengift Tedrodotoxin zu-
rückgeführt und dementsprechend die These vertreten, dass es sich bei zombis nur
um Scheintote handelt. Auch mögliche psychische Erkrankungen der betroffenen
Personen sind immer wieder als rationalisierende Erklärungsmodelle herangezogen
worden.“ (S. 12f.)
Der moderne oder verwestlichte Filmzombie ist zwar ebenfalls ein im Zwischen-
zustand gefangener wiederbelebter Toter, allerdings bleibt die Ursache der Wie-
derkehr bewusst unklar. Entscheidend ist hierbei nicht die Suche nach einer Ursa-
che, die zur Konfliktlösung beitragen könnte, sondern die Loslösung von einer
die Verwandlung herbeiführenden Instanz, die sich der Toten bemächtigt. Eine
einheitliche Bedeutung des Zombie-Motivs, der Praktik der Zombifizierung oder
des Ursprungs ist letztlich nicht auszumachen. Gerade diese Leerstelle macht es
möglich, dass der Zombie als Figur „auf multiple Art und Weise überschrieben
werden kann.“ (Rath, S. 11).
In der gängigsten, auf koloniale Reiseberichte zurückgehenden, Lesart taucht
der Zombie als Arbeitssklave auf. In dieser Variation tritt der Zombie auch erst-
mals filmisch in Erscheinung: Victor Halperins White Zombie (1932), der auf
William Seabrooks Reisebericht Magic Island (1929) zurückgeht sowie Revolt
of the Zombies (1936), der ebenfalls unter der Regie Halperins entsteht und in
dem die Zombies als unbesiegbare, gehorsame Armee auftreten, gelten als erste
Zombiefilme (vgl. Meteling 2006, S. 110). Der frühe Zombie hat allerdings noch
wenig mit Romeros Zombies gemein. Halperins Untoter verkörpert vielmehr „den
traditionellen Mythos vom willenlosen Sklaven, der auf Befehl eines skrupello-
sen Machtmenschen tötet.“ (Harzheim 2004, S. 101) Das Motiv des willenlosen
Zombies wird in Yarbroughs King of the Zombies (1941) sowie Sekelys Revenge
of the Zombies (1943) durch Kriegspropagandaszenarien erweitert (vgl. Meteling
2006, S. 110). Als prominentester Vertreter der frühen Zombiefilme gilt Tourneurs
I walked with a Zombie (1943), der wie seine Vorgänger den Zombie als exotische
Erscheinung in Verbindung mit haitianischem Voodoo-Zauber darstellt. Die ras-
36 Daniel Ziegler
„Mehr noch als exotisches Ornament ist die Repräsentation karibischer Lebensver-
hältnisse, auf die weiße Vertreter der westlichen Zivilisation stoßen, die direkte iko-
nographische Konservierung und Reanimation, also die filmische Zombiefizierung,
kolonialer Phantasmen, in denen der fremde Schwarze afrikanischer Herkunft do-
mestiziert wird und den willenlosen Arbeitersklaven darstellt.“ (ebd., S. 113)
3 Hier ließe sich direkt an Reemtsmas (2008) Überlegungen zur Gewalt in der Moderne
anschließen, die gerade dann zum Problem wird, wenn sie sich nicht mehr rational er-
klären lässt, weil sie keinem instrumentellen Zweck dient. Gewalt wird dann oftmals
Zombie-Szenarien und Krisen der Interpretation 37
als unerträglicher Exzess wahrgenommen, dem in der Moderne kein kultureller Ort
zugeordnet werden kann (vgl., S. 116ff.).
4 Keppler (1997) geht bspw. davon aus, die Lust an filmischer Gewalt hinge mit der
Empfänglichkeit des Zuschauers für einfache Konfliktlösungen durch Gewalt zusam-
men, wie sie einige Action- oder Horrorfilme präsentieren. Diese Beobachtung ist si-
cherlich nicht falsch, vereinfacht aber den Zugang zum Film. Letztlich betont Keppler
jedoch auch, dass erst dann Aussagen über die Wahrnehmung von Gewalt im Film
getroffen werden können, wenn neben einer Produktanalyse auch die Rezeption bzw.
der soziale „Kontext der Aneignung“ (S. 400) miteinbezogen wird.
38 Daniel Ziegler
des Grauens, das vom Menschen selbst ausgeht und nicht mehr auf ein dem Men-
schen äußerliches fantastisches Wesen projiziert wird, bereits zu Beginn der 1960er
Jahren, am bekanntesten in Filmen wie Hitchcocks Psycho (1960) oder Powells
Peeping Tom (1960). Die 1960er Jahre stehen allgemein für einen Wendepunkt im
Horrorfilm-Genre. Das invasive Böse lässt sich nicht mehr als äußere Bedrohung
abwehren, sondern wächst im Inneren des eigenen Ichs heran. Filme wie Powells
Peeping Tom (1960) und Hitchcocks Psycho (1960) verlagern die Gefahr in die
Psyche des eigenen Ichs. Das Fremde im Eigenen weist auf ein paradoxes Verhält-
nis zwischen Vertrautheit und Unbehagen hin. Das Böse kann nun überall lauern
– stellt eine universale, dezentralisierte Gefahr dar. Der Horror, der vom Menschen
selbst ausgeht, bleibt letztlich jedoch nicht in der menschlichen Psyche gefangen,
er vollzieht sich vielmehr direkt am Körper. Während die Gewalt in Psycho und
Peeping Tom noch indirekt bleibt, „motivisch angedeutet“ durch „die technisch
übersetzte Konsequenz vom Film- zum Körperschnitt“ (Köhne et al. 2012, S. 11),
zeigt sie von nun an immer mehr ihre direkten Spuren am Körper. Herschell Gor-
don Lewis Blood Feast (1963) gilt als einer der ersten Splatterfilme, in dem die in
Psycho und Peeping Tom nur angedeuteten „blutigen Folgen der Gleichung von
Filmschnitt und Zergliederungsfantasie auf der Leinwand sichtbar“ werden (ebd.).
Der moderne Körperhorror erzeugt in mehrerlei Hinsicht eine schier unerträgliche
Nähe, Konfrontation und Überschreitung: er dringt in die Psyche ein, zerstört den
Körper und transformiert ihn. So rührt die Angst der Filmcharaktere in Romeros
Trilogie, aber auch bspw. in The Walking Dead vordergründig nicht daher, vor der
äußeren Gestalt der Zombies zurückzuschrecken; auch der Angriff eines Zom-
bies stellt im Verlauf der Erzählung eher ein in der Zombie-Apokalypse normales
Übel dar. Es ist vielmehr die Angst, selbst zombifiziert zu werden, die alles andere
überschattet. Fünf Jahre nach Lewis Blood Feast, inmitten der gewaltsamen ge-
sellschaftspolitischen Unruhen in den USA, erscheint schließlich Romeros erster
Zombiefilm. Die Handlung des Films wird nachfolgend knapp zusammengefasst.
Night of the Living Dead beginnt an einem Sonntagnachmittag auf einem Fried-
hof. Die Geschwister Barbra und Johnny bringen im Auftrag ihrer Mutter einen
Trauerkranz an das Grab des Vaters. Als sie wieder Richtung Pittsburgh aufbre-
chen wollen, wird Johnny von einem Mann5 angegriffen, landet dabei mit dem
5 Im Film werden die Angreifer nicht als Zombies bezeichnet, sondern als ‚things‘,
‚creatures‘, ‚ghouls‘ usw. In einer späteren Filmszene erfahren die Überlebenden, dass
Zombie-Szenarien und Krisen der Interpretation 39
Kopf auf einem Grabstein und bleibt regungslos liegen. Barbra flüchtet mit dem
Auto vor dem Unbekannten, lenkt das Auto allerdings gegen einen Baum und ret-
tet sich zu Fuß in ein Landhaus. Der Unbekannte folgt Barbra, die kurze Zeit
später durch ein Fenster zwei weitere motorisch unbeholfen auf das Haus zuwan-
kende Gestalten erblickt. Nachdem Barbra im 1. Stock des Hauses eine körperlich
entstellte Leiche findet, stürmt sie aus dem Haus. Im selben Moment trifft der sich
ebenfalls auf der Flucht befindende Ben ein, bringt Barbra zurück ins Haus und
verbarrikadiert Fenster und Türen mit Brettern. Nachdem Ben weitere Angriffe
abwehrt, stellt sich heraus, dass sich im Keller eine Gruppe von fünf Personen
verschanzt hat: Das Ehepaar Harry und Helen Cooper mit ihrer verletzten Toch-
ter Karen sowie das junge Paar Tom und Judy. Es kommt sofort zu Spannungen
zwischen Ben und Harry, da Harry der Ansicht ist, der sicherste Ort sei der Keller,
wohingegen Ben an die Zusammenarbeit appelliert und sich weigert, sich vor den
herannahenden Zombies zu verstecken. Dem Hinweis aus den Nachrichten fol-
gend, sich in extra eingerichtete Schutzräume mit medizinischer Versorgung zu
begeben, plant Ben den vor dem Haus stehenden Wagen in der nächstliegenden
Tankstelle zu betanken und anschließend einen Schutzraum aufzusuchen. Auf-
grund eines Missgeschicks scheitert das Vorhaben und kostet Tom und Judy das
Leben. Harry lastet Ben den Tod von Tom und Judy an und es kommt zum Kampf
zwischen den beiden. Ben schießt Harry dabei an, der in den Keller taumelt und
dort, genauso wie seine Frau, von seiner mittlerweile zombifizierten Tochter ge-
fressen wird. Die immer größer werdende Horde Untoter dringt nun ins Haus ein
und zerrt Barbra nach draußen, wohingegen Ben sich in letzter Minute in den
Keller rettet. Am nächsten Morgen wacht Ben auf und begibt sich aus dem Keller
in den Wohnraum, wo er von einer Bürgerwehr, die ihn fälschlicherweise aus der
Ferne für einen Zombie hält, erschossen wird.
Night of the Living Dead wurde von Romero in Zusammenarbeit mit Stu-
dienfreunden und Partnern seiner Werbefilmagentur in der Nähe von Pittsburgh
mit einem Budget von weniger als 150.000 Dollar gedreht (vgl. Meteling 2006,
S. 118 und Mihm 2004, S. 174.) Obwohl zu diesem Zeitpunkt bereits die Techni-
ken zur Herstellung von Farbfilmen zur Verfügung standen, wurde der Film im
Rekurs auf die Nachrichtenausstrahlungen in schwarz-weiß gehalten. Der Film
basiert auf keiner literarischen Vorlage, ist aber angelehnt an Richard Mathesons
dystopischen Roman I am Legend (1954) und die graphische Horrorästhetik der
EC Comics der 1950er Jahre, insbesondere der Horror Comic Reihe Tales from
the Crypt.
Die erzählte Zeit erstreckt sich etwa über einen Tag. Mit Ausnahme der An-
fangssequenz spielt sich die gesamte Handlung auf dem Grundstück eines verlas-
senen Landhauses ab. Durch die Wahl des Settings, die minimalistische Ausstat-
tung und die Dramaturgie erzeugt der Film eine dichte Atmosphäre der Spannung,
die der limitierten Rahmung eines Kammerspiels ähnelt, das genug Zeit und Raum
für die Darstellung der intimen Interaktionen zwischen den Charakteren bietet.
Obwohl die Bedrohung im Film vordergründig von den Zombies ausgeht, ist es
letztlich das menschliche Unvermögen, in einer krisenhaften Situation zu koope-
rieren und gemeinsam das Problem zu bewältigen, das den Charakteren zum Ver-
hängnis wird. Dadurch bricht Night of the Living Dead mit der für einen Großteil
der Horrorfilme typischen dichotomen „Gut gegen Böse“ Aufteilung und etabliert
ein hybrides Filmnarrativ, das Elemente des Katastrophen- und Invasionsfilms mit
klassischen Horrorfilmelementen vereint und ambivalente Charaktere, die keine
eindeutigen Sympathieträger sind, mit einer apathischen und motivlosen, aber
nichtsdestotrotz gefährlichen Masse wiederauferstandener Leichen konfrontiert.
Das hier eingeführte Narrativ, das sich auch als Szenario beschreiben lässt, wird in
den meisten Zombiefilmen im Anschluss an Night of the Living Dead fortgesetzt
und gelegentlich variiert.
Wie bereits angesprochen, ist Night of the Living Dead zwar dem Horrorgenre
zuzuordnen, vereint jedoch Elemente anderer Genres und veränderte den Horror-
film nachhaltig. In seiner Kulturgeschichte des Horrorfilms verortet Tudor (1989)
Night im „metamorphosis narrativ“ (vgl. S. 96ff.), das im Gegensatz zum simpel
strukturierten „invasion narrativ“ die vielschichtigste Story entfaltet. In Fällen, in
denen die Bedrohung von der möglichen Metamorphose selbst ausgeht, ist nicht nur
die soziale Ordnung, sondern die gesamte Menschheit in Gefahr: „human physical
and social orders are faced with direct transformation into their disordered oppo-
sites. In the most apocalyptic versions of the form there is no narrative closure.”
(Ebd., S. 97) Das Fehlen eines Happy Endings, das offene und meistens wenig
Hoffnung vermittelnde Ende der Filme, wird noch verstärkt, durch den „offenen“
Anfang der Filme, bei dem die Bedrohung unbegründet, motivlos und plötzlich
über die Menschen hineinbricht. Insofern verschiebt der Film den Fokus auf eine
permanente Bedrohungslage, als er nicht an der Lösung eines Konflikts und dem
Sieg über die filmisch verarbeitete Angst interessiert ist. Was der Film zeigt, ist die
Eskalation situationsbezogener Gewalt als scheinbar letzte humane Handlungsres-
source, die mit einer quasi-animalischen, eher triebhaften Zombiegewalt konfron-
tiert wird, und sich sowohl gegen Menschen als auch gegen Zombies richtet.
Wie Meteling (2006) feststellt, lässt sich George A. Romeros Night als Zäsur
bezeichnen, da er mit den Konventionen des Horrorfilms breche, indem er „den
Horrorfilm aus den gemütlichen Literatur- und Dramenverfilmungen hinaus in die
Zombie-Szenarien und Krisen der Interpretation 41
schreckliche Nachrichtenwelt der 1960er Jahre hinein“ katapultiere. (S. 118) Al-
lerdings ist es nicht nur die „groteske Inversion all des Horrorfilminventars“ (ebd.,
S. 119) durch die Night of the Living Dead den klassischen Gothic Horror hinter
sich lässt, sondern auch eine gewisse Form der Selbstreflexion des Kinos sowie die
filmische Auf- und Vorwegnahme von Interpretationen, die Night unterschiedlich
durchspielt. Denn nicht nur die in dieser Form neu eingeführte Figur des Zombies,
sondern gerade das nihilistische Ende des Films hat zu Unmengen an offenen Fra-
gen und Interpretationsversuchen geführt, die den Film, die Figur des Zombies
und die – für die damalige Zeit – extreme Gewalt als Allegorie bzw. Platzhalter
für etwas Anderes dechiffrieren. Romeros Debütfilm eigne sich Shaviro (2006)
zufolge am ehesten für eine psychoanalytische Lesart, da der Film u.a. auf die
Auflösung der Kernfamilie fokussiert. Demnach kehren die Zombies als „logical
outgrowth of, or response to, patriarchal norms“ (S. 89) zurück. Gleichwohl er-
kennt Shaviro das subversive Potential des Films, die Allegorie der Wiederkehr
des Unterdrückten ironisch zu brechen. Dies geschieht etwa durch die sinnfreien
Erklärungen und Ratschläge in den TV-Nachrichten, denen die Charaktere Glau-
ben schenken und naiv folgen. Darüber hinaus bietet der Film dem Zuschauer auch
sonst keinerlei Erklärungen für das Erscheinen der Zombies an.
Psychoanalytische Zugänge zum Horrorfilm fast Tudor (1989) mit Verweis auf
die Arbeiten von Robin Wood (1979) wie folgt zusammen:
„They develop an analysis based on the proposition that patriarchal capitalism de-
mands certain forms of surplus-repression (of, for example, sexual energy, bisexu-
ality, female sexuality and children’s sexuality), and that one way in which this is
managed is by projecting that which is repressed outward onto the ‘Other’. Horror
movies, as collective nightmares, illustrate that process at work; they represent ‘the
return of the repressed’. (S. 2f.)
Ein solcher Zugang zum Horrorfilm ist jedoch deshalb problematisch, weil er
unterstellt, das Dargestellte sei Platzhalter für etwas Anderes, etwas Verdrängtes.
Dadurch verdrängen ebendiese Ansätze selbst das Dargestellte bzw. betten es in
einen psychoanalytischen Kausalzusammenhang ein, der letztlich unbegründet
bleibt. Darüber hinaus psychologisieren gerade Filme wie der im Vorangegange-
nen erwähnte Psycho mehr als offensichtlich ihre eigenen Filmcharaktere. Night
knüpft an dieser psychoanalytischen Selbstthematisierung von Horrorfilmen di-
rekt an, in dem er seine Eingangssequenz auf dem Friedhof bis hin zum Eltern-
mord gezielt psychologisch überfrachtet, nur um jegliche Erklärungen ins Leere
laufen zu lassen.
42 Daniel Ziegler
In Bezug auf Night lässt sich ferner feststellen, dass Romero nicht das Ver-
drängte in codierter Form wiederkommen lässt, sondern vielmehr die Theorie der
Verdrängung des Todes in der Moderne filmisch inszeniert. Die filmische Selbst-
reflexion der psychoanalytischen Verdrängung schlägt sich sodann auch in einigen
Referenzen an Hitchcocks Psycho und The Birds nieder, die beide offensichtlich
durch die Freudianische Psychoanalyse beeinflusst sind und auch vor diesem Hin-
tergrund analysiert wurden.6 In Bezug auf Romeros Hitchcock Referenzen hält
Mihm (2004) fest, dass „[d]ie Grundsituation von Night of the Living Dead wie
eine Variation von The Birds (Die Vögel, 1963) [wirkt], während die Inszenierung
des Muttermordes sowie eine surreal anmutende Montage ausgestopfter Tierköpfe
ganz direkt auf Psycho verweisen.“ (S. 175) Darüber hinaus merkt Mihm an, dass
Romero dramaturgisch ähnlich vorgeht wie Hitchcock in Psycho, indem er jeden
emotionalen Fixpunkt im Verlauf des Films verschwinden ließe (vgl. ebd.)
Night referenziert die psychoanalytisch beeinflussten Filme und bietet selbst
in der Anfangssequenz eine Art pseudo-Erklärung für das Auftreten des ersten
Zombies an, indem er zu Beginn die filmische Verdrängung und Wiederkehr des
Todes durchspielt. Mit der Flucht von Barbra vom Friedhof zum Landhaus been-
det der Film gleichsam den klassischen Horror wie auch den psychoanalytischen
Zugang zum Film. Wichtig ist hierbei jedoch weniger die Abkehr von der Psy-
choanalyse als vielmehr das grundlegende Konterkarieren von Erklärungs- und
Deutungsangeboten, zu denen ohne Frage auch die Psychoanalyse gehört. Wie
Romero das Verdrängungstheorem aufgreift und filmisch inszeniert, wird nach-
folgend beleuchtet.
In Night kehren die Toten also zurück, was einige Fragen aufwirft: warum kehren
sie wieder und sind die Wiederauferstandenen tot oder lebendig? James McFar-
land (2012) merkt hierzu an, dass die Zombies in Night Kleidungstücke tragen,
die den traditionellen Begräbnisriten vorbehalten seien (vgl., S. 33). In Dawn, dem
zweiten Teil der Reihe, tragen die Zombies weitestgehend Berufskleidung vormals
Lebender: „Es liegt nahe, dass die im zweiten Teil auftretenden Lebenden Toten
noch vor ihrem Begräbnis auferstehen und die Situation, die im ersten vorgestellt
wird, eskaliert ist. Die soziale Ordnung scheint nun vollständig aufgelöst und zer-
stört.“ (ebd.) In Night wird ebendiese soziale Ordnung in eine Krise gestürzt –
sowohl auf diegetischer Ebene als auch auf der Ebene des Mediums selbst. Um
diese Erosion herbeizuführen beginnt Night auf dem Friedhof, als bekanntem Ort
der Gothic Novel. Darüber hinaus hat der von den Städten aufgrund hygienischer
Bedenken an die Peripherie ausgelagerte Friedhof auch eine kulturelle Bedeutung
und Funktion: Der Friedhof ist Ort der Bestattung, also der Platz, an dem der
tote Körper verwesen soll und er ist gleichzeitig der Ort, an dem an die Verstor-
benen erinnert wird. Obgleich es einen Ort der Erinnerung für die Verstorbenen
gibt, wird immer wieder unterstellt, der Tod würde in der moderne Verdrängt. Der
Verdrängungsbegriff selbst wird in dieser Diskussion meist ungenau verwendet,
behält aber in groben Zügen seine psychologische Bedeutung, wie sie von Freud
expliziert wurde (vgl. Nassehi und Weber 1989, S. 157ff.) Nassehi und Weber be-
zeichnen den psychoanalytischen Verdrängungsbegriff als „Abwehrvorgang, des-
sen Gegenstand quasi ‚im Verborgenen‘ wirkt“ (S. 163). Ein ähnlicher Vorgang sei
im Zusammenhang mit der Todesverdrängung zu beobachten: „Der Tod scheint
aus der kulturellen und gesellschaftlichen Wertstruktur eliminiert zu sein, ist aber
virtuell dennoch die universalste Wirklichkeit menschlichen Lebens geblieben.“
(ebd.) In der soziologischen Auseinandersetzung wird davon ausgegangen, dass
Tod und Sterben nicht verdrängt, sondern eher bürokratisch überformt würden
(Feldmann 2010, S. 59ff.). Fest steht, dass sich der Umgang mit dem Tod im Zuge
von Modernisierungsprozessen gewandelt hat, so dass sich ein Großteil traditio-
neller Riten und Bräuche verändert hat, einige sind gänzlich verschwunden und
neue hinzugekommen.
Night knüpft an dieser Stelle an und lässt seine Geschichte mit den Geschwis-
tern Barbra und Johnny beginnen, die an einem Sonntag, dem Tag des Gedenkens
an die Toten, im Auftrag ihrer Mutter einen Kranz auf das Grab des verstorbenen
Vaters legen. Gehört der Friedhof eigentlich noch zum klassischen Inventar des
Horrorfilms, wird er hier normalisiert und entdramatisiert, indem er tagsüber zur
Kulisse für einen sonntäglichen Ausflug wird. Der für Horrorfilme typische Bruch
mit der Normalität, etwa durch das Auftreten eines Monsters, verläuft in Night
eher unspektakulär und wird narrativ eingeläutet durch Johnnys abschätzige Be-
merkungen gegenüber dem Verstorbenen und den Ritualen des Gedenkens: „You
think Iʼd wanna blow Sunday on a scene like this? You know, I figure we’ll have to
get mother to move down here or have the grave moved down to Pittsburgh.“ Dem
Ritus der Niederlegung eines Trauerkranzes kann Johnny ebenfalls wenig abge-
winnen: „Look at this thing. We still remember? I don’t! You know, I don’t even re-
member what the man looks like! “Johnny ist der moderne, pragmatische Mensch,
der mit der Erinnerungskultur gebrochen hat und für den sich der Besuch auf dem
Friedhof alleine aus Gründen der Kosten-Nutzen-Abwägung nicht rentiert, denn es
kostet ihn „five minutes to put the wreath on the grave and six hours to drive back
44 Daniel Ziegler
and forth. Mother wants to remember, so we trot two hundred miles into the coun-
try and she stays at home.“ Nachdem Barbra und Johnny den Kranz auf das Grab
gelegt haben, kniet Barbra einen Moment vor dem Grab. Johnny steht unruhig hin-
ter ihr und drängt sie zu gehen: „Hey, come on, Barb. Church was this morning.“
Die Einstellung wechselt zur Großaufnahme Johnnys und ein lauter Donnerschlag
läutet allegorisch die Apokalypse der Zombies ein. In der darauffolgenden Einstel-
lung erkennt man eine wankende Gestalt im Hintergrund. Johnny drängt weiter:
“Hey, I mean, praying’s for church, huh? Come on.” Barbra entgegnet daraufhin,
sie habe Johnny in letzter Zeit nicht in der Kirche gesehen, was Johnny spöttisch
mit dem Verweis auf die Sinnlosigkeit eines Kirchenbesuchs kommentiert. An-
schließend erinnert sich Johnny daran, wie sie als Kinder gemeinsam mit ihrem
Großvater den Friedhof besuchten und Johnny Barbra erschreckte, indem er hin-
ter einem Baum hervorsprang, woraufhin der Großvater mahnte „Boy, you‘ll be
damned to hell.“ Wie schon damals ängstigt Johnny seine Schwester auch jetzt:
„They‘re coming to get you, Barbra […]. They’re coming for you.“ Als scheinbare
Strafe für seine abschätzigen Bemerkungen wird Johnny auch gleich von der Ge-
stalt angegriffen und umgebracht, woraufhin Barbra in das Landhaus flüchtet. Der
Film nimmt in dieser Anfangssequenz direkten Bezug zu den harmlosen Horror-
komödien der 1940er Jahre, indem er den rumalbernden Johnny Lew Landers The
Boogie Man Will Get You (1942) mit Boris Karloff als Leichen reanimierenden
Mad Scientist zitieren lässt. Die Reanimation der Toten geschieht jedoch in Night
ohne menschliches Zutun, so dass der einzige Kausalzusammenhang durch John-
nys pietät- und respektloses Verhalten suggeriert wird.
Der Verdrängungstheorie folgend könnte der Wiedergänger sodann eine archai-
sche Antwort auf die Rationalisierung des Todes und das Ausbleiben von Begräb-
nis- und Trauerritualen darstellen. Der Zombie wäre dann in einem liminalen
Zustand zwischen Separation und Inkorporation gefangen, der nur durch die ord-
nungsgemäße Durchführung der Rituale aufgehoben werden könnte. In diesem
transitorischen Zustand des Zombies „ist auch die Seele ruhelos und den Gefahren
ausgesetzt. In diesem unglücklichen Zustand stellt die Seele oder der Geist des
Verstorbenen auch eine Gefahr für die Lebenden dar.“ (Feldmann 1997, S. 21) Die
von der Seele ausgehende Gefahr verkörpert sich schließlich im fleischfressenden
Zombie. So erscheint es auch nur logisch, dass erst die Zerstörung des Zombie-
hirns, diesen von seiner Existenz zwischen den Welten befreit. Denn in einer ratio-
nalen Moderne ist es das Gehirn und seine Funktionstüchtigkeit, die über Leben
und Tod entscheiden. Der Hirntod wäre somit der rationale Ersatz für das aus-
bleibende Ritual. Während 1968 also das Hirn der Filmzombies zerstört werden
muss, wird im selben Jahr die Hirntoddefinition durch das Ad Hoc Committee der
Harvard Medical School postuliert. Diese Parallele zeigt, inwieweit der Film nicht
Zombie-Szenarien und Krisen der Interpretation 45
lediglich durch die politischen Unruhen seiner Zeit beeinflusst wurde, sondern
auch indirekt ethisch-moralische Fragen zum Lebensende ironisch verarbeitet.
Die rationale medizinische Antwort auf die Frage, ab wann ein Mensch tot
ist, wird hier rückwirkend mystifiziert, indem sie umgedreht wird: warum kom-
men die Toten wieder? Die im Vorangegangenen thematisierte Eingangssequenz
scheint lediglich das Thema der Verdrängung und Wiederkehr zu referenzieren
bzw. einen pseudo-moralischen Zusammenhang herzustellen, dem im weiteren
Verlauf des Films keine tiefere Bedeutung beigemessen wird. An späterer Stelle
berichtet ein Nachrichtensprecher über die Angreifer, allerdings ohne dabei für die
Zuschauer oder die Filmcharaktere einen informativen Mehrwert zu vermitteln:
„So long as this situation remains, government spokesmen warn that dead bodies
will continue to be transformed into the flesh-eating ghouls. All persons who die du-
ring this crisis, from whatever cause, will come back to life to seek human victims.
Unless their bodies are first disposed of by cremation.”
Als Grund für die Wiederkehr nennt der Sprecher anschließend, als Referenz auf
die Technikparanoia der 1950er Jahre Horrorfilme, radioaktive Strahlung: „Offi-
cials are quoted as explaining that since the brain of a ghoul has been activated
by the radiation, the plan is, kill the brain and you kill the ghoul.” Night bietet
somit zwar durchaus Erklärungen für die Invasion der Zombies an, zu Beginn etwa
durch das Durchspielen der Verdrängung und Wiederkehr des Todes, im späteren
Verlauf durch die Massenmedien selbst, allerdings führen beide Erklärungen ins
Leere. Der Film entlarvt auf diese Weise das menschliche Erklärungsbedürfnis
als Mechanismus der Weltvereinfachung. Den vereinfachenden Erklärungen, die
sowohl den Charakteren als auch den Zuschauern angeboten werden, stellt Night
kühle Rationalität entgegen: „Mit NIGHT OF THE LIVING DEAD […] zieht
das Realitätsprinzip in den Horrorfilm ein.“ (Köhne et al. 2012, S. 13) Night endet
schließlich mit der Erschießung des Protagonisten, der als einziger Sympathieträ-
ger bis zum Schluss die Zombieangriffe abwehren konnte. Umgebracht wird er von
weißen Rednecks, die ihn aus der Ferne für einen Zombie halten. Die Tatsache,
dass Night keine Erklärungen liefert und zudem hoffnungslos und nihilistisch en-
det, hängt jedoch auch mit seiner Unterminierung klassischer stereotyper Figuren-
konstellationen und Erzählverläufe zusammen, die dem Zuschauer normalerweise
Orientierung bieten. Night lenkt nämlich den Fokus gezielt weg von der Erzählung
hin zum Schauwert. Mehr noch kann gesagt werden, dass Erzählung und Gezeig-
tes ineinander übergehen, so dass für den Zuschauer kaum Distanzierung möglich
ist. Night vermengt dadurch absichtlich reales und fiktives wie auch Zuschauer
und Charaktere, und etabliert auf diese Weise den Zombiefilm als Szenario. Diese
46 Daniel Ziegler
4 Abschluss: Zombie-Szenarien
und reale Bedrohungslagen
reagieren Menschen auf andere Menschen. Während in Night, abgesehen von der
abschließenden Sequenz, noch von unterlassener Hilfeleistung gesprochen wer-
den kann, die letztlich aber genauso zum Tod der Menschen führt, so steht bspw.
in Walking Dead die intersubjektive Gewalt zwischen Menschen im Vordergrund.
Die Zombies treten dabei soweit in den Hintergrund, dass sie eher zu Requisiten
werden, die aber – und das ist dennoch entscheidend – Ausgangspunkt des Sze-
narios sind. Die im Vorangegangenen getroffene Unterscheidung zwischen dem
Zombie als Figur und dem Zombie als Narrativ wird insofern im Verlauf der Ge-
schichte des Zombiefilms immer undeutlicher, als Zombies in den späten 1960er
Jahren massenhaft auftreten. Sie entledigen sich ihrer individuellen Züge bzw.
treten gänzlich entindividualisiert auf, was gleichzusetzen ist mit der Auflösung
individueller Täterschaft und kausalen Erklärungsmodellen für den Zombiefilm
im Speziellen und das Kino im Allgemeinen. Auf der filmischen Ebene vollzieht
sich dieser Übergang als ein Abrücken von Protagonisten als individuelle Helden
und Antagonisten als externe, besiegbare Monster, zugunsten einer Aufwertung
des Dargestellten als szenisches Spektakel.
Das Szenario initiiert dabei die Handlung, so dass die Protagonisten das Sze-
nario als Legitimationsgrundlage für ihr Handeln nutzen. Denn: in Zeiten der
Zombie-Apokalypse sind so ziemlich alle Mittel legitim. Das Szenario verlangt
in dem Sinne gar keine individuellen Entscheidungen bzw. Entscheidungen, die
nach individuellen Abwägungen getroffen werden und Rückschlüsse auf die Per-
sönlichkeit der Charaktere zulassen; es verlangt vielmehr schnelles Handeln und
nach Möglichkeit extrem gewaltsames Handeln, um möglichen Unwägbarkeiten,
die im Szenario immer mitschwingen, zuvorzukommen. Hier zeigt sich m.E.
dann auch die starke Schnittmenge zwischen dem Zombiefilm und gegenwärti-
gen gesellschaftspolitischen Diskursen. Susanne Krasmann (2011) weist bspw. im
Zusammenhang mit der Folter-Debatte nach 9/11 darauf hin, Katastrophen- bzw.
Krisensituationen würden durch die hervorgerufene unsichere Bedrohungslage
einen wirksamen Ansatzpunkt für die Infragestellung absoluter Verbote darstel-
len (vgl., S. 100). Das Szenario, in dem reales und imaginäres so vermengt wer-
den, dass eventuelles Zukunftswissen erzeugt wird, kann und wird im Zuge von
sicherheitspolitischen Maßnahmen wirksam: „Wenn sich im Zuge dessen eine
neue Ratio der präventiven Intervention abzeichnet, so entfaltet diese Logik des
Vorgriffs […] eine eigene Ordnung der Sichtbarkeit, die […] ihre eigene Wahr-
heit“ produziert (S. 102f.). Das Gefährlich dabei ist die für das Szenario typi-
sche Bezugnahme auf gesellschaftliches Nicht-Wissen und Imaginäres, das stark
emotional besetzt werden kann, wenn es sich um krisenhafte Situationen handelt.
Denn diese erfordern schnelles, in einigen Fällen gar überstürztes Handeln. Ge-
nauso ist dann auch der einleitend erwähnte Verweis auf die US-Wahlen und die
48 Daniel Ziegler
Werbung für The Walking Dead zu verstehen: Denn hier wird auf xenophobe
Weise das Szenario der Zombie-Apokalypse mit der Flüchtlingskrise amalga-
miert, was letztlich durch die Überlagerung von Realem durch Fiktives im Sze-
nario möglich wird. Der moderne Zombiefilm visualisiert seit den späten 1960er
Jahren die Loslösung von bekannten Wissensbeständen und Erklärungsansätzen
hin zur Freisetzung von Erklärungen, die in pure Aktion und Zerstörung über-
gehen. Im Zombie-Szenario wird letztlich nichts gelöst. Die Probleme eskalieren
stattdessen; die Charaktere hängen in einer hoffnungslosen Dauerschleife und
Gewaltspirale fest. Der Zombiefilm erzeugt schließlich beides: Schrecken und
Faszination – er unterhält und er mahnt. Insofern kann der Zombiefilm auch für
eine gesellschaftspolitische und filmwissenschaftliche Auseinandersetzung mit
der angstbesetzten Wahrnehmung gesellschaftlicher Bedrohungen nutzbar ge-
macht werden. Denn der Zombiefilm wie auch der Horrorfilm im Allgemeinen
hält sich längst nicht mehr mit der Visualisierung tief verborgener Ängste auf; er
untergräbt schon lange die Normalität. Mehr noch hat er dazu beigetragen, den
Horror im Normalen zu entlarven. In dieser Funktion, als Signal der Krise und
überdeutlicher Hinweis auf die Erosion gesellschaftlicher Ordnung, sollte er viel
stärker filmsoziologisch beachtet und thematisiert werden.
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Zombie-Szenarien und Krisen der Interpretation 49
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Das Cabinet des Dr. Caligari (1920; Robert Wiene)
Dawn of the Dead (1978; R.: George A. Romero)
Day of the Dead (1985; R.: George A. Romero)
I walked with a Zombie (1943; R.: Jacques Tourneur)
King of the Zombies (1941; R.: Jean Yarbrough)
Night of Living Dead (1968; R.: George A. Romero)
Peeping Tom (1960; R.: Michael Powell)
Psycho (1960; R.: Alfred Hitchcock)
Revenge of the Zombies (1943; R.: Steve Sekely)
Revolt of the Zombies (1936; R.: Victor Halperin)
The Birds (1963; R.: Alfred Hitchcock)
The Boogie Man Will Get You (1942; R.: Johnny Lew Landers)
White Zombie (1932; R.: Victor Halperin)
Schmetterlingseffekte
Wissenschaft, Utopie und Dystopie in I am Legend
Sina Farzin
solcher Szenarien nicht einfach als Eskapismus, sondern als soziokulturelle Form,
gesellschaftliche Entwicklungen und Risikodiskurse zu thematisieren, erschließen
sich neue Zugänge zur Interpretation dystopischer Filme. Am Beispiel des Romans
I am Legend, veröffentlicht 1954 von Robert Matheson und seit den 1960er Jahren
Vorlage für insgesamt vier Verfilmungen, soll im Folgenden eine solche Interpre-
tation exemplarisch entwickelt und vorgeführt werden. Dabei wird der Fokus auf
zwei der Verfilmungen liegen, Omega Man (Der Omega-Mann; 1971; R.: Boris
Sagal) 1971 unter der Regie von Boris Sagal erschienen und I am Legend (2007;
R.: Francis Lawrence), unter Regie von Francis Lawrence 2007 veröffentlicht.
Die hier vorgeschlagene Lesart der Erzählung I am Legend als literarische und
filmische Spekulation über das Verhältnis von Krise, Gesellschaft und Naturwis-
senschaft bedarf zunächst einiger begrifflicher und theoretischer Rahmungen, die
im Folgenden der Auseinandersetzung mit den Filmen selbst vorangestellt wer-
den sollen. Dabei wird es zunächst (1.1) darum gehen, I am Legend im Genre
der Utopie zu verorten, umso den immanent zeitdiagnostischen Gehalt der Er-
zählung genauer fassen zu können. Im zweiten Teil der Einleitung (1.2) soll dann
auf das spannungsreiche Verhältnis zwischen Gesellschaft und Naturwissenschaft
eingegangen werden, dessen Wandlungen im späten 20. Jahrhundert zu ambiva-
lenten Ansprüchen gegenüber den Naturwissenschaften führten die nicht zuletzt
in der populären Rede von der Risikogesellschaft ihren Ausdruck fanden und be-
sonders deutlich in der inzwischen auch populärkulturell verbreiteten Metapher
des Schmetterlingseffekts hervortreten. Damit werden im ersten Teil die beiden
Achsen erarbeitet, die eine genauere Lektüre der Filme (Kapitel 2) ermöglichen.
Robert Mathesons 1954 veröffentlichter Roman I am Legend hat seit seiner Pu-
blikation eine weite Verbreitung und Resonanz gefunden, die nicht zuletzt seine
vierfache Verfilmung innerhalb von gut 50 Jahren Rezeption belegt. 2012 wurde
der Text von der amerikanischen Horror Writers Association zur Vampire No-
vel of the Century gekürt und spätestens mit diesem Akt der Selbstkanonisierung
eines klassischerweise subalternen Literaturfeldes in den Rang eines Klassikers
der spekulativen Literatur gesetzt. Dabei ist die Bezeichnung von I am Legend
als „Vampire Novel“ irreführend, da der Text verschiedene Genre hybridisiert und
nicht zuletzt utopische, dystopische und postapokalyptische Narrative enthält, wie
noch zu zeigen sein wird.
Die Handlung kann kurz zusammengefasst werden: Robert Neville, die Haupt-
figur des Romans, erscheint zunächst als einziger Überlebender einer Epidemie,
Schmetterlingseffekte 53
der die gesamte Bevölkerung Los Angeles‘ (und vermutlich Nordamerikas) zum
Opfer gefallen ist. Alle anderen Menschen sind entweder tot oder zu einer Art
Vampir mutiert: sie meiden Sonnenlicht, das sie umbringen würde, sind schein-
bar unverwundbar und aggressiv. Er verbringt seine Tage allein in der tagsüber
entvölkerten Stadt auf der Suche nach Nahrung, mit dem Töten von Vampiren
und im Kampf gegen den durch die Einsamkeit drohenden Wahnsinn. Durch das
naturwissenschaftliche Selbststudium gelingt es ihm, den Vampirismus als Folge
einer bakteriellen Epidemie zu erklären. Die im Rahmen von Kriegshandlungen
freigesetzten Bakterien verursachten Lichtempfindlichkeit, gesteigerte Selbsthei-
lungskräfte, Wahnsinn und hysterische Anfälle. Neville selbst ist immun. Er nutzt
sein neues Wissen, um möglichst viele Vampire zu töten, hofft aber auch auf die
Entwicklung eines Heilmittels.
Er begegnet einer äußerlich nicht infizierten Frau und beginnt eine Beziehung
mit ihr. Als er durch eine Blutprobe feststellt, dass sie infiziert ist, erklärt sie ihm,
dass die Infizierten langsam beginnen mit der Krankheit zu leben und das Sonnen-
licht besser vertragen sowie der Wahnsinn abnimmt. Diese neue Gruppe der In-
fizierten bilden eine neue Gesellschaft, fürchten aber Roberts Tötungsfeldzüge. An
einer Heilung sind sie nicht interessiert. Schließlich nehmen sie Robert als letzten
Repräsentanten der untergegangenen Menschheit fest, seiner Exekution entzieht er
sich jedoch durch Selbsttötung.
Schon diese skizzenhafte Zusammenfassung der Handlung verdeutlicht, dass
der Roman von klassischen Vampirromanen abweicht. Die Verwandlung der Men-
schen in Vampire wird nicht als mystifiziertes und letzten Endes nicht erklärbares
Ereignis beschrieben, sondern durch die Hauptfigur unter erheblichen Mühen mit-
hilfe des Wissens der untergegangenen Zivilisation entschlüsselt und rationalisiert.
Zudem werden klassische Elemente der Vampirerzählung, die diese als elitäre,
hedonistische Repräsentanten untergegangener sozialer Ordnung porträtiert, von
Matheson nicht genutzt, vielmehr wird die Auseinandersetzung mit den Vampiren
zu einer inneren Auseinandersetzung Nevilles mit anthropologischen und sozialen
Grundsatzfragen.
„But are his [the vampires] needs any more shocking than the needs of other animals
and men? Are his deeds more outrageous than the deeds of the parent who drained
the spirit from his child? […] Is he worse than the manufacturer who set up belated
foundations with the money he made by handing bombs and guns to suicidal nation-
alists?” (Matheson 2010, S. 21)
I am Legend kann daher nicht als klassischer Vampirroman gelesen werden, son-
dern kombiniert verschiedene Elemente der spekulativen Literatur. Der Fokus die-
54 Sina Farzin
ses Beitrags liegt dabei auf jenen Aspekten des Romans, die als Varianten oder
Elemente des Utopischen gelesen werden können. Das Utopische verstehe ich
im Folgenden als literarische Konvention, die an der Grenze künstlerischer und
sozialkritischer Zeitdiagnose angesiedelt ist. Beschrieben werden alternative, zu-
meist zukünftige Gesellschaften, die gegenüber der gegenwärtig realisierten Form
menschlichen Zusammenlebens positive oder negative Gegenbilder imaginieren.
Unter dem Dachbegriff des Utopischen versammeln sich in diesem kulturwissen-
schaftlich vorherrschenden Verständnis demnach unterschiedlichste Formen der
Imagination potentieller nicht realisierter Formen sozialen Zusammenlebens,
auch jene, die negative und beängstigende Szenarien imaginieren. Dabei können
unterschiedliche Grade von Ambivalenz und sozialer Dynamik zugelassen wer-
den, für die verschiedene Unterbegriffe zu Verfügung stehen.1 Alle diese Alter-
nativen gewinnen ihre kritische Schärfe, indem sie existierende gegenwärtige
soziale Probleme im guten Fall als gelöst und im schlechten Fall als ursächlich
für die Verfassung der zukünftigen Gesellschaft ausflaggen. Dabei geht es nicht
darum, Wege aufzuzeigen, die entweder zur Realisierung des Erwünschten oder
Vermeidung des Befürchteten führen, sondern sowohl positive als auch negative
Spielarten kontingenter und dennoch sozial erzeugter Entwicklungen überhaupt
denkbar zu machen. „Die Kritik ist zentraler und dem Wesen der Utopie näher als
die vermeintlich erträumte Wunschwelt.“ (Schölderle 2012, S. 47). Neben das Spiel
mit imaginären Formen des Zusammenlebens tritt also stets ein kritischer Impe-
tus, der auf aktuelle soziale Probleme verweist. Dieses Grundmodell geht zurück
auf Thomas Morus „Utopia“, der genrebegründenden Schrift, veröffentlicht 1516:
Bereits hier wird die Darstellung einer perfekt rational organisierten Insel-Ge-
sellschaft eingeleitet durch eine dialogische Analyse sozialer Problemlagen in der
Gegenwart des Autors in England unter Heinrich VIII. Der Umbruch der feudalen
Ordnung und die daraus resultierende Vertreibung der Landbevölkerung, die de-
ren Pauperisierung und die zunehmende Verelendung der Städte zur Folge hatte,
wird hier zum zeitdiagnostischen Rahmen der Schilderung der Insel Utopia.2 Auch
Mathesons I am Legend bezieht in seiner Darstellung der post-katastrophischen
Welt Nevilles utopische Elemente ein, zu denen in einer Umkehrung klassischer
1 Die Spannbreite reicht von klassischen Utopien, die sich an Thomas Morus Utopia
orientieren, über Anti-Utopien (die als kritischer Negation utopischer Konzepte defi-
niert werden), Dystopien (die negative und nicht positive Entwicklungen projezieren)
bis hin zu kritischen Utopien. Einen Überblick über den Stand der Begriffsdifferenzie-
rung in den Utopian Studies bietet Moylan 2000, S. 73f.)
2 Und das über 300 Jahre bevor Karl Marx in eben jener Entwicklung die ursprüngli-
che Akkumulation und damit den Nukleus der kapitalistischen Ungleichheitsordnung
identifiziert (Marx 1968).
Schmetterlingseffekte 55
Horrorplots auch der Wunsch nach dem Aufbau einer „neuen Gesellschaft“ durch
die Vampire selbst zählt. Aber schon das zunächst wenig utopisch anmutende Set-
ting der Handlung ein einer entvölkerten Welt, in der jede Sozialität ausgelöscht
scheint, variiert ein Motiv, das von Utopieforscherinnen als Verbindung zwischen
Utopie und Postapokalypse interpretiert wurde und das in den vergangenen Jahr-
zehnten zunehmend an Popularität gewonnen hat (vgl. Horn 2014). „[…] we prob-
ably need another term to characterize the increasingly popular visions of total
destruction and of extinction of life on Earth which seem more plausible than the
Utopian vision of the new Jerusalem but also rather different from the various
catastrophes […] prefigured in the critical dystopias. The term apocalyptic may
serve to differentiate this narrative Genre from the anti-utopia […] inasmuch as
the original Apocalypse includes both catastrophe and fulfillment, the end of the
world and the inauguration of the reign of Christ on Earth.” (Jameson 2005, S. 199)
Vor dem Hintergrund der so aufgespannten Definition des Utopischen als kri-
tische Gegenwartsdiagnose wird auch deutlich, warum I am Legend insbesondere
mit Blick auf die Verfilmungen ein interessantes Beispiel ist: Allein zwischen den
beiden in diesem Text zentralen Verfilmungen Omega Man (1971) und I am Le-
gend (2007) liegen fast 4 Jahrzehnte, so dass insbesondere in Bezug auf die uto-
pischen Elemente beider Verfilmungen mit jeweils unterschiedlichen Akzenten zu
rechnen ist, da der zeitgeschichtliche Entstehungskontext beider Werke differiert
– und mit ihm die kritischen Implikationen der imaginierten Welt.
Auch wenn sich in der bisherigen Rezeption des Buches sowie der Filme kaum
vergleichende Ansätze finden (eine Ausnahme in Bezug auf die Entwicklung des
Hauptcharakters Neville ist Roberts 2016), wurden doch in Analysen zum Text
oder jeweils einer Verfilmung verschiedene zeitdiagnostische Aspekte interpre-
tiert, etwa die Bedeutung der Rassismus-Thematik oder die implizite Kapitalis-
muskritik (Brayton 2011; Boyle 2009). Der Fokus der folgenden Argumentation
wird demgegenüber auf der Darstellung des gesellschaftlichen Umgangs mit na-
turwissenschaftlicher Forschung und den daraus resultierenden Unsicherheits- und
Risikopotentialen liegen. Diese Thematik wurde bisher kaum analysiert, bildet je-
doch schon im Ausgangsnarrativ des Romans ein wesentliches Moment, da Nevil-
le der zunächst scheinbar völlig irrationalen und im Fall der meisten Vampirge-
schichten mythologisch gefärbten diegetischen Begründung für das Auftreten der
Monster mit einer umfassenden Rationalisierungs- und Szientifizierungsstrategie
begegnet. Am Ende seiner autodidaktischen Studien kann er selbst die Angst der
Vampire vor religiösen Symbolen als psychisches Symptom der Epidemie erklären
(Vampire vormals jüdischen oder islamischen Glaubens fürchten keine Kreuze,
sondern die Symbole ihrer Religionen, Matheson 2010, S. 49f.). Die Schilderung
der Forschungsarbeit Nevilles vor dem Hintergrund eines postapokalyptischen
56 Sina Farzin
Die folgende vergleichende Lektüre setzt das utopische Potential der beiden Ver-
filmungen Omega Man und I am Legend in Bezug zu Veränderungen, die sich in
der durch die Erscheinungsdaten markierten Zeitspanne zwischen den 1960/70er
Jahren und dem Ende der 2000er Jahre in der gesellschaftlichen Wahrnehmung
naturwissenschaftlicher Risikobearbeitung und –produktion vollzogen haben. So-
ziologisch finden sie zunächst in den 1980er Jahren ihre prominenteste Formulie-
rung in Ulrich Becks Schlagwort von der Risikogesellschaft (Beck 1986). In den
vergangenen Jahren rücken statt des Risikobegriffs jedoch immer stärker Konzep-
te des Nicht-Wissens aber auch der Sicherheit und Prävention in den Vordergrund
(Böschen und Wehling 2012). Beide Diskurse prägen die hier diskutierten Ver-
filmungen auf unterschiedliche Weise, weswegen sie als zeitdiagnostische Folie
der folgenden Auseinandersetzung mit dem Filmmaterial zunächst kurz skizziert
werden sollen:
Spätestens mit diesem Erfolg der Beschreibung der Gegenwart als „Risikoge-
sellschaft“ sind wir es gewohnt, die Moderne als eine Epoche zu beschreiben, die
in zuvor nicht bekanntem Ausmaß wissenschaftlich-technisch produzierte Risiken
und die hieraus resultierenden sozialen Probleme lösen oder zumindest reflektieren
muss. Naturwissenschaftliche Forschung und ihre Anwendung werden in Folge
dieser weitreichenderen Verschiebung nicht mehr nur als zentrale Kräfte des ge-
sellschaftlichen Fortschritts und neutrale Problemlöser, sondern zunehmend auch
als Risikoproduzenten wahrgenommen. Probleme, die von intendierten Hand-
Schmetterlingseffekte 57
lungen ausgehen wie etwa dem Verschmutzen der Umwelt im Zuge industrieller
Produktionsprozesse oder durch nichtintendierte Nebenfolgen entstehen, etwa im
Falle eines Atomkraftwerks-GAUs, müssen daher möglichst antizipiert und ver-
mieden werden. Oder, wenn das nicht möglich ist, bei ihrem Eintreten schnell
identifiziert und kontrolliert werden. Risiko als Antizipation solcher katastro-
phalen Handlungsfolgen ist damit einerseits keine essentielle Kategorie, sondern
abhängig von der sozialen Wahrnehmung von Risiken, die wiederum von kom-
plexen Prozessen der öffentlichen Aufmerksamkeitsproduktion und Verteilung ab-
hängt. Andererseits betont dieses Konzept stark die klare Identifizierung von un-
erwünschten Handlungsfolgen sowie die eindeutige Benennung von Akteuren, die
Urheber aber auch Bearbeiter dieser Folgen seien können. Die Naturwissenschaft
muss in diesem Modell zwar lernen, reflexiv die antizipierten Folgen des eigenen
Handelns einzubeziehen. Ihre Autorität bei der Benennung und Bearbeitung dieser
Folgen bleibt aber unhinterfragt (ebd., S. 320)
Diese klare Zurechnungslogik ist in den vergangenen Jahren immer stärker
in die Kritik geraten. Schon Luhmann (1986) hat zeitgleich darauf hingewiesen,
dass diese klare Verbindung von Entscheidung und Risiko dazu führt, dass immer
neue Risiken hervorgebracht werden, entweder für den Entscheider selbst oder für
Dritte. Die mögliche Antizipation der Folgen der eigenen Handlungen erscheint
zunehmend fraglich.
„Eine […] Selektivität des Risiko-Begriffs liegt nämlich darin, dass er de facto
unterstellt, die zukünftigen Folgen einer gegenwärtigen Handlung oder Entschei-
dung seien prinzipiell bekannt und kalkulierbar. Risiken sind antizipierte, als zu-
künftig möglich wahrgenommene Ereignisse, die auf eine gegenwärtige Entschei-
dung zugerechnet werden. Die Zukunft in der Semantik des Risikos zu deuten, setzt
somit stillschweigend ein vorhersehbares Spektrum potentieller Schadensereignisse
voraus, wenngleich man nicht wissen kann, ob, wann und in welchem Ausmaß die
als möglich antizipierten Ereignisse tatsächlich eintreten werden. Die Verwendung
der Risikobegrifflichkeit verengt somit zukünftige Geschehnisse, wiewohl sie völlig
unvorhergesehen oder sogar prinzipiell unvorhersehbar sein mögen, auf erwartbare,
statistisch berechenbare oder zumindest subjektiv abschätzbare Entscheidungsfol-
gen. Gänzlich unerwartete Konsequenzen haben, mit anderen Worten, in der Spra-
che des Risikos keinen Ort (oder werden, wie oben erläutert, als Restrisiko externa-
lisiert).“ (Böschen und Wehling 2012, S. 320)
Auch ist weder alltagweltlich noch wissenschaftlich immer klar zu benennen, was
Entscheidungsfolge ist und was vielleicht eher eine zufällige Gleichzeitigkeit, etwa
wenn lokal begrenzte CO2 Reduktionen mit der Stagnation des weltweiten Tempe-
raturanstiegs zusammenfallen, ohne dass Forscher hierfür eine Erklärung hätten.
Die eindeutige Identifizierung von Kausalzusammenhängen scheitert immer deut-
58 Sina Farzin
Während also die „Entdeckung“ der Risikogesellschaft ab den 1980er Jahren vor
allem den Glauben an das ungebrochene Rationalisierungs- und Fortschrittsver-
sprechen der Moderne erschütterte, indem sie die negativen (aber zurechenbaren)
Kosten der fortschreitenden Moderne in den Blick nahm, rückt um die letzte Jahr-
tausendwende zunehmend die Unsicherheit und Unbekanntheit in Bezug auf die
Folgen von wissenschaftlichen Applikationen und Technologien in den Mittel-
punkt.
Es gibt unendliche Möglichkeiten, diese zunehmende Bedeutung von Kontex-
ten und Unsicherheiten in naturwissenschaftliche Forschung einzubeziehen. Aber
nur eine dieser Möglichkeiten ist inzwischen zu einer veritablen popkulturellen
Metapher für den Umgang mit Unsicherheit geworden: der sogenannte Schmetter-
lingseffekt. Seit den 1970er Jahren bezeichnen Meteorologen und Chaosforscher
damit die Tatsache, dass selbst minimale Variationen von Ausgangsbedingungen
zu maximalen Abweichungen der Endzustände führen können. Der Flügelschlag
eines Schmetterlings, so das prominente Beispiel seines Urhebers Edward Lorenz,
könne Wochen später einen Tornado tausende Kilometer entfernt verursachen.
Nimmt man Lorenz Model ernst, dann sind antizipierende und prognostische Aus-
sagen vor dem Hintergrund schier endloser möglicher minimaler Einflussfaktoren
niemals restlos sicher zu formulieren.
“Moreover, Lorenz also discovered stricter limits on our knowledge, proving that
even models of physical systems with a few precisely known variables […] can pro-
Schmetterlingseffekte 59
Mit seiner popkulturellen Verbreitung auch durch mehrere Filme (etwa der But-
terfly Effect von Eric Bress und J. Mackye Gruber aus dem Jahr 2004) gehört
der Schmetterlingseffekt zu den bekanntesten Naturwissenschaftsmetaphern der
jüngeren Vergangenheit. Er hält Einzug in die filmischen Narrative, um alternati-
ve Handlungsverläufe entlang minimal differenter Ereignisse durchzuspielen oder
zumindest innerhalb der Handlung anzudeuten. Allerdings verweist diese Popu-
larität nur oberflächlich auf der Bildebene der Metapher auf den Ursprungkontext
einer zunehmenden wissenschaftlichen Abkehr von Ansprüchen der Prognosti-
zier- und Kontrollierbarkeit komplexer Prozesse. Vielmehr vollzieht sich in der
Übernahme der Metapher aus dem Spezialdiskurs der Wissenschaft eine gleich-
zeitige Umdeutung, die sich zu der naturwissenschaftlichen Ursprungsbedeutung
antagonistisch verhält: Der Schmetterlingseffekt wird zu einem hübscheren Aus-
druck für Schneeballeffekte, also Kausalketten, die sich auf kleine aber identi-
fizierbare Anfangsbedingungen zurückführen lassen. Damit wird gerade nicht
die Unvorhersagbarkeit von Ereignissen angesichts ihrer Einbindung in unendlich
komplexe Kontexte thematisiert, sondern die Möglichkeit behauptet, solche Ver-
kettungen entwirren zu können. Darin, so fasst es der Wissenschaftsjournalist Paul
Dizikes in seinem Text The meaning of the butterfly – Why pop culture loves the
‚butterfly effect,‘ and gets it totally wrong zusammen, zeigt sich eher das Begehren
des öffentlichen Diskurses nach klaren, einfachen Antworten und nicht nach Sicht-
barmachung gestiegener Zukunftsunsicherheit.
“Pop culture references to the butterfly effect may be bad physics, but they’re a
good barometer of how the public thinks about science. They expose the growing
chasm between what the public expects from scientific research – that is, a series
of ever more precise answers about the world we live in – and the realms of uncer-
tainty into which modern science is taking us.” (Dizikes 2008)
In der populärkulturellen Aneignung der Metapher des Schmetterlingseffekts
verbinden sich daher beide Dimensionen des geschilderten gesellschaftlichen Um-
gangs mit Risiko: Naturwissenschaftlich verweist sie auf die Grenzen präziser
Antizipation angesichts komplexer und unkontrollierbarer Einflussfaktoren, popu-
lärkulturell repräsentiert sie die nicht alternativlose aber letztlich identifizierbare
Konstruktion klarer Kausalitäten, die häufig transzendentale Andeutungen einer
Wirklichkeit beinhalten, in der alles mit allem verbunden scheint. Beide Verständ-
60 Sina Farzin
nisse prägen auch die Darstellung des Risikoumgangs in den hier fokussierten
Verfilmungen des Romans von Matheson, wobei der Schmetterling uns nur in der
jüngeren Verfilmung als handlungsbegleitendes Bildmotiv begegnen wird.
Wie greifen nun die beiden Verfilmungen das geschilderte ambivalente gesell-
schaftliche Verhältnis zur Wissenschaft auf und transformieren es in ihre utopi-
schen Erzählungen? Beide Filme legen zunächst einen stärkeren Akzent auf die
wissenschaftlichen Strategien der Risikobearbeitung, indem sie die Hauptfigur
Robert Neville, im Roman ein Autodidakt ohne wissenschaftliche Vorbildung, als
ausgebildeten Militärarzt und Forscher darstellen, der im Bereich der Epidemo-
logie spezialisiert ist. Diese Abweichung von der literarischen Vorlage ist sicher
auch auf Gründe der erzählerischen Straffung zurückzuführen (im Roman nimmt
die Schilderung des Selbststudiums Nevilles in verlassenen Bibliotheken großen
Raum ein und ist kaum mit den Genrekonventionen des zeitgenössischen action-
getriebenen Blockbusterplots zu vereinen). Andererseits zeigt sich hier auch die
gestiegene gesellschaftliche Aufmerksamkeit für die voraussetzungsvollen For-
men von Wissen und Praktiken, die eine ausdifferenzierte und professionalisierte
medizinische Forschung hervorbringt. Dabei korrespondiert die gestiegene ge-
sellschaftliche Sensibilität für die potentielle Risikoerzeugung durch naturwissen-
schaftliche Forschung sowie die gestiegene Aufmerksamkeit für die Produkte und
Produktionsbedingungen dieser Forschung mit den stärkeren Anstrengungen, die
in Filmen zur authentischeren Darstellung der Forschung unternommen werden.
Bereits ein vergleichender Blick in die Abspänne der beiden Verfilmungen lässt
erahnen, wie stark wissenschaftliche Forschungspraxis und standardisierte Wis-
sensproduktion inzwischen gesellschaftlich wahrgenommen werden: Während
für Omega Man (1971) kein einziger wissenschaftlicher Berater aufgeführt wird,
finden sich im Abspann von I am Legend im Jahr 2007 gleich 28 Science Consul-
tants, größtenteils Mediziner und Epidemiologen und teilweise für das nordame-
rikanische Centers for Desease Control and Prevention (CDC) tätig, das ebenfalls
als beratende Institution beteiligt wurde.
Dieser Befund ist nicht untypisch, David Kirby zeigt in seiner Studie Lab Coats
in Hollywood, wie sich im Verlauf der 1980er Jahre der Einbezug von naturwis-
senschaftlichen Experten in die Herstellung von Hollywoodfilmen durchgesetzt
und professionalisiert hat, so dass heute kaum eine Produktion, die irgendwie mit
wissenschaftsnahen Themen zu tun hat, ohne diese auskommt. Von Seiten der
Wissenschaft wiederum wird diese Option der Einflussnahme oder zumindest In-
Schmetterlingseffekte 61
Schatten zielt, der hinter einer Fensterscheibe entlanghuscht. Danach setzt er seine
Fahrt ohne Eile fort.
Erst im Verlauf des Films erfahren wir durch Rückblenden in Nachrichtensen-
dungen, dass ein atomarer Krieg zwischen Russland und China stattgefunden hat,
bei dem versehentlich Bakterien aus einem Militärlabor entwichen sind und sich
durch Luftübertragung global verbreitet haben. Dieser Prozess wurde beschleu-
nigt durch den Einsatz von Nuklearwaffen, welche die schnelle Ausbreitung der
Erreger global ermöglichten. Neville als Militärarzt arbeitete an der Impfstoff-
entwicklung (das wird nicht gezeigt), die aber zu spät gelang. Beim Transport des
Impfstoffes stürzte sein Helikopter ab, er kann sich nur noch selbst immunisieren
und scheint nun der einzige Überlebende zu sein.
Obwohl die Exposition des Filmes I am Legend 2007 zentrale Motive der Ver-
filmung von 1971 aufgreift rahmt sie das Thema von Anfang an anders. Auch
hier werden fiktiv-realisitsche Nachrichtenbilder aus der Fernsehübertragung ein-
gesetzt, jedoch direkt als erste Szene und in flirrender Fernsehbildoptik mit quasi
dokumentarischem Charakter. Als erstes sehen wir ein Interview, indem eine Ärz-
tin, gespielt von Emma Thompson, erläutert, wie es gelungen ist, das Masernvirus
durch genetische Mutation zur Heilung von Krebs einzusetzen. Sie benutzt das
Bild eines Virus als Auto, für das es ihr gelungen sei, den bösen Fahrer durch einen
guten Polizisten zu ersetzen. Die nächste Szene nimmt dieses Motiv auf, nachdem
die Überblende den zeitlichen Abstand von drei Jahren kennzeichnet. Wir sehen
die Skyline von New York, die deutlich höheren Wiedererkennungswert hat als die
Chicago Bilder des Omega Man. Einzige Akustik bilden Tiergeräusche, die einen
starken Kontrast zur Stadtansicht bieten. Einige Häuser sind in Folien gepackt, die
Straßen von verlassenen Autos blockiert, die Tunnel voll Wasser. Alles ist auch
hier menschenleer, am Timesquare und anderen Gebäuden hängen große Qua-
rantänetafeln. Anders als in Omega Man werden hier jedoch Tiere und Pflanzen
gezeigt, die in der verlassenen Stadt einen neuen Lebensraum rückerobern. Robert
Neville, gespielt von Will Smith, rast durch diesen Großstadtdschungel im wört-
lichen Sinn. Auch er fährt einen roten Sportwagen, auch er führt ein Gewehr mit,
hinzu kommt ein Hund. Beide kommen zum Einsatz, als Neville einer Wildherde
begegnet und versucht ein Tier zu erlegen, sich aber den konkurrierenden Löwen
geschlagen geben muss.
Damit wird die Wissenschaftsthematik auf mehreren Ebenen prominent ein-
geführt. Anders als im Roman und im Omega Man geht das Aussterben der
Menschheit hier nicht auf ein Risiko im klassischen Sinne zurück. In der älteren
Version, gedreht zur Hochzeit des kalten Krieges, ist die Epidemie Folge des un-
kontrollierten Freisetzens biologischer Kampfstoffe – ein Vorgang der allen Be-
teiligten als Risiko klar sein muss: Wissenschaftler, die biologische Kampstoffe
Schmetterlingseffekte 63
den Vampiren – großer Raum eingeräumt. Gleich in mehreren Szenen sehen wir,
wie Neville als einziger Überlebender New Yorker in seinem professionell ein-
gerichteten Kellerlabor nach einem Impfstoff sucht und dabei an allen Techniken
aber auch Symbolen festhält, die fachliche Kompetenz vermitteln: Er führt ein
Video-LaborLog, führt systematische Tierversuche an Vampirmäusen durch und
trägt neben der Videobrille stets einen weißen Kittel. Er jagt die Vampire nicht
aus Verachtung, die reine Selbstverteidigung in Mordlust kippen lässt, so wie es
sowohl im Roman als auch im Omega Man dargestellt wird. Vielmehr fängt er
Studienobjekte lebend ein, um an ihnen Versuche zur Entwicklung eines Impf-
stoffes durchzuführen. Die Darstellung dieser Versuchsreihen ist detailliert, ihre
Systematik wird durch die Kamerafahrten über die Laborgegenstände und Ver-
suchsdokumentationen betont. Diese Betonung der wissenschaftlichen Routine im
Umgang mit den Untersuchungsobjekten entspricht die weitgehend objektivieren-
de, aller Assoziationen an ihr menschliches Vorleben beraubte Darstellung der
Vampire, die zudem optisch als auch in ihrem stummen, rudelhaften Verhalten
eher Zombies ähneln. In I am Legend erscheinen die Infizierten allein als Untersu-
chungsobjekte, sozusagen als größere und gefährlichere Version der Labormäuse.
Diese Objektivierung durch den Blick des Wissenschaftlers wird an keiner Stelle
wirklich durchbrochen, vielmehr bescheinigt Neville seinen Studienobjekten eine
animalisch-triebhafte Aggressivität und ein ebenfalls animalisches Rudelverhal-
ten, das keinerlei soziale Beziehungen und Verbindungen erkennen lässt.
Demgegenüber treten die Infizierten in Omega Man als selbstbewusste Sub-
jekte auf, die eine eigene, alternative soziale Ordnung bilden. Diese zeichnet sich
durch die quasi-religiöse Verehrung ihres Anführer Matthäus aus, die auch in der
Kleidung der Vampire anklingt, die aus uniformen, mönchsartigen Kutten besteht.
Sie bilden eine Gegenkultur zu der untergegangenen Ordnung, die sie als Ursache
für das erfahrene Schicksal ausmachen. Daher ist ihr Ziel die Vernichtung von
Kultur und Wissen, um eine Wiederholung des kriegerischen Geschehens zu ver-
meiden: Nacht für Nacht zerstören und verbrennen sie Bücher, technische Geräte,
Bilder und andere Speichermedien. In ihrem Auftreten und durch ihr politisches
Ziel der Abschaffung aller tradierten Wissensbestände erinnern sie eher an kollek-
tive Stereotype wissenschaftsfeindlicher religiöser Sekten als an Vampire. Die Ge-
fahr, die von ihnen für Neville ausgeht ergibt sich aus seinen eigenen Taten, nicht
aus ihrem Blutdurst. Sie wollen Neville töten, weil dieser sie tötet. Und in der Tat
gelingt es ihnen im Rahmen des Films Neville zu fangen und ihm einen Prozess zu
machen, dessen Inszenierung inklusive Streckbank und Scheiterhaufen Klischees
des finsteren, aber eben auch zutiefst christlichen Mittelalters bedient.
Diese enge Verbindung religiöser Konnotationen mit den Attributen der Wis-
sens- und Wissenschaftsfeindlichkeit betont den harten Grenzverlauf zwischen
Schmetterlingseffekte 65
liche Dorfidylle dargestellt: Als sich die Tore der Sicherheitsschleuse vor Anna
und Ethan öffnen wird zugleich der Blick auf die zentrale Dorfstraße freigegeben,
an deren Ende ein Kirchengebäude steht. Anna überreicht den Bewohnern des si-
cheren Dorfs das Röhrchen mit Blut, in dem die Antikörper aufgehoben sind. Die
Phiole mit Blut, die umzäunte Gemeinschaft, deren Tore zuerst den Blick auf die
idyllische Dorfkirche freigeben: In der Schlussszene mutiert der Schmetterlings-
effekt in eine christliche Umdeutung und Banalisierung: Alles ist mit allem ver-
bunden. Damit nutz der Film die Schmetterlingsmetapher in genau dem eingangs
erläuterten Sinne als Kollektivsymbol, in dem Aspekte des wissenschaftlichen
Umgangs mit Nichtwissen aufgegriffen und konterkariert werden – unter Rück-
griff auf eine metaphysische Ebene der Sinnstiftung, die dem rationalen Zugriff
der Wissenschaft entzogen bleiben muss.
„Dabei stellt sich ‚Risiko‘ als ein spannungsreiches Konzept dar, lenkt es doch einer-
seits die Aufmerksamkeit auf mögliche unerwünschte Folgen vermeintlich rationa-
len Handelns und versucht es doch gleichzeitig, diese kalkulierbar und handhabbar
zu machen. Gerade diese Doppelstruktur beförderte die Entwicklung von ‚Risiko‘
zu einem Zentralkonzept moderner Gesellschaften […]. Denn Risikowissen und Ri-
sikomanagement versprachen, die Nebenfolgen der Modernisierung zu bewältigen,
Schmetterlingseffekte 67
Neville als Symbolfigur der alten Ordnung führt. Die ‚neue‘ Gesellschaft der Vam-
pire wird als wissens- und technikfeindliche Loge von Bilderstürmern dargestellt.
Ihre Inszenierung mit christlichen Symboliken wie den Kutten, ihr Personenkult
um den Anführer Matthäus erzeugen das Schreckbild einer fundamentalistischen
neuen Ordnung, die ihre ideologische Verblendung auch dann nicht überwindet,
als Neville ihr das Gegenmittel aus seinem Blut anbietet. Auch wenn der Wis-
senschaftler Neville hier als beschädigtes Individuum dargestellt wird, fungiert
die Imagination einer fundamentalreligiösen Gemeinschaft eben als dystopische
Warnung und nicht als utopischer Ausweg. Der einzige aufschimmernde utopische
Moment der Erzählung ist die Andeutung der Möglichkeit eines anderen Lebens
jenseits der Stadt für die überlebenden Jugendlichen, die damit auch das Kampf-
feld der beiden symbolischen Ordnungen hinter sich lassen und einem unbestimm-
ten aber prinzipiell möglichen Neuanfang entgegenfahren.
Demgegenüber findet sich eine Verbindung religiöser und wissenschaftlicher
Element im abschließenden Bild der puritanischen, geschlossenen christlichen
Gemeinschaft. Dieser vormoderne Sehnsuchtsort als scheinbar utopischer Flucht-
punkt erlebt dabei gerade in jüngeren Utopien eine erstaunliche Renaissance, die
unter den Voraussetzungen moderner Technologien und Wissenschaft vor allem
agrarische, lokale, gemeinschaftliche Lebensformen imaginiert.
“One of the oddities of the 20th-century technological utopias is what I once called
‘technological agrarianism’, or societies that use sophisticated technology to main-
tain an agrarian way of life. Sometimes the technology is so hidden as to make no
sense.” (Sargent 2006, S. 370)
Der Ausklang des Filmes setzt damit dort an, wo Omega Man abbricht und verbild-
licht die utopische Möglichkeit eines neuen Gemeinwesens jenseits der post-katas-
trophischen Gefahrenzone Stadt. Dabei setzt das Bild der religiösen Gemeinschaft
die Bedeutungsstiftung der Schmetterlingsmetapher fort, die das Kollektivsymbol
des Schmetterlingseffekts nutzt, um wissenschaftliche und religiöse Sinnstiftungs-
prozesse aufeinander zu beziehen und letzten Endes zu vereinen: Einerseits wird
das populäre wissenschaftliche Motiv des Schmetterlingseffekts genutzt, um die
im Angesicht der Katastrophe als zunehmend sinnlos empfundene Existenz Ne-
villes für diesen wieder mit Sinnhaftigkeit auszustatten: Die retroaktive Verbin-
dung banaler Einzelereignisse verknüpft sich für Neville zu einer schicksalhaften
Erzählung des eigenen, schließlich erfolgreichen Märtyrertums. Das Streben nach
einer wissenschaftlichen Antwort auf die ebenfalls wissenschaftlich erzeugte Ka-
tastrophe kann aber, daran lässt der Film in seiner Schlusssequenz keinen Zweifel,
nur durch die Einbindung des wissenschaftlichen Wissens in religiöse Deutungs-
Schmetterlingseffekte 69
Literatur
Beck, U. (1986). Risikogesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Böschen, S., Wehling, P. (2012). Neue Wissensarten: Risiko und Nichtwissen. In S. Maasen
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70 Sina Farzin
Filme
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GATTACA (1997; R.: Andrew Niccol)
I am Legend (2007; R.: Francis Lawrence)
Minority Report (2002; R.: Steven Spielberg)
Omega Man (Der Omega-Mann; 1971; R.: Boris Sagal)
Weltrettung in der Post-Apokalypse
Transformationen des Selbst in The Matrix,
The Terminator und 12 Monkeys1
Jörn Ahrens
1 Post-apokalyptischer Film
in einer post-apokalyptischen Welt
Die post-apokalyptische Welt ist eine Welt, die bereits zerstört ist. Auch wenn diese
Feststellung den eigentlichen Sinn der Apokalypse als Offenbarung und Erlösung
nicht wirklich trifft, prägt sie doch die in westlichen Kulturen vorherrschenden
Vorstellungen von post-apokalyptischen Umwelten. Insofern geht die Bedeutung
der Apokalypse klar von deren in der christlichen Kultur verwurzelter Epistemo-
logie aus; das Neue kann sich nur durch die Zerstörung des Alten hindurch reali-
sieren. So lässt sich die Apokalypse als ein spezifisches Narrativ adressieren, das
einen von einer Krisensituation ausgehenden Transformationsprozess beschreibt.
Christlich hingegen meint die Apokalypse nicht einfach die Verwandlung eines
alten Zustands in einen neuen im Medium der Krisenerfahrung; viel wichtiger als
dies ist das Ergebnis dieser Verwandlung – die Ankunft einer neuen Zeit der Er-
lösung: „Der neue Anfang, der auf das Ende des alten Weltlaufs folgt, wird dann
1 Erstmals erschienen unter dem Titel „How to Save the Unsaved World? Visiting the
Self in 12 Monkeys, The Terminator 2, and The Matrix”, in: Annette M. Holba/Kylo-
Patrick R. Hart (Hrsg.): Media and the Apokalypse, New York 2009: Peter Lang, S.
53–65.
als der Beginn einer nicht mehr endenden Heilszeit verstanden“ (Bultmann 1958,
S. 27). Das bedeutet, dass Krise und Katastrophe der Apokalypse gleichbedeutend
sind mit einer Reinigung der Welt, um so zu garantieren, dass die ganze Welt
gerettet werden und eine religiöse Heilsgeschichte sich vollziehen kann. Jedoch,
diese Heilsgeschichte kann nur im Anschluss an die Zerstörung und Bestrafung
des gescheiterten, gefallenen und bösen Menschen, wie auch der Erde, geschehen.
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, wie sehr der Imaginationsraum (Ahrens
2012, S. 267ff.) des post-apokalyptischen Films an säkularisierte Varianten dieser
Art von Ideen anschließt. Die Kultur westlicher Gesellschaften ist massiv geprägt
durch christliche Vorstellungen vom Ende der Welt. Selbst in einer radikal säkula-
risierten Gesellschaft ist diese epistemologische Grundlage der Kultur noch wirk-
sam. Dies trifft sogar auf populärkulturelle Artefakte zu, die diese Epistemologie
in besonderer Weise im Genre des post-apokalyptischen Science-Fiction Films
aufgreifen.
Susan Sontag (1967) zufolge geht von der Inszenierung einer finalen Katast-
rophensituation auf der Erde und des Martyriums der Menschheit eine seltsame
Faszination aus. Es ist daher bemerkenswert, dass der post-apokalyptische Film
im allgemeinen ein Szenario entfaltet, das von einer Welt ausgeht, die sich jen-
seits ihrer Zerstörung befindet, worin es nur wenige Überlebende gibt, die ent-
weder gegen monströse Feinde kämpfen müssen, die über eine zerbrochene Welt
herrschen oder aber von mafiotischen Banden unterdrückt werden, welche einige
skrupellose Überlebende als neue, post-apokalyptische soziale Regimes installiert
haben. Der Unterschied zwischen dieser Art von zeitgenössischem, post-apoka-
lyptischen Film und der christlichen Idee der Apokalypse besteht also darin, dass
er die Frage der Erlösung beiseite lässt und auf die post-apokalyptische Situation
als wirkliche Krisensituation fokussiert. In diesem Sinne verweist Martin Jay da-
rauf, dass besonders im ausgehenden 20. Jahrhundert apokalyptisches Denken
mit Macht zurückgekehrt und reaktiviert sei (Jay 1999, S. 17). In einer Tradition
mittelalterlicher Prophezeiungen von der Apokalypse als Endzeit wurzelnd (Cohn
1988), sind apokalyptische Vorstellungen zu jeder Zeit wirkmächtiger Bestandteil
westlicher Gesellschaften und Kulturen gewesen, selbst noch zu Zeiten der Auf-
klärung (Busse 2000, S. 76ff.).
Vor diesem Hintergrund artikuliert der post-apokalyptische Film eine jeweils
zeitgenössische Perspektive, über die eine bis dato noch unbekannte Zukunft re-
flektiert wird, indem sie die Gegenwart in Vergangenheit verwandelt. In diesen
Filmen, durchwegs Produkte der Moderne, findet natürlich keine transzendente
Epiphanie mehr statt. Im Gegenteil, das Individuum selbst muss hier eine Zukunft
gestalten, worin die Plötzlichkeit der Katastrophe eingebrochen ist. Insofern sind
diese Filme auch Zeugnisse für ein modernes Konzept des Selbst als der Form,
Weltrettung in der Post-Apokalypse 73
ersetzt, wird die beständig geübte, kulturelle Reflexion auf damit verbundene The-
men und deren Repräsentation notwendig. Josef Früchtl zufolge bedeutet über die
Moderne nachzudenken auch, auf das Selbst [„Ich“] zu reflektieren und „das Ver-
hältnis seiner unterschiedlichen Dimensionen zu gewichten“ (2004, S. 17). „Die
Moderne bildet in sich also ein Verhältnis nicht nur des Gegen-, sondern auch
des Neben- und Miteinander aus. […] Die ‘Heldengeschichte’ des Ich hat daher
selbstverständlich auch kein Telos mehr […] Das ich ist als Held eine prekäre und
ambivalente Figur, und die Geschichte dieser Ambivalenz ist zu schreiben“ (ebd.,
S. 19). Bezeichnenderweise zeigt die Darstellung und Ikonographie des Helden in
einschlägigen post-apokalyptischen Filmen sehr deutlich, auf welche Weise eine
Transformation des Selbst zum jeweiligen Zeitpunkt einen bestimmten Zeitgeist
und dessen Bedeutungskern trifft.
Die Helden der hier thematisierten Filme passen nicht zum Klischee des klassi-
schen Helden. Terry Gilliam zeigt in 12 Monkeys seinen James Cole (Bruce Wil-
lis) konsequent als Anti-Helden; ein verzweifelter, etwas konfuser Typ, der von
seinen vorgesetzten Wissenschaftlern gezwungen wird, die Vergangenheit in der
Mission zu bereisen, seine Gegenwart zu retten. Wie ein Schlafwandler bewegt er
sich durch die USA im Jahr 1997, in der verzweifelten Hoffnung, den Entwickler
eines tödlichen Virus zu finden, das schlussendlich die meisten der Menschen
weltweit getötet hat und den Rest dazu zwingt, in Bunkern unter der Erde zu le-
ben. Eine für den Film wichtige Pointe liegt in der Entfaltung einer Zeitschleife,
wenn der gescheiterte Held in der letzten Sequenz sich selbst als Jungen sieht (und
vice versa). Ähnlich wie in Gilliams Film hausen auch die paar überlebenden
Menschen in James Camerons The Terminator in höhlenartigen Schutzräumen,
nachdem ein von rebellierenden, intelligenten Maschinen herbeigeführter nuklea-
rer Winter die Erdoberfläche verwüstet hat. Die Überlebenden formieren sich als
Rebellen gegen die nun herrschenden Maschinen. Jedoch ist das Leben ihres cha-
rismatischen Anführers ernsthaft bedroht, als die Maschinen beschließen, einen
Terminator (Arnold Schwarzenegger) – also einen Androiden, der aussieht, wie
ein Mensch – in die Vergangenheit zu entsenden, um die Mutter des Anführers zu
töten, bevor dieser überhaupt geboren werden konnte. Um seine Mutter zu schüt-
zen und ihr alle notwendigen Fertigkeiten beizubringen, die sie zum Überleben
benötigen wird, schickt auch der Rebellenführer einen Kämpfer in die Vergangen-
heit, der schließlich sein Vater werden wird. Während nun beide Filme deutlich
machen, dass der Versuch, die Welt zu retten, keinesfalls gleichbedeutend damit
ist, dies auch zu schaffen, demonstriert ein Film wie The Matrix von den Brüdern
Wachowski von Beginn an deutlich mehr Pathos. Auch hier wird die Erde von
Maschinen beherrscht. Allerdings haben diese sie nicht zerstört, sondern geschaf-
fen. Die wirkliche Welt in The Matrix ist dunkel und leer, während die Welt, wie
Weltrettung in der Post-Apokalypse 75
wir sie kennen, eingeführt wird als computergenerierte Simulation, die lediglich
den Zweck hat, die Menschen beherrschen, die ihren Maschinenschöpfern letzt-
lich nur als Energiequellen dienen. Wenn der Protagonist Neo (Keano Reeves) auf
der Bildfläche erscheint, ein zunächst durchschnittliches Computer-Kid, wird er
rasch als „The One“ identifiziert, der Retter, der gekommen ist, um die Mensch-
heit aus der Unterdrückung durch die Maschinen in einer Realität der bloßen Si-
mulation zu befreien. Ziemlich offensichtlich korrespondiert hier die Imagination
der Apokalypse als Erlösung dem modernen Willen, die Artefakte auch wirklich
zu beherrschen, die mit dem gesellschaftlichen Fortschritt entstanden sind. Den-
noch lässt sich fragen, weshalb eine so triste Realität wie diese es überhaupt wert
sein soll, gerettet zu werden. Die wüstenleere, wenig ansprechende „Realität“, wie
sie The Matrix repräsentiert, macht es einfach, sich mit dem Verräter Cyber zu
identifizieren, der ein Leben in der Matrix dem in der „Realität“ vorzieht, das ihm
wenigstens simulierte Sinnlichkeit bietet, an Stelle einer Realität, die von aller
Sinnlichkeit entleert ist.
Schließlich sorgt der post-apokalyptische Film im Allgemeinen für einige Kon-
fusion, was die Uneindeutigkeit angeht, für die die Moral der Gegenspieler ein-
steht, selbst wenn die Rettung der Menschheit immer Thema ist. Zwar stimmt es,
dass diese Filme stets einen eindeutig bösen Antipoden aufzubieten scheinen (die
Maschinen, die Leute, die das Virus ausgestreut haben, etc.), aber in allen diesen
Fällen war es auch die moralische Ignoranz des Menschen und dessen blindes
Vertrauen in den technischen Fortschritt, die insbesondere für die Herbeiführung
einer post-apokalyptischen Situation und das Erscheinen der neuen Machthaber
verantwortlich gemacht werden müssen. Auf diese Weise entpuppt sich der techni-
sche Fortschritt als soziale Teleologie zum Wohle des Menschen als eine Illusion,
die, ganz im Gegenteil, derlei Güter attackiert. In der Konsequenz veruneindeutigt
die post-apokalyptische Situation die Kategorien von Gut und Böse, weil die Apo-
kalypse hier kein Instrument göttlicher Mächte ist, das mit einem anschließenden
Prozess der Erlösung in Zusammenhang stünde. Stattdessen resultiert sie norma-
lerweise aus menschlichen Handlungen, die in gewisser Weise alle von den besten
Absichten geleitet sind. Das Böse, das nun außerhalb des Menschen als Maschi-
nenmacht oder als tödliches Gift wirksam wird, ist insofern immer noch Teil des
Menschen, muss aber trotzdem vernichtet werden. Doch wie soll man das Böse im
Stile des klassischen Helden bekämpfen, wenn dieses Böse sich doch eindeutig im
menschlichen Selbst verortet? In dieser Situation wird das zuvor heldische Selbst
in Narrative der Ambivalenz und der Inkohärenz übersetzt, die auf dessen Leer-
stellen und Brüche verweisen. Insofern könnte sich gerade diese immanente Am-
bivalenz des modernen Selbst unter den Bedingungen des post-apokalyptischen
Films gespiegelt sehen.
76 Jörn Ahrens
Aber auch in ambivalenter Gestalt steht der Held – ob er seine Mission nun
erfolgreich ausführt oder nicht – dennoch für die grundlegende Gewissheit, dass
es kein Ende einer Geschichte des Menschen geben wird. Diese Gewissheit über
ein Fortbestehen der Menschheit gegen alle Widerstände in Kultur und Geschichte
geht weit zurück auf antike, mythologische Narrative und Überzeugungen, als die
Menschen noch stets einen Weg aus der Krise fanden, selbst wenn sie von Göttern
herausgefordert waren (Rose 1969). Insofern dürfte die Hoffnung auf einen Fort-
bestand der Gattung eines der maßgeblichen Motive sein, das solche Geschichten
inspiriert. Wenngleich aber die Faszination für apokalyptische Narrative häufig
beobachtet wurde (Dixon 2003; Sontag 1967), wurde doch ebenso häufig über-
sehen, dass sie fast immer mit der Idee von einer späteren Rückgewinnung des
Verlorenen oder Zerstörten verbunden ist – was wiederum eng angelehnt scheint
an das ursprüngliche Konzept der Apokalypse. Die Errettung nach der Zerstörung
ist ein Motiv, das die meisten post-apokalyptischen Filme gemeinsam haben; nur
unter Schwierigkeiten können sie an dieser Stelle ihr mythologisches oder religiö-
ses Erbe kaschieren. Mit den 1980er Jahren beginnt diese Art des reinen Vertrau-
ens in die Kompetenzen des Selbst zu erodieren. Inspiriert durch Ideen der Post-
moderne, aber auch durch die zeitgenössische politische und ökologische Lage, die
die Menschheit mit dem nuklearen Genozid bedroht, beginnt das Vermächtnis des
modernen Selbst in dem Moment fragwürdig zu werden, da derartige Bedrohun-
gen wahr zu werden drohen. Die Idee der Rettung als klassisches Narrativ wird
vor diesem Hintergrund in Frage gestellt und rasch in Form populärer Narrative
verarbeitet, welche diese Fragen reflektieren.
Stellt der klassische post-apokalyptische Film noch Menschen – oder ehemali-
ge Menschen – aus, die ihre Mitmenschen auf das Übelste malträtieren, so wech-
selt dieses Szenario nun hin zu einer Bedrohung, worin die Objekte des Verder-
bens, schließlich auch zu dessen Subjekten werden. Sowohl in The Terminator als
auch in The Matrix werden die Maschinen schlussendlich intelligent und sich ihrer
Macht in der menschlichen Zivilisation bewusst. In dem Moment, da sie Vernunft
erlangen, führt dies aber auch unversehens zu moralischer Degeneration, bedeutet
doch, über Vernunft zu verfügen, noch lange nicht, auch moralisch zu sein. Und
so beginnen die Maschinen damit, ihre einstmaligen Herren und Produzenten, die
Menschen, zu unterdrücken und zu eliminieren. Solche Phantasien entstammen
ganz offensichtlich einer anthropologischen Furcht, einst vom Rise of the Machi-
nes (USA/GER/UK 2003) und die stetig voranschreitende, technische Evolution
überholt zu werden (Anders 1956). Heute sind es überwiegend Biowissenschaften,
Neurologie und Kybernetik, die derlei Szenarios einer Überwindung des Men-
schen befeuern. Wiederum radikalisiert 12 Monkeys dieses Szenario, indem das
Virus, das in diesem Film die Welt überfällt, zwar bewusstlos bleibt, aber dennoch
Weltrettung in der Post-Apokalypse 77
von nun an gewissermaßen die Welt an Stelle der Menschen regiert. Beide Arten
der Imagination weisen jedoch darauf hin, dass die moderne Apokalypse als Er-
gebnis menschlichen Handelns verstanden werden muss. Immer handelt es sich
um eine Art von hausgemachter Katastrophe, verursacht durch eine Menschheit,
die sich weigert, die dämonischen Potentiale ihrer eigenen Zivilisation anzuerken-
nen und zu begreifen, während genau diese Zivilisation darauf besteht, trotz allem
einer besseren Zukunft zu dienen.
Diese bessere Zukunft bleibt aber ein Versprechen, das nicht eingelöst werden
wird. Stattdessen verwandelt es sich in einen Alptraum der Zerstörung, der Unter-
drückung und des Leidens. Am Ende muss der Mensch gegen seine eigenen Er-
zeugnisse und gegen das von ihm erlangte Wissen ankämpfen, wenn beide sich als
die eigentlichen Quellen der Katastrophe erweisen. Schlimmer noch, der Mensch
muss sogar sich selbst bekämpfen, weil er die Ursachen der Katastrophe durch sei-
nen unbegrenzten Willen zum Wissen und zu technologischem Fortschritt selbst
geschaffen hat. In dieser Hinsicht ist es aber, wie James Camerons The Termina-
tor 2 (USA 1991) seinem Publikum mitgibt, schwierig zu entscheiden, wer ge-
nau für das Böse, das geschehen wird, persönlich verantwortlich gemacht werden
kann. Im Falle dieses Films jedenfalls entpuppt sich der Wissenschaftler, der ein
Mega-Computerprogramm erfunden hat, welches die gesamte Erde bedroht und
schließlich einen Atomkrieg auslösen wird, als liebender Familienvater, der so-
fort einwilligt, seine Forschungen zu vernichten, nachdem er über deren künftige
Resultate aufgeklärt wurde. Diese Figur setzt einen deutlichen Akzent gegen den
klassischen mad scientist, in dessen Zeichnung noch jede Verantwortlichkeit für
die Zerstörung der Erde einem einzigen verrückten Individuum angelastet werden
kann. Insofern steht der Wissenschaftler in The Terminator 2 (USA/FR 1991), der
persönlich Verantwortung übernimmt, für die gesamte Menschheit und deren pre-
kären Standort in der Welt. Damit erweist sich die vormals äußerliche Bedrohung
des Menschen, ausgelöscht zu werden, als diesem inhärente Option, die von den
Fähigkeiten des Menschen niemals abgelöst werden kann.
Nicht nur fallen die Resultate der Bemühungen des Helden in allen drei hier her-
angezogenen Filmen höchst unterschiedlich aus, auch die Charaktere selbst stel-
len drei grundverschiedene Varianten eines möglichen Selbst dar, das durch eine
schon zerstörte Welt beeinträchtigt ist. Auch wenn auf dieses Selbst immer unter
dem Aspekt der Rettung Bezug genommen wird, zeigt es sich doch in einer Span-
ne, die von verzweifelter Konfusion in 12 Monkeys über martialische Selbstbe-
78 Jörn Ahrens
Mehr noch, als Rebellenanführer der Menschen bleibt Connor bloß ein Name.
Das Narrativ ist in diesem Fall also doch so sehr mit den Herausforderungen an
klassische Herangehensweisen an das Selbst beschäftigt, dass die eine Person, die
sich scheinbar perfekt als Held identifizieren ließe, nicht ein einziges Mal gezeigt
wird. Stattdessen sucht sie den Film geisterhaft heim, indem ständig von ihr in
idolatrisierender Weise geredet wird. Der wirkliche Held des Films ist stattdessen
der Terminator, ein artifizielles Wesen, dem Vernunft abgeht und stattdessen nur
ein Programm besitzt – ein Golem des Techno-Zeitalters. Dieser Umstand bleibt
bedeutsam, weil gerade deshalb der Terminator nicht einmal böse genannt werden
kann; vielmehr ist er nur das Instrument von etwas, das böse ist. „Der technisch
perfektionierte Terminator ist aber nicht nur moralisch unterentwickelt, in seinem
Antihumanismus und seiner schillernden Geschlechtlichkeit, sondern auch aus
der Sicht der Rationalitätstheorie“ (Früchtl 2004, S. 399). Insofern verkörpert der
Terminator einen klaren Antagonismus, und dies ist derjenige zu den eigentlichen
Eigenschaften des menschlichen Selbst. Mag der Terminator auch aussehen wie
ein Mensch und von größter Ausdauer darin sein, seine Mission auszuführen, so
entfaltet er doch zu keinem Zeitpunkt auch nur im Ansatz die Komplexität und die
Bedürfnisse eines menschlichen Wesens. Mit diesem Ansatz zeigt dieser Film sei-
nem Publikum, was es wert sein wird, sein Leben dafür zu riskieren, ein Mensch
zu sein (und zu bleiben).
Dritter Held dieses Films ist Kyle Reese (Michael Biehn), der Kämpfer, der ent-
sendet wird, um Connors Mutter Sarah (Linda Hamilton) zu beschützen. Reese ist
begabt genug, um Sarah zu beschützen und sie zu unterweisen. Er beginnt sogar
damit, eine Familie mit ihr zu gründen, wird dann aber von seinem mechani-
schen Gegner getötet. Ähnlich wie in 12 Monkeys entfaltet auch Camerons Film
eine Zeitschleife – so wird auch klarer, weshalb Connor der Anführer im Film
nicht vorkommt, muss doch Reese als dessen künftiger Vater seinem Kind erst
den Samen für individuellen Heroismus einpflanzen. Rasch entwickelt sich Reese
zur Identifikationsfigur des Films und repräsentiert damit auch die integre Figur
des modernen, um seine Selbsterhaltung kämpfenden Selbst, die Max Horkheimer
zufolge, eines der fundamentalen Prinzipen der Moderne darstellt (Horkheimer
1992). „Ein Individuum zu sein, bedeutet mit anderen Worten, das Leiden dar-
an zu bejahen, dass man nicht in einem Allgemeinen ‘aufgehoben’ ist. Daher ist
es gleichbedeutend damit, ein Held zu sein. Helden überwinden ihre Angst, sie
schrecken nicht vor dem Leiden zurück“ (Früchtl 2004, S. 342). Wenn dann nach
Reeses Tod die Zukunft mit Connors Mutter Sarah in den Händen einer vierten
Heldenfigur liegt, wird scheinbar ein matriachalisches Prinzip aktiviert. Das von
Sarah kultivierte Selbst entspricht aber exakt jenem maskulin codierten Selbst und
dessen Willen zur Selbsterhaltung. Früchtl bemerkt in diesem Zusammenhang zu
80 Jörn Ahrens
recht, die feministische Seite bei Sarah Connor bleibe zweifelhaft, tendiere sie
doch entsprechend dem Klischee einer weiblichen Psychologie zur Hysterie und
hänge einem gänzlich männlichen Verständnis von Kampf nach (ebd., S. 399).
Als elf Jahre später, 1995, 12 Monkeys in die Kinos kommt, befindet sich die
Postmoderne auf ihrem Höhepunkt, und das moderne Selbst steht mit dem Rü-
cken zur Wand. Nicht nur, dass es buchstäblich gezwungen wird, von der Erde
zu verschwinden und unter die Erde zu gehen, weil es seine Existenz vor einer
lebensbedrohlichen, zugleich aber uneinschätzbaren Gefahr auf der Erdoberfläche
verbergen muss. Mehr noch, scheint dieses Selbst auch von sich entfremdet zu
sein: James Cole, die Figur, von der erwartet werden dürfte, dass sie den Platz
des Helden in diesem Film einnimmt, leidet unter geistiger Verwirrung; seine
Vorgesetzten ähneln allzu stark dem Bild des klassischen mad scientist, führen
sie doch ihr Forschungsprojekt zur Wieder-Errettung der Welt wie ein Tollhaus.
In dieser Hinsicht schließt der Film an die Rücknahme des mad scientist in The
Terminator an. Während jedoch in letzterem Film sich das Selbst schlussendlich
durch aktive Einsichtnahme in seine historischen Verfehlungen rehabilitiert sieht
– blindes Vertrauen in den technischen Fortschritt etwa – liegen die Dinge im
Fall von 12 Monkeys wesentlich komplizierter. Auch wenn das Selbst der Zukunft
generell – repräsentiert durch Cole – offensichtlich ein gequältes Selbst geworden
ist, so haben dessen übergeordnete Wissenschaftler sich doch nichtsdestotrotz ein
Ethos des klassischen Selbst bewahrt und gerieren sich als Meister der Techno-
logie. Schlussendlich fällt die Entscheidung schwer, wer eigentlich verrückter ist –
das mental leidende Individuum oder dessen Obere. Von diesen verhalten sich alle
ausnahmslos, Männer wie Frauen, größenwahnsinnig; bereit, die Erde ins nächste
Unglück zu stürzen, wohingegen Cole als widerstrebender Agent sich in einem Zu-
stand existentieller Verzweiflung und Verwirrung befindet. Insofern die Autorität
ausübenden Wissenschaftler den Habitus eines unbeschädigten, klassischen Selbst
kultivieren, ist es hier – durchaus untypisch für die Apokalypse – die Vergangen-
heit, die mit der Vorstellung des Utopischen ausgestattet wird. „Das Neue Jerusa-
lem ist das Alte Jerusalem, das erhalten werden soll, die Welt des Jahres 1997, in
der nach der Filmrealität die meisten Menschen nur noch wenige Wochen zu leben
haben“ (Busse 2000, S. 170). Die Vergangenheit aber ist vergangen und kann unter
keinen Umständen wieder hergestellt werden.
In gewisser Weise ähnelt Cole auf allegorische Weise dem Konzept des mo-
dernen Selbst. Der Versuch, seine Rettungsmission auszuführen, führt ihn mitten
in seine eigene Vergangenheit; er wird heimgesucht von fremdartigen, ihm selbst
fremd bleibenden Erinnerungen. Am Schluss werden diese Erinnerungen aufge-
löst, wenn deutlich wird, dass Cole als Junge seinen eigenen Tod als Erwachse-
ner gesehen hat. In dieser Szene treffen sich die Enden der Zeitschleife, in der
Weltrettung in der Post-Apokalypse 81
sich Cole befindet; dass Cole, wenngleich unbewusst, seinem eigenen Tod zuse-
hen muss, nimmt metaphorisch das Schicksal der Menschheit im Ganzen voraus.
12 Monkeys „verweigert die Möglichkeit von Rettung und erzeugt Unbehagen an
der Gegenwart, in der unsichtbare Gefahren lauern, in der fraglich ist, was Wahn
und was Wahrheit ist“ (ebd., S. 173). Für das Ansinnen, ein anständiges, unbe-
einträchtigtes Selbst in Zeiten einer zu großen Verflochtenheit von Verwirrung,
Infragestellung und Unglücksprophetie wiederherzustellen, lässt Gilliams Film
keinerlei Hoffnung übrig. Der ironische Ton des Films legt außerdem nahe, dass
Gilliam einen solchen Verlust des Selbst kaum bedauert; er scheint mit dessen
Überwindung eher zu sympathisieren. Im Sinne von 12 Monkeys liegt Befreiung
vielmehr darin, das eigene Selbst zu verlieren, auch wenn Cole, dem dies wider-
fährt, verzweifelt darum bemüht ist, für sich ein Selbst klassischen Typs wieder-
zuerlangen und seine Autonomie gegenüber dem heteronom geprägten Verhältnis
zu seiner gegenwärtigen Welt als auch zu seinen Vorgesetzten wieder herzustellen.
Cole erinnert an die Figur des unmöglichen Selbst, die Jean-François Lyotard für
die Spätmoderne diagnostiziert. Die Postmoderne, meint er, „ist keine neue Epo-
che, sondern das Redigieren einiger Charakterzüge, die die Moderne für sich in
Anspruch genommen hat, vor allem aber ihrer Anmaßung, ihre Legitimation auf
das Projekt zu gründen, die ganze Menschheit durch die Wissenschaft und die
Technik zu emanzipieren“ (Lyotard 1989, S. 68). Wenn Leute wie Cole – Geheim-
agenten aus einer zukünftigen, post-apokalyptischen Welt – gezwungen sind, die
Ursachen dieser Apokalypse für das Glück einer Wiederinstandsetzung der Ver-
gangenheit als utopischem Ort zu verfolgen, dann bedeutet dies nicht nur, dass die
wissenschaftliche Annahme, die hinter einer solchen Aktion steht, die ist, dass in
der Apokalypse durchaus Sinn beschlossen liegt; es bedeutet auch, dass innerhalb
der Logik der Moderne Fehlerhaftigkeit schlichtweg nicht akzeptiert wird. Das
postmoderne Ethos in 12 Monkeys besteht denn auch darin, den integralen Anteil
der Unmenschlichkeit an der Menschlichkeit herauszustellen (ebd., S. 13). Für die
Gegenwart von Cole wurde ein Überwachungssystem etabliert, um die Vernunft
abzufeiern, das seine Individuen wie animalische Existenzen behandelt. Jeder
Zweifel an diesem System wird als Verrat eingestuft, wenn doch in Wirklichkeit
die Vernunft „nur aufgrund dieses Zweifels vernünftig“ ist (ebd., S. 16).
Es wäre höchst erstaunlich gewesen, wäre ein Narrativ wie das von Terry Gil-
liams‘ 12 Monkeys zum Standard innerhalb des Genres aufgerückt. Nur vier Jahre
später, im Jahr 1999, ist das alte Konzept des modernen Selbst zurück auf der
Kinoleinwand, lebendiger denn je, wenn auch leicht verfremdet. Die Ausgangssitu-
ation von The Matrix deckt sich mit dem Szenario in 12 Monkeys und radikalisiert
dieses sogar. Das menschliche Selbst ist darin ausgelöscht und bleibt nicht mehr
als eine Illusion, oder sogar schlimmer: eine Simulation. In diesem Fall müssen die
82 Jörn Ahrens
Menschen, und damit das moderne Selbst – denn dies ist es, was Menschen stets
und mit allen Mitteln der Kultur sein wollen – sich selbst erschaffen, und zwar in
einem Akt der Unabhängigkeit von den herrschenden Maschinen. Das bedeutet,
im Unterschied zu The Terminator, dass die erste ernsthafte Handlung einer Re-
bellion in The Matrix nicht etwa ist, Mensch zu bleiben, sondern überhaupt erst
Mensch, im vollen Umfang der Bedeutung dieses Begriffs, zu werden. Um aber ein
wirklicher Mensch zu werden, anstatt nur davon zu träumen, einer zu sein, muss
der Einzelne zuallererst an die Falschheit ein zwar gewohnten, aber simulierten
Realität glauben, und das bedeutet zunächst gerade dasjenige zu negieren, was
doch das absolute Charakteristikum des modernen Selbst ausmacht – Vernunft.
Insofern sich kein Unterschied mehr zwischen „Wahr” und „Falsch” machen lässt
(J. Baudrillard), verliert auch die Welt selbst an Legitimation – und sei es eine
offensichtlich konstruierte. Dies vorausgesetzt, ist die allererste Botschaft, die The
Matrix, speziell mit der berühmten Szene der Wahl der blauen oder der roten Pille
aussendet, dass am Beginn der unmittelbare Glaube an etwas steht und eine Über-
prüfung der so vorausgesetzten Umstände, wenn überhaupt, erst später erfolgen
kann. Ironischerweise wird auf diese Weise ausgerechnet die Notwendigkeit eines
unbedingten Glaubens eingeführt, der das a priori darstellt, um in die Welt in ihrer
wirklichen Gestalt eintreten zu können.
Damit erweist sich The Matrix als wahrhaft apokalyptischer Film, geht es hier
doch nicht nur um eine vermeintliche Katastrophe, sondern vielmehr um die Not-
wendigkeit, an eine spirituelle Dimension zu glauben, welche die Realität erschafft.
In The Terminator hingegen glaubt Sarah Connor die schrägen Geschichten über
eine vernichtete Zukunft und ihren noch nicht einmal gezeugten Sohn, der ein
messianischer Anführer werden soll erst, als die Brutalität des Terminator den
Beweis für die Glaubwürdigkeit dieser Geschichten liefert. In 12 Monkeys glaubt
niemand – mit Ausnahme einer einzigen Person – einem Verrückten vom Schlage
eines James Cole. Der Kampf gegen die Matrix dagegen wäre nichts ohne einen
tiefen Glauben, der das einzige Mittel darstellt, um die Leute davor zu bewahren,
Verräter zu werden, wenn sie nur unter Schwierigkeiten mit der deprimierenden
„Wüste des Realen” (S. Žižek) fertig werden können. Auf diese Weise ist das mo-
derne Selbst wiederum gewissermaßen transferiert und angebunden an starke re-
ligiöse Gefühle, wie die beiden sequels zu The Matrix auf die aberwitzigste Art
vorführen. Die zweite Merkwürdigkeit mit Blick auf die Genese des menschlichen
Selbst, das in der „wirklichen Welt“ willkommen geheißen wird, ist natürlich die,
dass dieses moderne Selbst sich selbst downloaden muss. Nachdem es sich zu-
nächst wieder zu einem antik anmutenden Glauben bekennen musste, muss es sich
nun in eine artifizielle hardware verwandeln. Um die Maschinen bekämpfen zu
können, muss dieses Selbst selbst zur Maschine werden. Insofern inszeniert The
Weltrettung in der Post-Apokalypse 83
Matrix zu guter Letzt ein echtes Moebius-Band des Selbst; der Film unterläuft das
Konzept des Selbst, das er behauptet wiederherzustellen.
4 Schluss
Selbst nach Anerkennung. Die Quellen des Selbst (Ch. Taylor) beziehen sich auf
eine Intention der reinen Vernunft, die unmittelbar in Wahnsinn und Unmensch-
lichkeit mündet. Vielleicht ist es ja das Selbst als Wahnsinniger, personifiziert in
James Cole, das nicht nur eine in Aufruhr begriffene Welt überlebt, sondern sogar
in eine post-apokalyptische Zukunft weist.
Literatur
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Contagio cine qua non oder
wie Al Gore die Zukunft in Brand steckte
Zukunftswissen im Filmszenario
Jules Buchholtz
Die Antwort eines Handbuchs der Szenariotechnik auf die Frage, was ein Szenario
ist, lautet wie folgt:
Wenn es hier darum geht, die Wirksamkeit filmischer Szenarien zur Erzeugung
von Realität zu beleuchten, kann man ein Szenario auch als die in Zusammen-
schau dargestellten Schritte eines Ereignishergangs bezeichnen, der sich auf eine
mögliche lokal entfernte oder künftige Realität bezieht, aber nie mit ihr identisch
ist. Ebenso wie das Szenarium im Theater das Gerüst aller im Vollzug einer Dar-
stellung zum Erscheinen gebrachten statischen und dynamischen Elemente einer
theatral fingierten Bühnenrealität ist, ist ein Szenario das Modell einer unmittel-
bar (noch) nicht, d. h. eventuell künftig stattfindenden Realität. Das Schaubild der
Metamorphose einer Kaulquappe zum Frosch, das NASA-Programm „Mars 500“,
eine Graphic Novel der CDC über eine Zombie-Apokalypse, die Animation einer
Landung auf dem Mars, eines neuartigen Waffensystems oder der Reaktorkatas-
In theater, the „willing suspension of disbelief“ is what the play prompts from an
audience. Everyone in the theater knows, that he is seeing actors before a painted
backdrop, but – for the purposes of emotion and understanding – the viewers react as
if they are seeing the real world. A good scenario, similarly, asks people to suspend
their disbelief in its stories long enough to appreciate their impact. (S. 37)
Indem es Wissen über eine miteinander geteilte mögliche Wirklichkeit nicht nur
wiedergibt, umformuliert und repräsentiert, sondern entwirft und Realitäten prä-
mediatisiert, greift das Szenario aber weit über den Wirkungsradius des Theaters
als gesellschaftlicher Spiegel und essentieller Teil eines bis in die Moderne hin-
ein noch funktionierenden Bildungsdispositives hinaus. Denn das Szenario lässt
einen durch das Theater als Instrument allgemeinverbindlicher Sinnstiftung zwar
Contagio cine qua non oder wie Al Gore die Zukunft in Brand steckte 89
einst anvisierten und dann aber doch jeweils dem persönlichen Dafürhalten über-
lassenen gesellschaftlichen Idealzustand weit hinter sich, wenn es durch seinen
unabweislichen Bezug zu einer als wahrscheinlich deklarierten Realität in der Tat
die mehr oder minder zwingende Ableitung von Maßnahmen und damit die Pro-
duktion von Realität selbst vorsieht. Die Wirksamkeit dieses operativen Kalküls
wird zudem begünstigt, wenn es sich bei der dargestellten Zukunft um eine Krise
oder Katastrophe handelt, die die Adressaten des Szenarios als davon Betroffene
agitiert.
Obwohl ein Szenario im Darstellen eines entzogenen aber möglichen Ist-Zu-
standes zwar als eine im weitesten Sinn künstlerische Praxis zu erachten ist,
nimmt es sich durch seinen ausdrücklichen Realitätsbezug und seine fast immer
gegebene faktische Basis jedoch eher als eine quasi-wissenschaftliche Praxis des
handlungsleitenden Wissenstransfers aus. Dadurch nehmen Szenarien eine einzig-
artige Zwitterposition ein, die sie von allen veranschaulichenden Praktiken unter-
scheidet: Ein Szenario bewegt sich zwischen Gegenwart und Zukunft, zwischen
Fiktion und Realität, zwischen Handeln und Imaginieren und zwischen Kunst und
Wissenschaft. So divers wie die Disziplinen, zwischen denen es oszilliert, ohne
jemals die ´disziplinär gesetzten und epistemischen Voraussetzungen erfüllen zu
müssen, sind auch die Verfahrenstechniken, die ein Szenario innerhalb eines einzi-
gen Darstellungssystem zu montieren in der Lage ist und so als eine Darstellungs-
weise – man könnte seiner Allgegenwart wegen auch von einer Kulturpraxis spre-
chen – verstanden werden muss, die es sich zum Ziel setzt, Realität zu produzieren.
So kommt szenariomatisches Darstellen von Realität inzwischen nicht nur im
Bereich der Risikoanalyse zum Einsatz. In der Versicherungsbranche, im Bereich
moderner Waffentechnik, bei der Darstellung von Krisen und deren Ursachen in
der öffentlichen Berichterstattung, zur Plausibilisierung politischer Entscheidun-
gen, als Verbreitungsmedium für Katastrophenprotokolle, kurz: Wenn es gilt, sich
vorzusehen, ist das Szenario besonders zum Vorsehen missliebiger Ereignisse
größerer oder kleinerer Gravität geeignet und verbindet auf verfahrenstechnischer
Ebene durchaus sinnvolle und nötige Konzepte zur Erforschung des eigenen Han-
delns mit eher heiklen Positionen der Plausibilisierung augenscheinlich alternativ-
loser Notwendigkeiten.
Normative Strukturen, wie sie z.b. in der Auslösung von Handlungsabsichten
bestehen und in denen die performative Macht des Szenarios sich ausdrückt, sind
in einem Szenario aber nicht immer explizit. Selten lautet die Botschaft expressis
verbis: „Es ist jetzt dies zu tun, denn sonst passiert das.“ Gleichwohl enthalten Sze-
narien handlungsleitende Imperative, die sich in einem szenariomatisch verdichte-
ten Bedrohungsgehalt einer Zukunftsvision ausdrückt. Durch die Verschneidung
verschiedener Materialitäten und Diskurse, durch die Extrapolation relevanter und
90 Jules Buchholtz und Philipp Schulte
die Auslassung weniger relevanter Fakten, den Transfer von Ursachen und Kausal-
zusammenhängen für das Motiv eines bestimmten Handelns und durch vielfältige
Codierung semantischer Gehalte wird im Szenario sogenanntes Wissen erzeugt,
um dieses zweckgebunden und zielorientiert zum Einsatz zu bringen.
Keine Handlungsanweisung zu sein, aber dennoch normativ zu wirken, gelingt
im Fall des Szenarios darüber hinaus durch den kleinen aber nicht unbedeutenden
Schritt, die bereitgestellten Informationen schon mit ihrer Interpretation zu ver-
binden; nicht also nur Informationen zu enthalten, sondern szenariomatisch aufbe-
reitetes, ausgestaltetes und ausgelegtes Wissen zu übertragen. Besonders deutlich
zeigt sich diese Eigenschaft szenariomatischer Verfahren an deren meistbemühtem
Motiv – der Zukunft. Als Gegenstand, aus dem schlechterdings keine Erkenntnis
zu gewinnen ist, kann Zukunftswissen zwar nicht gewusst, wohl aber geglaubt
werden, so dass für dessen erfolgreichen, d. h. operativ umsetzbaren Transfer die
Erbringung von Nachweisen weder möglich noch erforderlich ist, während Plausi-
bilitäten zu erzeugen, zur Notwendigkeit wird, damit Blaupausen von Realität ent-
stehen, an deren Herbeiführung, Abwendung und Vorbereitung in der gegenwärtig
herrschenden gearbeitet werden kann.
Dieser nicht immer, aber je nach Zweck und Einsatzort häufig genug problema-
tische normative Anspruch szenariomatischer Darstellung ist getragen von einer
besonderen Art intensiver und vitaler, d. h. theatraler Darstellung, die a) in Form
eines kondensierten und als ereignishaft wahrgenommenen Wissenserwerbs sei-
tens seiner Rezipienten und b) in der jeweils durch das Szenario für sich rekla-
mierten Fakten- und Realitätsbezogenheit zum Ausdruck kommt. Die Rede ist
von einem Wissenstransfer als Denkereignis, das sich deutlich von der Art des Er-
kenntnisgewinns im Fall versachlichender Vermittlung von Informationen unter-
scheidet und für das die im Folgenden zu erläuternden vier Faktoren die verfah-
rensmäßige Basis bilden.
so und nicht anders handeln zu müssen, lässt sich vor Letzteren besser vertreten,
wenn der Entscheider zumindest glaubhaft vermitteln kann, an die Folgen seines
Tuns gedacht zu haben und das, was er zu wissen meint, in Einklang zu bringen
hofft, mit dem, was er zu können glaubt.
So auch Niklas Luhmann (2003) in seinem Buch „Soziologie des Risikos“:
Mit dem Risikobegriff wird gewissermaßen korrigiert, so wie in anderer Weise auch
mit der neuerfundenen Wahrscheinlichkeitskalkulation. Beide Konzepte scheinen
garantieren zu können, daß man es auch dann, wenn etwas schiefgeht, richtig ge-
macht haben kann. Sie immunisieren das Entscheiden gegen Mißerfolge. (S. 21)
In Bezug auf Szenarien ist der Begriff des Immunisierens aber auch noch in einer
zweiten Hinsicht von Belang. Denn Szenarien, die künftige Schadensfälle ver-
gegenwärtigen, immunisieren gegen das Schädliche, Kontagiöse und Unheilvolle
in der Form, dass sie die Adressaten mit der imaginierten Katastrophe gegen die
reale unempfindlich machen sollen. Der Film Contagion von Steven Soderbergh
aus dem Jahr 2011 ist als das filmische Szenario einer Pandemie ein besonders
einschlägiges Beispiel für das präventive imaginäre Durchspielen eines globalen
Ernstfalls. Im durchaus authentischen filmischen Nachvollzug oder in diesem Fall
Entwurf einer imaginierten Katastrophe impft der Film seine Zuschauer gegen die
reale. Man könnte den Film in dieser Hinsicht auch als einen visuellen Übungs-
raum, als Probebühne oder mit Wolfgang Jonas (2001) als eine „Lernumgebung
zur Sensibilisierung für das Ungewisse“ (S. 13) bezeichnen. Eine virtuelle Darstel-
lung möglicher Zustände bildet zwar noch keine wirkliche Lage, ermöglicht aber
dennoch eine imaginäre Konfrontation mit einer Situation und mit dem, worauf es
sich im Fall ihres Eintretens einzustellen gilt. Seinem Gegenstand entsprechend
stellt „Contagion“ ganz im Sinne einer Infektion mit einem unbekannten Erreger,
gegen den es Immunität zu entwickeln gilt, eine Ansteckung mit Katastrophen-
wissen dar, die angesichts der völligen Ermangelung persönlicher Erfahrungswer-
te desto notwendiger und sinnvoller erscheint, um sich mit künftig Kontagiösem
wenigstens in ein imaginäres Verhältnis zu setzen. Denn gerade die Entzogen-
heit, das Nicht-Wissen und die Unzugänglichkeit, die in Bezug auf künftige Zeiten
herrschen, sind es, denen die besondere normative Wirksamkeit szenariomatischer
Planspiele sich verdankt und die auch filmische Manöver des Durchspielens von
Krisen als Wissensquellen erscheinen lässt.
Wir haben es in der Auseinandersetzung mit der Zukunft also mit einer „projizierten
Variable“, einer „projizierten Ursache“ gegenwärtigen (persönlichen und politischen)
Handelns zu tun, deren Relevanz und Bedeutung direkt proportional zu ihrer Unkal-
kulierbarkeit und ihrem Bedrohungsgehalt wächst. Und die wir entwerfen (müssen),
um unser gegenwärtiges Handeln zu bestimmen und zu organisieren. (S. 45)
Damit geraten zwei in die Krise: die Gegenwart, denn sie wird zunehmend zur
Probebühne der Zukunft und die in der Gegenwart soeben Mitwisser Gewordenen,
von deren Handeln abzuhängen scheint, wie die Zukunft aussehen wird und die
sich dem durch das Szenario implizierten Handeln dann zuwenden, wenn darin ein
Wissensvorsprung für die Zukunft glaubhaft gemacht werden kann.
Den Filmrezipienten dürfte die Szene in Erinnerung geblieben sein, in der Gore
an der hinter ihm auf eine Großleinwand projizierten graphischen Darstellung der
globalen Erwärmung entlang schreitet, um zunächst beim sogenannten „Hockey-
Stick“ innezuhalten. Nicht ohne darauf hinzuweisen, dass die CO2-Emissionen
zum selben Zeitpunkt in einem ähnlichen Maße gestiegen seien, bewegt Gore sich
94 Jules Buchholtz und Philipp Schulte
weiter an dem Graphen entlang und gewissermaßen in die Zukunft hinein. Unter
Gelächter des Publikums besteigt Gore, am rechten Bühnenrand und damit in der
Gegenwart angekommen, sodann eine bereitstehende elektrische Hebebühne und
fährt damit in die Höhe. Offenbar weil die Aussagefähigkeit der graphischen Ab-
bildung nicht mehr hinreichend ist, bemüht Gore den deus ex machina, um sich
mit der Temperaturkurve auch in ein körperliches Verhältnis setzen zu können.
rizont im selben Moment auf die eben noch, aber nun nicht länger ungewisse
Zukunft öffnet.
Mit diesem aus dem Theater bekannten Prinzip werden Informationen mit au-
dio-visuell codiertem, affektiv wirkenden, erinnerbarem Kapital versehen, so dass
sich der von einer ganzen Reihe als positiv empfundener Effekte des Erkenntnisge-
winns begleitete Transfer von Wissen als Denkereignis einstellt, der das Szenario
von allen anderen Medien der Wissensvermittlung unterscheidet.
Unter der derzeit erdrückenden Last globaler Krisen und dräuender Katastrophen,
gerät die Gegenwart selbst immer stärker in die Krise. Beziehungsweise die in ihr
handelnden Akteure geraten in die Krise, weil von ihrem Handeln abhängt, wie
die Zukunft aussehen wird. Sich dem Handlungsdruck eines als wahrscheinlich
oder auch nur möglich geltenden Szenarios zu entziehen, fällt zusehends schwer,
zumal da die größere Anzahl an Zukunftsszenarien in aller Regel solche sind,
die besser nicht eintreten mögen. Im Fall weltumspannender Epidemien, Umwelt-
katastrophen, Ökonomischer Zusammenbrüche, Massenmigration, Wetterwandel,
politischer Verwerfungen, atomarer Wiederaufrüstung und der nun auch öffent-
lich erfolgenden, plötzlichen Wiederentdeckung geostrategischen Kalküls rich-
tet sich die Mehrzahl der im Umlauf befindlichen Szenarien an Adressaten, die
die genannten Zustände nicht nur nicht, noch nicht oder nicht mehr kennen, son-
dern auch nicht die Entscheidungsgewalt haben, sie zu beeinflussen. Die Menge
an erwartbaren Ereignissen, an denen diskursive Teilhabe besteht, überwiegt bei
Weitem die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, handlungsmäßige Teilhabe
auszuüben. Erscheint da akkumulierendes, reservierendes, präventives, ja sogar
präemptives Handeln nicht umso notwendiger? Sind dann nicht Worst-Case Sze-
narien, ob auf You-Tube, im Kino, im heute-Journal, von der CDC (Centers for
Disease Control and Prevention, von Shell oder Raytheon die probaten Mittel, um
sich auf so viele wie möglich der massenweise auf Halde produzierten Zukünfte
besser einzustellen?
96 Jules Buchholtz und Philipp Schulte
Bilder aus einer Kampagne der Centers for Disease Control and Prevention (CDC), 2012
Quelle: CDC. Zombie Preparedness. http://www.cdc.gov/phpr/zombies.htm/. (Zugegriffen:
11.11. 2015)
Sei es, wie es sei, klar ist, dass Szenarien dort besonders viel Potential entwickeln,
wo viele fürchten, was Wenige lenken und wo Wissen, das nicht gewonnen wer-
den, nicht geprüft oder intellektuell erfasst werden kann, zur Handlungsgrundlage
wird oder werden soll. Anders gesagt: Wo es keine Erfahrung der Vergangen-
heit gibt, gilt es, sich an die Zukunft zu erinnern, und so paradox es erscheinen
mag, es ist möglich und einfacher als gedacht, wie das folgende Beispiel zeigt. Für
ein Notfallkommunikationssystem, das im Fall des tatsächlichen Ausbruchs einer
Pandemie zum Einsatz kommen soll, zeigt der Hersteller in einem Werbevideo
Szenen, die an die Filmbilder aus Contagion angelehnt sind und den verschiedenen
Handlungssträngen des Films gemäß den Ausbruch, die weltweite Verbreitung und
die Bekämpfung eines unbekannten Virus zeigen. Dabei kann das Werbevideo
allerdings völlig auf die Verwendung der Schreckensbilder verzichten, die zuvor
durch den Originalfilm installiert worden sind und sich völlig auf die Aspekte
Sicherheit und Kontrolle konzentrieren, die das System gewähren können soll. Der
Werbefilm operiert also ganz bewusst mit dem Gedächtnis seiner Adressaten, das
durch die Rezeption des Films Contagion auf die Notwendigkeit des beworbenen
Systems insofern vorbereitet sein soll, als ihm der mögliche Ablauf einer Pande-
mie bereits bekannt ist: Eine Frau mit unbekannten Symptomen, Einlieferung in
ein Krankenhaus, Meldungen aus anderen Bundesstaaten über weitere Infizierte,
Notstand, Krisenstab, drohender Kontrollverlust, Vernetzung von Politik und Wis-
senschaft, etc.
Contagio cine qua non oder wie Al Gore die Zukunft in Brand steckte 97
Stills aus einem Werbevideo der Raytheon Company für die Notfallkommunikationssyste-
me „TTC“, „TGS“ „WebShield“.
Quelle: Raytheon Trusted Computer Solutions. Information Sharing Solutions. WebShield.
http://www.youtube.com/watch?v=wM9f-cAXEwI/. (Zugegriffen: 12.11.2015)
From movies like Outbreak and Contagion to recent real-life headlines the fear of a
national or world-wide medical emergency, natural or terror-related becomes more
real every day. (Ebd.)
Raytheon bezieht sich hier nicht nur auf Contagion, so als sei der Film eine Quelle
valider Daten in Bezug auf den Ablauf einer globalen Pandemie, sondern spielt
bewusst auf erinnerte Filmbilder von Terror und Katastrophe an. Das Vorgang
der Erinnerung an die Zukunft besteht in dem paradox erscheinenden Manöver
eines rückgreifenden Vorgriffs. Raytheon greift mit Contagion auf Erinnerungen
an eine mögliche Zukunft zurück beziehungsweise vor auf Erinnerungen an Er-
fahrungen, die zwar nicht persönlich gemacht worden sind, aber durch zuvor er-
98 Jules Buchholtz und Philipp Schulte
Philipp Schulte
Eine filmische Arbeit, anhand der sich Formen und Effekte szenarischer Inszenie-
rung und somit teilweise auch Evokation einer Krise besonders gut veranschau-
lichen lässt, ist Al Gore’s bereits erwähnte, 2006 veröffentlichte Verfilmung einer
Multimedia-Lecture des Politkers, die auf die Auswirkungen globaler Erderwär-
mung aufmerksam machen möchte. Darüber hinaus lässt sich mithilfe des Films
auf einige Verbindungen hinweisen zwischen den Darstellungsmustern des Sze-
narischen auf der einen und einigen Darstellungskonventionen des theater- und
filmhistorischen Genres des Melodrams. Dieser Vergleich legt keinen Anspruch
auf den Nachweis restloser Übereinstimmung im Zusammenspiel von melodra-
matischen Darstellungsweisen und szenarischen Effekten; aber es geht darum
exemplarisch aufzuzeigen, inwiefern das Szenarische auf ästhetischer wie auch
politischer Ebene mit einem Instrumentarium des Melodrams operiert.
Dass es sich bei An Inconvenient Truth um ein Szenario par excellence handelt,
wurde bereits konstatiert; im Folgenden soll dies weiterführend anhand der Ana-
lyse einzelner Szenen verdeutlicht werden. Die vier oben angeführten Szenario-
Faktoren lassen sich auf den Film anwenden: Er hat konsekutiven Charakter, da
er sich mit dokumentarischen und quasidokumentarischen Äußerungen auf eine
auf ‚unsere’ Gegenwart – als ob es nur eine gäbe – angeblich unmittelbar folgende
und bedrohliche Zukunft bezieht. Er arbeitet mit einer Emotionalität z. B. durch
Übertreibung und Visualisierung sowie teilweise mit einer geradezu emblemati-
schen Bildsprache, wie unten gezeigt wird. Der Film operiert mit einer Idee der
Immunität, indem er kleine Dosen des Zu-Befürchten-Stehenden verbildlicht und
so verabreicht und auf diese Weise immer wieder den Eindruck erweckt, man kön-
Contagio cine qua non oder wie Al Gore die Zukunft in Brand steckte 99
ne sich mit seiner Hilfe – und wenn, dann nur mit seiner Hilfe – auf Kommendes
vorbereiten und vor Kommendem wappnen. Und er stiftet auf diesem Weg kohäsiv
eine ganz bestimmte Form der Gemeinschaft, in diesem Fall gar eine universale,
die auf der Sorge und Angst vor Zukünftigem beruht: Alle sitzen in einem Boot
und müssen jetzt, in der Gegenwart, an einem Strang ziehen, und Al Gore kann uns
zeigen, welcher Strang das ist.
Der Szenariofaktor der ‚Emotionalität’ war es zunächst, der als Ausgangspunkt
der nachfolgenden Überlegungen zur These diente, dass szenarischen Inszenie-
rungsformen in ihrer Machart und vor allem ihrer Wirkung etwas zu eigen ist,
das man mit einem traditionellen literatur- und theaterwissenschaftlichen Begriff
‚das Melodramatische’ nennen könnte. Dies steht in engem Zusammenhang mit
einer gemäß Robert B. Heilmans 1968 erschienenen Band Tragedy and Melodra-
ma für das Melodramatische typischen monopathischen Wirkungsweise, welche
anschließend kurz erläutert werden soll – der Eigenart also, auf verschiedenen
Ebenen der Darstellung dennoch nur ein einziges Sentiment zu erzeugen. Im Ver-
lauf der Untersuchung des Films stellte sich aber heraus, dass sich alle vier bereits
vorgestellten Szenariofaktoren teilweise direkt, teilweise indirekt sehr gut mit vier
wesentlichen Tendenzen des Melodramatischen in Verbindung bringen lassen. Der
vorliegende Text ist entsprechend gegliedert: Zunächst soll an einige Grundzüge
der von Heilman und später auch anderen vorgenommenen Unterscheidung zwi-
schen dem Tragischen und dem Melodramatischen erinnert werden. Dann werden
vier wesentliche Faktoren des Melodramatischen erläutert und anhand von An In-
convenient Truth veranschaulicht. Anschließend werden diese vier Tendenzen in
gebotener Kürze mit den vier vorgestellten Szenariofaktoren kurzgeschlossen.
Gerade in den 1960ern bis in die 1990er Jahre sind zahlreiche Publikationen über
das Melodramatische erschienen, und bei etlichen Unterschiedlichkeiten fällt es
dennoch nicht schwer, einige übereinstimmende Merkmale und Darstellungswei-
sen herauszuarbeiten, die fast alle Autoren mit diesem ursprünglich aus dem Mu-
siktheater stammenden Begriff in Verbindung bringen. Wichtigstes Merkmal ist
hier sicherlich die tautologische Informationsvergabe, dargebracht in oft demons-
trativer Deixis und hyperbolischer Veranschaulichung, wie es auch Johann N.
Schmidt in seiner 1986 erschienenen Ästhetik des Melodrams beschreibt:
Das Melodrama schafft sich ein geschlossenes System aus sprachlichen und visu-
ellen Zeichen, die in ihrer wechselseitigen Bedeutungsvergebung nicht erst durch
100 Jules Buchholtz und Philipp Schulte
Peter Brooks (1996) fasst das kürzer: „Nothing is spared because nothing is left
unsaid.” (S. 282) Überdeutliche Plausibilisierung und der Schein unzweifelhafter
Endgültigkeit sind somit Faktoren, die kein Autor, der über das Melodramatische
schreibt, in Frage stellt. Darauf baut auch die grundlegende These von Robert B.
Heilmans (1968) Ansatz: Ihm zufolge ist es die komplette Abwesenheit jeglichen
inneren Konflikts, die das Melodramatische vom Tragischen unterscheidet. Der
tragischen Geteiltheit – von Subjekten, von Gemeinschaften – steht im Melodram
in der Regel eine katastrophische Störung von außen gegenüber, die über jeden
Zweifel über ihre Desaströsität erhaben ist: „In tragedy, conflict is within man;
in melodrama, it is between men, or between men and things.“ (S. 79) Die unlös-
bare Teilung des tragischen Konflikts aber, die dem Melodramatischen so ganz
und gar abgeht, sei zugleich Grundlage menschlicher Selbsterkenntnis, denn sie
erfordert – und ermöglicht – Entscheidung, Wahl, ein Wahrnehmen des Poten-
tiellen. Im ‚drama of desaster‘ dagegen, laut Heilman eine wesentliche Kategorie
melodramatischer Darstellungsformen, bleibt nur die alternativlose Hinwendung
zur bedrohlich gezeichneten Aktualität der Katastrophe in totalitärer Vereindeu-
tigung möglich bleibt. Die desaströse Idee aber, alles Schlimme käme von außen,
ließe uns in dem Irrglauben, unter normalen Umständen wäre das Subjekt in bester
Ordnung, wie Heilman mit Rückgriff auf Carl Jung ausführt. Während literarische
und theatrale Äußerungen des Tragischen in einem unentwegten Umkreisen des
Unlösbaren also zeigen, wie wenig greifbar innere Konflikte des Subjekts sind und
doch conditio sine qua non ihrer ethischen Existenz, dient die melodramatische
Äußerung vielmehr gerade der Symbolisierbarkeit und somit Einhegbarkeit des
eigentlich Ereignishaften, so Heilman:
While the very word ‚disaster’ names the unwanted, the dreaded, or the unthinkable,
nevertheless the event itself is capable of providing an aesthetic experience in which
there are gratifying sensations of wholeness. (S. 85)
Das szenarische Gefühlsereignis der Ganzheit strebt also danach, potentiell rea-
le Ereignisse einzuhegen, zu kontrollieren, zu beschneiden und so zumindest auf
symbolischer Ebene auch zu verhindern. Genau dieses befriedigende Gefühl der
Ganzheit spielt auch im weiteren Verlauf des Textes immer wieder eine Rolle,
wenn nun vier konkretere Merkmale des Melodramatischen mithilfe von An In-
convenient Truth herausgearbeitet werden sollen.
Contagio cine qua non oder wie Al Gore die Zukunft in Brand steckte 101
Bei diesen vier Merkmalen, die ich vor allem den Ausführungen zum Melodrama-
tischen von Schmidt, Heilman und Brooks entnommen wurden, handelt es sich um
erstens eine Form der Verklärung von Vergangenheit; zweitens um das wesent-
liche Heilmansche Merkmal der Monopathie; drittens der damit eng zusammen-
hängenden Konstruktion einer äußeren Bedrohung; sowie viertens der wiederum
darauf aufbauenden Selbst-Viktimisierung von Subjekt und Gemeinschaft, welche
sich auf dieser Grundlage bildet.
a) Vergangenheitsmythos
Auch wenn die narrative oder szenische Verklärung einer vorausgesetzten Ver-
gangenheit nicht unbedingt ein dominantes Merkmal der herangezogenen theo-
retischen Positionen ist, so kann sie sich doch hartnäckig bei allen bemühten An-
sätzen behaupten: die Schilderung einer Idee von einem heilen, schönen Damals
– einem Damals, das selbst schon wieder in einem engen Zusammenhang mit der
Vorstellung einer Ganzheit zu bringen ist, handelt es sich doch bei dieser rück-
wärtsgewandten Utopie – Uchronie – des Melodrams um die Zeit einer „durch
keine Sonderinteressen gespaltenen ‚Gemeinschaft’“ (S. 133), wie Schmidt (1986)
es formuliert. Besonders im 19. Jahrhundert verfasste melodramatische Texte pfle-
gen diese „nostalgische Rückerinnerung an [oft] ländliche Lebensformen“ (ebd.,
S. 261) vor dem Hintergrund der fortschreitenden Landflucht in durch den dadurch
aufkommenden Pauperismus geprägte Städte im Zuge der Industrialisierung. Und
auch Gore kommt in seinem Film ohne diesen Bezug auf eine vermeintlich bessere
Vergangenheit in Form der unversehrten Idylle nicht aus, im Gegenteil, er beginnt
gleich damit, und zwar in typisch melodramatischer Doppelung von Sprache, Ge-
räusch und Bild:
Die allererste Sequenz des Films: Nach schriftlicher Nennung der Produktions-
firmen des Films – Paramount Classics und Participant Productions – setzt einer
ruhige, durch wenige Klavierakkorde geprägte Musik ein. Die Kamera zeigt Bäu-
me mit grünen Blättern, die am Ufer eines Flusses mit gemächlicher Strömung
stehen; es ist Sommer, Vögel zwitschern. In langsamen Kameraschwenks wird das
Gewässer abgefilmt, der Fluss fließt bildlogisch ‚rückwärts‘, von rechts nach links;
die Kamera folgt dieser Bewegung. Dazu ertönt Gores nachdenkliche Stimme:
‚You look at that river, gently flowing by. You notice the leaves rustling with the
wind. You hear the birds. You hear the tree frogs. In the distance, you hear a
cow. You feel the grass. The mud gives a little bit on the river bank. It’s quiet. It’s
peaceful. And all of a sudden, it’s a gear shift inside you. And it’s like taking a
102 Jules Buchholtz und Philipp Schulte
deep breath and going, [Seufzen] ‚Oh, yeah, I forgot about this.‘ Die Musik endet
mit einem Schlussakkord, die Flusslandschaft wird allmählich überblendet mit
einer Aufnahme von Gores Hand vor einem Notebook auf einem Vortragspult, das
ein Foto des Planeten Erde zeigt. Gores Vortrag beginnt (An Inconvenient Truth.
Timecode 00:00:22 – 00:01:21).
Gleich am Anfang des Films werden Bilder eines ‚heilen Urzustands‘ herauf-
beschworen. Der gesprochene Text beschreibt die Szene als unvermitteltes Erleb-
nis einer Situation, die man kennt, an die man sich erinnert – die man aber ‚ganz
vergessen‘ hatte. Der Fluss fließt entgegen der westlichen Leserichtung, zurück an
einen Anfang. Die Sprache beschreibt, was das Bild zeigt, die Musik unterstützt
noch die ruhige Stimmung der Sequenz. Sie geht über in eine Aufnahme der Erde
aus dem Weltall – der ersten Fotografie des ‚ganzen’ Planeten, wie sich später
herausstellen wird, bekanntlich in Form einer scheinbar gleichmäßigen Kugel. So
steht die Idee eines besseren, ‚richtigen‘, wiederherzustellenden Urzustandes von
Beginn des Films an in enger Verbindung mit dem melodramatischen Grundsenti-
ment der ‚wholeness’, des von einem Gefühl von Ganzheit ausgelösten Zustands
der Monopathie.
b) Monopathie
Diese Monopathie spielt, wie im übrigen auch die anschließend beschriebenen
Merkmale, in „An Inconvenient Truth“ auf zwei Ebenen eine Rolle: einmal auf der
der Gemeinschaft, der Gemeinschaft der gesamten Menschheit symbolisiert durch
das allgegenwärtige Bild der zu rettenden Erdkugel; andererseits auf der Ebene des
Subjekts, verkörpert durch Al Gore selbst. Bilder der Erdkugel also dienen dem
Erzeugen des Eindrucks einer ursprünglichen Ganzheit, die verloren gegangen ist;
Visualisierungen dieser Einheit und kugeligen Ganzheit prägen vor allem die erste
Hälfte des Films.
Contagio cine qua non oder wie Al Gore die Zukunft in Brand steckte 103
Stills aus An Inconventient Truth (2006), Timecodes 00:04:40, 00:04:46, 00:05:25, 00:05:28
In Form einer Anekdote unterstützt Gore noch das Hervorrufen eines Gefühls von
Zusammengehörigkeit:
Gore spricht im verdunkelten Vortragswahl, in seinem Rücken eine Satelliten-
aufnahme der sieben Kontinente: „I had a great school teacher who taught geo-
graphy by pulling a map oft he world down in front oft the blackboard [ahmt die
entsprechende Geste nach]. I had a classmate in the sixth grade who raised his
hand [ahmt die Geste nach] and he pointed the outline of the east coast of South
America and he pointed to the west coast of Africa [die Kamera vollzieht ein-
en langsamen Schwenk von der Abbildung Südamerikas zu der Afrikas] and he
asked: ‚Did they ever fit together?‘ [Das Bild zeigt wieder Gore, er ahmt die naive
Sprechweise des Schülers nach] And the teacher said, ‚Of course not. That’s the
most ridiculous thing I’ve ever heard.‘ [ahmt parodistisch die ablehnende Sprech-
weise des Lehrers nach und lacht etwas; Gelächter im Publikum] That student
went on to become a drug addict and a ne’er-do-well. [schaut betreten auf den
Boden, Publikum lacht lauter] The teacher went on to become science advisor in
the current administration.“ [bezieht sich dabei auf die Regierungszeit von George
W. Bush; lautes Gelächter und Applaus im Publikum]1
Diese Anekdote, die humoristisch auch das Publikum eint, wie das zustimmen-
de Gelächter zeigt, evoziert einmal mehr einen ursprünglichen Zustand der Ganz-
heit: ‚Wir’ sind eins, ‚wir’ gehören zusammen, ‚wir’ auf ‚unserer’ perfekt geform-
ten Kugel, auf die ‚wir’ gut aufpassen müssen. Diese Tendenz wird kontrastiert mit
Fotos und Sequenzen, die bereits auf die von Gore intendierte Beschreibung eines
Katastrophenszenarios hinweisen – der Globus zerbricht, buchstäblich: Eisberge
fallen auseinander; Häuser fallen Erdbeben zum Opfer.
Das Ideal der Vollständigkeit und die Bedrohung des Bruchs bedingen sich gegen-
seitig. Bereits der einfache Konflikt zwischen beiden Extremen kann beim Be-
trachter eine monopathische Grundstimmung vorbereiten. Heilman (1968) betont
ausdrücklich, dass sich nicht nur triumphale, sondern auch und gerade auch schwe-
re Gefühle für eine Monopathie eignen, Schwermut, Trauer, Weltschmerz, Sorge,
Angst. Wichtig ist vor allem, dass sich die Zuschauer in der ‚Stimmungsaura der
ästhetischen Illusion gut aufgehoben fühlen’ (vgl. S. 299) und nichts die Einheit
des emotionalen Effekts stört; und: dass das, was die dargestellten Figuren und die
Situationen, in denen sie sich befinden, ostentativ zu fühlen vorgeben, möglichst
identisch ist mit den Gefühlen, die bei den Zuschauer_innen erzeugt werden sol-
len. Auf diese Weise kann das Gemeinschaftsgefühl gestiftet werden, auf das es
melodramatischen Darstellungsweisen ankommt.
Contagio cine qua non oder wie Al Gore die Zukunft in Brand steckte 105
Stills aus An Inconventient Truth (2006), Timecodes 00:01:56, 00:02:00, 00:02:05, 00:02:07
Was für das ‚Wir’ auf der symbolischen Ebene der Bilder gilt, gilt entsprechend
auch für den Protagonisten des Films, seinen melodramatischen Helden: für Gore
selbst, der als Gewährsmann für das gezeigte Material und Identifikationsfigur
gleichermaßen für das im Vortragssaal anwesende und ebenfalls gefilmte Publi-
kum wie auch für die Zuschauer_innen im Kinosaal fungiert. Immer wieder findet
der Film Gelegenheit, Gores Stationen im Kampf gegen Global Warming zu ver-
knüpfen mit Stationen aus seiner privaten Biographie, wie der schweren Verletzun-
gen seines Sohnes nach einem Autounfall, dem Tod einer Freundin der Familie
an Lungenkrebs, seiner Niederlage im Präsidentschaftswahlkampf gegen George
W. Bush. All das habe ihn stärker werden lassen, so Gores unentwegte Selbststili-
sierung, all das habe ihm erst so recht klar gemacht, was seine Aufgabe und sein
Kampf im Leben sei:
Traurige Gitarrenklänge ertönen; die Kamera zeigt Gore mit besorgten Ge-
sichtsausdruck in einem Flugzeug. Er schaut aus dem Fenster auf die Erdoberflä-
che, eine Stadt ist zu erkennen. Aus dem Off ist seine Stimme zu hören: „Making
mistakes in generations and centuries past would have consequences that we could
overcome. We don’t have that luxury anymore. We didn’t ask for it, but here it is.“
Anschließend werden zur selben Musik verschiedene Nachrichtenbilder collagiert,
die an die Ereignisse um Gores missglückten Versuch, sich zum Präsidenten der
Vereinigten Staaten von Amerika wählen zu lassen, erinnern: u. a. Gore, der sei-
106 Jules Buchholtz und Philipp Schulte
nen Wahlzettel in die Urne wirft; Statistiken des Wahlabends; der harte Kampf
um Stimmen im Bundesstaat Florida; Kommentare von Journalisten und Politi-
ker_innen, die Bush zum Sieger ausrufen; Wahlhelfer_innen, die die Stimmzettel
genauestens prüfen; Bush joggt im Trainingsanzug durchs Bild und präsentiert
siegesgewiss seinen nach oben gestreckten Daumen; der Oberste Gerichtshof tagt;
dann ein O-Ton Gores, seine Reaktion auf die Entscheidung des Gerichts: „While
I strongly disagree with the court’s decision, I accept it. I accept the finality of this
outcome.“ Anschließend werden Bilder von Gore gezeigt, der seine betroffenen
Familienmitglieder umarmt, die ihn trösten; Bush wird vereidigt; Gore applaudiert
mit verkniffener Miene; Bush wird ins Weiße Haus eskortiert und winkt in die
Menge. Dann zoomt die Kamera an ein Foto heran, das wieder Gore zeigt, der aus
dem Fenster eines Flugzeugs scheinbar von oben auf die Ereignisse herabschaut;
im Off meldet sich seine Stimme wieder zu Wort, die auf die umstrittene Wahl-
niederlage zurückblickt; die Musik verändert ihren Charakter und wird schneller,
entschlossener: „Well, that was a hard blow, but… What do you do? You… You
make the best of it. It brought into clear focus the mission that I had been pursuing
for all these years, and I started giving the slight show again.“ [bezieht sich damit
auf seinen Vortrag über Global Warming] Die Kamera lässt nun in gegenläufi-
gem Zoom ein weiteres Foto erkennbar werden: Gore, der auf der Rückbank eines
Autos sitzend sein Smartphone bedient und scheinbar Termine koordiniert. Es
folgt eine Filmaufnahme des einen Vortragssaal betretenden, von einem stehenden
Publikum umjubeltenden Gore. (a. a. O., Timecode 00:33:50 – 00:36:10.)
Es habe ihm klargemacht, was seine Aufgabe sei, so formuliert Gore die im
Film gleich mehrfach verbalisierte Pseudokonsequenz aus den geschilderten Er-
lebnissen. Gores biographische Erfahrung, veranschaulicht mithilfe einschlägiger
Fernsehbilder, wird inszeniert als Kampf des melodramatischen Helden gegen
eine übermächtige Bedrohung, gegen erlittenes Unrecht und großes Leid. Diese
Konstellation führt direkt zum nächsten Grundzug melodramatischer Darstel-
lungsweisen: der Konstruktion einer externalisierten Bedrohung.
c) Externalisierte Bedrohung
Die Klarheit, die Gore durch seine Niederlage gewonnen habe, gründe sich auf
dem Fakt, dass sie ihm auf eindeutige Weise klargemacht habe, wer seine Gegner
seien – und damit, so das nahe gelegte Argument, zugleich die Leugner und Geg-
ner einer globalen Erderwärmung. Gore gelingt der Trick, für ein so abstraktes
Phänomen wie Global Warming klare Repräsentanten, seine Antagonisten auszu-
machen, oder besser: zu figurieren; und die sind in der Regel Republikaner. Gore
inszeniert sich als jemand, der – fast wie Dr. Stockmann in Ibsens Volksfeind –
gegen das Unrecht kämpft, welche eine herrschende politische Klasse sät. ‚Größter
Contagio cine qua non oder wie Al Gore die Zukunft in Brand steckte 107
Stills aus An Inconventient Truth (2006), Timecodes 00:08:31, 00:43:40, 00:44:10, 00:10:28
Auch die Bedrohung für die Gemeinschaft, die An Inconvenient Truth inszeniert,
kommt ebenfalls von außen, ikonisch dargestellt wahlweise als Strahlung aus dem
Weltall oder auch als grüne Schurken, gezeichnet von den Machern der Zeichen-
trickserie Die Simpsons. Nur wenige Minuten verwendet der Film dagegen, um ein
tatsächliches Selbstverschulden, also menschliches Verhalten selbst als Ursache
für das drohende Problem auszumachen. Doch auch hier bleibt das ‚Wir‘ heile und
ungebrochen, auch hier wird das Verschulden wieder externalisiert: auf die ‚oil-
108 Jules Buchholtz und Philipp Schulte
and gaslobby‘ und ihre Fabriken – und damit wird unbewusst ein altbekannter
Antagonist melodramatischer Literatur des 19. Jahrhunderts bemüht, nämlich der
ausbeutende Fabrikbesitzer.
d) Viktimisierung
Diese Externalisierung der Bedrohung ist Grundbedingung für etwas, das nach-
folgend als letztes Merkmal des Melodramatischen vorgestellt werden soll, näm-
lich eine Form der unweigerlichen Selbststilisierung als Opfer, und zwar einerseits
wieder auf der Ebene des Individuums – man denke wieder an die Darstellung von
Gores Niederlage im Wahlkampf – und andererseits auf der Ebene der Gemein-
schaft. Die Schwäche der Helden angesichts einer Übermacht der Bedrohung ist
genretypisch für melodramatische Stoffe; an der Rechtschaffenheit seines Han-
delns sollen keine Zweifel aufkommen. Letztlich geht es wirkungsästhetisch um
das Erwecken von Mitleid – Schmidt (1986) formuliert es, selbst etwas melodra-
matisch anmutend, so:
Erst angesichts der Entbehrung und des Opfers werden sowohl Helden als auch Zu-
schauer ihrer Menschlichkeit gewahr und entdecken im gemeinsamen Fühlen, daß es
zum tugendsamen Leben vor allem eines Herzens bedarf. In diesem Trost liegt schon
ein Stück des Happy Endings begründet […]. (S. 246)
Die Logik der von außen hereinbrechenden Katastrophe des drama of desaster
macht die Betroffenen, uns Betroffene, die wir uns mit den Betroffenen in der
Darstellung zu identifizieren angehalten sind, zu Opfern, und lässt uns auf diese
Weise zugleich schuldlos erscheinen – eine im Übrigen ja durchaus fatale Tendenz
bei einem Themenkomplex wie den, um den es Gore zu tun ist. Bei Gore wird
diese Selbststilisierung zum Opfer noch befördert durch eine hartnäckige Mono-
kausalität in seiner Argumentation. So gibt es kaum etwas, das im Verlauf des
Contagio cine qua non oder wie Al Gore die Zukunft in Brand steckte 109
Films nicht auf Global Warming direkt oder zumindest indirekt zurückgeführt
wird: die Gletscherschmelze, das liegt noch nahe, aber auch die Flutkatastrophe
von New Orleans, die in den USA sehr präsenten Konflikte in Darfur, Infektions-
krankheiten wie Ebola, SARS und Tuberkulose, das Eisbärensterben, aber auch
terroristische Angriffe wie 9/11.
Stills aus An Inconventient Truth (2006), Timecodes 00:31:32, 00:31:37, 00:31:44, 00:59:48
Die zunächst abstrakte Bedrohung von Global Warming wird Ursache für me-
dial vielfach konkretisierte Probleme der Welt oder zumindest der USA; und die
Menschheit oder zumindest der US-amerikanische Teil der Menschheit werden
zum Opfer, und zwar vor allem, weil sie in einer ausweglosen Lage seien. Gore
entwirft ein melodramatisches, weil alternativlosen Szenario, das jegliche tragi-
sche Komponente – denn Tragik entsteht nur durch die Möglichkeit einer Ent-
scheidung – ausblendet. Die einzige Wahl, die der Film darstellt, gerät sogleich zu
Parodie und entpuppt sich somit nur als eine scheinbare:
Gore fährt mit seinem Vortrag fort: „Do we have to choose between the econ-
omy and the environment? This is a big one. Lot of people say we do. I was trying
to convince the previous administration, the first Bush administration, to go to
the Earth Summit. And they organized a big White House conference to say, ‚Oh,
we’re on top of this.’ And one of these view graphs caught my attention. And
110 Jules Buchholtz und Philipp Schulte
I want to talk to you about it for a minute.” Auf die Leinwand im Hintergrund
der Vortragsbühne wird eine schematische Darstellung projiziert; unter dem Titel
‚Balance‘ zeigt sie eine Waage, in deren einer Waagschale eine Anzahl Goldbarren
liegen, in der anderen die Erdkugel. Gore fährt fort: „Now here is the choice that
we have to make according to this group. We have here a scales that balances to
different things. On one side, we have gold bars. [ahmt ein gieriges Verhalten nach]
Mhmmm. Mhmmm. Mhmm. Don’t they look good? I’d just like to have some
of those gold bars. Mhmm. Mhmm. On the other side of the scales, [parodiert
eine erschrockene Haltung:] the entire planet! Mhmm. [parodiert eine Person, der
es schwer fällt, sich zwischen beiden Seiten zu entscheiden] (a. a. O., Timecode
01:15:55 – 01:17:25).
Durch sein Gelächter provozierendes, parodistisches Betonen seiner Interpre-
tation des Bildes und seinem Agieren auf der Bühne markiert Gore die Wahl, die
durch das Bild suggeriert, als nur scheinbare. Die Rettung der Erde ist alternativ-
los. Wie dies aber vonstattengehen soll, dazu macht An Inconvenient Truth keine
konkreten Angebote. Denn zu dieser Alternativlosigkeit gesellt sich ein zweiter
Faktor, der eine Selbst-Viktimisierung vorantreibt: Gores Film fällt auf durch eine
verblüffende Abwesenheit von Lösungsvorschlägen für das gezeichnete Problem.
Erst im Abspann, also außerhalb des Vortrags, wird ihnen neben den Informa-
tionen zu den Beteiligten ein Platz eingeräumt; doch was da zum Song I need
to wake up von Melissa Etheridge als Lösung angeboten wird, changiert irgend-
wo zwischen praktischen Alltagstipps („Buy energy efficient appliances + light
bulbs.“2, „Recycle.“3), hilflosen Appellen („Tell your parents not to ruin the world
you will live in.“4, „Pray that people will find the strength to change“5) und einem
raffinierten Selbstmarketing („Encourage everyone you know to see this movie.“6).
Was aber nach der Lektüre des Films bleibt, ist das durchaus als melodramatisch
zu bezeichnende Gefühl, es sei nun an der Zeit, endlich etwas zu unternehmen,
denn Szenario und Melodram sind in ihrem Kern agitatorisch, indem sie Bedro-
hung, Feindbild und somit Richtung vorgeben – und gleichzeitig mitunter weniger
konkret sind bezüglich des richtigen, des einen Weges zur Bekämpfung der Katas-
Zum Ende dieses Artikels sei noch einmal kurz auf Überschneidungen der hier
erörterten Merkmale des Melodramatischen mit den im ersten Teil dieses Beitrags
vorgeschlagenen Szenariofaktoren hingewiesen. So drehen sich also sowohl die
melodramatische Tendenz der Vergangenheitsverklärung als auch der konsekutive
Charakter einschlägiger Szenarien um eine je bestimmte Zeitlichkeit. Während
allerdings melodramatische ‚dramas of triumph‘, ebenfalls eine von Heilman auf-
gemachte Kategorie, sich ausschließlich auf einen bewältigten Antagonismus der
Vergangenheit beziehen – ein besiegter Schurke, eine erfolgreiche Revolution –
haben dramas of desaster fast immer einen zumindest hypothetischen Zukunfts-
bezug, und das historisch im Versuch einer möglichst bühnenrealistischen Dar-
stellung: Was hier im Theater durchgespielt wird, könnte auch in naher Zukunft
wirklich passieren. Szenarien könnten somit als Melodramen des vermeintlich
Zukünftigen bezeichnet werden. Die Emotionalität, die im Szenario wie auch im
Melodram einerseits dargestellt und andererseits erzeugt werden soll, kann in den
meisten Fällen als monopathisch bezeichnet werden: Innere Zerissenheit und Ent-
scheidungsunsicherheit werden durch eine Quasi-Ganzheit ersetzt, Monopathie
übernimmt eine Ordnungsfunktion, und diese Vereinheitlichung des inneren Selbst
kann nur gegenüber einem Äußeren, gegenüber einem Anderen etabliert werden.
Zu diesem Äußeren pflegen das monopathische Subjekt und die monopathische
Gemeinschaft ein Verhältnis der Impfung, übrigens durchaus im Sinne Roberto
Espositos, auf dessen Ausführungen zu Immunität, Kommunität und Biopolitik
am Ende dieses Textes hingewiesen sei: Indem man sich die im Außen verortete
und als Außen inszenierte Bedrohung in kleinen Dosen verabreicht – indem man
sich über sie informiert, dafür betet, dass die Menschen sich ändern, Filme wie
An Inconvenient Truth anschaut, und weiterempfiehlt –, besteht die Möglichkeit,
zumindest steht das Versprechen im Raum, man könne sich gegen die Bedrohung
Das Immune ist nicht einfach vom ‚Kommunen‘ unterschieden, es ist sein Gegenteil
– das, was es derart entleert, daß nicht nur seine Wirkungen, sondern seine Voraus-
setzungen selbst komplett ausgelöscht werden. (S. 25)
Die Idee des Immunisierens, bei Esposito Grundparadigma der Moderne, opfert
Fragen und Debatten über die mögliche Form des Lebendigen scheinbar alterna-
tivlosen Notwendigkeiten, ein rein biologisch betrachtetes Überleben zu sichern.
Auf der Ebene der Kohäsivität wird auf diese Weise also eine Art Schicksals-
gemeinschaft, eine Risikogemeinschaft, eine Wir-sitzen-alle-im-selben-Boot-Ge-
meinschaft erwirkt, deren Lebensformen auf ihren „nackten biologischen Gehalt
zusammengestaucht“ (2004b, S. 23) wurden – eine durch Angst und Sorge ange-
triebene, ja melodramatische Pseudo-Gemeinschaft; ‚pseudo‘ deshalb, da sie sich
ausschließlich über die Inszenierung einer externen Bedrohung konstituiert und
ethische Fragen nach der Möglichkeit eines ‚rechten Lebens‘ oder ‚Gemeinlebens‘
ausklammert – denn Zusammenleben wird ausschließlich nach Maßgabe einer
vermeintlichen Bedrohungsintensität organisiert und entworfen.
Doch gewährt Esposito in seinen Überlegungen auch einen Ausblick auf eine
alternative Philosophie der Immunität. Der notwendige Ausgangspunkt hierfür
sei „ein Begriff von individueller Identität, der sich deutlich absetzt von der ge-
schlossenen und monolithischen Konzeption, auf die man sich einst bezog“ (ebd.,
S. 27f.). Auch bei dieser Neukonzeption ginge es weiterhin darum, das Andere in
bestimmten Dosen in sich aufzunehmen, sei es aus der Perspektive des Subjekts
oder der Gemeinschaft betrachtet. Doch wäre dieses neue Verhältnis nicht eines
der Angst oder Sorge, nicht der melodramatischen Notwendigkeit und nicht dem
Phantasma einer holistischen Geschlossenheit verpflichtet. Esposito schlägt vor,
das Immunsystem nicht auf die „simple Funktion der Abstoßung des Fremden“
(ebd., S. 28) zu reduzieren, sondern es eher als inneren Resonanzraum zu deu-
ten, und die Grenzen der Gemeinschaft nicht vor allem als bedrohten Schutzwall,
sondern vielmehr als „Scheidewand, durch welche hindurch die Differenz uns als
solche einbezieht und durchquert“ (ebd.). Was dies aber voraussetzt, sind andere
Formen der Inszenierung: brüchige und uneindeutige statt monopathische; nicht
melodramatische; anti-szenarische.
Contagio cine qua non oder wie Al Gore die Zukunft in Brand steckte 113
Literatur
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„Let’s make it look real“
Bildwissen in der digitalen Postproduktion1
Ronja Trischler
1 Einleitung
Denkt man Kino nicht aus Sicht der Rezipientinnen, sondern Produzentinnen, ver-
ändert sich zugleich die Perspektive auf die Beziehungen zwischen Medienbild und
außermedialer Wirklichkeit. Während der Gestaltung ist das entstehende Bild exis-
tentiell an die situierte, berufliche Alltagswelt der Bildproduzentinnen gebunden,
gleichzeitig transzendiert es diese als zukünftiges Medienprodukt. Dieser Beitrag
beschäftigt sich mit visueller Postproduktion für Film und Fernsehen und nimmt
damit einen solchen Perspektivwechsel vor. Ausgehend von der wissenssoziologisch
informierten Prämisse, dass Bilder als „Formen des menschlichen Weltzugangs und
1 Mein Dank gilt den Herausgebern des Sammelbands sowie Veronika Zink für ihre
instruktiven Gedanken und Hinweise, insbesondere zum Konzept der ‚schöpferischen
Produktion‘.
Die Unterbestimmtheit der Güte der Medienprodukte stellt sich als Problem der
Postproduzentinnen untereinander, sowie im Auftragsverhältnis zu den Kunden.
Die Expertise des Sehens zeichnet sich daher durch eine Spannung zwischen fle-
xiblen Formen der Wissensgenerierung als ‚schöpferische Produktion‘ und der
Forderung nach einem Expertinnenstatus für Medienproduktion gegenüber den
Entscheidungsträgerinnen aus.
Die Untersuchung digitaler Postproduktion beleuchtet die historisch situierte,
soziale Verwobenheit der Möglichkeiten medialer Darstellung, die sich im profes-
sionellen Bildwissen der Bildproduzentinnen abzeichnet; damit wird Film – über
den semantischen Realitätsbezug von Ästhetik und Narration im Medienprodukt
hinaus – als audiovisuelles Reflexionsmedium über Gesellschaft erkennbar.
2 Es ist eine Konzentration englisch- und deutschsprachiger Forschung über Visual Effects
auf amerikanische und europäische Medienproduktion festzustellen; der vorliegende
Beitrag macht sich dieser Engführung ebenso schuldig. Trotz deren weltweiter
Strahlkraft wäre auch in Hinblick auf die zunehmende geographische Verlagerung
von Postproduktion nach Asien eine Erweiterung des Blicks wünschenswert.
3 Sie ist aber auch der Produktionssicht geschuldet: Firmen, die Filmeffekte herstellen,
produzieren häufig gleichzeitig für verschiedene Medienformate.
118 Ronja Trischler
„Was man radikal in Zweifel ziehen muß, ist das Prinzip der Referenz des Bildes,
jene strategische List, mit der es immer wieder den Anschein erweckt, sich auf eine
reale Welt, auf reale Objekte zu beziehen, etwas zu reproduzieren, was ihm logisch
und chronologisch vorausliegt. Nichts von alledem ist wahr. Als Simulakrum geht
das Bild dem Realen vielmehr voraus, insofern es die logische, die kausale Abfolge
von Realem und Reproduktion umkehrt.“ (Baudrillard 1986, S. 265)
In dieser Hyperrealität löse sich die Möglichkeit der Repräsentation in Bildern auf,
und mit ihr deren Referenz außerhalb des Bildes. In der film- und medienwissen-
schaftlichen Forschung wurde die Argumentation auf digitale Eingriffe verengt
und argumentiert, dass diese eine historische ‚Qualität‘ des Mediums Kino bedro-
hen (vgl. Coulter 2010, S. 8). Dabei wird den Computereffekten laut Richter (2008,
S. 15) in der Gegenüberstellung mit dem fotografischen Bild ein ästhetisches Defizit
zugesprochen, das den besonderen Wirklichkeitsbezug von Fotografie unterlaufe.
Dem setzen sich Filmforscherinnen entgegen, indem sie filmhistorisch eine funk-
tionale Kontinuität zwischen digitalen zu nicht-digitalen Effekten für Filmnarration
und -ästhetik aufzeigen (vgl. Giesen und Meglin 2000, Prince 2011). Richter (2008)
argumentiert, dass Visual Effects Fotografie nicht lediglich nachahmen, sondern
eigene Darstellungsweisen in Form eines „digitalen Realismus“ prägen; dieser wür-
de nur teilweise über den Bezug zur fotografischen Aufnahme konstruiert.4 Daran
schließe ich die Frage an, welcher Realitätsbezug in der alltäglichen Bildgestaltung
nachvollzogen werden kann: Wie wird die Gestaltung von Bildern zum sozialen
Problem zwischen den Produzentinnen in der digitalen Postproduktion?
Die Untersuchung folgt der Prämisse visueller Soziologie, dass „the world that is
seen, photographed, drawn or otherwise represented visually is different than the
world that is represented through words and numbers“ (Harper 2012, S. 4).5 Jüngst
kamen hier in der deutschsprachigen Forschung Alltagsverwendungen von Foto-
grafie (vgl. Michel 2006, Raab 2012), Video (vgl. Raab 2008a, Tuma 2013) und
auch digitaler Visualisierung wie Infografiken (vgl. Reichertz 2007) oder Power-
Point-Präsentationen (vgl. Schnettler und Knoblauch 2007) in den Blick.6 Für die
vorliegende Forschung ist die darin entwickelte Vorstellung eines visuellen Wis-
sens relevant, nach welchem Bilder Teil sozialer Wirklichkeitskonstruktionen sind,
die durch bestehendes Wissen geprägt werden (vgl. Raab 2008a). Das Konzept
wurde laut Schnettler (2007, S. 202f.) sowohl für professionelles Bildwissen als
spezialisiertes Wissen über Bilder, wie zur Beschreibung nichtsprachlicher, kör-
perlicher Ausdrucksformen von Wissen (wie Gesten) und von Repräsentationen
(audio-)visueller Medien verwendet. Im vorliegenden Beitrag interessiert Bildwis-
sen nicht nur als spezialisiertes, geteiltes Wissen der Produzentinnen über Bilder,
sondern auch die Einbettung und Konstruktion dieses Verständnisses im geteilten
Arbeitsalltag, sprich das Wissen im Umgang mit Bildern. Diese kommen als tem-
poräre visuelle Stabilisierung innerhalb eines Nexus kultureller Verhandlungen in
den Blick (vgl. Rose 2012), sodass die Analyse der professionellen Bildproduktion
Aufschluss über kollektive Modi der Organisation von Wissen in Bildern gibt und
damit die soziale Situiertheit der Möglichkeiten medialer Darstellung aufzeigt.
Um mögliche Übereinstimmungen im professionellen Verständnis der Bilder
– im Sinne eines Bildwissens – zu rekonstruieren, bietet die dokumentarische
Methode einen methodisch-systematischen Zugang (vgl. Bohnsack et al. 2007).
Hiernach wird implizites, handlungspraktisches Wissen als Dokumentsinn von
kommunikativ generalisiertem Sinngehalt unterschieden: Während viele Men-
schen eine allgemeine Ansicht teilen, was ein ‚Film‘ ist, unterscheiden sich die
Vorstellungen der Teilnehmerinnen eines Amateur-Videoclubs über ihr Musikvi-
deo (vgl. Raab 2008a) von den Konzepten der Postproduzierenden über ihre Ge-
staltung visueller Effekte. Denn der implizite Sinn wird durch unterschiedliche
„konjunktive Erfahrungsräume“ geprägt, in denen die Akteure im Alltag in Hin-
blick auf geteilte Probleme situierte Vorstellungen über einen gemeinsamen Fokus
entwickeln. Professionelles Bildwissen kann sich, als ein solcher geteilter Orien-
tierungsrahmen, in nicht-strukturierten Gruppendiskussionen über den geteilten
Fokus ‚Arbeit‘ sprachlich manifestieren. Dessen Rekonstruktion erfolgt für den
vorliegenden Beitrag über eine sequentielle Auswertung der semantischen Bezüge
der Gesprächsbeiträge (vgl. Bohnsack und Nohl 2001, S. 303) in drei Gruppen-
diskussionen mit je vier Beschäftigten von zwei deutschen Unternehmen (GD1,
03.12.2013; GD2, 20.12.2013; GD3, 26.02.2014) und einem Gespräch mit zwei
6 Dieser Forschungsbereich, der sich unter dem Stichwort Videografie auch den metho-
dischen Nutzen von Videos widmet (vgl. Knoblauch et al. 2008), blieb laut Tuma und
Schmidt (2013, S. 22) bisher weitgehend unverbunden mit einer ebenso rekonstruktiv
ausgerichteten Filmsoziologie.
120 Ronja Trischler
„In the end you want to have something that doesn’t exist in reality but look like it
does on film, well on an, on a, in an image. Well and it doesn’t really matter how you
achieve that.“
Technical Director, GD4
„Aber das is ja eigentlich auch die Schönheit wirklich, wenn das dann glaubhaft
wird. Das is ja eigentlich unser größter Job, etwas real erscheinen zu lassen.“
Projektkoordinatorin, GD2
Die Ziele der Postproduktion können von den Beteiligten in den vorhergehenden
Zitaten deutlich formuliert werden: Hier verschwimmt der Unterschied zwischen
‚real‘ und ‚gefilmt‘ in der Vorstellung einer ‚glaubhaften‘ Darstellung, die sich als
(filmische) Abbildung an der Filmkamera orientiert. Die gleichzeitige Negierung
(„that doesn’t exist in reality“) und Verkündung („real erscheinen zu lassen“) der
Realitätsreferenz für die Bildprodukte durch die Akteure bedingt eine feldspezi-
7 Es diskutierten spezialisierte Artists (in den Transkripten durch ‚A‘ markiert), eine Pro-
jektkoordinatorin (‚K‘) und künstlerische Projektleitungen (‚S‘ für Supervisor mit der
Interviewerin (‚I‘)). Während die kleinere deutsche Firma überwiegend für deutsche
Filme arbeitet, bearbeitet die größere vor allem amerikanische Film- und Serienpro-
duktionen sowie nationale Werbefilme. Durch diesen minimalen Kontrast (vgl. Glaser
und Strauss 1968) lässt sich die weiterzuverfolgende Vermutung generieren, dass sich
professionelles Bildwissen in der Postproduktion medienübergreifend konstituiert.
„Let’s make it look real“ 121
fische Ästhetik des Realen in der Postproduktion. Die Güte der Darstellung kann
in diesem ambivalenten Realitätsbezug nicht – oder nur an sich selbst – gemessen
werden, sodass die Beteiligten deren Kriterien miteinander aushandeln. Im Pro-
duktionsprozess wird somit sichtbar, wie Wissen dazu zielgerichtet angewendet,
ausgehandelt und neu entwickelt wird.
In dem situierten Arbeitskontext der Postproduktion, in dem sich Bildprodu-
zentinnen nicht nur gestalterische Probleme stellen, gibt es keinen eindeutigen
Weg zum Bildprodukt: „it doesn’t matter how you achieve that“. Die folgende
Passage aus einer Gruppendiskussion leitet in die am Material generierte These
ein, dass das handlungspraktische Wissen durch spezifische Modi der Bezug-
nahme zu vier Referenzproblemen der Arbeit strukturiert ist: Zusammenarbeit,
Technologie, Medien und Gestaltung.
4.2 Bild/Bearbeitung
Der Artist erklärt die gestalterische Schwierigkeit des Entfernens eines Stunt-
Drahts mit Bezug auf technische Qualitäten der Abbildung, was Supervisor S1
bestätigend elaboriert: Die Abbildung des Dschungels wird von ihnen einstimmig
als aus Einzelelementen bestehend beschrieben, deren zeitliche Interaktion („wu-
selig“) im dreidimensionalen Raum („Tiefe“) ein Problem im Prozess der Gestal-
tung der zweidimensionalen Aufnahme („platte Wand“) darstellt. Die Gestaltung
ist daher prekär („irgendwie entstehen“); es gibt keine eindeutige Problemlösung.
Sie wird als „künstlerisches“ Vorgehen konstruiert, in dem die visuelle Vagheit
der Darstellung einzelner Elemente („nicht exakt identisch“) erfolgreich im Bild
als „Gesamtbild“ aufgelöst werden. Die Detaillierung „Gesamteindruck“ bestätigt
den emergenten Charakter dieser Darstellung: Sie zielt auf die Integration von vier
Dimensionen in einem Medienbild, welches die zeitliche Begrenzung des Einzel-
frames wie auch die einzelne Kameraeinstellung („Shot“) übersteigt.
124 Ronja Trischler
Um dies zu erreichen, wird im Beispiel ein Busch aus dem „wuseligen“ Dschun-
gel seziert; die Konstruktion des „Gesamtbilds“ hängt mit der Identifizierung
von einzelnen Bildelementen zusammen. Das Betrachten von Bildern ist ein ele-
mentarer Bestandteil des Postproduktionsprozesses. Im Produktionsverlauf wird
Bildmaterial zu unterschiedlicher Zeit und Ort gesichtet: am Drehort, im Schnitt,
individuell am Arbeitsplatz und gemeinsam in formellen oder informellen Bespre-
chungen. Die Akteure konzeptualisieren dieses Sehen als „Auge“, dies impliziert
einen ständigen Interpretations- und Bewertungsprozess:
„dieses eine Bild das ist mein Ding gewesen irgendwie (.) da hab d- des Bild hab ich
so zusammengesetzt weil da war nur die Tante vor Grün da aufgenommen (.) da ham
die das eine Haus hier gedreht (.) das andere Haus hier und ich hab alles am Schluss
zusammengefügt und hab ein (.) Gesamtbild eigentlich gemacht also das heißt ich
hatte das erste Mal das Gefühl ich hab was geschaffen eigentlich so“
GD1, 0:15:14 – 0:15:34
Das „Zusammensetzen“ verschiedener Bilder wird vom Artist unter dem Motto
„mein Ding“ im Laufe der Passage vom Arbeitsschritt zum „Schaffen“ umgedeu-
tet, in welchem sich der Produzent über ein Gefühl zum Gesamtbild als Artist
konstituiert. Dieser Prozess stellt im Arbeitsalltag eine Herausforderung dar, bei-
spielsweise aufgrund technischer Möglichkeiten:
„weils halt keine Perspektive gibt (.) die [das Gebäude] komplett freigibt (.) und dar-
stellt (.) das heißt wir mussten dann die Foreground-Bäume (.) ausblenden dass man
halt als Zuschauer auch wirklich schön (1) Ausblick (.) drauf hat (1) äh musste man
sich dort eben diverse Sachen dann eben (.) her (.) zusammenreimen (.) wie das denn
wohl aus der Perspektive ausschauen würde“
GD1, 0:14:20 – 0:15:00
lung übertragbar werden. Dem Bild wird hierbei die Funktion im gestalterischen
Arbeitsprozess zugewiesen, darauf zu referieren, wie ein Hirschkäfer aussieht. Als
Mittler ist es selbst ein Bild, welchem aber im Bezug zur Realität ein anderer,
generalisierter Status als dem entstehenden Bild zugeteilt wird. In fast allen Visu-
al-Effects-Projekten im Sample konnte der Einsatz von verschiedenen Referenz-
bildern nachvollzogen werden. An ihnen manifestiert sich das Verständnis der Ak-
teure über ihre Arbeit als Übersetzung (im Auftragsverhältnis): Die Idee des einen
soll von einer anderen visualisiert werden. Dem Bild wird die Eigenschaft zuge-
sprochen, eine eindeutige, intersubjektive Anweisung zu geben. Einem „Grenzob-
jekt“ entsprechend, ermöglicht es somit in situ Kollaboration, da es robust genug
ist, um eine Kommunikation zu ermöglichen, aber vage genug bleibt, um lokal
von den verschiedenen Parteien interpretiert zu werden (vgl. Star 2010; Trischler
im Erscheinen). Reicht das Common-Sense-Wissen über das Darzustellende nicht
aus, um eine überzeugende Abbildung zu generieren oder ergeben sich Konflikte
zwischen Auftraggeberin, Projektleitung und Artist, bietet ein Referenzbild einen
Ausweg, der eine Aneignung von externem, unterschiedlich exklusivem Wissen
ermöglicht. Diese Form des Wissenserwerbs bezieht sich auf visuelle Qualitäten
des Abzubildenden und ist insofern ein Mittler zur ‚Realität‘ (des Käfers), als dass
die Artists dessen Anatomie selbst nicht kennen oder untersuchen müssen. Die
Konstruktionsleistung der Beteiligten liegt darin, dass die Gemachtheit des Re-
ferenzbildes verdeckt wird, die eine Bedeutungsambivalenz des Bildes verraten
könnte, damit es zwischen ‚Realität‘ und Effekt vermitteln kann.
Zum Abschluss des empirischen Kapitels führe ich die dargelegten Konzepte in
Form eines kollektiven Orientierungsrahmens zusammen. Dieser bearbeitet eine
grundlegende Spannung der ‚schöpferischen Produktion‘ als freie und zugleich
sozial, technisch und medial bedingte Kreation: Die Unvereinbarkeit aus Schöp-
fen und Auftrag zeigt sich sowohl im Bildverständnis der Akteure, in dem das
emergente Bildprodukt die Summe seiner zergliederten Teile übersteigt, als auch
im Arbeitsverständnis, das zwischen Kreation und Übersetzung pendelt. Dieser
Orientierungsrahmen manifestiert sich nicht nur in der Übereinstimmung des
Blicks der Bildproduzierenden auf Bilder, sondern auch in der Kommunikation
mit Bildern.
(Schiek und Apitzsch 2013, S. 183).11 Weitergehend zeigt Krämer (2014, S. 179) am
Beispiel von Werbeproduktion, dass für solche Kreativarbeit die Inszenierung von
Kreativität auf materieller Ebene (wie mittels ausgedruckter Entwürfe) entschei-
dend ist, da sie die „geistige und symbolische (Kreativ-)Arbeit als qualifizierte und
kompetente Arbeit“ gegenüber Kunden anschaulich macht. Kreativarbeit sei nicht
körperlos oder immateriell, sondern unterlaufe vielmehr „die klassische (tayloris-
tische) Trennung von Hand- und Kopfarbeit.“ (ebd., S. 379) Ebenso manifestiert
sich die ‚schöpferische Produktion‘ für die Artists der digitalen Postproduktion so-
wohl im Zusammenreimen als auch im Zusammenhacken, sprich als körperliches
und als kognitives Schaffen.
Das professionelle Auge der Postproduktion zeigt die Reibungen in der Bestim-
mung zeitgenössischer Expertise auch in Hinblick auf das Verhältnis von Exper-
tinnen und Laien auf: Artists kreieren für sich und das Publikum und übersetzen
für Kunden. Der professionelle Blick wechselt zwischen Gesamtbild und Einzel-
elementen, um Probleme zu lösen, die laut Supervisor für Jedermann sichtbar sind:
„[V]iele merken dann schon das merkt man eigentlich schnell (.) da stimmt irgend-
was nich […] aber dass man dann ganz gezielt sagt ok (1) ähm das ist zu grü:n (.)
d- da stimmt der Schatten nich“
GD1, 0:08:03 – 0:08:16
Der professionelle Blick vereint (mit all seinen Referenzen) einen Common Sense
des Sehens, sprich wie ein Kino- oder Fernsehpublikum schaut, mit technisch-ge-
stalterischem Spezialwissen. Die „Gänsehaut“ des Kinogängers steht im Gespräch
der Produzentinnen über den Kinogang entsprechend gleichberechtigt neben dem
Fachvokabular (wie der Abkürzung für High Frame Rate):
„[I]ch muss tatsächlich sagen (.) der (1) der 24 3D (.) war komplett für die Füße (.) da
hab ich ihn lieber in 2D in (.) 24 gesehen […] weil das alles so shuttert und des stockt
[…] da find ich eben HFR das war reines Eye Candy (.) des is (.) einfach Gänsehaut
pur“
GD1, 0:41:14 – 0:41:39
Für die Analyse von Bildwissen in der Postproduktion in dem dargelegten gesell-
schaftstheoretischen Kontext ist folglich deren ‚doppelte Öffentlichkeit‘ entschei-
dend: Visual-Effects-Firmen richten sich in ihren Tätigkeiten und Selbstdarstellun-
11 Auch Filmproduktion kam hier – mit Fokus auf Akteure am Drehort – als Ausprägung
‚kreativer‘ Arbeit in den Blick (vgl. Marrs 2007).
„Let’s make it look real“ 131
gen an ihre Kunden, die über die Veröffentlichung des Endprodukts walten, aber
auch an ein (Laien-)Medienpublikum. Da Effekte (für das Publikum) unsichtbar sein
sollen, ist es schwer, den Wert der Arbeit der Postproduktion für Kunden sichtbar
zu machen. Es kann dahingehend eine Professionalisierung der digitalen Postpro-
duktion beobachtet werden,12 in welcher der Konstruktion von Expertinnenwissen
eine legitimatorische Funktion zukommt (vgl. Hitzler 1998, S. 39): Die Kultivierung
des professionellen Blicks übersteigt das technische Spezialwissen (als „hinsichtlich
ihrer Problemlösungsadäquanz kontrollierbaren Kompetenz“, ebd., S. 42) in der For-
derung nach einem Expertinnenstatus für Medienproduktion, die gegenüber deren
Entscheidungsträgerinnen formuliert wird.13 Während diese Positionierung zwar mit
der oben eingeführten modernen Form von Expertise übereinstimmt, verschwim-
men in digitaler Postproduktion aber gleichzeitig – gemäß einer neuartigen, flexiblen
Wissensproduktion (vgl. Meuser und Nagel 2009, S. 38f.) – Grenzen zwischen Pro-
duzentinnen und Konsumentinnen: Wenn im Gestaltungsprozess jedes online ver-
fügbare Bild zur Referenz werden kann, werden mediale Sehweisen des Publikums
in die professionelle Bildproduktion integriert.14 Ausdruck der flexiblen Wissensge-
nerierung ist auch die Annahme der Artists, dass die Arbeit – trotz fortschreitender
Formalisierung der Ausbildung – nur in der Projektpraxis erlernt werden kann:
A1: Ich hab auch ehrlich gesagt die pr- also so die Technik besser im Praktikum
gelernt wenn du dann wirklich (.) hin (.) /A2: ja/ /K: ja/ im Projekt mitarbeitest
und dann (.) /A3: on project/ genau
GD2, 01:22:42 – 01:22:51
15 Die Projektarbeit der Postproduktion basiert in hohem Maße auf Freelancern; in der
jüngsten Vergangenheit kam es zu mehreren medial diskutierten Insolvenzfällen von
Visual-Effects-Häusern (vgl. Barkan 2014).
„Let’s make it look real“ 133
der geteilten Wahrnehmung von Wirklichkeit (als Alltagswelt) zur Debatte steht.
Dabei sehen die Postproduzentinnen nicht nur, sondern produzieren gemeinsam
Wahrnehmung: Im „Zusammenhacken“, in der „Gänsehaut“ oder in ihrem „Auge“
erscheinen ihre Körper sprichwörtlich auf der Bildfläche. Abschließend könnte da-
her kritisiert werden, dass eine Engführung des Verständnisses der Gestaltung in
der Postproduktion auf visuelles Wissen die sinnlich-leibliche Erfahrung von Me-
dien reduziert.16 Sobchack (2004, S. 57) beschreibt diese als „the capacity of films
to physically arouse us to meaning“. Als Medienprodukte verkaufen sich visuelle
Effekte über ihre antizipierten Effekte (bei den Zuschauerinnen), deren leiblich-
affektive Wahrnehmung sowohl über das Einzelbild als auch über visuelle Wahr-
nehmung hinausgeht. Gerade die ambivalente Rolle des Körpers in der ‚schöp-
ferischen Produktion‘ der digitalen Postproduktion verdeutlicht deren Relevanz
für das Verständnis zeitgenössischer Kultur und verdient weitere Aufmerksamkeit:
Die leibliche Erfahrung der Bilder steht im Zentrum einer Wissensproduktion als
‚kreative‘ Arbeit, deren Bildprodukte aufgrund ihrer digitalen Konstitution jedoch
häufig als immateriell oder künstlich verstanden werden.
Literatur
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16 Dies verweist auch auf Bals (2003) Kritik eines „visuellen Essentialismus“ in den Vi-
sual Culture Studies, in dem das Visuelle durch die analytische Abtrennung von ande-
ren Ebenen der Sinnproduktion seine Erklärungskraft für das Soziale verliert. In der
deutschsprachigen visuellen Soziologie wurde dies unter dem Begriff synästhetischer
Wahrnehmung diskutiert (s. Raab 2008a; Burri et al. 2011).
134 Ronja Trischler
Dirk H. Medebach
1 Einleitung
2 Figurationssoziologie
Neben den Leitideen und Befunden von Elias werden komplementäre Konzepte
Bourdieus (z.B. Habitus) und Goffmans (z.B. Theatralität) einbezogen. Dies bietet
sich gerade für (medien-)kultursoziologische Analysen an und ist als Analysensyn-
these im Sinne einer „Synthetischen Soziologie“ (Willems 2012) zu begreifen, bei
der Figurationssoziologie als eine Art Metakonzept zu verstehen ist, das den Blick
zugleich auf Individuen und Gesellschaft richtet. Die Überwindung rein mikro-
oder makrosoziologischer Perspektiven sowie das Aufdecken vielfältiger sozia-
ler Zusammenhänge und wechselbezüglicher Verflechtungen (Interdependenzen)
sind dabei die fundamentalen Motive.
„Der Begriff des sozialen Prozesses bezieht sich auf kontinuierliche, langfristige,
d. h. gewöhnlich nicht weniger als drei Generationen umfassende Wandlungen der
von Menschen gebildeten Figurationen oder ihrer Aspekte in einer von zwei ent-
gegengesetzten Richtungen.“ (Elias 2006b, S. 104) Soziologische Untersuchungen
zielen demnach auf Transformationen, graduelle Verschiebungen, Wandlungen
von (relativen) Balancen der Figurationen und lebensgeschichtliche Interdepen-
denzen ab. Eine Grundidee Elias‘ Werkes „Über den Prozeß der Zivilisation“ (vgl.
1997a; 1997b) ist die Gleichzeitigkeit und Wechselbezüglichkeit von sozio- und
psychogenetischen Wandlungen.
„Mehr oder weniger fluktuierende Machtbalancen bilden ein integrales Ele-
ment aller menschlichen Beziehungen.“ (Elias 1986, S. 76f.) Machtbalancen sind
„wie alle Beziehungen, mindestens bipolare und meistens multipolare Phänomene“
(ebd., S. 77). Macht wird demnach weder Akteuren noch Gruppen als ein (Charak-
ter-)Merkmal zugeschrieben, sondern resultiert aus bzw. existiert in Beziehungen.
Macht ist also relational konzipiert.
siologische und eine subjektive oder Gefühlskomponente (vgl. vertiefend Elias 2006c,
S. 371–376).
5 Im Kontrast zu bilateralen, dichotomen statischen Beschreibungen von Gesellschaften.
Erinnern – Vergessen 141
3 Demenz im Überblick
In den Jahren 1906 und 1907 beschrieb Alois Alzheimer eine präsenile, vor dem
65. Lebensjahr auftretende degenerative Demenz (vgl. Förstl et al. 2011, S. 48).
Die Diagnose Alzheimer-Demenz (AD) wird inzwischen bei etwa zwei Dritteln
klinisch untersuchter PatientInnen mit Demenz gestellt (vgl. ebd.). „Die gene-
6 Elias (2006c, S. 363) thematisiert dies z.B. so: „Auf der einen Seite gibt es Strukturen,
die einem Wandel durch gespeicherte und erinnerte Erfahrungen, d. h. durch Lernen,
völlig unzugänglich sind. Auf der anderen Seite gibt es natürliche menschliche Struk-
turen, die Dispositionen bleiben und nicht vollständig funktionieren könnten ohne Sti-
mulation durch das »Liebes- und Lernverhältnis« einer Person zu anderen Personen.“
142 Dirk H. Medebach
4 Krisen
4.1 Allgemeines
„Es liegt im Wesen einer Krise, daß eine Entscheidung fällig ist, aber noch nicht ge-
fallen. Und es gehört ebenso zur Krise, daß offenbleibt, welche Entscheidung fällt.
Die allgemeine Unsicherheit in einer kritischen Situation ist also durchzogen von der
einen Gewißheit, daß – unbestimmt wann, aber doch bestimmt, unsicher wie, aber
doch sicher – ein Ende des kritischen Zustandes bevorsteht. Die mögliche Lösung
bleibt ungewiß, das Ende selbst aber ein Umschlag der bestehenden Verhältnisse
[…].“ (Koselleck 1973, S. 105)
Dahinter steht letztlich die Verknüpfung der Konzepte „Krise und Kritik“, die
beispielsweise von Lessenich (vgl. 2014, S. 8) in dessen Beitrag über „Soziologie –
Krise – Kritik“ wieder aufgegriffen werden.
Prisching plädiert für die Einengung des Krisenbegriffs auf Phänomene, die
das „gesellschaftliche Ganze“ (Hervorh. i. Orig.) betreffen, insbesondere struktu-
relle Wandlungserscheinungen (vgl. ebd., S. 22ff.). Er weist darauf hin, dass „kri-
senhafte Prozesse nur ‚oberhalb‘ der individuellen Ebene anzusiedeln seien“ (ebd.,
S. 23). Dies muss aus Sicht der Figurationssoziologie kritisch gesehen werden,
denn subjektive Deutungen als Krise erlauben eine Annäherung an Wirklichkeits-
befunde, so auch Prisching selbst (vgl. ebd., S. 27).
Die folgende Analyse geht über rein makrosoziologische Aspekte hinaus und
wird Demenz daher nicht als gesellschaftliches Gesamtphänomen und Krise
nachzeichnen. Um figurative Interdependenzen und Krisenprozesse aufzudecken,
werden dramatische Ereignisse, (Um-)Brüche und Wendepunkte in Figurationen
ebenso bedeutsam sein wie die Ambivalenz von Kontinuität und Diskontinuität.
144 Dirk H. Medebach
Gerade in der Soziologie sind individuelle und partikuläre Krisen (vgl. auch Pri-
sching 1986, S. 22), wie z.B. Ehekrise, midlife-crisis, Identitäts- und Sinnkrise
oder die Höhe-/Wendepunkte in Krankheitsgeschehen, weniger präsent. Auch
Schlagworte wie biographische Krise oder Krise des Subjekts finden sich verein-
zelt, ohne konzeptuell ausgearbeitet zu sein. Als scheinbar innerpsychische oder
individual-therapeutische Problemlagen wird das Feld anderen Fachdisziplinen
überlassen.
Erwartungs- und Vertrauenskrise sind Begriffe, die einen interaktionistischen
oder interdependenten Bezug vermuten lassen und im Anschluss an ‚externe Fak-
toren‘, wie z.B. bundespolitische Entscheidungen, in Diskursen auftreten.8
Lebenskrisen entziehen sich regelmäßig der soziologischen Analyse und werden
höchstens implizit mit Sozialisationsaspekten und Identitätsproblemen erörtert.
Auf die Konzeptualisierung von Beziehungskrisen trifft Ähnliches zu. Lebenskri-
se kann letztlich als zusammenfassendes Konstrukt aus Identitäts-, Beziehungs-
und Existenzkrise verstanden werden. Aus figurationssoziologischer Sicht müssen
bei einer Lebenskrise wechselbezügliche äußere Einflüsse und innere Konflikte
von nicht unerheblicher Dauer vorliegen, die als Belastung erlebt werden. Es ist
ein Prozess, durch den Routinen, Rituale und der gewohnte Lebenslauf eines Men-
schen zumal so gestört sind, dass (Wir-Ich-)Balancen ins Ungleichgewicht geraten
und existenzielle Wandlungen eintreten.
Trotz aller Bedenken an der Medikalisierung der Demenz, muss die diskursive
und disziplinäre medizinisch-naturwissenschaftliche Deutungshoheit zur Kennt-
nis genommen werden, wonach Demenzen Krankheiten seien.
Prisching bezieht sich auf die auf Hippokrates zurückgehende medizinische
Krisenlehre: eine Krise im Krankheitsverlauf trete auf, „wenn diese Krankheit an
Intensität zunimmt oder abklingt, in eine andere Krankheit übergeht oder über-
haupt ein Ende hat“ (Prisching 1986, S. 19). Etymologische Bedeutungen von
Krise sind: Unterscheidung oder Entscheidung (vgl. ebd., S. 18). Zum Ende des
18. Jahrhunderts wandelt sich die qualitative Bestimmung von Gesundheit und
8 So habe etwa die Euro- und Finanzkrise angeblich eine Vertrauenskrise nach sich ge-
zogen. Der VW-Konzern stecke derzeit ebenfalls in einer Vertrauenskrise, lässt sich
der Presse entnehmen.
Erinnern – Vergessen 145
„Dennoch würden wir, sobald es medizinisch um Leben und Tod geht, nicht von
einer Krise sprechen, wenn der Patient nicht in diesen Vorgang mit seiner ganzen
Subjektivität verstrickt wäre. Eine Krise ist nicht von der Innenansicht dessen zu
lösen, der ihr ausgeliefert ist: der Patient erfährt seine Ohnmacht gegenüber der Ob-
jektivität der Krankheit nur, weil er ein zur Passivität verurteiltes Subjekt ist […].“
(ebd.)
Das angedeutete Spannungsverhältnis von krank und gesund bzw. Macht und
Ohnmacht ist für die Alzheimer-Beschreibung relevant. Parkes‘ Konzept psycho-
sozialer Übergangsstadien (im Kontext von Trauer) beschreibt Ähnliches: „Wir
erfahren dies als etwas, das uns zustößt; doch zu den Folgen gehören bedeutende
Veränderungen im Kernland unseres Selbst“ (Parkes 1974, S. 13). Nach Erikson
(vgl. 1998, S. 145ff., S. 221ff.) resultieren psychosoziale Krisen aus (Identitäts-)
Verwirrungen im Zusammenhang mit der Lebens- und Krankheitsgeschichte.
Charlier (vgl. 2001, S. 111) hebt die Doppelbedeutung von Krise im Kontext von
Krankheiten als „Gefahr und Chance“ hervor, und damit den „versteckte[n] ‚Sinn‘
von Krankheit“ (ebd., S. 113). All diese Aspekte leiten die Analysen.
5 Empirisches Material
6 Filmanalyse
Die Filmanalyse ist inhaltanalytisch angelegt und basiert auf einem Methoden-
mix verschiedener qualitativer Filmanalyse- und Filminterpretationsansätze.11
Die Figurationssoziologie als (Meta-)Ansatz trägt zugleich den methodologischen
Rahmen und inhaltlichen Fokus zur Re- und Dekonstruktion filmischer Interde-
pendenzen bei.
Das Vorgehen ist insofern induktiv und deduktiv zugleich, also als zirkuläres
Vorgehen zwischen Film(-narrativ) und (figurations-)soziologischer Analysekon-
zepte zu begreifen. Menschliche Beziehungen und Verflechtungen sowie prozes-
suale, intertemporäre Wandlungen werden einbezogen.
Eher technische und sehr an Bildanalysen ausgerichtete Analyseverfahren12
(z.B. auch grammatische Analysen) bleiben außen vor. Die stilistischen Mittel der
Inszenierung wie Kameraposition, -führung und Filmmusik sowie der Produk-
tionszusammenhang werden die Analysen nur hintergründig begleiten. Dies dient
insbesondere der Beschränkung, um den Film als Ganzes analytisch beherrschbar
zu halten und konkrete Ergebnisse hinsichtlich des Topos Demenz generieren zu
können. Jeder Film ‚spricht eine eigene Sprache‘, ist komplex und ohne theoreti-
sche Vorannahmen oder thematischen Fokus nur schwerlich als Gesamtkonstrukt
erfassbar.13
Narrative Inhalte sowie die darstellende Ebene des Hör- (Kommunikation)14
und Sichtbaren werden synthetisiert und leiten die fokussierte Analyse. Dabei geht
es weniger um eine Szene-für-Szene-Analyse des kompletten Films, sondern viel-
6.2 Forschungsfragen
Aus den Schritten 3 bis 5 des Arbeitsprozesses resultieren die nun thematisch
strukturierten Analyseergebnisse. Das empirische Material wurde mehrmals, zu-
nächst schneller und oberflächlicher und sodann detaillierter beobachtet und ana-
lysiert.
„Ich hatte immer gesagt, der Angelo sollte drei Klassen überspringen“ […] „ein phä-
nomenales Gedächtnis und eigentlich kein schlechter Junge. Er tat alles für seine
Freunde. Aber hin und wieder passierte was Dummes, z.B. jemand rief ihn Hosen-
scheißer oder man hat ihn getreten; dann war er wie verwandelt. Dann erwachte das
Biest in ihm.“ […] „Ich hatte wirklich Mitleid mit den Ledda-Jungs. Die Mutter früh
verstorben und der Vater… naja. Sie fielen zuhause oft die Kellertreppe herunter,
wenn Sie verstehen, was ich meine.“ […] „Und bei einer medizinischen Untersu-
chung wurde dann mal was festgestellt.“
Der Ermittler Vincke fragt nach: „sexueller Missbrauch?“, woraufhin der Pfarrer
mit verräterisch-zustimmender Mimik antwortet: „Ich weiß von nichts.“
Der Film ist ein gutes Beispiel für dynamische Machtbalancen, die im ste-
ten Wandel sind. Die angedeutete sexuelle Gewalt gegenüber seinen Söhnen, die
unterlegen und lange Zeit wehrlos ausgeliefert sind, steht in Relation zum frühen
Tod der Mutter. Es zeugt zugleich von der Ohnmacht, alternative Mittel der Er-
ziehung und Beziehungsregulation anzuwenden. Die durch den Vater verkörperte
Ambivalenz der Macht, symbolisiert Angelo im Weiteren. Eine Umkehrung der
Machtbalance der Leddas war nur eine Frage der Zeit. Im Alter von 17 Jahren
beendet Angelo offensichtlich die Familienkrise, die zur Routine geworden war,
durch Töten des Vaters; im Zusammenhang mit einem Brand täuscht er zudem
den eigenen Tod vor, taucht unter, bestreitet die stilisierte kriminelle Karriere. Die
Machtbalance, wenngleich in Richtung Angelo gewandelt, bleibt aufgrund von In-
korporierung und Erinnerungen aber über des Vaters Tod hinaus potenziell bzw.
als Verkettung gegenwärtig. Die Relation zwischen Missbrauch, Habitus/Lebens-
stil und Demenz lässt sich mit „erinnerndem Vergessen“ beschreiben.
absolviert Angelo einen Besuch im Pflegeheim. Dort fragt er die Pflegekraft: „Ist
er schon lange hier?“ Sie: „Oh, ja, ja, jahrelang. Aber es ist schnell gegangen bei
Herrn Ledda. Es begann damit…“ Er: „Ich weiß, wie es beginnt.“ (22:38–22:50)
In diesen exemplarischen Szenen wird die (Inszenierung der) Unaussprechlich-
keit bzw. der Sprachlosigkeit (über) die Demenz deutlich,18 welche als eine Art der
Tabuisierung in der gesellschaftlichen Wirklichkeit ebenfalls nicht selten ist. Led-
da verdrängt die Krankheit nicht, sucht gar den Kontakt zum schwererkrankten
Bruder, dem er zumindest in dieser Situation relativ (emotional) aufgeschlossen
begegnen kann. Auf den Abschiedskuss Angelos reagiert Paolo: er schaut Angelo
nach, dann wendet er den Blick traurig anmutend ab (22:55–23:08). Im späteren
Krankheitsstadium ist dies eher eine atypische Übertreibung, die jedoch Spannung
bei den Zuschauenden erzeugt und Fragen aufwerfen kann.
Die Demenz-Dramaturgie geht einher mit dem auslöschenden Vergessen-wol-
len der Missbräuche. Auch Paolo würdigt den Pfarrer (als ‚stillen Mitwisser‘) in
einer Szene eines besonderen bis verächtlichen Blickes, wobei er nicht so von der
Demenz gefangen zu sein scheint, wie es den Anschein hat (1:08:49–1:09:02).
Ledda nimmt in mehreren Szenen und damit regelmäßig Tabletten ein, um die
Alzheimer-Symptome zu mildern. Der Wecker seiner Armbanduhr erinnert ihn
regelmäßig daran, und reguliert und routiniert damit den Tagesablauf und das Ge-
dächtnis. In Kapitel 6 träumt Ledda von der Ermorderung Biekes, wacht dabei
verwirrt auf und nimmt sofort eine Tablette ein (29:29–30:05). In der späteren Ver-
hörszene werden ihm die Pharmazeutika verweigert und er fleht stoisch: „Ich brau-
che meine Pillen. Ich muss meine Pillen nehmen.“ (1:26:50–1:27:08) Dies scheint
er also noch nicht vergessen zu haben, obgleich ihn die Uhr immer wieder als
erinnernde Sicherheit dienen muss. Der Gesundheitszustand verschlechtert sich
gegen Filmende rapide, ausgiebige ‚lichte Momente‘ bleiben aber.
Als Ledda im Krankenbett liegt, wird die medizinische Perspektive auf die De-
menz dargelegt (1:37:16–1:37:42): „Er ist wieder stabil, aber das Problem ist, dass
man viel zu lange damit gewartet hat, ihn zu versorgen. Es kann gut sein, dass wir
seinen Arm amputieren müssen.“, so der Arzt. Vincke fragt daraufhin: „Und sein
Alzheimer?“ „Da lässt sich keine Prognose stellen.“, erwidert der Arzt, „Es gibt
Momente, da ist er ganz klar, dann wieder nicht. Aber wenn er aussagen soll, dann
hoffe ich für Sie, dass das Gericht den Fall nicht auf die lange Bank schiebt.“ „Geht
das so schnell abwärts?“, versichert sich Vincke. „Er ist schon sehr krank, Kom-
missar“, resümiert der Arzt. Diese Diagnose kann nach über anderthalb Stunden
18 Eine Sprachlosigkeit ist auch für Opfer von (sexuellem) Missbrauch typisch. Trauma-
ta, (soziale) Ängste und Scham sind als einige bedeutsame Gründe dafür anzusehen.
152 Dirk H. Medebach
19 Sie malt ein entsprechendes Bild, wirkt schreckhaft und verstört, und initiiert auf An-
weisung ihres Vaters sexualisierte Handlungen.
Erinnern – Vergessen 153
zeitigkeit paralleler Handlungen) zum Gespräch des Barons mit seinem in die Ta-
ten involvierten Sohn statt. Ledda reagiert in dieser belastenden Stresssituation mit
Bespucken eines Fotos, schimpft dabei „Solche Schweine! Miese Dreckschwei-
ne!“ und zeigt mit seiner Mimik und Gestik Wutreaktionen (45:02–45:13). Dabei
tritt jedoch kein Demenz-Flash auf. Das affektive Bespucken ist nach üblichen
Deutungsmustern ein Symbol für Ekel bzw. etwas Verabscheuenswürdiges. Die
gewalttätigen Missbrauchserfahrungen waren Fremdzwänge, die als Selbstzwang
internalisiert und transformiert wurden, und sich nunmehr als Ekel-Impulse ma-
nifestieren.20
Die (Verschlechterung der) Alzheimer-Symptome korrelieren im Film mit
den starken Emotionen. Vergessen und Orientierungslosigkeit sind die Folge. Die
Furcht vor der subjektiv zu frühen Erinnerungslosigkeit und Handlungsohnmacht,
vor allem in Demenz-Flash-Momenten, stehen in einem Spannungsverhältnis zum
Vergessen-wollen der frühen Lebensphasenereignisse und des Opferdaseins.
bol offen: Ledda vergaß den Abschussbolzen o.ä. einzubauen. Die dramatische
Selbsterkenntnis folgt, dass neben Gedächtnis und Geist, seine Fähigkeiten, Iden-
tität und letztlich auch Existenz zur Disposition stehen. Die Figuration in dieser
Szene löst in vielerlei Hinsicht Stress aus (Ledda schwitzt),21 weshalb auch insze-
natorisch die Ambivalenz von Erinnern und Vergessen als Demenz-Flash einen
Höhepunkt erreicht. Es verdichten sich Zeit, Raum und Wissen bzw. Symbole (als
alle fünf Dimensionen, s.o.). Weitere Aspekte der Krise(n) der Krankheit und des
Vergessens wurden oben bereits diskutiert; mit dieser Szene sind auch subjektive
Merkmale realisiert.
Aber bereits zuvor im Film gibt es erinnerungsbedingte Identitätskrisen.
Gleichsam entsteht eine ambivalente Balance von Menschlichkeit und Grausam-
keit in Figurationen wie jener zwischen Ledda, einer Prostituierten und ihrem Be-
lästiger (28:36–32:37). Neben der Verzeitlichung der Medikamente(-neinnahme)
und seinen strukturierten Routinen als Erinnerungsritualen kommen Ledda fort-
während Beziehungen zugute, um sich orientieren und sein Selbst(bild) aufrecht-
erhalten zu können.
Der gesamte individuelle bzw. figurative Prozess der Demenz erscheint zu-
nächst krisenhaft. Dabei wird die Krise aber schnell zur Routine. Es kann, analog
zu makrogesellschaftlichen Krisendiagnosen, von (wiederkehrenden) Krisenzyk-
len die Rede sein.
7 Fazit
Demenz-Filme basieren häufig auf Dramen oder Romantik im Kontext einer Paar-
oder Familienfiguration. De Zaak Alzheimer ist in vielerlei Hinsicht eine atypische
Demenz-Fiktion und Kumulation spannender gesellschaftlicher Randphänomene.
Mit Blick auf die aufgeworfenen Forschungsfragen wird die Inszenierung von
Demenzphänomenen wie Erinnerungs- und Orientierungslosigkeit durch die De-
menz-Flashs besonders deutlich. Die Individualität der Krankheit wird immerzu
von sozialen Situationen überlagert, die von figurativen Momenten wie Emotio-
nen, Interdependenzen und biographischen Rekursionen geprägt sind. Zwänge und
Macht sind allgegenwärtige soziale Beziehungsfaktoren, die auch den Film prägen.
Die Krise offenbart sich im Verlauf der Demenz mehr und mehr als Alltag einer
Transformation, ohne dass in gleichem Maße der Demenz-Alltag als Krise gedeu-
21 Beispielsweise versucht sich der Baron mit dem emotionalen Hinweis auf Vater-Kind-
Beziehungen zu retten, so dass auch die biographische Rekursion Leddas wiederum
bewirkt wird.
Erinnern – Vergessen 155
tet werden muss. Die Demenz-Flashs verstetigen sich als Routine. Das Scheitern
der Ermordung des Barons als Schlüsselszene manifestiert die eigentliche Krise
(bzw. den Höhepunkt und Bruch), da es für Ledda nun auch subjektiv von der
Identität samt Kompetenzen bis hin zu biographischen Beziehungsaspekten und
der ultimativen Aufgabe alles in Frage stellt.
Demenz ist damit aber keinesfalls an sich eine Katastrophe. Die Deutung als
Lebenskrise und nicht nur als Krankheitskrise stellt Beziehungs- und Identitäts-
aspekte als Figurationsmerkmale heraus. Die Berücksichtigung vorangegangener
sozialer Prozesse und lebensgeschichtlicher Wandlungen kann ungeahnte Rahmen
und Relationen im Spannungsverhältnis von Erinnern und Vergessen aufzeigen,
wie sie auch in der gesellschaftlichen Wirklichkeit von Demenz wichtig sind.
„Und genau wie die Neurosen einer bestimmten Zeitperiode das immer gegenwär-
tige Chaos der menschlichen Existenz auf eine neue Art widerspiegeln, weisen die
schöpferischen Krisen auf die einzigartigen Lösungen der Perioden hin.“ (Erikson
1998, S. 137)
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Wer neu ist im Fight Club, muss kämpfen!
Die Krise des postmodernen Subjekts im Film
Fight Club
Patrick Giurgiu
Die Leute fragen ihn immer, ob er Tyler Durden kenne, sagt er, der eigentlich
namenlose Erzähler. Tyler sagt: „Drei Minuten, es ist soweit: Ground Zero“. Ob
er zur Feier des Tages noch ein paar Worte sagen wolle, fragt Tyler, der mit einer
Pistole bewaffnet über dem Erzähler steht. „Mit einem Pistolenlauf zwischen den
Zähnen bringt man nur noch Vokale raus“ (Fincher 1999, 00:02:10).
Fight Club (1999; R.: David Fincher) beginnt mit einer rasanten Kamerafahrt,
die ihren Anfang im Inneren des Gehirns des Erzählers nimmt und mit dem Blick
auf seinen geöffneten Mund endet, in dem der Lauf einer Pistole steckt. Tylers Pis-
tole. Hoch oben in einem Hochhaus des Bankenviertels sitzt der eigentlich namen-
lose Erzähler „Jack“ auf einen Schreibtischstuhl gefesselt, während Tyler auf den
„Ground Zero“ wartet. Gleich sollen die Sprengsätze des „Projekt Chaos“ zünden,
soll das Finanzwesen zusammenbrechen und die Menschheit zu einem Nullpunkt
führen, der einen Neuanfang ermöglicht. Anhand einer Rückblende führt Jack die
Zuschauer durch den Film und die vergangenen Geschehnisse, die ihn in jene Situ-
ation gebracht haben, mit der der Film einsteigt und mit welcher er auch enden soll.
Jack (Edward Norton) arbeitet als Rückrufkoordinator für ein großes Automo-
bilunternehmen und ist ständig auf Geschäftsreise. Ein einfacher Büroangestellter,
für den es keinerlei bedeutungsvolle soziale Interaktion gibt und der die Leere in
seinem Leben mit schwedischen Designermöbeln zu füllen versucht. Als Sklave
des IKEA-Nestbautriebes ist Jack ein Opfer der modernen Lifestylegesellschaft.
Sein Leben als austauschbares Rädchen im Konsumbetrieb raubt ihm den Schlaf.
Die Schlaflosigkeit vernebelt sukzessive seine Realität und entfernt ihn zusehends
von jeglicher Art sozialer Anbindung, bis er in einer Selbsthilfegruppe für Männer
mit Hodenkrebs („Remaining Men Together“) ein Heilmittel für seine Schlaflosig-
keit und neue soziale Kontakte findet. Jack wird süchtig nach dieser Erfahrung und
findet sich schon bald in einer Reihe von Selbsthilfegruppen für verschiedenste
Krankheiten und Probleme wieder, von denen er selbst nicht betroffen ist. Er zeigt
sich mit dieser Entwicklung zufrieden und alles scheint gut zu laufen, bis er auf
Marla Singer (Helena Bonham Carter) trifft, eine kettenrauchende „Elendstouris-
tin“, die die Selbsthilfegruppen besucht, weil der Kaffee umsonst und das Spekta-
kel billiger als Kino sei. In der Anwesenheit eines anderen Schwindlers kann Jack
seinen neugefundenen Frieden nicht mehr aufrechterhalten, sodass sich prompt
nach der Begegnung mit Marla die Schlaflosigkeit wieder einstellt.
Nach dieser ersten Konfrontation mit Marla begegnet Jack auf einer Geschäfts-
reise Tyler Durden (Brad Pitt), einem charismatischen, gutaussehenden und selbst-
ständigen Seifenproduzenten, einem Ausbund anarchischen Individualismus, der
jeglichen Konsum ablehnt. Kurz: Jacks vollkommenes Gegenteil. Als Jack von
seiner Geschäftsreise zurückkehrt, muss er feststellen, dass seine Eigentumswoh-
nung explodiert ist und sich seine schwedischen Designermöbel buchstäblich in
Rauch aufgelöst haben. In seiner Not wendet sich Jack zunächst an Marla, be-
kommt beim Telefonat mit ihr allerdings keinen Ton heraus und legt unverrichteter
Dinge wieder auf. Um ihm aus seiner misslichen Lage zu helfen, bleibt aufgrund
seiner sozialen Isolation nunmehr seine flüchtige Reisebegegnung Tyler Durden.
Nachdem sich die beiden in einer Bar getroffen, ein paar Bier miteinander ge-
trunken und sich über die Zwänge der Konsumgesellschaft ausgetauscht haben,
bietet Tyler seinem obdachlosen Gegenüber schließlich eine Unterkunft an. Fort-
an lebt Jack gemeinsam mit Tyler in dessen heruntergekommener Bruchbude und
es entwickelt sich eine enge Beziehung zwischen den beiden, die wesentlich auf
Jacks Faszination für Tyler und dessen ablehnender Einstellung gegenüber der Ge-
sellschaft beruht. Wie sich schon bald zeigt, teilen nicht nur Jack und Tyler diese
Einstellung. Ihre mittlerweile regelmäßigen Faustkämpfe im Rahmen des „Fight
Club“ erwecken schon bald die Aufmerksamkeit vieler, allesamt Männer. Die
Mitgliederzahl der verschworenen Gemeinschaft steigt stetig. Während Jack vor-
nehmlich im Hintergrund bleibt, avanciert Tyler zunehmend zum Anführer dieser
Gruppierung und scheint den anderen Mitgliedern des „Fight Club“ mit seinen
Hasstiraden und seiner desillusionierenden Einstellung gegenüber dem Leben in
der Konsumgesellschaft förmlich aus der Seele zu sprechen.
Im Zusammenspiel ihrer unterschiedlichen Rollen verhalten sich Jack und Tyler
wie ein eingespieltes Team, ein altes Ehepaar. Bis auch Marla ein Teil der Be-
Wer neu ist im Fight Club, muss kämpfen! 161
ziehung wird. Nachdem sie während eines Selbstmordversuchs (von ihr selbst als
nur ein weiterer Hilfeschrei bezeichnet) Jack anruft und dieser sich nicht an ihrer
Geschichte interessiert zeigt, ist es Tyler, der Marla aus ihrem Selbstmitleid be-
freit. Während Tyler eine rein sexuelle Beziehung zu Marla entwickelt, verschlech-
tert sich, nicht zuletzt aufgrund Jacks Eifersucht bezüglich Marlas Beziehung zu
Tyler, die ohnehin schon vorbelastete Beziehung zwischen Jack und Marla stetig
und es kommt immer wieder zu Streitereien zwischen den beiden. Gleichzeitig
werden ohne das direkte Zutun von Jack und Tyler immer mehr „Filialen“ des
„Fight Club“ gegründet, bis Tyler aus den Mitgliedern des „Fight Club“ in seinem
eigenen Haus eine Untergrundarmee aufbaut, die unter dem Decknamen „Projekt
Chaos“ einen nicht nur spirituellen, sondern auch vandalistischen und terroris-
tischen Krieg gegen die Konsumgesellschaft zu führen beginnt. Mit den neuen
Plänen Tylers treten allerdings zunehmend Differenzen in seiner Beziehung zu
Jack auf. Als Tyler von einem auf den anderen Tag plötzlich verschwunden ist, das
Haus und die Untergrundorganisation des „Projekt Chaos“ mittlerweile aber schon
längst eigenständig operiert und die terroristischen Attacken ihr erstes Todesopfer
fordern, scheint Jack zunehmend davon überzeugt zu sein, sich in Tyler getäuscht
zu haben. An Tyler und seiner eigenen Identität zweifelnd, begibt sich Jack auf
eine Suche, die seinen allmählich aufkommenden Verdacht bestätigt: Er und Tyler
sind ein und dieselbe Person. Jack ist sich nicht sicher, ob Tyler sein Albtraum oder
umgekehrt er selbst nicht möglicherweise Tylers Albtraum ist und wendet sich auf-
geregt an Marla, die ihm bestätigt, dass sie ihn als Tyler Durden kennt und auch
er es war, der mit ihr geschlafen hat. Schließlich taucht auch Tyler wieder auf und
entlarvt sich selbst als ein Idealbild, das sich Jack von sich selbst gemacht hat und
es ihm ermöglichte, Stück für Stück zu einem anderen Menschen zu werden. Jeder
Kampf gegen Tyler war ein Kampf gegen sich selbst gewesen.
Nachdem sich Jack von dieser schockierenden Erkenntnis erholt hat, erklärt er
sich gegenüber Marla und muss herausfinden, dass Tyler in seiner Abwesenheit
eine Serie von Bombenanschlägen in der Stadt initiiert hat. Um ein noch größeres
Chaos zu verhindern, stellt sich Jack der Polizei, jedoch trifft er auch dort nahe-
zu ausschließlich auf Anhänger des „Projekt Chaos“. Auf sich alleine gestellt eilt
Jack zu einem leerstehenden Bankgebäude, in dem sich eine der Bomben befindet.
Es kommt zu einem erbitterten Kampf zwischen Jack und Tyler, bei dem der Zu-
schauer durch die Bilder einer Überwachungskamera Zeuge davon wird, wie sich
Jack selbst zusammenschlägt und mit einer Pistole auf Fenster und Autoscheiben
schießt, hinter denen er Tyler zu sehen meint. Nachdem Jack von Tyler eine Treppe
hinuntergeworfen wird bzw. sich selbst eine Treppe hinunterstürzt und bewusstlos
liegen bleibt, erfolgt ein Schnitt und der Film befindet sich wieder an der Stelle, an
der er begonnen hat. Während Tyler auf den „Ground Zero“ wartet, findet sich Jack
162 Patrick Giurgiu
Thematik befasst; Filme wie u.a. American Beauty (1999; R.: Sam Mendes), Me-
mento (2000; R.: Chrisopher Nolan) und Donnie Darko (2001; R.: Richard Kelly)
stellen in je unterschiedlicher Weise das Schicksal des postmodernen Subjekts dar.
Jedoch besteht eine Besonderheit des Films Fight Club darin, das Schicksal des
postmodernen Subjekts auf dessen schwieriger Suche nach einer eigenen Identität
mit den möglichen Konsequenzen einer solchen Situation zu verbinden und den
Zuschauern eindrucksvoll die Auswirkungen persönlicher Identitätskrisen für die
Gesellschaft selbst vor Augen zu führen.
Die hier kurz umrissene Verbindung persönlicher Identitätskrisen einer post-
modernen Subjektivität und deren mögliche Konsequenzen für die Gesellschaft
selbst, werden im Folgenden über eine struktural-psychoanalytische Perspektive
auf den im Film dargestellten Prozess der Subjektivitätskonstitution und einigen
darauf aufbauenden kultursoziologischen Überlegungen herausgearbeitet. Dabei
fragt die gewählte struktural-psychoanalytische Perspektive explizit nicht danach,
wie der Film als ein die Subjektkonstitution unterstützendes und beeinflussendes
Medium verstanden werden kann. Der Fokus liegt stattdessen auf der im Film
selbst dargestellten Subjektkonstitution. Jener Prozess der Subjektkonstitution
wird zunächst anhand des Spiegelstadiums Jacques Lacans (1996) nachgezeichnet,
bevor die mit diesem Prozess verbundenen und im Film dargestellten Konsequen-
zen abschließend im Kontext einiger weiterer kultursoziologischer Überlegungen
diskutiert werden.
Den Ausgangspunkt für Lacans Überlegungen zum Spiegelstadium bildet ein be-
obachtbarer Verhaltensaspekt des kleinen Kindes, das bereits im frühen Kindes-
alter (6.–18. Lebensmonat) sein eigenes Bild im Spiegel als solches erkennt. Im
Gegensatz zum Schimpansenjungen gleichen Alters, der das Menschenjunge in
diesem Entwicklungsstadium an motorischer Intelligenz übertrifft, erschöpft sich
dieser Akt nicht in einem ein für allemal erlernten Wissen um die Nichtigkeit
des Bildes, sondern löst beim Kind eine Reihe von Gesten aus, mit denen es die
im Spiegel wahrgenommene Einheit des Bildes zu seinem eigenen Körper in Be-
ziehung setzt (vgl. Lacan 1996, S. 63). Wie im Mythos von Narziss des römischen
Dichters Ovid (43 v. Chr.–17 n. Chr.), in dem Narziss sich in der Reinheit eines
Quells selbst erblickt und dabei zunächst nicht weiß, dass er es ist, den er so lei-
denschaftlich begehrt, der Bild und Wirklichkeit nicht voneinander unterscheiden
kann, vergleicht das Kind seine Bewegungen mit denen der Spiegelreflexion und
begrüßt sein visuelles Echo mit „jubilatorischer Geschäftigkeit“ (vgl. Pagel 2007,
164 Patrick Giurgiu
S. 23). Der wesentliche Aspekt dieser Beobachtung liegt dabei in der frühen Reife
des menschlichen Kindes, das zwar noch nicht die vollständige Kontrolle über
seine Körperbewegungen erlangt hat und noch in eine grundlegende Abhängig-
keit von seiner Umwelt eingetaucht ist, sich aufgrund seines in diesem Stadium
bereits relativ weit fortgeschrittenen visuellen Wahrnehmungssystems in der Lage
befindet, sein eigenes Bild im Spiegel als solches erkennen zu können. Das Ge-
schehen vor dem Spiegel ist nun weit mehr als die Wahrnehmung eines ihm ähn-
lichen Gegenüber und das Erkennen dieser Gestalt im Spiegel als der eigenen. Es
ist die durch diese Spiegel-Imago vermittelte triumphale Setzung eines Ideal-Ich,
der Entwurf eines imaginären Bildes von der Ganzheitlichkeit seines Körpers, der
Garant einer zukünftigen Einheit und Dauerhaftigkeit, die ihm seine körperliche
Wahrnehmung zu diesem Zeitpunkt noch nicht verleihen kann. Es ist die Setzung
der Identität, die sich in Bezug zum eigenen vorgestellten Körper konstituiert, den
das Kind als erlebbare Ganzheit zu erfassen und somit zu beherrschen glaubt (vgl.
Pagel 2007, S. 23f.).
Nach Lacan lässt dieser Prozess der Selbstwahrnehmung das Spiegelstadium
als eine Identifikation verstanden wissen, als eine beim Subjekt ausgelöste Ver-
wandlung, im Zuge dessen sich das spezifisch menschliche Ich konstituiert (vgl.
Lacan 1996, S. 64). Geschieht dies jedoch lediglich durch die Wahrnehmung der
Gestalt des eigenen Körpers und damit nicht auf Grundlage einer realen Erfahrung
des Körpers, so steht diese Wahrnehmung in einem fundamentalen Gegensatz zur
eigentlichen körperlichen Erfahrung des Kindes. In dem Geschehen vor dem Spie-
gel wird das Kind damit nicht nur seiner Selbst bewusst, sondern gleichzeitig auch
über die noch mangelhafte Kontrolle seiner eigenen Körperbewegungen und der
Abhängigkeit von seiner Umwelt hinweggetäuscht. Im Sinn einer „Fata Morgana“
treten Pseudoautonomie und Selbstbeherrschung in die Welt des Kindes und las-
sen die im Spiegel erblickte Gestalt zu einem Versprechen zukünftiger Ganzheit
werden (vgl. Bowie 1991, S. 27). Obwohl es sich bei dem Spiegelbild um eine
idealisierte Täuschung handelt, stellt sie nach Lacan eine unbedingte Notwendig-
keit für die Konstitution des Ich dar. Wie Lacan anhand eines biologischen Experi-
mentes1 beschreibt, übt die im Spiegel erblickte Gestalt „bildnerische Wirkungen“
auf den Organismus aus und ruft die Konstitution des Ich wesentlich hervor. Dabei
handelt es sich um eine Spezialfunktion der Spiegel-Imago, „die darin besteht,
1 Lacan erklärt dies insbesondere in Bezug auf ein biologisches Experiment: So setzt
auch die Reifung der Geschlechtsdrüsen bei der Taube den Anblick eines Artgenossen
unbedingt voraus, eine Wirkung, die auch durch das Aufstellen eines Spiegels in der
Nähe des Individuums erzielt werden kann, so dass es sich darin sehen kann (vgl. La-
can 1996, S. 65)
Wer neu ist im Fight Club, muss kämpfen! 165
dass sie eine Beziehung […] zwischen dem Organismus und seiner Realität – oder,
wie man zu sagen pflegt, zwischen Innenwelt und Umwelt“ herstellt (Lacan 1996,
S. 66).
Wird das Konzept des Spiegelstadiums nun auf den Film Fight Club übertra-
gen, so erinnert der Erzähler zunächst an das motorisch noch unterentwickelte
Kind in Lacans Theorie. Von einer wesentlichen Beziehung zwischen seiner In-
nenwelt und seiner Umwelt kann für ihn kaum die Rede sein und auch seine Identi-
tät erscheint alles andere als gefestigt, stützt sich diese doch vornehmlich auf die
richtige Auswahl der seine Persönlichkeit am besten definierenden Esszimmer-
Garnituren des IKEA-Katalogs (Fincher 1999, 00:04:35). Insgesamt führt Jack
ein Leben der Belanglosigkeit, die durch seine Sucht nach Anerkennung in den
verschiedensten Selbsthilfegruppen nur für eine kurze Zeit überdeckt wird und
sich sofort wieder einstellt sobald „Elendstouristin“ Marla Singer in den Selbst-
hilfegruppen auftaucht. Am Tiefpunkt aber kommt Jack erst an, als er von einer
Geschäftsreise zurückkehrt und seine Eigentumswohnung nur noch in Trümmern
vorfindet. Nun leidet er nicht mehr nur unter Schlaflosigkeit, sondern steht auch
noch ohne eigene Bleibe und ohne seine schwedischen Designermöbel da, die als
Füllmaterial für die Leerstelle dienten, die der Mangel an einer eigenen Identität
hinterlassen hatte. Ratlos wendet sich Jack schließlich an Tyler Durden, den cha-
rismatischen und gutaussehenden Seifenproduzenten, den er erst kurz zuvor auf
seiner Geschäftsreise kennenlernte.
Als Jack auf seiner Geschäftsreise im Flugzeug aus einem Traum erwacht, sitzt
Tyler Durden plötzlich und ganz unvermittelt neben ihm. Wie die Gestalt im Spie-
gel für das Kind, erscheint auch Tyler für Jack zunächst als ein reales Wesen. Erst
zu einem weitaus späteren Zeitpunkt im Film wird Jack und damit auch dem/
der Zuschauer/in bewusst, dass es sich bei den beiden um ein und dieselbe Per-
son handelt und Tyler lediglich die imaginäre Projektion des identitätslosen Jack
ist, ein zur Stabilisierung seiner Identität erschaffenes Ideal-Ich. Dabei könnten
die Unterschiede zwischen ihnen kaum größer sein: Wo Jack ohne Identität und
ohne Namen den Zwängen der Konsumgesellschaft unterworfen ist, erscheint Ty-
ler nicht nur als sein komplettes Gegenteil, sondern hat wesentlich alles, woran es
Jack mangelt und was dieser gleichzeitig begehrt. Bei ihrem ersten Aufeinander-
treffen ist Jack also keineswegs das Schimpansenjunge, das sich interesselos von
seinem spiegelbildlichen Gegenüber abwendet, sondern zeigt sich stattdessen fas-
ziniert von diesem beeindruckendsten aller seiner portionierten Freunde (Fincher
1999, 00:22:31). Bereits kurze Zeit darauf wird der/die Zuschauer/in dann Beob-
achter dessen, was Lacan im Rahmen des Spiegelstadiums als eine durch die Auf-
nahme des Spiegelbildes beim Subjekt ausgelöste Verwandlung bezeichnet, einer
Identifikation Jacks mit Tyler (vgl. Lacan 1996, S. 64). Wie der Film im weiteren
166 Patrick Giurgiu
Verlauf zeigt, erscheint Tyler nicht nur als Jacks idealisierte Vorstellung seiner
selbst, sondern wird schon bald zu einer Identifikationsfigur für eine ganze Riege
von Männern – dem orientierungslosen „Abschaum der Welt“ –, denen er im spä-
teren „Projekt Chaos“ eine Position im Weltgefüge zuweist, die für das kommende
Weltgeschehen von wesentlicher Bedeutung sein soll. Gilt dies aber zunächst ins-
besondere für Jack als den Hauptdarsteller des Films, so kann bis hierhin gesagt
werden, dass es Tyler Durden ist, der eine Beziehung zwischen Jacks Innenwelt
und dessen Umwelt herstellt. Oder, anders formuliert: Über Tyler stellt Jack eine
Beziehung zwischen seiner Innenwelt und seiner Umwelt her.
Für das Subjekt verheißt die im Spiegel erblickte Ganzheit des Gegenübers nun al-
lerdings nicht nur Hoffnung, sondern birgt auch Gefahren in sich, da es sich dabei
um eine täuschende Gestalt handelt, die mit der erfahrbaren Realität des Kindes
nicht übereinstimmt. Vielmehr erweist sich die zunächst mit „jubilatorischer Ge-
schäftigkeit“ gefeierte Identifizierung mit dem faszinierenden Gegenüber als die
Identifizierung eines sich über die Kluft der Differenz von Sein und Sollen hinweg
konstituierenden Ichs, das unter dieser Voraussetzung keineswegs auf einem siche-
ren Fundament erbaut ist, sondern im Angesicht eines Versprechens zukünftiger
Ganzheit die beiden Teile realer Hilflosigkeit und imaginärer Vollkommenheit wie
eine schwankende Brücke zusammenhält (vgl. Gekle 1996, S. 43ff.). Unter die-
sen Umständen handelt es sich bei der Beziehung zwischen dem Ich und seinem
spiegelbildlichen Gegenüber nicht um eine Beziehung auf Augenhöhe. Beherrscht
der spiegelbildliche Doppelgänger das anfängliche Selbst-Gefühl des Subjekts, so
übernimmt er die Rolle eines Herrschers, während sich das Subjekt in der Bezie-
hung zu seinem faszinierenden Gegenüber als Knecht wähnt, der glaubt in dem
Bild seiner Einheit den Herrn gefunden zu haben (vgl. Pagel 2007, S. 27). Als
Herrscher in dieser Beziehung nimmt das Ideal-Ich nicht nur die Herrschaft über
den eigenen noch unterentwickelten Körper vorweg. Es täuscht das Subjekt ebenso
über diese ursprüngliche Zwietracht hinweg und zeigt sich als ein Bild der Ent-
fremdung, das dem Subjekt eine Identität vorgibt, auf die hin es sich entwerfen
muss und unterwirft das Subjekt damit einem Diktat der Ordnung, das droht jede
individuelle Entwicklung im Keim zu ersticken (vgl. Gekle 1996, S. 56).
Als vermeintliche Vollkommenheit verheißender spiegelbildlicher Doppelgän-
ger ist es im Film Fight Club Tyler Durden, der als Jacks Ideal-Ich „bildnerische
Wirkungen“ auf das Subjekt ausübt und die Konstitution einer Ich-Identität für
Jack überhaupt erst ermöglicht. Gingen bei der Explosion seiner Eigentumswoh-
Wer neu ist im Fight Club, muss kämpfen! 167
nung mit den schwedischen Designermöbeln auch die letzten Bruchstücke seiner
ohnehin schon fragilen Identität buchstäblich in Rauch auf, so zeigt sich die Unter-
werfung gegenüber Tyler als der von Jack eingeschlagene Weg um seine Identität
zu stabilisieren. In Anbetracht dieser Umstände ist es auch wenig verwunderlich,
dass Jacks Unterwerfung unter sein vervollkommnendes Gegenüber zunächst völ-
lig problemlos verläuft. In seiner Form als Ideal-Ich ist es demnach auch Tyler
Durden, der in der dual-imaginären Beziehung zu Jack die Rolle des Herrschers
übernimmt und diesem seinem ganz persönlichen Diktat einer Ordnung unter-
wirft, das schon bald keinen Raum für eine individuelle Entwicklung Jacks mehr
zulässt.2
Die von der täuschenden Gestalt des spiegelbildlichen Doppelgängers ausge-
hende Bedrohung für das Subjekt fasst Lacan weiterhin in einer das Spiegelsta-
dium manifestierenden räumlichen Befangenheit sowie durch ein „gewisses Auf-
springen des Organismus in seinem Inneren, durch eine ursprüngliche Zwietracht,
die sich durch die Zeichen von Unbehagen und motorischer Inkoordination in den
ersten Monaten des Neugeborenen verrät“ zusammen (vgl. Lacan 1996, S. 66). Da-
mit erinnert Lacan an die spezifische Vorzeitigkeit der menschlichen Geburt, durch
die sich die einstig mit „jubilatorischer Geschäftigkeit“ begleitete Aufnahme des
Spiegelbildes und die damit verbundene Vorwegnahme der Herrschaft über den
eigenen Körper keinesfalls als reiner Glücksgriff entpuppt. Als entscheidende und
notwendige orthopädische Stütze verspricht der spiegelbildliche Doppelgänger
zwar die latenten Koordinationsfähigkeiten des noch unterentwickelten Subjekts
schon bald zu realisieren, bleibt diesem im Moment der Identifizierung jedoch nur
als ein die Seiten verkehrendes Bild an einem Ort außerhalb des Subjekts gegeben.
Verkörpert die Ganzheit des Spiegelbildes auf der einen Seite also baldige Vervoll-
kommnung, so bleibt sie für das Ich auf der anderen Seite ein permanentes Bild für
dessen Abhängigkeit und das Zeichen einer unaufhebbaren Fremdbestimmung3
(vgl. Gekle 1996, S. 57). Damit wird das Ideal-Ich gerade durch seine Starrheit als
Bild einer Vollkommenheit für das Subjekt zu einer Bedrohung und ruft nachträg-
2 Dies wird insbesondere in einer Szene deutlich, in der Tyler seinem Gegenüber eine
schwere chemische Verbrennung auf dem Handrücken zufügt und diesen auffordert,
sich von seinem Leben freizumachen und sich des Todes gewiss zu werden (Fincher
1999, 00:58:45)
3 Auf seine tragische Weise veranschaulicht der Mythos des Narziss das daraus
entspringende Drama des menschlichen Wesens, denn erkennt dieser, dass die
Liebe, die er der Spiegelung entgegenbringt, ihm selbst gilt, so verliert er sich in der
Faszination dieser Schemen erneut, sieht er sich doch dort, wo er selbst nicht ist. Sein
ist, was Narziss ersehnt, doch was sein ist, zeigt sich als das andere und das andere als
alter ego (vgl. Pagel 2007, S. 25).
168 Patrick Giurgiu
lich das hervor, was Lacan als das Phantasma des zerstückelten Körpers bezeich-
net und als eine aktive Erinnerung an die eigene körperliche Unzulänglichkeit zu
verstehen ist, die die menschliche Vorstellungskraft quält (vgl. Lacan 1996, S. 67).
Wird das Ich in diesem Zusammenhang als eine schwankende Brücke oder ein
gespannter Bogen verstanden, das in der ständigen Gefahr schwebt wieder in sei-
ne Einzelteile zu zerfallen, so kann das Phantasma des zerstückelten Körpers als
Antwort eines überforderten und von der Auflösung bedrohten Ichs auf das Diktat
einer Ordnung verstanden werden, das seine permanent im Untergrund vorhande-
ne Angst auf diese Weise darstellt (vgl. Gekle 1996, S. 57).
Diese von der Vollkommenheit des Spiegelbildes ausgehende Bedrohung für das
Subjekt findet sich auch im Film veranschaulicht, als Jack in einer Szene äußerst
überrascht aus einem Artikel vorliest, der von einem Organ in der Ich-Form ver-
fasst wurde: „Ich bin Jacks Medulla oblongata, Ich reguliere Jacks Herzfrequenz,
Blutdruck und Atmung. […] Ich bin Jacks Prostata“ (Fincher 1999, 00:37:10). Im-
mer wieder tauchen diese oder ähnliche Formulierungen im Film auf und wirken
wie Lacans Phantasma des zerstückelten Körpers als eine aktive Erinnerung des
Ich an den Zustand frühester körperlicher Verwirrung und können als eine Erin-
nerung an das sich von der Auflösung bedrohte Ich des Erzählers verstehen lassen,
der in seiner hypnotischen Identifikation mit Tyler keinerlei Erinnerung an seinen
vorherigen Zustand zu haben scheint.4
Der Gefahr eines Rückfalls in das Chaos ständig ausgesetzt, versucht das vor
dem Spiegel stehende Subjekt die Erfahrung der wesenhaft entfremdeten Ein-
heit des Ich zu wiederholen, um sich seiner selbst gewiss zu sein (vgl. Lang 1986,
S. 50). Dies lässt das Spiegelstadium Lacans schließlich auch zu jenem Drama
werden, „dessen innere Spannung von der Unzulänglichkeit auf die Antizipation
überspringt und für das an der lockenden Täuschung der räumlichen Identifikation
festgehaltene Subjekt die Phantasmen ausheckt, die, ausgehend von einem zer-
stückelten Bild des Körpers, in einer Form enden, die wir in ihrer Ganzheit eine
orthopädische nennen könnten, und in einem Panzer, der aufgenommen wird von
einer wahnhaften Identität, deren starre Strukturen die ganze mentale Entwick-
lung des Subjekts bestimmen werden. So bringt der Bruch des Kreises von der
Innenwelt zur Umwelt die unerschöpfliche Quadratur der Ich-Prüfungen (récole-
ments du moi) hervor“ (Lacan 1996, S. 67).
In Lacans Konzept des Spiegelstadiums erweist sich die bis hierhin beschriebe-
ne duale Struktur des menschlichen Bewusstseins als konstitutiv für Aggression
4 Die Annahme, dass es sich hierbei um den zerstückelten Körper des eigentlich na-
menlosen Erzählers handelt, deutet u.a. darauf hin, dass der Name des namenlosen
Erzählers »Jack« ist und dieser hier folglich auch so genannt wird.
Wer neu ist im Fight Club, muss kämpfen! 169
und Faszination zugleich und mündet in einen unermüdlichen Kampf, in dem sich
die Formen der Selbstentfremdung und Selbstzerstörung mit solchen der Bewah-
rung, der Panzerung und der Stabilisierung des Ich abwechseln (vgl. Gekle 1996,
S. 57). So notwendig und vielversprechend die Beziehung des Subjekts zu seinem
spiegelbildlichen Doppelgänger zum Zeitpunkt der mit Jubel begleiteten Annah-
me des Spiegelbildes auch sein mag, sie erweist sich nur kurze Zeit später als eine
Beziehung, in der keine gegenseitige Anerkennung möglich ist und jedes „Ich“
versucht die Andersheit seines Gegenübers aufzuheben.
Spätestens als Jack bewusst wird, dass er und Tyler Durden ein und diesel-
be Person sind, findet sich dieser Zirkel aus Faszination und Aggression auch
im Film zu seinem absoluten Höhepunkt getrieben. Seinen Anfang nimmt der
Kampf als Jack feststellen muss, dass Tyler völlig andere Absichten verfolgt
als er selbst und sich in Jacks Abwesenheit im „Projekt Chaos“ eine eigene
Untergrundarmee aufgebaut hat. Zum ersten Mal macht sich hier in der Be-
ziehung zwischen Jack und Tyler wesentlich das bemerkbar, was Lacan als ein
„Aufspringen im Inneren des Organismus“ beschreibt. Wo es vor kurzem noch
heißt: „Wir glaubten an Tyler“ (Fincher 1999, 01:26:45), machen sich nach einer
Reihe von vandalistischen Anschlägen durch das „Projekt Chaos“ Brüche im
Vertrauen zu Tyler bemerkbar. Analog zu Lacans Spiegelstadium kommt es
im Film, wie es kommen muss: Die Beziehung zwischen Jack und Tyler wird
für das Subjekt zu einer Schreckensgeschichte, wenn sich der spiegelbildliche
Doppelgänger selbstständig macht und seine eigenen destruktiven Begierden
verfolgt. Als Jack versucht die zerstörerischen Pläne Tylers in letzter Sekunde
zu durchkreuzen, kommt es zwischen ihnen zu einem erbitterten Kampf. Wie
später durch Rückblenden gezeigt, handelt es sich dabei nicht wie angenommen
um einen Kampf zwischen zwei Männern, sondern um einen Kampf Jacks mit
sich selbst. Was lediglich als leise Bedrohung durch die Worte eines Organs
begann, artet schon bald aus und mündet in eine Spirale der Gewalt, einen Pfad
der Selbstzerstörung, der seinen dramatischen Höhepunkt in der Schlussszene
des Films erreicht.
ner Geburt vorausgeht und auch nach seinem Tod weiter fortbesteht. So haben
beispielsweise die Eltern bereits lange Zeit vor seiner Geburt einen Platz für das
Kind in ihrem sprachlichen Universum eingerichtet, sprechen über das noch nicht
geborene Kind, versuchen den perfekten Namen für das Kind zu finden, haben ihm
ein Zimmer eingerichtet und fangen an, sich ihr Leben mit dem Kind vorzustellen
(vgl. Fink 2006, S. 22). Bei seiner Geburt fügt sich das Kind zunächst als Objekt
in die symbolische Ordnung ein und erhält seinen Platz darin aufgrund der Wün-
sche und Phantasien der ersten Bezugsperson, in der Regel der Mutter. Hinein-
geboren in eine bereits bestehende symbolische Ordnung ist es das Schicksal des
lacanschen Subjekts den Ödipuskomplex zu erleben und das Gesetz der Sprache
(des Anderen) anzuerkennen. Nur so kann es sich von seinem Objektstatus lösen,
seine Position in der symbolischen Ordnung einnehmen und sich damit als Subjekt
konstituieren. Erst wenn das Kind entdeckt, dass die Realität durch die symboli-
sche Ordnung gestaltet ist, wird es sich darin als Subjekt ansiedeln können (vgl.
Geoffroy 2003, S. 55).
In der ödipalen Situation sieht sich das Kind mit dem Eintritt des Vaters in
die dual-imaginäre Beziehung zwischen ihm und der Mutter konfrontiert, der im
Sinne eines Spielverderbers der symbiotischen Einheit zwischen Mutter und Kind
ein „Nein“ entgegenbringt und damit droht diese aufzubrechen. Hierbei muss es
sich allerdings nicht um den „realen“ Vater handeln, der ein „reales“ Verbot aus-
spricht, sondern vielmehr muss der Vater in einer symbolischen Form als derjenige
Begriffen werden, der das Gesetze der Sprache bzw. der symbolischen Ordnung
verkörpert (vgl. Pagel 2007, S. 101). Mit dem Vater als Träger des Gesetzes taucht
innerhalb der Zweierbeziehung somit plötzlich ein Eindringling und mit ihm eine
Grenze auf, die den imaginären Wunsch nach der symbiotischen Einheit mit der
Mutter (bzw. dem spiegelbildlichen Gegenüber) „kastriert“. Durch das Auftrennen
der ursprünglichen dual-imaginären Beziehung wird ein entscheidender Raum –
eine Lücke zwischen Mutter und Kind – geschaffen, die eine Ankunft des Subjekts
ermöglicht. Damit es nun allerdings dazu kommen kann, muss die Mutter den Va-
ter als Urheber des Gesetzes anerkennen, d.h. sich selbst als ein durch das Gesetz
des Vaters strukturiertes Subjekt erweisen.
Durch das eingeführte Verbot der dual-imaginären Beziehung erlangt der Ein-
tritt des Vaters als Träger des Gesetzes die Bedeutung einer symbolischen Kast-
ration des Kindes, das dadurch von der Mutter getrennt wird und schließlich zu
einem Subjekt werden kann, welches sich von den anderen beiden Subjekten unter-
scheidet. Sowie das Kind durch diesen Prozess vom imaginären Ich zum symbo-
lischen Subjekt voranschreitet, verwandelt sich auch sein Gegenüber von einem
imaginären Doppelgänger zu einem sprechenden Anderen (vgl. Ruhs 2010, S. 41).
Durch die Identifizierung des Kindes mit dem Vater als Träger des Gesetzes tritt
Wer neu ist im Fight Club, muss kämpfen! 171
das Kind also in die symbolische Ordnung ein, löst sich von seiner anfänglichen
Objektposition und nimmt innerhalb der symbolischen Ordnung seinen Platz als
wünschendes Subjekt ein (vgl. Geoffroy 2003, S. 57). Die ödipale Identifikation
mit dem Vater lässt sich dahingehend auch als Vorgang einer ursprünglichen Sym-
bolisierung verstehen, die es dem Kind ermöglicht an der Stelle seiner Ursache
zum Subjekt zu werden. Die fremde Ursache, das Begehren des Anderen, das
einen auf die Welt brachte, wird internalisiert, subjektiviert, zu „eigen“ gemacht
(vgl. Fink 2006, S. 90).
Für Jack erschließt sich die symbolische Ordnung erst sehr spät im Film, wenn
nicht sogar zu spät. Dies liegt unter anderem daran, dass Jack in seinem Leben
ein Vater fehlte, mit dem er sich hätte identifizieren und damit den Ödipuskom-
plex durchleben können. Das Fehlen eines Vaters verdeutlicht der Film an meh-
reren Stellen, insbesondere, als sich Tyler und Jack über ihre Wunschgegner für
einen Kampf im „Fight Club“ unterhalten. In dieser Szene wird deutlich, dass
beide von ihren Vätern verlassen wurden und zumindest bei Tyler eine deut-
liche Aggression gegenüber seinem Vater besteht. „Wir sind eine Generation
von Männern, die von Frauen großgezogen wurden“ (Fincher 1999, 00:37:52),
heißt es hier verallgemeinernd. Der von Tyler angesprochenen Generation von
Männern fehle es indes nicht nur an einer Vaterfigur, sondern ebenso an einer
die symbolische Funktion des Vaters ersatzweise übernehmenden Instanz, was
sich in einer Ansprache Tylers an die späteren Mitglieder des „Projekt Chaos“
verdeutlicht: „Ich sehe im Fight Club die stärksten und cleversten Männer, die
es jemals gab. Ich sehe so viel Potential. Und wie es vergeudet wird. Eine gan-
ze Generation zapft Benzin, räumt Tische ab, schuftet als Schreibtischsklaven.
Durch die Werbung sind wir heiß auf Klamotten und Autos, machen Jobs, die wir
hassen, kaufen dann Scheiße, die wir nicht brauchen. Wir sind die Zweitgebore-
nen der Geschichte, Männer ohne Zweck, ohne Ziel. Wir haben keinen großen
Krieg, keine große Depression. Unser großer Krieg ist ein spiritueller. Unsere
große Depression ist unser Leben. Wir wurden durch das Fernsehen aufgezogen
in dem Glauben, dass wir alle irgendwann mal Millionäre werden, Filmgötter,
Rockstars. Werden wir aber nicht, und das wird uns langsam klar. Und wir sind
kurz – ganz kurz – vorm Ausrasten!“ (Fincher 1999, 1:06:58). Die Tatsache, dass
sich Tyler Durden und die Männer des späteren „Projekt Chaos“ von den Ange-
boten der Konsumgesellschaft belogen fühlen, stellt im Kontext eines generellen
Mangels an einer die symbolische Funktion des Vaters erfüllenden Instanz einen
der wesentlichen Gründe dafür dar, dass es zu der vom „Projekt Chaos“ initiier-
ten Gewalt kommen kann.
Erst als es bereits zu spät ist um das von Tyler Durden initiierte Chaos zu ver-
hindern, merkt Jack schließlich, dass es sich bei Tyler um seine imaginäre Projek-
172 Patrick Giurgiu
tion handelt.5 Bei seinem verzweifelten Versuch die Anschläge doch noch zu ver-
hindern, steht Jack nun vor der Aufgabe sich aus dem Bann der Spiegelfaszination
zu lösen und sich von seinem imaginären Doppelgänger zu befreien. Unter der
Voraussetzung des Mangels an einer die symbolische Funktion des Vaters über-
nehmenden Instanz bleibt Jack dabei jedoch auf sich alleine gestellt. Zwangsläufig
also führt ihn der Konflikt mit Tyler auf den Grund der narzisstisch suizidären
Aggression. In den letzten Minuten des Films wird der Zuschauer Zeuge eines
erbitterten Kampfes zwischen den beiden in der Tiefgarage des Hochhauses, in
dem Jack versucht seine imaginäre Projektion zu erschießen. Der Kampf führt
schließlich zurück in die erste und gleichzeitig auch letzte Szene des Films, in der
Jack auf einen Stuhl gefesselt den Lauf von Tylers Pistole zwischen den Zähnen
hat. Hier durchschaut Jack das Spiel und die Spiegelbeziehung zwischen ihm und
Tyler kommt zum tragen. In dem Wissen, dass es sich bei Tyler lediglich um seine
imaginäre Projektion handelt, verschwindet die Waffe aus Tylers rechter Hand
und taucht in Jacks linker Hand auf. Durch einen Schuss an „unseren“ Kopf, wie
es Jack zu Tyler sagt, gelingt es Jack schließlich auch, sich von Tyler zu lösen. Mit
einer klaffenden Wunde am Hinterkopf fällt dieser zu Boden, während Jack ein
Loch in seiner Wange davonträgt.
Blieb Jack der symbolische Bereich bis zur letzten Szene des Films verschlos-
sen und eine Subjektkonstitution damit unmöglich, so lässt sich die Entscheidung
Tyler zu erschießen als einen Akt der Selbstkastration auffassen, mit der sich für
Jack der Ödipuskomplex vollendet und die symbolische Ordnung erschließt (vgl.
Ort 2004, S. 116). Mit Freud könnte gesagt werden, dass der Zuschauer am Ende
des Films eine „große kulturelle Leistung“ Jacks zu sehen bekommt, der lernt
auf die Befriedigung seiner Triebe zu verzichten (vgl. Geoffroy 2003, S. 55). Für
Jack kommt es damit endlich zur notwendigen Spaltung durch die Sprache, er
hat seine Andersheit subjektiviert und ist schließlich dort angekommen, wo zuvor
fremde Kräfte herrschten. Es benötigt demnach einen Akt der Selbstkastration,
damit Jack in die Sprache eintreten, Verantwortung übernehmen und es im Sinn
der strukturalen Psychoanalyse zu einer Subjektkonstitution kommen kann: Dort,
5 „Du hast einen Weg gesucht dein Leben zu verändern und allein hast du es nicht
geschafft. All das, was du immer sein wolltest, das bin ich. Ich sehe aus wie du aussehen
willst, ich ficke wie du ficken willst, ich bin intelligent, begabt – und das wichtigste:
ich hab all die Freiheiten, die du nicht hast! […] Das machen Menschen Tag für Tag.
Sie reden mit sich selbst, sehen sich selbst so, wie sie gern sein möchten. Sie haben
nicht den Mut, den du hast, es einfach durchzuziehen. Natürlich kämpfst du immer
noch damit, deshalb bist du manchmal doch noch du. Dann bildest du dir manchmal
ein, du beobachtest mich. Stück für Stück wurde aus dir ein anderer Mensch: Tyler
Durden!“ (Fincher 1999: 01:47:40)
Wer neu ist im Fight Club, muss kämpfen! 173
„wo Es war“, wurde „Ich“ – Ich, Tyler Durden! Hand in Hand mit Marla, der Jack
als Zeugin zum Abschluss des Films seine Loslösung von der narzisstischen Iden-
tifikation mit dem Spiegelbild versichert – „Du hast mich in einer seltsamen Phase
meines Lebens getroffen!“ (Fincher 1999: 02:09:50) –, schauen beide aus sicherer
Entfernung dabei zu, wie die Türme des Finanzwesens in sich zusammenfallen.
Der Film ist aus, Happy End.
Nach der hier verfolgten Perspektive illustriert Fight Club in der Figur Jacks das
Schicksal eines an einer Identitätskrise leidenden postmodernen Subjekts und
dessen Suche nach einer eigenen Identität unter Voraussetzungen, die eine ödi-
pale Identifikation im klassischen Sinn nicht mehr möglich werden lässt. Dabei
führt der Film den/die Zuschauer/in durch den Prozess der Subjektkonstitution
des Protagonisten und zeigt ausgehend von einer prekären postmodernen Subjek-
tivität die möglichen Konsequenzen einer misslingenden ödipalen Identifikation
auf, die sich letztlich in den ideologisch motivierten Anschlägen des „Projekt
Chaos“ veranschaulichen und im weitesten Sinn als Reaktion auf eine größen-
wahnsinnige Gesellschaft interpretiert werden können (vgl. Baudrillard 2002).
Mit Slavoj Žižek gesprochen zeichnet Fight Club dabei das Bild einer postmo-
dernen Gesellschaft, die von einem Zerfall traditioneller Strukturen betroffen
ist und in der es keine eindeutige soziale Position mehr gibt, die für das einzel-
ne Individuum vorgesehen ist (vgl. Žižek 1999, S. 471). Eine solche Situation
veranschaulicht der Film an der Figur Jacks sowie dem Schicksal der anderen
Männer des „Projekt Chaos“, für die es allesamt nichts gibt, das die symbolische
Funktion des Vaters übernehmen und eine erfolgreiche ödipale Identifikation
ermöglichen könnte. Ganz im Gegenteil fühlen sie sich belogen von einer ka-
pitalistischen Konsumgesellschaft, deren Angebote an gesellschaftlichen Rollen
unzureichend und unbefriedigend zugleich sind. Unter diesen Voraussetzungen
sucht Jack schließlich nicht nur nach einer eigenen Identität, sondern zunächst vor
allem nach einem Ordnungsmodell, das ihm als Ersatzmodell fungierend Subjek-
tivität ermöglichen soll. Demnach rührt seine verzweifelte Suche nicht nur daher,
dass er ohne Vater aufgewachsen ist, sondern ebenso daher, dass die angebotenen
Ordnungsmodelle – bspw. der Konsum in der kapitalistischen Gesellschaft oder
jegliche andere Glaubenssysteme – die Funktion des symbolischen Vaters für ihn
nicht erfüllen konnten. Im Film wird dies zu einer grundlegenden Problematik,
findet sich das letzte und einzige von einer Autorität getragene Ordnungsmo-
174 Patrick Giurgiu
Literatur
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Filme
American Beauty (1999; R.: Sam Mendes)
Donnie Darko (2001; R.: Richard Kelly)
Fight Club (1999; R.: David Fincher)
Memento (2000; R.: Chrisopher Nolan)
Geschichte im Film
Marcel Reich-Ranickis Mein Leben
Carsten Heinze
Für wenige Sekunden sind aus dem Off aufgeregte, durcheinander redende Stim-
men, zerberstendes Glas und quietschende Zuggeräusche zu hören, die in das Ge-
räusch prasselnden Regens übergehen, der auf den Asphalt einer Straße nieder-
geht.1 Der Eingang eines Hotels oder Restaurants. Ein Auto fährt vor, die hintere
Wagentür wird durch eine Frau geöffnet. Ein Fuß setzt auf dem Asphalt auf. Eine
Texteinblendung lokalisiert den Prolog des Films in London 1949. Es steigt eine
Dame aus dem hinteren Teil des Autos aus. Ein Concierge führt sie mit einem
Regenschirm in das Hotel. Aufgeregt öffnet die Dame eine Flügeltür, hinter ihr
versucht ein ebenso aufgeregter Angestellter des Hotels oder Restaurants sie mit
einem „Halt, ich muss darauf bestehen, sie anzumelden. Sie sind?“ aufzuhalten. Er
fragt nach ihrem Namen: „Ich bin Teofila Ranicki. Mein Mann ist der polnische
Generalkonsul.“ Sie durchquert ungehindert einen Raum, öffnet eine weitere Tür,
hinter der ein Bankett stattfindet. Die Gesellschaft, gerade mit Essen beschäftigt,
schaut zu ihr auf. Ein Mann erhebt sich: „Entschuldigen sie mich.“ Er geht zur
Frau, die an der Tür stehen geblieben ist, fragt sie leise: „Tosia, was ist passiert?“
Sie zeigt ihm einen Brief, er öffnet ihn, liest den Inhalt vernehmbar vor (Briefin-
halt wird eingeblendet): „Dringende Besprechung im Außenministerium. Erwarte
Dich morgen früh – Prószynski.“ Teofila Reich-Ranicki: „Bitte fahr nicht nach
Warschau“. Er, nach kurzem Zögern: „Wir fahren nach Hause.“ Es folgt ein Orts-/
Szenenwechsel nach Warschau, Ort und Datum (1949) werden eingeblendet. Die
historische Gegenwart des Films Mein Leben (2009; R.: Dror Zahavi) ist gesetzt.
In der darauf folgenden Szene wird Marcel Reich-Ranicki im Außenministe-
rium vorstellig. Dort wird er jedoch nicht, wie er es fordert, zu Prószynski geführt,
sondern mit einem Geheimdienstoffizier mit Namen Kawalerowicz konfrontiert.
Nach kurzem Protest Reich-Ranickis folgt ein Gespräch. Dieses beginnt als Ver-
hör seitens Kawalerowicz über angebliche trotzkistische Verschwörungsaktivitä-
ten in London, in die Reich-Ranicki verstrickt sein soll. Hinter diesen vermutet er,
Reich-Ranicki, jedoch stalinistische Säuberungen, die sich in erster Linie gegen
Juden richteten. Das Verhör bildet den strukturellen Ausgangspunkt und das nar-
rative Scharnier des gesamten Films, von dem aus die autobiografische Erzählung,
die nun in zeitlichen Rückblenden einsetzt, von Reich-Ranicki erzählt wird. Der
weitere Erzählverlauf fokussiert retrospektiv auf seine Lebensgeschichte (die der
Film im Alter von etwa 8 Jahren beginnen lässt), jedoch kommt der Film immer
wieder auf die Gegenwart der Verhörsituation mit Kawalerowicz zurück, um der
autobiografischen Erzählung ein Motiv ihres Zustandekommens zu geben. Erst am
Ende überschreitet der Film die Gesprächssituation des Verhörs in der historischen
Gegenwart und endet zeitlich Ende der 1950er Jahre in Westdeutschland. Damit
umfasst der Film eine innere Zeitspanne von etwas mehr als 30 Jahren.
An der Beschreibung und Hervorhebung der Eingangssequenz2 lässt sich für
den weiteren Verlauf des Biopic3 Mein Leben Wesentliches ablesen: Zunächst wer-
den die beiden HauptprotagonistInnen des Films eingeführt, das Ehepaar Reich-
Ranicki. Des Weiteren wird das zentrale Thema (der Autobiografie, des Films),
die persönliche Zugehörigkeit, Identitäts- und Heimatfragen im Horizont zeit-
geschichtlicher Ereignisse – den osteuropäischen Säuberungsprozessen Ende der
1940er Jahre –, ausgedrückt durch Marcel Reich-Ranickis Aussage: „Wir fahren
2 Die Autobiografie beginnt mit einer ganz anderen Szene: Hier berichtet Marcel Reich-
Ranicki von einem Treffen der westdeutschen Literatenvereinigung Gruppe 47, auf
der ihn der damals noch wenig bekannte Günter Grass nach seiner Identität und
Herkunft befragt. Auch hier steht die Frage der „Heimat“ zu Beginn der Erzählung,
wird allerdings – paradigmatisch für den weiteren Erzählverlauf – in einer offenen
Konstruktion/Negation seiner Identität beantwortet (vgl. Heinze 2009, S. 548f.).
3 Biopic ist die verkürzte Form von biographical picture und bezeichnet ein Filmgenre,
in dessen Mittelpunkt die fiktionale Inszenierung der Lebensgeschichte einer realen
Person steht (vgl. Taylor 2002).
Geschichte im Film 179
nach Hause“, angedeutet. Und schließlich symbolisiert die Einführung der Ver-
hörszene eine entscheidende, formalästhetische Inszenierung des filmischen Ar-
tefakts: Diese Verhörszene mit dem Geheimdienstoffizier Kawalerowicz hat in
dieser Form nicht stattgefunden, sie ist ein narrativ-dramaturgischer Kniff des
Drehbuchautors Michael Gutmann als erzählgenerierendes Moment des Films.
Alois Hahn (1987, S. 14) bezeichnet diese Form der fremdgenerierten autobio-
grafischen Selbstreflexion die institutionellen, im vorliegenden Fall: politisch
motivierten „Biografiegeneratoren“ einer Gesellschaft, die soziale Identitäten in
den Grenzen der jeweiligen sozialen Bedingungsformen – hier im Rahmen des
Vorwurfs der politischen Verschwörung – hervorbringen. Hier bietet das filmisch
konstruierte Verhör die Möglichkeit, filmische Erzählfragmente auf der Basis der
Autobiografie Marcel Reich-Ranickis (1999) in Szene zu setzen und als Motiv der
elliptischen Erzählhandlung immer wieder darauf zurückzukommen. Jedoch ist
diese inszenierte Anfangsszene, wie angedeutet, nicht vollkommen a-historisch,
da während der Stalinistischen Säuberungsprozesse Ende der 1940er Jahre (die
sich vor allem gegen Juden richtete) verdächtige Personen sich derartigen Ver-
hören (und anschließenden Verurteilungen) ausgesetzt sahen. Vor allem Juden de-
nunzierte man als „wurzellose Kosmopoliten“, denen politisch misstraut wurde.
Und auch in Reich-Ranickis autobiografischer Erzählung findet ein Ausschluss aus
der polnischen kommunistischen Partei wegen angeblicher Unterstützung trotz-
kistischer Gruppen in London in seiner Zeit als Generalkonsul statt, die ihn in
Warschau in die berufliche Isolation treibt. In der filmischen Konstruktion der
Verhörszene mischen sich somit exemplarisch „Wahrheit und Dichtung“ der le-
bens- und zeitgeschichtlichen Ereignisse.
Das Biopic Mein Leben4 verarbeitet die gleichnamige Bestseller-Autobiografie
Marcel Reich Ranickis5. Dieser Film steht im öffentlichen Kontext einer Vielzahl
von lebens- und zeitgeschichtlichen Darstellungen im Film, die sich in den letzten
Jahren mit dem Thema des Nationalsozialismus und des Dritten Reichs, dessen
gesellschaftspolitischen Vorformen in der Weimarer Republik und den späteren
Nachwirkungen in Ost und West, fiktional sowie dokumentarfilmisch bzw. als
Dokufiktionen im Rahmen von persönlichen Schicksalsgeschichten beschäftigen.
Die Motivwahl des autobiographischen Zugangs als Versuch der Subjektivierung
von historischen Erfahrungen folgt dem allgemeinen Trend einer Personalisierung
und Emotionalisierung von Geschichte, die besonders für die Aufarbeitung des
4 2006 erschien bereits ein dokumentarischer Film über Marcel Reich-Ranickis Leben
mit dem Titel „Ich, Reich-Ranicki“ bei 3SAT.
5 Marcel Reich-Ranicki wurde 1920 geboren und verstarb im September 2013 im Alter
von 93 Jahren.
180 Carsten Heinze
Nationalsozialismus in Film und Fernsehen häufig zu finden sind. Der Film „Mein
Leben“, eine Produktion für die ARD, gefördert durch den WDR, die Filmstiftung
NRW sowie den Kultursender ARTE, wurde für einige Auszeichnungen nomi-
niert, jedoch konnte nur Matthias Schweighöfer in der Rolle des Marcel Reich-
Ranicki 2010 die Goldene Kamera für seine schauspielerische Leistung gewinnen.
Den Film sahen im April 2009 bei der ARD Erstausstrahlung 3,77 Millionen
ZuschauerInnen (er konkurrierte damals mit einer Fußball Champions-League
Übertragung; die Arte-Premiere sahen 1 Millionen ZuschauerInnen6), was als ent-
täuschendes Ergebnis wahrgenommen wurde. Das Erste hat auf seiner Homepage
einige Informationen zum Film und Interviews mit Regisseur, Drehbuchautor und
ProtagonistInnen als Paratexte zusammengetragen.7 Die öffentlichen Rezensionen
zum Film können insgesamt als positiv bis durchwachsen zusammengefasst wer-
den. Die Filmpremiere in Köln wird als Erfolg beschrieben.8
Der folgende Artikel beschäftigt sich mit den verwobenen Geschichts- und Le-
bensgeschichtskonstruktionen in der filmischen Inszenierung von „Mein Leben“.
Er basiert zum einen auf der Frage nach den Formen der filmischen Adaption der
erfolgreichen Autobiografie Marcel Reich-Ranickis, der als prominenter Überle-
bender der Shoah eine wichtige öffentliche Position in der westdeutschen Gesell-
schaft seit den 1960er Jahren besetzte, und damit stellvertretend für die wenigen
deutschen Juden steht, die nach 1945 in die Bundesrepublik remigrierten (vgl.
Heinze 2009)9, zum anderen wird der Film als exemplarischer Beitrag zur zeitge-
nössischen, medial transformierten Erinnerungs- und Gedächtniskultur diskutiert
(zur medialen Transformation des Holocausts, vgl. von Keitz und Weber 2013).
Welche Geschichtsbilder werden im Rahmen filmischer Vergangenheitsbearbei-
tungen entworfen? Marcel Reich-Ranicki ist eine symbolische Figur, in der sich
nicht nur das zufallsbedingte Überleben vereinzelter Verfolgter des Nazi-Terrors
verdeutlichen lässt, sondern auch eine versöhnliche Haltung gegenüber dem Land
(und vor allem der Kultur) der Täter – schon deshalb kommt ihm eine exempla-
rische Rolle zu. Aus dieser Perspektive sind Autobiografien wie diese nicht nur
als persönliche Erinnerungsgeschichten zu verstehen, sondern Lebens- und Fami-
tionen der ZuschauerInnen auf der einen, und dem filmästhetischen Versuch, der
Unübersichtlichkeit, dem Un- oder Nichtverständlichen von menschlichen Erfah-
rungen im Zusammenhang zeithistorischer Ereignisse einen diesen angemessenen
audiovisuellen Ausdruck zu verleihen auf der anderen Seite:
Es stellt sich trotz der Fokussierung auf eine öffentliche Persönlichkeit die Frage,
welche Geschichtsbilder im Film Mein Leben vermittelt werden und welche Rück-
schlüsse diese auf die mediale Praxis der Gedächtnis- und Erinnerungskulturen in
Deutschland zulassen.
schen Schreibens als literarisches Genre (oder Gattung), über das Erfahrungen
und Erinnerungen narrativiert und verarbeitet werden, ist indessen hinsichtlich
Faktizität und Fiktionalität umstritten und wird in den Literaturwissenschaften
kontrovers diskutiert (vgl. Holdenried 2000; Wagner-Egelhaaf 2005).
Autobiografische Erzählungen sind Teil öffentlicher Diskurse über Gesell-
schaftsgeschichte und gehen aus diesen hervor. Sie gehören zur Gedächtnis- und
Erinnerungskultur eines Landes. Ziel der wissenschaftlichen Untersuchung von
autobiografischen Erzählungen ist die Rekonstruktion der ihnen zugrunde liegen-
den sozialen (und historischen) Kontexte im Horizont der Gedächtnis- und Erin-
nerungskulturen, die in den Lebensgeschichten als Erfahrungs- und Erlebensge-
schichten verarbeitet werden und damit Einsichten in Deutungsmuster subjektiver
Lebenswelten und ihrer kontextuellen Bedingungen erlauben – so die Perspektive
der soziologischen Biografieforschung und der historisch orientierten Oral His-
tory. Einer soziologischen Analyseperspektive folgend, sind Autobiografien als
narrative Konstruktionen zu verstehen, in denen sich über Erzählungen das All-
gemeine im Besonderen, gesellschaftliche und zeithistorische Erfahrungskontexte
in der Spezifik einer persönlich erzählten Erfahrungsgeschichte spiegeln und be-
schreiben lassen. Persönlich Relevantes wird im Zusammenhang größerer Ereig-
nisse reflektiert und erzählt, autobiografische Erinnerungen setzen dabei jedoch
eigene zeitliche Zäsuren und Umbrüche, die nicht zwangsläufig mit den Abläufen,
Wechselfällen und Veränderungen der Zeitgeschichte im Einklang stehen oder
von diesen beeinflusst sein müssen. Auch das öffentliche Geschichtsbewusstsein
und diskursive Deutungsmuster der Geschichte fließen in persönliche Erzählun-
gen ein. Autobiografische Erzählungen bestehen aus einem Gemisch aus sozialen
Konstruktionen des historischen Wissens und diskursiven Deutungsmustern so-
wie persönlichen Erinnerungen, wobei zu berücksichtigen ist, dass sich das auto-
biografische Ich aus einer nicht hintergehbaren Gegenwart in die Vergangenheit
projiziert und mit einer allgemeineren Form des Geschichtswissens amalgamiert:
Autobiografische Erzählungen beschreiben nicht nur das unmittelbar Erlebte aus
der Erinnerung, sondern verorten sich auch in größeren historischen Zusammen-
hängen oder nehmen auf diese Bezug. Deshalb geben autobiografische Erzählun-
gen in erster Linie Auskunft über gegenwärtige Diskurse und Befindlichkeiten,
weniger darüber, ‚wie es wirklich gewesen ist‘. Zeithistorische Konstruktionen in
autobiografischen Erzählungen eröffnen eine Perspektive auf umkämpfte Deutun-
gen der eigenen und der kollektiven Geschichte(n) in der Gegenwart, nicht auf
eine Vergangenheit ‚an sich‘. Insofern bergen autobiografische Erzählungen keine
objektiven Geschichtsdarstellungen, sie lassen nur bedingt Rückschlüsse auf tat-
sächliche Abläufe in der dargestellten Zeit zu, sondern sind subjektiv eingefärbte,
gegenwartsorientierte, persönlich erinnerte und diskursiv überformte Versionen
184 Carsten Heinze
von Geschichte(n), die – in Bezug auf die Geschichte(n) Deutschlands im 20. Jahr-
hundert – zudem verdrängte, traumatische, schmerzhafte, geglättete, beschönigte,
auch zu vergessende und damit hoch sensible Aspekte beinhalten. Wie im konkre-
ten Fall, berühren deutsche Geschichte(n) im 20. Jahrhundert durch die weitrei-
chenden gesellschaftlichen Verstrickungen und Betroffenheiten sämtlicher sozia-
ler Schichten in Deutschland immer auch Familiengeschichte(n), sind persönliche
Schicksalsgeschichte(n), die von historischen Ereignissen durchzogen werden.
Unter diesen Bedingungen stellt sich die Frage nach der filmischen Umsetzung
der Autobiografie Marcel Reich-Ranickis und der zeitgeschichtlichen Kontexte
durch Dritte, besonders der traumatischen Aspekte seiner Lebensgeschichte.12 Das
Besondere eines Biopic ist, dass es sich nicht um erfundene Figuren handelt, son-
dern die Autobiografie historische Vorlagen liefert, die filmisch adaptiert werden.
Der Spielraum der inhaltlichen Gestaltung ist dadurch beschränkt.
Wie die Autobiografie, so boomen auch deren filmische Umsetzungen bzw.
Filme mit historischem Hintergrund. Festzuhalten ist, dass die lebensgeschicht-
lichen und zeithistorischen Konstruktionen des filmischen Biopic „Mein Leben“
andere Akzente setzen als die autobiografische Erzählung. Ein entscheidender
Unterschied ist die bereits angesprochene Inszenierung der fiktiven Verhörszene
in Warschau 1949, da diese nicht nur den Film gegenüber der Autobiografie in sei-
ner dramaturgischen Gestaltung anders strukturiert, sondern auch zeithistorisch
den Schwerpunkt des Films auf Reich-Ranickis ‚polnische Lebensjahre‘ und die
reflexiven Rekursionen in die Zeit der Verfolgung durch die Nationalsozialisten
legt – und damit den gesamten Teil seines späteren Lebens und beruflichen Erfolgs
in der Bundesrepublik ausspart. Mit dieser dramaturgischen Entscheidung ist ein
Ausgangsrahmen der filmischen Erzählung gewählt, der auf die politischen Ver-
fehlungen und Verbrechen der osteuropäischen Schauprozesse Ende der 1940er
Jahre Bezug nimmt (und damit einen bis heute in der Bundesrepublik Deutsch-
land existierenden antikommunistischen Diskurs aufgreift), wohingegen der in der
Autobiografie breit dargestellte Abschnitt seines Lebens in der Bundesrepublik
Deutschland ab 1958 und das schwierige Leben im Land der ‚Täter‘ mit den pro-
blematischen Seiten seiner Vergangenheitsaufarbeitungen und kollektiven Erin-
nerungsgeschichte, aber auch der beruflichen Erfolgsgeschichte im Film beinahe
ganz ausgeblendet bleibt. Dadurch wird eine wichtige historische Verbindungs-
linie der nachkriegsdeutschen Aufarbeitungsgeschichte bis zur Gegenwart nicht
thematisiert, die bis heute auch in Familien der Täterseite – den Adressaten von
12 Der Regisseur Dror Zahavi, der vorwiegend für das deutsche Fernsehen produziert,
hat selbst einen israelischen Hintergrund und ist nach eigenen Angaben mit der Er-
innerung an die Shoah aufgewachsen.
Geschichte im Film 185
Film und Fernsehen – nachwirkt (vgl. Welzer et al. 2002).13 Es ist davon auszu-
gehen, dass das Zielpublikum in der Produktion als „impliziter Leser“ (Iser) bzw.
ZuschauerIn angelegt ist, die Wahl der Motive sowie die Art der Darstellung Kon-
zessionen an Vorkenntnisse und Sehkonventionen des Fernsehpublikums macht.
So wird eine jüdische Überlebensgeschichte den Kindern, Enkeln und Urenkeln
usw. Nazi-Deutschlands ‚mundgerecht‘ vorgeführt.
Eine zentrale Schwerpunktsetzung innerhalb des historischen Kontextes ist
die zeitliche Rahmung des Films. Diese fokussiert zum einen auf die Zeit des
Nationalsozialismus von 1933 bis 1938 (danach wird die Familie ins polnische
Exil gezwungen) und insbesondere die Jahre des Warschauer Gettos bis zur Auf-
lösung 1943, zum anderen wird neben der fiktiven Verhörsituation die Zeitspanne
in Polen bis zur heimlichen Auswanderung der Familie Reich-Ranicki im Jahr
1958 beschrieben. Nationalsozialismus und das kommunistische Polen bilden die
historischen Kulissen beinahe des gesamten Films: Damit sind aus heutiger Sicht
zwei negative Bezugspunkte der deutschen und deutsch-polnischen Geschichte in
den Mittelpunkt des Films gerückt worden: das nationalsozialistische Deutschland
und das kommunistische Polen. Der Film endet mit der gelungenen Flucht in den
Westen (nach Frankfurt am Main). Die dort vorgefundene Lebenssituation wird
vor dem Hintergrund alter personeller NS-Kontinuitäten zwar kurz angedeutet
durch Menschen, denen Marcel Reich-Ranicki auf der Straße begegnet: Sie tragen
die (bekannten, erkennbaren) Gesichter seiner früheren Peiniger aus den Verfol-
gungsjahren und versinnbildlichen das Fortleben früherer ‚Täter‘ in der jungen
westdeutschen Demokratie – und symbolisieren damit das Scheitern der Entnazi-
fizierung. Allerdings wird auf den weiteren Verlauf der autobiografischen Erzäh-
lung, der bis in die Gegenwart hineinreicht, nicht eingegangen. Dass Reich-Rani-
cki bis heute unter den Folgen des Verfolgungstraumas zu leiden hat, dass er sich
gegen das Schreiben einer Autobiografie aufgrund seiner Traumatisierungen lange
Zeit gewehrt hat, wie es im Nachwort der Autobiografie von ihm beschrieben wird,
kommt im Film nicht zur Sprache und wird filmisch ebenso wenig umgesetzt. Da-
mit fehlen in Bezug zur autobiografischen Erzählung rein formal die Kapitelteile
3–5, die insgesamt mehr als 250 Seiten der 500seitigen Autobiografie ausmachen.
Diese drei Teile drehen sich im Wesentlichen um die berufliche Karriere Marcel
Reich-Ranickis als Literaturkritiker, aber auch um seine Ausgrenzungs- und Isola-
tionserfahrungen in den Kontroversen der Gedächtnis- und Erinnerungskultur der
Bundesrepublik Deutschland, die einen empfindsamen Blick aus Sicht eines Be-
13 Dokumentarische Filme wie 2 oder 3 Dinge, die ich von ihm weiß (2005, R: Malte Lu-
din) oder Winterkinder (2005, R: Jens Schanze) verdeutlichen die intergenerationalen
Nachwirkungen des Nationalsozialismus in betroffenen ‚Täterfamilien‘.
186 Carsten Heinze
troffenen auf diese Zeit erlaubt hätten. Gerade an der Symbolfigur Reich-Ranicki
hätte das schwierige Leben der wenigen nach Westdeutschland remigrierten Juden
nach 1945 deutlich gemacht werden können. Gleichzeitig behandeln die nicht ver-
filmten Abschnitte des Buches die schwierigen Jahre seiner (in der eigenen Be-
schreibung kaum erreichten) Integration und Aufnahme in eine Gesellschaft, die
sich lange Zeit entgegen ihres eigenen verklärten Selbstverständnisses schwer mit
der Aufarbeitung und Auseinandersetzung der NS-Vergangenheit und ihrer perso-
nellen NS-Kontinuitäten bis weit in die 1960er Jahre hinein getan hat – wie dies
exemplarisch am Beispiel seiner (später aufgelösten) Freundschaft zu Joachim C.
Fest, an Anekdoten mit dem Verleger Wolf Jobst Siedler und Albert Speer in der
Autobiografie beschrieben wird. So fehlen etwa die fragwürdige gesellschaftliche
‚Resozialisierung‘ eines Kriegsverbrechers und die nachhaltige Begegnung mit
Albert Speer, ebenso wie die nachhaltigen Kontroversen um die „Vergangenheit,
die nicht vergehen will“, dem Auslöser des Historikerstreits um Ernst Nolte – alles
Ereignisse, die einen beunruhigenden Blick auf das deutsche Selbstverständnis
noch in diesen Jahren werfen. Dass gerade der so genannte „Historikerstreit“ im
hohen Maße zu einer Verunsicherung Marcel Reich-Ranickis hinsichtlich seines
Lebens in der Bundesrepublik Deutschland beigetragen hat, wird filmisch ausge-
spart.14 Und so blendet der Film eine zeithistorisch wichtige und durchaus proble-
matische Phase in der öffentlichen Selbstauseinandersetzung der Bundesrepublik
Deutschland mit seiner eigenen Geschichte aus, die bis in die Gegenwart hinein
reicht und Vergangenheit als Gegenwartsphänomen erfahrbar hätte machen kön-
nen. Die Geschichte der so genannten „Vergangenheitsbewältigung“ wird nicht
aufgegriffen.
Die historische Zeitspanne des Films umfasst somit die Zeit des Nationalso-
zialismus – auf persönlicher Ebene Reich-Ranickis: als „Opfer“ („Täter“ im War-
schauer Getto als Mitglied des so genannten „Judenrats“?) der NS-Verfolgung
– und die Zeit der polnischen Jahre – auf persönlicher Ebene Reich-Ranickis: als
„Opfer“ antisemitischer Kampagnen sowie als vermeintlicher „Täter“ während
seiner politisch aktiven Dienstzeit für die kommunistische Partei – bis 1958.15
Die ZuschauerInnen werden mit Lebensphasen konfrontiert, in denen noch kei-
14 Das entsprechende Kapitel im Buch wird als „Ende der Schonzeit“ übertitelt.
15 Ohne es möglicherweise zu wissen, haben der Regisseur Dror Zahavi und der Dreh-
buchautor Michael Gutmann die womöglich sensibelsten Lebensphasen Marcel Reich-
Ranickis zum Gegenstand des Films gemacht (ohne dies jedoch filmisch in Szene zu
setzen). Denn die Rolle, die Marcel Reich-Ranicki sowohl als Mitglied des so genann-
ten „Judenrates“ im Warschauer Getto sowie als Leutnant beim polnischen Geheim-
dienst (MBP), später als Vize-Konsul in London spielte, ist bis heute nicht vollständig
geklärt (vgl. Wittstock 2005, S. 79 ff.; vgl. dazu vor allem auch Gnauck 2009).
Geschichte im Film 187
neswegs das Bild des erfolgreichen Literaturkritikers aus der Gegenwart angelegt
ist. Vielmehr ist das Herstellen einer inneren Beziehung, die sich zwischen dem
bekannten (medialen) Bild des Literaturkritikers Reich-Ranickis und der dama-
ligen Zeit herstellen lässt, ein Akt der interpretativen Übertragung, der von den
ZuschauerInnen notwendiger Weise selbst während der Betrachtung des Films zu
vollziehen ist.
Wie werden nun konkret historische Szenen der autobiografischen Erzählung
filmästhetisch umgesetzt? Wie viele aktuelle Filme über diese Zeit bleiben der
gesellschaftshistorische Hintergrund und dessen soziale Strukturen als histori-
sches Phänomen weitgehend unausgearbeitet, die filmische Erzählung fokussiert
auf die Hauptakteure und wird am Einzelschicksal für die ZuschauerInnen er-
fahrbar. Der historische Hintergrund dient als illustrative Kulisse der persön-
lichen Erfahrungsgeschichte. Die melodramatische Musik, eingespielt von der
renommierten Filmmusik-Produzentin Annette Focks, trägt zur zusätzlichen
Emotionalisierung der Ereignisse bei, sie trägt die Atmosphäre über den gesam-
ten Film. Geräusche aus dem Off, wie bereits im Prolog beschrieben, bringen
die historischen Ereignisse (Deportation durch Züge, Reichspogromnacht) auch
auditiv nahe und symbolisieren Ausgrenzung und Verfolgung. Die tatsächlichen
Orte der Aufnahmen bilden nicht die Originalschauplätze, sondern die Städte
Breslau, Legnica und Köln.
Die historischen Ereignisse des Films vermitteln sich über den zeitlichen Ver-
lauf der Lebens-, Liebes- und Familiengeschichte Marcel Reich-Ranickis16 (und
Teofilas). Ohne Vorkenntnisse der ZuschauerInnen bleibt jedoch das zeitgeschicht-
liche Geschehen in seiner Chronologie nur bedingt nachvollziehbar. Die histori-
schen Ereignisse bilden den Hintergrund, vor dem sich die Lebens-, Liebes- und
Überlebensgeschichte zwischen Marcel Reich-Ranicki und Teofila entfaltet.17 An
einigen Stellen wird durch symbolisch aufgeladene Bildverweise auf eine Verän-
derung der gesellschaftlichen Verhältnisse angespielt, der Film arbeitet mit visu-
ellen Anspielungen als stereotypes Verweissystem auf historische Ereignisse.18
Insgesamt arbeitet der Film mit einer Vielzahl verkürzter Symbole, die auf das
historische Geschehen referenzieren.
16 Marcel Reich-Ranicki wird im Alter von 8 Jahren von Filip Jarek dargestellt, ab 16
Jahren von Matthias Schweighöfer. In diesem physisch erlebbaren Übergang der Le-
bensphasen versinnbildlicht sich das Fortschreiten der historischen Ereignisse.
17 Auch in Bezug zur Liebesgeschichte wird der Film den weiteren amourösen Beschrei-
bungen der Autobiografie, die auch andere Liebschaften erwähnt, nicht gerecht.
18 So etwa durch ein Porträt Paul von Hindenburgs im Klassenzimmer Marcels, das in
einer späteren Schulszene durch das Porträt Adolf Hitlers ausgetauscht wird.
188 Carsten Heinze
Zentrale Figuren aus der Autobiografie werden im Film klischeehaft als ver-
schiedene Handlungstypen im Nationalsozialismus dargestellt. „Lehrer Knick“,
ein Förderer der kulturellen Neigungen Reich-Ranickis (vgl. 1999, S. 47 ff.), tritt
trotz des herrschenden Nationalsozialismus wohlwollend gegenüber dem jüdi-
schen Schüler auf, andere Lehrer haben sich bereits den neuen Machtverhältnis-
sen angepasst. Ebenso ‚harmlos‘ als Mitläufer wird der Polizist sowohl in der
Autobiografie wie im Film beschrieben, der Reich-Ranicki die Aufforderung zur
Ausreise aus Deutschland 1938 überbringt (vgl. ebd., S. 157 ff.). Jung, brutal,
brüllend und prügelnd werden die Wehrmachtssoldaten nach dem Einmarsch in
Warschau moduliert – der NS war in seiner sozialstrukturellen Zusammenset-
zung eine durchaus ‚jugendliche Bewegung‘. Während sie in der Autobiografie
subtil in ihrer Lust am Quälen geschildert werden (das Kapitel nennt sich entspre-
chend: „Die Jagd ist ein Vergnügen“, (vgl. ebd., S. 178 ff.), kommen die filmischen
Figuren über stereotype Formen des schreienden und prügelnden Besatzers, wie
sie in vielen Geschichtsfilmen über den NS als Klischee zu finden sind, nicht
hinaus. Dagegen wird der hohe österreichische SS-Sturmbannführer Hermann
Höfle als primitiver, ungebildeter, harter und unbarmherziger kalter Technokrat
in der Autobiografie charakterisiert; der Film kommt auch hier über das verkürz-
te Klischee des ‚kalten Nazis‘ als Vollzugsperson nicht hinaus. Als Gegenfigur
dazu wird der deutsche Kommissar des Warschauer Gettos, Heinz Auerswald,
ebenfalls Teil der Autobiografie, eingeführt, der sich zumindest an vereinbarte
Absprachen zwischen ihm und dem so genannten „Judenrat“ hält und sogar als
‚Kulturförderer‘ des Gettos auftritt. In der Modulation dieser Figur spiegelt sich
ansatzweise ein stückweit deutsche ‚Aufrichtigkeit‘ und ‚Beflissenheit‘ in der Si-
tuation des Gettowahnsinns.
Die historischen Figuren folgen in der Darstellung des Films bekannten ikoni-
schen Mustern zur Charakterisierung der Deutschen während der NS-Zeit: Tumbe
Mitläufer, kalte Technokraten, brutale Schläger. Damit referieren sie zwar grund-
sätzlich auf die Beschreibungen der autobiografischen Vorlage, auf der ikonischen
Ebene bleiben sie jedoch auf diese oberflächlichen charakterlichen Merkmale
reduziert, so dass sie nicht, wie in der Autobiografie, als plastische Figuren er-
scheinen, sondern auf einzelne Merkmale verkürzt werden. Damit werden die Per-
sönlichkeiten nicht ‚falsch‘ dargestellt, jedoch bilden sie in ihrer Reduktion kaum
mehr als bekannte Muster, die keinen Raum für Ambivalenzen, Widersprüche und
die „Banalität des Bösen“ (Arendt) geben.
Auf der formalästhetischen Ebene wird zur Markierung von historischen Über-
gängen filmdokumentarisches Material in den Erzählverlauf hineinmontiert, was
einen Wechsel von der fiktionalen Fernsehspielebene (in Farbe) in den Bereich
historischer Aufnahmen (s/w) bedeutet. Dadurch wird ein Bruch in der Aufmerk-
Geschichte im Film 189
samkeit der ZuschauerInnen erzeugt.19 So werden von Minute 15:50 – 16:20 (DVD
Fassung) zur allgemeinen visuellen Chiffre des NS geronnene dokumentarische
Filmaufnahmen von einer Einfahrt Hitlers im offenen Wagen (Nürnberg) vor dem
Hintergrund jubelnder Massen, die öffentliche Diffamierung jüdischer Geschäf-
te durch Markierungen und Schmierereien, das Hissen der Hakenkreuzflagge vor
einem Büchergeschäft sowie die Bücherverbrennung 1933 (dieses Ereignis wird als
einziges in der Aneinanderreihung der Aufnahmen durch Texteinblendung zeitlich
situiert) gezeigt. Wie im Prolog des Films, hört man zu diesen Bildern aus dem
Off wildes Geschrei und das Zerbersten von Scheiben (was auf die Reichspog-
romnacht, früher bekannt unter der so genannten „Reichskristallnacht“, anspielt).
Bildmaterial und Ton treten an dieser Stelle auseinander und haben unterschied-
liche Quellen und damit unterschiedlichen Symbolisierungscharakter.20 Die doku-
mentarischen Filmaufnahmen symbolisieren zum einen die historischen Zäsuren
und sind zugleich ein filmästhetisches Inszenierungselement für den filmischen
Übergang eines situativen Kontextes in einen anderen, zum anderen durchbrechen
sie die filmische Illusionsbildung der fiktionalisierten Geschichte und legen damit
eine Spur in eine andere Form der visuellen Vergangenheitsdarstellung, die aus der
öffentlichen Medienkultur bekannt ist. Schließlich haben die dokumentarischen
Filmbilder in diesem Zusammenhang authentifizierenden Charakter: Sie belegen
ikonisch das historische Geschehen konkret mithilfe filmischer Dokumente und
verdeutlichen darüber hinaus den realen Hintergrund der Fernsehfilminszenie-
rung.
Obwohl der Film in seiner Inszenierung die Geschichte buchstäblich ‚flach‘
moduliert, setzt dieser damit ein in Reich-Ranickis Autobiografie angelegtes Mo-
tiv um: Zwar lassen sich die historischen Schilderungen des Schreckens kaum mit
den Darstellungen des Films vergleichen, jedoch schreibt Reich-Ranicki (aus der
Perspektive der Schreibgegenwart: als beliebter und bekannter Literaturkritiker
in Deutschland an sein Publikum) trotz aller Distanzierung wohlwollend und ver-
söhnlich über Deutschland, die Deutschen und vor allem: über die deutsche Kultur.
Auch wenn seine Erzählung über das Warschauer Getto die Brutalität, Willkür-
19 Die Integration dokumentarischen Materials in fiktionale Filme ist eine gängige Form
der Inszenierung zur Authentifizierung des Geschehens. So nutzt auch Ari Folman in
seinem Animationsfilm Waltz with Baschir (Valz im Bashir2008; R.: Ari Folman), in
dem persönliche Erfahrungen bezüglich der Massaker von Sabra und Schattila filmäs-
thetisch durch Animation verarbeitet werden, eine dokumentarische Szene zur Durch-
brechung der fiktionalen Animation als Einbruch der traumatischen Realität am Ende
des Films.
20 Dokumentarische Filmaufnahmen werden noch an anderen Stellen zur Markierung
historischer Ereignisse eingefügt.
190 Carsten Heinze
lichkeit und das Verbrechen drastisch beschreibt, so werden die konkreten Perso-
nen bis auf wenige Ausnahmen überwiegend milde behandelt. Exemplarisch ist
hier der Abschnitt, in dem Reich-Ranicki (1999, S. 77 ff.) bei einem späteren Klas-
sentreffen sich die Frage stellt, was seine Klassenkameraden während der Jahre
1933–1945 gewusst und getan haben, eine Frage, die er weder offen zu stellen noch
zu diskutieren wagt. Aber auch an anderen Stellen überwiegt die persönliche Ent-
lastung der Deutschen von ihren Taten.
So korrespondieren die ‚harmlosen‘ und ästhetisch geglätteten Darstellungen
des Films, vermutlich ohne es zu wissen, mit dem Grundmotiv der Autobiografie,
das zwar weder verharmlosend noch beschönigend, das zwar die große Distanz
zum ‚Volk der Täter‘ verdeutlicht, jedoch keine Anklage erhebt, sondern versöhn-
lich ist. Darin folgen die Darstellungen Reich-Ranickis Autobiografie auch ande-
ren jüdischen Überlebensgeschichten.
1932 schreibt Siegfried Kracauer in einem kurzen Essay Über die Aufgabe des
Filmkritikers folgende Zeilen, die auch für die Filmsoziologie eine bedeutsame
Rolle spielen:
„Die Aufgabe des zulänglichen Filmkritikers besteht nun meines Erachtens darin,
jene sozialen Absichten, die sich oft sehr verborgen in den Durchschnittsfilmen gel-
tend machen, aus ihnen herauszuanalysieren und ans Tageslicht zu ziehen, das sie
nicht selten scheuen. Er wird zum Beispiel zu zeigen haben, was für ein Gesell-
schaftsbild die zahllosen Filme mitsetzen […]. Er wird ferner die Scheinwelt sol-
cher und anderer Filme mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu konfrontieren und
aufzudecken haben, inwiefern jene diese verfälscht. Kurzum: der Filmkritiker von
Rang ist nur als Gesellschaftskritiker denkbar. Seine Mission ist: die in den Durch-
schnittsfilmen versteckten sozialen Vorstellungen und Ideologien zu enthüllen und
durch diese Enthüllungen den Einfluß der Filme selber überall dort, wo es nottut, zu
brechen.“ (Kracauer 1974, 10f.)
Diese Bemerkungen spielen auf die filmsoziologische Überzeugung an, dass Filme
an der medialen Herstellung und Vermittlung von Gesellschaftsbildern beteiligt
sind, die allerdings nicht als neutral oder objektiv anzusehen sind, sondern als ideo-
logisch perspektiviert. Die Ideologie des Films drückt sich aus in den ökonomi-
Geschichte im Film 191
21 Jüngstes Beispiel hierfür ist das erfolgreiche Buch Er ist wieder da (2012) von Timur
Vermes sowie der gleichnamige Film von David Wnendt (2015). Die kommentierte
Ausgabe von Adolf Hitlers Mein Kampf ist Anfang 2016 schon kurz vor Erscheinen
in der ersten Auflage vergriffen. Aber auch im Bereich der Fernseh-Serienproduktion
192 Carsten Heinze
ist das Thema Nationalsozialismus sehr beliebt (vgl. dazu Stiglegger 2015). Nico
Hofmann hat mit seiner 3teiligen Fernsehfilmproduktion Unsere Mütter, unsere Väter
(2013) gar einen bi-nationalen Konflikt zwischen Deutschland und Polen ausgelöst.
Im dokumentarischen Bereich hat neben vielen weiteren Produktionen der Film Das
radikal Böse (2013; R: Stefan Ruzowitzky) einen interessanten Versuch gestartet, in
dem er die historische Studie des Historikers Christopher Browning (Ganz normale
Männer, 1999) als dokufiktionalen Film umgesetzt hat. Trotz Aussterbens der
Zeitzeugen hat das Thema offenbar nichts von seiner Aktualität verloren.
Geschichte im Film 193
Mein Leben ist entgegen der öffentlichen Rezeption des Filmes aus meiner
Sicht weder eine gelungene Umsetzung der autobiografischen Vorlage, noch ist die
historische Szenerie auch nur ansatzweise in der Lage, eine angemessene Darstel-
lung der historischen Ereignisse zu vermitteln. Die Komplexität der literarischen
Umschreibungen und drastischen Darstellungen finden sich visuell nicht wieder,
ebenso wenig werden die Zeitumstände atmosphärisch und material überzeugend
umgesetzt. Der Film ist eine misslungene Inszenierung des historischen Hinter-
grunds, was sich vor allem auch in der Integration dokumentarfilmischen Mate-
rials und dem damit einhergehenden ‚Bruch‘ der ikonographischen Ebene zeigt.
Gerade der Kontrast des fiktionalen mit dem dokumentarischen Teil, der wie-
derum selbst Teil einer Inszenierung durch die NS-Filmtäter ist und Geschichte
eher ideologisch verdeckt als aufhellt, lässt die Spielfilminszenierungen in einem
äußerst ungünstigen Licht erscheinen.22 Die gezeichneten Gesellschaftsbilder, die
sich in erster Linie über die Figuren manifestieren, sind schematisiert und darüber
hinaus filmästhetisch ‚geglättet‘.
Die filmische Adaption der literarischen Vorlage ist bereits durch ihre zeitli-
chen Schwerpunktsetzungen verzerrt, die Darstellung der Figuren und der his-
torischen Kulissen wenig glaubwürdig und dem Fernsehmainstream angepasst.
Alle Figuren des Films sind in ihrer Struktur weder plastisch moduliert, noch ver-
ändern sie sich vor dem Hintergrund der Ereignisse über den Verlauf des Films.
Es handelt sich nicht um tiefenpsychologische Charakterzeichnungen, sondern um
einseitig entworfene Figuren in einem ‚Gut-Böse-Schema‘, das für die Zuschauer-
Innen klare Zuordnungen und Identifikationen zulässt. Dies ist vor allem für den
Hauptprotagonisten, Marcel Reich-Ranicki, fatal. Gerade die innere Zerrissenheit
Marcel Reich-Ranickis in Bezug zur deutschen Kultur, seine Suche nach Heimat
und Identität, die ihm vor allem durch die Nationalsozialisten, aber auch durch
die Polen geraubt wurde, die körperlichen Folgen der Verfolgung und seelischen
Qualen werden nicht angemessen, oder besser: gar nicht umgesetzt. Im Gegen-
teil: Reich-Ranicki ist in jeder Situation integer und besonnen, äußerlich bleibt
er sich über den gesamten Film gleich. Die Art der Personendarstellung läuft auf
eine Umkehrung der Opfer-Täter-Perspektive hinaus, die Ulrike Jureit (2010) im
Zusammenhang des Wandels der Gedächtnis- und Erinnerungskultur mit dem Be-
griff „gefühlte Opfer“ bezeichnet: Durch die klare Unterscheidung zwischen ‚gut‘
und ‚böse‘ im Film und durch die unproblematische Möglichkeit zur Einlassung
auf die Perspektive des ‚Opfers‘ Reich-Ranicki lässt sich für die ZuschauerInnen
23 Ein NS-Filmteam drehte im Mai 1942 offiziell diese Aufnahmen im Warschauer Get-
to zu Propagandazwecken, die allerdings nie veröffentlicht wurden. Die Geschichte
dieser Aufnahmen erzählt der Dokumentarfilm „Geheimsache Ghettofilm“ (IR/D,
2010, R.: Yael Hersonski).
196 Carsten Heinze
„Stunde Null“ enden, zu eskamotieren – und damit wichtige Fragen in Bezug zur
Gegenwart auszublenden.
Die Reaktionen auf den Film können als überwiegend positiv, bei einigen Kritikern
als durchwachsen zusammengefasst werden. „Fabelhaft“, so wird Reich-Ranicki
selbst bei der Premiere in Köln zitiert (Hamburger Morgenpost, 19.03.2009). Der
Porträtierte sei von dem Film fasziniert und „tief berührt“ gewesen, „Atmosphäre
und Figuren“ – alles stimme seinem Eindruck nach – so wird der damals 89jährige
Reich-Ranicki zitiert. Er und seine Frau Teofila legitimierten die Darstellungen als
zutreffend und überzeugend.
Da einige Rezensionen mittlerweile aus dem Internet verschwunden sind, zi-
tiere ich hier eine längere Passage aus einem meiner früheren Aufsätze zum Film:
„Bezeichnenderweise wurde dieser Film von der Kritik überwiegend positiv, zum
Teil euphorisch aufgenommen. Volker Hage spricht im Spiegel von einem ‚Glücks-
fall des Schicksals‘ und lobt die aus der Geschichte herausgearbeitete Dramaturgie
des Films, die ‚glänzend‘ verfilmt worden sei.24 Das Filmportal Moviepilot vermag
darin eine ‚brillante Verfilmung eines bewegten Lebens‘ erkennen. Stefan Aust fin-
det für die Frankfurter Allgemeine Zeitung folgende Worte: ‚Um es gleich zu sagen,
es ist ein großartiger Film, handwerklich gekonnt, sehr gute Schauspieler, bis in die
Nebenrollen, beste Regie (Dror Zahavi), Ausstattung, Schnitt. Ein dezenter Film,
irgendwie cool, würde man heute sagen. Trotz des Themas.‘ Aust ist der Ansicht,
der Film zeige die ‚richtigen Bilder‘. Die taz stellt die Frage nach der historischen
Wirklichkeitsentsprechung des Films und kommt angesichts der polnischen Jahre
Reich-Ranickis zu einem differenzierteren Urteil. Offensichtlich teilt die taz kaum
die zitierten Auffassungen Gutmanns [des Drehbuchschreibers, C. H.], nach der sich
der Film Freiheiten in der Gestaltung von Aspekten nehmen müsse, die nicht mehr
über die historische Recherche rekonstruiert werden könnte; jedoch bleibe der Film
der ‚Wahrhaftigkeit‘ verpflichtet. Auch die Süddeutsche Zeitung bleibt in ihrer Re-
zension verhaltener und hebt hervor, dass die problematischen Nachkriegsjahre in
der Bundesrepublik einfach ausgeblendet würden. Es sei eben kein ‚richtig guter‘,
aber auch ‚kein schlechter Film‘ geworden. Exemplarisch dazu einige Zuschauer-
kommentare auf der taz-Seite. Die Leserin ‚Stefie‘ kritisiert am 11.5.2009 die feh-
lende Tiefe der Figuren sowie die ‚abgehackten, aneinander gereihten Naziverbre-
chen‘ scharf, vor allem der Schauspieler Schweighöfer wirke nach ihrer Auffassung
nicht überzeugend. ‚Mark‘ findet den Film in seinem Kommentar vom 24.08.2009
‚wichtig und gut‘, auch die historischen Szenen, obwohl sie seiner Auffassung nach
nicht ‚100% der Wahrheit‘ entsprächen. Die Ausstattung des Films sei ‚ok‘. Der In-
24 http://www.spiegel.de/spiegel/a-617830.html
Geschichte im Film 197
Auch wenn sich die ehemals scharf geführten Kontroversen um mediale Darstel-
lungen des Nationalsozialismus im 21. Jahrhundert angesichts der Transformatio-
nen vom kommunikativen Gedächtnisses in das kulturelle Gedächtnis allmählich
abschwächen, auch wenn sich die Konventionen des allgemein akzeptierten Um-
gangs mit der Thematik geändert haben mögen, bleibt die Frage notorisch, wel-
che Bedeutung das ‚Wesen‘ des Nationalsozialismus, verkörpert in Ereignissen
und Personen des Dritten Reichs, heute noch in der öffentlichen Medienkultur
einnimmt. Mehr als 70 Jahre nach Kriegsende bleiben die Spuren der Vergan-
genheit in vielfacher Form in der Öffentlichkeit präsent. „Soviel Hitler war nie.“
(Frei 2005, S. 7) Diese Feststellung des Zeithistorikers Norbert Frei bezüglich
der medialen Gegenwart des „Führers“ lässt sich auf den gesamten Bereich des
Nationalsozialismus ausweiten. Erst jüngst erneuerte Benedikt Erenz in DIE ZEIT
den Befund von einem „neuen Interesse der Deutschen an ihrer Geschichte.“ (Er-
enz 2015, S. 1). In diesem Artikel drückt sich die Hoffnung aus, dass die Ak-
zeptanz historischer „Vielfalt und Vielgestalt“ über die gegenwärtig so erschre-
ckenden Simplifizierungen der neuen rechten Bewegungen wie Pegida obsiegen.25
Und genau diesen Zusammenhang zwischen einer historischen Betrachtung der
eigenen Geschichte in der „Basiserzählung“26 der Bundesrepublik Deutschland
und der gegenwärtigen politischen Kultur, die angesichts der hysterischen De-
batten um Asyl- und Flüchtlingspolitik seit Ende 2015 aus dem Ruder zu laufen
droht, stellt auch Thomas Herz her, wenn er die rechtsradikalen Auswüchse der
1990er Jahre mit Um- bzw. Neucodierungen dieser „Basiserzählung“ in Verbin-
dung bringt. Seiner These zufolge ziehen Veränderungen in der Betrachtung der
eigenen Geschichte, die spätestens seit der Rot-Grünen Regierungszeit auf eine
„Normalisierung“ der Deutschen im Umgang mit ihrer Geschichte hinausläuft,
auch Veränderungen der politischen Kultur nach sich. So wenig dieser These hier
abschließend nachgegangen werden kann, lässt sich doch feststellen, dass sich in
zahlreichen populären TV-Geschichtsproduktionen der letzten Jahre ein verän-
dertes Selbstverständnis der Deutschen abzuzeichnen beginnt, das sich „von den
fernsehgeschichtlichen Anfängen des Bildungs-TVs“ weitgehend entfernt hat (vgl.
Schultz 2012: 435): Hierzu zählen nicht nur die Hinwendung zur eigenen Leidens-
geschichte in TV-Produktionen wie Dresden (2006, R: Roland Suso Richter) oder
Die Flucht (2007, R: Kai Wessel), sondern auch der Mythos der deutschen Wieder-
auferstehung in Das Wunder von Bern (2003, R: Sönke Wortmann). Und auch über
die Figur Hitlers – und damit einhergehend in der Frage nach der Verantwortlich-
keit der deutschen Verbrechen – erfolgt eine selbstbewusste Wiederaneignung der
deutschen Geschichte mit dem Film Der Untergang (2004, R: Oliver Hirschbiegel;
zum Diskurs um den Film, vgl. Schultz 2012, S. 370 ff.). „Mein Leben“ gehört als
ein Film, der Opferidentifikation anbietet, in dieser Reihe dazu. Verantwortlich für
diesen Wandel sind in erster Linie die „Event-Movies“, die zumeist von Fernseh-
sendern finanziert werden. In ihnen wird versucht, ein „Gefühl des Miterlebens“
durch „physische Kraft der Inszenierung“ zu erreichen (vgl. ebd., S. 445). Die Re-
duzierung auf Emotionalisierung der Geschichte verdeckt deren strukturellen und
innerfamiliären Zusammenhang bis heute.
Widerstand gegen dieses Regime, denn das deutsche Volk war verleitet worden. Die
Deutschen waren in Wirklichkeit eine ‚Gemeinschaft‘ der Leidenden. Dies gilt vor
allem für die Soldaten. Sie kämpften für ihr Vaterland und nicht für die Nazis. Ein
Mittel, um das Herrschaftssystem zu stabilisieren, war der wirtschaftliche Erfolg, zu-
mindestens [sic!] bis Anfang des Krieges. Nach dem Krieg hat man sich erfolgreich
mit der NS-Vergangenheit auseinandergesetzt. Die Deutschen haben aus der Vergan-
genheit gelernt. Das Wirtschaftswunder und der Wohlfahrtsstaat haben dazu beigetra-
gen, eine stabile Gesellschaft zu errichten. Die Bundesrepublik ist pluralistisch und
offen. Die Vernichtung der europäischen Juden war ein Verbrechen, aber auch die Ver-
treibung der Deutschen war ein Verbrechen. Andere Länder haben auch Kriegsverbre-
cher. Es gibt keine Kollektivschuld, nur Kollektivverantwortlichkeit. Die Deutschen
haben Wiedergutmachung an das jüdische Volk geleistet und haben die Verbrecher
verurteilt. Das Leiden an der NS-Vergangenheit ist Teil des jüdischen, nicht aber des
deutschen Schicksals.“ (Herz 1997, S. 251)
Geschichte im Film 199
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Geheimsache Ghettofilm (Shtikat Haarchion; 2010; R.: Yael Hersonski).
Ich, Reich-Ranicki (2006; R.: Lutz Hachmeister).
Mein Leben (2009; R.: Dror Zahavi).
Unsere Mütter, unsere Väter (2013; R.: Philipp Kadelbach).
Waltz with Bashir ( Valz im Bashir; 2008; R.: Ari Folman).
Winterkinder (2005; R.: Jens Schanze).
2 oder 3 Dinge, die ich von ihm weiß (2005; R.: Malte Ludin).
Online
http://www.quotenmeter.de/cms/?p1=n&p2=34336&p3= (letzter Abruf: November 2015).
http://www.daserste.de/meinleben/ (letzter Abruf: November 2015).
http://www.focus.de/kultur/kino_tv/filmpremiere-reich-ranicki-fehlen-die-worte_
aid_381899.html (letzter Abruf: Januar 2016).
http://www.spiegel.de/spiegel/a-617830.html