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Bachelor-Arbeit
1 Einleitung........................................................................................................... 5
5 Ausblick............................................................................................................53
5.1 Mit Angst und Selbstbewusstsein gegen Gewalt ......................................53
5.2 Politisches Handeln in der Moderne ......................................................... 56
6 Fazit................................................................................................................. 61
Literatur............................................................................................................... 63
1 Einleitung
Manchmal pieckt's einen, als wär's ein Stachel vom Baum der Erkenntnis.
(Lec, 2007, S. 375)
Die Journalistin Ulrike Marie Meinhof war eines der Mitglieder der RAF. Schon
vor ihrem Abtauchen in den Untergrund für die RAF schrieb sie für die linke
Zeitung „konkret“. Ihre Aufsätze und Polemiken wurden nach ihrem Tod unter
dem Titel „Die Würde des Menschen ist antastbar“ herausgegeben.
Faszinierend, dass sich die Herausgeber für diese provokante Titelzeile
entschieden haben, und das in einem Land, das sich dessen Gegenteil als
obersten Grundsatz seines Grundrechts auf die Fahne schreibt. Nach der
Lektüre der Aufsätze zog ich für mich den Schluss, dass es der Autorin um
Folgendes ging: Sie hat immer wieder versucht, die für sie sichtbare Paradoxie
eines Staates aufzuzeigen, der sich offiziell in seinem Grundrecht auf die
Freiheit und die Unantastbarkeit der menschlichen Würde stützt, dieses Recht
aber – aus welchen Gründen auch immer - nicht allen Menschen zubilligen
kann. Gleichzeitig entzogen sich die Regierenden des Staates dem, der jungen
Generation Rede und Antwort zu stehen, wenn es um die Stellungnahme nebst
Verantwortlichkeit zur Geschichte des Landes ging. Denn nur die
Überlebenden, wozu auch die Regierenden gehörten, kannten die Geschichte,
für die aber alle - „das Volk“ - Verantwortung übernehmen sollten. Anscheinend
misstraute diese kritische, revoltierende Jugend den Staatsmännern, die um
eine Antwort verlegen waren, wenn es um „damals“ ging, um die Frage, wie sie
die grausame Unmenschlichkeit mit System und die absolute Missachtung von
Freiheit und Würde haben zulassen können. Jetzt wiederum widmeten sich
genau diese Menschen dem Wiederaufbau des Landes und der Ausübung von
Staatsmacht, verankerten Grundrechte per Gesetz, ließen aber daneben wenig
Raum für Dialog, Mitsprache und Widerspruch, indem sehr rigide gegen
Demonstrationen und andere meist studentische Unruhen vorgegangen wurde.
1972 wurde durch ein Plakat der Kriminalpolizei nach den Mitgliedern der RAF
als „anarchistische Gewalttäter“ gefahndet. Es spricht für mich nichts dagegen,
nach Gewalttätern zu fahnden, denn das Wort „Gewalttäter“ auf einem Plakat
macht die Bevölkerung dafür sensibel, dass es sich um gefährliche Menschen
handelt, die Gewalt destruktiv und unberechenbar einsetzen. Doch wer das im
Zusammenhang liest, bringt am Ende ein harmloses Wort wie „Anarchie“, das
nur die „Abwesenheit von Herrschaft“ bedeutet, mit Gewalt in Verbindung.
Ob 1972 oder heute: Es geht letzten Endes immer wieder um die Themen
Macht, Gewalt, Freiheit, Würde, Verantwortung. Die Zeit der RAF und das
Liebäugeln der 68-er-Generation mit der Anarchie ist vorbei, die Studenten
heute revoltieren „nur“ gegen das Bildungssystem. Die deutsche Vergangenheit
wurde und wird stückchenweise nur sehr müßig aufgearbeitet, dazu seit
zwanzig Jahren ein weiteres Stück Vergangenheit der DDR. Man versucht
leidlich Verantwortung zu übernehmen, heute mit der zusätzlichen Schwierigkeit
von zwei verschiedenen Denkweisen der Bundesbürger, resultierend aus der
noch in geteilten Staatssystemen aufgewachsenen Bevölkerung. Die
Wahlbeteiligung deutet auf eine zunehmende Politikverdrossenheit und neben
der breiten – politikverdrossenen? - Masse formieren sich immer wieder kleine
Gruppen, die gegen Minderheiten gewaltsam vorgehen. Ab und zu wird der Ruf
nach einer neuen Führung laut, übernimmt jemand die Führung, hagelt es Kritik
auf diese, und es ertönt der Ruf nach einer anderen Führung. Mein spontaner
Gedanke, während ich das schreibe, lehnt sich an Konstantin Weckers
„Habemus Papam“ aus dem Jahre 1978 an, nur setze ich hier statt dem Wort
„Papst“ das Wort „Bundeskanzler“ ein:
Aber wie kommt es zu einem Machtgefüge? Mit wieviel Gewalt darf gedroht
werden, um Stärke zu zeigen und Autorität zu bewahren? Ist Gewalt überhaupt
unumgänglich? Was wäre die Folge, wenn immer mehr Menschen der Politik
den Rücken kehren? Bestimmen dann die wenigen, die wählen, wer die
Herrschaft über das Land hat? Hat der, der die Herrschaft hat, auch die Macht?
Wie wird die Freiheit innerhalb eines Herrschaftsgefüges aufrecht erhalten?
Und was hat Würde damit zu tun?
Es gibt Autoren, die nähern sich dem Thema Politik literarisch, wie zum Beispiel
der portugiesische Journalist und Schriftsteller José Saramago in seinem
Roman „Die Stadt der Blinden“. Hier wird das Szenario in einer namenlosen
Stadt beschrieben, in der plötzlich wahllos Bürger erblinden. Die Regierung
reagiert zum Schutz der Bevölkerung wegen Seuchengefahr mit Internierung
der Betroffenen in einem leerstehenden Gebäude.
„Der Vorschlag stammte vom Minister persönlich. Von welcher Seite auch
immer man sie betrachtete, es war eine gute, wenn nicht gar perfekte Idee,
sowohl, was die rein sanitären Aspekte des Falles anging, als auch im Hinblick
auf die gesellschaftlichen Komplikationen und die sich daraus ergebenden
Konsequenzen. (...) Man würde sie alle in Quarantäne schicken, um es mit
allgemein verständlichen Worten auszudrücken, ging es darum, einer alten
Praxis aus den Zeiten der Cholera und des Gelbfiebers zu folgen...“ (Saramago,
2009, S. 53, 54)
Dort überlässt man die Blinden sich selbst und ihrem Schicksal. Sie versuchen
im Rahmen ihrer Möglichkeiten mit dem Handicap der Blindheit in dem
ungewohnten Zustand zurecht zu kommen. Die Situation für die im Lager
Eingeschlossenen verschlechtert sich von Tag zu Tag, besonders was ihre
Versorgung, die Hygiene und ihr soziales Miteinander anbelangt. Im Roman
werden die Strukturen beschrieben, die sich unter den zunächst hilflosen
Internierten bilden, die menschlichen Interessenkonflikte und das Dilemma
zwischen Egoismus und Gerechtigkeit, d.h. die Verteilungsgerechtigkeit. Die
Geschichte handelt von genommener Freiheit, davon, Würde in einer
würdelosen Umgebung zu bewahren, dem Ringen um vermeintliche Macht, und
es geht um die Übernahme von Verantwortung entsprechend den eigenen
Fähigkeiten und dem persönlichen Handlungsspielraum. Die Erzählung hat für
mich durchaus den Charakter einer Parabel in Bezug auf politisches
Engagement. Der Roman bietet noch nicht die Antwort auf meine Fragen zu
Macht und Verantwortung, aber er liefert zahlreiche Beispiele zur Darstellung
von Situationen, in denen versucht wird, Macht auszuüben, zeigt auf, wie es zu
Gewalttätigkeiten kommt und wie menschliche Angelegenheiten miteinander
verknüpft sein können.
Tatsächliche Antwort auf meine Fragen suche ich bei Hannah Arendt und ihren
Ausführungen zum Thema „politische Macht“. Im Rahmen des Hochschul-
Seminars „Macht liegt in der Luft“ konnte ich eine Reihe von Theorien zum
Thema „Macht“ und deren Schöpfer kennenlernen. Dabei hat mich die
politische Philosophin am meisten angesprochen, weil sie durch einfache, klare
Definitionen einen Denkraum schafft, der zunächst nicht erklären, sondern
verstehen will. Ihre Art zu reflektieren kann unabhängig von modernen
Systemtheorien gedacht bzw. auch mit diesen verknüpft werden. Um eine
Analyse zur Macht zu ermöglichen, grenzt Hannah Arendt die Bedeutung ihrer
Schlüsselbegriffe „Macht“, „Stärke“, „Autorität“ und „Gewalt“ voneinander
eindeutig ab. So entsteht eine klare, zweckmäßige Umgebung, in der
Situationen politischen und menschlichen Handelns untersucht werden können.
Mich fasziniert, dass sie nur „das Kind beim Namen nennt“, d.h. Definitionen
festlegt, anschließend Kausalitäten bildet und damit letztendlich Abhängigkeiten
und Phänomene erklären kann. Sie kommt ohne neue geschaffene
Bezugsgrößen oder Definitionen aus. Arendts freies Denken führt nach meinem
Dafürhalten zu einer bestechenden Klarheit ihrer Analyse, und es ist deshalb
Grundlage meiner Studie zum Themenkomplex „Macht“ geworden.
Wenn es aber um Macht geht, kommt man nicht herum, sich gleichzeitig mit
dem Phänomen „Gewalt“ auseinander zu setzen. In ihrem Buch „Macht und
Gewalt“ (2009) äußert sich die Autorin wie folgt über die Gewalt:
Dies schrieb sie im Jahre 1970, also zu einer Zeit, als sich in Deutschland die
RAF formierte, in der zwischen den Ost- und Westmächten paradoxerweise der
„Kalte Krieg“ als Friedenspolitik eingesetzt wurde, in dem Jahr, in dem Amerika
in Vietnam einfiel. Als Fußnote ergänzte sie, es gäbe reichlich Literatur über
Krieg und seine Gewaltmittel, aber keine zum Thema Gewalt in der Politik. Das
obige Zitat regt mich an, darüber nachzudenken, ob Gewalt tatsächlich im
Rahmen von politischen Beziehungen nicht wegzudenken ist, und ob Gewalt
wie eine Art ungeschriebenes Gesetz nicht in Frage gestellt werden kann, d.h.
eine Politik ohne Gewalt nicht denkbar ist.
Zufällig konnte ich zu einem ähnlichen Thema vor kurzem die Buchvorstellung
von Prof. Dr. Jan Philipp Reemtsma mit dem Titel „Vertrauen und Gewalt“
(2009) besuchen, in der er die Ergebnisse seiner gleichnamigen Studie mit dem
Untertitel „Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne“ vortrug.
Reemtsmas Ausgangspunkt der Fragestellung war, wie es möglich ist, dass
parallel zu unserem zeitgemäßen Empfinden, Gewalt so weit als möglich
einzuschränken, immer wieder eine massive Destruktivität zwischen
Bevölkerungsgruppen sichtbar wird. Seine Studien lassen keinen Zweifel über
das fortwährende Vorhandensein von Gewalttätigkeit unter Menschen im Laufe
der Geschichte, und vielleicht sogar besonders, wenn es um den Bereich
„Macht“ geht.
Das mag vorerst in unserer Moderne eine unabänderliche Tatsache sein, die ich
im Raum stehen lassen muss. Doch hier stelle ich nach meinen Überlegungen
bezogen auf die Zeit der RAF und unser heutiges Politgefüge, nach der Lektüre
„Die Stadt der Blinden“ und nach der Beschäftigung mit der politischen
Philosophin Hannah Arendt die Hypothese auf, dass wirkliche politische Macht,
die ich gleich im nächsten Kapitel definieren werde, nur durch Übernahme von
Verantwortung im Rahmen der eigenen Möglichkeiten und des persönlichen
Handlungsspielraums innerhalb einer Gruppe von Menschen entstehen kann.
Die Möglichkeiten und der Handlungsspielraum hängen wiederum von der
Freiheit und der gewahrten Würde der Menschen ab, die die Gruppe bilden. Zur
Überprüfung dieser Hypothese und der Frage, welche Rolle die Gewalt dabei
spielt, greife ich in der vorliegenden Arbeit einige markante Stellen aus dem
Roman von Saramago heraus und versuche, diese mit Hannah Arendts Theorie
zu erklären. Abschließend werde ich darauf eingehen, inwieweit die Handlung
des Romans realistisch sein könnte, und was man daraus lernen kann.
2.1 Freiheit
Der Denkraum zur politischen Philosophie Hannah Arendts knüpft an die alte
Schule der griechischen Philosophie, die mit ihrem Verständnis von 'Polis' als
„vollkommene Gemeinschaft“ einen der Grundsteine für das gelegt hat, was
heute unter Politik verstanden wird. Damals war die politische Tätigkeit eine
Aktivität im Gemeinwesen, im Gruppenkontext, nicht das, was heute darunter
verstanden wird. In der vorliegenden Arbeit werde ich die Begriffe „Politik“,
„politisches Handeln“ und „politische Tätigkeit“ aber ausschließlich auf Arendts
bzw. das antike Verständnis beziehen. Unter diesem Gesichtspunkt kann man
auch ihre Antwort auf die Frage nach dem Zweck von Politik verstehen:
„Aufgabe und Zweck der Politik ist die Sicherung des Lebens im weitesten
Sinn. Sie ermöglicht dem Einzelnen, in Ruhe und Frieden seinen Zwecken
nachzugehen, das heißt, unbehelligt von Politik zu sein...“ (Arendt, 1993, S. 36)
Sie hebt hier den privaten Menschen, der seinen persönlichen Aufgaben
nachgehen kann, heraus. Der Einzelne im Privaten führt zweckgebunden seine
Tätigkeiten aus, wie z.B. den Lebensunterhalt zu verdienen, also arbeiten. Des
weiteren kann er produzieren, wobei das Herstellen immer ebenso
zweckgebunden bleibt wie die Arbeit. Das ist der private Bereich eines
Menschen, hier soll er unbehelligt von Politik agieren können, er bleibt
„unsichtbar“, eben privat. Im Gegensatz dazu hat jeder Mensch eine „öffentliche
Seite“: Er kann sein öffentliches Wesen offenbaren, in dem er nach außen, in
einem freien Raum unter Gleichen, sichtbar wird. Frei nach Goethe gesprochen
„Hier bin ich Mensch, hier bin ich frei.“ (Im Original heißt es „Hier bin ich
Mensch, hier darf ich's sein.“ Goethe, Faust I, Vers 940) Dieses Sichtbarwerden
der Persönlichkeit vollzieht sich durch Sprechen und Handeln in der
Öffentlichkeit: Der Mensch wird politisch.
Dieser politische Mensch ist bei Hannah Arendt nur im Zusammenhang mit dem
Begriff „Freiheit“ zu denken. Hier stößt man an die gleiche Schwierigkeit wie
oben angeführt beim Politischen. Arendt definiert „Freiheit“ angelehnt an die
Antike: Freiheit bedeutet, aus sich heraus, selbst gewählt, zu handeln, ohne die
Verpflichtung zu arbeiten und zu produzieren. Solange ein Mensch der
Notwendigkeit unterliegt, zu arbeiten, ist er insofern unfrei, als dass die Arbeit
zweckgebunden seine Existenz sichern muss. Auch als Produzent ist er
abhängig vom Herstellungsprozess und nicht wirklich frei. Wahrhaft frei ist im
Sinne von Aristoteles nur, wer frei über seine Zeit und seinen Aufenthaltsort
bestimmen kann. (vgl. Arendt, 2007, S. 22ff.) Im Raum dieser Freiheit ist der
Mensch erst in der Lage zweckfrei zu handeln. Unter dem Wort „Handeln“
versteht Arendt genaugenommen menschliche Fähigkeit, die Initiative zu
ergreifen, d.h. einen Anfang zu machen. Sie bezieht sich dazu auf den
Kantschen Begriff der Spontanität, der ausdrücken soll, dass jeder von uns
„eine Kette“ anfangen kann, wenn er selbst nur die Initiative ergreift. Diese
antike Sichtweise steht völlig konträr zu der, in der Nachantike entstandenen,
noch heute existierenden traditionellen Vorstellung, Freiheit als das höchste Gut
mit Willensfreiheit gleichzusetzen und als Wahlmöglichkeit zwischen Gut und
Böse zu begreifen. Diese traditionelle Überzeugung lässt sich aber nur
verwirklichen, wenn man auf das Handeln in der Öffentlichkeit verzichtet und
sich im Stillen aus der Welt zurückzieht, womit aber keine Politik in Arendts
Sinn mehr möglich ist. (vgl. Arendt, 1993, S. 34/35)
Begreift man die Tragweite des antiken Begriffs „Freiheit“, so kann er sich
ausschließlich auf den öffentlichen Menschen beziehen, nicht auf den privaten,
weil die Freiheit zu handeln nur im Zusammensein mit anderen erlebt werden
kann. Die Philosophin konstatiert, dass Menschen nur in Bezug aufeinander frei
sein können, wenn sie in einer öffentlichen Beziehung zueinander stehen, da
man mit sich selbst allein keine Freiheit erleben kann. Diese dem Menschen
eigens mögliche Freiheit ist somit in nichts anderem als im Bereich des
Handelns und damit im Politischen möglich. Im Politischen kann das Positive an
der Freiheit erfahrbar werden, ebenso wie der Unterschied zum „Nicht-
gezwungen-Werden“. Diese Freiheit kann immer erst dann stattfinden, wenn
um die Erhaltung der Art und des Lebens Sorge getragen ist. (vgl. Arendt, 1994,
S. 201)
2.2 Würde
Arendts Gedanken zur Würde werden manchmal in der Literatur kritisiert,
obwohl sie lediglich die Schwierigkeiten herausarbeitet, die im Zusammenhang
mit der Gültigkeit der Menschenrechte entstehen. Im fünften Kapitel „Das
Handeln“ von „Vita activa“ (2007) schreibt sie absolut achtungsvoll über die
Einzigartigkeit eines jeden Menschen vor dem Hintergrund des
Entstehungsprozesses des Universums, wie ein jeder handelnd und sprechend
seine Individualität repräsentieren kann, darf und auch soll. (vgl. Arendt, 2007,
S. 214 ff.) Wenn ich das lese, kann ich nur zu dem Schluss kommen, dass
Arendt persönlich nicht nur jedem Menschen diese Rechte zuspricht, sondern
dass sie dies gleichzeitig für selbstverständlich und naturgegeben hält. Für mich
wird damit die bedingungslose Akzeptanz der menschlichen Würde als
Grundlage des Menschseins ausgedrückt, weil sie in Achtung vor dem
Schöpfungsprozess jedem Menschen die gleichen Rechte zuspricht. Sie spricht
aber damit nicht nur jedem Menschen die gleichen Rechte zu, sie spricht allen,
ohne Ausnahme jedem, das Recht der Rechte zu: die Freiheit, politisch zu
handeln.
Damit wird die Würde auch nicht mehr zum Abstrakten, Unfassbaren, wenn es
heißt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Im Gegenteil, es wird sogar
ganz einfach fassbar, denn folglich hat für Arendt jeder Mensch das konkrete
Recht, politisch handelnd in die Welt zu treten. Damit wird für mich aber auch
klar, wie leicht die Würde antastbar wird, sobald man sich nicht mehr unter
Gleichen und im einem unfreien Rahmen befindet.
Aber für Arendt liegt das unlösbare Problem nicht in der Antastbarkeit, sondern
in der folgenden Paradoxie: Jedem Menschen obliegt per Gesetz zwar die
Menschenwürde, doch der Mensch im Rahmen von Politik muss zu einer
Gruppe bzw. einem Staat gehören, damit ihm die Würde als Recht zuerkannt
und es somit auch einklagbar wird. Abgesehen davon muss diese Gruppe bzw.
dieser Staat das Recht aber erst anerkennen. Selbst jahrelang staatenlos,
kritisiert sie das Fehlen von Zuständigkeit, wenn ein Staatenloser seine Rechte
einklagen wollte, sowie das grundsätzliche Ignorieren dieser Problematik. (vgl.
Arendt, 1986, S. 454 ff.) Arendt fixiert den Verlust der Würde zunächst am
Verlust der Heimat. Mit diesem Schaden verliert der Mensch seinen
angestammten Platz, seine dort wirkenden Rechte und auch den Schutz. (vgl.
Arendt, 1986, S. 457) Nehme ich also einen Menschen aus seiner Gruppe,
nehme ich ihm auch den Schutz, um seine Würde zu bewahren.
Die grausame Folge, wenn man Menschen die Freiheit zu handeln entzieht und
die Würde in Form von Zugehörigkeit und Schutz nimmt, wie im Fall radikaler
Internierung in Konzentrationslagern totalitärer Regime, ist nach Arendt die
„Tötung der juristischen Person“ (Arendt, 1986, S. 687). Den Menschen in
diesen Lagern wird quasi das Menschsein abgesprochen, es ist nicht einmal
mehr eine rechtskräftige Verurteilung nötig, noch wäre sie möglich, da es eine
Aporie wäre, ein Recht zu kreieren, um es auf Rechtlose anzuwenden.
Macht
Nach Arendt ist das Ergebnis, wenn man sich mit anderen formiert und im
Rahmen dieser Formation einvernehmlich handelt, politische Macht. Diese
entsteht somit automatisch mit der Bildung einer Gruppe. (vgl. Arendt, 2009, S.
53) Macht ist in diesem Kontext keine Fähigkeit eines Einzelnen, sondern
immer das Produkt einer Gruppe. Ein Produkt ist mathematisch gesehen das
Ergebnis der Multiplikation einzelner Faktoren, was ich wiederum für einen
guten Vergleich halte. Macht als „Summe“ wäre deshalb unzutreffend, weil in
der Summe nur die einzelnen Summanden – hier: Individuen – addiert sind.
Aufgrund der Beobachtung von menschlichen Zusammenschlüssen behaupte
ich, dass je größer die Faktoren bereits sind, nur ein einzelner kleiner Faktor
hinzukommen muss, um das Produkt, die Macht, um ein Immenses zu steigern,
wie im Fall vom Zusammenschluss mehrerer Gruppen. Nach Arendts
Verständnis bedeutet die Aussage, „jemand habe Macht“, dass eine bestimmte
Anzahl an Menschen einem Einzelnen die Macht, genau genommen die
Machtvertretung, verliehen hat. Das Wort verliehen gefällt mir in diesem
Zusammenhang sehr, denn es autorisiert die Verleiher, die Macht wieder zurück
zu nehmen und sie jemand anderem zu geben. Folglich gibt es nur machtvolle
Handlungen einer Gruppe, aber keine machtvolle oder mächtige Person. Das
wäre in Arendts Sinn dann eher eine starke Person oder eine starke
Persönlichkeit. (vgl. Arendt, 2009, S. 45)
Stärke
Jeder Mensch besitzt in veränderlichem Ausmaß Stärke. Für Arendt ist sie eine
Eigenschaft, die dem Menschen angeboren ist und über die er alleine verfügen
kann, im Gegensatz zum Produkt der Macht. (vgl. Arendt, 2007, S. 252) Stärke
ist messbar, untereinander vergleichbar, aber nicht identisch mit Macht, und
auch nicht mit Macht zu kompensieren. Arendt führt als Beispiel an: Wenn der
Starke auf die Macht vieler Einzelner trifft, d.h. auf die Gemeinschaft
Handelnder, wird er trotz seiner Stärke und möglichen Unabhängigkeit
unterliegen, mit der er vorher zu handeln vermochte. (vgl. Arendt, 2009, S.
45/46) Ich finde diesen Aspekt sehr interessant, besonders wenn man den
Gedanken weiterspinnt, dass sich auch Starke zusammenschließen, um als
Gemeinschaft zu handeln. Das passiert beim Kartellwesen, was sehr schwierig
in seiner Ausübung zu sein scheint, wenn man die Wirtschaft betrachtet. Den
Grund dafür sehe ich darin, dass die einzelnen Kartellteilnehmer ihre
Unabhängigkeit behalten wollen, weil sie möglicherweise den Verlust der Stärke
in der Gemeinschaft fürchten. So führt das Kartellwesen nur vermeintlich zur
Macht, denn wahre Macht entsteht nach Arendt erst, wenn die egoistischen
Ziele des Einzelnen hinter das der Gruppe zurücktreten. Als Schlussfolgerung
für die Politik und auch für die Wirtschaft könnte man sogar sagen, dass es, so
gesehen, nicht immer klug sein mag, sich mit den Stärksten zu verbünden.
Kraft
Bei diesem Wort hält sich Arendt an die Physik, d.h. Kraft ist für sie Energie.
Auch gesellschaftliche Ereignisse erzeugen Energie bzw. verändern
gesellschaftliche Zustände. (vgl. Arendt, 2009, S. 46) Ich meine, es ließe sich
sogar der Trägheitssatz (1. Newtonsches Gesetz) auf markante Ereignisse in
der Geschichte anwenden: Ein Körper – die Gesellschaft – verharrt solange im
Zustand der Ruhe oder der gleichförmig geradlinigen Bewegung, solange keine
äußeren Einflüsse auf ihn – bzw. sie, die Gesellschaft – wirken. So gesehen
könnte man dem Phänomen „Revolution“ Kraft zuschreiben, denn es entsteht
eine Energie, die zur Veränderung der Gesellschaft beitragen kann. Ich bin der
Meinung, auch Medien, wie Presse, Fernsehen, Internet, haben Kraft: Sie
erzeugen Energie und verändern gesellschaftliche Zustände allein durch ihre
Beschreibung.
Autorität
Diesen Begriff hält Arendt für am schwierigsten einzugrenzen und
zuzuschreiben. Autorität ist ihr zufolge eine Eigenschaft wie Stärke, doch sie
kann verschieden zugeschrieben werden: einer einzelne Person, z.B. dem Arzt,
einer Organisation, z.B. einer Behörde, oder einer Person kraft ihrer
Zugehörigkeit zu einer Institution, z.B. einem Polizisten. Aber Autorität bedarf
der Anerkennung durch Dritte bzw. durch diejenigen, die sie als solche
wahrnehmen sollen. Autorität ist eng verknüpft mit Respekt, und, so wie Arendt
feststellt, sind ihre Widersacher Verachtung und Spott. (vgl. Arendt, 2009, S.
46/47) Kein Wunder, dass Karikaturen von Persönlichkeiten des öffentlichen
Lebens und geistlichen Würdenträgern manchmal soviel positive wie negative
Aufmerksamkeit erhalten, wenn damit die Autorität einer bedeutenden Person
oder Organisation damit in Frage gestellt wird, wie z.B. die 2005 in einer
dänischen Zeitung erschienen Mohammed-Karikaturen. (vgl.
Informationsplattform Religion, 2006)
Hannah Arendt geht in „Macht und Gewalt“ (2009) auf die „biologische“
Rechtfertigung von Gewalt ein, die im Jahre 1969 wohl eine gängige Ansicht
war. Sie kritisiert diese Meinung besonders, wenn damit der Missbrauch von
Gewalt im Rahmen von Politik rechtfertigt werden sollte.
„Im Haushalt der Natur sind Geburt und Tod, Neuschöpfung und Vernichtung
nur Stadien desselben lebendigen Prozesses, die bruchlos ineinander
übergehen. Zudem vollzieht sich dieser Prozess in Form eines Kampfes ums
Dasein, der zwischen den Gattungen des organischen Lebens unablässlich
ausgefochten wird. Ganz abgesehen also von der großen Faszination, die
kollektiver Gewalttätigkeit ohnehin innewohnt, erscheint hier die Gewalt als eine
ebenso natürliche Grundbedingung für den kollektiven Lebensprozess der
Menschheit wie der Kampf ums Dasein und der gewaltsame Tod im Tierreich.“
(vgl. Arendt, 2009, S. 75)
Dass dem tatsächlich nicht so ist, fasst Joachim Bauer, Neurobiologe, Arzt und
Psychotherapeut, knapp vierzig Jahre später in „Prinzip Menschlichkeit –
Warum wir von Natur aus kooperieren“ (2009) zusammen. Die aktuellen
Forschungsergebnisse aus Psychologie und Biologie zeigen, dass der Mensch
nicht primär auf Egoismus und Konkurrenz, d.h. Kampf, eingestellt ist, sondern
sein menschliches Tun auf Zuwendung und Wertschätzung im Rahmen eines
gelingenden Miteinanders ausgerichtet ist. „Aggression ist weder eine
Bestimmung des Menschen noch sein Schicksal.“ (Bauer, 2009, S. 95)
In der Einleitung erwähnte ich Reemtsmas Studie zu Gewalt (2009), aus der
hervorgeht, dass Gewaltanwendung schon immer zur Spezies Mensch gehört
hat. Auch hier lässt sich nachlesen, dass unabhängig von der geschichtlichen
Epoche Gewalt immer funktionell eingesetzt wurde und somit ein Ziel hatte.
Gerade das mag das Dilemma unserer Moderne sein: Wir sind, wie Bauer zeigt,
an die Grenzen der biologischen Rechtfertigung gestoßen. Statt uns aber damit
auseinanderzusetzen tabuisieren wir stattdessen Gewalt und kommen doch
nicht ohne Legitimationsmuster für ihren Einsatz aus. „Modern ist jene Gewalt
stets gerechtfertigt, die man als eine ausweist, die Gewalt beendet oder
schlimmere Gewalt verhindert, und wo Gewalt ausgeübt wird, muss sie so
gerechtfertigt werden.“ (Reemtsma, 2009, S. 265) Aber auch dieses
Legitimationsmuster der Moderne für Gewalt ändert nichts an Arendts Warnung
davor, Gewalt grundsätzlich zu legitimieren, d.h. sie als essentielle
Grundbedingung menschlichen Lebens zu akzeptieren. Im Gegenteil, der Fakt
der Rechtfertigung bestätigt wieder den funktionellen Charakter von Gewalt
nach Arendt.
Für Hannah Arendt sind Macht und Gewalt nicht nur zwei verschiedene Dinge,
sondern Gegensätze: „wo die eine absolut herrscht, ist die andere nicht
vorhanden“ (Arendt, 2009, S. 57) Wenn man aber z.B. an Staatsmacht denkt,
ist eine Vorstellung ohne Gehorsam und Befehl mit der Konsequenz der Gewalt
schwer vorstellbar. Dadurch, dass Gewalt bis heute als letztes Mittel der Innen-
und Außenpolitik eingeplant und als Schutz gedacht ist, scheint Gewalt
geradezu eine Notwendigkeit für Macht zu sein, bzw. es wird sogar immer
wieder versucht, Gewalt durch Macht zu legitimieren. Folglich wäre Macht nur
die äußere Hülle für Gewalt. Dass dem nicht so ist, erklärt Arendt am Beispiel
„Revolution“. Für sie ist Revolution in Form eines tatsächlichen dauerhaften
politischen Umsturzes nicht das Ergebnis des möglicherweise vorausgehenden
bewaffneten Aufstands, denn die Bewaffnung kann niedergeworfen werden,
oder aber die Waffen wechseln nur den Besitzer. Ob Befehle dagegen
langfristig konsequent ausgeführt werden, hängt nach ihrer Theorie mit der
Macht, d.h. den dahinter stehenden Stimmen, hinter der Gewalt zusammen.
(vgl. Arendt, 2009, S. 48 ff.)
Der hervorstechendste Unterschied zwischen Macht und Gewalt ist für Arendt
die Ab- bzw. Unabhängigkeit von Zahlen. Macht ist angewiesen auf Menschen,
die hinter ihr stehen. Zum Beispiel kann eine reine Demokratie im
ursprünglichen Sinn, in der die Mehrheit herrscht, problemlos Minderheiten
unterdrücken und Stimmen einschränken, ohne dabei gewaltsam vorgehen zu
müssen. Ebenso kann unkontrollierte, uneingeschränkte Macht zum
Meinungslenker verkommen, was nicht weniger übel ist als gewaltsames
Beugen. Der Extremfall der Macht wäre damit: Alle gegen einen. (vgl. Arendt,
2009, S. 43)
„Es hat nie einen Staat gegeben, der sich ausschließlich nur auf Gewaltmittel
hätte stützen können. Selbst die totale Herrschaft, (...) bedarf einer Machtbasis
(...). Selbst das despotischste System (...) beruhte nicht auf der Überlegenheit
der Gewaltmittel als solchen, sondern auf der überlegenen Organisation der
Sklavenhalter, die miteinander solidarisch waren, also auf Macht.“ (Arendt,
2009, S. 51)
Das ist ein sehr entscheidender Punkt, finde ich. Egal für welche Art von
Instrumenten sich das regierende System entscheidet, es muss sicherstellen,
dass die unterstützende Anhängerschaft groß genug ist, es zu stützen und zu
tragen. Arendt führt als Beispiel an, dass die Behauptung unzutreffend sei, eine
Handvoll unbewaffneter Radikaler könne genug Druck ausüben, der zum
vorzeitigen Ende einer gut besuchten Vorlesung führen würde. Tatsächlich aber
ist die Mehrheit im Vorlesungssaal entweder nicht im Stande, ihre Macht zu
gebrauchen, oder sie ist bereits die heimliche Verbündete der Störer. (vgl.
Arendt, 2009, S. 43/44) Ersteres halte ich für viel gefährlicher, denn ein
unabsichtliches Nicht-Handeln weckt den Eindruck für die Störenfriede, sie
würden unterstützt ,oder aber, wenn niemand den Dialog sucht, fühlen sie sich
ungesehen und müssen aus ihrer Sicht „schärfere Geschütze“ auffahren, um
gesehen zu werden. Wie wichtig das Sehen und Gesehen werden für das
politische Handeln ist, soll gleich im Folgenden erläutert werden.
Ich glaube, die Szene erst nach der Lektüre von „Vita activa“ (Arendt, 2007)
richtig verstanden zu haben. Wie schon unter „Freiheit“ erwähnt (vgl. 2.1), ist
die Fähigkeit des Menschen, frei und spontan zu handeln, für Hannah Arendt
essentiell und einzigartig:
„Handelnd und sprechend offenbaren die Menschen jeweils, wer sie sind,
zeigen aktiv die personale Einzigartigkeit ihres Wesens, treten gleichsam auf
die Bühne der Welt, auf der sie vorher nicht so sichtbar waren , solange
nämlich, als ohne ihr eigenes Zutun nur die einmalige Gestalt ihres Körpers und
der nicht weniger einmalige Klang der Stimme in Erscheinung treten.“ (vgl.
Arendt, 2007, S. 219)
Deshalb ist auch der Roman für mich so spannend: Er beschreibt, was passiert,
wenn kein Mensch mehr politisch handelt, d.h. wenn jeder nur noch mit sich
selbst beschäftigt ist, denkt und herstellt, aber nicht mehr durch sein Handeln
sichtbar wird: Er wird blind.
3 Macht und Gewalt – Szenen (wie) aus einem Roman
Eigene Schwäche und Gewalt sind gleichermaßen gefährlich. (Lec, 2007, S. 386)
Anschließend folgen die Regeln für die Internierten: Das Licht bleibt immer
eingeschaltet, die Schalter würden auch gar nicht funktionieren, bei Verlassen
des Gebäudes folgt der Tod, das Telefon darf ausschließlich zur Anforderung für
Drogerieartikel benutzt werden, Wäsche muss von Hand gewaschen werden,
es empfiehlt sich die Wahl eines Verantwortlichen pro Schlafsaal, dreimal pro
Tag würde Nahrung geliefert, deren Reste im Innenhof verbrannt werden
müssen. Egal ob Brand, Krankheit, Tumult, die Internierten sind auf sich gestellt
und müssen bei Todesfällen die Leichen selbst begraben. „Die Regierung und
die Nation erwarten, dass jeder seine Pflicht erfüllt.“ (Saramago, 2009, S. 61)
Als ich das las, wurde ich sofort an die Konzentrationslager der Nazis erinnert.
Es ist eine wirklich paradoxe Intervention, Menschen ohne ihre Einwilligung von
anderen zu trennen und ihnen dabei gleichzeitig zu unterstellen, dass sie bei
dieser Handlung quasi freiwillig mitwirken, aus Solidarität gegenüber der
Gemeinschaft. Wirkliche Solidarität setzt aber einen Raum voraus, in dem
vorher unter Gleichen gesprochen und gehandelt werden konnte, einen
politischen Raum, wo Beschlüsse nicht von oben angewiesen, im Gegenteil,
durch Miteinander-Sprechen und Sich-Überzeugen gemeinschaftlich gefasst
würden. (vgl. Arendt, 1993, S. 59)
Außer dem Verlust der Freiheit, auf den in der nächsten Sequenz noch tiefer
eingegangen wird, hebt sich für mich aus der oben stehenden Szene in aller
Deutlichkeit das aktive Nehmen der Würde durch die Internierung hervor. Durch
die Art und Weise, wie mit den Menschen verfahren wird, wird ihnen
unmissverständlich klar gemacht: Sie haben nicht mehr die gleichen Rechte der
Menschen „da draußen“, aber sie sind abhängig von ihnen: Ihre Würde ist
angetastet.
Unter „Würde“ wurde erklärt, dass mit einer Internierung der Verlust der Würde
einhergeht (vgl. 2.2). Die abtransportierten Menschen verlieren Heimat und die
damit verbundene Sicherheit, man sagt umgangssprachlich „den Boden unter
den Füßen verlieren“. Genau das passiert: Menschen werden innerhalb
Ihresgleichen im eigenen Land gegen die Welt der anderen, im Roman die Welt
der – noch – Sehenden, wie in ein Vakuum gesteckt. Durch die Abschottung
entsteht eine eigenartige Irrealität und Unfassbarkeit der Situation. Genau das
beschreibt Arendt in ihrer Abhandlung über die Konzentrationslager der NS.
Und ähnlich den echten Zeugnissen von Überlebenden aus
Konzentrationslagern schreibt Saramago für den Roman die Szenen so
nüchtern nieder, dass sie manchmal fast surreal anmuten, unfassbar für
Außenstehende. (vgl. Arendt, 1986, S. 676 ff.)
Mit dem Verlust der Heimat verlieren die Internierten ihre Rechte und damit
auch ihre Würde. In der oben stehenden Szene kann man lesen, wie rechtlose
Menschen auf Nahrungsverwertung und Hygienebedürfnis reduziert werden, sie
werden getrennt von „Person“ und „Charakter“, wie Arendt es treffend
formuliert. (vgl. 1986, S. 680) Sie sieht die Essenz der Grausamkeit einer
Internierung darin, „dass die Insassen, selbst wenn sie zufällig am Leben
bleiben, von der Welt der Lebenden wirksamer abgeschnitten sind, als wenn
sie gestorben wären, (...)“ (Arendt, 1986, S. 682) So wird die juristische Person
jedes Internierten für zunichte erklärt, perfide wird eine sog. „Schutzhaft“
vorgeschoben und den Nicht-Handelnden zum Schein als
„Präventivmaßnahme“verordnet. Alleiniges Ziel der Maßnahme ist, die
Menschen ihrer Handlungsfähigkeit zu berauben. (vgl. Arendt, 1986, S. 687)
Sie können danach weder ihre Rechte einklagen, noch jemanden in der
Außenwelt auf sich aufmerksam machen, der für sie politisch handeln, d.h.
auch in der Öffentlichkeit sichtbar Verantwortung übernehmen würde. Damit ist
ihre Würde nicht nur angetastet, im diesem Moment ist sie verloren.
Hier stehen sich ein Soldat, mit einem Befehl im Kopf und einem Instrument der
Gewalt in der Hand, und ein Arzt, mit seiner persönlichen Verantwortung zu
handeln, gegenüber. Ich sehe den Versuch des Arztes nicht als Resultat der
Tatkraft seiner Güte an (vgl. Arendt, 2007, S. 220), auch nicht als Arbeit für den
Selbstzweck, ich unterstelle, dass er trotz der unheilvollen Situation noch davon
ausgeht, einen gewissen freien Spielraum zu freien – politischen -
(Ver-)Handlungen zu haben. Der Arzt versuchte deshalb, durch Sprechen
sichtbar zu werden und zu handeln. In der Folge seiner Situation als Internierter
wurde er dann nicht nur in Form der Anrede durch den Soldaten „mein kleiner
Blindgänger“ gedemütigt. Viel tiefgreifender musste er erfahren, dass Nicht-
handeln-Können und Nicht-Freisein einher gehen, dass er also in seiner ganzen
Person unfrei war. Und das, obwohl er die Willensfreiheit hatte, zu dem
Soldaten zu gehen und zu reden. An diesem Beispiel wird deutlich, dass
politische Freiheit nicht mit persönlicher körperlicher oder mentaler Freiheit
gleichzusetzen ist. Die wahre Freiheit ist, wie Arendt vertritt, die politische und
kann nur gelebt werden, wenn ihr Raum gegeben wird, in dem das Handeln und
seine Auswirkungen sichtbar werden können. Weder der gute Wille des Arztes,
noch die Befehlsgewalt des Soldaten, mit der er sich durchsetzt und andere
zwingt, haben etwas mit wahrer Freiheit zu tun. (vgl. Arendt, 1994, S. 216) Wie
frei ist also der Mensch, wenn ihm das politische Handeln untersagt wird?
Es drängt sich jetzt die Frage auf, warum die Blinden nicht endlich protestieren,
und warum sie sich bereits zu Anfang so schicksalshaft gefügt haben. In der
Beschreibung über die Konzentrationslager schreibt Arendt, dass in den Lagern
Menschen versammelt werden, die in den Augen der Außenwelt nur noch
„sind“, d.h. ein Merkmal haben, das sie in Bezug auf die „anderen“ - „Guten“
oder „Normalen“ - in ihrem Dasein als Mensch disqualifiziert, wie im Beispiel
des Romans durch die Behinderung des Nicht-Sehens. (vgl. Arendt, 1986, S.
687) Das ist der Moment, in dem die Menschen – die Blinden – bereits von sich
selbst glauben, ihre Handlungsfähigkeit oder die Berechtigung auf volle
Handlungsfähigkeit verloren zu haben. Anstoß dazu ist auch die schweigende
Billigung der – noch – sehenden Bevölkerung, die vielleicht von der ersten
Deportation überrumpelt gewesen sein könnte, doch danach anscheinend
nichts dagegen unternahm. Die Internierten sitzen fest, heimatlos, rechtlos,
wirtschaftlich scheinbar überflüssig - sonst würde jemand in der Außenwelt
protestieren -, und wahrscheinlich sozial unerwünscht, sonst hätte auch jemand
opponiert. So bekommen die Blinden bestätigt, dass sie in diesem Vakuum des
Lagers kein Recht mehr besitzen, auf das sie sich oder irgendjemand anders
für sie berufen könnte. (vgl. Arendt, 1986, S. 686/687)
Dann ertönt aus dem Lautsprecher die Durchsage, dass das Essen am Eingang
abgeholt werden kann. Gleichzeitig wird die Warnung ausgesprochen, wer dem
Tor zu nahe käme, würde nur einmal verwarnt, beim zweiten Mal erschossen.
Man kann sich die Angst vorstellen, mit der sich die Blinden langsam, eine
Kette bildend, in die Richtung bewegen, in der sie das Essen vermuten.
Gleichzeitig werden die Soldaten unruhig, warum das so lange dauern würde.
Endlich stößt ein Blinder gegen eine Essenskiste, die anderen stürzen sich im
wahrsten Sinn des Wortes blind darauf, ein Tumult entsteht. (vgl. Saramago,
2009, S. 126 ff.)
„(...), einige Blinde hatten das Durcheinander genutzt und sich mit ein paar
Kisten davongemacht, so viele sie transportieren konnten, das war natürlich
unlauter, da mögliche Ungerechtigkeiten bei der Verteilung gerade verhindert
werden sollten. Die Gutmütigen, und es gibt immer welche, protestierten
empört, dass man so nicht weitermachen könne, Wo kommen wir denn da hin,
wenn wir einander nicht vertrauen können, fragten die einen, rhetorisch, wenn
auch mit vollem Recht, diese Halunken wollen wohl eine anständige Tracht
Prügel, drohten andere.“ (Saramago, 2009, S. 131)
Die Internierten sind sich jetzt bewusst, dass es nur noch um die Sicherung
ihrer persönlichen Existenz geht. Blind einander gegenüber sind sie nicht weiter
in der Lage, ihre eigene Person sichtbar werden zu lassen, noch, die anderen
zu sehen. Alles Tun dreht sich um die Nahrungssicherung, d.h. es ist
zweckgebunden, kein freies Handeln, sondern nur eine Art Arbeit zum Zweck
des Überlebens.
Laut Arendt tritt so eine Situation ein, wenn die ursprüngliche Gemeinschaft
angeschlagen ist oder sich für eine Zeitlang verläuft. Die Menschen können
dann nur noch für- oder gegeneinander operieren, wie im Fall des Krieges oder
im Beispiel der Internierung in der „Stadt der Blinden“. Alles Tun ist nur noch auf
den Zweck ausgerichtet, für sich selbst oder gegen den Feind etwas zu
unternehmen. So wird das Sprechen zum „bloßen Gerede“, wie der erste Dialog
oben zeigt, denn hier geht es nur um das Ziel, das eigene Leben zu sichern.
(vgl. Arendt, 2007, S. 219 ff.) Das Gesagte bleibt nichts sagend und ohne
Konsequenzen.
Die Lage scheint ausweglos für die Entrechteten und ihrer Handlungsfähigkeit
Beraubten: Innerhalb dieses Raums, der ihnen zugewiesen wurde, ist es egal,
ob und was sie sprechen, sagen, reden, tun: Alles bleibt anonym. Arendt
formuliert es so, dass eine Existenz, ohne zu sprechen und zu handeln, kein
Leben mehr darstellen würde, es wäre hingegen ein „in die Länge eines
Menschenlebens gezogenes Sterben“ . Dieses Leben wäre nicht mehr für die
äußere Welt wahrnehmbar, es könnte allenfalls als ein Prozess des
Dahinscheidens bemerkbar werden. Dadurch, dass aufgrund des
Eingeschlossenseins der Entrechteten aus der Anonymität nichts mehr in die
Welt nach außen dringen kann, wüssten die Menschen im Außen von ihnen
nicht mehr, als man von Fremden wüsste, wenn sie unbekannter Weise
sterben. (vgl. Arendt, 2007, S. 215) Die Blinden sind also im übertragenen Sinn
lebendig begraben. Scheinbar endgültig ging das Merkmal des Menschen
verloren, sich in seiner Einzigartigkeit offenbaren zu können, sich zu zeigen,
durch Sprechen sichtbar zu werden. (vgl. Arendt, 2007, S. 222)
Ich möchte an dieser Stelle kurz rekapitulieren: Die Blinden haben sich nicht
freiwillig in diese Lage begeben, sie sind umstandshalber per Sanktion
gezwungen worden, sich in eine dauerisolierende Quarantäne zu begeben. Mit
unterstellter Solidarität haben sie sich nicht gewehrt, sondern schicksalshaft
gefügt. Sie haben ihre Heimat aufgegeben und sich in einem zugewiesenen
Raum einquartieren lassen, ähnlich wie Vertriebene oder Flüchtlinge, die sich
als „notwendiges Übel“ in die Abhängigkeit anderer begeben in der Hoffnung
auf Hilfe, bzw. in der Romansituation mit der Aussicht auf Heilung und Rückkehr
in die Gemeinschaft. Jetzt befinden sich die Blinden in einer rechtlosen Zone,
unsichtbar, anonym, und des wirksamen Sprechens und ihrer
Handlungsfähigkeit beraubt. Was bleibt, ist der menschliche Überlebenswille.
Unter den neu Internierten befand sich ein Mann mit einer Waffe, der
zusammen mit einigen anderen das Essen in Beschlag nahm. Diese Handlung
wurde, wie alle räumlichen, hygienischen und sozialen Zustände im Lager, von
den wachhabenden Soldaten ignoriert. Anschließend forderte der Bewaffnete
die Blinden auf, ihm das Essen mit ihren Wertsachen zu bezahlen.
„Am Ende wurden drei Kästen auf das Bett gestellt, Nehmen sie das mit, sagte
der mit der Pistole. Der Arzt zählte, Drei sind nicht genug, wir haben vier
Kästen erhalten, als das Essen nur für uns war, im selben Augenblick spürte er
den kalten Lauf der Pistole im Nacken, für einen Blinden war das nicht schlecht
gezielt, Ich werde jedesmal, wenn du reklamierst, einen Kasten wegnehmen
lassen, und jetzt hau ab, nimm die hier mit, und danke Gott, dass du überhaupt
noch zu essen kriegst.“ (Saramago, 2009, S. 181)
Die Situation ändert sich für die Rechtlosen, als jemand auftaucht, der sich nicht
für lebendig begraben hält, sondern mit der Waffe in der Hand eine Gruppe um
sich schart und sein eigenes Gesetz kreiert. Nach Arendts Meinung gehörten
Verbrecher eigentlich nicht in (Konzentrations)Lager (vgl. Arendt, 1986, S. 689),
und für den Roman lässt sich spekulieren, ob es Absicht oder Zufall der
Entscheidungsträger war, einen Bewaffneten, möglicherweise Verbrecher, ins
Lager zu lassen – oder gar einzuschleusen? Der Handlung nach zu urteilen,
ging der Mann jedenfalls mit einer anderen Intention in die Quarantäne. Es gibt
dazu eine Studie, die Arendt anführt, dass sich die Internierung auf die
Persönlichkeit von Verbrechern und politisch Gefangenen nicht so zerstörerisch
auswirkt, wie auf die Disposition von unschuldig dem Schicksal Ausgelieferten.
Die Begründung in der Studie ist, Verbrecher und, subjektiv gesehen, auch
politische Häftlinge wüssten, warum sie von der Gemeinschaft ausgeschlossen
wurden. Deshalb gelingt die Zermürbung der juristischen Person nicht
vollständig. (vgl. Arendt, 1986, S. 688/698) Ich kann mir vorstellen, dass sich
das insofern auf deren psychischen Zustand auswirkt, weil auf sie ein Gesetz
angewandt wurde, d.h. sie waren nicht rechtlos – hätten sie sich anders
verhalten, wäre eine Inhaftierung vermeidbar gewesen. Die Rechtlosen aber
hätten nichts verhindern können, da kein Recht besteht, das auf sie angewandt
hätte werden können.
Der Bewaffnete nutzt jetzt also die Situation zu seiner persönlichen Gunst und
droht mit Gewaltanwendung, wenn jemand seine Regeln nicht akzeptiert, d.h.
er manifestiert hiermit einen Herrschaftsanspruch. Nach Arendt könnte man die
Situation so interpretieren: Die Akzeptanz und das gemeinschaftliche
Gedankengut bei den blinden Internierten vorausgesetzt, Macht und Gewalt
gehöre zusammen, hat die Gruppe um den Bewaffneten die Herrschaft an sich
gerissen, indem sie sich auf die Mittel der Gewalt verlassen hat. Arendt sagt
dazu, dass diese Art von Herrschaft sich für den Eroberer leicht errichten und
durchsetzen lässt, wenn die eroberte Gruppe ohnmächtig und nicht an Freiheit
gewöhnt ist, dann ist sie weder in der Lage, eine politische Macht zu bilden,
noch sie zu nutzen. (vgl. Arendt, 2009, S. 53/54) Das war in diesem Fall sehr
einfach, denn, als die Blinden noch mit dem Zurechtkommen in der rechtlosen –
unfreien - Lage nach außen kämpften, waren sie viel zu überrumpelt, als dass
sie sich postwendend im neu gebildeten Innen als Gemeinschaft mit politisch
handlungsfähiger Macht formieren hätten können. Die Macht der Blinden war
vorhanden, denn unter dem Begriff Macht wurde definiert, dass sie automatisch
entsteht, wenn sich eine Gruppe zusammenschließt. (vgl. 2.3) Aber diese
Macht muss realisiert werden, d.h. man braucht die Voraussetzungen zum
politischen Handeln. (vgl. 2.5)
Es wurde bereits gesagt, dass Macht von Zahlen abhängt, Gewalt nicht. So ist
ein Mann mit einer Waffe in der Lage, eine ganze Gruppe von Menschen zu
dirigieren, auch wenn diese über eine gut organisierte Struktur verfügen. (vgl.
2.4) In der oben stehenden Szene hat aber nicht nur ein Mann die Blinden in
Schach gehalten, sondern es waren mehrere Personen. Arendt stellt fest, dass
die „eigentlich faszinierenden und gefährlichen Gesichter“ der Gewalttätigkeit
erst beim Einsatz gemeinschaftlich verübter Gewalt erscheinen. Der Bewaffnete
hat in dem Beispiel auch Verbündete, Kameraden, eine Bruderschaft, die mit
ihm gemeinsame Sache machen. (vgl. Arendt, 2009, S. 67/68) Jeder dieser
Mittäter muss dazu die Verbundenheit zu den Restlichen der blinden
Gemeinschaft aufgeben, mit dem Vorteil, an der Beute beteiligt zu werden, mit
dem Nachteil, ab jetzt an die kleine Gruppe Krimineller gebunden zu sein.
Arendt bezieht sich bei ihren Ausführungen zum Phänomen „Brüderlichkeit“ auf
Frantz Fanon, einen Psychiater und den sog. Vordenker der Entkolonialsierung.
Es geht dabei um die Verbrüderung im Rahmen von todbringenden Situationen
wie auf dem Schlachtfeld oder vielleicht auch in solchen Lagern. Die Erklärung
dafür ist folgende: In dem Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit ist der Mensch
ohnmächtig und verlassen, weil er realisiert, dass er mit dem Tod die
Gemeinschaft verlässt und in die Unsichtbarkeit verschwindet. So rückt der
Überlebenswille ins Zentrum des Menschen, und sein Bedürfnis, politisch zu
handeln, wird in dem Moment unwichtig. (vgl. Arendt, 2009, S. 67/68) Die
Theorie ist sehr psychologisch und bezieht sich damit auf den „privaten“
Menschen, dennoch ist sie ein Puzzleteilchen auf der Suche nach Erklärung,
auch für Hannah Arendt.
Interessant ist aber der Gedanke, wie sich das mit der Brüderlichkeit verhält,
wenn sich die äußeren Bedingungen wieder geändert haben. Das scheint mir
wie die Gefahr eines Kartells zu sein, die ich unter der Eigenschaft „Stärke“
schilderte (vgl. 2.3). Arendt schreibt: „(...); der Starke ist nie am mächtigsten
allein, weil auch der Stärkste Macht nicht besitzt.“ (Arendt, 2009, S. 45) Stärke
lädt zwar ein, sich mit ihr zu verbinden, aber sie bleibt immer nur die
Eigenschaft des Individuums, sie teilt sich nicht auf und man kann sie nicht auf
andere übertragen. So schart sich vielleicht das Grüppchen Krimineller um den
Bewaffneten zusammen, aber möglicherweise ist das nur eine Art
zweckgebundene strukturelle Koppelung oder eine Symbiose auf Zeit. (vgl.
Maturana/Varela, 1984, S 85 ff.) Nach Arendt entsteht Brüderlichkeit im
Rahmen gemeinsam erlebter oder ausgeübter Gewalttätigkeiten, die aber
vergänglich ist, wenn das die Prämisse für das Entstehen der Bruderschaft war.
Doch im Roman geht es zunächst noch weiter mit dem Ringen um Herrschaft
mit Gewalt und vermeintlicher Macht.
„Man fand keine großartigen Reichtümer mehr, aber es wurden immer noch
einige Uhren und Ringe gefunden, mehr bei Männern als bei Frauen. Was die
Strafen der internen Gerechtigkeit anging, kam es nur zu ein paar Rempeleien,
ein paar schwachen, schlecht gezielten Hieben, und dann hörte man
Beschimpfungen, (...). Nach einer Woche ließen die niederträchtigen Blinden
ausrichten, dass sie Frauen wollten. Einfach so, Bringt uns Frauen. (...) Wenn
ihr uns keine Frauen bringt, gibt es kein Essen.“ (Saramago, 2009, S. 203/204,
204/205)
Dennoch wird für die Gruppe die Möglichkeit, den Druck über Bezahlung des
Essens aufrecht zu erhalten, im Laufe der Zeit geringer, da sich der Vorrat an
Wertsachen der Blinden erschöpft. Jetzt steht die Gruppe vor dem Problem,
weiter zu herrschen. Dadurch, dass sie von Anfang an Macht durch Gewalt
ersetzt hat, und das bisschen Macht, nämlich das Einverständnis der Blinden,
für die Nahrung zu bezahlen, sich aus physikalischen Gründen dem Ende
zuneigt, braucht sie ein neues Mittel, um die Blinden gefügig zu halten. So
bleibt der Gruppe als letzte Repressalie für die Erhaltung der Herrschaft die
körperliche Unterwerfung der Frauen, wenn man von Mord absieht. Bei Arendt
findet man, dass immer dann pure Gewalt ausgeübt wird, wenn Macht gänzlich
verloren ist. (vgl. Arendt, 2009, S. 54/55)
Im Romanbeispiel wird erzählt, dass die Blinden durch die Verzweiflung über
ihre Ohnmacht untereinander gewaltbereiter werden. Arendt vertritt eine
differenzierte Sicht zu der Aussage, dass es die Ohnmacht ist, die Gewalt
provoziere. Sie bejaht es mit dem Hinweis auf die Korrektheit aus
psychologischer Sicht, wie es sich auch im Roman zeigt, wenn die Blinden sich
gegenseitig etwas antun: „ Was die Strafen der internen Gerechtigkeit anging,
kam es nur zu ein paar Rempeleien, ein paar schwachen, schlecht gezielten
Hieben, und dann hörte man Beschimpfungen...“ (s.o.) Ich füge ergänzend
hinzu, dass es sich dann auch um eine andere Form und ein geringeres
Ausmaß der Gewalt handelt, wie man an diesem Beispiel erkennen kann.
Politisch gesehen ist für Arendt allein die Tatsache ausschlaggebend, dass
schon der Verlust von Macht zu Gewalt führen kann, wenn dahinter die
Annahme steht, dass Gewalt Macht ersetzen könne. Das Ziel einer
Gewaltherrschaft ist die sukzessive Entmachtung der Beherrschten, bis die
Organisation einer Opposition ausgeschlossen ist. In dem Moment entsteht der
Terror, unter dem die totale Herrschaft möglich wird. (vgl. Arendt, 2009, S. 55
ff.)
„Wo aber sich Gewalt, die eigentlich ein Phänomen des Einzelnen oder der
Wenigen ist, mit Macht, die nur zwischen vielen möglich ist, verbindet, entsteht
eine ungeheuere Steigerung des Gewaltpotentials, das seinerseits zwar durch
die Macht eines organisierten Raumes veranlasst worden ist, dann aber, wie
jedes Gewaltpotential, auf Kosten der Macht anwächst und sich entfaltet.“ (vgl.
Arendt, 1993, S. 73)
Mit anderen Worten, die Gewalt war für den Bewaffneten das Mittel, um sich die
Herrschaft zu sichern. Die Gruppe unterstützte ihn dabei und wurde ihrerseits
gewalttätig. Je mehr Gewaltanwendung sie aber benötigten, desto geringer
wurde auf der anderen Seite ihre Macht. Wie unter 3.4 beschrieben war die
einzige Macht, die sie hatten, das Einverständnis der Blinden, für das Essen zu
bezahlen. Dieses Einverständnis wurde im Laufe der Zeit geringer, was an der
zunehmenden Verweigerungshaltung der Blinden zu erkennen ist. So kam es
zum Einsatz vermehrter Gewalt, deren Ausübung nicht mehr innerhalb der
Gruppe blieb, sondern sich auf die Unterdrückten übertrug: Die Gewalt
eskalierte.
Der Anführer der Gruppe war jetzt tot. Danach hatten die Blinden Ruhe vor der
Gruppe, aber auch kein Essen. Die Lage spitzte sich zu, nachdem auch von der
Außenwelt aus noch unbekannten Gründen kein Nachschub an Nahrung mehr
im Lager ankam. Vor Hunger verzweifelt, formierte sich ein Trupp Blinder
gerüstet mit den Eisenstangen aus Betten zu einem Kampf, dessen Ziel die
Eroberung der Lebensmittelvorräte der Gruppe war. (vgl. Saramago, 2009, S.
231 ff.)
„Die Blinden drangen vorwärts wie Erzengel, die von ihrem eigenen
Heiligenschein umgeben sind, schlugen mit ihre Eisenstangen auf das
Hindernis ein wie verabredet, doch die Betten rührten sich nicht, (...) Da
standen sie, die einen schrieen, weil sie angriffen, die anderen, weil sie sich
verteidigten, während die draußen aus Verzweiflung, weil sie es nicht geschafft
hatten, die Betten beiseite zu schieben, die Eisenstäbe auf den Boden warfen
und alle auf einmal, zumindest jene, die sich durch die Türfüllung drängen
konnten, und die, die nicht mehr hindurch passten, von hinten schoben und
schoben, (...)“ (Saramago, 2009, S. 252)
Es war eine Kraft, die mit der Tat freigesetzt wurde, wenn man die Folgen im
Roman betrachtet (vgl. 2.3). Aber es war auch ein brutaler Akt der Gewalt, als
der Anführer der Gruppe ermordet wurde. Bei Arendt kann man lesen, dass die
akute Gewalt in der Größenordnung rational ist, als sie dazu dient, einen Sinn
zu erfüllen, der gerechtfertigt ist. Das hört sich oberflächlich nach dem
Sprichwort an „Der Zweck heiligt die Mittel“. Doch das soll damit nicht
ausgedrückt werden, denn in seiner Bedeutung hieße das für den politischen
Einsatz von Gewalt, dass man nur gut genug argumentieren müsste, um
Gewalt als Mittel jederzeit einsetzen zu dürfen.
Interessant ist im Zusammenhang mit der Eskalation der Gewalt noch folgende
Szene im Roman, als derjenige, der die Pistole des toten Anführers an sich
genommen hatte, versuchte, die eindringenden Blinden zurückzuhalten:
„(...), denn nach dem tragischen Tod des ersten Anführers hatten Disziplin und
Gehorsam im Saal nachgelassen, der blinde Buchhalter hatte einen großen
Fehler gemacht, als er glaubte, er bräuchte sich bloß der Pistole zu
bemächtigen, und mit ihr hätte er die Macht in der Tasche, genau das Gegenteil
war der Fall, jedesmal, wenn er feuerte, ging der Schuss nach hinten los, mit
anderen Worten, mit jeder verschossenen Kugel verlor er ein Stück seiner
Autorität, (...)“ (Saramago, 2009, S. 256)
Der blinde Buchhalter hat vor dem Gebrauch der Waffe die Autorität (vgl. 2.3)
innerhalb der Gruppe, aber auch der Blinden genossen, weil er von Geburt an,
also „echt“ blind war und sich deshalb anders unter den Blinden bewegen
konnte, und weil er als Buchhalter die rechte Hand des Anführers gewesen war.
Doch der Anführer war jetzt tot und die Autorität kraft seiner Behinderung
reichte nicht mehr, um die hungrigen Blinden davon abzuhalten, die
Essensvorräte der Gruppe zu plündern. (vgl. Saramago, 2009, S. 256 ff.)
Nach der Plünderung kam es zu einem weiteren Akt der Gewalt, der nicht von
mehreren ausging, sondern wieder, wie die Ermordung des Anführers, von
einer Einzelperson. Was weder der Attentäter des Bewaffneten noch einer der
anderen aufständischen Blinden absehen konnte, war die Tat einer einzelnen
Blinden, die nach dem durch die Schüsse niedergeschlagenen Tumult im
Zimmer der verbrecherischen Gruppe Feuer legte. (vgl. Saramago, 2009, S.
258 ff.) Hier ist die enorme Gefahr des allseits wachsenden Gewaltpotentials
deutlich zu sehen: Nicht nur, dass Menschen sich zu gewalttätigen Gruppen
formieren, es fühlen sich auch Einzelne zu Gewalttaten animiert, ohne dass sie
diese und die Folgen für die anderen mit ihnen besprechen. Im Roman
ermöglichte zwar die Brandstiftung den Blinden, endlich dem Lager und seinen
Zuständen zu entkommen. Es hätte aber auch anders ausgehen können, weil
keiner von der drohenden Gefahr wusste.
Auch wenn die Blinden jetzt aus dem Lager fliehen konnten, waren sie immer
noch blind, d.h. bei der Metapher für die Handlungsunfähigkeit bleibend, sie
konnten sich immer noch nicht im freien Raum organisieren und politisch
handeln.
4 Verantwortung - Schlüssel zur Macht
Niemals kann die Welt jenen vergeben, die nichts verschuldet haben. (Lec, 2007, S 83)
Der Dialog zwischen dem blinden Arzt und seiner Frau, die als einzige noch
sehen kann, veranschaulicht das Dilemma der Entscheidung, politisch handelnd
einzugreifen.
Die Schwierigkeit, die mit der Tat des Handelns verbunden ist, wurde schon
unter „Eskalation der Gewalt“ angesprochen. (vgl. 3.6) Es geht um die
Unwiderruflichkeit von Handlungen und ihre unabsehbaren Folgen. In „Vita
activa“ (2007) schreibt Hannah Arendt, dass die Unfähigkeit, Ergebnis und
Abschluss einer Handlung zuverlässig vorherzusagen, in der Tatsache der
unendlichen Reaktionen auf eine einzige Aktion liegt. Eine simple Tat kann
einen Prozess in Gang setzen, deren Folgen bis ans Ende der Menschheit
dauern. (vgl. Arendt, 2007, S. 297) Man kann es sich auch wie den Fall einer
Kette von Dominosteinen vorstellen: Ist der erste Impuls richtig gesetzt, fällt die
ganze Kette bis zum Ende, manchmal steht aber auch ein Stein nicht richtig,
dann hört der Fall auf, bis ein neuer Impuls auf einen der stehenden Steine
wirkt.
Der Mann rät seiner Frau ab, die Last der Unwiderruflichkeit und
Unvorhersehbarkeit für kommende Handlungen zu übernehmen. Er sieht die
Übernahme der Verantwortung für den privaten Bereich der Blinden im
Vordergrund, indem er aufführt, was alles von seiner Frau gefordert werden
könnte. Die Frau dagegen sieht ihre Aufgabe im öffentlichen Bereich, wo sie für
Gerechtigkeit sorgen wollte und dafür, dass die Gewalt unter den Menschen ein
Ende nähme. Ich vermute, dass der Arzt durch seine Blindheit, die im
übertragenen Sinn auch für seine Unfreiheit in Bezug auf sein Handeln in der
Öffentlichkeit steht, die Differenzierung der Angelegenheiten in öffentliche und
private gar nicht mehr vollziehen kann. Arendt bezieht das - politische - Handeln
aber ausschließlich auf den öffentlichen Bereich wie die Frau des Arztes im
Roman. Die Philosophin stellt sich die Dauerhaftigkeit einer Handlung als
Wurzel menschlichen Stolzes vor, sobald jemand den Mut hat, die Bürde der
Irreversibilität von Handlungen zu tragen. Sie hält diese Endgültigkeit für ein
menschliches Faktum, das es im Rahmen unseres Menschseins zu akzeptieren
gilt. Die Endgültigkeit von öffentlichen Handlungen beinhaltet, dass eine lange
Voraussicht durch den Menschen nicht möglich ist, und er deshalb die Schuld
für die Folgen seines Tuns auf sich nehmen muss, auch wenn er die Folgen
niemals beabsichtigte. Zur Endgültigkeit gehört die Unerschöpflichkeit an
Reaktionen, die die Tat auslösen kann, sowie dass der übergreifende Sinn der
Handlung erst durch die nachträgliche Interpretation im Kontext der
Weltgeschichte entstehen kann. Gerade weil dies so ist, folgert Arendt, wendet
sich der Mensch von der Gabe des politischen Handelns ab und lebt lieber in
Unfreiheit als vermeintliches Opfer menschlicher Angelegenheiten, als selbst
zum Schöpfer und Täter in der Geschichte des Menschen zu werden. Wie
schade für den Menschen, denn weder in der Arbeit für die Notwendigkeiten
zum Leben noch im Herstellen, egal wie dauerhaft das Erzeugte auch sein
mag, kann die Freiheit erfahren werden, die das politische Handeln mit sich
bringt. (vgl. Arendt, 2007, S. 297/298)
Im Gespräch zwischen der Arztfrau und ihrem Mann klingt von seiner Seite die
Unfreiheit an, die mit ihrem Handeln verbunden sein könnte. (vgl. 2.1) Er
misstraut dem Freiheitsgedanken, der für seine Frau scheinbar möglich ist, er
befürchtet, dass darin die Crux eines absehbaren Abhängigkeitsgefüges lauert,
in dem seine Frau sich selbst und ihre Freiheit verlieren könnte. Für ihn sieht es
so aus, als könne die Frau nur ihre Freiheit bewahren, wenn sie Abstand
zwischen sich und den Blinden hält, wie sich gemeinhin auch „Weise“ ihre
Souveränität erhalten. Diesen Irrtum, wie Arendt es nennt, kann nur denken,
wer Souveränität mit Freiheit gleichsetzt. Sie durchdenkt diese Annahme wie
folgt: Souveränität ist per Definition die absolute Unabhängigkeit und Herrschaft
über sich selbst. Der Mensch lebt aber naturbedingt in der Pluralität, schon
allein aufgrund der Tatsache, dass immer gleichzeitig auch andere Menschen
den Planeten Erde bevölkern. Selbst als Eremit muss man mit der Tatsache
leben, dass irgendwo anders ein Mensch wohnt, dessen Handlungen
möglicherweise Konsequenzen für einen selbst haben. Diese Gegebenheit
berührt noch nicht den Fakt, dass wir Menschen in bestimmten Situationen von
einander abhängig sind, weil wir als Einzelne nur über begrenzte Kraft
verfügen, was im Rahmen der Souveränität als „Schwäche“ ausgelegt wird,
weshalb es gilt, diese zu kompensieren. So wird man aber kaum zur
souveränen Herrschaft über sich allein kommen, bleibt doch die
Angewiesenheit auf andere, die einen dann möglicherweise mehr zur Willkür
über andere neigen lässt, um die Herrschaft – über sich selbst – zu sichern.
Den einzigen Ausweg aus diesem Dilemma bietet für Arendt die Lebensweise
der Stoiker – oder aber, ein handelnder Mensch zu werden. (vgl. Arendt, 2007,
S. 298/299)
Ich möchte noch auf den letzten Satz der oben zitierten Romanszene eingehen:
„Kämpfen war immer mehr oder weniger eine Form der Blindheit“ , sagte der
Arzt zu seiner Frau. Übertrage ich das auf Arendts Theorie über Macht und
Gewalt, folgere ich, dass Kämpfen als Form der Gewaltanwendung eine Art des
Nicht-Handelns ist, was im Roman zur gänzlichen Blindheit führte (vgl. 2.5).
Oder anders ausgedrückt, Gewalt als Handlung soll Macht ersetzen, was nur
unter Blinden funktioniert, d.h. unter Menschen, die nicht handeln und keine
Verantwortung übernehmen wollen.
„Revolutionen bleiben aus, weil niemand daran denkt, die Macht zu ergreifen
und damit die Verantwortung zu übernehmen.“ (Arendt, 2009, S. 51)
Nur in diesem Punkt bin ich anderer Ansicht als Arendt. In meinen Augen
verhält es sich eher umgekehrt: Ich meine, es wird wohl daran gedacht, Macht
zu ergreifen, aber man scheut sich, die Verantwortung zu übernehmen, bzw.
kaum einer hat den Willen und den Mut dazu. Wie der Arzt im Roman, malen
sich die Menschen aus, was passieren könnte, wenn man Verantwortung
übernehmen würde. Aber Macht und Verantwortung bedingen einander schon
deshalb, weil, wie oben gesagt, der handelnde Mensch Verantwortung für alle
Folgen seines Handelns selbst übernehmen muss, auch für die, die er weder
beabsichtigte noch absehen konnte.
Mit den Worten „Ich kann noch sehen“ macht die Frau des Arztes einen Anfang,
um Verantwortung zu übernehmen. In „Was ist Politik?“ (1993) beschreibt
Arendt die Fähigkeit des „Anfangenkönnens“ als das Wunder allen Lebens. Sie
begreift hier Wunder nicht aus Sicht der Religion als unfassbares Phänomen
innerhalb unserer Wirklichkeit, sondern als die Tatsache des Entstehens
unseres Universums unter dem Gesichtspunkt der Wahrscheinlichkeit für
universale Vorgänge: eine „unendliche Unwahrscheinlichkeit“ (Arendt, 1993, S.
32). Aus dem gleichen Blickwinkel betrachtet sie die Entwicklung körperlichen
Lebens und die daraus hervorgehende Spezies Mensch. Mit jedem Vorgang
beim Entstehen unseres Universums entstand etwas Neues, das sich
unvorhergesehen, ungeplant und während des Entstehungsprozesses nicht
erklärbar, wie ein Wunder in die bestehenden Verläufe einfügte. Vom
Standpunkt der bis dahin entstandenen und laufenden Prozesse sind alle
Anfänge ihrer Natur nach Wunder, die die vorhandene Ereigniskette
unterbrechen. (vgl. Arendt, 1993, S. 32/33) Arendt hält fest, dass von allen
Lebewesen nur der Mensch in der Lage wäre, seine Fähigkeit des
Anfangenkönnens geistig zu realisieren, und in der Folge auch die Gabe
besäße, einen Anfang zu machen und Verantwortung zu übernehmen.
Dieses Wunder des Anfangenkönnens ist für Arendt untrennbar verbunden mit
der Freiheit zu handeln. Ihre Begründung dafür liegt in der Qualität des
Handelns, das ohne die Fähigkeit des Loslassens der Initiative nie einen
Prozess in Gang setzen könnte. Und wirklich loslassen kann man wiederum
nur, wenn man frei ist, so dass sich an dieser Stelle die Gedankenkette zu eben
der Freiheit erschließt, die nur im Handeln erfahrbar ist. (vgl. 2.1)
Die Frau des Arztes sagt zum Schluss der oben zitierten Romanstelle: „...und
heute habe ich die Verantwortung“ . Im vorangegangen Unterkapitel wurde
bereits die Unwiderruflichkeit von Handlungen und die damit einhergehende
Notwendigkeit der Übernahme von Verantwortung auch für Unabsehbares
angesprochen. Die Schwierigkeit, unter diesen Umständen Verantwortung zu
übernehmen, wenn man sich entschließt zu handeln, wird für Arendt durch zwei
Fähigkeiten gemeistert, welche heißen „verzeihen“ und „versprechen“. Wären
die Menschen nicht fähig, einander zu vergeben, würde sich die Fähigkeit zu
handeln nur auf eine Tat beschränken, während die Folgen den Handelnden bis
zu seinem Tod begleiten würden. Wir würden quasi Opfer der eigenen Tat. Und
ohne Versprechen könnten wir nicht wirklich sichtbar werden, denn wir hätten
die Option, nach einer Tat wieder ins Unsichtbare abzugleiten, uns zu
verstecken, ohne uns der Verantwortung zu stellen. So bedingen beide
Fähigkeiten die Anwesenheit von anderen, die „mit“ sind, um gemeinsam zu
handeln, zu versprechen und zu verzeihen. So wie die Freiheit des Handelns,
die nur mit anderen erlebt werden kann, kann Vergebung und Versprechen nur
in der Gemeinschaft erfahren werden. (vgl. Arendt, 2007, S. 301/302) Ich finde,
der Akt des Versprechens wie der des Verzeihens setzt immer Kräfte frei, die
Energie liefern für die Sache, der sie dienen. (vgl. 2.3) Für mich liegt auch in
dem Satz der Arztfrau ein Versprechen, wenn sie sagt: „...und heute habe ich
die Verantwortung (...) Augen zu haben, wenn die anderen sie verloren haben.“
(s.o.)
Für den ersten Moment des Handelns ist die Arztfrau noch alleine, was aber
kein Hindernis darstellt, denn das Anfangenkönnen ist eine Fähigkeit des
einzelnen Menschen. Was sie jetzt noch braucht, ist eine Bühne zur Realisation
der Initiative, und die existiert nur im Bezug auf die Welt sowie die Anwesenheit
und die Partizipation von anderen. (vgl. Arendt, 1994, S. 224)
Maturana und Varela, die beiden Neurobiologen, sagen, dass die sich selbst
erzeugende Organisation (Autopoiese) ein Charakteristikum allen Lebens ist.
(vgl. Maturana/Varela, 1987) Dass Menschen sich im Zusammenleben
organisieren, ist längst durch Systemtheorien bestätigt. Verbunden mit diesen
beiden Punkten und Arendts Aussage, 'Macht entsteht dort, wo Menschen
zusammenkommen', ergibt die Äußerung der Arztfrau: „...sich organisieren
heisst in gewisser Weise schon, Augen zu haben“, einen Sinn. Sobald
Menschen sich organisieren, haben sie kraft ihrer Gabe, einen Anfang zu
machen und zu handeln, die Möglichkeit, nicht mehr blind durchs Leben zu
gehen, sondern aktiv im Licht der Öffentlichkeit sichtbar zu werden. (vgl. 2.5.)
Die Frau des Arztes sagt außerdem: „Wir können dem Tod nicht entgehen, aber
wenigstens sollten wir nicht blind sein.“ Warum meint sie, dass der Mensch der
Notwendigkeit unterliegt, Verantwortung für sein Schicksal zu übernehmen? Bei
Arendt finde ich eine Antwort in „Vita activa“ (2007). Sie schreibt, wenn es
Realität wäre, dass geschichtliche Verläufe unabwendbar determiniert wären,
müsste die Folge der Untergang von allem sein, was in vergangenen Zeitaltern
getan wurde. Für bestimmte Punkte träfe das zu, wenn man die
Angelegenheiten der Menschen sich selbst überlässt und davon absieht,
einzugreifen. Dann sind sie in ihren Existenznöten gefangen, in den
Notwendigkeiten des Alltags, und vergessen oder nehmen nicht wahr, dass sie
die Fähigkeit haben zu handeln. Ohne die Gaben des Anfangenkönnens, des
Loslassens und des Eingreifens in Prozesse wäre der Mensch dazu verdammt,
alles so besondere Menschliche ständig in den Untergang zu führen und zu
zerstören. Und gegen eben diese permanent drohende Gefahr gibt es nur die
sich aus der Fähigkeit zu handeln ergebende Verantwortung für die Welt.
Verantwortlichkeit für eine Welt, in der Menschen zwar dem Kreislauf des
Geborenwerdens und Sterbens bzw. des Neuanfangs und des Loslassens
ausgesetzt sind, in der sie aber während ihres eigenen Lebensprozesses
Neues anfangen können. Abgesehen von dem „Wunder“, dass wir geboren
werden, wird mit uns die Kraft, die Energie, für einen Neuanfang geboren, den
wir handelnd verwirklichen können. (vgl. Arendt, 2007, S. 315 ff.)
Den Abschluss des oben zitierten Dialogs bilden die Worte der Arztfrau und
einer weiteren Blinden auf die Hoffnungslosigkeit bzw. das Misstrauen des
Arztes, dass die Blindheit echt sei: „ Ich bin nicht sicher, sagte seine Frau, Ich
auch nicht, sagte die junge Frau mit der dunklen Brille.“ Die beiden Frauen
räumen damit die Möglichkeit eines Neuanfangs ein, sie glauben an das
Wunder des Anfangenkönnens, wie Arendt es ausdrückt. Und damit ist die Frau
des Arztes auch nicht mehr alleine, sie hat die Bühne der Öffentlichkeit betreten
und tauscht sich auf dieser Ebene „unter Gleichen“ aus. Die Initiation ist
vollzogen.
5 Ausblick
Man kann das „Lied der Freiheit“ nicht auf den Instrumenten der Gewalt spielen.
(Lec, 2007, S. 19)
Vertrauen in die Moderne, darf man das haben, obwohl die gewalttätigen
Studentenunruhen, die Zeit der RAF und die darauf resolute Reaktion der
Regierung nur knapp vierzig Jahre her sind? Kann man das, nachdem immer
wieder kleine gewalttätige Gruppen auffallen, man allgemein von
Politikverdrossenheit und Unzufriedenheit in der Bevölkerung spricht und die
„Einkommensschere“ immer weiter aufgeht? Dennoch ist es verhältnismäßig
ruhig in Deutschland. Reemtsma entwirft dafür das Bild der Moderne über
Gewalt. Es sagt aus, dass in der heutigen Zeit eine Art gemeinschaftliches
Vertrauensmodell existiert, das auf der gegenseitigen Unterstellung basiert, im
zwischenmenschlichen Umgang müsse in der Regel nicht mit gewalttätigen
Übergriffen gerechnet werden. (vgl. Reemtsma, 2009, S. 184)
Wenn Arendt der Meinung ist, Gewalt diene weder dem Fortschritt der
Menschheit noch dem Rad der Zeit oder einer Revolution, aber einräumt, dass
sie ein Mittel ist, Missstände zu dramatisieren und öffentliche Aufmerksamkeit
auf diese lenken, so hat Gewalt in diesem Fall m. E. auch einen
kommunikativen Aspekt. Arendt beschränkt die Instrumente dabei auf eine nicht
körperliche Form der Gewalt, wie lautstarken Protest, sichtbare Unruhen,
publikumswirksame Provokation. Die körperliche, lebensbedrohliche Gewalt
von Menschen untereinander lehnt sie als Mittel vollständig ab. (vgl. Arendt,
2009, S. 78) Wenn sie auch in ihren Werken teilweise unterschiedlicher
Auffassung sind, so sind doch Arendt wie Reemtsma der Meinung, dass wir uns
in unserer Zeit noch nicht völlig gewaltfrei bewegen können und werden.
Vielleicht dürfen und sollten wir uns deshalb auch erlauben, die nicht
körperliche Form der Gewalt, die wir in der Moderne guten Gewissens
legalisiert haben, in Form von Protest und lauter Provokation zu nutzen, um die
Welt zu verändern.
Wie aber soll man mit dem anderen oben beschriebenen Gewaltpotential
umgehen, auf das wir regelmäßig in den Schlagzeilen der Presse aufmerksam
gemacht werden? Auf dem eingangs erwähnten Vortrag von Jan Philipp
Reemtsma hörte ich seinen Vorschlag, wie man dem gegenwärtigen Selbstbild
der Moderne mit seiner Aversion gegen und der parallel dazu stattfindenden
Gewalt begegnen könnte: nämlich mit Angst und Selbstbewusstsein. Die
Anregung lässt sich aus meiner Sicht sehr gut mit Arendts Denkraum vertreten,
weshalb ich sie hier aufnehme. Die Definition des Begriffs „Angst“ besetzt
Reemtsma in Anlehnung an den Philosophen Sartre und differenziert ihn zum
Begriff „Furcht“. Als gedankliche Einheit „Angst“ wird die Angst vor sich selbst
beschrieben, etwas zu tun, das einem selbst oder einem anderen aktiv
Schaden zufügt. Furcht dagegen ist die Vorstellung, dass etwas von außen, aus
der Welt kommend, das eigene Leben verändert, etwas, das man passiv
erleiden muss. Furcht macht handlungsunfähig, Angst aber macht sensibel, die
Fehler der Vergangenheit zu wiederholen, und sie macht vorsichtig in Bezug auf
die Ungewissheiten der Zukunft. (vgl. Reemtsma, 2009, S. 535/536) Diese
Fähigkeit zur Angst gehört eindeutig zu den Fähigkeiten zu handeln und
Verantwortung zu übernehmen und ergänzt somit das Konzept der politischen
Freiheit nach Arendt. Die Ergänzung in der Fähigkeit zur Angst sieht er im
Besitz des Selbstbewusstseins, um nicht in Verzagtheit, handlungshemmender
Analyse und Ironie als Angstbewältigungsstrategie stecken zu bleiben.
Reemtsma versteht darunter das Selbstbewusstsein, das uns eine bewusste
Wahl aus verschiedenen Handlungsmöglichkeiten erlaubt. Das geht bereits
über die Wahlfreiheit zwischen Gut und Böse hinaus. Sein Beispiel dafür ist,
dass dieses Selbstbewusstsein bei Menschen eine Reihe von, vom Tode
bedrohter, Juden verstecken und ihnen damit das Leben retten ließ. Nicht als
Akt eines barmherzigen Samariters und nicht aus privatem Mitleid, nicht aus
einer politischen Haltung, sondern nur aus dem aktiven Bewusstsein heraus:
„Ich gehöre nicht zu den Mördern.“ (vgl. Reemtsma, 2009, S. 536) Das ist
m. E. die Vorstufe zum politischen Handeln, ehe man sich entscheidet,
tatsächlich öffentlich sichtbar Verantwortung zu übernehmen.
Meine Mutmaßung ist, wenn man heute in Deutschland eine Umfrage machen
würde, wie frei sich die Menschen in ihrer Handlungsfähigkeit fühlen, würde
sich unabhängig von Status und Schicht ergeben, dass sich die meisten
Menschen sehr unfrei fühlen. Die Gründe dafür, spekuliere ich, liegen in der
Berufstätigkeit mit sog. steigenden Anforderungen, der Abhängigkeit von
Finanzierungen, Haushaltsführung, Reparaturen und Konsum. Auf der anderen
Seite haben, neben den Belgiern, die Deutschen lt. OECD-Studie aus dem Jahr
2009 mehr Freizeit als die Bewohner anderer Industrieländer. (vgl.
SourceOECD, Zugriff 20.02.10) Es bleibt demzufolge nach Sicherung der
Existenz den Menschen in Deutschland Freizeit übrig, die zum Fernsehen oder
für andere Hobbys genutzt wird. Diese freie Zeit könnte man theoretisch aber
auch nutzen, um frei zu handeln.
Vor kurzem hatte ich im Bekanntenkreis eine Diskussion, in der es um die
„Macht“ eines „unfairen“ Arbeitgebers ging. Meine Diskussionspartner, zwei
Menschen ohne Kinder, d.h. ohne Verantwortung für abhängige Minderjährige,
konnten sich nicht damit anfreunden, kein Haus abzubezahlen, in eine
Wohnung umzuziehen, einen anderen Job anzunehmen, also die Folgen einer
möglichen Handlung gegen den Arbeitgeber in Kauf zu nehmen, so dass sie
auch nicht die Freiheit ihres Handlungsspektrums erkennen konnten. Nach
meiner Einschätzung bleibe ich unfrei, solange ich nur den
Verhandlungsspielraum und die Verantwortung im Rahmen des Privaten sehe,
d.h. das Abhängigkeitsverhältnis von und die Angewiesenheit auf den
Verhandlungspartner. Sobald ich mich aber sichtbar auf eine Augenhöhe mit
dem Gesprächspartner begeben kann, meine Meinung gemeinsam mit anderen
artikuliere und mein wirtschaftlicher Hintergrund mich die Folgen in Kauf
nehmen lässt, bin ich frei. An diesem Punkt habe ich zwar noch keine Macht,
aber ich bin frei, sichtbar zu werden und zu handeln. Die Voraussetzung für die
sich anschließende Entwicklung eines Machtpotentials ist der
Zusammenschluss in einer Gruppe Gleichgesinnter, die als Einzelne genauso
öffentlich sind, wie man es selbst ist. Wie im Roman an der Arztfrau zu
erkennen, ist der erste Schritt die Initiative zum Sichtbarwerden und der zweite,
eine verwandte Seele zu finden, damit aus der Initiative ein Prozess entstehen
kann. (vgl. 4.3) Natürlich lässt sich das nicht für jeden im gleichen Ausmaß
verwirklichen, wenn man z.B. Kinder hat, steht die Existenzsicherung erhöht im
Vordergrund. Dennoch meine ich, dass es eine Art Bequemlichkeit sowie ein
Drücken vor der Verantwortung ist, den Lebensstandard zulasten der
politischen Freiheit zu halten, und dass das genau die Blindheit ist, von der
Saramago in „Die Stadt der Blinden“ erzählt.
Ich vermute, das o.g. Beispiel der persönlichen, und damit privaten,
Abhängigkeit und das Verbleiben in der Komfortzone ist kein Einzelfall, sondern
eine normale traditionelle postantike Anschauung, durch die der Mensch
hierzulande geprägt ist. Daraus folgere ich, dem Menschen muss das politische
Handeln gar nicht untersagt werden, es bedarf zum einen nur der Priorität, die
persönliche Willensfreiheit als die maßgebliche anzuschauen. (vgl. 2.1.) Zum
Anderen braucht das politische Handeln nur verschwiegen und in Erziehung
und Bildung nicht erwähnt zu werden, dann kommt auch keiner auf die Idee,
einen Anfang zu machen im Sinne von politischem Initiieren. Auch Hannah
Arendt war schon 1968 der Meinung, dass man die Kinder, die Bürger von
morgen, in Wahrheit von Politik ausschließt. (vgl. Arendt, 1994, S. 258) Daran
hat sich bis heute nichts geändert, finde ich. Es wird weitergegeben, was wir
selbst gelernt haben: Wir haben einen freien Willen, um zwischen Bioobst und
gespritzten Lebensmitteln zu wählen, wir haben einen freien Willen, um zu
entscheiden, ob wir in der Kindererziehung Gewalt anwenden oder nicht, wir
können den Beruf und den Bundeskanzler wählen. Aber was ist schon die
körperliche Freiheit, den Stift zu führen und ein Kreuz zu setzen oder eine
Bewerbung auf dem Computer schreiben zu können, gegen die politische
Freiheit zu handeln?
Ich habe mich immer gewundert, warum „Second Life“, die virtuelle 3D-Welt, so
eine große Fangemeinde hat, ebenso, warum so viele Menschen Plattformen
wie „Facebook“ etc. nutzen. Meine These nach dieser Arbeit ist: Einer der
Gründe für die Nutzung dieser Instrumente liegt in der Tatsache, dass man hier
halbanonym sichtbar in einem virtuellen öffentlichen Raum werden kann.
Halbanonym deshalb, weil man sich einen Spitznamen gibt und mit diesem
öffentlich wird. In diesem Raum kann man frei handeln, im Sinne von frei
sprechen. Internet-Communities bieten quasi eine „virtuelle Polis“, einen Raum
unter Gleichen. Daraus folgere ich aber auch, dass doch etwas vermisst wird,
wenn die Arbeit beendet, der Lebensunterhalt gesichert, der
Herstellungsprozess abgeschlossen ist. Und vielleicht ist das, was vermisst
wird, die wahre Handlungsfreiheit, die man im virtuellen Raum sucht. So
politikverdrossen sind die Menschen also gar nicht, sie wurden nur nicht
gebildet, wie sie ihre Freiheit leben und nutzen können.
Angenommen, die Bildung über die politische Freiheit des Handelns in Sinne
Arendts wäre vorhanden, wie steht es aber um den Willen, Verantwortung zu
übernehmen, und die Fähigkeit zu versprechen und zu verzeihen?
Während ich diese Arbeit schrieb, sorgte die „Kundus-Affäre“ fast täglich für
Schlagzeilen. (vgl. sueddeutsche.de, Zugriff 21.02.10) Es ist ein Beispiel dafür,
wie man traditionell mit Verantwortung umgeht.
An dieser Stelle möchte ich auf die Einleitung zurückkommen und damit auf den
Zeitgeist, der zu den Studentenunruhen und zur RAF Ende der 60-er Jahre
geführt hat. Es ging auch hier um das Fehlen der Übernahme von
Verantwortung und das Fehlen, Rede und Antwort zu stehen. Der Unterschied
zu damals besteht nur darin, dass heute ein Minister Rede und Antwort vor
einem Untersuchungsausschuss stehen muss. Aber vorher, so bekommen wir
es als Bevölkerung mit, wird der Sachverhalt vertuscht, beschönigt, als ob wir
allesamt keine mündigen Bürger wären.
Und noch während ich diese Zeilen schreibe, höre ich im Radio die Meldung
über eine Bischöfin, die deutlich über Maß alkoholisiert eine rote Ampel
überfahren hat, weshalb bereits die Forderung nach ihren Rücktritt im Raum
steht. Natürlich wird auch gemeldet, dass sie Menschen hat, die hinter ihr
stehen, aber es ist typisch für unsere Zeit, dass, ohne von der betreffenden
Person eine öffentliche Stellungnahme gehört zu haben, bereits der Ruf nach
Rücktritt erschallt. Wie Konstantin Wecker es so schön formuliert: „...zuerst
einen neuen und dann abschaffen...“.
6 Fazit
Um an die Quelle zu kommen, muss man gegen den Strom schwimmen.
(Lec, 2007, S. 82)
Zweitens: Wir brauchen neue Vorbilder für wahres Versprechen und Verzeihen,
damit eine Grundlage zur Übernahme von Verantwortung im Rahmen von
politischem Handeln geschaffen wird. Für mich gehört das wahrhafte, ernst
gemeinte Versprechen ebenso wie die Fähigkeit zum Verzeihen, und dazu, sich
verzeihen zu lassen, zur Integrität einer öffentlichen Person. Nur das verstehe
ich persönlich unter dem Begriff „Integrität“. Die für Integrität stehenden
Synonyme „Unbescholtenheit“ und „Redlichkeit“ beinhalten m. E. den
öffentlichen Anspruch auf die Ehrlichkeit einer in und für die Öffentlichkeit
stehenden Person. Dies wiederum ist Voraussetzung, um ihrem Versprechen
Glauben zu schenken, sowie um ihr zu verzeihen. Ehrliches Verzeihen durch
die Öffentlichkeit ist nur dann möglich, wenn sie, die Öffentlichkeit, die
persönliche Wahrheit des Betreffenden kennt. Zum Thema „Wahrheit und
Politik“ findet man bei Hannah Arendt, dass ein – politisch - Handelnder in dem
Moment darauf verzichten muss, unliebsamen Tatsachen Gehör zu verschaffen,
sobald er sein Wissen und seine Informationen den Interessen bzw. den
Machtformationen der Gruppe unterordnet, der er angehört. Damit wird aber
sein künftiges Handeln und Sprechen unglaubwürdig. (vgl. Arendt, 1994, S.
353) Nachdem folglich die Glaubwürdigkeit eines öffentlich Sprechenden von
seiner Unabhängigkeit und seiner Integrität abhängt, sowie das Sprechen selbst
bereits zum politischen Handeln zählt (vgl. 2.5), ist Wahrheit immer dann
unverzichtbar, wenn man öffentlich wahre Versprechen geben und wahrhaft
Verzeihung erfahren will.
Arendt, Hannah (2007) Vita activa oder Vom tätigen Leben. München: Piper
Bauer, Joachim (2009) Prinzip Menschlichkeit – Warum wir von Natur aus
kooperieren. München: Heyne
Maturana, Humberto R.; Varela, Francisco J. (1987) Der Baum der Erkenntnis –
Die biologischen Wurzeln des Erkennens. München: Goldmann
Meinhof, Ulrike Marie (2008) Die Würde des Menschen ist antastbar – Aufsätze
und Polemiken. Berlin: Wagenbach
Reemtsma, Philipp (2009) Vertrauen und Gewalt – Versuch über eine
besondere Konstellation der Moderne. München: Pantheon
Saramago, José (2008) Die Stadt der Sehenden. Reinbeck bei Hamburg:
Rowohlt
Saramago, José (2009) Die Stadt der Blinden. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt