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Imperien
Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom bis
zu den Vereinigten Staaten
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1. Was ist ein Imperium?
Eine knappe Merkmalsbeschreibung der Imperien
Weltreiche und Großreiche
Imperialer Interventionszwang, Neutralitätsoptionen und
der Melier-Dialog bei Thukydides
Karten
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Danksagung
VORWORT
Seit Mitte des 20. Jahrhunderts hat sich in der deutschen Wissenschaft für
Theorie und Geschichte der Imperien niemand mehr besonders interessiert.
Erst der Zusammenbruch der Sowjetunion hat ein kurzzeitiges Interesse
daran aufleben lassen, getragen freilich von der erleichterten Feststellung,
dass die Geschichte der Imperien, die bis in die Zeit der frühen
Hochkulturen zurückreicht, nunmehr definitiv zu Ende sei. Das hat sich in
den letzten Jahren, als die neue weltpolitische Rolle der USA sichtbar
wurde, schlagartig geändert. Mit einem Mal war vom amerikanischen
Imperium die Rede, und seitdem weist die Kritik am weltpolitischen Agieren
der USA starke antiimperiale Züge auf. Zwar ist den USA schon häufig
Imperialismus vorgeworfen worden – während des Vietnamkriegs etwa,
anlässlich von Militärinterventionen in Lateinamerika oder am Persischen
Golf. Doch solche Vorwürfe richteten sich gegen bestimmte Entscheidungen
und Handlungen der amerikanischen Regierung; die antiimperiale
Grunddisposition richtet sich gegen das Übergewicht und die
Dominanzansprüche der USA als solche. Das ist entschieden mehr.
Ist die Weltgemeinschaft zu ihrer eigenen Sicherheit auf eine imperiale
Vormacht angewiesen? Oder stellt diese imperiale Vormacht eine
gravierende Störung der Weltordnung dar, und es wäre besser, wenn es sie
nicht gäbe? Um diese Frage kreist im Prinzip die Debatte, wie sie im Vorfeld
des jüngsten Golfkrieges geführt worden ist. Tatsächlich hat die in der UNO
versammelte Weltgemeinschaft in den vergangenen Jahren immer wieder
auf die Fähigkeiten der imperialen Vormacht zurückgegriffen. Dass diese
Inanspruchnahme nicht selbstlos war und die USA dafür Sonderrechte
forderten, hat man nicht wahrhaben wollen. Die daraus erwachsenen
Irritationen waren auch eine Folge davon, dass man Funktionen und
Ansprüche eines Imperiums schon lange nicht mehr durchdacht hatte.
Imperien sind mehr als große Staaten; sie bewegen sich in einer ihnen
eigenen Welt. Staaten sind in eine Ordnung eingebunden, die sie
gemeinsam mit anderen Staaten geschaffen haben und über die sie daher
nicht allein verfügen. Imperien dagegen verstehen sich als Schöpfer und
Garanten einer Ordnung, die letztlich von ihnen abhängt und die sie gegen
den Einbruch des Chaos, der für sie eine stete Bedrohung darstellt,
verteidigen müssen. Der Blick in die Geschichte nicht nur der USA, sondern
auch anderer Imperien zeigt, dass sprachliche Wendungen wie die von der
«Achse des Bösen» oder den «Vorposten der Tyrannei» nichts Neues und
Besonderes sind. Vielmehr durchziehen sie die Geschichte der Imperien wie
ein roter Faden.
Das Pendant der Furcht vor dem Einbruch des Chaos und der selbst
gewählten Rolle eines Verteidigers der Ordnung gegen die Unordnung, des
Guten gegen das Böse, in der sich das Imperium sieht und durch die es sich
legitimiert, ist die imperiale Mission, die ebenfalls eine grundlegende
Rechtfertigung der Weltreichsbildung darstellt: Entweder soll die
Zivilisation verbreitet werden, oder es geht um die weltweite Durchsetzung
der sozialistischen Gesellschaftsordnung, den Schutz der Menschenrechte
oder die Förderung der Demokratie. Während Staaten an den Grenzen
anderer Staaten Halt machen und es ihnen selbst überlassen, ihre inneren
Angelegenheiten zu regeln, mischen sich Imperien in die Verhältnisse
anderer ein, um ihrer Mission gerecht zu werden. Deshalb können Imperien
auch sehr viel stärkere Veränderungsprozesse in Gang setzen, während die
Ordnung der Staaten durch einen strukturellen Konservatismus geprägt ist.
Betrachtet man die Dinge unter dieser Perspektive, so steht keineswegs
fest, was unter dem Einfluss der Imperialismustheorien zu einer
Selbstverständlichkeit geworden ist: dass eine globale Ordnung
gleichberechtigter Staaten ohne imperialen Akteur das Wünschens- und
Erstrebenswerte ist. Die politische Ordnung des europäischen Raumes hat
sich nach dem Untergang des Römischen Reiches so entwickelt, dass es
keine dauerhafte und handlungsmächtige imperiale Macht mehr gegeben
hat, wohl aber eine Fülle von Prätendenten auf diese Rolle, die jedoch alle
frühzeitig gescheitert sind. Das ist – abgesehen davon, dass die Europäer in
anderen Kontinenten sehr wohl Großreiche gebildet haben – andernorts
nicht so gewesen. Vor allem in Asien setzte sich eine politische Ordnung
durch, in der Imperien sich mit einem Kranz von Klientelstaaten umgeben
haben. Infolgedessen ist die Ordnung dieser Räume stark zentriert worden,
während in Europa ein vielfältiger Polyzentrismus entstand.
Unser Bild von Imperien ist durch die Vorstellung geprägt, dass die
Peripherie von ihnen ausgesaugt und ausgebeutet werde: Sie verarme, und
das Zentrum werde immer reicher. Tatsächlich hat es solche Imperien stets
gegeben, aber sie waren nur von kurzer Dauer. Nach einiger Zeit nahm der
Widerstand gegen das Zentrum überhand, und die Beherrschungskosten
überstiegen die aus der Peripherie gezogenen Gewinne. Dagegen hatten
diejenigen Imperien eine längere Dauer, die in ihre Randbereiche
investierten und so dafür sorgten, dass die Peripherie schließlich am
Fortbestand des Imperiums ebenso interessiert war wie das Zentrum.
Darum also geht es in diesem Buch: um die Typen imperialer Herrschaft,
die Formen von Expansion und Konsolidierung und um die Medien, in denen
sich die Imperiumsbildung vollzogen hat. Aber das Erkenntnisinteresse
beschränkt sich nicht auf die Unterscheidung von See- und Landimperien,
Handels- und Militärimperien, imperialen Ordnungen, die sich über die
Kontrolle von Räumen entwickeln, und solchen, die im Wesentlichen in der
Kontrolle von Strömen (Menschen, Waren, Kapital) bestehen, sondern zielt
darüber hinaus auf die Rationalität der Akteure, eben auf die Logik der
Weltherrschaft. Es geht auch darum, Prognosen über die Dauer und
Stabilität des amerikanischen Imperiums zu machen und Überlegungen zu
der Frage anzustellen, wie ein Europa beschaffen sein muss, das sich
einerseits als selbständige politische Kraft neben den USA zu behaupten
vermag und andererseits in der Lage ist, seine instabilen und
hereinstürzenden Ränder zu befestigen und positiv auf seine Nachbarn
einzuwirken. Ein solches Europa wird nicht umhin kommen, selbst
imperiale Merkmale zu übernehmen und imperiale Fähigkeiten zu
entwickeln – und wenn man genau hinsieht, hat es damit bereits begonnen.
Die Voraussetzung dafür ist freilich, dass imperiales Agieren nicht von
vornherein als schlecht und verwerflich wahrgenommen, sondern als eine
Form von Problembearbeitung neben der des Staates und anderer
Organisationsformen des Politischen angesehen wird.
Das ist nicht zu verwechseln mit einer Rehabilitierung der alten
Kolonialimperien. Sich aus einem solchen Kolonialimperium in einem
Unabhängigkeitskrieg hinausgekämpft zu haben ist der Gründungsmythos
der USA; eine solche Form der Beherrschung außereuropäischer Räume
einmal ausgeübt und dann hinter sich gelassen zu haben ist das
Selbstverständnis der Europäer. Aber dass das auf Gleichheit und
Reziprozität angelegte Staatenmodell in den nächsten Jahrzehnten in der
Lage sein wird, die erkennbaren Herausforderungen zu bestehen, wird man
eher bezweifeln dürfen. Staatsversagen, insbesondere Staatenzerfall,
provoziert das Eingreifen oder die Entstehung von Imperien.
Dagegen werden viele einwenden, dass die Gegenüberstellung von Staat
und Imperium keine erschöpfende Alternative sei – und ihre
Wunschvorstellungen von guter politischer Ordnung aufzählen. Dabei
werden sie sich immer weiter von dem entfernen, was der Fall ist. Der Blick
auf die Geschichte zeigt, dass sich die Modelle politischer Ordnung letzten
Endes doch zwischen Staat und Imperium erschöpft haben – wenn man
denn beide Begriffe weit und großzügig versteht und nicht für jeden
Spezialfall von Staatlichkeit und Imperialität einen eigenen Oberbegriff
erfindet. Was der Imperiumsbegriff leistet, soll hier ausgelotet werden. Auf
welchen Bahnen Imperien entstanden und wie sie zerfallen sind, soll
dargestellt werden. Wissenschaftlich wird dabei ein Feld betreten, das
lange brachgelegen hat.
Berlin, Februar 2005
1. WAS IST EIN IMPERIUM?
Die Debatten über den letzten Irakkrieg, die möglichen Hintergründe und
verborgenen Ziele des erneuten militärischen Eingreifens der USA in der
ölreichen Golfregion, überhaupt die Rolle der USA am Golf und in
Zentralasien, dazu die tiefen Zerwürfnisse in den transatlantischen
Beziehungen haben in Europa den Blick für die Entstehung einer neuen
Weltordnung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts geschärft. Mit der
notorischen Weigerung der USA, internationalen Vereinbarungen
beizutreten, vom Kyoto-Protokoll bis zum Internationalen Strafgerichtshof
in Den Haag, zeichnete sich eine Neudefinition der amerikanischen Position
in der politischen Ordnung der Welt ab. Es kommt hinzu, dass die
Beziehungen zwischen den USA und der UNO, die in den letzten
Jahrzehnten nie ohne Probleme gewesen sind, grundsätzlich zur Disposition
stehen, nachdem US-Präsident George W. Bush in einem denkwürdigen
Auftritt vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen am
12. September 2002 damit gedroht hat, die USA würden einige der
drängenden sicherheitspolitischen Probleme im Alleingang lösen, wenn die
Weltorganisation sich dazu als unfähig erweise.
Dass dies keine leere Drohung war, hat sich im Frühjahr 2003 mit dem
Dritten Golfkrieg gezeigt. Zwei Interpretationen des neuen Verhältnisses
der USA zum UN-Sicherheitsrat waren möglich: Entweder die USA suchten
ihn als amerikahörigen Legitimationsspender zu instrumentalisieren oder
sie begannen damit, sich aus der notorischen Inanspruchnahme als
militärischer Arm der Weltorganisation zu emanzipieren: Sie stellten ihren
ebenso hoch entwickelten wie teuren Militärapparat nicht länger in den
Dienst der Weltgemeinschaft, sondern setzten ihn gemäß eigener
Interessen und Ziele ein. Die Konflikte im Vorfeld des Irakkriegs waren –
auch – eine Kontroverse über die Frage, wer wen als Instrument benutzen
konnte: die Vereinigten Staaten die Vereinten Nationen oder die Vereinten
Nationen die Vereinigten Staaten. 1
Die europäische Sicherheitsarchitektur, auf die man sich in Deutschland
bis dahin verlassen hatte, schien ebenfalls brüchig geworden. Weitgehend
unbemerkt hatte sich die Nato in den 1990er Jahren aus einem Bündnis auf
konsultativer Grundlage in ein Instrument der USA zur Kontrolle Europas
verwandelt. Und wo es sich für die amerikanische Politik als zu sperrig
erwies, wurde es kurzerhand durch eine coalition of the willing ersetzt. Im
Vergleich zu den Zeiten des Kalten Krieges ist die faktische Abhängigkeit
der Europäer von den USA eher gewachsen als gesunken: Wer bei der
Erfüllung der amerikanischen Vorgaben nicht mitmacht, muss mit
politischem und wirtschaftlichem Druck rechnen oder wird mit höhnischen
Bemerkungen überschüttet. Wer sich hingegen auf Seiten der Amerikaner
engagieren will, kann das jederzeit tun – freilich zu amerikanischen
Bedingungen und ohne Einfluss auf die politischen Grundentscheidungen,
wie selbst Großbritannien, der Hauptverbündete der USA, ein ums andere
Mal feststellen musste. Daran haben die Probleme, in die sich die USA im
Irak verstrickt haben, im Prinzip nichts geändert. Die Ära wechselseitiger
Konsultativverpflichtungen im Nordatlantischen Bündnis ist vorbei, und die
Nato-Osterweiterung erweist sich im Nachhinein als ein Schritt, der den
Einfluss der Verbündeten aus den Zeiten der Ost-West-Konfrontation
deutlich gemindert hat. 2
In dieser Situation mehrten sich die Appelle an die USA, sie sollten sich
mit der Rolle eines wohlwollenden Hegemon begnügen, die sie bislang
innegehabt hätten, und nicht die einer imperialen Macht anstreben. Um
solchen Warnungen Nachdruck zu verleihen, wurde auf die
unkontrollierbaren Risiken von Imperien, auf die Gefahr ihrer Überdehnung
und schließlich auf den unvermeidlichen Zusammenbruch aller bisherigen
Imperien hingewiesen. «Während in der Vergangenheit», so Michael Mann,
ein in den USA lehrender Brite, «die Macht Amerikas hegemonial war, also
in der Regel vom Ausland akzeptiert und häufig als legitim betrachtet
wurde, kommt sie jetzt aus den Gewehrläufen. Das untergräbt die
Hegemonie und den Anspruch, ein ‹wohlwollendes Empire› zu sein.» 3 Wer
versuche, die hegemoniale gegen eine imperiale Position auszutauschen,
riskiere nicht bloß, mit diesem Projekt zu scheitern, sondern laufe Gefahr,
auch die Hegemonie zu verlieren. Hegemonie und Imperium wurden in
zahllosen Varianten gegeneinander ausgespielt, fast immer verbunden mit
dem Hinweis, es sei besser, Hegemon zu bleiben als die imperiale
Herrschaft anzustreben.
Mit einem Mal wurde die Debatte, die als eine über die Interessen und
Absichten der USA in der Golfregion begonnen hatte, mit einer Fülle von
historischen Argumenten und Vergleichen geführt, die allesamt dazu
dienten, das irritierend Neue an der Politik der USA sowie den
weltpolitischen Konstellationen durch Analogien mit früheren
Entwicklungen ins Vertraute und Überschaubare zurückzuholen. Die
Geschichte des Imperium Romanum wurde zur Folie, vor der die Chancen
und Risiken der amerikanischen Politik beurteilt wurden; die Struktur des
British Empire diente als Modell, an dem die imperialen Herausforderungen
und die zu ihrer Bewältigung erforderlichen Fähigkeiten der USA gemessen
wurden; und schließlich wurde der ein gutes Jahrzehnt zurückliegende
Zusammenbruch der Sowjetunion als Beispiel für die Folgen imperialer
Überdehnung bemüht, wie sie auch den USA drohe, wenn sie den
eingeschlagenen Weg fortsetzten. 4 Aber die historischen Verweise und
Beispiele wurden eher assoziativ als systematisch bemüht, und fast
durchweg sollten sie längst zuvor bezogene Positionen stützen. Sie dienten
eher der historischen Illustration von Argumentationen als der empirisch
gehaltvollen Vergewisserung dessen, was wir aus der Geschichte früherer
Weltreichsbildungen lernen können.
Nun ist die Parallelisierung zwischen der amerikanischen und der
römischen Geschichte schon darum nahe liegend, weil sich die USA von
ihrer Gründung an auf die römische Republik berufen und sich selbst in
deren Tradition gestellt haben. 5 Es handelt sich hierbei also um die
kritische Überprüfung einer Parallele, die im Selbstbewusstsein und
Selbstverständnis der amerikanischen politischen Elite von jeher einen
zentralen Platz eingenommen hat. Der Vergleich mit dem Britischen
Weltreich wiederum liegt nahe, weil die USA überall dort, wo sich die Briten
nach dem Zweiten Weltkrieg zurückzogen, deren Nachfolge angetreten und
die vormals britischen Positionen übernommen haben – dazu gehört nicht
zuletzt der Mittlere Osten, der in jüngster Zeit einen Großteil der
politischen Aufmerksamkeit und des militärischen Potenzials der USA
gebunden hat. Der Vergleich mit der Sowjetunion schließlich ist schon
deshalb unvermeidlich, weil die USA und die Sowjetunion über gut vier
Jahrzehnte Konkurrenten um die weltpolitische Vorherrschaft gewesen sind,
bis die Russen unter Gorbatschow – erschöpft von den Rüstungswettläufen
und entkräftet durch die Kosten, die für die Aufrechterhaltung des
Imperiums angefallen waren – aus dem Wettstreit ausgeschieden sind. 6
Für eine fundierte Analyse der Chancen und Risiken des amerikanischen
Empire ist die Vergleichsbasis dieser drei Weltreichsbildungen jedoch zu
schmal. Das Reich der russischen Zaren, das Osmanische und das
Chinesische Reich – die imperiale Macht mit der bei weitem längsten Dauer
– sind auf jeden Fall in eine vergleichende Betrachtung mit einzubeziehen.
Die mongolische Reichsbildung des 13. Jahrhunderts sollte in einer
Untersuchung über imperiale Handlungslogiken und -imperative ebenfalls
nicht übersehen werden. Sie zerfiel zwar rasch wieder, aber ihre territoriale
Ausdehnung machte sie zu einer der größten der Geschichte: Mit einer
Fläche von 25 Millionen Quadratkilometern wurde das Mongolische
Weltreich nur von dem der Briten übertroffen, das auf seinem Höhepunkt
38 Millionen Quadratkilometer umfasste, allerdings auf fünf Kontinente
verteilt, während sich das Mongolenreich als territorial geschlossene
Einheit über fast ganz Eurasien erstreckte. Auf dem Höhepunkt seiner
Machtentfaltung reichte es vom Gelben Meer im Osten bis an die Ränder
der Ostsee im Westen; lediglich Vorder- und Hinterindien sowie West-,
Mittel- und Südeuropa blieben von der mongolischen Besetzung frei. 7 Was
die Antike anbetrifft, so sollten neben dem Römischen Reich auch die
hellenistischen Großreiche im Osten ins Auge gefasst werden, und unter
den seaborn empires ist außer dem britischen und dem spanischen
Weltreich auch das portugiesische zu berücksichtigen, zumal es von den
europäischen Kolonialreichen das erste war und als letztes von der
politischen Landkarte verschwunden ist – seit dem 18. Jahrhundert freilich
eher ein Protegé des Britischen Empire als eine eigenständige politische
Macht. 8
Diese Zusammenstellung zeigt ein grundsätzliches Problem
vergleichender Untersuchungen zur Handlungslogik von Imperien:
Zunächst muss die Frage beantwortet werden, was unter einem Imperium
zu verstehen ist. Man könnte sie auch dahingehend zuspitzen, dass es um
die Differenz zwischen Großreichen und Weltreichen geht. Womöglich ließe
sich leichter eine Antwort darauf finden, wenn es in den vergangenen
Jahrzehnten eine sozialwissenschaftlich ausgerichtete Imperiumsforschung
gegeben hätte, die verlässliche Kriterien für Imperialität entwickelt hätte.
Das ist jedoch nicht der Fall. Zwar sind eine unüberschaubare Fülle
historiographischer Darstellungen zu einzelnen Imperien sowie
bemerkenswerte komparative Arbeiten zum Imperialismus entstanden 9 ,
aber die Frage, was ein Imperium ist und worin es sich von der in Europa
ausgebildeten politischen Ordnung des Territorialstaates unterscheidet, ist
so gut wie unbearbeitet geblieben. Das erklärt auch, warum der
Imperiumsbegriff in der jüngsten Debatte über die US-amerikanische Politik
eine eher beliebige, häufig bloß denunziatorische Bedeutung angenommen
hat. Die Politikwissenschaft hat ihn nicht definitorisch umrissen und
exemplarisch ausgefüllt, sondern der Beliebigkeit des publizistischen
Alltagsbetriebs überlassen.
Was in langfristig angelegter wissenschaftlicher Arbeit nicht geleistet
wurde, kann nicht auf einmal nachgeholt werden. Solange allerdings nicht
klar ist, was Imperien sind und was sie nicht sind, was sie leisten müssen
und worin sie sich von anderen Ordnungsstrukturen des Politischen
unterscheiden, ist es nicht möglich, aus der vergleichenden Betrachtung
von Weltreichsbildungen einen nennenswerten Gewinn für die Analyse der
neuen Weltordnung und die Rolle der USA in ihr zu ziehen. Die
Handlungslogik von Imperien ist nur zu verstehen, wenn annähernd klar ist,
wodurch sich ein Imperium auszeichnet.
Eine knappe Merkmalsbeschreibung der Imperien
Was ein Imperium ist, soll zunächst vorsichtig gegen das konturiert werden,
was es wahrscheinlich nicht ist. Ein Imperium ist erstens zu unterscheiden
von einem Staat, genauer: vom institutionellen Flächenstaat, der gänzlich
anderen Imperativen und Handlungslogiken unterliegt als ein Imperium.
Das beginnt bei der Art der Bevölkerungsintegration im Innern und reicht
bis zur Konzeption dessen, was als Grenze angesehen wird. Die für Staaten
typische Grenzziehung ist scharf und markant; sie bezeichnet den Übergang
von einem Staat zu einem anderen. Solche präzisen Trennungslinien sind im
Falle von Imperien die Ausnahme. Zwar verlieren sich die Grenzen eines
Imperiums heute nicht mehr in der Weite eines Raumes, in dem Stämme
und Nomadenvölker das eine Mal imperialen Vorgaben folgten und sich
ihnen das andere Mal widersetzten, aber auch seit dem Verschwinden der
herrschaftsfreien Räume, in die hinein sich die klassischen Imperien
ausdehnen konnten, sind imperiale von staatlichen Grenzen deutlich
unterschieden.
Imperiale Grenzen trennen keine gleichberechtigten politischen
Einheiten, sondern stellen eher Abstufungen von Macht und Einfluss dar.
Zudem sind sie – im Gegensatz zu staatlichen Grenzen – halbdurchlässig:
Wer in den imperialen Raum will, muss anderen Bedingungen genügen als
der, der ihn verlässt. Das hängt mit der wirtschaftlichen wie kulturellen
Attraktivität von Imperien zusammen; es wollen mehr hinein als heraus, und
das hat Konsequenzen für das Grenzregime. US-Amerikaner reisen und
arbeiten in aller Welt. Wer jedoch nicht die amerikanische
Staatsbürgerschaft besitzt, darf die USA nicht ohne weiteres betreten.
Darin zeigt sich auch ein Statusunterschied: Die an Imperien grenzenden
politischen Gemeinschaften haben nicht dieselbe Dignität wie das
Imperium.
Der Halbdurchlässigkeit imperialer Grenzen entsprechen radikal
verschiedene Interventionsbedingungen. So haben die USA seit dem
Ausgang des 19. Jahrhunderts im mittelamerikanischen und karibischen
Raum immer wieder in die Politik anderer Staaten eingegriffen, ohne damit
rechnen zu müssen, dass diese ihrerseits auf US-amerikanischem
Staatsgebiet intervenierten, weder wirtschaftlich noch politisch und schon
gar nicht militärisch. Vor allem diese Asymmetrie unterscheidet imperiale
von staatlichen Grenzen. Imperien kennen keine Nachbarn, die sie als
Gleiche – und das heißt: als gleichberechtigt – anerkennen; bei Staaten
hingegen ist das die Regel. Mit anderen Worten: Staaten gibt es stets im
Plural, Imperien meist im Singular. Diese tatsächliche oder auch bloß
behauptete Einzigartigkeit der Imperien bleibt nicht ohne Auswirkungen auf
die Art ihrer inneren Integration: Während Staaten nicht zuletzt infolge der
direkten Konkurrenz mit den Nachbarstaaten ihre Bevölkerung
gleichermaßen integrieren – und das heißt vor allem: ihnen gleiche Rechte
gewähren, ob sie nun im Kerngebiet des Staates oder in den Grenzregionen
lebt –, ist dies bei Imperien nicht der Fall: Fast immer gibt es hier ein vom
Zentrum zur Peripherie verlaufendes Integrationsgefälle, dem zumeist eine
abnehmende Rechtsbindung und geringer werdende Möglichkeiten
korrespondieren, die Politik des Zentrums mitzubestimmen. Im Fall der
USA zeigt sich dies an all jenen Gebieten, die unter amerikanischem
Einfluss stehen, aber nicht die Chance hatten, als Bundesstaat in die USA
aufgenommen zu werden. Im karibischen Raum sind einige Beispiele dafür
zu finden.
Imperiale Grenzen können alternativ zu denen von Staaten sein. Die
europäischen Kolonialreiche waren innerhalb Europas durch Staatsgrenzen
getrennt, während sie in Afrika und Asien imperiale Grenzen zu ihren
Nachbarn – meist lockeren Herrschaftsverbünden – hatten. Beide Arten von
Grenzen unterschieden sich deutlich voneinander, und durch sie war
erkennbar, was jenseits ihrer begann: ein Staat oder ein Imperium.
Imperiale können staatliche Grenzen aber auch überlagern und auf diese
Weise verstärken: Zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR
verlief einst eine Staatsgrenze, die gleichzeitig die Außengrenze des
Sowjetimperiums war; erst diese Bündelung hat ihr den eigentümlichen
Charakter verliehen, mit dem sie in die Geschichte eingegangen ist.
Seitdem die gesamte bewohnbare Erdoberfläche politisch in Gestalt von
Staaten geordnet ist, gibt es nur noch ein komplementäres, kein
alternatives Verhältnis mehr zwischen beiden Arten von Grenzen: Imperiale
Strukturen überlagern die Ordnung der Staaten, aber sie stehen nicht mehr
an deren Stelle. Das macht es mitunter so schwer, Imperien zu
identifizieren. Wer Imperialität lediglich als Alternative zu Staatlichkeit
denkt, wird zu dem Ergebnis kommen, dass es heute keine Imperien mehr
gibt. Wer dagegen von einer Überlagerung der Staaten durch imperiale
Strukturen ausgeht, wird auf Macht- und Einflussgefüge stoßen, die nicht
mit der Ordnung der Staaten identisch sind. Dass sich imperiale Strukturen
eher im informalen Bereich ausmachen lassen, ist auch eine Folge der
eigentümlichen Grenzsituation von Imperien. Staatengrenzen stellen häufig
eine Bündelung von politischen und wirtschaftlichen, sprachlichen und
kulturellen Grenzen dar. Das verleiht ihnen ihre Stärke und macht sie
zugleich hart und inflexibel. Imperiale Grenzen dagegen lassen sich als ein
Geflecht beschreiben, in dem politische und wirtschaftliche Grenzziehungen
voneinander getrennt sind, kulturelle Differenzen gestuft werden und
sprachliche ohnehin irrelevant sind. Das nimmt Imperiumsgrenzen an
Formalität und erhöht ihre Flexibilität.
Weiterhin ist das Imperium – zweitens – zu konturieren gegen die
Dominanzstrukturen der Hegemonie, wobei jedoch hinzuzufügen ist, dass
die Übergänge zwischen hegemonialer Vorherrschaft und imperialer
Herrschaft fließend sind. Dennoch ist es sinnvoll, beide voneinander zu
unterscheiden. Hegemonie ist danach Vorherrschaft innerhalb einer Gruppe
formal gleichberechtigter politischer Akteure; Imperialität hingegen löst
diese – zumindest formale – Gleichheit auf und reduziert die Unterlegenen
auf den Status von Klientelstaaten oder Satelliten. Sie stehen in einer mehr
oder weniger erkennbaren Abhängigkeit vom Zentrum.
In den zurückliegenden Jahrzehnten ist die Stellung der Sowjetunion im
Warschauer Pakt und die der USA in der Nato durch die Kontrastierung von
Imperium und Hegemonie beschrieben worden: Die Sowjetunion sei von
Satellitenstaaten umgeben gewesen, deren Bewegungen vom Zentrum
bestimmt wurden 10 , die Nato dagegen galt als ein System prinzipiell
gleicher Alliierter, innerhalb dessen den USA als dem bei weitem größten
und stärksten Partner eine herausgehobene Bedeutung zukam – etwa
dadurch, dass sie grundsätzlich den Oberbefehlshaber der Streitkräfte
stellten, während die anderen Mitgliedsstaaten den Posten des
Generalsekretärs besetzen durften. In der Kontrastierung von Nato und
Warschauer Pakt zeigt sich auch, dass die Unterscheidung zwischen
Hegemonie und Imperium in der Ost-West-Konfrontation politisch-
ideologisch aufgeladen wurde.
Eine andere, aufgrund der großen zeitlichen Distanz politisch eher
unverfängliche Exemplifizierung des Unterschieds zwischen Hegemonie
und Imperium ist die Verwandlung des Delisch-Attischen Seebundes in die
athenische Thalassokratie. Danach handelte es sich bei dem ursprünglichen
Seebund um ein gegen die persische Dominanz an der kleinasiatischen
Westküste und im ägäischen Raum gerichtetes Bündnis, in dem alle Partner
gleiche Rechte besaßen. Freilich leisteten sie von Anfang an sehr
unterschiedliche Beiträge: Manche zahlten nur Geld, andere stellten einige
Schiffe, aber das Hauptkontingent der Kriegsflotte kam stets aus Athen. 11
Die faktische Ungleichheit der Beiträge und Fähigkeiten blieb nicht ohne
Folgen für die innere Verfassung des Bundes, der sich zunehmend aus einer
hegemonía in eine arché verwandelte: Aus der Vorherrschaft wurde
Herrschaft. 12 Athen stellte den Befehlshaber der Streitkräfte und den
Schatzmeister des Bundes, es legte die Höhe der Beiträge fest, dominierte
die Handelsgerichtsbarkeit und setzte durch, dass seine Gewichte und
Maße im gesamten Bundesgebiet verbindlich waren. Obendrein unterhielt
es Garnisonen in den Städten der Bündnispartner und erlangte so Einfluss
auf deren innere Verhältnisse. Schließlich verlegte es die Bundeskasse von
Delos nach Athen, ließ den Treueid nicht länger auf «Athen und seine
Bündner», sondern auf «das Volk von Athen» ablegen und verlagerte die
Entscheidung über Krieg und Frieden von der Bundesversammlung auf die
athenische Volksversammlung. Aus dem Hegemon war ein Despot
geworden, wie die Korinther erklärten, als sie den Lakedämonischen Bund
zum Krieg gegen Athen aufstachelten. 13
Es ist nahe liegend, die Neupositionierung der USA innerhalb «des
Westens» vor dem Hintergrund der Verwandlung des Delisch-Attischen
Seebundes in die athenische Thalassokratie zu beschreiben. Zwar war sie
weder von der räumlichen Ausdehnung noch der zeitlichen Dauer her ein
wirkliches Imperium, aber viele Elemente imperialer Politik sind bei ihr wie
durch ein Brennglas zu beobachten – nicht zuletzt, weil diese Entwicklung
von dem Historiker Thukydides Schule machend beschrieben worden ist.
Deswegen wird nachfolgend immer wieder von der athenischen
Seeherrschaft die Rede sein, auch wenn sie nur eingeschränkt unter dem
Oberbegriff des Imperiums verbucht werden kann.
Schließlich ist das Imperium – drittens – gegen das zu konturieren, was
seit dem 19. Jahrhundert als Imperialismus bezeichnet wird. Die
Unterscheidung zwischen Imperiums- und Imperialismustheorien
ermöglicht es zunächst, die normativ-wertende Perspektive so gut wie aller
Imperialismustheorien zu verlassen und einen stärker deskriptiv-
analytischen Blick auf die Handlungsimperative von Imperien zu werfen.
Obendrein fassen der Imperialismusbegriff sowie die zugehörigen Theorien
die Entstehung von Imperien grundsätzlich als einen vom Zentrum zur
Peripherie hin verlaufenden Prozess, womit eine Einsinnigkeit der
Entwicklungsrichtung unterstellt wird, die bei der Beobachtung realer
Imperien eher hinderlich ist.
Imperialismus heißt, dass es einen Willen zum Imperium gibt;
gleichgültig, ob er aus politischen oder ökonomischen Motiven gespeist
wird – er ist die ausschlaggebende, wenn nicht die einzige Ursache der
Weltreichsbildung. Dagegen steht das bekannte Bonmot des englischen
Historikers John Robert Seeley, der 1883 erklärte, das Britische Empire sei
«in a fit of absence of mind», einem Augenblick der Geistesabwesenheit,
entstanden. 14 Gerade in ihrer strategischen Einseitigkeit – Seeley wollte
damit zu einer bewusst imperialistischen Politik aufrufen, da er befürchtete,
das Britische Weltreich werde sonst zwischen den neuen Großmächten USA
und Russland zerrieben – verweist diese Formulierung darauf, in welchem
Maße die Imperialismustheorien die Zielstrebigkeit und Bewusstheit jener
Akteure überzeichnen, die auf irgendeine Weise in die
Entstehungsgeschichte von Imperien verwickelt waren. Eine grand strategy
hat kaum einer Imperiumsbildung zugrunde gelegen. Die meisten Imperien
verdankten ihre Existenz einem Gemisch von Zufällen und
Einzelentscheidungen, die oftmals auch noch von Personen getroffen
wurden, welche dafür politisch gar nicht legitimiert waren. So gesehen ist
fast jedes von ihnen «in a fit of absence of mind» entstanden.
Der Blick aufs Zentrum, wie er in den Imperialismusvorstellungen
dominiert, muss durch den Blick auf die Peripherie ergänzt werden – auf die
dortigen Machtvakuen und wirtschaftlichen Dynamiken, die
Interventionsbitten der in Regionalkonflikten Unterlegenen und die
Entscheidungen der vor Ort Verantwortlichen. In der Formel vom
«Imperium auf Einladung», die in jüngster Zeit für die Ausdehnung der
amerikanischen Macht- und Einflusssphäre geprägt worden ist 15 , soll vor
allem die Initialfunktion der Peripherie bei der Entstehung von Imperien
zum Ausdruck kommen. Es gibt zweifellos eine imperiale Dynamik, die aus
dem Zentrum zur Peripherie drängt und den eigenen Machtbereich immer
weiter expandiert; daneben ist jedoch ein von der Peripherie ausgehender
Sog zu bemerken, der ebenfalls zur Ausdehnung des Herrschaftsbereiches
führt. Welche von beiden Wirkungen die stärkere ist, kann nur von Fall zu
Fall entschieden werden. Während Imperialismustheorien voraussetzen,
dass die Dynamik des Zentrums maßgeblich sei 16 , wird hier davon
ausgegangen, dass die genauere Beobachtung der Peripherie nicht nur im
Hinblick auf vergangene Imperien bedeutsam ist, sondern auch für die
Analyse der US-Politik in den letzten Jahrzehnten.
Weltreiche und Großreiche
Der Versuch, mit den Mitteln der Kontrastierung gegen andere politische
Ordnungen die Konturen des Phänomens «Imperium» genauer zu
bestimmen, wird in den nachfolgenden Kapiteln weitergeführt. Zuvor sollen
jedoch noch einige heuristische Kriterien festgelegt werden, mit der sich
Weltreiche gegen regionale Reiche oder kurzlebige Imperiumsbildungen
abgrenzen lassen.
Da ist zunächst die zeitliche Dauer eines Imperiums, das mindestens
einen Zyklus des Aufstiegs und Niedergangs durchschritten und einen
neuen angefangen haben muss. 17 Das Kriterium des längeren Bestehens
eines Imperiums wird damit an der institutionellen Reform- und
Regenerationsfähigkeit festgemacht, durch die es sich gegenüber den
charismatischen Qualitäten seines Gründers (oder der Gründergeneration)
verselbständigt. Damit ist klar, dass der napoleonischen Großreichsbildung
im Folgenden keine größere Aufmerksamkeit gewidmet wird, ebenso wenig
wie den noch schneller gescheiterten Vorhaben des italienischen
Faschismus und des deutschen Nationalsozialismus oder dem japanischen
Versuch, eine «Ostasiatische Wohlstandssphäre» aufzubauen.
Schwieriger ist diese Entscheidung im Falle des Wilhelminischen
Kaiserreichs, das – selbst wenn man dessen imperiale Politik nicht mit
seiner Gründung 1871 im Spiegelsaal von Versailles, sondern erst mit der
Entlassung Bismarcks durch Wilhelm II. beginnen lässt – um einiges länger
gedauert hat als die im Wesentlichen auf die Anfangserfolge von Kriegen
beschränkten Imperialprojekte Mussolinis und Hitlers. Wenn man die
Wilhelminische und die nazistische Imperialpolitik schließlich als zwei
aufeinander folgende, nur durch die Niederlage im Ersten Weltkrieg
getrennte Zyklen zusammennimmt, scheint einiges dafür zu sprechen,
Deutschland in die Reihe der Imperien aufzunehmen. Dann hätte obendrein
ein Elitenaustausch stattgefunden, und das genannte Kriterium der
Regeneration wäre erfüllt. Ähnliches ließe sich von der japanischen
Großreichsbildung sagen, falls man deren Anfänge auf den japanisch-
russischen Krieg von 1905 zurückführt. Aber auch dann wird man
einschränkend hinzufügen müssen, dass eine wirkliche Weltreichsbildung in
beiden Fällen erst sehr spät begonnen hat und von relativ kurzer Dauer
war. Obendrein lässt sich aufgrund des frühen Scheiterns von Deutschland
und Japan nicht definitiv klären, ob es dabei um Weltreichs- oder regionale
Großreichsbildung ging. Im Unterschied zu Michael Doyle, der Deutschland
und Frankreich in seiner vergleichenden Analyse der Großreichsbildungen
einen zentralen Platz eingeräumt hat, werden beide hier nur als Beispiele
für failed empires herangezogen. 18
Neben dem Kriterium der zeitlichen ist das der räumlichen Ausdehnung
wichtig: Eine Macht, die nicht über ein beachtliches Herrschaftsgebiet
verfügt, wird man nicht ernstlich als Imperium bezeichnen können. So wäre
die Donaumonarchie von ihrer Dauer her fraglos als eine imperiale Macht
anzusprechen, aber kaum von ihrer räumlichen Ausdehnung her. Es
handelte sich vielmehr um ein mitteleuropäisches Großreich, das im so
genannten Konzert der europäischen Mächte mit Staaten wie Frankreich
auf einer Ebene stand, doch keine Hegemonie innerhalb Gesamteuropas
anstrebte. Seine Vormachtstellung beschränkte sich – selbst zu der Zeit, als
die Habsburger die deutsche Kaiserkrone trugen – auf den
mitteleuropäischen Raum. Eine Ausnahme bildet Kaiser Karl V., der
zugleich König von Spanien und Herr der Niederlande war und über
wesentlich größere Ressourcen als die später in Wien residierenden Kaiser
verfügte. Mit der Trennung der spanischen und der deutschen Linie des
Hauses Habsburg im Jahre 1556 sind die Merkmale der Imperialität auf
Madrid übergegangen. 19 Das berühmte «AEIOU», die Imperialformel
Austriae est imperare in orbe ultimo (auf deutsch: «Alles Erden ist
Oesterreich unterthan»), war danach nur noch eine historische
Reminiszenz. 20
Nun ist das Kriterium der räumlichen Ausdehnung auf
Kontinentalimperien sehr viel leichter anzuwenden als auf Seeimperien,
deren Macht und Einfluss sich weniger in der Zahl der beherrschten
Quadratkilometer manifestiert als in der Kontrolle von Waren-, Kapital- und
Informationsströmen sowie wirtschaftlicher Knotenpunkte. 21
Hochseehäfen und gesicherte Handelsrouten, die ihnen zur Verfügung
stehenden Ressourcen und das Vertrauen der Geschäftspartner in eine
weltweit akzeptierte Währung sind bei Seereichen für die Machtentfaltung
erheblich wichtiger als die physische Kontrolle von Territorien. 22 Auf
diesen zentralen Unterschied imperialer Machtbildung, der im Gegensatz
von Land- und Seeimperien seinen Niederschlag gefunden hat, wird noch
ausführlicher zurückzukommen sein. Hier ist zunächst nur von Interesse,
dass geoökonomische Faktoren nicht als eine von der imperialen
Machtbildung unabhängige Größe anzusehen sind. Die Kontrolle des
Handels kann ebenso eine Quelle imperialer Macht sein wie die
Beherrschung von Gebieten und Räumen. Spanien etwa verfügte am Ende
des 16. Jahrhunderts über keine international bedeutende Handels- und
Bankenstadt. Es war deshalb nicht in der Lage, die europäische
Weltwirtschaft zu kontrollieren, und somit konnte es den Aufstieg Englands
zu einem konkurrierenden, schließlich überlegenen Imperium nicht
verhindern.
Gerade der Blick auf den beginnenden Niedergang Spaniens und den
Aufstieg Englands zeigt aber auch, dass die Kontrolle der Waren- und
Kapitalströme und die Beherrschung von Territorien nicht ohne weiteres
voneinander zu trennen sind: Da Spanien bei dem Versuch scheiterte, die
Herrschaft über die Niederlande zurückzugewinnen, beziehungsweise dort,
wo die Spanier die territoriale Kontrolle wiedererlangten, der Handel zum
Erliegen kam und die Wirtschaftsströme gleichsam einen Bogen um die
spanisch dominierten Gebiete machten, verloren sie die ökonomische
Kontrolle über Europa und damit auch ihre internationale Kreditfähigkeit.
Eine Reihe von Staatsbankrotten war die Folge. Ein Sieg der Armada im
Jahre 1588 und eine Invasion Englands wäre die letzte Chance Spaniens
gewesen, auf dem Umweg über die Beherrschung von Territorien die
Kontrolle über die Wirtschaftsströme zurückzuerlangen. Als dies fehlschlug,
war der Scheitelpunkt der imperialen Machtentfaltung Spaniens
überschritten.
Noch stärker als bei staatlichen sind bei imperialen Machtbildungen
geopolitische und geoökonomische Faktoren ineinander verwoben. Weil sie
immer wieder zusammenwirken, müssen sie auch gemeinsam betrachtet
werden. Dabei können dann kleine Faktoren militärischer Überlegenheit,
wie sie 1588 etwa aus der besseren Metallurgie der Engländer beim Guss
von Kanonen resultierte, den Ausschlag für Aufstieg und Niedergang eines
Imperiums geben. 23 Vor allem aber zeigt das Beispiel, dass sich das
Weltreichskriterium der räumlichen Ausdehnung nicht auf die physische
Kontrolle von Räumen beschränken lässt, sondern auch in deren virtueller
Kontrolle bei der Lenkung von Waren- und Kapitalströmen bestehen kann.
Das Kriterium der räumlichen Ausdehnung ist somit mindestens ebenso
komplex wie das der zeitlichen Dauer.
Das leitet über zu einem der schwierigsten Probleme bei der Bestimmung
von Weltreichen, der Frage nämlich, was unter «Welt» zu verstehen ist. Es
scheint nahe liegend, darunter die Erde in ihren globalen Ausmaßen zu
begreifen. Das hätte zur Folge, dass eigentlich nur die USA, und auch sie
erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, als Weltreich gelten
dürften. Allenfalls wäre ihnen noch das Britische Empire als Vorläufer
hinzuzufügen. Damit wäre einer vergleichenden Betrachtung von
Weltreichen die Grundlage entzogen. Im Prinzip argumentieren jene
Autoren so, die auf der historischen Einzigartigkeit der USA bestehen:
Erstmals sei hier, wenngleich eher mit den Mitteln informeller Dominanz als
denen formaler Herrschaft, eine erdumspannende Macht entstanden –
womit dann jede weitere Beschäftigung mit der Geschichte der Weltreiche
für das Verständnis der gegenwärtigen Lage bedeutungslos wäre. In
gewisser Hinsicht folgen Michael Hardt und Antonio Negri in ihrem Buch
Empire (2002) diesem Argumentationsmodell, wobei das von ihnen
identifizierte neue Empire freilich nicht mit der amerikanischen Macht
deckungsgleich ist; vielmehr hat es sich jenseits politischer Grenzen und
Souveränitäten als neue Netzwerkstruktur formiert.
Nun zeigt allerdings schon ein etwas genauerer Blick auf die Macht der
USA, dass sie nicht nur aus der Beherrschung des Erdraums, sondern
ebenso aus der des Weltraums erwächst. Das bezieht sich auf die
satellitengesteuerten Marschflugkörper, die das US-Militär in die Lage
versetzen, an jedem Ort der Erde militärisch einzugreifen, aber auch auf die
amerikanische Fähigkeit, die Expansionsphantasien und technologischen
Visionen der Menschheit zu bündeln und zu kanalisieren – von der Landung
auf dem Mond über die dauerhafte Stationierung von Menschen in einer
Erdumlaufbahn bis zur Besiedlung des Mars. Der Weltbegriff bekommt
infolgedessen transglobale Züge. 24 Die Transglobalität ist eine wesentliche
Machtressource des amerikanischen Imperiums. Doch das ist kein Grund
dafür, dessen Unvergleichbarkeit mit früheren Imperien zu behaupten.
«Welt» ist eine relative und variable Größe, die nicht durch Invarianten wie
den geographischen Umriss von Kontinenten oder die physischen Ausmaße
des Globus festgelegt werden kann. Die Gestalt der Ökumene wird durch
das jeweilige Blickfeld und den Horizont von Zivilisationen bestimmt, also
eher durch kulturelle und technologische als durch rein geographische
Faktoren. 25 Was «Welt» jeweils ist, hat mit der Ausdehnung von
Handelsbeziehungen, der Dichte von Informationsflüssen, der Ordnung des
Wissens, den nautischen Fähigkeiten und vielem mehr zu tun. So hat sich
der Weltherrschaftsanspruch der Imperien von der Antike bis heute immer
stärker ausgeweitet, und infolgedessen ist inzwischen auf dem Globus
tatsächlich nur noch Platz für ein einziges Imperium – gemäß dem Merkmal,
wonach Imperien auf ihrer Einmaligkeit und Einzigartigkeit bestehen
müssen.
Von der Antike bis in die Neuzeit hinein war Platz für mehrere Imperien,
ohne dass dies deren Anspruch auf Imperialität dementiert hätte. Das
Chinesische und das Römische Reich bestanden über Jahrhunderte als
«Parallelimperien» 26 nebeneinander; ihre Legitimitätsansprüche wurden
dadurch in keiner Weise eingeschränkt. Die von beiden Imperien
beherrschten «Welten» berührten einander nicht. Dagegen stellte die
Koexistenz der byzantinischen mit den karolingischen, ottonischen und
salischen Kaisern deren imperiale Legitimität in Frage: Sie gehörten
derselben «Welt» an, und in der konnte es eigentlich nur einen kaiserlichen
Oberherrn geben. Dementsprechend haben sie einander zumindest auf der
zeremoniellen Ebene den Anspruch auf Ebenbürtigkeit abgestritten. 27
Relativ unproblematisch wiederum konnten bis ins frühe 20. Jahrhundert
hinein das Britische Empire und das Reich der russischen Zaren
koexistieren; die von ihnen beherrschten «Welten» waren voneinander
getrennt und vor allem hinreichend unterschiedlich. Das bezieht sich nicht
nur auf die von Briten und Russen jeweils dominierten Räume, wobei es zu
einer Teilung Asiens in eine Nord- und eine Südhälfte entlang der großen
Gebirgsketten vom Kaukasus bis zum Himalaja kam 28 , sondern mehr noch
auf die Art der von beiden ausgeübten Herrschaft: Das über administrative,
wenn nötig militärische Kontrolle integrierte Kontinentalimperium der
Russen und das wesentlich über wirtschaftlichen Austausch
zusammengehaltene britische Imperium der Seewege bedrohten sich nicht
gegenseitig und stellten einander auch legitimatorisch nicht in Frage –
jedenfalls solange die Russen darauf verzichteten, ihrem «Drang zum
warmen Meer» freien Lauf zu lassen.
Das war bei den Nachfolgeimperien der Briten und Russen, den USA und
der Sowjetunion, in dieser Form nicht mehr der Fall: Schon durch ihre
jeweilige Leitvorstellung, ihre Mission, leugneten sie die
Existenzberechtigung des anderen. Obendrein konkurrierten sie in
denselben Räumen und Sphären: vom Vorstoß der Sowjetunion auf die
Weltmeere durch den Aufbau einer beachtlichen Kriegsflotte bis zum
Wettlauf um die Vorherrschaft im Weltraum. Für die USA und die
Sowjetunion war, im Unterschied zum Britischen Empire und zum
Zarenreich, die Existenz des jeweils anderen eine Einschränkung des
eigenen imperialen Führungsanspruchs. Sie teilten eine gemeinsame
«Welt», während Zarenreich und Britisches Empire in ihren eignen
«Welten» herrschten.
Was zwischen die koexistierenden «Welten» des britischen Seereichs und
des russischen Kontinentalimperiums jedoch nicht mehr passte, war ein
Dritter, der in dem verbliebenen Zwischenraum ein weiteres Imperium zu
errichten suchte. Zwangsläufig musste er mit einem der beiden Imperien in
Konflikt geraten, und der uferte regelmäßig in einen großen Krieg aus, in
dem sich schließlich auch das andere Imperium gegen ihn wandte. Man
kann es mithin als die Handlungslogik der beiden auf ihre je eigenen
«Welten» beschränkten Imperien bezeichnen, dass sie nach einer Zeit des
Beobachtens und Abtastens gegen den Dritten zusammenarbeiteten und ihn
an der Machtentfaltung hinderten. Das wiederholte sich von Napoleon über
Wilhelm II. bis zu Hitler und Kaiser Hirohito, und dabei war es gleichgültig,
mit welchem der beiden Imperien der Dritte die strategische Konfrontation
suchte. Für Napoleon war es von Anfang an das Britische Empire, während
Wilhelm II. und Hitler die Auseinandersetzung mit den Briten möglichst zu
vermeiden suchten, indem sie ihre Vorherrschaftsansprüche entweder auf
den europäischen Kontinent beschränkten oder nach Osten richteten.
Napoleon und Hitler sind wesentlich im Osten gescheitert, Wilhelm II.
dagegen hat Thron und Reich im Konflikt mit dem Westen verloren. Japan
schließlich, dem es zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelungen war, sich
gegen Russland durchzusetzen, scheiterte im Zweiten Weltkrieg an den
USA, die auch hier die strategische Kooperation mit der Sowjetunion
gesucht hatten. In allen Fällen freilich legten die Imperative des See- wie
des Kontinentalimperiums ein Zusammenwirken gegen den Dritten nahe,
und die Handlungsimperative, die aus den jeweiligen imperialen «Welten»
erwuchsen, setzten sich gegen alle Ziele und Absichten durch, die dem
entgegenstanden. 29
Wie lassen sich diese imperialen «Welten», deren äußere Begrenzungen
relativ leicht erkennbar sind, näherhin beschreiben? Was kennzeichnet sie
im Innern, und worin unterscheiden sie sich von nichtimperialen Welten?
Und nicht zuletzt: Gibt es Merkmale, die den Binnenräumen von
Kontinental- und Seeimperien gemeinsam sind?
Auf das für imperiale Räume charakteristische Zentrum-Peripherie-
Gefälle wurde bereits hingewiesen; bei den Imperien, die auf der
Beherrschung von Räumen beruhen, ist es offenbar ebenso anzutreffen wie
bei denen, die ihre Macht vor allem aus der Kontrolle von Strömen
gewinnen. Daneben findet sich in der Literatur immer wieder der Hinweis
auf den multiethnischen beziehungsweise multinationalen Charakter von
Imperien. Diese Charakterisierung ist jedoch problematisch, weil einerseits
trivial – ausgedehnte Reiche umfassen zwangsläufig mehrere ethnische
beziehungsweise nationale Gemeinschaften – und andererseits politisch
definiert, denn darüber, was ethnische und nationale Unterschiede sind, ob
sie akzeptiert oder unterdrückt werden, verfügt letztlich das imperiale
Zentrum: als ein Machtinstrument im Sinne des divide et impera. 30
Vor allem im europäischen Rahmen ging es im Verhältnis zwischen den
westeuropäischen Nationalstaaten und den mittel- und osteuropäischen
Reichen stets auch um die Frage, was deren jeweilige Stärken und was ihre
Schwächen seien: nationale Geschlossenheit oder multiethnische Vielfalt.
Hatte sich unter dem Eindruck der notorischen Schwäche des Osmanischen
Reichs sowie der zentrifugalen Tendenzen in der Donaumonarchie und im
Zarenreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Auffassung durchgesetzt,
der Nationalstaat sei dem multiethnischen Reichsverband im Konfliktfall
überlegen – eine Auffassung, die durch den Ausgang des Ersten Weltkriegs
als bestätigt angesehen werden konnte –, so haben der Aufstieg der USA
und der Sowjetunion sowie die weltpolitische Marginalisierung der
europäischen Nationalstaaten das Pendel wieder in die entgegengesetzte
Richtung zurückschwingen lassen. Offenbar handelt es sich hier um
Eindrücke und Vorstellungen, die den jeweiligen Zeitumständen geschuldet
sind, und nicht um empirisch belastbare Kriterien wissenschaftlicher
Analyse.
Ein Blick auf den prozentualen Anteil des dominierenden Volkes innerhalb
eines Imperiums zeigt, dass daraus kaum Schlüsse bezüglich der
räumlichen Ausdehnung und zeitlichen Dauer des Reichs gezogen werden
können: So betrug der Anteil von Han-Chinesen im Chinesischen Reich die
längste Zeit über um 90 Prozent; der Anteil der Russen innerhalb des
Zarenreichs lag 1897 bei 44 Prozent, der der Deutsch-Österreicher in der
Donaumonarchie während der letzten Volkszählung von 1910 bei etwa
24 Prozent und der der Briten in ihrem Weltreich 1925 bei 10 Prozent. 31
Zumindest in kurz- und mittelfristiger Perspektive lassen diese Zahlen kaum
weiter reichende Schlussfolgerungen zu. Ein allgemeines Kriterium von
Imperien ist daraus nicht zu gewinnen.
Imperialer Interventionszwang, Neutralitätsoptionen und
der Melier-Dialog bei Thukydides
Wie lässt sich eine solche Fehlkalkulation erklären, zumal sie nicht auf ein
Land oder den europäischen Kontinent beschränkt blieb, von wo aus es zum
berühmt-berüchtigten Scramble for Africa kam 4 , sondern weltweit
anzutreffen war? Auch die japanische und die amerikanische Politik wurden
damals vom imperialistischen Fieber befallen: Japan griff auf das
ostasiatische Festland über, vor allem auf die Mandschurei, wo es mit
Russland in Konflikt geriet; die Folge war der russisch-japanische Krieg von
1904/05, den man als einen klassischen imperialistischen Krieg bezeichnen
kann. Und die USA setzten sich nach dem spanisch-amerikanischen Krieg
von 1898 nicht nur im mittelamerikanisch-karibischen Raum fest, sie
annektierten auch die Philippinen, wo sie in einen mehrjährigen,
verlustreichen Guerillakrieg hineingezogen wurden. 5
Wurde jene Fehlkalkulation durch eine Hysterie bewirkt, die sich
epidemieartig ausgebreitet hat und es den Eliten unmöglich machte, ihre
Interessen rational zu verfolgen? Gaben tatsächlich Überakkumulation
beziehungsweise Unterkonsumption in den ökonomisch fortgeschrittensten
Ländern den Ausschlag dafür, dass immer neue Märkte für Waren und
Anlagemöglichkeiten des Kapitals erschlossen werden mussten, wie speziell
die marxistischen Imperialismustheoretiker behaupteten? Oder war, wie
Joseph Schumpeter meinte, der Imperialismus des späten 19. und frühen
20. Jahrhunderts ein letztes Aufbegehren vormoderner Eliten, die sich dem
neuen Geist von Handel und Wandel nicht beugen wollten und deswegen
Eroberungsprojekte in Gang setzten, bei denen eigentlich erkennbar war,
dass sie sich nie und nimmer lohnen würden? 6
Im Prinzip gibt es für den Schub der Großreichsbildungen im
19. Jahrhundert und die mit ihm verbundenen Konflikte zwei
Erklärungsmöglichkeiten: eine, die von der grundsätzlichen Irrationalität
dieser Entwicklung ausgeht und den Einbruch der Irrationalität in eine sich
zunehmend rationalisierende Welt als das Problem ansieht; und eine, die
den Imperialismus als rationales Agieren der mächtigsten Akteure innerhalb
der kapitalistischen Welt versteht, wobei die Konkurrenz des nationalen
Kapitals sowie dessen Amortisationserfordernisse die Richtung der
imperialistischen Expansion vorgeben. Letzteres erklärt dann auch, warum
es in den entsprechenden Theorien nur zum geringeren Teil um Entstehung
und Aufstieg der großen Reiche geht, sondern vor allem um die Frage, ob
der Kapitalismus eine Zukunft habe und, wenn ja, ob dies eine Epoche der
Barbarei sein werde, wie Rosa Luxemburg prophezeite, oder ob sich die
kapitalistische Dynamik durch sozialpolitische Reformen bändigen lasse,
wie John Atkinson Hobson meinte.
Hobson, der an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert als Erster eine
rein ökonomisch fundierte Imperialismustheorie entwickelte, an der sich die
meisten späteren Imperialismustheoretiker abgearbeitet haben, war der
Auffassung, imperialistische Politik sei, gesamtgesellschaftlich betrachtet,
keineswegs gewinnbringend. Er hielt sie, im Gegenteil, für ein überaus
verlustreiches Geschäft. In keinem Fall stünden die Erträge des Handels mit
den wirtschaftlich unterentwickelten, teilweise nicht einmal erschlossenen
Territorien in einem vertretbaren Verhältnis zu den Militär- und
Verwaltungskosten, die der Unterhalt des Empire verschlinge, von den
Investitionen in die Infrastruktur jener Räume ganz zu schweigen.
Aber wer war dann am Aufbau derart unrentabler Imperien interessiert?
Weder die Steuerzahler noch die Händler oder Unternehmer, meinte
Hobson, sondern allein das Finanzkapital, das nach profitablen
Anlagemöglichkeiten suche. Imperiale Expansionspolitik eröffne solche
Möglichkeiten – jedenfalls wenn der Staat entsprechende Garantien gebe
und bereit sei, in den überseeischen Gebieten militärisch zu intervenieren
und die Investitionen gegen Aufstände und Bürgerkriege zu sichern, zur Not
sogar die politische Kontrolle dort zu übernehmen. 7 Um den Staat und die
Mehrheit seiner Bürger dazu zu bringen, dem Finanzkapital ertragreiche
und sichere Investitionsmöglichkeiten in Übersee zu eröffnen, manipuliere
dieses die öffentliche Meinung; es habe nationalistische Instinkte geweckt
und eine proimperialistische Stimmung in der Bevölkerung geschürt, durch
die das Interesse einiger Kapitalisten an überseeischen Investitionen zu
einer nationalen Aufgabe erhoben worden sei. Im Grunde war der
Imperialismus für Hobson also ein Projekt der inneren Umverteilung in
ökonomisch fortgeschrittenen Gesellschaften.
Anders als die späteren marxistischen Imperialismustheoretiker war
Hobson nicht der Auffassung, der Kapitalismus werde ohne die Expansion
nach Übersee und die politisch-militärische Absicherung des dort
investierten Kapitals zusammenbrechen. Er war vielmehr überzeugt, das
Problem der Unterkonsumption in den kapitalistischen Ländern lasse sich
mittelfristig durch eine aktive Sozialpolitik lösen, die zu einer Hebung der
Massenkaufkraft führen werde. Die politische Domestikation des
Kapitalismus und die Entwicklung effektiver Sozialsysteme war danach die
Alternative zum aggressiv-imperialistischen Ausgreifen in alle Welt.
John Maynard Keynes, der Theoretiker der antizyklischen
Wirtschaftssteuerung, ist durch Hobsons Imperialismuskritik in vielfacher
Hinsicht angeregt und beeinflusst worden. Rosa Luxemburg und Wladimir
Iljitsch Lenin dagegen haben in den parteiinternen Auseinandersetzungen
mit den sozialreformerischen beziehungsweise gewerkschaftlich
orientierten Bestrebungen ihrer Parteien die Perspektive einer
«sozialdemokratischen» Reformierbarkeit des Kapitalismus entschieden
zurückgewiesen und dessen immanenten Zwang zu imperialistischer
Expansion herausgestellt. Ihre Imperialismustheorien hatten von vornherein
die Funktion, den Fokus ganz auf die Überwindung des Kapitalismus zu
richten: Er musste revolutionär besiegt werden, und dafür, dass das
gelingen konnte, sorgte die imperialistische Konkurrenz: Die großen
Mächte würden miteinander in Krieg geraten, sich schwächen und so den
Sieg der sozialistischen Revolution ermöglichen.
All diese Theorien und Debatten interessierten sich nicht wirklich für die
Imperiumsbildung, sondern kreisten um die Frage der Reformierbarkeit
oder Revolutionierbarkeit der europäischen Gesellschaften. Folglich
schenkten sie den Problemen der Peripherie, in die hinein die Imperien
expandierten, kaum Beachtung. Bezogen auf die selbst gewählte
Herausforderung der Imperialismustheorien, die Frage nämlich, ob der
Kapitalismus reformierbar sei und wo seine Stärken und Schwächen lägen,
war die politisch-ökonomische Peripherie der Imperien buchstäblich
peripher – und dementsprechend wurde sie behandelt. Zwangsläufig wurde
die Imperiumsbildung als ein vom Zentrum ausgehender und zur Peripherie
hin verlaufender Prozess konzipiert: Nur die Push-Faktoren wurden in
Betracht gezogen, die Pull-Faktoren blieben unbeachtet. Das Ergebnis, zu
dem die Imperialismustheorien gelangten, war also durch ihre
Fragestellung und ihr Erkenntnisinteresse vorherbestimmt.
Lenin hat sich in seiner Imperialismustheorie als Einziger etwas
eingehender mit der Peripherie beschäftigt, aber das lag vor allem daran,
dass Russland, obwohl seit Jahrhunderten eine imperiale Macht, aus der
Perspektive der ökonomischen Imperialismustheorien betrachtet, selbst zur
Peripherie gehörte. Wenn der Imperialismus als eine Folge der
Überakkumulation des Kapitals begriffen wurde, konnte das notorisch
kapitalschwache Russland nur als Statist in Erscheinung treten, zumal seine
Versuche, den militärischen Imperialismus durch einen ökonomischen
Rubel-Imperialismus nach britischem und amerikanischem Vorbild zu
ergänzen, an Kapitalmangel gescheitert waren. 8 Russland sei «das
schwächste Glied» in der imperialistischen Kette, meinte Lenin, und dort
werde sie zwangsläufig reißen.
Die Prognose des Theoretikers Lenin kam dem Politiker Lenin überaus
gelegen, besagte sie doch, dass die sozialistische Revolution in Russland
ausbrechen werde, um von hier aus auf die eigentlichen Zentren der
kapitalistisch-imperialistischen Welt überzugreifen. Im Grunde interessierte
sich auch Lenin nicht für die Peripherie, sondern lediglich für das
schwächste Glied der imperialistischen Kette, an dem er die besten
Chancen für den revolutionären Umsturz sah. Die rigide Art, mit der er
während des Bürgerkriegs die im Verlaufe der Revolution abgefallenen
Teile des Zarenreichs wieder zurückerobern ließ und sie mit brutaler
Gewalt in den Verband der neuen Sowjetunion hineinzwang, zeigt, wie
gleichgültig ihm die Peripherie letztendlich war. Sie war ihm nur ein Mittel
zu dem Zweck, den Kampf im Zentrum zu gewinnen.
Die ökonomischen, zumeist sozialistischen Imperialismustheorien haben
also ein spezifisches Problem der kapitalistischen Gesellschaften zum
Schlüssel für die Erklärung von Imperiumsbildungen gemacht. Sie sind –
was man ihnen zunächst gar nicht zum Vorwurf machen kann –
zeitgenössische Antworten auf zeitgenössische Fragen. In der Regel wurden
sie allerdings nicht als solche verstanden, sondern zu generellen
Erklärungen der Imperiumsbildung stilisiert. Infolgedessen sollen sie mehr
erklären, als sie wirklich erklären können 9 , und verstellen daher den Blick
auf die tatsächlichen Faktoren und Dynamiken imperialer Politik.
Was am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts für
Großbritannien, die USA und wohl auch Deutschland zutreffen mochte, galt
schon weniger für Frankreich, das zwar nach Großbritannien das größte
Kolonialreich besaß, sich im Vergleich mit anderen europäischen Ländern
jedoch durch eine eher bescheidene Dynamik der Kapitalakkumulation
auszeichnete; noch weniger galt es für Japan, und erst recht nicht, wie
gesagt, für Russland: Das Zarenreich war während dieser Zeit auf
Kapitalimport angewiesen, und seine Bündniswechsel – vor allem der von
Deutschland zu Frankreich am Ende der 1880er Jahre, der für die
Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs bedeutsam werden sollte – standen in
engstem Zusammenhang mit dem Abschluss von Kreditverträgen, auf die
Russland zur Modernisierung seiner Infrastruktur und seiner Armee sowie
zum Ausbau seiner Industrie dringend angewiesen war. 10 Mit
ökonomischer Dynamik lässt sich die imperialistische Politik des
Zarenreichs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht erklären.
Das Zentrum-Peripherie-Problem
Die schier grenzenlose Ausdehnung des imperialen Raumes und eine eher
schwache Form der Integration sind den im Prinzip konträren Polen
kommerzieller und militärischer Mehrproduktabschöpfung gemeinsam.
Auch die großen Seeimperien, die mit dem Beginn der europäischen
Entdeckungsreisen Mitte des 15. Jahrhunderts entstanden – namentlich
Portugal, die Niederlande und England (Spanien setzte von Anfang an
weniger auf Handel als auf territoriale Eroberungen) –, waren nur
oberflächlich integriert und wiesen keine einheitliche Verwaltung und
Rechtsordnung auf. 30
Seeimperien sind Steppenimperien darin ähnlich, dass das Interesse an
der Peripherie ein wesentlich exploitives ist und keine sonderlichen
Anstrengungen unternommen werden, zivilisatorische Errungenschaften zu
verbreiten. Zumindest in ihrer Entstehungsphase beschränken sich die
seegestützten Handelsimperien auf die Herstellung von
Wirtschaftsverbindungen zwischen Zentrum und Peripherie. Die
bestehenden soziopolitischen Strukturen in den neuen Handelsräumen
lassen sie weitgehend unangetastet. Oft kooperieren sie mit den dortigen
Machthabern oder spielen Rivalen gegeneinander aus, letztlich jedoch
interessieren sie sich nur für bestimmte Handelsgüter. Je geringer die
Investitionen in die Peripherie, desto höher die Gewinne – so das Kalkül
einer Imperiumsbildung auf der Grundlage kommerzieller
Mehrproduktabschöpfung.
Ob diese Rechnung freilich langfristig aufgeht oder ob sich Gegenkräfte
entwickeln, die schließlich die Bilanzen umkehren, ist offen. Man kann darin
ein analoges Problem zum allmählichen wirtschaftlichen Ausbluten der
Peripherie infolge ihrer ständigen Ausplünderung durch die Streitkräfte der
Steppenimperien sehen: Auf Dauer zersetzt der Handelskontakt mit den
Fremden die soziopolitische Ordnung eines Landes. Imperien, die allein auf
militärischer oder kommerzieller Mehrproduktabschöpfung beruhen und
auf größere Investitionen in die Infrastruktur an ihren Rändern verzichten,
sind kaum in der Lage, diese zuverlässig in ihre «Weltordnung»
einzubinden. Für ihre Stabilität und Dauerhaftigkeit aber dürfte es
entscheidend sein, ob das gelingt: Die Imperien, bei denen Zentrum und
Peripherie nur durch die Mehrproduktabschöpfung miteinander verbunden
waren, haben sich allesamt rascher wieder aufgelöst als diejenigen, die zu
einer regulären Verwaltung ihrer Provinzen übergegangen sind, das heißt,
ihrer Peripherie nicht nur Ressourcen entzogen, sondern auch in sie
investiert haben. Keines der seaborn empires und keines der
Steppenimperien reicht von seiner Dauer und Stabilität an das Römische
oder Chinesische Reich heran. Das Geheimnis der lange bestehenden
Imperien scheint darin zu liegen, dass sie in Situationen der Krise und des
Niedergangs von der Peripherie her entweder gerettet oder revitalisiert
worden sind. Dazu aber waren äußere Reichsgebiete nur bereit und fähig,
wenn sie ein ausgeprägtes Bewusstsein der Reichszugehörigkeit hatten und
überzeugt waren, dass der Zerfall des Imperiums ihnen mehr schaden als
nützen werde. 31
Der Verzicht darauf, die Peripherie hemmungslos auszuplündern, und der
Entschluss, infrastrukturell wie zivilisatorisch in sie zu investieren, ist
sicherlich nicht damit zu verwechseln, dass sich die Austauschrelationen
zwischen Zentrum und Peripherie ins Gegenteil verkehrt hätten und diese
jetzt zum reinen Nutznießer des Imperiums geworden wäre. Aber die mit
diesem verbundenen Lasten werden mit dem Überschreiten der
augusteischen Schwelle gleichmäßiger verteilt und künftig auch denjenigen
auferlegt, die vom Imperium bislang nur profitierten: Der teure
Militärapparat und die neu entstandenen Verwaltungsstrukturen können
nicht mehr allein aus den Tributen und Steuern der unterworfenen
Provinzen an der Reichsperipherie bezahlt werden; zur Finanzierung der
imperialen Bestandskosten werden nun auch – qua Steuer – die Bewohner
des imperialen Zentrums herangezogen. Das ruft freilich nicht selten deren
Widerstand hervor, und dementsprechend wächst im Zentrum eine
gefährliche Neigung, Putsche und Aufstände zu unterstützen, die eine
Senkung solcher Belastungen versprechen. Die Stabilisierung des
Imperiums an der Peripherie muss also mit wachsender Unzufriedenheit im
Zentrum erkauft werden. Das dürfte auch der entscheidende Grund dafür
sein, dass viele Imperien die augusteische Schwelle niemals überschritten
haben: Die Instabilität der Peripherie war offenkundig leichter zu ertragen
als permanente Unzufriedenheit im Zentrum und der gelegentliche Abfall
einer Provinz eher zu verkraften als fortgesetzte Unruhen in der
Hauptstadt. In der historischen Retrospektive allerdings scheint es
umgekehrt zu sein: Unzuverlässige Provinzen führten häufiger zum Ende
eines Imperiums als Unruhen im Zentrum. In den meisten Fällen hat die
Entscheidung für eine gleichmäßigere bürokratisch-administrative
Mehrproduktabschöpfung im gesamten imperialen Raum dessen Stabilität
auf lange Sicht erhöht.
Die (mindestens) zwei Seiten von Imperien
Stärker als in der Geschichte der Staaten zeigt sich im Auf- und Abstieg der
Imperien das Zusammenspiel der unterschiedlichen Quellen und Formen
von Macht: Haben die auf Reziprozität hin angelegten Strukturen der
Staatenwelt zwangsläufig zur Folge, dass sich die vier Machtsorten 49 im
Innern der Staaten einander angleichen, so verlangen die uneinheitlichen
Peripherien der Imperien, dass bisweilen stärker militärische oder
politische, in anderen Fällen mehr wirtschaftliche oder ideologische Macht
zur Geltung gebracht wird. Militärische Defizite etwa können hier dadurch
kompensiert werden, dass vom imperialen Glanz faszinierte Völker alles
daransetzen, ein Teil des Imperiums zu werden und ihre kriegerischen
Fähigkeiten in dessen Dienst zu stellen. Dafür wollen sie belohnt werden,
aber hierzu werden sehr viel geringere Mittel benötigt, als eigene imperiale
Streitkräfte verschlingen würden.
Imperiale Grenzsicherung findet selten gegen Gleiche statt, deswegen
erfüllen Händler und Militärberater, Volkskundler und Einflussagenten
dabei oft wichtigere Funktionen als die tatsächlich vorhandenen
militärischen Kräfte des Imperiums. Das lässt sich an der römischen
«Barbarengrenze» gegen die Germanen ebenso beobachten wie am Agieren
der Briten und Amerikaner an ihren «Indianergrenzen», am Einsickern der
europäischen Kolonialmächte in die so genannten herrschaftsfreien Räume
wie an der Zerschlagung des afghanischen Talibanregimes durch die USA,
als der «Einkauf» regionaler Warlords mit ein paar Millionen Dollar
innerhalb weniger Tage das gesamte Machtgefüge der Region veränderte.
Neben Geld, letztlich also wirtschaftlicher Macht, trägt die zivilisatorische
Attraktivität, also ideologische Macht, entscheidend dazu bei, die
Bevölkerung der Grenzregionen für die Sache des Imperiums zu gewinnen.
Das zeigt sich bereits in dem von dem römischen Historiker Tacitus
geschilderten Streit zwischen Arminius und Flavus, zwei Brüdern aus dem
Stamm der Cherusker, von denen Arminius einen folgenreichen
antirömischen Aufstand angezettelt hatte, während Flavus in römischen
Diensten geblieben war. Der über die Weser hinweg geführte Disput
beginnt damit, dass Arminius von seinem Bruder, der bei einem Gefecht in
römischen Diensten ein Auge verloren hatte, wissen möchte, welchen Dank
er für seine Verstümmelung erhalten habe. «Flavus nannte Solderhöhung,
Ehrenkette, Kranz und andere militärische Auszeichnungen – höhnisch
lachte Arminius über den armseligen Preis der Sklaverei.» 50 Der Streit der
beiden gewinnt an Schärfe, sobald es um den Loyalitätskonflikt zwischen
imperialer Macht und ethnischer Herkunft geht; trotz Arminius’ Hinweis auf
Vaterland, altererbte Freiheiten und heimische Götter bleibt Flavus bei
seiner Treue gegenüber Rom, was er mit der Größe des Imperiums und der
Macht des Statthalters begründet. Es ist neben der politischen vor allem die
ideologische – und nicht die zuvor schwer erschütterte militärische – Macht
Roms, aus der Flavus’ prorömische Option erwächst.
Über Aufstieg und Dauer eines Imperiums entscheiden unter anderem die
Austauschbedingungen und Konvertierungsformen der einzelnen
Machtsorten. Außerdem regulieren sie die Zyklen, die von Imperien mit
größerer Dauer mehrmals durchlaufen werden. Dabei geht es nicht nur um
das bereits angesprochene Problem der Kosten und die Auswahl der jeweils
günstigsten Machtsorte, sondern auch um deren Verfügbarkeit zu einer
bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort. Wie lange ein Imperium im
oberen Zyklensegment verbleiben kann, hängt davon ab, ob das Defizit
einer Machtsorte durch den Überfluss einer anderen ausgeglichen werden
kann.
Der Aufstieg Spaniens zu einer europäischen Hegemonialmacht und
einem weltumspannenden Imperium etwa verdankte sich im Wesentlichen
einem modernen und schlagkräftigen Militärapparat, zu dem eine
disziplinierte Infanterie und eine hochseetüchtige Kriegsflotte gehörten. Die
militärische wurde durch die politische Macht komplettiert, die daraus
erwuchs, dass Spanien ein befriedetes Land mit einer gut funktionierenden
Verwaltung war. Die nach dem Ende des Communeros-Aufstandes im Jahr
1521 eingekehrte Ruhe wurde zu einem Machtvorteil gegenüber
Frankreich, das ab den 1540er Jahren verstärkt durch innere Konflikte und
schließlich einen langen Bürgerkrieg paralysiert war. Was Spanien
allerdings fehlte, war die ökonomische Eigendynamik; es entbehrte, so der
Historiker Walter Bernecker, «eines Bankwesens mit internationalen
Verbindungen und vor allem einer dynamischen Schicht von Unternehmern
und Händlern, die in Zusammenwirken mit dem Staat neben der politischen
und militärischen eine wirtschaftliche Macht aufgebaut hätten». 51 Im
Grunde hat allein das amerikanische Gold und Silber es den spanischen
Königen ermöglicht, die teure militärische Infrastruktur ihres Reichs zu
errichten und aufrechtzuerhalten. Aber trotz des permanenten
Edelmetallzuflusses aus der Neuen Welt – allein im 16. Jahrhundert dürfte
sein Gesamtwert etwa 3000 Milliarden Taler betragen haben 52 – waren die
Ausgaben regelmäßig um etwa 20 Prozent höher als die Einnahmen. Die
spanische Macht ist an einem auf Dauer unlösbaren Finanzproblem
zerbrochen.
Ein weiteres schwer wiegendes Manko des spanischen Weltreichs war die
schmale demographische Basis, auf der es ruhte: Verglichen mit seinen
Hegemonialkonkurrenten Frankreich und dem Osmanischen Reich lebten in
ihm deutlich weniger Menschen, obendrein musste es im Verlauf des
16. Jahrhunderts einen Bevölkerungsrückgang von etwa 20 Prozent
verkraften. 53 Diese Defizite im Kampf um die Hegemonie in Europa
schlugen zunächst nur deshalb nicht stärker zu Buche, weil die inneren
Konflikte Frankreichs dessen äußere Ambitionen bremsten und die Kräfte
der Osmanen im Osten gebunden waren. Zudem hatte Spanien durch die
enge Verbindung mit dem deutschen Zweig der Habsburger die
Möglichkeit, innerhalb Deutschlands Soldaten zu rekrutieren, wovon es
reichlich Gebrauch machte.
Schließlich kam noch ein Glücksfall hinzu, der den imperialen Zyklus
Spaniens erheblich verlängert haben dürfte: die Übernahme Portugals
durch die spanische Krone im Jahre 1580, mit der Spanien ein weiteres
Kolonialreich zufiel. Es verfügte nun über die größte Handelsflotte der Welt.
Kurzfristig wurden dadurch die Verluste ausgeglichen, die Spanien durch
den Abfall der Niederlande entstanden waren. In einem acht Jahrzehnte
währenden Krieg um die Rückgewinnung der abtrünnigen Provinzen
verzehrte es jedoch seine Ressourcen, ohne dass ihm ein dauerhafter Erfolg
zuteil geworden wäre. Mit Beginn des 17. Jahrhunderts gingen die
Niederländer dann in die Offensive; ihren Ost- und Westindischen
Handelskompanien gelang es, Teile des portugiesischen Orienthandels und
Kolonialreiches zu übernehmen. Der Frieden von Münster und Osnabrück
und dann der Pyrenäenfrieden von 1659 markieren das Ende des ersten
imperialen Zyklus’ Spaniens. 54 Die bourbonischen Reformen ermöglichten
ihm während des 18. Jahrhunderts zwar einen weiteren imperialen Zyklus,
aber der war deutlich bescheidener und verlief relativ unauffällig.
Der erste Zyklus des spanischen Imperiums, so lässt sich
zusammenfassen, war wesentlich von einer militärischen Überlegenheit
getragen. Sie resultierte aus militärorganisatorischen Reformen und
waffentechnischen Innovationen 55 , die zu einem beträchtlichen Anstieg der
Militärausgaben führten. Als diese nicht mehr zu finanzieren waren und
obendrein die Gegner und Konkurrenten im Militärbereich organisatorisch
wie technisch gleichzogen, zerfiel die spanische Macht in Europa. Dass
Spanien seine militärische Überlegenheit verlor, hatte auch darum so
dramatische Folgen, weil keine andere Machtsorte in hinreichendem Maße
zur Verfügung stand, die einen Ausgleich hätte schaffen können: Spaniens
wirtschaftliche Macht war ohnehin geringer als die der europäischen
Konkurrenten; seine politische Macht – besonders die Fähigkeit, Bündnisse
zu schließen und innerhalb ihrer den eigenen Willen durchzusetzen – war
infolge der konfessionellen Zweiteilung Europas und des Interessenkonflikts
mit dem aufstrebenden England begrenzt; und ideologische Macht konnte
es nur durch das Projekt der Gegenreformation erzeugen, das ihm
mindestens ebenso viel Feindschaft wie Sympathie und Unterstützung
eintrug. Mit der in den Niederlanden entstandenen und anschließend über
ganz Europa verbreiteten «Schwarzen Legende» verfügten seine
Widersacher obendrein über eine wirksame Gegenideologie, die eine
spanische Vormachtstellung in Europa mehr als unattraktiv erscheinen
ließ. 56 In ihr war die Rede von der Grausamkeit und Willkür der
Inquisition, den abgründigen Lastern Philipps II., der sittlichen und
moralischen Verderbtheit des spanischen Volkscharakters und schließlich
davon, dass Spanien eine Universalmonarchie errichten wolle, ein
weltumspannendes Imperium also, in dem es alle anderen Völker
unterjochen würde. Man kann in diesem Schreckensbild die erste
staatenübergreifende antiimperiale Ideologie des neuzeitlichen Europa
sehen. Gegen sie kam die spanische Propaganda nicht an. 57
Spaniens Machtdefizite traten zunächst freilich nur in Europa und nicht in
den außereuropäischen Gebieten des Reiches zutage. Bedroht war seine
europäische Hegemonialstellung, nicht jedoch sein außereuropäisches
Imperium. Deshalb war das Ende der spanischen Vormachtstellung in
Europa nicht gleichbedeutend mit dem Untergang des spanischen
Weltreichs, das in Lateinamerika noch eineinhalb Jahrhunderte und im
Pazifik sowie in der Karibik nahezu zweieinhalb Jahrhunderte fortbestand.
Es ist nicht überzeugend, diesen langen Zeitraum bloß als eine Periode der
Dekadenz und des Niedergangs zu beschreiben.
Folgt man dem Modell von Aufstieg und Niedergang, so ist die Geschichte
fast aller Imperien durch eine kurze und dynamische Aufstiegsphase und
eine lange Periode des Niedergangs gekennzeichnet. Dabei ist Erstere
weitgehend mit der Zeit militärischer Expansion identisch, während die
nach dem Scheitelpunkt imperialer Kraftentfaltung unternommenen
Reformen allesamt mit Blick auf den mehr oder weniger langsamen Verfall
betrachtet werden. Ein solches Modell imperialer Geschichte prämiert
zwangsläufig die militärische Seite von Imperien und vernachlässigt deren
politische Erneuerungsfähigkeit. Reformen der Verwaltung, der
Wirtschaftsordnung, des Steuer- und Finanz-, selbst des Militärwesens sind
dann nichts als Versuche, den im Prinzip unabwendbaren Niedergang des
Imperiums aufzuhalten oder zumindest hinauszuzögern.
Speziell auf die römische Geschichte ist dieses Modell immer wieder
angewendet worden, bis historische Erzählung und modelltheoretische
Annahmen kaum mehr zu trennen waren: Seinen Scheitelpunkt hatte das
Imperium danach spätestens Anfang des 2. Jahrhunderts, in der Zeit der
Adoptivkaiser, erreicht, zumal es unter Trajan die größte räumliche
Ausdehnung besaß, und dann ist es in einen lange andauernden Prozess des
Niedergangs eingetreten. 58 Die Neuordnung des Reichs am Ende des
3. Jahrhunderts durch Diocletian, die bald darauf erfolgte Reichsteilung
unter Constantin und seinen Nachfolgern, schließlich der Austausch der
ideologischen Macht durch die Erhebung des Christentums zur
Staatsreligion im Jahre 380 unter Theodosius 59 – all dem kommt dann
keine für den Verlauf der Imperiumsgeschichte entscheidende Bedeutung
zu, und so werden, wie im Falle Spaniens, zweieinhalb Jahrhunderte
Reichsgeschichte kurzerhand zur Verfallsgeschichte erklärt. Was dabei –
nicht unbedingt in den historischen Darstellungen, wohl aber im
historischen Bewusstsein – aus dem Blick gerät, ist das zyklische Auf und Ab
in der langen Periode des vorgeblichen Niedergangs. Mit dem Aufstiegs-/
Niedergangsmodell geht vor allem aber eine Vorstellung der historischen
Zwangsläufigkeit einher, welche die Reformpolitiker des Imperiums zu
tragischen Gestalten werden lässt: Bei dem Versuch, den Niedergang
aufzuhalten, hätten sie ihn letzten Endes nur beschleunigt.
Gegen das Modell von Aufstieg, Scheitelpunkt und Niedergang soll hier
auf das Zyklenmodell der politischen Geschichte zurückgegriffen werden,
das in der Antike von dem griechisch-römischen Historiker Polybios
entwickelt und am Beginn der Neuzeit von dem italienischen
Politiktheoretiker Niccolò Machiavelli erneuert worden ist. 60 Danach
durchlaufen politische Gemeinschaften in ihrer Geschichte mehrere Zyklen,
in denen sie auf- und absteigen, und sowohl die Anzahl der Zyklen als auch
die Verweildauer im oberen Zyklensegment hängt wesentlich vom Geschick
und von der Weitsicht ihrer führenden Politiker ab. 61
Das Zyklenmodell hat für die Rekonstruktion der Imperiengeschichte
mehrere Vorzüge. Erstens vermag es das Auf und Ab der Imperien sehr viel
genauer darzustellen als das auf nur zwei Entwicklungsrichtungen
festgelegte Aufstiegs-/Niedergangsmodell; zweitens widmet es sein
Hauptaugenmerk der Bewältigung von Krisen, also dem Durchschreiten des
Tiefpunkts und der Verstetigung des Aufenthalts im oberen Zyklenbereich,
wodurch drittens den politischen (und gesellschaftlichen) Akteuren ein
größeres Gewicht zukommt. Sie haben es – selbstverständlich im Rahmen
der ihnen verfügbaren Ressourcen und Machtsorten – in der Hand, durch
Reformen die Wirkung der Faktoren zu begrenzen, die den Niedergang
verursachen, und die Auftriebskräfte zu stärken. 62
Mit der Theorie der Hegemonialzyklen sind in den letzten Jahren
Analysemodelle ausgearbeitet worden 63 , die gerade die wechselvolle
Geschichte von Imperien differenzierter zu beschreiben vermögen, als dies
mit dem herkömmlichen Aufstiegs-/Niedergangsmodell möglich war. Laut
George Modelski und William R. Thompson etwa hätten die USA zu Beginn
des 20. Jahrhunderts aufgrund ihrer Überlegenheit in den wirtschaftlichen
Leitsektoren Stahl, Chemie und Elektrotechnik die Spitzenposition in der
Weltwirtschaft erlangt, und auf dieser Basis seien sie zur auch politisch
führenden Macht avanciert. Dieser Hegemonialzyklus, in dem ökonomische
und politische Entwicklung enggeführt werden, habe von 1850 bis 1973
gedauert. Infolge ihrer Überlegenheit in den neuen Leitsektoren
Informationstechnologie und Mikroelektronik seien die USA anschließend in
einen neuen Hegemonialzyklus eingetreten, der sie nach einer kurzen
Zwischenphase der Schwäche zum Sieger über die Sowjetunion und zur
einzig verbliebenen Weltmacht habe werden lassen.
Problematisch an dieser Theorie ist freilich ihre starke Determiniertheit
durch ökonomische Faktoren. Auf das Konzept der Machtsorten bezogen, ist
in ihr die ökonomische Macht alles entscheidend, einen Austausch von
Machtsorten kann es nicht geben. Konsequenterweise gehen die Vertreter
der Hegemonialzyklentheorie davon aus, dass es vor den USA nur
Großbritannien gelungen sei, zwei solcher Zyklen zu durchlaufen, wobei der
eine auf seiner nautischen und kommerziellen Überlegenheit, der zweite auf
seiner Führungsposition bei der industriellen Revolution beruht habe. Die
ökonomische Determination der Hegemonialzyklen lässt keinen Raum für
politische Entscheidungen. Gegenüber der politischen Zyklentheorie des
klassischen Republikanismus bleibt sie insofern unterkomplex, als diese das
geschichtliche Auf und Ab immerhin durch sozialmoralische Faktoren und
die Verfassungsordnung des Gemeinwesens bestimmt gesehen hatte.
Bei der Betrachtung der Imperialgeschichte sind also das Konzept der
unterschiedlichen Machtsorten und die beiden Zyklentheorien dahingehend
zu kombinieren, dass ein Determinismus vermieden und den
Entscheidungseliten ein größerer Einfluss auf die Art des Zyklendurchlaufs
– die Bewältigung von Krisen und die Verweildauer im oberen
Zyklensegment – eingeräumt wird. Unter diesen Umständen müssen keine
Annahmen über die durchschnittliche Laufzeit eines Zyklus gemacht
werden. Auch lassen sich Imperien, die nur einen Zyklus in relativ kurzer
Zeit durchlaufen haben, von solchen unterscheiden, bei denen sich mehrere
Zyklen mit jeweils langer Verweildauer im oberen Zyklensegment
ausmachen lassen. Beispiele für Erstere sind das Mongolenreich oder das
Frankreich Napoleons I., für Letztere China und Rom, aber auch die Reiche
der Osmanen, Spanier und Briten. Dabei scheint ein Zyklus umso kürzer zu
sein, je weniger Machtsorten ein Imperium zur Verfügung hat
beziehungsweise an je weniger Machtsorten es seinen unmittelbaren
Konkurrenten überlegen ist, so wie umgekehrt die Verweildauer im oberen
Zyklensegment umso größer ist, je mehr Machtsorten zur Auswahl stehen.
Mit der Varianz der Machtsorten wachsen zugleich die Möglichkeiten der
Entscheidungseliten, den Zyklendurchlauf zu steuern und beschleunigend
oder verlangsamend auf ihn Einfluss zu nehmen. 64 Natürlich darf dabei der
Entscheidungsspielraum der Eliten auch nicht überbewertet werden: Was
sie zu beeinflussen vermögen, ist der Durchlauf des Zyklus; aus ihm
aussteigen oder ihn anhalten können sie nicht.
Eine Schlüsselrolle kommt für die längere Verweildauer im oberen
Zyklensegment dem zu, was hier im Anschluss an Michael Doyle
«augusteische Schwelle» genannt worden ist. 65 Die von Octavian
eingeleiteten Reformen bestanden im Wesentlichen aus drei Elementen:
Octavian versuchte, das Vertrauen der römischen Landaristokratie zu
gewinnen, um mit ihrer Unterstützung die Macht der städtischen Oligarchie
zu brechen; er errang Einfluss auf die Verfassungs- und
Verwaltungsordnung, die sich nun ändern ließ, ohne politische Krisen
herbeizuführen; und er ordnete das Verwaltungssystem neu, um die
Provinzen aus Räumen oligarchischer Selbstbereicherung in effektiv
regierte Reichsteile zu verwandeln. Das war das Programm, mit dem
Octavian seine eigene Macht festigen und den Bürgerkrieg beenden wollte
und aus dem sich ein fundamentaler Umbau der politischen Ordnung Roms
entwickelte, der gemeinhin als das Ende der Republik und der Beginn des
kaiserlichen Prinzipats gilt. Zugleich schuf er jedoch auch die Strukturen,
die dem Imperium Romanum zu seiner langen Dauer verhalfen. Mit dem
Überschreiten der augusteischen Schwelle war die Phase der wilden,
planlosen Expansion des Reichs ebenso wie die der damit verbundenen
inneren Konflikte und Bürgerkriege beendet, und die römische Herrschaft
wurde in einen Zustand stabiler Dauer überführt.
Dass Rom für mindestens zwei Jahrhunderte im oberen Zyklensegment
verbleiben würde, war zunächst alles andere als wahrscheinlich. Nach
mehreren Jahrzehnten verheerender Bürgerkriege, in denen die Peripherie
wiederholt als Basis und Aufmarschraum für die Eroberung der Macht im
Zentrum genutzt worden war, stand das Römische Reich durchaus in der
Gefahr, wie das Makedonenreich nach dem Tod Alexanders in eine Reihe
von Teilreichen zu zerfallen. Das System der Triumvirn etwa, auf das in
Rom mehrfach als Mittel zur Beendigung des Bürgerkriegs zurückgegriffen
worden war, wies den drei Machthabern zusammenhängende Provinzen als
Herrschaftsräume zu, und daraus hätten sich unschwer Diadochenstaaten
nach makedonischem Vorbild entwickeln können. Vor allem die Spaltung
zwischen dem Westen und dem Osten des Reichs war mehr als nur eine
Denkmöglichkeit. Octavian jedoch gelang es, bei der Bevölkerung der
Provinzen eine innere Bindung an das Imperium zu schaffen. Die
Truppenstärke des Reichs konnte deutlich reduziert werden 66 , dadurch
sanken die Kosten für die Sicherung des imperialen Raums, und so war es
möglich, die Steuerlast zu reduzieren. 67 Aus dem expansiven Kraftzentrum
Rom, das seit dem endgültigen Sieg über Karthago seine Herrschaft in
immer neuen Kriegen über den gesamten mittelmeerischen Raum mit
weiten Ausbuchtungen nach Nordwesten und Südosten ausgedehnt hatte,
wurde nun das Imperium Romanum als Garant der pax Romana.
Der Schlüssel für das Gelingen der augusteischen Reformen war die
Schaffung einer korruptionsresistenten Verwaltungselite, und dabei setzte
Octavian nicht nur auf institutionelle Veränderungen, sondern auch auf eine
tief greifende Sittenreform innerhalb der imperialen Elite. Man hat die
Sitten- und Religionspolitik des Octavian, dem im Jahre 27 v. Chr. vom Senat
der Beiname Augustus («der Erhabene») verliehen worden war, in der
jüngeren Literatur häufig als Ausdruck seines tief sitzenden Konservatismus
gewertet und sie damit auf eine persönliche Werthaltung des Kaisers
zurückgeführt. Andere haben darauf hingewiesen, dass er mit eben jenen
Methoden an die Macht gekommen sei, die er später dann so vehement
bekämpfte. Der damit verknüpfte Vorwurf der Verlogenheit mag unter
Gesichtspunkten der moralischen Kohärenz berechtigt sein. Aber bei der
Erneuerung und Konsolidierung eines Imperiums geht es nicht um
moralische Kohärenz, sondern um politische Effekte. 68 Die Beseitigung der
Korruption, die in der republikanischen Oligarchie zuletzt stark verbreitet
war 69 , war die Voraussetzung dafür, dass die imperiale
Mehrproduktabschöpfung vom Beutemechanismus regionaler Kriegsherren
wie prokonsularischer Beamter auf regelmäßige, geordnete Besteuerung
umgestellt werden konnte. Dazu musste gewährleistet sein, dass das hierzu
benötigte Personal gegen die Versuchung immun war, sich auf Kosten der
Staatsmacht zu bereichern und seinen persönlichen Einfluss zu mehren.
Genau um diese Korruptionsresistenz der imperialen Verwaltungselite ging
es bei der augusteischen Sitten- und Religionsreform. Ihr dienten die
mehrfachen «Säuberungen» des Senats – denen freilich auch unbescholtene
politische Gegner Octavians zum Opfer fielen – sowie die lex Iulia de
ambitu, durch die Amtsbewerber, die sich als bestechlich erwiesen hatten,
für die Dauer von fünf Jahren von der Ämterlaufbahn ausgeschlossen
wurden. 70
Octavian kümmerte sich aber nicht nur um die politische Loyalität und
administrative Zuverlässigkeit der imperialen Elite, sondern auch um deren
physische Reproduktion. In den ersten Jahren nach Beendigung des
Bürgerkriegs hatte er die politische Klasse Roms erneuert, indem er Bürger
aus den italischen Provinzen in die Hauptstadt holte, Ritter zu Patriziern
machte und zahlreiche neue Senatoren berief. Wiewohl sich diese Politik als
ein probates Mittel erwies, um die eigene Anhängerschaft in
Führungspositionen zu vermehren, wollte Octavian dieses
Rekrutierungsverfahren der Reichselite nicht auf Dauer stellen, sondern
begriff es als Notlösung für Ausnahmefälle. Stattdessen setzte er auf die
physische Selbstreproduktion der Elite, sei es durch die Zeugung eigener
Kinder oder, was in Rom weit verbreitet war, durch Adoption. Für
unverheiratete Personen wurde das Vererbungsrecht eingeschränkt, und
der Anspruch des Staates auf das Vermögen kinderlos Verstorbener wurde
verstärkt. Der Kaiser ließ Familien mit mehr als zwei Kindern finanziell
unterstützen und verhängte strenge Strafen für Ehebruch und
sittenwidriges Verhalten. Vor allem erhielt der kinderreiche Konsul den
Vortritt vor dem kinderarmen Kollegen und konnte sich die
prokonsularische Provinz aussuchen, statt sie zugelost zu bekommen. 71
Augustus hat also nicht auf eine «zölibatäre» Elite gesetzt, die ständig
aufgefüllt und erneuert werden musste, sondern auf eine sich selbst
reproduzierende Elite, was eine Beschränkung seines Einflusses auf deren
personale Zusammensetzung zur Folge hatte. Man kann dies als Bestandteil
seines Programms der Verwandlung von potestas in auctoritas (von Macht
in Autorität) verstehen 72 , kann darin eine Vorsorgemaßnahme für die
demographische Stabilität des Imperiums – ein Problem, das auch spätere
Kaiser beschäftigen sollte – sehen, bei der die Elite als Vorbild für die
Reichsbevölkerung dienen sollte. Man kann es schließlich aber auch als eine
Maßnahme interpretieren, mit der die Korruptionsresistenz der
administrativen und militärischen Elite gesteigert werden sollte. Personen,
die in die Generationenfolge einer Familie eingebundenen sind, sind
Bestechungsversuchen gegenüber weniger anfällig als individuelle
Karrieristen, die sich allenfalls um ihren Nachruhm, nicht aber um das
Schicksal ihrer Kinder und Enkel sorgen müssen.
Die augusteische Schwelle bezeichnet also ein Ensemble einschneidender
Reformen, durch die ein Imperium seine Expansionsphase beendet und in
die Phase der geordneten Dauer, des lange währenden Bestandes überführt
wird. Zyklentheoretisch formuliert geht es hierbei darum, die Verweildauer
im oberen Kreislaufsegment so sehr wie möglich auszudehnen. In der
Selbstwahrnehmung des Römischen Reichs hat dies schließlich dazu
geführt, dass die republikanische Geschichtsvorstellung der Zyklen, wie sie
von Polybios bis Sallust vorherrschend war, durch die imperiale Vorstellung
der Roma aeterna, der ewigen Dauer des Reiches, abgelöst wurde. 73
Nimmt man die Reformen zusammen, so war das Überschreiten der
augusteischen Schwelle gleichbedeutend mit einem tief greifenden
Machtsortentausch: Die Relevanz militärischer Macht ging erheblich
zurück, weswegen Octavian auch den Truppenbestand dramatisch
reduzieren konnte, und parallel dazu wuchs das Gewicht politischer,
wirtschaftlicher und vor allem ideologischer Macht. Letztere machte sich
außer in der Ewigkeitsideologie insbesondere in der Idee des Friedens
bemerkbar, der pax Romana, als der neuen Legitimationsvorstellung des
Imperiums: Solange das Römische Reich existierte, würde Frieden
herrschen, und je fester sein Bestand war, desto sicherer würde der Frieden
sein.
Mit dem Überschreiten der augusteischen Schwelle war das Imperium
von einem exploitiven in ein zivilisierendes Verhältnis zwischen Zentrum
und Peripherie übergegangen: Dem Aufbau einer eigenständigen
Bürokratie, mit der die Reichsverwaltung der Willkür der stadtrömischen
Oligarchie entzogen wurde, folgte die allmähliche Ausweitung der
Bürgerrechte des Zentrums auf Teile der Provinzialbevölkerung. So hatte
der im Jahre 70 v. Chr. durchgeführte Zensus für den römischen
Herrschaftsbereich eine Zahl von 910 000 männlichen Bürgern ergeben. Bei
der Volkszählung, die Octavian und Agrippa für das Jahr 28 v. Chr.
angeordnet hatten, kam man auf 4 063 000 römische Bürger – eine
Steigerung, die nicht allein darauf zurückzuführen ist, dass nunmehr
Frauen und Kinder mitgezählt wurden. Zwanzig Jahre später war die Zahl
der römischen Bürger um 170 000 auf 4 233 000 angewachsen. 74 Das sind
sicherlich keine dramatischen Veränderungen, aber sie markieren den
Beginn einer Entwicklung, die im Jahre 212/13 mit der Konstitution
Caracallas endete, in der allen freien Menschen im Reich das römische
Bürgerrecht verliehen wurde. 75
Damit gelangte auch in formeller Hinsicht ein Prozess zum Abschluss, in
dessen Verlauf die Unterschiede zwischen Zentrum und Peripherie des
Reichs immer geringer und bedeutungsloser geworden waren. Schon
Hadrian hatte die politische und wirtschaftliche Bevorzugung Italiens
beendet und es als eine Provinz des Reichs behandelt. Zu diesem Zeitpunkt
hatte sich der wirtschaftliche Schwerpunkt des Imperiums bereits in die
Provinzen verlagert, und Italien, das Zentrum des Reichs, war in eine Phase
der wirtschaftlichen Stagnation eingetreten, was in der Entvölkerung des
Südens seinen deutlichsten Niederschlag fand. 76 Auch die Truppen des
Imperiums wurden nun überwiegend aus jenen Provinzen rekrutiert, in
denen sie stationiert waren. Die militärische Macht war nicht länger ein
Instrument, mit dem das imperiale Zentrum die Peripherie beherrschte;
vielmehr brachte die Peripherie nun selbst die militärische Macht hervor,
die zunehmend wieder zum Garanten für den Fortbestand des Imperiums
wurde. Es waren nichtitalische Kaiser, wie die aus der Provinz Africa
stammenden Severer, die die Sorge um die Armee in den Mittelpunkt der
Reichspolitik stellten.
Das Überschreiten der augusteischen Schwelle zeigt sich insbesondere
darin, dass das politische und wirtschaftliche Gefälle zwischen Zentrum und
Peripherie verschwindet und allmählich auch die rechtlichen Privilegien
beseitigt werden, die dem einstigen Eroberervolk als Frucht seiner früheren
Erfolge verblieben waren. In Rom folgte der Ausdehnung des Bürgerrechts
durch Caracalla die große Steuerreform Diocletians, in deren Rahmen die
bis dahin für alle Italiker geltende Steuerfreiheit aufgehoben wurde. 77
Ihren Abschluss fand die Dezentrierung des Imperiums schließlich in der
Verlagerung der kaiserlichen Zentrale von Rom nach Konstantinopel. Selbst
als Verwaltungszentrum für die westliche Reichshälfte wurde die einstige
Hauptstadt bald darauf abgelöst – im Jahre 293 zunächst von Mailand,
dann, seit 402, von Ravenna, das gegen feindliche Überfälle besser
geschützt war.
Alle Imperien mit längerem Bestand haben sich als Zweck und
Rechtfertigung ihrer Existenz eine weltgeschichtliche Aufgabe gewählt,
eine Mission, die kosmologische oder heilsgeschichtliche Bedeutung für das
Imperium reklamierte. Hegemonialmächte brauchen keine Mission,
Imperien hingegen kommen ohne sie nicht aus. In der Auseinandersetzung
mit ihren Konkurrenten müssen Hegemonialmächte ihre Position
behaupten. Ideologische Macht kann dabei durchaus zum Einsatz kommen,
doch sie hat vor allem eine außenpolitische Funktion. Die imperiale Mission
dagegen wendet sich an die Menschen innerhalb des Imperiums, vor allem
an die in seinem Zentrum. Mehr als alles andere aber ist sie eine
Autosuggestion der politischen Eliten, aus der diese die Überzeugung und
Energie zur Fortführung des imperialen Projekts beziehen.
Man kann die imperiale Mission, den heilsgeschichtlichen Auftrag oder
die theologisch beglaubigte Sendung eines Weltreichs sicherlich unter dem
Stichwort «Ideologie» behandeln und versuchen, den harten Kern des
imperialistischen Projekts ausfindig zu machen, als der dann in der Regel
schnöde materielle Interessen identifiziert werden. Wenn unter Ideologie
die (notwendige) Selbsttäuschung der politischen und gesellschaftlichen
Akteure über die Begrenztheit ihrer Ziele und Zwecke verstanden wird, wie
dies Karl Marx in den Eingangsüberlegungen seiner Schrift Der achtzehnte
Brumaire des Louis Bonaparte vorgeschlagen hat 14 , so kann eine
ideologiekritische Betrachtung imperialer Missionen produktiv und
erhellend sein. Ideologie aber wird leicht mit Verschleierungs- und
Täuschungsmanövern identifiziert 15 , die von einer kleinen Gruppe der
Mächtigen und einigen ihnen verbundenen Intellektuellen unternommen
werden, um die breite Masse über die wahren Ziele und Absichten
imperialer Politik zu täuschen. Da sich das anspruchsvolle Ideologiekonzept
der Marxschen Theorie aus dieser Perspektive in die Priestertrugstheorie
der französischen Aufklärung zurückverwandelt, soll hier grundsätzlich auf
die Behandlung imperialer Missionen unter dem Stichwort der Ideologie
verzichtet werden. Ideologiekritik in Verbindung mit ökonomischer
Imperialismustheorie führt regelmäßig dazu, dass die Komplexität
imperialer Politik darauf reduziert wird, dass einige Akteure ihre Interessen
durchzusetzen versuchen.
Im Gegensatz zu den üblichen Vermutungen der Ideologiekritik
erwachsen aus den imperialen Missionen gerade auch jene Selbstbindungen
und Selbstverpflichtungen, die sich mit den unmittelbaren materiellen
Interessen imperialer Akteure nicht erklären lassen, ja, die aus deren
Perspektive fast immer als Ressourcenverschwendung erscheinen. Die
Mission eines Imperiums nimmt dessen Protagonisten in die Pflicht eines
Projekts, das schon aufgrund seiner Langfristigkeit den begrenzten
Interessenhorizont Einzelner weit übersteigt. Man kann die imperiale
Mission darum auch als ein Mittel begreifen, mit dem ein sich über
Jahrhunderte perspektivierendes Reich denjenigen, die in ihm für eine
begrenzte Zeit Macht und Einfluss haben, seine Handlungslogik aufdrängt:
Es nötigt sie, ihre eigenen Interessen hintanzustellen, wenn sie imperiale
Politik betreiben wollen. In diesem Sinne wendet sich die imperiale Mission
insbesondere an die imperiale Elite.
Die metaphorische Sprechweise, wonach ein Imperium vermittelst seiner
Mission die politischen und gesellschaftlichen Eliten in die Pflicht nimmt
und sie daran hindert, den langfristigen Bestand des Imperiums ihren
kurzfristigen materiellen Interessen zu opfern, kann auch als ein Wechsel-
und Zusammenspiel zwischen Teilen der imperialen Elite beschrieben
werden: Danach ist die imperiale Entscheidungselite kurzfristig darauf
angewiesen, dass sie von der Deutungselite – also den Intellektuellen,
Schriftstellern, Gelehrten, Journalisten und so weiter – Unterstützung in
Form von Perspektiven und Visionen erhält, die ihre Machtausübung
rechtfertigen und überhöhen. Aber diese Perspektiven und Visionen
entfalten ihre politische Wirkung nicht nur als machtsichernde
Legitimation, sondern ebenso als entscheidungsbeschränkende
Selbstbindung. Die sonst eher machtarmen Intellektuellen erlangen auf
diese Weise beträchtlichen Einfluss. In Rom hat der Dichterkreis um
C. Clinius Maecenas eine solche Rolle gespielt, in China kam sie Konfuzius
zu und denen, die seine Ideen verbreiteten, in Spanien den
Neuscholastikern der Schule von Salamanca, in Großbritannien den
Dichtern des viktorianischen Zeitalters, in der Sowjetunion den
marxistischen Intellektuellen, und in den USA haben die neokonservativen
Theoretiker und Publizisten die entsprechende Funktion übernommen: Sie
vor allem haben die Frage nach der weltpolitischen Aufgabe der USA seit
dem Ende des Ost-West-Konflikts aufgegriffen und, gleichgültig ob ihre
Antworten richtig oder falsch sind, die Definitionskompetenz für die
Probleme und Herausforderungen der USA erlangt.
Die imperiale Mission ist mehr als die Selbstlegitimation eines Weltreichs,
wenngleich sie diese Aufgabe durchaus miterfüllt. Pointiert formuliert:
Durch die imperiale Mission verwandelt sich die Selbstlegitimation eines
Imperiums in dessen Selbstsakralisierung. Seine quasireligiöse
Zwecksetzung enthebt es den beliebigen Entscheidungen der politisch
Mächtigen und gesellschaftlich Einflussreichen. Auch wenn sie die Macht
im Imperium innehaben, hat doch letztlich das Imperium sie in seiner
Macht. Um diese Unverfügbarkeit zu erlangen, muss die Mission des
Imperiums mit einer Weihe versehen sein, die sie dem politischen
Alltagsbetrieb weit überhebt. Das lässt sich an der Mission des Römischen
Reichs, der Durchsetzung und Sicherung der pax Romana im
mittelmeerischen Raum und den angrenzenden Gebieten, gut zeigen.
Selbstverständlich kann man geltend machen, es habe ganz im Interesse
der römisch-italienischen Kaufleute und Bankiers gelegen, dass der
Piraterie im Mittelmeer und den Hegemonialkriegen im Osten ein Ende
bereitet wurde – das Handelsrisiko habe sich minimiert und die
Kapitalanlagen seien sicherer geworden. Es kam allerdings ebenso vor, dass
Kaufleute mit Piraten kooperierten 16 und Bankiers von Kriegen
profitierten. Die Sicherheit der Schifffahrt und die Stabilität des Friedens
sind also interessengruppen- und konjunkturabhängig. Auf solch fragile
Dispositionen kann ein Imperium seine zentrale Legitimation nicht
begründen. Die imperiale Mission muss den Interessenschwankungen der
Akteure entzogen werden, und dazu dient ihre sakrale Überhöhung. Im
Falle Roms erfolgte sie durch die Vergöttlichung des Friedens, die schon
unter Octavian mit dem Bau der ara pacis eingesetzt hat. So verpflichtete
der Princeps sich und seine Nachfolger auf ein Projekt, das zur Vorgabe
eines jeden Kaisers wurde, der die Anerkennung von Senat und Volk
erhalten wollte.
Die imperiale Mission kann eher im untergründigen Selbstverständnis
eines Reiches verankert sein, aber sie kann auch immer wieder inszeniert
und beschworen werden. Ersteres ist zumeist in Stabilitätsperioden,
Letzteres in Krisenzeiten der Fall. Dementsprechend wurde in Rom seit der
Mitte des 3. Jahrhunderts, als die Lage an einigen der Reichsgrenzen
zunehmend bedrohlicher wurde, der Friede als die weltgeschichtliche
Mission des Imperiums wieder stärker ins Bewusstsein gehoben. So sollte
verdeutlicht werden, was verloren ginge, wenn das Imperium untergehen
würde. 17 Was zuvor eine Selbstverpflichtung und Selbstbindung der
politischen Eliten gewesen war, musste nun der gesamten Bevölkerung ins
Bewusstsein gerufen werden, um jene Opferbereitschaft zu wecken, die für
den Fortbestand des Imperiums vonnöten war. Selbst der Kirchenvater
Augustinus hat sich zuletzt noch an dieser Verteidigung des Römischen
Reichs beteiligt, als er den Christen innerhalb des Reichs klar zu machen
versuchte, dass der durch das Reich gesicherte Frieden der
Glaubensverkündigung und christlicher Lebensführung günstig sei. Es liege
darum im Interesse der Christen, dass das Römische Reich trotz all seiner
Schwächen und seiner finsteren Anfänge fortbestehe; deswegen sei es ihre
Pflicht, es zu verteidigen. 18
Es waren jedoch weniger die politischen Theoretiker als vielmehr die
Literaten und bildenden Künstler, die entscheidend zur Sakralisierung der
imperialen Mission beitrugen. Während die Baumeister und Bildhauer die
Friedenstempel errichteten, mit denen die zivilisierende Wirkung der
römischen Herrschaft ins Bild gesetzt wurde, pries besonders der um
Maecenas gescharte Literatenkreis, zu dem mit Horaz und Vergil die beiden
bedeutendsten Dichter ihres Zeitalters gehörten, das augusteische
Reformprogramm als Erneuerung der Welt, die bestehen werde, solange
das römische Imperium existiere. Für Octavian war die Unterstützung
durch die Literaten von höchster Bedeutung, denn sein Reformprogramm
war durch Gesetze und Verordnungen allein nicht zu verwirklichen. Es
bedurfte ebenso kulturellen Glanzes wie eines Horizonts der Sinnhaftigkeit,
der durch Bürokraten nicht zu vermitteln war.
Insbesondere Vergil hat sein Werk in großen Teilen mit Octavians
Reformprogramm verknüpft. So richteten sich seine Eklogen, die er unter
dem Titel Bucolica versammelte, gegen den Sittenverfall der städtischen
Eliten, dem gegenüber er das Landleben als Quell zur Erneuerung des mos
maiorum, der Sitte der Vorväter, pries. Mit der Revitalisierung des mos
maiorum verknüpfte Vergil die Hoffnung, dass das gegenwärtige Eiserne
Zeitalter überwunden und das Goldene Zeitalter vom Anfang der
Menschheitsgeschichte wieder erstehen könne. Ein ähnliches Programm
verfolgte er auch in seinen Georgica 19 , und in der Aeneis schließlich, die
aufgrund von Vergils plötzlichem Tod unvollendet geblieben ist und nach
dem Willen des Dichters hätte vernichtet werden sollen, wird der Bericht
von den Fahrten des Aeneas nach seiner Flucht aus dem brennenden Troja
mit Prophezeiungen durchsetzt, die auf die «weltumspannende»
Friedensherrschaft des Augustus vorausverweisen. Vergil entwirft hier die
Vision einer universalen Friedensordnung, in der Aeneas als Präfiguration
und Vorbild des Augustus erscheint. Seine Siege stehen für die
Überwindung des Dämonischen auf dem Weg zum Frieden. Das Römische
Reich war damit nicht nur dem Frieden, sondern auch der Humanität
verpflichtet. Die von Vergil mit religiösen Weihen ausgestattete Mission
Roms war die einer Befriedung und Humanisierung der Welt, aus der dann
Jupiters Verheißung des imperium sine fine, der Ewigkeit Roms erwuchs:
«Diesen (den Römern als Nachkommen des Aeneas) setze ich weder in
Raum noch Zeit eine Grenze,/endlos Reich habe ich ihnen verliehen; selbst
Juno, die harte,/die mit Furcht jetzt Meer und Land und Himmel ermattet,/
wird zum Besseren lenken den Sinn, wird mit mir die Römer/hegen, die
Herren der Welt, das Volk im Gewande der Toga.» 20
Die römische Herrschaft über den mittelmeerischen Raum ist
gerechtfertigt, weil sie den Weltfrieden sichert, und die Integration ins
Reich eröffnet die Teilhabe an den Segnungen der Zivilisation. Außerhalb
der Reichsgrenzen herrscht die Barbarei und wütet weiterhin der Krieg.
Aber damit nicht genug: Der Reichsfrieden wird mit dem Mythos des
Goldenen Zeitalters verbunden und auf diese Weise sakral überhöht. Dabei
geht es um nicht weniger als die Rückkehr ins Paradies mit imperialen
Mitteln. Beides, die Idee des Goldenen Zeitalters wie die des Paradieses als
des gegen eine feindliche Umwelt geschützten Gartens («Garten Eden»),
stammt aus dem Osten und war der sehr viel härteren machtpolitischen
Denkungsart der Römer ursprünglich fremd. Indem Vergil diese
Vorstellungen in seinen Entwurf der römischen Geschichte einschmolz,
leistete er einen wichtigen Beitrag zur kulturellen Integration des Reiches.
Rom hat den Osten nicht nur machtpolitisch übernommen, es war auch
bereit, dessen kulturelles und ideenpolitisches Erbe anzutreten. Die Fahrten
des Aeneas von Troja nach Italien wurden zur Beschreibung dieses
Transfers, der Kampf um Troja war die Chiffre für die Selbstzerstörung der
östlichen Kulturwelt in Streit und Krieg, und aus dem Westen kam die
Rettung in Gestalt des römisch-imperialen Friedens – man kann
nachvollziehen, warum Augustus dafür gesorgt hat, dass die Aeneis aus dem
Nachlass des Vergil gerettet und publik gemacht worden ist.
Auch Horaz 21 hat seine Dichtung – teilweise – in den Dienst der
imperialen Mission Roms gestellt. Im Mittelpunkt seines Frühwerks stehen
die Schrecken des Bürgerkriegs, und die Hoffnung richtet sich auf den, der
sie vertreiben soll: Octavian/Augustus. Für Horaz ist die Krise des
römischen Staatswesens weniger konstitutioneller als vielmehr moralischer
Art; darin stimmt er mit dem augusteischen Reformprogramm überein.
Gegen sexuelle Freizügigkeit und Ehebruch, Habgier und Betrug, Luxus
und Verweichlichung feiert er die altrömischen Tugenden der moderatio,
virtus, pietas und iustitia. Wo sie gesichert sind, ist auch der Fortbestand
des Goldenen Zeitalters gewahrt. Das Imperium hat hier die Funktion,
Niedergang und Verfall zu verhindern, indem es dafür sorgt, dass Sitte,
Anstand und Gerechtigkeit ständig erneuert werden. Auf ein solches Reich
ist der bekannteste Satz des Horaz gemünzt: «Dulce et decorum est pro
patria mori.» – «Süß und ehrenvoll ist es, für’s Vaterland zu sterben.» 22
Der Blick auf die Werke Vergils und Horaz’ zeigt, dass der imperiale
Friede nicht nur als eine besondere Qualität großräumig-herrschaftlicher
Ordnung gedacht wurde. Zugleich war er eine Erneuerung der Zeit und die
Umkehr des Niedergangs. Nicht nur im machtpolitischen, auch in einem
kosmologisch-heilsgeschichtlichen Sinn haben Imperien weltgeschichtliche
Relevanz. Das unterscheidet sie einmal mehr von Staaten und
Hegemonialmächten, die ihrem eigenen Selbstverständnis nach in der Zeit
agieren, während Imperien für sich in Anspruch nehmen, dass sie über den
Zeitlauf entscheiden. Stärkster Ausdruck dessen ist die sakrale Aufladung
der imperialen Mission. Das Goldene Zeitalter, von dem bei Vergil und
Horaz die Rede ist, steht für mehr als den Neubeginn des großen
Weltjahres; ihm liegt die Vorstellung zugrunde, der Lauf des Weltjahres
lasse sich imperial beeinflussen. Der Zeitlauf wird neu gestartet, aber kraft
der imperialen Macht verharrt er am Anfang, und der eigentlich als
zwangsläufig angesehene Verfall über ein Silbernes und Bronzenes zum
Eisernen Zeitalter ist aufgehalten. In einer Zeit, in der Verfall und
Niedergang als die natürliche Tendenz der Geschichte begriffen wurden,
galt dies als die weltgeschichtliche Rolle der Imperien: Sie halten den
Niedergang auf und verhindern das Weltende. Nachdem sich im Verlauf des
18. Jahrhunderts eine fortschrittsorientierte Grundvorstellung vom Gang
der Geschichte durchgesetzt hat, sind Imperien dagegen als
weltgeschichtliche Beschleuniger betrachtet worden: Sie zivilisieren die
Welt und verbreiten den Fortschritt, und wenn sie versagen, hat dies
weltgeschichtliche Folgen. Diese Sicht gilt für Briten wie Amerikaner.
Richtet sich die imperiale Mission vor allem an die Eliten im Zentrum des
Reichs und wird durch den Barbarendiskurs die Ordnung des imperialen
Raumes gegen seine chaotische Umgebung abgegrenzt, so soll das
Prosperitätsversprechen alle Bewohner des Imperiums erreichen. Dabei
geht es auch nicht um langfristige Aufgaben und imaginäre Konstruktionen,
sondern um handfeste Vorteile, die das Imperium allen verspricht, die
innerhalb seiner Grenzen leben: Der imperiale Raum ist eine Zone der
Prosperität, die von Armut und Elend umgeben ist. Es ist demnach eine
Wohltat für die Peripherie, wenn sich die Ordnung des Imperiums ausdehnt.
Tatsächlich ist das Prosperitätsversprechen eines der überzeugendsten
Argumente, mit denen Imperien ihre Existenz rechtfertigen können, denn in
vielen Fällen sind ihre Grenzräume auch Räume des Übergangs von
Wohlstand zu Armut. Ob das jedoch der Fall ist, hängt von der Art des
Imperiums und dem Typus seiner Machtausübung ab.
Für Steppenimperien ist es typisch, dass sie den Übergang von der
exploitiven zur investiven beziehungsweise zivilisierenden Form imperialer
Herrschaft nicht vollziehen. Für sie bleibt der eroberte Raum grundsätzlich
Beute, und dementsprechend wird er behandelt. Da die Eroberten den
nomadischen Eroberern zivilisatorisch fast immer überlegen sind, können
Letztere ihre Herrschaft nur auf Gewalt und Ausplünderung stützen. Schon
die Verstetigung von Herrschaft ist unter diesen Umständen schwierig; in
der Regel beschränkt sie sich auf mehr oder minder regelmäßige
Beutezüge. Eine sich auf das Prosperitätsversprechen stützende
Rechtfertigung des Imperiums wäre hier kaum überzeugend.
Die überwiegend exploitive Beziehung zwischen Zentrum und Peripherie
ist jedoch, wie wir gesehen haben, keineswegs auf die kurzlebige
Beherrschung territorialer Räume in Form von Steppenimperien
beschränkt, sondern lässt sich ebenso in der Frühphase der Seeimperien
beobachten. Die portugiesische wie die niederländische Handelsherrschaft
im indisch-südostasiatischen Raum war wesentlich exploitiver und kaum
investiver Art. Allerdings beruhte sie auf der Bewahrung statt auf der
Zerstörung von vorhandenen Herrschaftsverhältnissen und
Sozialstrukturen, und ihre Aneignungsform war der Tausch und nicht
Gewalt. Die Steppennomaden überrannten und vernichteten die Ordnungen,
auf die sie stießen, um sich deren Werte und Schätze anzueignen; die
Kaufmannsabenteurer, die den großen Entdeckern folgten und Seeimperien
schufen, dockten an die bestehenden Ordnungsstrukturen und
Produktionsverhältnisse an, stellten Verbindungen zwischen ihnen her,
brachten den Fernhandel unter ihre Kontrolle und organisierten einen
wirtschaftlichen Austausch über große Räume hinweg, bei dem sie die
terms of trade zu ihren Gunsten gestalteten. 66
Auf Dauer und mit dem allmählichen Anwachsen des Handelsvolumens
freilich untergrub die Handelsherrschaft der Europäer die vorgefundenen
Sozial- und Herrschaftsstrukturen. Unmerklich, aber stetig erodierten die
Bedingungen, von denen die Handelsimperien abhängig waren. Sie zehrten
gewissermaßen von ihnen, und irgendwann waren sie aufgezehrt. Jetzt
musste, wenn das Imperium fortbestehen sollte, in die Stabilisierung der
Herrschaftsverhältnisse und Sozialstrukturen investiert werden. Diese
Investitionen konnten in der Finanzierung von Infrastrukturmaßnahmen, in
der Weitergabe von Fertigungstechniken beziehungsweise im Aufbau von
Industrien, in der Errichtung von Garnisonen in größeren Städten und an
strategischen Positionen oder in der Entsendung von Verwaltungspersonal
bestehen, das für den Aufbau einer modernen Verwaltung sorgen sollte.
Dadurch erhöhten sich zwangsläufig die Kosten des Imperiums, und ein
Zentrum, das imperiale Politik betrieb, um an ihr zu verdienen, fasste unter
diesen Umständen fast immer den Entschluss, sich aus der direkten
Verantwortung für die handelstechnisch kontrollierten Räume
zurückzuziehen und nach günstigeren Konditionen für aus Handel und
Wandel zu beziehende Gewinne Ausschau zu halten. Fasst man die großen
Zusammenhänge der Weltwirtschaftsgeschichte ins Auge, so sind die
Seeimperien und Handelsreiche in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
durch globale Ökonomien abgelöst worden, die zunächst und für einige Zeit
erheblich kostengünstiger funktionierten. Ob sie dies auf Dauer können, ist
eine andere Frage. Auf sie wird noch zurückzukommen sein. 67
Der Kriegstheoretiker Carl von Clausewitz hat, freilich bezogen auf die
Probleme konventioneller Kriegführung, das Problem der Überdehnung
unter dem Stichwort «Kulminationspunkt des Angriffs» verhandelt. Dieser
Kulminationspunkt ist ein Spezialproblem dessen, was Clausewitz die
abnehmende Kraft des Angriffs nennt, für ihn «ein Hauptgegenstand der
Strategie»: 16 Je weiter ein Angreifer auf feindlichem Gebiet vordringt,
desto mehr nimmt dadurch seine absolute Macht ab. Diese Schwächung ist
dann zu verkraften, wenn die Macht des Gegners infolge dieses Vordringens
schneller schwindet als die eigene, dem Verlust an absoluter Macht also ein
Zugewinn an relativer Macht entspricht. Das aber ist, wie Clausewitz
annimmt, nur auf räumlich begrenzten Kriegsschauplätzen möglich,
während dort, wo der Gegner über große strategische Tiefe verfügt, sich die
Kräfterelationen genau umgekehrt entwickeln: Hier kostet das Vordringen
des Angreifers ihn mehr Ressourcen, als der Gegner zur Verteidigung
benötigt. Auch dies kann den Angreifer an sein Ziel führen, allerdings nur
dann, wenn die Gegenseite kriegsmüde ist, den Verlust des aufgegebenen
Gebietes nicht länger ausgleichen kann und auf einen baldigen
Friedensschluss angewiesen ist. «Der Angreifende kauft Friedensvorteile
ein, die ihm bei den Unterhandlungen etwas gelten sollen, die er aber auf
der Stelle bar mit seinen Streitkräften bezahlen muss.» 17
Clausewitz’ merkantile Metaphorik des Kriegsgeschehens macht das
Kernproblem der Überdehnung anschaulich: Sie zu meiden ist nicht unter
allen Umständen zweckmäßig, sie kann durchaus zu dem gewünschten
Erfolg führen; das Problem ist jedoch, dass im Voraus bezahlt werden muss
und nicht klar ist, ob sich diese «Investitionen» lohnen werden. Das nämlich
hängt von Reaktionen des Gegners ab, die nicht präzise vorhergesehen
werden können. Kann dieser den Angreifer dazu bringen, den
Kulminationspunkt zu überschreiten, erfolgt ein Umschwung, ein
Rückschlag, dessen «Gewalt (…) gewöhnlich viel größer (ist) als die Kraft
des Stoßes war». 18 Der Partisanenkrieg lässt sich darum auch, unabhängig
von seinen strategischen und taktischen Besonderheiten, als eine politische
Entscheidung zur Verweigerung von Friedensverhandlungen begreifen. 19
Sein strategisches Kalkül besteht darin, dass die angreifende Seite
permanent bar zahlt, aber dafür keine Gegenleistung in Form von Friedens-
oder Kapitulationsangeboten erhält; sie erschöpft sich dadurch zunehmend
und muss nach einiger Zeit ihrerseits Friedensverhandlungen aufnehmen
oder den Rückzug einleiten. Henry Kissinger hat dieses Problem in dem
berühmten Diktum zusammengefasst, dass Partisanen gewinnen, wenn sie
nicht verlieren, konventionelle Streitkräfte hingegen verlieren, wenn sie
nicht gewinnen. 20 Das Risiko imperialer Überdehnung besteht darin, dass
genau dieser Mechanismus in Gang gesetzt wird.
Die von Clausewitz angestellten, genuin militärstrategischen
Überlegungen zum Kulminationspunkt des Angriffs haben in die Theorien
der imperialen Überdehnung unmittelbaren Eingang gefunden, etwa in
Chalmers Johnsons These, den USA drohe insbesondere im pazifischen
Raum ein blowback: Sie hätten dort den Kulminationspunkt der Expansion
inzwischen überschritten, und die ersten Anzeichen des drohenden
Rückschlags seien bereits erkennbar. 21 Die von einigen Kritikern an die
Adresse der USA gerichtete Warnung, sie sollten den Schritt von der
Hegemonie zum Imperium meiden, da sie im Falle des Scheiterns als
Imperium auch die Hegemonie verlieren würden 22 , ist ebenfalls nach dem
Modell von Kulminationspunkt und Rückschlag gedacht. Dabei wird das
Clausewitzsche Theorem dahin gehend vereinfacht, dass grundsätzliche
Zurückhaltung, auch nur in die Nähe des Kulminationspunkts zu kommen,
die Lösung des Problems sei. So freilich hat Clausewitz nicht gedacht. Sein
Ratschlag lief nicht auf prinzipielle Risikovermeidung hinaus, denn er war
überzeugt, einige Herausforderungen seien nur dann zu bewältigen, wenn
man gelegentlich riskante Entscheidungen treffe: «Bedenkt man, aus wie
viel Elementen die Gleichung der Kräfte zusammengesetzt ist, so begreift
man, wie schwer es in manchen Fällen auszumachen ist, wer von beiden die
Überlegenheit auf seiner Seite hat. Oft hängt alles an dem seidenen Faden
der Einbildung.» 23
Sieht man einmal davon ab, dass Clausewitz seine Überlegungen auf der
Grundlage eines territorialen Bewegungsmodells entwickelt hat, das bereits
zu seinen Lebzeiten für Seeimperien so nicht gegolten hat, und dass es
durch die Erschließung des Luft- und Weltraums zu einer
Entterritorialisierung der militärischen Fähigkeiten gekommen ist, so ist
sein Theorem im Prinzip auch auf die heutigen Konstellationen anwendbar.
Von besonderer Bedeutung ist dabei Clausewitz’ Hinweis auf die
zahlreichen Unbekannten in der Gleichung der Kräfte, die heute noch
erheblich schwerer zu berechnen ist als zu seinen Zeiten. Dementsprechend
ist die Frage der möglichen Überdehnung nicht mehr nur auf die Relation
zwischen den verfügbaren Streitkräften und der Größe des zu
kontrollierenden Raumes zu beziehen, sondern hat vor allem die
wirtschaftlichen Potenziale der imperialen Macht sowie die «moralische»
Verfassung seiner Bevölkerung zu berücksichtigen. Beides
zusammengenommen entscheidet über die Durchhaltefähigkeit einer
Macht, und da der Partisanenkrieg sich darauf konzentriert, einen Gegner
zu zermürben, dessen politischen Willen er nicht brechen kann, kommt
beiden Faktoren hier die ausschlaggebende Bedeutung zu. 24
Das Risiko imperialer Überdehnung liegt also wesentlich darin, dass die
Ressourcen des Imperiums knapp werden, und dieses Risiko ist umso
größer, je genauer die antiimperialen Kräfte wissen, welche Ressourcen des
Imperiums begrenzt und welche tendenziell unerschöpflich sind. Es kommt
also nicht von ungefähr, dass viele Führer antiimperialer Kriege vorher eine
längere Zeit im imperialen Zentrum zugebracht und sich dort mit den
Stärken und Schwächen des Imperiums vertraut gemacht haben. Aber
bevor es zu einer bedrohlichen Verknappung der materiellen Ressourcen
des Imperiums kommt, dürfte die Durchhaltebereitschaft der Bevölkerung
des imperialen Zentrums bereits erschöpft sein. Deswegen ist die
«moralische» Verfassung der Reichsbevölkerung inzwischen zum
Hauptangriffsziel antiimperialer Akteure geworden, gleichgültig, ob sie sich
dabei einer Strategie des Partisanenkrieges oder des Terrorismus bedienen.
Das Römische wie das Chinesische Reich konnten von ihren Gegnern
noch militärisch besiegt werden; das galt selbst noch für das Spanische und
das Osmanische Reich, aber nicht mehr für das Britische Empire und
eigentlich auch nicht für das zarische Russland. Weder Napoleon noch
Hitler vermochten es, Großbritannien direkt anzugreifen, und die indirekten
Strategien, die in Nordafrika ansetzten, zeitigten ebenfalls nicht den
gewünschten Erfolg. Der Niedergang des Britischen Empire war
wirtschaftlicher Art, und er ereignete sich langsam und schrittweise
zwischen 1914 und 1956. 25 Die Kosten und Verluste, die dem Empire aus
zwei Hegemonialkriegen in Europa sowie dem Krieg mit Japan um seine
ostasiatischen Kolonien entstanden waren, hatten das Land so sehr
geschwächt, dass es sich zu einer energischen, auf lange Zeiträume
angelegten Verteidigung seiner Kolonien gegen die verschiedenen
Unabhängigkeitsbewegungen nicht mehr entschließen konnte und sich
weitgehend kampflos zurückzog. 26 Einmal mehr zeigte sich darin die
imperiale Klugheit und Weitsicht der Briten, die – im Unterschied zu den
Franzosen – erkannten, dass die Grenzen des Empire überdehnt waren und
zurückgenommen werden mussten. Dass sie schließlich fast mit den
Grenzen des Mutterlandes identisch sein würden, hat sich Ende der 1940er
Jahre bei dem Entschluss, Indien, das Kernstück des Empire, in die
Unabhängigkeit zu entlassen, wohl niemand vorstellen können. Und eine
Zeit lang ersparte man sich diese Einsicht, indem man sich den Fortbestand
des Empire als Commonwealth imaginierte. 27
Von wenigen Ausnahmen wie Kenia und Burma abgesehen, haben die
Briten darauf verzichtet, ihr Empire mit militärischen Mitteln
aufrechtzuerhalten. Die Franzosen dagegen haben dies versucht; in
Indochina sind sie dabei militärisch gescheitert, in Nordafrika hingegen
wirtschaftlich und psychologisch. Mit der Kapitulation der Sumpffestung
Dien Bien Phu an der wichtigsten Verbindungslinie zwischen Laos und
Vietnam im Mai 1954 haben sie den Krieg um Indochina auf dem
Schlachtfeld verloren – nicht zuletzt, weil sich die USA geweigert hatten,
ihnen logistischen Beistand zu gewähren, was die Fortsetzung der
Kampfhandlungen ermöglicht hätte. 28 In Algerien dagegen war die
Situation eine völlig andere: Es gab über eine Million französischer Siedler,
die in dem Land heimisch geworden waren, man konnte auf eine erhebliche
Unterstützung durch algerische Militäreinheiten zurückgreifen und besaß
einen beträchtlichen Rückhalt in der Mittelschicht des Landes, die zunächst
keineswegs an der Unabhängigkeit von Frankreich, sondern an vollen
politischen Rechten interessiert war. Nach einem acht Jahre dauernden
Krieg, der zu einer tiefen Spaltung der französischen Gesellschaft geführt
hatte, war Frankreich jedoch wirtschaftlich so zerrüttet und psychisch
demoralisiert, dass es 1962 im Vertrag von Evian in die Unabhängigkeit
Algeriens einwilligte. 29 Der Algerienkrieg, der von den Franzosen politisch
entschlossen und militärisch kompetent geführt worden war, hatte gezeigt,
dass Kolonialmächte politisch auch dann zu bezwingen waren, wenn man
sie militärisch nicht schlagen konnte. Mit den Mitteln des Partisanenkriegs
war es gelungen, Frankreich wirtschaftlich und psychologisch zu
zermürben. 30
Der Algerienkrieg wurde zum Muster sämtlicher antiimperialer
beziehungsweise antikolonialer Kriege der 1960er bis 1980er Jahre, von
Vietnam über Mozambique, Namibia und Angola bis Afghanistan. Ein ums
andere Mal ging es den Partisanen darum, die militärische Präsenz von
Groß- oder Kolonialmächten in Gebieten außerhalb des Mutterlandes in eine
Form imperialer Überdehnung zu verwandeln. Aus der Perspektive der
Partisanenbewegungen diente die Anwendung militärischer Gewalt nicht
mehr, wie in den klassischen zwischenstaatlichen Kriegen, dazu, den
Gegner wehrlos zu machen, um ihm den eigenen politischen Willen
aufzuzwingen, sondern sie wurde zum Hebel, um die Gegenseite
wirtschaftlich zu schwächen und dabei ihren politischen Willen langsam zu
ermatten und zu zersetzen. Nach einiger Zeit, so das Kalkül, würde man im
imperialen Zentrum feststellen, dass die Präsenz an der Peripherie
erheblich mehr kostete, als sie einbrachte, und damit würden die
politischen Kräfte gestärkt werden, die nicht länger bereit waren, die
Lasten der imperialen Präsenz in entlegenen Weltteilen zu tragen. So war
es in den USA, wo sich die Mittelschicht zunehmend gegen die
Vietnampolitik der Regierung wandte, dann in Portugal, wo eine Gruppe
höherer Offiziere durch einen Militärputsch das Ende des Kolonialreichs
einleitete, und schließlich auch in der Sowjetunion, wo die Reformer um
Gorbatschow auf eine schnelle Beendigung des Afghanistanunternehmens
drängten, weil es ihrer Ansicht nach die innere Reformfähigkeit der
Sowjetunion blockierte.
Imperiale Überdehnung ist also keine objektive Größe, die nach den
theoretischen Vorgaben der Geopolitik beziehungsweise Geostrategie
berechnet werden könnte. Die Wiederentdeckung der Partisanenstrategie
während des Zweiten Weltkriegs, die anschließende Friedenssehnsucht in
den europäischen Gesellschaften und nicht zuletzt deren Konzentration auf
den Wiederaufbau des zerstörten Kontinents haben erheblich dazu
beigetragen, dass die imperialen Überdehnungslinien neu festgelegt
wurden. Hinzu kam die politische Mobilisierung der Bevölkerungen an der
Peripherie, und mit einem Mal waren Gebiete, die über Jahrzehnte, wenn
nicht Jahrhunderte feste Bestandteile imperialer Räume waren, zu Regionen
imperialer Überdehnung geworden. Genau dies meinte der britische
Premierminister Harold Macmillan, als er 1960 bei seiner Rundreise durch
Afrika davon sprach, ein «wind of change» habe das Empire erfasst. 31 Wo
zuvor von Überdehnung keine Rede war, wurde sie nun konstatiert, und
neben der Schwächung der imperialen Zentren hat dazu ein Erstarken der
Peripherie entscheidend beigetragen.
Die Schwächung des Zentrums lässt sich in statistischen Daten angeben,
das Erstarken der Peripherie jedoch mitnichten: Dem Beginn der
Entkolonisierung ging kein ökonomischer Take-off der Kolonien,
Protektorate und Mandatsgebiete voran; ihr Erstarken ergab sich fast
ausschließlich dadurch, dass sich ein Wille zur Unabhängigkeit und die
Bereitschaft entwickelte, für seine Durchsetzung erhebliche Opfer zu
bringen. Damit waren die Zeiten vorbei, in denen die Briten mit einigen
Hundert Verwaltungsbeamten und ein paar Tausend Soldaten riesige
Gebiete kontrollieren konnten. Das Selbständigkeitsstreben an der
Peripherie hatte die Beherrschungskosten des Empire dramatisch erhöht,
und vor allem dadurch hatten sich die Linien der imperialen Überdehnung
vollkommen verschoben.
Diejenigen, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die These
vom definitiven Ende der Imperien vertraten 32 , stützten sich im
Wesentlichen auf die hier skizzierten Entwicklungen. Sie übersahen dabei
jedoch, dass imperiale Überdehnung eine dynamische Größe ist, die sich
nicht nur mit den Ressourcen der Konfliktparteien und dem Willen, diese
zum Einsatz zu bringen, verändert, sondern auch mit der Form imperialer
Herrschaft, durch die Beherrschungs- wie Widerstandsressourcen neu
bewertet und gewichtet werden. Indem sich das US-Imperium von der
Beherrschung des Territoriums auf die Kontrolle von Strömen (des Kapitals
und der Informationen, der Waren und Dienstleistungen) verlegte, indem es
darauf verzichtete, den Raum am Boden zu beherrschen, weil es ihn viel
effektiver und kostengünstiger aus der Luft beziehungsweise dem Weltraum
kontrollieren kann, haben die klassischen Formen des Partisanenkrieges als
Instrument zur Erhöhung der imperialen Beherrschungskosten viel von
ihrer früheren Wirksamkeit eingebüßt. Sie sind inzwischen eher ein Mittel,
mit dem Warlords ihre Ressourcenkriege austragen 33 , eine Bedrohung für
die globalen Kontrollinstrumente der amerikanischen Macht stellen sie
nicht dar. Tarnkappenbomber und Marschflugkörper sind für Partisanen
nicht angreifbar, und die nachhaltige Unterstützung durch die Bevölkerung
der Konfliktgebiete hilft den Widerstandskämpfern wenig, wenn deren
militärische Ziele außerhalb dieser Regionen liegen.
Von jeher ist es der Aufbau einer asymmetrischen Überlegenheit, durch die
sich imperiale Akteure in die Lage versetzt haben, die Überdehnungslinien
hinauszuschieben und sich so Räume zu eröffnen, die ihnen sonst
verschlossen geblieben wären. Das galt bereits für die klassischen Imperien
der Römer und Chinesen: Ihr Militär war effektiver organisiert, besser
ausgerüstet und meist umsichtiger geführt als das ihrer Gegner, aber
entscheidend war, dass das Imperium diese Überlegenheit auf Dauer zu
stellen, also gewissermaßen zu institutionalisieren vermochte. Freilich
handelte es sich hierbei um eher schwach ausgebildete Asymmetrien 34 , die
durch entsprechende Anstrengungen der Gegner tendenziell ausgeglichen
werden konnten – sei es, dass sie die imperiale Militärorganisation
kopierten, sei es, dass sie Handwerker und Ingenieure entführten und diese
dazu brachten, ihr Wissen und ihre Fertigkeiten in den Dienst der Gegner
des Imperiums zu stellen. 35
Sehr viel stärker war die asymmetrische Überlegenheit der imperialen
Mächte bei Seemächten ausgeprägt, deren kanonenbewehrte Kriegsschiffe
eine Technologie repräsentierten, die für die potenziellen Gegner an der
Peripherie uneinholbar war und für deren Handhabung man nautische
Fähigkeiten brauchte, die die Gegenseite nicht besaß. 36 Mit der
industriellen Revolution haben diese großen Asymmetrien dann auch auf die
Landkriegführung übergegriffen. Zum bleibenden Symbol dafür ist die
Schlacht von Omdurman (1898) geworden, in der ein britisches
Expeditionskorps unter Lord Kitchener mit Hilfe seiner Artillerie und vor
allem durch den Einsatz der neuen Maxim-Maschinengewehre die
zahlenmäßig um ein Vielfaches überlegenen Truppen des Mahdi von
Khartum besiegte. Aber nicht der Sieg als solcher wurde zum Sinnbild
asymmetrischer Überlegenheit, sondern die Verluste, die beide Seiten in
der Schlacht erlitten hatten: Auf britischer Seite kamen 48 Soldaten um, auf
sudanesischer hingegen waren es 13 000. 37
Solange die antiimperialen Akteure der Peripherie sich in symmetrischer
Form einem derart überlegenen Gegner entgegenstellten, war ihre
Niederlage unabwendbar. Erst als sie begannen, ihrerseits asymmetrische
Formen der Gefechtsführung zu entwickeln, indem sie Schlachten
vermieden, keine Frontalangriffe mehr unternahmen und stattdessen
Nachschubkolonnen und kleinere Einheiten angriffen, gelang es ihnen, ihre
technologische und organisatorische Unterlegenheit teilweise zu
kompensieren. Durch die technologische Entwicklung sowie strategische
und taktische Kreativität, durch die Veränderungen imperialer Kontrolle
sowie die politische Mobilisierungsfähigkeit der antiimperialen Akteure
haben sich die Überdehnungslinien der Imperien immer wieder verschoben.
Die Annahme, diese Bewegung habe sich in unserer Gegenwart dramatisch
verlangsamt oder sie sei auf die Grenzen der Staaten fixiert worden, ist
wenig plausibel. Nur werden die neuen Linien imperialer Überdehnung
nicht mehr auf geographischen Karten, sondern eher in Kapitalströmen,
Informationskonkurrenz und der Verfügung über technologische
Revolutionen wie strategische Innovationen zu finden sein. Der Wettstreit
zwischen technologischer Innovation und strategisch-taktischer Kreativität
ist weiterhin im Gange.
Politische Mobilisierung und militärische Asymmetrierung:
die Strategien antiimperialer Akteure
Sowohl der Partisanenkrieg als auch der Terrorismus zielen auf die
Ressourcen, über die das Imperium nur begrenzt verfügt. Welche
Ressourcen dies im Einzelnen sind, hat sich in der Geschichte der
antiimperialen Kriege zwar immer wieder verändert, aber einige allgemeine
Aussagen darüber sind durchaus möglich. Politische Aufmerksamkeit etwa
ist in Verbindung mit Klugheit und Weitsicht eine prinzipiell knappe
Ressource, da die Fähigkeit zur Verarbeitung und Beurteilung von
Informationen im imperialen Zentrum schnell an Grenzen stößt. Das gilt
erst recht, wenn das Imperium an mehreren Teilen seiner Peripherie von
unterschiedlichen antiimperialen Akteuren herausgefordert wird.
Ein gutes Beispiel für eine solche kognitive Überlastung ist die Art und
Weise, wie die Kennedy-Administration in den Vietnamkrieg
hineingeschlittert ist, ohne sich darüber im Klaren zu sein, wer der
wirkliche Feind war und auf welche Art von Krieg sie sich dabei einließ. 59
Für die Präsidenten Kennedy und Johnson sowie für deren
Verteidigungsminister McNamara war der Konflikt in Vietnam Bestandteil
der globalen Ost-West-Konfrontation. Das aber wurde er tatsächlich erst in
dem Maße, wie sich die USA in Vietnam zunächst mit Militärberatern, dann
mit Luftwaffeneinheiten und schließlich mit eigenen Bodentruppen
engagierten. Jetzt nämlich sahen die Sowjetunion und China die
Möglichkeit, die USA durch die Unterstützung Nordvietnams in einen
kräftezehrenden Konflikt hineinzuziehen, an dem sie selbst nur indirekt
beteiligt waren. Für den Großteil der Vietnamesen dagegen stand der Ost-
West-Gegensatz nicht im Mittelpunkt. Sie kämpften einen nationalen
Befreiungskrieg, bei dem sie die USA in der Nachfolge der ehemaligen
Kolonialmacht Frankreich sahen. Deswegen waren sie auch bereit, die
ungeheuren Lasten und Opfer des Krieges zu tragen und jeden weiteren
Eskalationsschritt mitzugehen, ohne politische Konzessionen zu machen.
Die USA wiederum glaubten, wenn sie die Kosten in die Höhe trieben, die
der Norden für die Unterstützung des Vietcong zu zahlen hatte, könnten sie
ihn dazu bringen, die Hilfsleistungen einzustellen – die Gegner im Süden
wären von den Nachschublinien abgeschnitten und leicht zu besiegen. Das
erwies sich allerdings als Illusion.
Für die USA und vor allem für deren Verteidigungsminister Robert
McNamara war der Vietnamkrieg ein instrumenteller Krieg, in dem es
darum ging, einen definierten politischen Zweck durchzusetzen: die
Aufrechterhaltung des Status quo, wonach Nordvietnam zum Ostblock und
Südvietnam zum Westen gehörte. Für die Vietnamesen dagegen handelte es
sich um einen existenziellen Krieg, in dem es um ihre nationale Existenz
ging. 60 Genau dies hatte die US-Administration in ihrer Fixierung auf den
Ost-West-Konflikt nicht hinreichend erkannt. Kognitive Überlastung der
imperialen Elite heißt insbesondere, dass die unterschiedlichen Konflikte, in
die das Imperium an seinen weit ausgreifenden Grenzen und Peripherien
verwickelt ist, nach einem identischen Muster wahrgenommen und
bearbeitet werden. Ende der 1970er Jahre erlag die sowjetische Führung in
Afghanistan einem ähnlichen Irrtum. Aber während Vietnam für die
ressourcenstärkeren USA nur eine schwere Schlappe war, wurde
Afghanistan für die Sowjetunion zum Anfang vom Ende des Imperiums. 61
In Vietnam wie in Afghanistan ist die Macht der Schwachen nicht zuletzt
aus Fehleinschätzungen und -entscheidungen der Starken erwachsen.
Im Prinzip haben die USA wie die Sowjetunion dabei den Lernprozess
wiederholt, den die europäischen Kolonialmächte zwischen den späten
1940er und frühen 1960er Jahren bereits durchlaufen hatten. Knapp
zusammengefasst, lautete dessen Lehre, dass moderne Imperien nicht in
der Lage sind, größere Territorien unter Kontrolle zu behalten, wenn es
dort zu einer grundlegenden Mobilisierung der Bevölkerung gegen die
Zentralmacht kommt. Ein solcher Widerstand war fast immer der Anfang
vom Ende der imperialen Herrschaft in diesem Raum. 62
Darin unterscheiden sich die Erfolgsbedingungen antiimperialer Akteure
des 20. Jahrhunderts deutlich von denen früherer Zeiten, in denen die
imperialen Mächte Aufstandsbewegungen an ihren Rändern mit eiserner
Faust zerschlagen und anschließend ein Regime errichten konnten, das jede
Rebellion im Keim erstickte. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es
den Briten möglich, den Burenaufstand in Südafrika niederzuschlagen und
die eigene Herrschaft wieder zu stabilisieren. Dabei sind sie nicht davor
zurückgeschreckt, die burische Zivilbevölkerung – in der Regel Frauen,
Kinder und alte Menschen – in concentration camps zusammenzufassen, um
so den Partisanengruppen den Rückhalt zu entziehen. In diesen Camps
herrschten miserable hygienische Verhältnisse, und viele sind darin elend
gestorben. 63 Man wird bezweifeln können, dass nach der globalen
Medienvernetzung, insbesondere dem Aufkommen der audio-visuellen
Medien in den 1960er und 1970er Jahren, die Briten diese Politik über
längere Zeit hätten durchhalten können. Bilder von Leid und Tod hätten
massive Proteste im imperialen Zentrum ausgelöst, und das Imperium wäre
in der Weltöffentlichkeit so sehr unter Druck geraten, dass die Lager nach
einiger Zeit hätten geöffnet werden müssen. Es ist unwahrscheinlich, dass
die Briten den Burenkrieg, wenn er in der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts stattgefunden hätte, noch hätten gewinnen können.
Das Beispiel des Burenkrieges ist auch darum aufschlussreich, weil sich
die Buren mit großem Geschick all jener Formen der Kriegführung
bedienten, die ein halbes Jahrhundert später gewissermaßen zur
Erfolgsgarantie des antiimperialen Kampfes avancierten. Offenbar hängen
Sieg und Niederlage im antiimperialen Krieg von mehr ab als bloß der
kreativen Entwicklung neuer militärischer Strategien und Taktiken. Aber
bevor man die gewachsenen Erfolgschancen eines solchen Krieges allein
und ausschließlich auf die medialen Veränderungen im 20. Jahrhundert
zurückführt, sollte man sich daran erinnern, dass bereits die
amerikanischen Siedler mit einer wesentlich partisanischen Kriegführung
ihre Unabhängigkeit von Großbritannien erkämpft haben.
Nun ließe sich dagegen einwenden, dass der Sieg der Amerikaner im
Unabhängigkeitskrieg ohne die Unterstützung durch die Franzosen
ungewiss gewesen wäre, die während der entscheidenden Phase des
Krieges für kurze Zeit die Seeherrschaft vor der amerikanischen Ostküste
innehatten und so die Kapitulation der britischen Truppen in Yorktown
erzwangen. 64 Einen vergleichbaren Beistand, etwa durch das Deutsche
Reich, haben die Buren nicht erhalten, was ihre politische wie militärische
Durchhaltefähigkeit eingeschränkt hat. Viel folgenschwerer dürfte
allerdings gewesen sein, dass es sich bei den Buren um eine Gruppe von
lediglich 30 000 Menschen handelte, deren politische Unterstützung sich im
Verlauf des Krieges nicht verbreitern ließ. Dazu hätten sie auf die schwarze
Bevölkerung der Territorien zurückgreifen müssen, gegenüber der sie in
weit höherem Maße als die Briten als Unterdrücker auftraten. Die Buren
haben den Krieg letztlich deshalb nicht gewonnen, weil sie sich zwar im
technischen Sinne der Partisanenstrategie bedienten, deren politischen
Eskalationsmechanismus jedoch nicht in Gang setzen konnten: Durch ihn
verwandelt sich mit dem Fortgang des Krieges die Imperialmacht mehr und
mehr aus einer pazifizierenden in eine unterdrückerische Größe, und das
hat zur Folge, dass die Partisanen in ihrem Operationsgebiet mit einer
ständig zunehmenden Unterstützung rechnen können.
Auch für Partisanenkriege gilt, was seit dem Übergang von agrarischen zu
industriellen Gesellschaften vom Krieg im Allgemeinen gesagt werden kann:
dass er mehr kostet als einbringt, gleichgültig, ob man als Sieger oder
Verlierer aus ihm hervorgeht, und dass es Jahre, wenn nicht Jahrzehnte
dauert, bis die durch einen solchen Krieg verwüsteten Gesellschaften
wieder das wirtschaftliche Niveau vor Kriegsbeginn erreicht haben. Da
antiimperiale Partisanenkriege allerdings durchweg in Regionen mit
agrarischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen geführt wurden,
waren die mittel- und langfristigen Kosten des Krieges für die
antiimperialen Akteure nicht sogleich sichtbar. Industrieanlagen mit teurer
und aufwendiger Technologie waren hier nicht vorhanden, und die
großräumige Verminung von Straßen und Feldern wurde in den
Entkolonisierungskriegen nur selten praktiziert; sie wurde erst in den
1980er und 1990er Jahren von Bürgerkriegsparteien und Warlords zur
üblichen Form der Kriegführung gemacht.
Die negativen Folgen längerer Partisanenkriege waren also zunächst eher
sozialer als wirtschaftlicher Art. Sie bestanden in der Auflösung der
früheren sozialen Ordnung, der Erosion traditioneller Autorität und dem
Heranwachsen mindestens einer Generation, die wesentlich durch den
Krieg geprägt worden war. Entgegen den Erwartungen Frantz Fanons,
eines Theoretikers des antikolonialen Kampfes, förderte das Klima von
Krieg und Gewalt nicht die Entwicklung freier, selbstbewusster Menschen,
welche die Schmach der kolonialen Unterdrückung aktiv überwunden
hatten, sondern die traumatisierter Charaktere, die den Aufbau einer neuen
Gesellschaft mehr behinderten als vorwärts brachten. 73 Häufig erwarteten
sie, für die durchgestandenen Lasten und Leiden belohnt zu werden, und
selten waren sie davon zu überzeugen, dass die eigentliche Aufbauarbeit
noch vor ihnen liege und sich in ihr entscheide, ob man die Zwecke,
derentwegen man den Krieg begonnen hatte, auch wirklich erreichen
werde. Die Veteranen des Partisanenkrieges waren (und sind) eine der
größten Hypotheken bei der Entwicklung der neuen Gesellschaft und der
Stabilisierung ihrer Staatlichkeit. In der Regel erheben sie Anspruch auf
lebenslange Versorgung mit Staatsrenten und erwarten eine materielle
Besserstellung gegenüber dem Rest der Gesellschaft. Die Folge davon sind
Misswirtschaft und Korruption.
Kaum eines der Länder, das in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
seine Unabhängigkeit in einem Partisanenkrieg erkämpfte, hatte am Ende
des Jahrhunderts auch nur annähernd die Ziele erreicht, die für die ersten
Jahre nach der Unabhängigkeit gesteckt worden waren. Es sprechen also
triftige Gründe dagegen, dass sich durch einen lange dauernden Krieg die
Wirtschaftslage der imperialen Peripherie verbessern lässt. Zwar ist es mit
Hilfe des Partisanenkrieges möglich, technologische und organisatorische
Unterlegenheit durch die grenzenlose Leidens- und Opferbereitschaft der
eigenen Bevölkerung aufzuwiegen, die Beherrschungskosten der imperialen
Macht anzuheben und diese schließlich zum Rückzug zu zwingen. Aber
damit verbunden ist in der Regel eine derart tief greifende Selbstzerstörung
der Gesellschaft, dass politische Stabilität und wirtschaftliche Prosperität in
den befreiten Gebieten auf Jahrzehnte unmöglich werden.
Eine solche Bilanz lässt sich freilich nur rückblickend ziehen. Den
zeitgenössischen Akteuren konnte sie so nicht bewusst sein. Im Gegenteil:
Auf der Basis der Revolutionstheorien, denen sie anhingen, waren sie davon
überzeugt, dass sich die politische Mobilisierung, die den Volksaufstand
beziehungsweise den Partisanenkrieg begleitete, unmittelbar in einen
Prozess der gesellschaftlichen Modernisierung und des wirtschaftlichen
Aufschwungs überführen ließe. Diese Erwartung trog jedoch in jeder
Hinsicht. 74
Es hätte für antiimperiale Akteure am Ende des 20. Jahrhunderts also
gute Gründe gegeben, das Mittel des Partisanenkriegs zu meiden, jedenfalls
dann, wenn sie mit der Befreiung in erster Linie eine wirtschaftliche
Besserstellung der Bevölkerung in den umkämpften Gebieten bewirken
wollten. Wem es um die Erhöhung des Lebensstandards und die Mehrung
des gesellschaftlichen Reichtums ging, tat gut daran, auf den Einsatz
solcher Mittel zu verzichten. Sobald man an der weltwirtschaftlichen
Entwicklung teilhaben wollte, musste man sich mit den ehemaligen
imperialen Mächten, die die Weltwirtschaft kontrollieren, ohnehin aufs
Neue arrangieren und ihnen einen erheblichen Einfluss auf die eigene
Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung einräumen, insbesondere dann,
wenn man Kredite des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank
bekommen wollte. 75
Als Form des antiimperialen Kampfes hat sich der Partisanenkrieg somit als
ambivalent erwiesen. Mit dieser Erkenntnis ist der Niedergang des
Marxismus, der ehemaligen Leitideologie der Befreiungskriege, eng
verbunden. Sobald sozioökonomische Überlegungen eher für eine
Kooperation mit dem imperialen Zentrum als für den Kampf gegen
imperialistische Ausbeutung sprechen, ist der wesentlich auf
sozioökonomische Fragen konzentrierte Marxismus keine geeignete
Anleitung für einen solchen Kampf mehr. Tatsächlich ist er bereits längere
Zeit vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion durch ethnisch-
nationalistische und vor allem religiös-zivilisatorische Ideologien abgelöst
worden, die, wenn man so will, den Vorteil haben, dass sie den Erfolg des
antiimperialen Kampfes nicht von sozioökonomischen Indikatoren abhängig
machen. Vielmehr geht es in ihnen darum, ethnische, kulturelle oder
religiöse Identität zu bewahren. Mit Kosten-Nutzen-Rechnungen ist diesem
identitären Antiimperialismus nicht beizukommen. Sein Aufstieg, der
komplementär zum Niedergang des Marxismus erfolgte, hat dazu geführt,
dass Krieg und Gewalt ihren instrumentellen Charakter verloren und eine
existenzielle Dimension bekommen haben: Sie sind nun nicht mehr nur
Mittel zur Erreichung bestimmter Ziele und Zwecke, sondern Techniken der
Selbstbehauptung und Selbstbestätigung. Wer sie nicht beherrsche, gehe
unter oder verliere zumindest seine kulturelle Identität. Wichtiger als das
Ergebnis des Kampfes sei darum der Kampf um des Kämpfens willen. Die
folgenreichste Ausprägung dieser Entwicklung sind die neueren Formen
des internationalen Terrorismus, besonders die Gestalt des
Selbstmordattentäters.
Die Frage, welchen Stellenwert die zivilisatorisch-kulturelle Identität im
Verhältnis zu den Chancen und Gefahren sozioökonomischer
Veränderungen an der Peripherie der Wohlstandszonen einnimmt, ist also
entscheidend für die zukünftigen Kriege in der Welt und die Form der
terroristischen Bedrohung imperialer Zentren. Pointiert formuliert: Setzen
die Eliten dieser Länder auf Wirtschaftswachstum und die Aussicht, an
materiellem Wohlstand zu partizipieren, so sind Kompromisse
beziehungsweise Formen des Interessenausgleichs möglich. Setzen sie
dagegen auf die Verteidigung von Identitäten, die durch die Lebensweise
des imperialen Zentrums bedroht sind, kann es weder Kompromiss noch
Ausgleich geben. Die westliche Lebensweise ist nämlich unter den
Bedingungen globalisierter Wirtschafts-, Informations- und Mediensysteme
nicht auf bestimmte Regionen zu begrenzen. Zudem steht ihre Ausbreitung
nicht unter einer direkten politischen Kontrolle, sondern wird von
wirtschaftlichen wie zivilgesellschaftlichen Akteuren vorangetrieben:
einerseits durch die Erschließung neuer Märkte für westliche Waren,
andererseits durch Bildungsprogramme und Projekte zur Gleichstellung der
Frauen. Darüber hinaus gibt es an der Peripherie der imperialen Ordnung
stets einflussreiche Gruppen, die sich von Wertordnung und Lebensweise
im imperialen Zentrum stark angezogen fühlen und sie übernehmen wollen.
Der Kampf antiimperialer Akteure beginnt daher als ein Bürgerkrieg in den
Gesellschaften an der imperialen Peripherie, und in ihm wird darum
gerungen, von welchen Werten sie geprägt sein sollen.
Waren in herkömmlichen Bürgerkriegen der Kampf um die politische
Macht und der um gesellschaftliche Werte geradezu untrennbar
miteinander verbunden, so kann man inzwischen die Ausdifferenzierung von
zwei unterschiedlichen Typen des Bürgerkriegs außerhalb der imperialen
Zentren beobachten: Einerseits kämpfen Warlord-Gruppierungen
gegeneinander, denen es allein um die militärische Kontrolle eines
bestimmten Gebietes geht, das für sie interessant ist, weil dort wertvolle
Bodenschätze oder Rohstoffe zu finden sind. 76 Die Werte und religiös-
kulturellen Orientierungen der dort lebenden Menschen interessieren die
Warlords nicht; sie tyrannisieren die Bevölkerung, aber sie wollen sie nicht
erziehen oder verändern. Dem stehen andererseits Bürgerkriege
gegenüber, in denen die Kontrolle der Bodenschätze und die Übernahme
der politischen Macht eine nur sekundäre Rolle spielen, weil es in ihnen um
die kulturelle Identität der Menschen geht: dass sie ein an den
Gepflogenheiten der Vorfahren orientiertes Leben führen, dass religiöse
Werte für sie unbedingte Verbindlichkeiten haben, dass sie den
hedonistischen Versuchungen des Westens widerstehen und so weiter.
Aus den erstgenannten Bürgerkriegen kann sich das imperiale Zentrum
politisch und militärisch heraushalten: Die siegreiche Partei wird sich
spätestens dann von selbst in die imperialen Wirtschaftskreisläufe
hineinbegeben, wenn sie die Bodenschätze kapitalisieren will, um die der
Kampf geführt wurde. Die Rohstoffe, an denen die Wohlstandszonen
interessiert und auf die sie angewiesen sind, fließen ihnen also zu,
unabhängig davon, wer gerade in einem bestimmten Gebiet das Sagen hat.
Greift das imperiale Zentrum in diese Kriege ein, dann in der Regel nicht,
um politische oder wirtschaftliche Interessen zu verfolgen, sondern weil die
Verbrechen und Grausamkeiten eines Warlords das allgemein noch
hingenommene Maß überschreiten und eine Koalition von
Nichtregierungsorganisationen und Medien eine humanitäre Intervention
zur Beendigung der Gewalt verlangen. Sie wird jedoch allenfalls zögerlich
erfolgen, zumal, wenn ein rasches Ende der Kämpfe nicht abzusehen ist.
Bei dem zweiten Typus von Bürgerkriegen, in denen es um Normen und
Werte geht, ist die Interventionsbereitschaft ebenfalls gering. Hier aber ist
das imperiale Zentrum aus der Sicht der Konfliktparteien von Anfang an
beteiligt, schon weil die Gegner des herrschenden Regimes dessen
Stabilität und Fortbestand auf die Unterstützung des imperialen Zentrums
zurückführen und so zu antiimperialen Akteuren werden. Was von ihnen
dabei hauptsächlich abgelehnt und bekämpft wird, ist die aus den
imperialen Zentren in die Peripherie diffundierende weiche Macht, und
deswegen ist der Vorschlag Joseph Nyes, die USA sollten sich bei der
Sicherung ihrer Macht mehr auf ihre soft power als auf hard power
verlassen 77 , in solchen Fällen kaum weiterführend. Tatsächlich nimmt soft
power einen wesentlich größeren Einfluss auf die Lebensweise von
Gesellschaften als hard power: Letztere tangiert nur die Machtverhältnisse,
Erstere verändert die Identität. Fundamentalismus in seinen
unterschiedlichen Spielarten ist vor allem Widerstand gegen die weiche
Macht eines imperialen Zentrums. Dieser Widerstand muss nicht notwendig
gewaltsam sein, doch angesichts der Dynamik, welche die weiche Macht
des Imperiums entfaltet, ist er ständig in Versuchung, zu gewaltsamen
Mitteln zu greifen.
Das 20. Jahrhundert ist, zumal wenn man es mit Eric Hobsbawm als ein
kurzes Jahrhundert begreift, das erst 1914 begonnen und bereits 1989
geendet habe 4 , durch die wellenartig aufeinander folgenden
Zusammenbrüche von Imperien und Reichen gekennzeichnet. Schon vor
Beginn des Ersten Weltkriegs galten das Osmanische Reich, die
Donaumonarchie und das Zarenreich als instabil, unreformierbar und dem
Untergang geweiht. Ab einem bestimmten Zeitpunkt haben die
verantwortlichen Politiker in Wien, Sankt Petersburg und Istanbul den
Krieg gesucht, um mit seiner Hilfe vielleicht doch noch dem drohenden
Untergang zu entgehen. Keiner der drei Mächte ist dies gelungen. Das
Zarenreich hat nicht einmal das Kriegsende erlebt, und die
Friedensverhandlungen in Saint-Germain und Sèvres wurden bereits mit
den Nachfolgestaaten der Donaumonarchie und des Osmanenreichs
geführt. Von den großen Reichen im mittel-, ost- und südosteuropäischen
sowie dem kleinasiatisch-arabischen Raum hatte nur das deutsche den
Krieg – wenn auch mit erheblichen Gebietsverlusten – überstanden, und das
wohl nur, weil es seiner inneren Struktur nach mehr ein Nationalstaat als
ein Reich war.
Man wird jedoch kaum sagen können, dass an die Stelle der imperialen
Ordnung eine stabile Ordnung von Nationalstaaten getreten wäre. Zu
heterogen waren dafür die in den neuen Staaten zusammengeführten
Bevölkerungen und zu unterschiedlich die Interessenlagen und Motive der
westlichen Siegermächte, die diese Entwicklung angestoßen hatten. Der
amerikanische Präsident Woodrow Wilson hatte zwar das Recht auf
nationale Selbstbestimmung verkündet, sah sich jedoch aufgrund der
ablehnenden Haltung des amerikanischen Kongresses außerstande, den
Aufbau und Stabilisierungsprozess in Europa durch amerikanische
Unterstützung abzusichern. Obendrein vermochte er sich gegen die
divergierenden Interessen der verschiedenen Parteien in Versailles nicht
durchzusetzen und kehrte als gescheiterter Politiker nach Washington
zurück. 5
Eric Hobsbawm hat das Recht auf nationale Selbstbestimmung als das
«Verhängnis der europäischen Politik im 20. Jahrhundert» bezeichnet. Es
wurde schon bald zur Ursache für eine Fülle von Kriegen und
Bürgerkriegen, weil der vormals imperial beherrschte Raum nicht durch
Grenzziehungen von Nationalstaaten geordnet werden konnte, ohne neue
Minderheiten, Ungerechtigkeiten und Unterdrückung entstehen zu lassen. 6
Die Probleme Mittel- und Südosteuropas, die mit den ethnischen
Vertreibungen in der Türkei und Griechenland begannen und mit der
Zerschlagung der Tschechoslowakei im Frühjahr 1939 endeten, bevor der
gesamte Großraum während des Zweiten Weltkriegs mehrfach umgewälzt
wurde 7 , können als paradigmatisch für postimperiale Konstellationen
angesehen werden. Viele Entwicklungen, die sich dort in der
Zwischenkriegszeit vollzogen, wiederholten sich in der postkolonialen wie
der postsowjetischen Ära in abgewandelter Form: von den Infiltrations- und
Destabilisierungsversuchen der ehemaligen Imperialmächte über die
Putschversuche von Armeeeinheiten bis zu den ethnischen Konflikten und
schließlich Bürgerkriegen in den neu gebildeten Staaten.
1918/19 waren die USA nicht bereit und wohl auch nicht in der Lage, die
politische und ökonomische Ordnung in Mittel- und Südosteuropa zu
garantieren. So blieb der postimperiale Raum sich weitgehend selbst
überlassen: Die USA zogen sich zurück, das Deutsche Reich war infolge der
Niederlage zu schwach und durch den Versailler Frieden politisch
gebunden, und die gerade entstehende Sowjetunion scheiterte zunächst bei
dem Versuch, dort eine ideologische oder gar faktische Herrschaft zu
errichten. Nach 1945 aber wurden der mittel- und teilweise auch der
südosteuropäische Raum zum so genannten äußeren Imperium der
Sowjetunion, und als sich die UdSSR schließlich auflöste, übernahmen die
USA gemeinsam mit ihren westeuropäischen Verbündeten die Funktion, vor
der sie in der Zwischenkriegszeit noch zurückgeschreckt waren. Ihre
Aufgaben reichten von wirtschaftlicher Hilfe über politische Stabilisierung
bis hin zu militärischen Interventionen. In Bosnien und im Kosovo wurden
Letztere als humanitäre Akte dargestellt; das waren sie zweifellos auch,
aber wesentlich handelte es sich dabei um Eingriffe von außen, die eine
Wiederholung der Entwicklung verhindern sollten, zu der es in der
Zwischenkriegszeit gekommen war. Dass die USA als «raumfremde
Macht» 8 dabei die Hauptverpflichtungen übernahmen, lag zunächst daran,
dass sie als einzige die militärischen Fähigkeiten dazu besaßen. Das hatte
zugleich den Vorteil, dass sie die imperiale Aufgabe der Friedenssicherung
erfüllen konnten, ohne dadurch zwangsläufig – wie bei den «raumnahen»
europäischen Mächten – befürchten zu müssen, in eine imperialen Rolle
hineinzugeraten.
Die zahllosen Diagnosen vom Ende des imperialen Zeitalters, die die
politische Publizistik des ausgehenden 20. Jahrhunderts durchzogen, haben
für eine neue Weltordnung manches in Aussicht gestellt, aber sicher nicht
die Wiederkehr des Imperiums. Große Erwartungen wurden dagegen, zumal
in Europa, in die UNO gesetzt, die nun endlich die Aufgaben übernehmen
sollte, die ihr bei der Gründung am Ende des Zweiten Weltkriegs zugedacht
worden waren. Infolge der Selbstblockade des Weltsicherheitsrats hatte sie
diese bis zum Niedergang der Sowjetunion nicht oder nur teilweise erfüllen
können. Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts galt dieses Problem als
überwunden.
Als weiterer Faktor für das zunehmende Gewicht der UNO erschien die
schwindende Souveränität der Staaten, die weder bei der Herstellung
äußerer Sicherheit noch bei der Garantie einer stabilen Währung mehr die
Rolle spielen konnten, durch die sie einst groß geworden waren. 23 Der
Niedergang der staatlichen Kontrollmacht und die Notwendigkeit,
Souveränität in wachsendem Maße an transnationale Institutionen
abzugeben, ließen erwarten, dass die Ära der Weltorganisation jetzt erst
richtig beginnen werde. Vor allem in Westeuropa war diese Erwartung weit
verbreitet, was nicht zuletzt daran lag, dass man hier mit der Organisation
für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und der
Europäischen Union (EU) gute Erfahrungen gemacht hatte. Die
Entwicklung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg sollte, so die
europäische Sicht, zum Modell der neuen Weltordnung werden. 24
Neben dem Ordnungsmodell der Staatengemeinschaft zirkulierten aber
auch Vorstellungen von einer zunehmenden Entstaatlichung der
Wirtschaftsräume, die sich unabhängig von territorialen Grenzen
strukturieren und in globalem Maßstab miteinander verbinden würden. 25
Der Typus des Nationalstaates, wie er sich im 16. und 17. Jahrhundert
herausgebildet hatte, würde dabei allmählich verschwinden. Diese Ordnung
war keine der Räume und Strukturen, sondern eine der Bewegungen und
Ströme, gleichgültig, ob es sich dabei um Kapital, Dienstleistungen,
Informationen oder Arbeitskräfte handelte. Der Staat verlor mit seiner
Funktion auch einen Teil seiner Macht, und dieser Teil wurde in die
Selbstregulation von Marktregimen und das politische Wirken von
Nichtregierungsorganisationen (NGOs) aufgelöst. 26
Was in beiden Perspektiven einer neuen Weltordnung, der UN-zentrierten
Staatengemeinschaft wie der globalen Metropolenvernetzung, unterschätzt
wurde, war die Bedeutung der Peripherie und deren Rückwirkungen auf das
Zentrum. Vor allem diese waren es, die zu der unerwarteten
Wiederbelebung des imperialen Ordnungsmodells geführt und ihm selbst
bei liberalen Intellektuellen eine gewisse Sympathie verschafft haben, wie
etwa die Feststellung Richard Rortys verdeutlicht, in der gegenwärtigen
Lage sei die Pax Americana das Beste, worauf die Welt hoffen könne. 27
In der Staatenordnung mit der UNO als zentralem Aushandlungsort und
letztinstanzlichem Entscheider wurde schlichtweg unterstellt, dass weltweit
stabile Staatlichkeit vorhanden sei, die nur noch in ein Rechts- und
Aushandlungsregime eingebunden werden müsse. Wie leichtfertig und
letztlich falsch diese Unterstellung war, zeigte der bereits in den 1990er
Jahren einsetzende Prozess des Staatenzerfalls, für den inzwischen der
Begriff failing states zur stehenden Wendung geworden ist. Nur in West-
und Mitteleuropa, Nordamerika und Ostasien ist jene Form von
Staatlichkeit anzutreffen, die die Voraussetzung für eine funktionierende
Weltordnung im angesprochenen Sinn ist. In Mittel- und Südamerika
dagegen, in Afrika, dem Nahen und Mittleren Osten, in der Kaukasusregion,
Zentralasien und Teilen Südostasiens müsste diese Ordnung der
Staatlichkeit zunächst (wieder-)hergestellt werden, und es ist die Frage, ob
sie nicht im Zuge der Globalisierung schneller zerrieben wird, als sie
aufgebaut werden kann. Gleichzeitig ist ein erfolgreiches nation-building
nicht nur beim Stabilitätsimporteur, sondern auch beim Stabilitätsexporteur
folgenreich: Es entstehen Protektorate und Mandatsgebiete, und diejenigen,
die dort offene Gewaltanwendung unterbinden, eine neue Infrastruktur
aufbauen, Personal ausbilden und den gesamten Konversionsprozess
überwachen, geraten in eine quasi-imperiale Rolle, selbst wenn diese von
vornherein zeitlich begrenzt ist und die Funktion hat, sich selbst überflüssig
zu machen. 28 Ein ums andere Mal sind es die USA, die mit der Aufgabe
auch die Rolle des pazifizierenden Imperiums übernehmen. Bosnien, der
Kosovo und Afghanistan sind Beispiele dafür.
Mit Blick auf das Metropolen-Netzwerk, das eine Ordnung des Fluiden
herstellen soll, ist spätestens seit dem 11. September 2001 deutlich
geworden, wie empfindlich dessen Strukturen sind. Die reichen und
dynamischen Zentren interessieren sich nicht für die Räume außerhalb des
Netzwerks, und anders als im Modell des nation-building investieren sie
auch nicht in deren Ordnung. Von dort aus aber können Angriffe auf die
hochgradig verletzlichen Verbindungslinien zwischen den Metropolen
geführt werden, sodass eine ausgreifende Sicherung dieser Räume
unvermeidlich wird. 29 Kurzum: Angesichts der neuen Formen des Krieges
und der Kriegführung haben sich die postimperialen Weltordnungsentwürfe
als unzureichend oder illusionär erwiesen. Im Fall der UN-Ordnung sind es
die Ressourcenkriege zwischen Warlords, Befreiungsbewegungen und
Glaubenskriegern, derer die Weltgemeinschaft nicht Herr wird; im Fall der
Metropolen-Netzwerke ist es der transnationale Terrorismus, der sich in die
globalen Ströme der Waren und Kapitalien, Menschen und Dienstleistungen
einlagert, um sie für seine Logistik zu nutzen und Überraschungsangriffe zu
starten. 30
Damit war das Imperium als politisch-ökonomisches Ordnungsmodell
wieder in der Diskussion, und es wurde sehr bald deutlich, dass es genau
das zu leisten versprach, was die UN-zentrierte Staatenwelt und das
Netzwerk der Metropolen nicht vermochten: das entschlossene Eindringen
in staatsfreie Räume mit dem Ziel, dort zumindest Völkermord und
Massaker zu verhindern, und einen großräumig angelegten Schutz der
fragilen Verbindungslinien zwischen den großen Wirtschaftszentren der
Erde. Ersteres firmierte fortan unter dem Begriff der humanitären
militärischen Intervention, Letzteres unter dem Schlagwort vom Krieg
gegen den Terror. Dass sich beides im Zeichen imperialer Machtentfaltung
sehr schnell miteinander vermischte, war kaum verwunderlich. Die Debatte
über das Imperium begann dementsprechend abermals als Kritik des
Imperiums.
Die erste Frage, die dabei auftauchte, war die, ob es sich bei der
Wiederkehr des Imperiums um einen politisch willkürlichen Vorgang
handelte, der also auch wieder rückgängig gemacht werden konnte, oder ob
strukturelle Erfordernisse das Handeln der Akteure an der Spitze der USA
prägten, gleichgültig, welcher Präsident gerade im Amt war. Konkret geht
es dabei um die Frage, ob die USA den eingeschlagenen Weg unilateraler
Machtpolitik auch beschritten hätten, wenn George W. Bush nicht zum
Präsidenten gewählt worden wäre und die neokonservativen Kreise keinen
politischen Einfluss erlangt hätten. Tatsächlich sind nicht wenige Kritiker
der Meinung, dass die amerikanische Politik im Wesentlichen durch
persönliche Entscheidungen des Präsidenten unter dem Einfluss seiner
Berater und deren ideologischer Ausrichtung einen imperialen Charakter
angenommen habe. 31 Wäre dem so, hätte sich die Frage nach der Logik
des Imperiums erledigt, und an ihre Stelle müsste eine Untersuchung über
die Psychopathologie George W. Bushs und seiner engsten Umgebung
treten. Der Filmemacher Michael Moore hat diesen Weg überaus
publizitätsträchtig beschritten. Die komplexere Variante dieser Frage setzt
dagegen bei dem Problem an, ob die Entstehung von Imperien wesentlich
auf imperialistisch gesonnene Politiker im Machtzentrum oder auf
strukturelle Probleme an deren Rändern zurückzuführen ist. Dabei ist im
Sinne des oben Gesagten zu bedenken, dass die Mission eines Imperiums
politische Eliten in die Pflicht nimmt, ihre Problemwahrnehmung
perspektiviert und schließlich für entsprechende Entscheidungen eine nicht
zu unterschätzende Legitimationsressource bereitstellt.
Wahrscheinlich ist diese Frage dennoch nicht ein für allemal zu
entscheiden: Das mongolische Weltreich etwa wäre ohne die Person
Dschingis Khans nicht entstanden. Er erst schuf eine Heeresorganisation,
die nicht nur zu weit ausholenden Eroberungen in der Lage war, sondern
aufgrund ihrer inneren Strukturen auch permanent Eroberungszüge
durchführen musste. Andererseits zeigt die Geschichte der
Steppenimperien eine Regelmäßigkeit bei der Entstehung
expansionsfähiger Loyalitätskerne, die von den Hunnen über die Awaren bis
zu den Mongolen reicht und die Vermutung nahe legt, dass die
geographischen Verhältnisse des zentralasiatischen Raums das Auftauchen
charismatischer Imperialisten nicht bloß begünstigt, sondern geradezu
herausgefordert haben. Wie wir gesehen haben, lässt sich das bis zum
Zarenreich, ja bis zur Sowjetunion, der letzten imperialen Macht dieses
Raums, verlängern: Es sind machtpolitische Vakuen und wirtschaftliche
Entwicklungsunterschiede, die neben den Entscheidungen charismatischer
Eroberer für Imperienbildung ausschlaggebend sind.
Dagegen lässt sich einwenden, dass sich eine klug vorausschauende
Politik diesem Sog, an dessen Ende zumeist eine Form imperialer
Überdehnung steht, zu widersetzen habe. Ob das möglich ist, hängt davon
ab, in welchem Maß die Entscheidungsträger von den Begehrlichkeiten
ihres Erzwingungsapparats und den Stimmungen der Bevölkerung abhängig
sind. In Imperien mit starken Militäraristokratien oder dynamischen
Bourgeoisien kann dieser Sog eine so nachhaltige Unterstützung finden,
dass die politische Führung sich ihm nicht entziehen kann. Und in
demokratischen Imperien können es Forderungen aus der Wahlbevölkerung
sein, die unter dem Eindruck der Bilder und Berichte von Massakern,
Hungerkatastrophen und endlosen Bürgerkriegen die politische Spitze zur
Intervention drängen und auf diese Weise den Sog der Peripherie
verstärken. Für Letzteres hat sich inzwischen der Begriff des liberalen oder
demokratischen Imperialismus eingebürgert 32 , den Michael Ignatieff als
«Empire lite» bezeichnet hat. 33
Die Selbstbezeichnung als Imperium oder Empire ist in den USA lange Zeit
unüblich, wenn nicht gar verpönt gewesen. Paul Kennedy hat in seinem
vielbeachteten Buch von Great Powers, «großen Mächten», gesprochen 34 ,
und wo von Empires die Rede war, waren die Weltreiche der
Vergangenheit, nicht aber die USA gemeint. 35 Der Imperiumsbegriff war,
wenn er überhaupt für die Gegenwart in Anspruch genommen wurde, als
kritische Bezeichnung für die Sowjetunion reserviert. Seine affirmative
Verwendung stellt einen Tabubruch dar, den diejenigen, die ihn
vorgenommen haben, sich genau überlegt haben dürften.
Als die Kritiker des Vietnamkrieges die USA des Imperialismus ziehen,
taten sie das in polemischer Absicht, um eine Nation aufzurütteln, die sich
auf ihr antiimperialistisches Selbstverständnis viel zugute hielt. Wenn nun
in positiv-bestärkender Hinsicht von einem amerikanischen Empire die
Rede war, konnte dies kaum im Sinne einer Fortsetzung früherer Imperien
gemeint sein. Es kam also darauf an, zusammen mit dem Aufgreifen des
Imperiumsbegriffs die Differenz gegenüber den alten Imperien und
insbesondere gegenüber der Politik des Imperialismus zu markieren, und
dementsprechend war von einem informal empire, einen empire by
invitation oder einem consensual empire die Rede. 36
Was also macht das definitiv Neue des amerikanischen Imperiums aus?
Michael Ignatieff spricht von einer «neuen Form imperialer Herrschaft für
ein postimperiales Zeitalter», die durch ihre Verpflichtung auf
Menschenrechte und Demokratie sowie die Herstellung und Sicherung
freier Märkte gekennzeichnet sei; für Andrew Bacevich macht der Verzicht
auf Satellitenstaaten im klassischen Sinn und stattdessen die globale
Einflussnahme über vermittelnde Institutionen, wie die Nato, die UNO, den
Internationalen Währungsfonds und die Weltbank, das Neue des
amerikanischen Imperiums aus; Charles Maier sieht dessen Spezifikum in
einer Mischung aus wirtschaftlichem Austausch und der Vergabe von
Sicherheitsgarantien, während für Dan Diner das US-Empire nichts anderes
ist als die machtpolitische Absicherung des Weltmarkts, dessen beständige
Ausdehnung dem Rest der Welt immer weniger souveräne
Gestaltungsmacht belasse. 37
Dagegen bestreiten die Kritiker des American Empire das substanziell
Neue dieser Art von Herrschaft und stellen sie in die Tradition des
klassischen Imperialismus. 38 Als Hauptindiz wird die Aufteilung des Globus
durch das US-Militär in fünf Regionalkommandos genannt, die dafür sorgen
sollen, dass die Interessen der USA nicht gefährdet werden. Die
gelegentlich mit römischen Prokonsuln verglichenen
Regionalkommandeure, zuständig für Lateinamerika, Europa, den Mittleren
Osten, den pazifischen Raum sowie für Nordamerika, können auf über
250 000 außerhalb der USA stationierte Soldaten zurückgreifen. Verteilt auf
mehr als 700 Militärstützpunkte in über 150 Ländern werden Truppen und
Material bereitgehalten, die von hier aus schnell und ohne lange
Anmarschwege eingesetzt werden können. Aber auch wenn die
US-Verbände nicht zum Einsatz kommen, sind die Militärstützpunkte ein
beständiger Einflussfaktor in der Region. Mit ihrer Hilfe ist es möglich,
Regierungen zu stabilisieren oder einzuschüchtern. 39 Für die Kritiker
bilden sie das Skelett des neuen Imperiums und erlauben es den USA, eine
bis ins 19. Jahrhundert zurückreichende Tradition imperialer Politik
fortzusetzen: «Die amerikanische imperiale Geschichte», so Chalmers
Johnson, «ist eine Geschichte der auf ausländischem Boden errichteten
Militärbasen.» 40
Während aus dieser Persektive die machtpolitischen und militärischen
Kontinuitäten herausgestellt werden, weisen andere Kritiker der
amerikanischen Imperialpolitik darauf hin, dass sich der Imperialismus
schon seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr auf die administrativ-
militärische Beherrschung von Räumen oder die Verfügung über
Handelsstützpunkte beschränkt habe. Vielmehr zielte die moderne Form
des Imperialismus auf die Öffnung von Märkten, um sie mit industriell
produzierten und dementsprechend billigen Waren zu überschwemmen. 41
Von den Briten wurde sie etwa im Opiumkrieg (1840 – 42) praktiziert, als die
handelspolitische Abschottung Chinas gewaltsam beendet wurde. Auch die
Machtdemonstration amerikanischer Kanonenboote unter Commodore
Matthew C. Perry im Hafen von Tokio, mit der 1853 die Öffnung Japans für
den europäisch-amerikanischen Handel erzwungen wurde, war nicht
militärisch, sondern ökonomisch bedeutsam. Statt um Geopolitik ging es um
Geoökonomie – ebenfalls eine Form imperialer Politik, auch wenn sie sich
nicht der sonst praktizierten Formen kolonialer Herrschaft bediente. Der
Imperialismus der Märkte, so diese Sicht, habe schon im 19. Jahrhundert
die klassischen Formen des Kolonialimperialismus ergänzt. Inzwischen sei
der Prozess der Globalisierung freilich so weit fortgeschritten, dass
«Kanonenbootökonomie» kaum noch erforderlich sei. An ihre Stelle seien
der Internationale Währungsfonds und die Weltbank als Instrumente einer
globalen Wirtschafts- und Finanzpolitik getreten, die in hohem Maße den
amerikanischen Interessen entspreche. 42
Imperiumsbildung durch die Kontrolle von Globalisierungsprozessen ist
danach keineswegs so neu, wie Dan Diner etwa annimmt, wenn er in der
Politik der open door, der Öffnung protektionistisch geschützter Märkte,
einen von der kontinentaleuropäischen Entwicklung unterscheidbaren
eigenen Nomos der USA sucht. 43 Auch der britische
Freihandelsimperialismus des Viktorianischen Zeitalters hat, wie wir
gesehen haben, diese Politik betrieben. Sie wurde von einem liberalen
Internationalismus flankiert, der in der Verbreitung freihändlerischer
Prinzipien gegen den Protektionismus der Staaten eine friedensstiftende
Wirkung sah. Aber die Öffnung der Märkte für europäische Waren und
europäisches Kapital hatte innerhalb weniger Jahrzehnte die politische
Stabilität der kapitalistisch infiltrierten Räume unterhöhlt, und nun war es
an den Europäern, sie durch die Entsendung von Truppen und den Aufbau
eigener administrativer Strukturen wiederherzustellen.
Nach diesem Modell, so die Kritiker eines auf wirtschaftliche
Globalisierung gestützten US-Empire, werde auch der Zyklus der
amerikanischen Imperiumsbildung ablaufen: Die Globalisierung erzeuge
failing states, weil die ökonomische Entwicklung das staatliche
Gewaltmonopol in diesen Ländern erodiere; Warlords übernähmen dann die
Kontrolle der Gebiete, in denen aus Bodenschätzen dauerhafte Renten zu
beziehen seien; und das wiederum habe zur Folge, dass der Prozess der
Globalisierung an seinen Rändern durch Militärinterventionen und nation-
building abgesichert werden müsse. Schrittweise erwachse aus der
Globalisierung der Märkte ein Interventionsimperialismus beziehungsweise
eine Folge von Pazifizierungskriegen 44 , die zwar eine prekäre Form der
Weltherrschaft, aber keine neue Weltordnung hervorbrächten. Vor allem
würden die USA zunehmend gezwungen, statt auf wirtschaftliche
Integration und zivilisatorische Attraktivität auf das Militär zu setzen, also
soft power zunehmend in hard power zu konvertieren. Wie der britische
werde auch der amerikanische Zyklus in Peripheriekriegen und einem
verstärkten Einsatz des Militärs enden. Aber im Unterschied zum späten
19. Jahrhundert hätten Krieg und militärische Gewalt im 21. Jahrhundert
eine sehr viel geringere Problemlösungskapazität. Das amerikanische
Imperium werde darum innerhalb relativ kurzer Zeit an dem Missverhältnis
zwischen den zu lösenden Problemen und seinen begrenzten Möglichkeiten
scheitern. Und dabei werde, so die Kritiker der US-Politik weiter,
entscheidend sein, dass Amerika von den Machtsorten, auf die es im
21. Jahrhundert ankomme, zu wenig und von denen, die nur noch eine
geringe Relevanz haben, zu viel besitze. In den Worten von Michael Mann:
«Das American Empire entpuppt sich als militärischer Riese, ökonomischer
Trittbrettfahrer, politisch Schizophrener und ideologisches Phantom.» 45
Freilich haben die USA in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit dem
Krieg Erfahrungen gemacht, die sich deutlich von denen der
kontinentaleuropäischen Staaten unterscheiden und erheblich dazu
beigetragen haben, dass sich die amerikanische Wahlbevölkerung
wiederholt dazu bereit gefunden hat, die militärischen Belastungen des
imperialen Projekts zumindest teilweise auf sich zu nehmen. In den zwei
Weltkriegen nämlich waren die USA der eigentliche Sieger, insofern sie
beide Male, verglichen mit den anderen Hauptbeteiligten der Kriege, mit
der geringsten Anzahl an Gefallenen, aber dem größten wirtschaftlichen
Gewinn aus dem Krieg hervorgegangen sind. 59
In den Ersten Weltkrieg sind die USA als Schuldnernation eingetreten
und haben ihn als größter Gläubiger verlassen. Zugleich eröffnete sich
ihnen aufgrund der Kriegsbelastungen der europäischen Konkurrenten der
Zugang zu Märkten, auf denen sie bis dahin kaum vertreten gewesen
waren. Nach dem Zweiten Weltkrieg, in dessen Folge Deutschland und
Japan als wirtschaftliche Konkurrenten für längere Zeit ausfielen und in
dessen Verlauf das Britische Weltreich endgültig erschöpft wurde, konnten
sich die USA als die ökonomisch wie politisch bei weitem stärkste Macht
profilieren. Es gibt in den USA somit die Erfahrung, dass man von Kriegen
durchaus profitieren kann, und wenn auch das amerikanische Kapital der
Hauptprofiteur beider Kriege war, so haben sich doch in der Erinnerung des
Durchschnittsamerikaners Kriegseintritt und wirtschaftlicher Aufschwung
eng miteinander verbunden.
Die Bereitschaft, mit der lange Zeit die Lasten des Vietnamkrieges
getragen wurden, erklärt sich durch die Erinnerung an die beiden
Weltkriege. Im Vietnamkrieg ist das Vertrauen in die Zweckmäßigkeit des
Krieges dann umso nachhaltiger erschüttert worden, denn er hatte für die
USA außer der psychischen auch eine wirtschaftliche Depression zur Folge.
Erst im Golfkrieg von 1991 konnten sie wieder an die Erfahrungen aus der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts anschließen. Dennoch wird man die
generell richtige Feststellung, dass in der Moderne Kriege grundsätzlich
mehr kosten, als sie einbringen, dahingehend relativieren müssen, dass dies
uneingeschränkt nur für Staaten gilt, während Imperien unter bestimmten
Umständen aus Kriegen durchaus politischen wie ökonomischen Mehrwert
beziehen können: dann nämlich, wenn konkurrierende Mächte sich darin
gegenseitig schwächen und die Hauptlasten des Krieges tragen. Für ein
Imperium von Nutzen können aber auch die Kriege sein, in denen sich eine
Bedrohung zeigt, die den inneren Zusammenhalt des imperial geordneten
Raumes festigt. Solche Kriege blockieren die zentrifugalen Tendenzen
einzelner Teile des Imperiums und stärken die Imperialräson. Der Zweite
Golfkrieg hat so gewirkt, der Dritte Golfkrieg hat den gegenteiligen Effekt
gehabt. Welche Auswirkungen der «Krieg gegen den Terror» mittel- und
langfristig haben wird, muss sich noch zeigen.
Auch wenn, so Andrew Bacevich, die amerikanische Bevölkerung das
imperiale Projekt auf breiter Linie unterstützen würde, was er selbst
bezweifelt, so müsse man doch festhalten, dass das politische System der
USA für die Führung eines Imperiums nicht optimal geeignet sei. Sobald sie
über längere Zeiträume in Anspruch genommen werde, sei die öffentliche
Unterstützung der imperialen Politik nämlich unzuverlässig, da die
Menschen erwarteten, «dass die Vorteile des Imperiums seine Lasten und
Verantwortlichkeiten überwiegen, und zwar deutlich». 60 Im Unterschied zu
autoritär geführten Imperien, wie sie den historischen Regelfall darstellen,
sind demokratische Imperien beziehungsweise Imperien mit einer hohen
Responsivität der Bevölkerung kaum in der Lage, längere Perioden
durchzustehen, in denen imperiale Politik mehr kostet als einbringt. Will
man diese Beobachtung pointieren, so heißt das, dass gerade
demokratische Imperien einem größerem Beutezwang unterliegen als
autoritär geführte. 61
Der Begriff des Beutezwangs hat bei einem demokratischen Imperium
freilich eine eher metaphorische Qualität, insofern es auf einer
postheroischen Gesellschaft aufruht, die in ihrem Selbstverständnis dem
Krieg keine zentrale Bedeutung zumisst. 62 Im Unterschied zu früheren
Imperien, in deren Aufstiegsphase die Kriegsbeute nicht bloß ein Motiv,
sondern auch eine Ressource der Expansion darstellte, kann davon seit
1945, dem Scheitern des deutschen wie des japanischen Versuchs einer
Imperienbildung, keine Rede mehr sein. Im Prinzip hat jedoch schon die
industrielle Revolution die Motivationsstruktur der Imperiumsbildung und
die Imperative imperialer Politik verändert. Imperiale Expansion fand nun
nicht mehr wesentlich um der Aneignung fremder Besitztümer und Schätze
sowie der Ausbeutung kriegerisch unterworfener Arbeitskraft statt, sie
diente jetzt der Erschließung neuer Märkte, die für den Warenstrom aus
ökonomisch fortgeschrittenen Ländern geöffnet werden sollten. Was zur
Beute genommen wurde, war gerade nicht der Reichtum der
Unterworfenen, sondern ihr Konsumbedürfnis oder – mit Blick auf die
gegenüber der handwerklichen Fertigung an der Peripherie billigeren
Industrieprodukte des imperialen Zentrums – ihre technologische
Rückständigkeit.
Die wichtigste Voraussetzung, imperiale Politik dieser Art betreiben zu
können, ist also ökonomische und nicht so sehr militärische Überlegenheit.
Spielen Schätze eine Rolle, so sind es Bodenschätze, die freilich erst im
Zuge der industriellen Revolution jenen Wert erlangt haben, der ihre
Ausbeutung wirtschaftlich attraktiv macht, das heißt, sie von fossilen
Stoffen oder Erzablagerungen in Bodenschätze verwandelt hat. Vor allem
der britische Imperialismus hat diesen Weg beschritten, und seinem Vorbild
sind die übrigen Europäer, die Nordamerikaner und ansatzweise die
Japaner gefolgt, während die Imperialpolitik des russischen Zarenreichs den
alten Bahnen verhaftet blieb, was es mit den schweren Niederlagen am
Beginn des 20. Jahrhunderts bezahlen musste. 63
Das Problem einer eher auf ökonomische als militärische Überlegenheit
gestützten Imperiumsbildung besteht freilich darin, dass sie bei der
Sicherung der neu erschlossenen Wirtschaftsräume auf militärische Präsenz
nicht verzichten kann. Solange hierfür der Einsatz kleinerer Kontingente
ausreicht, bereitet das keine ernsten Schwierigkeiten – zumal wenn sie, wie
etwa die Sepoyverbände im Britischen Empire, von Handelskompanien
finanziert und kontrolliert werden. Das ändert sich, wenn Aufstände
ausbrechen und sich Unruhen ausbreiten, die eine langfristige Entsendung
größerer Truppeneinheiten erforderlich machen: Zum einen weil dies
beträchtliche Kosten verursacht, zum andern weil die Verluste an eigenen
Soldaten die Unterstützungsbereitschaft der Bevölkerung schnell
schrumpfen lassen. Auch in diesem Fall haben die Briten die nahe liegende
Lösung als Erste und am weitestgehenden praktiziert: die Rekrutierung von
Truppen an der Peripherie des Imperiums, wo sie deutlich weniger kosteten
und selbst der Verlust größerer Einheiten kein so großes Aufsehen erregte
wie bei Verbänden, die aus dem imperialen Zentrum stammten. 64
Elemente davon finden sich heute auch im amerikanischen Militär, das
seit den 1970er Jahren nicht mehr aus Wehrpflichtigen, sondern aus Zeit-
und Berufssoldaten besteht. Eine der wichtigsten Lehren aus dem
Vietnamkrieg war, dass sich ein solcher Krieg nicht mit Landeskindern
führen lässt, die aus der Mittelschicht rekrutiert werden, weil sich hier
Protestpotenzial und politische Artikulationsfähigkeit miteinander
verbinden. Inzwischen gehören 44 Prozent der Mannschaften des
amerikanischen Heeres ethnischen Minderheiten an. 65 Auf dem regulären
Arbeitsmarkt wären sie chancenlos, in der Armee jedoch erfahren sie
soziale Integration und Anerkennung, was sie umso fester an die Truppe
bindet. Die militärische Subkultur, die sich auf den amerikanischen
Stützpunkten und Schiffen in aller Welt entwickelt hat, weist freilich einen
wachsenden Abstand zum gesellschaftlichen Alltag der USA auf, und ob sich
das auf Dauer als demokratieverträglich erweist, bleibt abzuwarten. Aber
das ändert nichts daran, dass es den USA nicht zuletzt auf diese Weise
gelungen ist, eine weltweit einsetzbare Armee zu schaffen, die kampffähig
ist, wiewohl es sich um die Armee einer postheroischen Gesellschaft
handelt.
Als eigentliches Funktionsäquivalent der Kolonialtruppen, mit denen die
Europäer im 19. und 20. Jahrhundert ihre Imperien militärisch
kontrollierten, scheint sich inzwischen allerdings die Anwerbung von
Söldnern beziehungsweise der Rückgriff auf Private Military Companies
(PMCs) zu entwickeln 66 , mit der die Opferbereitschaft der Bevölkerung des
imperialen Zentrums durch Geldaufwendungen abgelöst wird. Der Anteil so
genannter Greencard-Soldaten in den im Irak eingesetzten
US-Streitkräften, also von Soldaten, die durch mehrjährigen Militärdienst
die US-Bürgerschaft erlangen wollen, wird auf ein Fünftel und die
Mannschaftsstärke der zusätzlichen PMCs auf insgesamt bis zu
20 000 geschätzt. Für die Aussicht auf Einbürgerung in die USA oder gegen
einen entsprechenden Sold sind diese Männer (und Frauen) bereit, die
militärischen Lasten imperialer Politik zu tragen, und das hat die Akzeptanz
von Militäraktionen bei der amerikanischen Wahlbevölkerung deutlich
erhöht.
Was bleibt, ist das Kostenproblem, an dem sich letzten Endes entscheidet,
ob die Vorteile eines Imperiums dessen Nachteile auf Dauer überwiegen.
Nicht immer sind für die Zentralmacht des Imperiums so kostengünstige
Lösungen möglich wie beim Golfkrieg von 1991, als die Verbündeten von
den 61 Milliarden US-Dollar Kriegskosten etwa 80 Prozent übernahmen.
Von daher ist fraglich, ob die amerikanische Wahlbevölkerung auf Dauer
bereit sein wird, die erheblichen Belastungen des imperialen Rüstungsetats
zu tragen. Zwar hat sich der Anteil des Verteidigungsetats am
Bruttoinlandsprodukt (BIP), der heute bei 3,5 Prozent liegt, im Vergleich
mit der Zeit des Kalten Krieges halbiert, doch das ist weniger auf eine
Senkung der Rüstungsausgaben in absoluten Zahlen zurückzuführen als auf
die günstige wirtschaftliche Entwicklung der USA während der 1990er
Jahre.
Die Last der Verteidigungsausgaben ist also in Relation zur
Wirtschaftskraft der USA zu sehen, und ob diese ein jährliches
Leistungsbilanzdefizit von etwa fünf Prozent des BIP über einen längeren
Zeitraum aushalten wird, ist fraglich. Mit einem Anteil von 27 Prozent am
Weltwirtschaftsprodukt verfügen die USA zwar über eine solidere
ökonomische Basis, als sie das Britische Weltreich je besaß 67 , aber auch
dieser Anteil ist relativ geringer als der, den die USA in der
Zwischenkriegszeit und nach dem Zweiten Weltkrieg hatten, als er bei über
40 Prozent lag, und er dürfte in den nächsten Jahren weiter sinken. Wenn
die USA ihre gegenwärtige Position militärischer Überlegenheit halten
wollen, werden sie also bei den öffentlichen Ausgaben Einschnitte
vornehmen müssen, die für das Leben ihrer Bürger spürbar sind. Es ist
kaum anzunehmen, dass dies für die Unterstützung des imperialen Projekts
folgenlos bleiben wird.
Will man sich eine Vorstellung von den Belastungen machen, die für die
amerikanische Bevölkerung aus dem Militärapparat des Imperiums
erwachsen, so ist die Gegenüberstellung zweier Zahlen aufschlussreich: Der
Anteil der USA am Weltwirtschaftsprodukt ist so groß wie der der
nachfolgenden drei Länder (Japan, Deutschland und Frankreich) zusammen.
Aber das Militärbudget der USA ist in absoluten Zahlen so groß wie die
aufaddierten Militärausgaben der nachfolgenden zwölf Länder. 68 Das
erklärt, warum Andrew Bacevich zu dem Ergebnis gelangt ist, die größte
Verwundbarkeit des amerikanischen Imperiums liege nicht in äußeren
Bedrohungen, sondern «im möglichen Mangel an Bereitschaft seitens des
amerikanischen Volkes, die Kosten des Imperiums zu tragen». 69 Die
Kostenfrage, also die mittelfristige Relation zwischen Nutzen und Lasten
imperialer Politik, dürfte das Hauptproblem eines demokratischen
Imperiums sein. Es kommt nicht von ungefähr, wenn sich seine inneren
Gegner und äußeren Feinde gerade diese Schwäche zunutze machen.
Die Entscheidung der US-Regierung, nach dem Ende des Ost-West-
Konflikts nur einen Teil der möglichen Friedensdividende zu kassieren und
stattdessen den militärtechnologischen Vorsprung weiter auszubauen, war
durch die Vorstellung motiviert, von den Rändern des imperialen Raumes
gehe eine stärkere Bedrohung aus als von der Konkurrenz in seinem
Inneren. Die wachsende Zahl terroristischer Anschläge gegen
US-Einrichtungen und schließlich die Attacken vom 11. September 2001
schienen die Richtigkeit jener Entscheidung zu bestätigen. Sie wurde im
Vertrauen darauf gefällt, dass die Europäer nicht in der Lage sein würden,
wirtschaftlich und technologisch so aufzuholen, dass sie die amerikanische
Vormachtstellung ernstlich in Frage stellen könnten.
Tatsächlich ist die Schaffung eines einheitlichen europäischen
Währungsraumes durch die Einführung des Euro eine sehr viel größere
Herausforderung der amerikanischen Dominanz 70 , als es der islamistische
Terrorismus jemals sein kann. Eine integrierte europäische
Forschungslandschaft mit entsprechenden Transfers in die Wirtschaft
könnte ähnliche Effekte haben wie die Einführung des Euro. Es ist nicht
auszuschließen, dass die seit einigen Jahren zu beobachtende stärkere
Orientierung der USA an militärischen Beherrschungsinstrumenten auch
mit dem weltwirtschaftlichen Aufholen Europas zu tun hat: Durch die
Umstellung der Konkurrenz auf militärische Fähigkeiten vermögen die USA
Europa – zumindest zeitweilig – auf Abstand zu halten, und das, was den
Europäern durch die Schaffung eines einheitlichen Wirtschaftsraumes an
Macht und Einfluss zugewachsen ist, können die USA wieder abschwächen,
indem sie politische Kontroversen zwischen ihnen erzeugen.
Im Anschluss an die oben angestellten Überlegungen zu den vier Quellen
und Formen der Macht würde dies heißen, dass der sinkende Vorsprung an
wirtschaftlicher Macht 71 durch einen größeren Vorsprung an militärischer
Macht kompensiert werden soll, wo die Europäer erkennbar keine größeren
Anstrengungen unternehmen, mit den USA gleichzuziehen. Freilich steigen
für die USA dadurch die Beherrschungskosten der imperialen
Wirtschaftsräume, und diese Kosten können sie nur noch begrenzt auf die
Europäer abwälzen. In Reaktion darauf stehen den USA zwei Optionen zur
Verfügung: die Spaltung Europas im Sinne einer klassischen Politik des
divide et impera oder seine stärkere Einbindung in die Sicherung des
imperialen Raumes. Welche der beiden Möglichkeiten am Schluss zum Zuge
kommen wird, hängt auch von den Europäern ab.
Die imperiale Herausforderung Europas
Europa ist durch die veränderten Konstellationen nach dem Ende des Ost-
West-Gegensatzes und dem Zusammenbruch der Sowjetunion erheblich
stärker herausgefordert, als man sich dies Anfang der 1990er Jahre
vorstellen konnte und wollte. Zunächst wurde das Ende des weltpolitischen
Gegensatzes als Chance begriffen, die Teilung des Kontinents in zwei
konträre politische Lager zu überwinden und den in Westeuropa
begonnenen Prozess einer die Nationalstaaten übergreifenden
wirtschaftlichen und politischen Integration schrittweise auf Mittel- und
Osteuropa auszudehnen. Rückblickend zeigt sich, dass man den
befürchteten Widerstand Russlands überschätzt, während man die dabei
auftretenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme unterschätzt hat. Dass
sich mit der «Wiedervereinigung Europas» auch dessen politisches Gewicht
verändern und es weltpolitisch eine gewichtigere Rolle spielen werde, ist
von einigen Beobachtern vorausgesagt worden, wobei die Erwartungen
bezüglich der Rolle, die den Europäern dabei zufallen werde, in der Regel
weit überzogen waren. Dass sich der Charakter der Nato mit ihrer
Ausdehnung nach Mittel- und Osteuropa grundlegend wandeln würde,
wurde hingegen nur bedingt gesehen und zumeist falsch beurteilt: Der Nato
wurde ein größeres europäisches Gewicht prognostiziert, dabei ging der
europäische Einfluss im Gegenteil zurück, und das größere Gewicht der
USA steigerte sich zu einem uneingeschränkten Führungsanspruch. 72
Tatsächlich bestand und besteht die Herausforderung der Europäischen
Union darin, dass sie auf der einen Seite mit einem postimperialen Raum
konfrontiert war, in dem sich mit großer Geschwindigkeit alle die Konflikte
und Instabilitäten entwickelten, die für postimperiale Räume typisch sind,
während sich auf der anderen Seite die bislang als wohlwollender Hegemon
agierende westliche Führungsmacht zunehmend in einen imperialen Akteur
verwandelte, der auf die Wünsche und Vorstellungen seiner Verbündeten
kaum noch Rücksicht nahm. Die meisten europäischen Politiker sind von
diesen Entwicklungen auch deswegen überrascht worden, weil sie die
Handlungslogik eines Imperiums nicht auf ihrer Rechnung hatten: Sie
dachten in der politischen Recheneinheit Staat – und wurden mit
postimperialen Räumen auf der einen und einem imperialen Akteur auf der
anderen Seite konfrontiert. Die Irritationen begannen bei der Frage, welche
Reaktion auf die jugoslawischen Zerfallskriege angemessen sei, und
steigerten sich bis zu den politischen Zerwürfnissen im Vorfeld des
Irakkrieges. Hat nun, wie einige meinen, Europa an Bedeutung und Einfluss
gewonnen? Oder hat es, wie andere dagegenhalten, an beidem verloren?
Die imperiale Herausforderung Europas ist eine doppelte, und sie ist
ungleichartig. Auf der einen Seite müssen die Europäer sich zu den
übermächtigen USA ins Verhältnis setzen und darauf achten, dass sie nicht
für die Aktionen der Führungsmacht Ressourcen bereitstellen und mit der
Nachsorge für deren Kriege betraut werden, aber keinen Einfluss mehr auf
grundsätzliche politisch-militärische Entscheidungen haben. Hier haben
sich die Europäer ihrer politischen Marginalisierung zu widersetzen.
Europa muss sich gegenüber den USA als ein Subzentrum des imperialen
Raumes behaupten und darauf achten, dass sich zwischen den USA und ihm
kein Zentrum-Peripherie-Gefälle herausbildet. Auf der anderen Seite
müssen die Europäer sich aber auch um ihre instabile Peripherie im Osten
und Südosten kümmern, wo es gilt, Zusammenbrüche und Kriege zu
verhindern, ohne dabei in eine Spirale der Expansion hineingezogen zu
werden, die das verfasste Europa in seiner gegenwärtigen Gestalt
überfordern würde. Hier stehen die Europäer vor der – paradoxen – Gefahr,
imperial überdehnt zu werden, ohne selbst ein Imperium zu sein.
Die Europäer haben auf diese doppelte Herausforderung bislang keine
Antwort gefunden, ja, sie haben sie noch nicht einmal als solche begriffen.
Wirft man einen Blick auf die einschlägige Literatur, so lassen sich zwei
Reaktionen auf das skizzierte Problem unterscheiden. Die erste lässt sich
als Beschwichtigungsliteratur bezeichnen. Sie bezieht sich vor allem auf das
Verhältnis der Europäer zu den USA: Die Herausforderung durch das
US-Imperium, so deren Tenor 73 , sei nicht so groß und gefährlich, wie es
auf den ersten Blick erscheine, weil die USA bereits im Niedergang
begriffen seien beziehungsweise sich durch ihr weltweites Engagement
derart überforderten, dass sie binnen kurzem ihre Führungsposition
gegenüber den Europäern verlieren würden. In dieser
Beschwichtigungsliteratur wird die europäische Wirtschaftskraft
herausgestellt und ein tendenzielles Gleichgewicht zwischen Europa und
den USA konstatiert. Dabei wird zweierlei übersehen beziehungsweise nicht
hinreichend gewichtet: Zum einen würde die Erosion oder gar der
Zusammenbruch der weltumspannenden Führungsrolle der USA für Europa
erheblich größere Probleme nach sich ziehen, als dadurch beseitigt würden;
zum anderen könnte gerade das ökonomische Gleichgewicht zwischen
Europa und den USA Letztere dazu veranlassen, verstärkt zum
Instrumentarium militärischer Lösungen zu greifen, weil dann die Europäer
wieder zu Zwergen und die USA zum Riesen werden. Kurz, die
Beschwichtigungsliteratur unterschätzt die globale Stabilitätsfunktion des
US-Empire und überschätzt die Bedeutung wirtschaftlicher Faktoren für die
kurzfristige Festlegung von Machtverhältnissen. Die Wirkung ökonomischer
Faktoren entfaltet sich eher langfristig.
Komplementär zur Beschwichtigungsliteratur ist die Identitätsliteratur zu
nennen, die den Fortgang des europäischen Integrationsprozesses aus einer
reinen Binnenperspektive heraus betrachtet. Sie sieht vom politischen
Gewicht der EU namentlich für Osteuropa, den Nahen Osten sowie
Nordafrika ab und konzentriert sich auf die verfassungspolitische Ordnung
und die kulturelle Identität Europas. 74 Dabei wird vorausgesetzt, dass den
Europäern weiterhin jene großen Zeiträume für das Reifen von
Entschlüssen und das Zusammenwachsen unterschiedlicher politischer
Kulturen zur Verfügung stünden, wie das in der Zeit des Ost-West-
Gegensatzes der Fall war. Die damalige Verlangsamung politischer
Prozesse durch die Absenkung der politischen Temperatur, die gleichsam
einen Wechsel im Aggregatzustand der Politik zur Folge hatte, begünstigte
die Europäische Integration. Aber mit dem Ende des Ost-West-Gegensatzes
sind die Verlangsamungsfaktoren verschwunden, und die politischen
Prozesse haben wieder Normaltempo erreicht, wenn sie denn nicht wegen
des erheblichen Nachholbedarfs schneller ablaufen als in anderen
Weltregionen. In der Phase der Verlangsamung konnten sich die Europäer
den Luxus einer aufwendigen Suche nach der gemeinsamen Identität
leisten, aber unter den Konstellationen der Beschleunigung, wie sie seit
Anfang der 1990er Jahre Platz gegriffen haben, stehen ihnen diese
Zeitspannen nicht mehr zur Verfügung. Die Identitätsliteratur freilich
ignoriert die Probleme der Peripherie und vertraut darauf, dass sie nicht
eskalieren, bis die Identitätsfragen im Zentrum geklärt sind. An der
öffentlichen Debatte über das türkische Beitrittsgesuch zur EU hat sich das
deutlich gezeigt.
Was das Verhältnis der Europäer zu den USA betrifft, so kann die
eingangs beschriebene Entwicklung der athenischen Thalassokratie als
Menetekel dienen: Solange die Konfrontation mit dem persischen Großreich
akut war, behandelte Athen seine Bündner als zwar schwächer, aber
dennoch gleichberechtigt. Als jedoch die Bedrohung mit dem Osten
schwand, die Bündner die Friedensdividende kassierten und die Athener
damit einverstanden waren, dass diese ihren Verpflichtungen in Form von
Geldzahlungen nachkamen, verwandelten sie sich aus gleichberechtigten
Verbündeten in abhängige Beherrschte, die den Wünschen und Vorgaben
der Athener zu folgen hatten. Dass sie sich dabei gegeneinander ausspielen
ließen, hat diese Entwicklung beschleunigt. Will Europa dem entgehen, so
muss es sich als eine politische Einheit konstituieren, in der Außenstehende
bei zentralen Entscheidungen nicht mitzureden haben – auch nicht der
engste Verbündete.
Der Zwang zum Zusammenhandeln der Europäer kommt von außen, und
die innere Entwicklung muss ihm folgen. Ob das möglich ist, hängt weniger
von den erst kürzlich beigetretenen Mitteleuropäern, sondern von
Großbritannien ab, das sich entscheiden muss, ob es der Juniorpartner der
USA oder eine europäische Führungsmacht sein will. Je nachdem, wie diese
Entscheidung fällt, wird der europäische Integrationsprozess zu
organisieren sein. Kommt es nicht zu dem an sich wünschenswerten
Dreieck Paris-London-Berlin, so wird sich auf dem Kontinent eine andere
Macht finden, mit der die Achse Paris-Berlin zum Dreieck erweitert werden
kann. London freilich wird dann an die Peripherie des Vereinten Europa
versetzt werden. Auf jeden Fall aber wird die Herstellung europäischer
Handlungsfähigkeit nach außen zu einer stärkeren Hierarchisierung der
europäischen Entscheidungsstrukturen führen, wie sie bei der
gemeinsamen Agrarpolitik unmöglich, aber auch unnötig war. Oder
umgekehrt: Ohne eine stärkere Hierarchie der EU-Staaten wird es keine
gemeinsame Handlungsfähigkeit der Europäer nach außen geben. Das ist
zugleich der Grund, warum sich viele mittlere und kleine Länder gegen
stärkere Gemeinsamkeiten in der Außen- und Sicherheitspolitik sperren. Sie
müssen sich jedoch darüber im Klaren sein, dass dadurch nicht ihr eigener
Spielraum, sondern der amerikanische Einfluss auf die europäische Politik
zunimmt. Deshalb bespielen die USA gern die Klaviatur der Kleinen und
Mittleren in Europa. Die Angewiesenheit der USA auf europäische
Unterstützung in einer weltpolitisch schwieriger werdenden Situation
eröffnet die Chance, dem einen Riegel vorzuschieben.
Die Notwendigkeit, eine gemeinsame europäische Außen- und
Sicherheitspolitik zu verfolgen, erwächst allerdings nicht nur aus der
Herausforderung durch das US-Empire, sondern auch daraus, dass es
unerlässlich ist, an der europäischen Peripherie stabilisierend einzugreifen.
Die Sogwirkung einer instabilen Peripherie, mit der die Europäer erstmals
durch die Balkankriege der 1990er Jahre konfrontiert wurden, dürfte weiter
zunehmen, und dabei wird es nicht mehr nur um überschaubare Regionen
wie den Balkan gehen, sondern um einen Bogen, der von Weißrussland und
der Ukraine über den Kaukasus in den Nahen und Mittleren Osten reicht
und sich von da über die afrikanische Mittelmeerküste bis nach Marokko
erstreckt. Da der Kollaps von Staaten, innergesellschaftliche Kriege und
wirtschaftliche Zusammenbrüche in diesem Bogen auf Europa viel stärkere
Auswirkungen haben als auf die USA, müssen die Europäer darauf
hinarbeiten, dass in diesen Regionen die Politik des Westens nicht von den
USA allein bestimmt wird. Am besten wäre es sicherlich, wenn sie in ihren
eigenen «Hinterhöfen» die Federführung selbst übernähmen und die USA in
dieser Region ins zweite Glied träten, nur ist damit im Nahen und Mittleren
Osten kaum zu rechnen. Andererseits können sich Interessenlagen wie
Stimmungen in den USA schnell ändern – und dann müssen die Europäer
von Konzeptionen wie Fähigkeiten her in der Lage sein, die bisherige Rolle
der USA zu übernehmen.
Europa ist ein Kontinent mit unscharfen Grenzen; lediglich im Norden und
im Westen sind sie von der Geographie vorgegeben. Im Süden und Osten
dagegen ist nicht klar, wie weit sich die politische und wirtschaftliche
Gemeinschaft ausdehnen kann und soll. Zwar stellt im Süden das
Mittelmeer eine natürliche Begrenzung des Kontinents dar, nur hat es
schon in der Vergangenheit eher eine verbindende als eine trennende
Wirkung gehabt. Für das Römische Reich etwa war es das Zentrum und
nicht die Grenze; das änderte sich erst infolge des arabischen Vorstoßes im
8./9. nachchristlichen Jahrhundert. 75 Aber schon die italienischen
Seerepubliken Venedig und Genua machten das Mittelmeer wieder zum
Zentrum ihrer Handelsbeziehungen, und das Osmanische Reich war in
seiner Blütezeit ein um das östliche Mittelmeer gelagertes Imperium. Es
gibt viele Gründe, dass die Europäer das Mittelmeer auch weiterhin als
Begrenzung ihrer politischen Integration ansehen, doch das enthebt sie
nicht des Zwangs zur politischen und wirtschaftlichen Stabilisierung der
gegenüberliegenden Küste. Europa hat ein vitales Interesse an einer
stabilen Ordnung in den Ländern der nordafrikanischen Region.
Was über die Südgrenze Europas gesagt wurde, gilt erst recht für seine
Ostgrenze. Paul Valéry hat von Europa als dem Vorgebirge Asiens
gesprochen 76 , und im Verlauf ihrer Geschichte haben die Europäer immer
wieder mit großer Besorgnis nach Osten geschaut, von wo es in
unregelmäßigen Abständen zu Invasionen aus der innerasiatischen Steppe
gekommen ist. In geschichtlichen Zeiten beginnt dies bei der
Völkerwanderung und reicht bis zu den russischen Reichsbildungen, in
deren Folge die europäische Ostgrenze in Bewegung geraten ist: Den
Vorstößen aus der asiatischen Steppe standen nun europäische Versuche
gegenüber, den eigenen Einfluss- und Kulturbereich nach Osten hin
auszudehnen. Gerade den russischen Reichsbildungen kam dabei eine
entscheidende Bedeutung zu. Die von der Geographie her kaum zu
beantwortende Frage nach der Ostgrenze Europas ist seitdem davon
abhängig, als was Russland jeweils wahrgenommen wird: als eine eher
europäische oder eine eher asiatische Macht; die oben beschriebene
Janusköpfigkeit des zarischen Russlands war Ausdruck der Tatsache, dass
es selbst immer wieder zwischen dieser Alternative schwankte. Hatten die
antiken Geographen die Ostgrenze Europas auf den Don gelegt, so haben
die Geographen des 18. Jahrhunderts sie in Reaktion auf die Reformen
Peters des Großen bis zum Ural hinausgeschoben. Russland wurde dadurch
zu einer europäischen Macht. 77 Mit dem Fortschreiten der europäischen
Integration ist diese Frage, die früher ein vorwiegend kulturelles Problem
war, zu einem genuin politischen Problem geworden, das vorerst lautet:
Sollen die EU und Russland unmittelbar aneinander grenzen, oder sollen
dazwischen Weißrussland und die Ukraine als Puffer verbleiben?
Die heikelste Grenze liegt freilich im Südosten, wo die drei Kontinente
Europa, Asien und Afrika aufeinander treffen. In einem weiten Sinne
handelt es sich dabei um den unteren Balkan, Kleinasien sowie den Nahen
Osten, die in unterschiedlichem Ausmaß während der letzten Jahrzehnte ein
Krisengebiet dargestellt haben, das mit dem nach 1945 friedlich
gewordenen Europa scharf kontrastiert. Europa wird um erhebliche
Stabilitätsinvestitionen in diesen Raum nicht herumkommen. Der Blick auf
seine Geschichte zeigt, dass er seit der Antike eine Brutstätte ausgreifender
Reichsbildungen war, aber auch ein Herd für Kriege, die schon früh als
Zusammenstoß von Ost und West, von Despotie und Freiheit ideologisiert
wurden. Das Byzantinische und das Osmanische Reich waren in diesem
Raum zentrierte Großreichsbildungen, die sich auf dem Höhepunkt ihrer
Macht in einer scharfen Konkurrentenrolle zu Westeuropa begriffen haben.
Und als das Osmanische Reich im 19. Jahrhundert in eine Periode lange
währender Agonie eintrat, haben europäische Staaten in wechselnden
Koalitionen versucht, es zu stabilisieren, um gefährliche Entwicklungen
innerhalb dieses Raumes zu verhindern. Der Südosten hat in der
europäischen Geschichte von jeher eine besondere Rolle gespielt.
Als geographischer wie als politischer Raum hat Europa also keine klaren
Grenzen. Vor allem im Osten und Südosten weist er Grenzräume auf, wie
sie für imperiale Großraumordnungen typisch sind. Die europäische
Geschichte jedoch ist geprägt durch die Herausbildung von
Territorialstaaten, die sich zu Nationalstaaten fortentwickelt haben. Dabei
handelt es sich um eine auf dem Prinzip der Grenzbündelung beruhende
Organisationsform des Politischen; die Grenzen des Nationalstaates sind
nicht nur politische und wirtschaftliche, sondern auch sprachliche und
kulturelle. Gerade die daraus erwachsende Homogenität hat dafür gesorgt,
dass mit den europäischen Nationalstaaten ungemein handlungsfähige
Akteure die politische Bühne betreten haben. In der Konfrontation zwischen
ihnen und den Reichen Mittel- und Osteuropas haben Letztere fast immer
den Kürzeren gezogen.
Das Ordnungsmodell der Grenzbündelung führte allerdings dazu, dass die
im Innern aufgeladene Energie sich immer wieder an diesen Grenzen
entlud, weil die Nationalstaaten mit dem konkreten Grenzverlauf nicht
einverstanden waren und ihn verschieben wollten. Obendrein ließ sich das
im Westen über Jahrhunderte gewachsene Nationalstaatmodell nicht ohne
weiteres auf den Osten übertragen. Hier hat die Strategie der
Grenzbündelung eine Politik der Diskriminierung oder gar Vertreibung
ethnischer und nationaler Minderheiten bewirkt. Die nach dem Zweiten
Weltkrieg in Westeuropa in Gang gesetzte Integrationspolitik behielt zwar
das nationalstaatliche Ordnungsmodell im Grundsatz bei, ergänzte es aber
durch eine systematische Entflechtung politischer, wirtschaftlicher und
kultureller Grenzen. Die Auflösung scharf ausgebildeter politisch-kultureller
Identitäten galt als Königsweg zur Überwindung der europäischen
Belligerenz. Schon in den 1980er Jahren, mit den Entwürfen eines zum
Abschluss gekommenen europäischen Integrationsprozesses, begann dann
eine Entwicklung, in der das Modell der Grenzdiversifikation durch
neuerliche Grenzbündelungen abgelöst wurde – die europäische
Identitätsdebatte ist eine Konsequenz daraus. So sind scharfe Brüche an
den europäischen Außengrenzen entstanden, die zu Exklusionsgrenzen
geworden sind, und das wiederum hat immer neue Beitrittswünsche
provoziert und dazu geführt, dass eine Beitrittsrunde der anderen folgt. Es
ist vor allem die Politik der Grenzbündelung, die – paradoxerweise – den
Prozess einer permanenten EU-Ausdehnung in Gang gesetzt hat.
Eine Alternative hierzu stellt das imperiale Ordnungsmodell dar, das auf
eine Diversifizierung der verschiedenen Grenzlinien hinausläuft, weswegen
imperiale Ordnungen zumeist weiche Grenzen haben, an denen sich der
Regelungsanspruch des Zentrums allmählich verliert. An die Stelle von
Grenzen treten Grenzräume. Europa wird, wenn es sich nicht überfordern
und schließlich scheitern will, dieses imperiale Modell der Grenzziehung
übernehmen müssen. Im Prinzip ist ihm eine solche Ordnung
eingeschrieben, verlaufen doch die Außengrenzen der EU anders als die des
Schengenraumes und die wiederum anders als die der Eurozone. Dieses
Modell gilt es weiterzuentwickeln, um die europäischen Außengrenzen
stabil und zugleich elastisch zu machen. Das schließt Einflussnahmen auf
die Peripherie ein, die eher imperialen als zwischenstaatlichen Vorgaben
ähneln. Europas Zukunft wird darum ohne Anleihen beim Ordnungsmodell
der Imperien nicht auskommen.
Karten
Nach den Perserkriegen bauten die Athener ein Seereich auf, das zunächst durch die
fortbestehende persische Bedrohung zusammengehalten wurde. Als diese jedoch
allmählich schwand, verwandelte sich die hegemoniale zunehmend in eine imperiale
Herrschaft. Ausdruck dessen war die Verlegung der Bundeskasse von Delos nach Athen.
Das Ägäische Meer bildete das Zentrum der athenischen Thalassokratie.
Mit Augustus kam die römische Expansion im Prinzip zum Halt. Einige kleinere
Eroberungen beziehungsweise Erwerbungen folgten nach: Dakien im Norden, Armenien
und Arabien im Osten, Mauretanien im Süden. Befestigte Grenzen hatte das Reich nur im
Norden, dort, wo der Druck der Barbaren ständig zu spüren war.
Unter den Han nahm das Chinesische Reich die Gestalt an, die es in den nachfolgenden
zwei Jahrtausenden im Wesentlichen behalten sollte. Wie beim Römischen Reich finden
sich auch hier die befestigten Grenzen im Norden, wo mit Einfällen nomadischer Völker zu
rechnen war. Trotz des Vorstoßes nach Westen in der Zeit der späten Han ist es nicht zu
einer direkten Berührung mit anderen Großreichen gekommen.
Ausgangspunkt der mongolischen Großreichsbildung war die Einigung der Nomadenvölker
in der innerasiatischen Steppe durch Dschingis Khan. Mitte des 13. Jahrhunderts stießen
mongolische Heere bis an Oder und Donau vor. Zu dieser Zeit war das Mongolenreich das
größte Kontinentalimperium, das es je gegeben hat.
Das Russische Reich steht in der Linie der großen Territorialimperien: Das Meer war für es
eine Grenze und nicht ein innerimperialer Verbindungsraum. Geschwindigkeit und
Reichweite der vom Moskauer Zentrum ausgehenden Expansion nach Westen, Süden und
vor allem Osten waren davon abhängig, ob man auf Staaten oder lose integrierte
Stammesverbände traf.
An der Nahtstelle dreier Kontinente gelegen, verfügte das Osmanische Reich in seiner
Aufstiegsphase über Expansionsmöglichkeiten nach Europa, Asien und Afrika, die es
sämtlich genutzt hat. Nach Überschreiten des imperialen Zenits führte diese zentrale
geopolitische Lage jedoch zwangsläufig zu einer imperialen Überdehnung, durch die das
Reich kräftemäßig ausgezehrt und zum «kranken Mann am Bosporus» wurde.
Das portugiesische Seereich beschränkte sich zunächst auf den Erwerb und Ausbau von
Stützpunkten, von denen aus die kommerzielle Erschließung des Südatlantischen und
insbesondere des Indischen Ozeans erfolgte. Dagegen setzte Spanien von Anfang an auf
Territorialexpansion, was zu einem steten Strom von Soldaten und Glücksrittern in die
«Neue Welt» führte.
Im 18. Jahrhundert trat England in die Tradition der Portugal und Niederlande. Auch die
britische Imperialordnung beschränkte sich zunächst auf ein Netz von Hafenstädten,
Faktoreien und Handelsstraßen, das nicht vom Staat, sondern von Handelskompanien
gewoben wurde. Die imperiale Macht erwuchs hier im Wesentlichen aus der Kontrolle über
die Bewegung von Gütern, Menschen und Kapital.
Die Karte zeigt eine weltpolitische Übergangssituation: Spanien ist noch ein von seiner
räumlichen Ausdehnung her gewaltiges Reich, Großbritannien, das gerade erst seine
Kolonien an der amerikanischen Ostküste verloren hatte, sollte seinen Machtbereich im
Laufe des Jahrhunderts weiter ausdehnen. Der afrikanische Kontinent hat das Interesse der
europäischen Mächte noch nicht gefunden; seine Kolonisierung ist auf die Küstenstreifen
beschränkt.
Die Welt ist im Wesentlichen aufgeteilt zwischen Russland, das große Teile Asiens
beherrscht, und Großbritannien, dessen Macht von Kanada bis Australien reicht und
dessen afrikanisches Kolonialreich sich von Kairo bis Kapstadt erstreckt. Daneben nehmen
sich die Gebiete der anderen europäischen Kolonialimperien, vielleicht mit Ausnahme
Frankreichs, fast bescheiden aus.
Die amerikanische Militärpräsenz hat sich seit dem Ende des Ost-West-Gegensatzes, wo
sie auf die westliche Politikhemisphäre beschränkt war, buchstäblich globalisiert. Sie stellt
ein dichter gewebtes Netz weltweiter Kontrolle dar, in dem die Schwerpunkte des Kalten
Krieges noch erkennbar sind, das sich aber zunehmend auf die südliche Erdhalbkugel
ausdehnt.
Anmerkungen
Anmerkungen zu Kapitel 1
1 Zur Vorgeschichte des 3. Golfkrieges vgl. Aust (Hg.), Irak, insbes.
S. 39 ff.; Tilgner, Der inszenierte Krieg, S. 17 ff.; Kubbig, Brandherd
Irak, insbes. S. 9 – 20; Wolfgang Sofsky, Operation Freiheit, S. 66 – 74,
sowie Münkler, Der Neue Golfkrieg, S. 19 – 28.
5 Vgl. Wood, The Creation, insbes. S. 48 ff.; Richard, The Founders and
the Classics. – Zu dem stolzen Anspruch, die republikanische Tradition
Roms wieder aufgenommen und weitergeführt zu haben, gehörte von
Anfang an der kritische Blick auf den Übergang Roms von der
Republik zum Imperium, wobei die aus der römischen Historiographie
bezogene Annahme eines damit verbundenen Sittenverfalls ins
zeitgenössische Britische Empire hineingespiegelt wurde. Die hart
erkämpfte Unabhängigkeit der USA von Großbritannien war insofern
immer auch die Rettung der Republik vor der Imperialität; vgl. Bailyn,
The Ideological Origins, S. 131 ff., sowie Wood, The Creation, S. 35 f.
10 Der Vergleich imperialer Macht mit der Sonne und ihren Satelliten
geht freilich, soweit ich sehe, nicht auf militärische, sondern auf
ökonomische Imperialität zurück. So erklärte der Bankier Nathan
Rothschild Anfang des 19. Jahrhunderts vor dem englischen
Unterhaus, «daß London die Hauptstadt der Finanzwelt ist und daß
auch große Handelsgeschäfte notwendig mehr oder weniger unter
dem Einfluß dieses Mittelpunkts im System der Finanzen
abgeschlossen werden, um das sich die weniger wohlhabenden
Staaten bewegen wie die kleinen Gestirne des Sonnensystems und von
18 Doyle, Empires, S. 306 ff., 319 ff.; freilich ist es eher der französische
und der deutsche Imperialismus, den Doyle in den Blick nimmt, als
eine erfolgreiche Imperiumsbildung.
24 Im Übrigen zeigte sich dies bereits bei der Sowjetunion, die den USA
im Wettlauf um die Eroberung des Weltraums lange einen Schritt
voraus war.
Anmerkungen zu Kapitel 2
1 Einen vorzüglichen Überblick über die zu dieser Zeit in
Großbritannien, Russland, den USA, Frankreich und Deutschland
geführten Debatten bietet Gollwitzer, Geschichte des weltpolitischen
Denkens, Bd. 2; die sich zu diesen imperialistischen Diskursen kritisch
verhaltenden Imperialismustheorien sind knapp dargestellt bei
Mommsen, Imperialismustheorien, sowie Schröder, Sozialistische
Imperialismusdeutung; zur Begriffsgeschichte des Imperialismus vgl.
Koebner, Imperialism.
2 Es ist erstaunlich, wie sehr dies den gegenwärtigen Argumenten der
großen Unternehmen ähnelt, die meinen, nur als global players
überleben zu können.
5 Zur imperialen Expansion der USA am Ende des 19. Jahrhunderts vgl.
Wehler, Der Aufstieg des amerikanischen Imperialismus; die mit
dieser Expansion verbundenen Kriege sind dargestellt bei Boot, The
Savage Wars of Peace; speziell zum Philippinen-Krieg, S. 99 – 128.
25 Freilich sollte man sich diesen Übergang eher als das Zurücklegen
einer Wegstrecke denn als Überschreiten einer Schwelle vorstellen.
30 Ebd., S. 148.
32 Zu Begriff und Konzept des Prestiges vgl. nach wie vor Kluth,
Sozialprestige.
40 Dabei ist es für die Effekte des «Prestigestrebens aus der zweiten
Reihe» unmaßgeblich, ob die Rahmenbedingungen der
internationalen Politik nun als uni- oder multipolar definiert werden.
In beiden Fällen ist der auf der Vormacht lastende Druck, die
Anerkennung ihrer Hegemonialposition durch die Verbündeten
sicherzustellen, dramatisch gewachsen. Mit Mearsheimer, The
Tragedy of Great Power Politics, S. 12 f., lassen sich beide
Konstellationen auch als Multipolarität mit einem potenziellen
Hegemon beschreiben. Nach Mearsheimers Überlegungen ist dieses
System das am meisten konfliktträchtige.
47 Solche kleinen Kriege sind nicht mit der modernen Form des
Partisanenkrieges zu verwechseln, mit der sie gleichwohl einige
Ähnlichkeiten haben. (Siehe unten, S. 184 ff.) – Dass diese Kriege zum
Teil mit äußerst brutalen Methoden und ohne jede Beachtung
völkerrechtlicher Regeln geführt wurden, zeigt unter anderem das
Beispiel der Niederschlagung des 1904 ausgebrochenen
Hereroaufstandes in Deutsch-Südwestafrika; vgl. Zimmerer,
Völkermord.
48 Auf die Bedeutung der peripheren Lage für den Aufstieg Roms wie
der USA hat zuletzt Bender, Weltmacht Amerika, S. 170 – 176,
hingewiesen.
55 Außer bei Ullrich, Die nervöse Großmacht, und Radkau, Das Zeitalter
der Nervosität, ist das Problem der verengten Zeithorizonte als
zentrales Element imperialer Politik thematisiert bei Fenske,
«Ungeduldige Zuschauer».
58 Daase, Kleine Kriege – Große Wirkung, hat die These vertreten, dass
große Kriege die internationale Ordnung stabilisieren, während kleine
Kriege sie in Frage stellen.
61 Vgl. Junker, Power and Mission, S. 51 ff. und 73 ff. – Siehe auch unten,
S. 147 f.
69 Ebd., S. 283.
70 Ebd., S. 176.
71 Ebd., S. 187.
74 Ebd., S. 40.
75 Ebd., S. 58 ff.
76 Ebd., S. 55 ff.; eine ausführliche Darstellung der athenischen Eingriffe
in die inneren Verhältnisse der Bündner findet sich bei Schuller, Die
Herrschaft der Athener, S. 11 ff. (direkte Herrschaftsmittel) und
S. 80 ff. (indirekte Herrschaftsmittel).
Anmerkungen zu Kapitel 3
1 Vgl. Mann, Geschichte der Macht; zu den vier Quellen und
Organisationsformen der Macht speziell Bd. 1, S. 46 ff.
9 Ebd., S. 162 f.
12 Ebd., S. 252.
13 Boxer, The Dutch Seaborne Empire, S. 132 ff.; zu der von den
Portugiesen deutlich unterschiedenen Wirtschaftsmentalität der
Niederländer vgl. Shama, Überfluss und schöner Schein, S. 315 ff.
17 Vgl. Landes, Wohlstand und Armut der Nationen, S. 247 ff., sowie
speziell Fischer, «Internationale Wirtschaftsbeziehungen und
Währungsordnung».
28 Vgl. Nagel, Timur der Eroberer, S. 151 ff., sowie Irwin, «Die
Entstehung des islamischen Weltsystems», S. 71 – 76.
29 Damit wird deutlich, warum sich kein objektiver Maßstab für die
Überdehnung eines Imperiums angeben lässt: Weder die größte
Entfernung zwischen Zentrum und Peripherie noch die Gesamtlänge
der imperialen Außengrenzen sagt irgendetwas aus, wenn nicht die
Expansionsform des Imperiums und die Art seiner Integration in
Betracht gezogen wird. (Siehe unten, S. 172 ff.)
39 Vgl. hierzu die Arbeiten Isaiah Berlins, etwa «Herzen und seine
Erinnerungen» und Russische Denker.
41 «Es erwies sich auf die Dauer als unmöglich, extrem unterschiedliche
historische Regionen, von den lateinisch-westlich geprägten
Republiken über die ostslawisch-orthodoxen Gebiete bis zu den
Ländern des islamischen Kulturkreises, in einem sozialistischen
Hegemonialverband zusammenzuhalten.» Simon, «Die Desintegration
der Sowjetunion», S. 205.
48 Hierzu und zum Folgenden vgl. Doyle, Empires, S. 108 ff., sowie
Reinhard, Kleine Geschichte des Kolonialismus, S. 24 ff.; zum
Kulturkontakt zwischen Europa und Süd- beziehungsweise Ostasien
grundlegend Osterhammel, Die Entzauberung Asiens; zu den
unterschiedlichen Typen kolonialer Beziehungen vgl. ders.,
Kolonialismus, S. 19 ff.
62 Zur Debatte über richtige und falsche Maßnahmen vgl. Cipolla in der
Einleitung des von ihm herausgegebenen Bandes The Economic
Decline of Empires, S. 5 ff.
64 Nur unter dieser Voraussetzung lässt sich der Ratschlag Joseph Nyes
zuordnen, die US-Politik solle stärker auf soft power als auf hard
power setzen, da dies weniger Feindseligkeit hervorrufe und
obendrein kostengünstiger sei. (Nye, Das Paradox der amerikanischen
Macht, S. 208 f.)
66 Nach dem Sieg von Actium reduzierte Octavian die Zahl der Legionen
von 70 auf 26 beziehungsweise 25; konkret hieß dies, dass
120 000 Soldaten entlassen und in Italien oder den Provinzen mit
Land versorgt oder mit Geld abgefunden wurden. Die parallel dazu in
Angriff genommene Militärreform, in der die Dienstzeiten der
Legionäre, Prätorianer und Angehörigen von Auxiliarverbänden sowie
deren regelmäßiger Sold festgelegt wurde, diente dazu, die Loyalität
der Truppen gegenüber der Zentrale zu stärken und die Abhängigkeit
der Soldaten von ihren jeweiligen Befehlshabern zu mindern. Das war
der Kern der inneren Pazifizierung des Reichs. Einzelangaben hierzu
bei König, Der römische Staat II, S. 35; Bellen, Grundzüge der
Römischen Geschichte, S. 163, 171 und 179, sowie Heuss, Römische
Geschichte, S. 298 ff.
72 In den Res gestae Divi Augusti hat Octavian die Verwandlung von
potestas in auctoritas als das Leitprinzip seiner Regierung
herausgestellt; vgl. Syme, Die Römische Revolution, S. 546 ff.
79 Ich vermag insofern der These Doyles (Empires, S. 118 f.) nicht zu
folgen, Spanien habe im Unterschied zu England in der Beherrschung
seiner Kolonien die augusteische Schwelle überschritten. Was Doyle
zu diesem Urteil veranlasst hat, ist die Tatsache, dass die spanische
Herrschaft auf dem amerikanischen Kontinent doppelt so lange
dauerte wie die englische.
82 Ebd., S. 50.
90 Vgl. ebd., S. 45 ff., sowie Nagel, Timur der Eroberer, S. 354 ff.
95 Der Vergleich mit dem Römischen Reich ist in den Darstellungen der
chinesischen Reichsgeschichte immer wieder vorgenommen worden;
vgl. Ebrey, China, S. 85.
Anmerkungen zu Kapitel 4
1 Eric Lionel Jones hat in seinem Buch Das Wunder Europa den
Vorsprung, den die Europäer gegenüber Asien seit der Frühen
Neuzeit gewonnen haben, aus der Kleinräumigkeit seiner politischen
Ordnung begründet. – Zu den Anfängen des Staatenpluriversums in
Europa als einer politischen Ordnung vgl. Fueter, Geschichte des
europäischen Staatensystems; skeptisch gegenüber der
Ordnungsqualität des Staatenpluriversums hingegen Vagts, «Die
Chimäre des europäischen Gleichgewichts», S. 131 ff.
9 Als schärfster Kritiker des spanischen Reichs und der von ihm
betriebenen Kolonialpolitik ist der Abbé Raynal mit seiner Histoire
philosophique et politique de deux Indes (1774) zu nennen; vgl. hierzu
Gollwitzer, Geschichte des weltpolitischen Denkens, Bd. 1,
S. 262 – 285; zum Konzept der commercial society vgl. Bohlender,
«Government, Commerce und Civil Society».
27 Vgl. Lewis, Die Araber, S. 62 ff., sowie Hourani, Die Geschichte der
arabischen Völker, S. 44 ff.
37 Marx, «The British Rule in India», S. 169 (dt. Text in: Marx, Engels,
Werke, Bd. 9, S. 127 – 133, hier S. 129).
38 Ebd., S. 130.
39 Ebd., S. 132.
40 Ebd., S. 133.
59 Ebd., S. 173.
61 Vgl. Bitterli, Die Entdeckung und Eroberung der Welt, Bd. 1, S. 51 ff.
69 Dazu ausführlich Potter, Das römische Italien, S. 198 ff., sowie Doyle,
Empires, S. 102 f.
70 Vgl. Potter, Das römische Italien, S. 162 ff.; für die Angaben zum
Straßennetz in der Zeit Diocletians vgl. ebd., S. 174.
73 Zur imperialen Politik Wittes vgl. Hosking, Russland, S. 374 f., Geyer,
Der russische Imperialismus, S. 144 ff., sowie Stökl, Russische
Geschichte, S. 610 – 618.
79 Ebd., S. 141 f.
Anmerkungen zu Kapitel 5
1 Für Ludwig Dehio (Gleichgewicht oder Hegemonie) ist die
europäische Geschichte der Neuzeit durch vier sukzessive
Hegemonialbestrebungen gekennzeichnet: die spanische, die bereits
unter Philipp II. fehlgeschlagen sei; die erste französische, die sich am
Ende der Regierungszeit Ludwigs XIV. erschöpft hatte; die zweite
französische, die mit Napoleon scheiterte; und die deutsche, die für
Dehio mit der Bismarckschen Reichseinigung begann und 1945
endete.
2 Vgl. Gilpin, War and Change, S. 186 ff., sowie Mearsheimer, The
Tragedy of Great Power Politics, S. 32 – 54.
6 Vgl. Schley, Die Kriege der USA, S. 58 – 63; zu den kleinen imperialen
Kriegen der USA allgemein Boot, The Savage Wars of Peace.
9 Gibbons Werk liegt seit kurzem in einer bis zum Ende des Römischen
Reichs im Westen vollständigen deutschen Übersetzung vor: Gibbon,
Verfall und Untergang des römischen Imperiums.
12 Vgl. Massie, Die Schalen des Zorns, S. 40 ff., 506 ff. und 573 ff.
17 Ebd., S. 879.
18 Ebd.
20 «The guerilla wins if he does not lose. The conventional army loses if
25 Das Jahr 1914 bezieht sich auf den britischen Eintritt in den Ersten
Weltkrieg, der im Wesentlichen erfolgte, weil man von einer
deutschen Bedrohung des Empire ausging (vgl. Howard, Kurze
Geschichte des Ersten Weltkriegs, S. 23 ff.); das Jahr 1956 ist das Jahr
der Suezkrise (siehe unten, S. 221).
35 Die Entführung von Handwerkern und Ingenieuren war ein vor allem
in den nordchinesischen Grenzregionen verbreitetes Verfahren
nomadischer Völker, um die Überlegenheit des Imperiums
einzuebnen; vgl. Merson, Straßen nach Xanadu, S. 54; Ähnliches gilt
auch für die Osmanen, die sich regelmäßig «abendländischer»
Kanonengießer bedienten, wobei sie diese freilich zumeist nicht
entführen mussten, sondern mit Geld in ihre Dienste brachten; vgl.
Cipolla, Segel und Kanonen, S. 104 ff.
37 Diese Angaben bei Schweinitz, The Rise and Fall of British India,
S. 242. Die Berühmtheit der Schlacht von Omdurman resultiert nicht
zuletzt daraus, dass Winston Churchill darüber einen glänzenden
Bericht verfasst hat. Dass gleichwohl Siege der europäischen
Kolonialmächte nicht selbstverständlich waren, zeigte die Niederlage
der Italiener gegen äthiopische Verbände zwei Jahre zuvor bei Adna;
vgl. dazu Brogini Künzi, «Der Sieg des Negus».
38 Hierzu und zum Folgenden vgl. Rosen, «Ein Empire auf Probe»,
insbes. S. 92 ff.
47 Ebd., S. 96.
48 Territorial nicht gebundene Politikakteure könnten, da sie durch
einen nuklearen Gegenschlag nicht zu bedrohen wären, von diesen
Nuklearwaffen einen ganz anderen Gebrauch machen als Staaten und
etwa eine Atmosphäre der Dauererpressung territorial-gebundener
Politikakteure herstellen. (Dazu jetzt Behr, Entterritoriale Politik,
S. 75 ff., sowie 119 ff.) Im Falle weltweit verbreiteter Atomwaffen,
deren Kontrolle und Sicherung in vielen Staaten nur unzureichend
wäre, müsste obendrein damit gerechnet werden, dass diese Waffen
von Kriminellen gestohlen werden, um einzelnen oder allen Staaten
Lösegeldzahlungen aufzuerlegen.
64 Vgl. die knappe und pointierte Darstellung bei Tuchman, Der erste
Salut, S. 193 ff.
69 Die Angaben über die Anzahl der Opfer, die die Deportation der
armenischen Bevölkerung zur Folge hatte, schwanken zwischen
200 000 und einer Million Menschen; die Beurteilung der türkischen
Maßnahmen gegen die rebellierenden Armenier, die sich seit Ende
des 19. Jahrhunderts mit terroristischen Anschlägen und schließlich in
einem regelrechten Partisanenkrieg der türkischen Herrschaft zu
entledigen suchten, ist ebenfalls uneinheitlich: Matuz, Das
Osmanische Reich, S. 265, spricht von einem Genozid (so auch
Majoros/Rill, Das Osmanische Reich, S. 360), während Kreiser/
Neumann, Kleine Geschichte der Türkei, S. 371 – 377, das im Mai 1915
erlassene «Gesetz über Bevölkerungsumsiedlung» stärker im Rahmen
der Kriegshandlungen an der Kaukasusfront sehen. – Einen bis ins
18. Jahrhundert zurückreichenden Blick auf die Position der Armenier
im Osmanischen Reich wirft Jorga, Geschichte des Osmanischen
Reiches, Bd. 5, S. 606 – 613.
70 Vgl. Noth, Geschichte Israels, S. 392 ff., sowie den Beitrag von
Menahem Stern, in: Ben-Sasson, Geschichte des jüdischen Volkes,
S. 364 ff.
71 Vgl. Angermann, Die Vereinigten Staaten von Amerika, S. 313 f., 400
und 426.
74 Dass der Partisanenkrieg mittel- und langfristig nicht nur den Gegner
ruinierte, sondern mit einer nachhaltigen Selbstzerstörung verbunden
war, hätte bereits eine vergleichende Betrachtung der
antinapoleonischen Kriegführung Spaniens und Preußens zeigen
können. Beide Länder waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts von
napoleonischen Truppen besetzt worden und suchten nach
Möglichkeiten, sich der französischen Herrschaft wieder zu
entledigen. Während die preußischen Reformen als der Versuch zu
verstehen sind, diese Überlegenheit, die eine Folge der revolutionären
Veränderungen in Frankreich war, durch Resymmetrierung
wettzumachen, setzten die Spanier auf den Weg der Asymmetrierung,
indem sie den Kleinen Krieg (guerilla) zu einer weitgehend
selbständigen Form der Kriegführung fortentwickelten. Beide haben
schließlich einen wesentlichen Beitrag zur Niederringung Napoleons
geleistet. Aber während die preußische Gesellschaft nach 1814/15 in
einen kontinuierlichen Entwicklungsprozess eintrat, der nur in der
Revolution von 1848/49 eine gewaltsame Beschleunigung erfuhr,
erlebte die spanische Gesellschaft im 19. Jahrhundert eine schier
endlose Abfolge von Krisen und Machtwechseln, und Spanien verlor
immer mehr den Anschluss an die europäische Entwicklung; vgl.
Bernecker, Spanische Geschichte, S. 111 – 149.
76 Vgl. Münkler, Die neuen Kriege, insbes. S. 131 ff., sowie ders., «Zur
Charakterisierung der neuen Kriege».
77 Vgl. Nye, Das Paradox der amerikanischen Macht, S. 12 ff. Nye ist
sich freilich darüber im Klaren, dass weiche Macht erheblich weniger
politischer Kontrolle unterliegt als harte Macht; vgl. etwa S. 116.
78 Die gründlichste Auseinandersetzung mit dem Fundamentalismus des
20. Jahrhunderts und seinen Vorläufern bietet Armstrong, Im Kampf
für Gott.
79 Hierzu und zum Folgenden vgl. Noth, Geschichte Israels, S. 322 – 343,
Stern, in: Ben-Sasson, Geschichte des jüdischen Volkes, S. 251 – 268,
sowie Soggin, Einführung in die Geschichte Israels und Judas,
S. 225 – 240.
81 Vgl. Mosès, Eros und Gesetz, S. 111 ff., sowie Koch, Das Buch Daniel,
insbes. S. 127 ff.
29 Michael Hardt und Antonio Negri haben Angriffe auf die verletzlichen
Verbindungslinien der Ordnung, die sie Empire nennen, durchaus in
ihre Überlegungen einbezogen, sie aber nicht als Element der
Zerstörung, sondern der Weiterentwicklung der Ordnung begriffen.
Indem sie das Empire von vornherein als omniinklusiv angelegt
haben, haben sie die Bedrohung durch Attacken von außen
wegdefiniert. (Hardt/Negri, Empire, S. 271 ff., S. 306 ff.)
31 Zu nennen sind hier insbes. Vidal, Ewiger Krieg für ewigen Frieden,
sowie Mailer, Heiliger Krieg; auch bei Mann (Die ohnmächtige
Supermacht, S. 24 f., 314 und 330 f.) findet sich die Auffassung, die
USA hätten unter Bill Clinton Hegemonialpolitik betrieben, die erst
unter George W. Bush auf imperialistische Politik umgestellt worden
sei. Freilich argwöhnt Mann, dass bereits die Hegemonialpolitik mehr
Unordnung als Ordnung gestiftet habe.
32 So etwa Boot, «Plädoyer für ein Empire», S. 66; auch Leggewie («Ein
Empire der Demokratie», S. 205) spricht von «demokratischem
Imperialismus».
39 Für Chalmers Johnson haben sie fünf Funktionen: die Sicherung der
US-Vorherrschaft über den Rest der Welt; das Belauschen der
Kommunikation von Bürgern und Regierungen, vor allem aber von
Unternehmen, um auf diese Weise an wichtige Informationen zu
gelangen; die Kontrolle der Ölquellen und der Transportwege des Öls;
Einkommens- und Beschäftigungssicherung für den petro-
militärischen Komplex; schließlich die Ermöglichung eines
angenehmen Lebens für die Soldaten und ihre Familienangehörigen,
um so die Rekrutierungschancen für Soldaten in den USA zu erhöhen.
(Johnson, Der Selbstmord der amerikanischen Demokratie, S. 205 ff.)
46 In diesem Sinn ist Joseph Nyes Insistenz auf soft power auch als
Drängen zu einer eher imperialen als imperialistischen Politik zu
begreifen. Vgl. Nye, Das Paradox der amerikanischen Macht.
Umgekehrt kommt es nicht von ungefähr, dass die entschiedensten
Kritiker der US-Politik Imperialismus durchweg mit Militarismus
gleichgesetzt haben; vgl. Mann, Die ohnmächtige Supermacht,
S. 314 ff., sowie Johnson, Ein Imperium verfällt, S. 57 ff. und 133 ff.
48 Vgl. Harold James, Der Rückfall, S. 21 ff., 290 ff.; vgl. dazu auch
Fischer, «Die Weltwirtschaft im 20. Jahrhundert».
51 Diese Prägung ist durch die Arbeit der Historiker immer wieder
erneuert worden; im 20. Jahrhundert ist keine Studie hierbei so
einflussreich gewesen wie Symes The Roman Revolution (1939), ein
Werk, in dem das anglo-amerikanische Selbstverständnis mit Blick auf
die Selbstzerstörung demokratischer Ordnungen auf dem
europäischen Kontinent im Spiegel der römischen Geschichte
befestigt und bestätigt wurde. – Die Rom-Analogie findet sich
durchgängig bei sämtlichen Autoren, die sich mit der Herausbildung
des amerikanischen Imperiums im Verlauf des letzten Jahrzehnts
beschäftigen, und zwar unabhängig davon, ob sie dies in kritischer
oder affirmativer Sicht tun. Am bemerkenswertesten ist vielleicht,
dass sich auch ein prinzipiell imperiumsskeptischer Autor wie Nye der
Rom-Analogie nicht entziehen kann; vgl. Nye, Das Paradox der
amerikanischen Macht, S. 167 ff.
59 Zu den Kosten und Verlusten des Ersten Weltkriegs für die Europäer
vgl. Kolko, Das Jahrhundert der Kriege, S. 96 ff. und 107 ff.; für die
USA hat Junker (Power und Mission, S. 52) die Ergebnisse
zusammengefasst: «Die USA, die durch den Ersten Weltkrieg zur
führenden Wirtschafts- und Handelsmacht der Erde geworden waren,
bauten diese Position in den 20er Jahren weiter aus: (…) Der Anteil an
der Weltproduktion industrieller Güter wuchs von 35,8 % im Jahre
1913 auf 46 % im Durchschnitt der Jahre 1925 bis 1929. Das
Nationaleinkommen der USA war, in Dollar gemessen, ebenso hoch
wie das der nächsten 23 Nationen zusammen, einschließlich
Großbritanniens, Deutschlands, Frankreichs, Japans und Kanadas.
New York wurde neben London zum zweiten Finanzzentrum der Welt,
das Weltwirtschaftssystem wurde bizentrisch, wenn nicht sogar
amerikazentrisch.» Zur Bilanz des Zweiten Weltkriegs vgl. Kolko, Das
Jahrhundert der Kriege, S. 205 ff., sowie Overy, Die Wurzeln des
Sieges, S. 419 f.
73 Zu nennen sind hier insbes. Todd, Weltmacht USA, insbes. S. 211 ff.,
sowie Rifkin, Der europäische Traum, S. 19 ff., 71 ff.; auch Kupchan,
Die europäische Herausforderung, S. 115 ff., geht davon aus, dass die
eigentliche Herausforderung der USA aus Europa komme.
74 Die Debatte über die europäische Identität hat durch die Frage des
EU-Beitritts der Türkei neuen Auftrieb erlangt; vgl. dazu Leggewie,
Die Türkei und Europa; der Blick auf die europäische Identität ist in
seinen unterschiedlichen Facetten zusammengestellt bei Hoffmann/
Kramer (Hg.), Europa – Kontinent im Abseits?
«Die Deutschen und ihre Mythen» (2009), das mit dem Preis der Leipziger
Buchmesse ausgezeichnet wurde.
Impressum
Die Seitenzahlen im Text beziehen sich auf die Printausgabe.