Herausgegeben von
Peter Engelmann
Passagen Verlag
/ —..
-. ) 3
/ /‘ .__‚ _%_
/ ‘1
Deutsche Erstausgabe
Titel der Originalausgabe: De I‘hoipitaliti
Inhalt
Aus dem Französischen von Markus Sedlaczek
Derrida, Jacques:
Von der Gastfreundschaft / Jacques Derrida. Hrsg. von Schritt der Gastfreundschaft
Peter Engelmann. [Aus dem Franz. von Markus Sedlaczekj. Fünfte Sitzung (am 17. Januar 1996) 59
— —
Dt. Erstausg.. Wien: Passagen-Verl., 2001
(Passagen forum)
Einheitssacht.: De l‘hospitaIit <dt.> Anne Dufourmantelle: Einladung 111
ISBN 3-85165-511-7
Anmerkungen 145
13
jenige, der, indem er die erste Frage stellt, mich in behandeln wird: jemanden, der nicht wie die anderen
Frage stellt. Man denkt dabei an die Situation des spricht, jemanden, der eine seltsame Sprache spricht.
Dritten und an die Gerechtigkeit, die Lvinas als Doch der Xenos bittet darum, nicht für einen Vater-
„die Geburt der Frage“ analysiert.
2 mörder gehalten zu werden. „So erbitte ich mir nun
—
—
Bevor wir wie wir angekündigt hatten diese weiter noch dieses von dir“, sagt der Xenos zu
Frage (nach) der Frage vom Ort des Fremden und Theaitetos: „Daß du mich nicht für einen Vatermör
seiner griechischen Situation aus noch einmal neu der ansiehst“. „Warum denn das?“, fragt nun
—
stellen, wollen wir uns als eine Art Exergon im Theaitetos. Der Fremde: „Weil wir den Satz (logon)
—
Sinne eines Mottos
3 auf einige Bemerkungen oder des Vaters Parmenides notwendig, wenn wir uns ver
Lektüren beschränken. teidigen wollen, in Frage stellen und erzwingen
Ein Zurückrufen an Orte, die uns vertraut vor müssen, daß sowohl das Nichtseiende in gewisser
kommen: In einer Reihe von Platons Dialogen ist Weise ist als auch das Seiende wiederum irgendwie
es oft der Fremde
4 (Xenos), der Fragen stellt. Er trägt nicht ist“
.
5
und er stellt die Frage. Man denkt zunächst an den Da ist sie, die fürchterliche Frage, die revolutionäre
Sophistes. Indem der Fremde die unerträgliche Frage, Hypothese des Fremden. Er streitet ab, Vatermörder
die vatermörderische Frage, vorbringt, bestreitet er durch Verneinung zu sein. Es würde ihm nicht ein
die Parmenideische These, stellt er den lagos unseres fallen, es abzustreiten, wenn er nicht in seinem Inner
Vaters Parmenides in Frage, Ion toupatros Parmenidou sten spüren würde, daß er es in Wahrheit ist, daß er
lqgon. Der Fremde erschüttert den drohenden Dog in Wahrheit ein Vatermörder, ein virtueller Vater-
matismus des väterlichen lqgos das Sein, das ist, und mörder ist, und daß die Aussage „das Nichtsein ist“
das Nichtsein, das nicht ist. Als ob der Fremde damit eine Herausforderung der väterlichen Logik des
beginnen müßte, die Autorität des Oberhaupts, des Parmenides bleibt, eine Herausforderung, die vom
Vaters, des Familienoberhaupts, des „Hausherrn“, Fremden ausgeht. Wie jeder Vatermord findet auch
der Macht der Gastfreundschaft, des bosli-pel-s, zu dieser hier in der Familie statt: Ein Fremder kann
bestreiten, wovon wir bereits ausführlich sprachen. nur dann ein Vatermörder sein, wenn er in gewisser
Der Fremde des Sophistes gleicht hier dem, der im Weise zur Familie gehört. Wir werden zu gegebener
Grunde für die Möglichkeit der Sophistik Rechen Zeit auf bestimmte Implikationen dieser Familien-
schaft ablegen muß. Es ist, als ob der Fremde Züge szene und dieses Generationsunterschieds zurück
trüge, die an einen Sophisten denken lassen, an je kommen, die jede Anspielung auf den Vater unter
manden, den die Stadt oder der Staat als Sophisten zeichnet. Die Antwort Theaitetos‘ wird hier durch
14 15
die Übersetzung abgeschwächt. Sie registriert den Zunächst zur Blindheit. Theaitetos‘ Antwort (,‚Es
eigentlich polemischen, ja kämpferischen Charakter scheint offenkundig,phainetai, daß wir hier Krieg füh
dessen, was mehr als eine Debatte ist (,‚Debatte“ ren müssen“) erwidert der Fremde, indem er noch
steht in der geläufigen französischen Übersetzung einen Schritt weiter geht: „Das ist selhstfür einen Blin
für die Antwort Theaitetos‘, wenn dieser sagt: den offensichtlich.“ Er sagt dies in Form einer rheto
Pbainetai to toiouton diamacheteon en iois logoir es ist of rischen Frage; es handelt sich um ein Frage-Simula
fenkundig, es scheint offenkundig, es scheint in der krum, um das, was man im Englischen eine rhetorical
Tat so, daß man sich hier streiten muß, diamacheteon, question nennt „Wie sollte dies nicht offenkundig
daß man sich hier einen erbitterten Kampf liefern und, wie man so sagt, selbst für einen Blinden offen
muß, oder daß man hier den Krieg in den logoz, den sichtlich sein (kai to le,gomenon dc touto tuphlc)?“
Argumenten, in den Reden, im iogos austragen muß, Nun zum Wahnsinn. Für einen solchen Kampf,
und nicht, wie es in der Übersetzung von Dies ganz für die Widerlegung der väterlichen These, im Hin
friedlich, pazifistisch heißt: „Eben darüber müssen blick auf einen möglichen Vatermord, halt sich der
wir offenkundig die Debatte führen“. Nein, viel Xenos für zu schwach, wie er sagt; ihm fehlt das nöti
schwerwiegender: „Es scheint in der Tat, daß es hier, ge Selbstvertrauen. Woher sollte ein vatermörderi
in den Reden oder Argumenten, bewaffneten Krieg
scher Fremder, also einfrernderSohn, auch ein solches
oder Kampf geben muß.“ 6
). Der dem osiern haben? Wir wollen die erschreckende und ins Auge
Krieg: genau das ist die Frage des Fremden, die
stechende Evidenz noch einmal betonen: ein „frem
doppelte Frage, die Auseinandersetzung zwischen
der Sohn“, denn nur ein Sohn kann ein Vatermörder
dem Vater und dem Vatermörder. Dies ist auch der
sein. In Wahrheit fürchtet der Fremde, daß man ihn
Ort, an dem sich die Frage des Fremden als Frage
mit seiner Frage nach dem Sein des Nichtseins einen
(nach) der Gastfreundschaft mit der Frage nach dem
Verrückten, einen Ws••gen (manikos) nennt. Er
Sein verbindet. Bekanntlich wird Sein und Zeit mit
hat Angst, als ein Wahnsinniger-Fremder-Sohn zu
einer Referenz auf den Sophistes eröffnet, die dem
Werk als Motto vorangestellt ist. gelten: „Dies macht mich nun eben bange vor dem,
Wir müßten beinahe den ganzen Kontext rekon was ich gesagt, daß ich dir nicht etwa völlig wild
struieren, wenn dies möglich wäre, und auf alle Fäl (wörtlich: als ein Wahnsinniger, manikos) vorkomme,
le das Folgende noch einmal lesen, die Sequenz, die wenn ich auf der Stelle umwende von unten nach
auf die Antwort des Fremden folgt. In ihr geht es oben (parapoda m6tabolk$n emauton ano kai kato, ein
zugleich um die Blindheit und um den Wahnsinn, eine Wahnsinniger, der alles auf den Kopf stellt, der al
seltsame Allianz von Blindheit und Wahnsinn. les völlig umkehrt, der auf dem Kopf geht)“ (242 a).
16 17
Der Fremde trägt und stellt die schreckliche Frage, an, gelten Theodoros, dem er dankt, daß er ihn mit
er sieht sich (er sieht es voraus), er weiß sich durch Theaitetos, gewiß, gleichzeitig aber auch mit dem
die väterliche und vernünftige Autorität des logos im Fremden bekannt gemacht hatte (,‚ama kai tes tou
voraus in Frage gestellt. Die väterliche Instanz des xenou“). Und die Frage, die der Fremde an sie richten
lqgos schickt sich an, ihn zu entwaffnen, ihn als Ver wird, um diese große Debatte (dibaz) zu eröffnen,
rückten zu behandeln, und das genau in dem Mo die auch ein großer Kampf (combat) sein wird, wird
ment, da seine Frage, die Frage des Fremden nur keine geringere als die Frage des Politikers sein, die
deshalb etwas zu bestreiten scheint, um in Erinne Frage nach dem Menschen (homrne) als einem poli
rung zu rufen, was selbst für Blinde offensichtlich tischen Wesen. Mehr noch: die Frage des Politikers
sein sollte! (hommepolitique) nach der Frage des Sophisten. Denn
Daß der Fremde hier virtuell als vatermörderischer der Dialog Der Politik.er (Polilikos) würde in der Zeit
Sohn in Erscheinung tritt, blind und über die Maßen und der Logik, in der Chrono-Logik von Platons
hellsichtig zugleich, am blinden Fleck des Blinden Werk und Diskurs nach dem Sophisten (Sophistes) kom
sehend, das ist auch einem gewissen Ödipus nicht men. Nun gilt aber die prograrnmatische Frage des
fremd, den wir in Kürze eine Grenze überschreiten —
.Fremden im Politiker nach der Frage nach dem
sehen werden. Denn es wird von der Ankunft des Sophisten—eben dem Politiket Der Xenos sagt: „Also
Ödipus die Rede sein (ii sera question), das wird die nach dem Sophisten ist es nun notwendig, wie mir
Frage (question) selbst sein, vom Ankommen (arii scheint, daß wir den Staatsmann (den Politiker, ton
vance) dieses blinden Fremden an, der sich auf Anti polilikon andra) untersuchen (diaetein). Und sage mir,
—
gone stützt die für ihn sieht. Sobald der Moment ob wir ihn auch als einen Kundigen (tdn epistomenön)
gekommen sein wird, werden wir Ödipus bei seiner . Ja, antwortet Sokrates
7
setzen woUen, oder wie?“
Ankunft in der Stadt herbeizitieren. der Jüngere, der andere Sokrates. Der Fremde
In der Zwischenzeit könnten wir, uni noch ein schließt daraus, daß es nun zunächst gelte, die Er
wenig bei Platon zu verweilen, auch den Politikos kenntnisse einzuteilen, „wie wir es taten, da wir den
noch einmal lesen. Auch dort ergreift ein Fremder ersten betrachteten“, das heißt den Sophisten.
die Initiative zur schrecklichen, ja unerträglichen Fra Bisweilen ist Sokrates selbst der Fremde, Sokrates,
ge. Der Fremde wird übrigens dem Anschein nach der Störende, der Mann der Frage und der Ironie
gut aufgenommen, man gewährt ihm Asyl, er genießt (das heißt der Frage, denn das ist ebenfalls eine der
Gastrecht, besitzt das Recht auf Gastfreundschaft; Bedeutungen des Wortes „Ironie“), der Mann der
Sokrates‘ erste Worte, vom ersten Satz des Dialogs maieutischen Frage. Sokrates selbst trägt die Züge
18 19
des Fremden, er repräsentiert, er stellt den Fremden erbitten, die per definitionem nicht die seine ist, in
dar, er ipielt den Fremden, der er nicht ist. Er gibt derjenigen, die ihm der Hausherr auferlegt, der Gas t
ihn insbesondere in einer für uns äußerst interes geber, der König, der Herr, die Macht, die Nation,
santen Szene, die HenriJoly zu Beginn seines schö der Staat, der Vater usw. Dieser zwingt ihn zur Über
nen, posthum erschienenen Buches La,Question des setzung in seine eigene Sprache, und das ist die erste
itrangers in Erinnerung ruft, dessen Lektüre ich Ih Gewaittat. Hier beginnt die Frage (nach) der Gast
8
nen empfohlen hatte. freundschaft Sollen wir vom Fremden, bevor und
In derApolqgie des Sokrates (17 d) wendet sich dieser damit wir ihn bei uns aufnehmen können, verlangen,
gleich zu Beginn an seine athenischen Mitbürger und uns zu verstehen, unsere Sprache zu sprechen, in
Richter. Er streitet ab, eine Art Sophist oder ge allen Bedeutungen dieses Ausdrucks, in all seinen
—
schickter Schwadroneur zu sein. Er kündigt an, daß möglichen Extensionen? Wenn er mit all dem, was
—
dies impliziert unsere Sprache spräche, wenn wir
er im Gegensatz zu den Lügnern, die ihn anklagen,
zwar gewiß das Rechte und Wahre sagen werde, doch bereits alles teilten, was mit einer Sprache geteilt
ohne rhetorische Eleganz, ohne Gefälligkeit in der wird, wäre der Fremde dann noch ein Fremder, und
Sprache. Er erklärt, daß er von der Genchtsrede könnte man auf ihn bezogen dann noch von Asyl
keine Ahnung habe, daß er ihr und der Tribüne der oder Gastfreundschaft sprechen? Das ist das Para
Tribunale „fremd“ gegenüberstehe: Er vermag diese dox, das sich noch klarer abzeichnen wird.)
—
Sprache des Gerichtssaals nicht zu sprechen, diese Was also sagt Sokrates in dem Moment, da er
—
vergessen wir es nicht sein Leben aufs Spiel setzt
Rhetorik des Rechts, der Anklage, der Verteidigung
und des Plädoyers; ihm fehlt die Technik, er ist wie und dieses Spiel bald verlieren wird? Was sagt er,
ein Fremder. (Unter den ernsten Problemen, die wir indem er sich als der Fremde präsentiert, zum einen
hier behandeln, befindet sich das des Fremden oder als ob er ein Fremder wäre (lurch Fiktion), zugleich
Ausländers, der, ungeschickt im Gebrauch der Spra aber auch alr einer, der durch seine Sprache wirk
che, stets Gefahr läuft, vor dem Recht des Landes, lich zum Fremden wird (eine Bedingung, die er selbst
das ihn aufnimmt oder vertreibt, ganz ohne Verteidi bei allem, was er sagt, durch eine geschickte Bestrei
gung dazustehen; dem Fremden ist zuallererst die tung des Gerichts in Anspruch nehmen wird), ein
Sprache des Rechts fremd, in der die Pflicht zur Fremder, der in einer Sprache angeklagt ist, von der
Gastfreundschaft, das Recht auf Asyl, seine Gren er sagt, daß er sie nicht spricht, ein Angeklagter, der
zen, seine Normen, seine Polizei usw. formuliert aufgefordert wurde, sich in der Sprache des Ande
sind. Er muß die Gastfreundschaft in einer Sprache ren zu rechtfertigen, vor dem Recht und den Rich
20 21
tern der Stadt? Er wendet sich also an seine Mitbür mit einem o mikron, was eben unerfahren, ohne den nötigen
Dreh, ungeschickt, ohne Können bedeutet: Ich bin einfach
ger, an die athenischen Richter, die er bald „Richter“,
fremd, schlicht und einfach ein ungeschickter Fremder, ohne
bald „Athener“ nennt. Sie sprechen als (wie) Richter, Zuflucht und ohne die nötigen Mittel]. So wie ihr nun, wenn
die Bürger, die im Namen ihrer Bürgerschaft spre ich wirklich ein Fremder wäre [ei td onti nos ey,gkanon ön], mir es
chen. Sokrates kehrt die Situation um: Er bittet sie, nachsehen würdet, daß ich mit jenem Akzent und in Jener Mund
ihn wie einen Fremden zu behandeln, dem gegen art redete, worin ich erzogen worden [der Akzent, das ist pboni;
über bestimmte Rücksichtnahmen angebracht sind, die Mundart, der Dialekt oder Idiolekt, das ist fropon, die Trope,
die Wendung, das sind die einem Idiom eigenen Kunststücke
als einen Fremden aufgrund seines Alters und auf 9
der Rhetorik, kurzum: die Redeweisen].“
grund seiner Sprache, der einzigen Sprache, die er
gewohnt sei; es ist entweder die der Philosophie oder Diese Passage lehrt uns noch etwas anderes. Joly
die Alltagssprache, die Volkssprache (im Gegensatz erinnert daran, ebenso Benveniste, den ich gleich
zur gelehrten Sprache der Richter oder der Sophistik, zitieren werde: In Athen besaß der Fremde Rechte.
der Rhetorik und der juristischen Spitzfindigkeit): Ihm wurde das Recht auf Zugang zu den Gerich
ten eingeräumt, da Sokrates eine Hypothese daraus
Keineswegs, sondern ganz schlicht werdet ihr mich reden hö
ren in ungewählten Worten. Denn ich glaube, was ich sage, ist niacht: Wenn ich hier im Gericht ein Fremder wäre,
gerecht, und niemand unter euch erwarte noch sonst etwas. so sagt er, dann wurdet ihr nicht nur meinen Akzent,
Auch würde es sich ja schlecht ziemen, ihr Männer, in solchem meine Stimme, meine Sprechweise dulden, sondern
Alter gleich einem Knaben, der Reden ausarbeitet, vor euch auch die Wendungen meiner spontanen, originel
hinzutreten. Indes bitt ich euch darum auch noch recht sehr, len, idiomatischen Rhetorik. Es gibt also in Athen
ihr Athener, und bedinge es mir aus, wenn ihr mich hört mit
ähnlichen Reden meine Verteidigung führen, wie ich gewohnt
ein Fremdenrecht, ein Gastrecht, ein Recht auf Gast
bin auch auf dem Markt zu reden bei den Wechslertischen, wo freundschaft für die in Athen Fremden. Worin be
viele unter euch mich gehört haben, und anderwärts, daß ihr steht nun die Subtilität der Sokratischen Rhetorik,
euch nicht verwundert noch mir Getümmel erregt deshalb. Denn des Plädoyers des Atheners Sokrates? Sie besteht
so verhält sich die Sache. Jetzt zum erstenmal trete ich vor Ge darin, sich zu beschweren, nicht einmal wie ein
richt, da ich siebzig Jahre alt bin; ganz ordentlich also bin ich
Fremder behandelt zu werden: Wäre ich ein Frem
ein völliger Fremdling in der hier üblichen Art zu reden [ein
völliger Fremdling, das ist alecbnds oun xenos ecbo les entbade lexeos: dr, würdet ihr mit größerer Toleranz akzeptieren,
atecbnös, mit Omega, bedeutet „einfach, absolut, völlig“, und so daß ich nicht so spreche wie ihr, daß ich über mein
hat man zurecht übersetzt „ein völliger Fremdling“; doch das eigenes Idiom verfüge, über meine eigene Redeweise,
heißt deshalb „einfach, absolut, völlig“, weil es zunächst „ein die so wenig fachmännisch-technisch, so wenig ju
1 fach, ungekünstelt, ohne tecbn‘ bedeutet, sehr nahe dem akcbnos, ristisch ist, sondern volkstümlicher und philosophi
22 23
scher zugleich. Daß der Fremde, der xenos, nicht ein und dort an das Blut gebunden ist. Es geht nicht
fach der absolut Andere ist, der Barbar, der absolut nur um die Verbindung von Geburt und Nationali
ausgeschlossene und heterogene Wilde, daran erin tät; es geht nicht nur darum, jemandem die Staats
nert auch Benveniste in seinem Artikel, als er, nach bürgerschaft anzubieten, der sie zuvor noch nicht
generellen Bemerkungen zu bostis und dessen para besaß, sondern um das Recht, das dem Fremden als
—
doxer Filiation worüber wir bereits in den vor— solchem, dem fremd gebliebenen Fremden, zuer
angegangenen Sitzungen ausführlich gesprochen kannt wird, sowie den Seinen, seiner Familie, sei
—‚
haben auf die griechischen Institutionen zu spre nen Nachfahren.
chen kommt. Der Logik jenes Arguments entspre Was uns dieses, sich über mehr als eine Generation
chend, das wir letztes Mal im Hinblick auf die Rezi erstreckende, familiäre oder genealogische Recht zu
prozität und Gleichheit des „gegen“ im Tausch dis denken gibt, ist im Grunde die Tatsache, daß es sich
hierbei nicht um die Ausweitung des Rechts oder
fen), betont Benveniste, daß „die gleiche Einrichtung des „Pakts“ handelt (um den Begriff Benvenistes
[...] in der griechischen Welt unter einem anderen zu gebrauchen, der die Reziprozität des Engage
Namen [existierte]: xenos verweist auf gleichartige ments betonen will: der Fremde hat nicht nur ein
Beziehungen zwischen Menschen, die durch einen Recht, er hat umgekehrt auch Pflichten, woran er
Pakt gebunden sind, der mit präzisen, sich auch auf immer dann erinnert wird, wenn man ihm vorwer
die Nachfahren erstreckenden Verpflichtungen ein fen will, daß er sich schlecht benehme); es handelt
.
10
hergeht“ sich hier um keine einfache Ausweitung eines indi
Dieser letzte Punkt ist, wie wir bald sehen werden, viduellen Rechts, ujn die Ausweitung eines in erster
ein kritischer Punkt. Es gilt nämlich zu wissen, ob Linie dem Individuum gewährten Rechts auf die Fa
dieser Pakt, ob dieser Gastfreundschaftsvertrag, der milie und auf weitere Generationen. Nein, das alles
an den Fremden bindet und der umgekehrt auch den spiegelt die Tatsache wieder und gibt uns zu beden
Fremden bindet, über das Individuum hinaus Gül ken, daß das Recht auf Gastfreundschaft von An
rigkeit hat und sich so auf die Familie, die Genera fang an ein Haus, ein Geschlecht, eine Familie, einen
—
tion, die Genealogie erstreckt. Es geht hier nicht Familienverband oder eine ethnische Gruppe ver
—
obwohl die Dinge nah beieinander liegen um das pflichtet, die einen Familienverband oder eine eth
klassische Problem des Rechts auf Staatsangehörig nische Gruppe aufnehmen. Eben weil sie einem
keit (nationa1ite) oder Staatsbürgerschaft (citojienneti) Recht, einem Brauch, einem ethos, einer Si#Iicbkeit* II
als einem Recht qua Geburt— das hier an den Boden eingeschrieben ist, setzt die objektive Moralität, von
24 25
der wir letztes Mal sprachen, den sozialen und famili und unbedingte Gastfreundschaft, die ich ihm ge
ären Status der Vertragspartner voraus, die Möglich währen möchte, setzt einen Bruch mit der Gast
keit für sie, bei ihrem Namen gerufen zu werden, freundschaft im gängigen Sinne, der bedingten Gast
einen Namen zu haben, Rechtssubjekte zu sein, die freundschaft, dem Recht auf Gastfreundschaft oder
auf ihre Personalien überprüft werden können, die dem Gastfreundschaftspakt voraus. Damit stellen
etwas zugerechnet bekommen können, die verant wir einmal mehr eine irreduzible Pervertierbarkeit
wortlich sind, die über eine benennbare Identität, fest. Das Gesetz der Gastfreundschaft, das formale
einen Eigennamen verfügen. Ein Eigenname ist nie Gesetz, das das allgemeine Konzept der Gastfreund
mals rein individuell. schaft regiert, erscheint als ein paradoxes, pervertier
Wenn wir uns einen Augenblick bei dieser bezeich bares oder pervertierendes Gesetz. Es scheint näm
nenden Tatsache aufhalten wollen, so müßten wir lich zu bestimmen, daß die absolute Gastfreund
einmal mehr ein Paradox oder einen Widerspruch schaft mit dem Gesetz der Gastfreundschaft als
feststellen: Dieses Recht auf Gastfreundschaft, das Recht oder Pflicht, mit dem Gastfreundschafts
einem Fremden „im Kreise seiner Familie“, einem „Pakt“, brechen muß. Mit anderen Worten: Die ab
durch seinen Familiennamen repräsentierten und ge solute Gastfreundschaft erfordert, daß ich mein
schützten Fremden angeboten wird, ist das, was die Zuhause (che-moz) öffne und nicht nur dem Frem
Gastfreundschaft oder die gastfreundliche Bezie den (der über einen Familiennamen, den sozialen
hung zum Fremden ermöglicht, sie aber gleichzeitig Status eines Fremden usw. verfügt), sondern auch
auch begrenzt und untersagt. Denn es ist klar, daß dem unbekannten, anonymen absolut Anderen
man unter diesen Umständen einem anonymen An (eine) Stattgebe (donne lieu), daß ich ihn kommen lasse,
kömmling oder jemandem, der weder einen Namen ihn ankommen und an dem Ort (heu), den ich ihm
noch einen Familiennamen, weder eine Familie noch anbiete, Statt haben (avoir heu) lasse, ohne von ihm
einen sozialen Status hat, keine Gastfreundschaft eine Gegenseitigkeit zu verlangen (den Eintritt in
gewährt und ihn nicht wie einen Fremden, sondern einen Pakt) oder ihn nach seinem Namen zu fra
wie irgendeinen Barbaren behandelt. Wir haben es gen. Das Gesetz der absoluten Gastfreundschaft
bereits angedeutet: der Unterschied, einer der subti gebietet, mit der rechtlich geregelten Gastfreund
len und bisweilen kaum wahrnehmbaren Unterschie schaft, mit dem Gesetz oder der Gerechtigkeit als
de zwischen dem Fremden und dem absolut Ande Recht, zu brechen. Die wahre Gastfreundschaft
ren besteht darin, daß letzterer weder einen Namen
l?richt mit der rechtlich geregelten Gastfreundschaft;
noch einen Familiennamen haben kann; die absolute nicht daß sie sie verdammen oder sich ihr widerset
26 27
zen würde — sie kann sie im Gegenteil zu immer menschlich und bisweilen liebevoll erscheint, voraus
—‚
weiteren Fortschritten führen doch sie ist ihr ge gesetzt, daß es Gastfreundschaft mit Liebe zu ver
—
genüber in ebenso seltsamer Weise heterogen, wie binden gilt ein Rätsel, das wir im Moment noch
die Gerechtigkeit dem Recht gegenüber heterogen zurückbehalten): Wie heißt du? Sag mir deinen Na
ist, dem sie dennoch so nahe und mit dem sie in men, wie soll ich dich nennen, ich, der ich dich rufe,
Wahrheit unlöslich verbunden ist. der ich dich bei deinem Namen rufen möchte? Wie
Nun ist aber der Fremde, der xenos, von dem werde ich dich nennen? Ebendiese Frage stellt man,
Sokrates sagt, „daß ihr zumindest seinen Akzent und ganz zärtlich, gelegentlich auch Kindern oder Ge
seine Mundart [sein IdiomJ respektiert und toleriert“, liebten. Oder beginnt die Gastfreundschaft damit,
oder von dem Benveniste sagt, daß er in einen Pakt daß man empfängt, ohne zu fragen, in einer dop
eintritt, dieser Fremde, der in der kosmopolitischen pelten Streichung, der Streichung der Frage und des
Tradition, die in Kant und jenem Text, den wir im Namens. Ist es gerechter und liebevoller, zu fragen
, ihren stärksten Aus
12
mer wieder gelesen haben oder nicht zu fragen? Beim Namen zu rufen oder
druck fand, ein Recht auf Gastfreundschaft besitzt, ohne Namen zu rufen? Einen bereits gegebenen
nun ist dieser Fremde also jemand, den man, um Namen zu geben oder zu erfahren? Gewährt man
ihn zu empfangen, zunächst einmal nach seinem die Gastfreundschaft einem Subjekt? Einem identifEi
Namen fragt; man fordert ihn auf, seine Identität zierbaren Subjekt? Einem anhand seines Namens
anzugeben und zu garantieren, wie bei einem Zeu identifizierbaren Subjekt? Einem Rechtssubjekt?
gen vor Gericht. Er ist jemand, dem man eine Frage Oder wird die Gastfreundschaft dem Anderen <ge
stellt und an den man eine Anfrage richtet, die erste, währt, ihm geschenkt, bevor er sich identifiziert, ja
die minimale Anfrage, die da lautet: „Wie heißt du?“ noch ehe er ein Subjekt, ein Rechtssubjekt und ein
oder mehr noch: „Indem du mir sagst, wie du heißt, bei seinem Familiennamen zu rufendes Subjekt usw.
indem du auf diese Anfrage antwortest, übernimmst ist (als ein solches gesetzt oder vorausgesetzt wird)?
du die Verantwortung für dich, bist du vor dem Die Frage (nach) der Gastfreundschaft ist also
Gesetz und deinen Gastgebern verantwortlich, bist auch die Frage (nach) der Frage; gleichzeitig aber
du ein Rechtssubjekt.“ auch die Frage nach dem Subjekt und dem Namen
—
Das ist nun zumindest in einer ihrer Bedeutun als einer Hypothese der Generation.
gen — die Frage des Fremden als Frage der Frage. Es ist keineswegs zufällig, daß Benveniste bei sei
Besteht die Gastfreundschaft dann, den Ankömm ner Definition des xenos die xenia als Ausgangspunkt
ling zu befragen? Beginnt sie mit der Frage, die an wählte. Er schreibt den xenos in den Rahmen der
den Kommenden gerichtet wird (was als sehr xenia ein, das heißt in den Pakt, den Vertrag oder
29
28
das kollektive Bündnis, die so bezeichnet wurden.
13 im Kriz‘on, die Sie sich selbst genauer ansehe& soll
Im Grunde genommen gibt es keinen xenos, keinen ten, während ich hier nur ihren Ansatzpunkt kurz
Fremden vor oder außerhalb der xenia, dem Pakt vor Augen führen möchte. Sokrates gibt erneut, dies
oder Tausch mit einer Gruppe, genauer gesagt einer thal nach seiner Verurteilung zum Tode, vor, sich
bestimmten Linie bzw einem Geschlecht. Herodot wie ein Fremder zu verhalten, der bereit ist, die Stadt
berichtet, daß Polykrates mit Amasis eine xenia (ei unerlaubt zu verlassen, Athen zu verlassen und da
nen Pakt) abgeschlossen habe und sie einander Ge durch den Gesetzen der Stadt zu trotzen. Diese
schenke übersandten: xenien ynefbekato (das Verb für wenden sich also an ihn, um ihm jene listigen, jene
Pakt: sie haben eine xenia abgeschlossen, wie einen unmöglichen Fragen zu stellen.
Pakt) pemptin &ra kai dekomenos allapar‘ekeinou‘
4
, in- Zu Beginn des betreffenden Abschnitts betreten
dem sie Gaben sandten und empfingen, wechsel die Gesetze, oi Nomoi, die Bühne. Ein Auftritt, der
seitig, der eine vom anderen. Bei einer erneuten von Sokrates in Szene gesetzt wird, vom Sokrates
Lektüre Benvenistes würden wir noch weitere Bei Platons, der auf diese Weise durch das Antlitz der
spiele dieser Art finden. Um dieses Exergon, diese Gesetze, durch die Stimme ihrer Personifikation hin
Lektüren und Bemerkungen im Sinne eines Mottos durch spricht. Personifikation, das bedeutet Antlitz,
(exetgue), abzuschließen, wollen wir uns noch ein Maske, und zuallererst die Stimme, die durch diese
mal einen Sokratischen Gemeinpiatz in Erinnerung Maske hindurch spricht, eine persona, eine Stimme
rufen. Sokrates nimmt auch andernorts diese Posi ohne Blick (gleich anschließend werden wir es mit
tion des Fremden ein, und zwar gerade in einer selt dem Porträt eines Blinden und der Stimme Ödipus‘
samen Frage-Szene, einer Szene, in der das Frage- zu tun haben, des Fremden, der sich, als er auf
Antwort-Verhältnis umgekehrt wird, wenn ich so Antigone gestützt in Kolonos ankommt, an Frem
sagen darf. Weit davon entfernt, selbst Fragen zu de wendet):
stellen oder sich auf das Gesetz oder das Bürger
recht zu berufen, werden an ihn Fragen gerichtet, Sokrate.r Erwäge es denn so. Wenn, indem wir von hier davon
wird er von den Gesetzen zur Rede gestellt. Diese laufen wollten, oder wie man dies sonst nennen soll, die Geset
wenden sich an ihn, um ihm Fragen zu stellen, aller ze kämen und das Gemeinwesen der Stadt und, uns in den Weg
tretend, fragten: Sage mir, Sokrates, was hast du im Sinne zu
dings Scheinfragen, simulierte Fragen, „rhetorische
tun? Ist es nicht so, daß du durch diese Tat, welche du unter
Fragen“. Fangfragen. Er kann nur antworten, was nimmst, uns den Gesetzen und also dem ganzen Staat den Un
die personifizierten Gesetze von ihm als Antwort tergang zu bereiten gedenkst, soviel an dir ist? Oder dünkt es
wollen und erwarten. Es handelt sich um die be dich möglich, daß jener Staat noch bestehe und nicht in gänzliche
rühmte Prosopoöie oder Personifikation der Gesetze Zerrüttung gerate, in welchem die abgetanen Rechtssachen keine
30 31
Kraft haben, sondern von Einzelpersonen können ungültig um eine Analogie herzustellen, gleichzeitig aber auch,
gemacht und umgestoßen werden? Denn noch gar vieles könnte um die beiden zu unterscheiden, wenn nicht einander
einer, und zumal ein Redner, vorbringen zum Besten dieses gegenüberzustellen. Wir treffen Ödipus aber nicht
gefährdeten Gesetzes, welches befiehlt, daß die geschlichteten wie Sokrates im Moment der Abreise an, in dem
Rechtssachen sollen gültig bleiben. Oder sollen wir zu ihnen
Moment, da er sich von der Stadt trennt, da er sie
sagen: die Stadt hat uns ja unrecht getan und die Klage nicht
recht gerichtet? Dies, oder was sollen wir sagen? verläßt oder sie zu verlassen vorgibt, sondern in dem
Krito,r. Dies beim Zeus. Moment, da er Kolonos betritt. Wir werden gewiß
Sokrates- Wie nun, wenn die Gesetze sagten: 0 Sokrates, war nöch ausführlich auf diese Geschichte eingehen;
denn auch das unser Abkommen, oder vielmehr, dich dabei zu doch stets in einem Exergon im Sinne eines Mottos
beruhigen, wie die Stadt die Rechtssachen schlichtet? Wenn wir (exergue), und um die Dinge in die Schwebe zu ver
uns nun über ihre Rede wunderten, würden sie vielleicht sagen:
setzen; hier nun zwei Momente, in denen Ödipus,
Wundere dich nicht, Sokrates, über das Gesagte, sondern ant
worte, da du ja gewohnt bist, in Fragen und Antworten zu reden. der Fremde, der xenos, die Bewohner des Landes als
Denn sprich, welche Beschwerden hast du gegen uns und die Fremde anspricht. Der Fremde spricht zu Fremden,
Stadt, daß du suchst, uns zugrunde zu richten? Sind wir es nicht er bezeichnet sie so. Der erste Moment ist die An
zuerst, die dich zur Welt gebracht haben, und durch welche künft des Ankömmlings Ödipus. Ein Fremder
dein Vater deine Mutter bekommen und dich gezeugt hat? Er schickt sich an, sich an einen Fremden zu wenden.
kläre also, tadelst du etwas an denen unter uns Gesetzen, die
Ohne zu wissen. Ohne Wissen, ohne Wissen um
sich auf die Ehe beziehen, was nicht gut wäre? Nichts tadle ich,
würde ich dann sagen. Aber an den Gesetzen über des Gebote den Ort und den Namen des Orts: ohne zu wissen,
nen Auferziehung und Unterricht, nach denen auch du bist un wo er ist, wohin er geht. Zwischen dem Profanen
terrichtet worden? Ist es etwa nicht gut, was die unter uns, die und dem Heiligen, dem Menschlichen und dem
hierüber gesetzt sind, gebieten, indem sie deinem Vater aufer Göttlichen. Ist das nicht immer die Situation des
legten, dich in den Geistesübungen und Leibeskünsten zu unter absoluten Ankömmlings? Frage/Bitte (demande) des
5
richten?“
Fremden an den Fremden/in der Fremde:
Sokrates erscheint also als ein Fremder am Rande
Ödipsa-. Du Kind des blinden alten Manns, Antigone, / in wel
Athens. Er plant wegzugehen, sobald er verurteilt cher Gegend sinl wir, welcher Männer Stadt? / Wer nimmt am
sein wird, verzichtet aber dann darauf, die Stadt zu heut‘gen Tag den Wandrer Ödipus, / den umgetriebnen, auf
verlassen, als sich die Gesetze an ihn wenden, um mit kärglichem Geschenk? / [...]Doch Kind, wenn einen Rast
ihn zu befragen, um ihm in Wahrheit Scheinfragen platz du erblickst / an ungeweihtem oder gottgeweihtem Ort, /
zu stellen. Mit dieser Figur des Fremden könnten gebiet mir Halt und laß mich ruhn, daß wir erfahrn, / wo wir
denn sind; als Fremde müssen wir / die Bürger fragen und voll
wir die Figur des Ödipus, des Außerhalb-des-
.
ziehn, was wir gehört / [. .] So setz mich hin und schütze mich,
16 (anomon), vergleichen, einmal
Gesetzes-Stehenden den blinden Mann! / [...]
32 33
Antigone Soll ich nun gehen und fragen, wie der Ort hier heißt? der Chor, der Ödipus anspricht. Er wendet sich an
Ödipus Ja, Kind, sofern er überhaupt Bewohner hat. den Fremden, der ein schreckliches Geheimnis mit
Antzgom‘ Er ist bewohnt, doch hinzugehen tut nicht not; / denn
sich trägt. Was er weiß, droht ihn außerhalb des
nah uns beiden seh ich einen Mann. / [...]Er ist schon da,
und was dir angebracht / zu sagen scheint, sprich es nur aus: Gesetzes zu stellen, ja stellt ihn von vornherein au
der Mann ist hier. ßerhalb des Gesetzes: Inzest und Vatermord des
Ödipui Nun, Fremder, da von ihr ich höre, die für mich / und Cdipus, die wohlbekannte Szene, die wir noch ein
für sich selber sieht, daß grade recht du kommst, / als Späher thal unter einem anderen Blickwinkel lesen sollten.
uns zu klaren, was uns dunkel ist —
tes Land“ erreiche, würde ihm „Schutz und gast ohne es zu wissen, das unbewußte Theben, das
freundlicher Aufenthalt“ bei den hochehrwürdigen Unbewußte als Stadt (l‘inconscienz‘-citi), das Unbewuß
Göttinnen gewährt werden. Dieser fremde Gast te im Herzen der Stadt, der polis, das politisch Un
stellt sich als ein Gespenst vor. Er bittet uni Erbar bewußte (das ist der Grund dafür, daß die Anklage
men für „diese arme Spukgestak dessen, den man beschuldigt, ohne zu beschuldigen: wie soll man ei
Ödipus nennt“. Und als ihn der Chor als einen nem Unbewußten oder einer Stadt den Prozeß ma
„Irrgänger“ bezeichnet, der „nicht heimisch“ ist, chen, dort, wo weder das eine noch die andere Ver
fleht Ödipus, ihn, wenn er auch ein Gespenst sei, antwortung für ihre Taten zu übernehmen vermag?).
15
nicht für einen „Gesetzlosen“ (anomon) zu halten. Das Unbewußte Theben(s) hätte sich unverzeihlicher
weise des Inzests, des Vatermords sowie der Gesetz
Der zweite Moment, den wir im Sinne eines Mottos losigkeit des Ödipus schuldig gemacht.
auswählen wollen, wäre der Moment des Chors. Nun Wie das Unverzeihliche verzeihen? Was aber soll
sprechen nicht mehr die Gesetze, wie in dem Fall, man sonst verzeihen?
als diese sich an Sokrates wenden. Es ist vielmehr
34 35
Das Gesetz der Stadt hat ihn, ohne es zu wollen Cbor Was weithin man hört, was nimmer verstummt, / wie wirk
und ohne es zu wissen, zum Verbrechen, zum Inzest lich es war, das möcht ich, o Fremder (xein‘), vernehmen. / [. .
Odipuf. Schlimmstes lud ich auf mich, Fremder, lud es auf mich
und zum Vatermord getrieben: dieses Gesetz wird
wider Willen, / die Götter seien meine Zeugen: / Nichts von
den Gesetzlosen, den außerhalb-des-Gesetzes Ste dem war selber gewählt. / [...] Die Stadt [Theben] selbst, und
henden, hervorgebracht haben. Daran ist im Grunde ohne es zu wissen, band mich / durch eine verbrecherische Ver
genommen nichts erstaunlich. Wir stoßen überall bindung im Netz einer unheilvollen Ehe.
dort, wo es um den Anderen und die Gastfreund Cbor Hast du, wie ich höre, mit dir das übelbeleumdete / Bett
schaft geht, regelmäßig auf diese Vatermordszene, der Mutter gefüllt?
Ödipus: Weh mir! Tod ist‘s, dies zu hören, / o Fremder! Diese
da der Gastgeber (bosz), derjenige, der empfängt,
—
—
zwei, von mir / [. . .1 Kinder, zweifacher Unstern / [...] Ent
ebenfalls den Befehl hat. Jener Reihe gemäß, die uns sprossen gemeinsamer Mutter Schoß.
mittlerweile vertraut ist (bosti-pet-s, polis, potest, ipse, Cbor Nachkommen sind sie dir also, und —
usw.), bleiben die Souveranität der Macht, die potestas Ödipza Ihres Vaters Schwestern auch. / [...]
und der Besitz des Gastgebers die des patefamilias, Chor. Begingst —
Ödipus: Nichts beging ich. / [.. .J Ich empfing von meiner Stadt
des Hausherrn, des „maftre de c6ans“, wie Klossowski
als Geschenk, was niemals ich Leidgeprüfter / für meine Hilfe
ihn nennt.‘
9 Und man übersetzt ein und dasselbe hätte von ihr erhalten sollen.
—
Wort auf zweierlei Weise, einmal als „Fremder“ und Cbor Unseliger, was sagst du? Verübtest du nicht
einmal als „Gastgeber“. Das ist natürlich verständ Ödipus: Was sagst du? Was noch willst du wissen?
lich. Es ruft in Erinnerung und gibt zu verstehen, Chor. Den Mord an deinem Vater? / [...] Du erschlugst.
daß innerhalb der Kultur ein Übergang notwendig Ödipus: Ich erschlug. Doch meine Tat— / [.. .] Findet Entlastung
im Recht. / [..‘] Ich wußte es nicht, als ich tötete, mordete. /
ist zwischen den beiden Bedeutungen des Wortes Unschuldig in den Augen des Gesetzes; ahnungslos bin ich dahin
xenos, dennoch bleibt es streng genommen schwer °
2
gelangt.
zu begründen.
Als Theseus ankommt, hat er Mitleid mit dem Blin
Chor Furchtbar ist‘s, das lange schon schlummernde Leid, o den. Er hat nicht vergessen, daß auch er, wie er sagt,
Fremder, zu wecken: / Trotzdem brenn‘ ich darauf, zu erfah „im Exil, als Fremder heranwuchs“ und „in der
ren —
Ö4,us Was denn? Fremde“ sein Leben riskiert hatte. Dieser Wortwech
Cbor Die elende, heillos ins Licht getretene / Qual, in die du sel verbindet also, wie der folgende Schwur, zwei
verstrickt. Fremde.
Ödipus Nein, bei deiner Gastfreundschaft [in deinem Namen Nach diesem langen Exergon von Lektüren im
als „Gasger“ enjat lege nicht / bloß, was ich schamlos Sinne eines Mottos 21 wollen wir nun noch einmal
erlitt!
von vorne beginnen. Obwohl er mit dem Begriff
36 37
hostis als Gast oder Feind (eine Ambivalenz, über Wie immer waren uns die Lesarten Benvenistes
die wir bereits ausführlich nachgedacht oder die wir ebenso wertvoll wie problematisch erschienen, wir
bereits ausführlich vorausbedacht haben) eng und wollen hier aber nicht mehr darauf zurückkommen.
auch familiär verbunden ist, sind wir bisher noch Heute wollen wir davon ausgehend direkt auf den
nicht auf den seltsamen Begriff des Fremden als Wert des Fremden zu sprechen kommen, diesmal vor
solchen zu sprechen gekommen. dem Hintergrund der „griechischen Welt“ (deren
Was bedeutet „fremd“? Wer ist fremd? Wer ist Einheitlichkeit und Identität wir vorläufig einmal
der Fremde, wer ist die Fremde? Was besagt „in die voraussetzen), wobei wir uns aber bemühen wer
—‚
—
den denn die Sache ist nicht einfach in einem
Fremde gehen“, „aus der Fremde kommen“? Wir
haben bisher nur darauf hingewiesen, daß das Wort vielfachen Kommen und Gehen möglichst häufig
—
‚fremd/Fremder‘ so wir ihm überhaupt eine be hin und her zu schwenken zwischen den Fragen,
stimmte Extension, ein gängiges Verständnis zu die uns am Ende dieses Jahrtausends bedrängen,
schreiben sollen, stncto sensu, wie es meistens üblich und der Tradition, aus der wir die Begriffe, die Lexik
ist, wenn der Kontext nichts Genaueres festlegt (die sowie die grundlegenden und scheinbar natürlichen
gängige Bedeutung ist natürlich fast immer die „eng und unantastbaren Axiome empfangen. Häufig
—‚
ste“) von dem Bereich her zu verstehen ist, der zwingt uns der technisch-politisch-wissenschaftliche
vom ethos oder der Ethik, vom Wohnen oder dem Wandel, diese vorgeblich natürlichen Evidenzen
—
Aufenthalt als ethos, von der Si#licbk.eif‘, der objekti oder unantastbaren Axiome zu dekonstruieren die
ven Moralität umschrieben wird, namentlich in den er in Wahrheit von selbst dekonstruiert. Zum Bei
drei vom Recht und der Rechtsphilosophie Hegels spiel von der erwähnten lateinischen oder griechi
bestimmten Instanzen: der Familie, der bütgerlicben schen Tradition ausgehend.
— —
Gesellschaft und dem Staat (oder Nationalstaat). Wir So haben wir in der letzten Sitzung schon ein
haben diese Grenzen bereits ausführlich herausge mal versucht, das, was im Zusammenhang mit
arbeitet und untersucht und uns auch eine Reihe E-mail und Internet geschieht, in unsere Problematik
—
von Fragen gestellt sowohl auf der Grundlage der der Gastfreundschaft zu übersetzen. Von den unzäh
Interpretationen Benverustes, als auch diese selbst ligen Zeichen des Wandels, die mit der Entwicklung
betreffend, insbesondere zwei lateinische Ableitun von E-mail und Internet einhergehen, das heißt all
gen: der Fremde (boslis), der als Gast oder als Feind dem, wofür diese Namen ein Indiz sind, wollen wir
empfangen wird. Gastfreundschaft (bospitalite‘), zunächst einmal diejenigen herausgreifen, die die
Feindschaft (hostiliti), Gastfeindschaft (bostipitalite). Struktur des sogenannten öffentlichen Raums von
38 39
1
Grund auf verändern. Wir haben gerade von xenos freundschaft nachzudenken, setzt, unter anderem,
und xenia in Griechenland gesprochen (und werden die Möglichkeit einer strikten Festlegung von
es später wieder tun), von Ödipus und Antigone als Schwellen und Grenzen voraus: zwischen dem Fami
xenoi, die sich an xenoi wenden, die sie im Gegenzug lii.ren und dem Nicht-Fami1iren, dem Fremden und
selbst wiederum als xenoi ansprechen. Wie aber hätte dem Nicht-Fremden, dem Bürger und dem Nicht-
zum Beispiel die Semantik eines Sophokles in einem Bürger, zuallererst aber zwischen dem Privaten und
öffentlichen Raum bestehen können, der durch Tele dem Öffentlichen, dem Privatrecht und dem Öffent
fon, Fax, E-mail und Internet, durch all die anderen lichen Recht usw Die Privatpost klassischer Form
prothetischen Dispositive der Television und der * (Briefe, Postkarten usw) soll innerhalb eines Landes
telephonischen Blindheit strukturiert ist? Letztes Mal und zwischen zwei Ländern im Prinzip ohne Kon
haben wir uns gefragt, was heute die Intervention ttolle zirkulieren. Sie darf weder gelesen noch abge
eines Staates (wie kürzlich in Deutschland gesche fangen werden. Dasselbe gilt für das Telefon, das
hen) oder eines Staats-Chors bedeuten kann, der ver Fax, die E-mail und natürlich auch für das Internet.
suchen würde, als „pornographisch“ bezeichnete Zensur- und Abhörmaßnahmen oder das Abfangen
Kommunikationen im Internet zu verbieten oder von Briefen sind im Prinzip entweder Delikte oder
zu zensieren. Nicht Klossowskis Gesetze der Gast stellen Maßnahmen dar, die einzig und allein aus
freundschaft, sondern bestimmte übers Internet ver Staatsräson erlaubt sind, der Räson eines Staates
breitete Texte und Bilder. Die deutsche Regierung gemiiß, der den Auftrag hat, die Integrität des Terri
hat 200 als pornographisch geltende Netzwerke toriums, die Souveränität, Sicherheit und Verteidi
verboten (der Canard encbafn6
24 hat in diesem Zu gung der Nation zu gewährleisten. Was aber ge
sammenhang darauf hingewiesen, daß einige Zenso schieht, wenn ein Staat interveniert, um private
ren, die nach pornographischen Konnotationen des Kommunikationen nicht nur zu überwachen, son
Wortes „Brust“ suchten, den Zugang zu einem Fo dern zu verbieten, unter dem Vorwand, sie seien
rum verboten hatten, in dem an Brustkrebs erkrank pornographisch, was bis auf weiteres weder die öf
te Frauen in aller Unschuld miteinander kommuni fentliche Sicherheit noch die Integrität des Staatsge
zierten). Gestatten Sie mir bitte, im Moment bezüg biets gefährdet hat? Ich nehme einmal, ohne über
lich der Wohlbegründetheit dieser Zensurmaßnah ausreichend Informationen zu verfügen, an, daß das
men und ihrer Prinzipien keine Partei zu ergreifen, Argument, mit dem man diese staatliche Interven
sondern zunächst einmal die Gegebenheiten eines tion zu rechtfertigen versucht, in der Behauptung
Problems zu analysieren. Heutzutage über die Gast- besteht, daß der Raum des Internet eben nicht privat,
40 41
sondern öffentlich sei, daß aber vor allem seine öf durch den Zugang meines Telefonanschlusses kon
fentliche (nationale wie internationale) Zugänglich stituiert (dank dem ich meine Zeit, mein Wort, mei
keit, sowohl hinsichtlich der Nutzung als auch der ne Freundschaft, meine Liebe, meine Hilfe schenken
Ressourcen, die der telephonischen oder telernati kann, wem ich will, dank dem ich also wen auch
schen „Porno“-Netze bei weitem übersteigt. Und immer ich will einladen kann, bei mir, che m oi, einzu
in noch stärkerem Maße übersteigt sie etwa die Le treten, zunachst in mein Ohr, wann immer ich will,
serschaft de Sades oder der Gesetze der Ga4freund- zu jeglicher Tages- und Nachtzeit, ob der andere
schaft und anderer vergleichbarer Werke, die die Zahl nun mein Nachbar vom gleichen Stock, ein Mitbür
ihrer Leser spontan einschränken, indem sie sich ger oder irgendein Freund oder Unbekannter vom
durch die „Kompetenz“, die sie erfordern, gleichsam anderen Ende der Welt ist). Wenn nun aber mein
selbst zensieren. Was jedenfalls auf dem Spiel steht im Prinzip unverletzliches „Zuhause“ auch und im
und gleichzeitig „gestört“ und deformiert wird, ist mer wesentlicher, innerlicher durch meinen Telefon
einmal mehr die Grenzziehung zwischen dem Öf anschluß konstituiert wird, sowie durch meine
fentlichen und dem Nicht-Öffentlichen, zwischen E-mail, mein Fax, meinen Internetzugang, dann wird
dem öffentlichen oder politischen Raum und dem die Intervention des Staates zu einer Verletzung des
individuellen oder familiären Zuhause. Die Grenze Unverletzlichen, gerade dort, wo die unverletzliche
befindet sich in einer juridisch-politischen Turbu Immunität die Bedingung der Gastfreundschaft
lenz, auf dem Wege einer Destrukturierung bleibt.
Restrukturierung, unter Herausforderung des beste Die so beschriebenen Möglichkeiten sind keines
henden Rechts und der etablierten Normen. Doch wegs abstrakter oder unwahrscheinlicher als das
von dem Moment an, da eine öffentliche Autorität, Abhören von Telefonen. Telefone werden nicht nur
ein Staat, diese oder jene Staatsmacht, sich das Recht von der Polizei oder den Sicherheitsorganen des
gibt oder zugebilligt bekommt, Austausche zu kon Staates abgehört Vor einigen Wochen las ich in einer
trollieren, zu überwachen und zu verbieten, die die Zeitung eine Meldung, daß eine bestimmte Art von
Tauschpartner selbst für privat halten, die aber der Geräten in Deutschland auf dem freien Markt käuf
Staat abfangen kann, da diese privaten Austausche lich sei (an die 20 000 davon waren bereits verkauft,
den öffentlichen Raum durchqueren und dort ver als die deutsche Justiz begann, sich beunruhigt zu
fügbar werden, von dem Moment an kommt es zu zeigen). Diese Geräte erlauben es angeblich, sich in
einer Umwälzung sämtlicher Elemente der Gas t einem relativ großen Umkreis (in einem Radius von
freundschaft. Mein Zuhause (cbe-moi) war zwar auch 500 Metern, glaube ich) in jedes Telefongespräch
42 43
nicht nur einzuschalten, sondern es auch aufzu shützen oder es zumindest vorzugeben. (Denken
zeichnen, was privatem Spionieren und der Erpres Sie auch an die Xenotransplantation, von der wir
sung ungeahnte Möglichkeiten eröffnet. All diese letztes Mal sprachen)Ich will bei mir zu Hause Herr
technischen und wissenschaftlichen Möglichkeiten sein Qpse,potis,potens, Hausherr, wir haben das alles
bedrohen die Innerlichkeit des Zuhauses (,‚man schon gesehen), um empfangen zu können, wen ich
fühlt sich nicht mehr wie zu Hause!, on n‘estp/.us che möchte. Ich beginne für einen unerwünschten Frem
soi!“), in Wirklichkeit sogar die Integrität des Selbst den und virtuell für einen Feind zu halten, wer auch
(soi), der Selbstheit (ps6iti). Diese Möglichkeiten immer in mein „Zuhause“ eindringt und in meine
werden als Bedrohungen empfunden, die auf dem Slbstheit, mein Gastfreundschaftsvermögen, mei
dem Eigenen eigenen Territorium sowie auf dem ne Souveränität als Gastgeber eingreift. Dieser An
Recht auf Privateigentum lasten. Sie stehen ganz dere wird zu einem feindlichen Subjekt, dessen
offenkundig am Ursprung all jener Reaktionen und Geisel ich zu werden drohe.
Ressentiments, die auf irgendwelche Säuberungen Ein paradoxes und pervertierendes Gesetz: Es be
aus sind. Überall dort, wo das „Zuhause“ (cbe-sos) ruht auf einer ständigen Komplizenschaft zwischen
verletzt wird, wo jedenfalls eine Verletzung als solche der traditionellen Gastfreundschaft, der Gastfreund
empfunden wird, ist eine privatisierende, familialisti schaft im üblichen Sinne, und der Macht. Diese
—
sche, ja wenn wir den Kreis noch weiter ausdeh Komplizenschaft betrifft auch die Macht in ihrer
—
nen ethnozentnsche und nationalistische, und so Endlichkeit, das heißt die Notwendigkeit für den
mit virtuell fremdenfeindliche Reaktion vorauszu Gastgeber, also den Empfangenden, die Eingelade
sehen: Diese richtet sich aber nicht gegen den Frem nen, seine Besucher oder Gäste, all die, denen er
den als solchen, sondern paradoxerweise gegen die Asyl, Besuchs- oder Gastrecht zu gewähren be
anonyme (der Sprache oder Religion wie auch der schließt, zu wählen, auszuwählen, zu filtern, zu selek
Familie oder Nation fremde) technische Macht, die tieren. Keine Gastfreundschaft im klassischen Sin
mit dem „Zuhause“ die traditionellen Bedingungen ne ohne Souveränität des Selbst über das Bei-sich-
der Gastfreundschaft bedroht. Die Perversion, die Zuhause; da es aber auch keine Gastfreundschaft
Pervertierbarkeit dieser Gesetzmäßigkeit (die auch ohne Endlichkeit gibt, kann die Souveram t nur da
ein Gesetz der Gastfreundschaft ist) besteht darin, durch ausgeübt werden, daß man filtert, wählt, also
daß man virtuell fremdenfeindJjch werden kann, um ausschließt und Gewalt ausübt. Die Ungerechtig
die eigene Gastfreundschaft, das eigene Zuhause, keit, eine bestimmte Ungerechtigkeit, ja ein bestimm
das die eigene Gastfreundschaft ermöglicht, zu ter Eidbruch beginnt augenblicklich, bereits auf der
44 1
45
Schwelle des Rechts auf Gastfreundschaft. Diese Polizei und Politik erbitten ebenfalls den Segen der
Komplizenschaft zwischen der Gewak* der Macht Sicht und des Tages(Lichts). Selbst die sogenannte
oder des Gesetzes auf der einen und der Gast „Geheim“-polizei und „Geheim“-politik, eine be
freundschaft auf der anderen Seite scheint, und zwar stimmte Polizei und eine bestimmte Politik, die sich
in absolut radikaler Weise, auf der Einschreibung meistens, und mit guten Gründen, für die ganze
der Gastfreundschaft in ein Recht zu beruhen, auf Polizei und die ganze Politik halten. Das war schon
jener Einschreibung also, über die wir in den vor immer so, doch heute erweitert sich der Bereich und
hergehenden Sitzungen bereits ausführlich gespro die Macht der als privat bezeichneten Sozialität durch
—
chen haben. Da dieses Recht sei es nun privat oder die beschleunigte Entfaltung bestimmter Techniken
—
faniiliär aber nur über die Vermittlung eines öffent schneller als je zuvor, weit über das Territorium oder
lichen oder staatlichen Rechts ausgeübt oder garan den ver- und durchmeßbaren Raum hinaus, in dem
tiert werden kann, wird die Perversion von innen sie übrigens niemals gehalten werden konnte. Heute
heraus entfesselt. Denn der Staat kann die Privat also, dank Telefon, Fax, E-mail und Internet, ist diese
sphäre, die Domäne des Privaten (denn es handelt private Sozialität bestrebt, ihre Antennen mit Licht
sich sehr wohl uni eine Domäne), nur dadurch garan geschwindigkeit über das nationalstaatliche Territo
tieren oder zu garantieren vorgeben, daß er sie kon rium hinaus auszustrecken. Nun unternimmt der
troffiert und dazu neigt, in sie einzudringen, um sich —
klassische Staat oder die Kooperation klassischer
ihrer zu versichern. Natürlich kann er vorgeben, daß —‚
Staaten der mit einem Schlag viel kleiner und viel
—
er sie durch ebendiese Kontrolle die als negativ schwächer ist als die sowohl sub- als auch supra
und repressiv erscheinen mag—, schützt, daß er eben
staatlichen nicht-staatlichen privaten Mächte, gewal
dadurch Kommunikation ermöglicht, für mehr In
tige Anstrengungen, um wieder einzuholen und zu
formation und Transparenz sorgt. Dieses schmerz
überwachen, in Schranken zu halten und sich anzu
liche Paradox hängt damit zusammen, daß die De
eignen, was sich ihm mit Höchstgeschwindigkeit ent
mokratisierung der Information einerseits und der
zieht. Das geschieht bisweilen in Form einer Umge
polizeiliche Bereich andererseits koextensiv sind: die
staltung des Rechts, neuer Gesetzestexte, aber auch
Kräfte der Polizei und der Politisierung weiten ih
ren Bereich in dem Maße aus, wie demokratische in Form neuer polizeilicher Bestrebungen, die sich
Kommunikation, Durchlässigkeit und Transparenz den neuen Kommunikations- und Informations
Raum greifen und ihre eigene Phänomenalität er mächten, das heißt also auch neuen Räumen der
weitern, das heißt vermehrt zutage treten. Gastfreundschaft, anzupassen versuchen.
46 47
Das Abhören von Telefonen bleibt praktisch un wir ruhig „Pak denn wir sehen uns in diesem
kontrollierbar, es greift mit jedem Tag weiter um Zusammenhang durchaus veranlaßt, die allgemeine
sich, wenngleich es sich dabei, technisch gesprochen, Problematik des Verhältnisses zwischen Parasiten
um eine etwas archaische Angelegenheit handelt. tum und Gastfreundschaft anzusprechen. Wie unter-
Heute überwacht man die E-mail. Kürzlich wurde scheidet man zwischen einem Gast und einem Para
in New York ein deutscher Ingenieur verhaftet, der siten? Im Prinzip gibt es da einen strikten Unter
elektronisches Material schmuggelte. Man konnte schied, doch braucht es dafür ein Recht; man muß
ihn verhaften, weil man seine Faxe und seine elek di Gastfreundschaft, den Empfang, das angebotene
tronische Post abgefangen hatte. Man tat das aus Willkommen einer strikten und linzitierenden Juris
Gründen, die selbstverständlich niemand zu bezwei diktion unterwerfen. Nicht jeder Ankömmling wird
fein wagte, denn es sind die Gründe der Geheim- als Gast empfangen, wenn er zum Beispiel kein
dienste und Drogendezernate zwischen Hong Kong, Recht auf Gastfreundschaft oder Asyl usw. genießt.
Las Vegas und New York. Darüber hinaus scheint Ohne dieses Recht kann er „bei mir“, im „Bei-sich
dieser deutsche Ingenieur ein Spezialist für Über Zuhause“ des Gastgebers, nur als Parasit, als miß
—
wachungsgeräte gewesen zu sein, die unter ande bräuchlicher, illegitimer, heimlicher Gast Eingang
—
rem dazu bestimmt waren, polizeiliche Abhörmaß finden, der damit rechnen muß, vertrieben oder fest
nahmen zu stören. Die Abonnenten des Netzbe genommen zu werden.
treibers CompuServe bekamen über ihre Mailbox Doch die gegenwärtige Technikentwiddung struk
Material angeboten, mit dem man Verbindungen turiert den Raum in der Weise neu, daß gerade das,
abhören, sie „zurückverfolgen“ (trackinj, Gesprä was einen kontrollierten und genau umschriebenen
che auffangen sowie Telefonnummern identifizie Raum des Eigentums konstituiert, diesen für Ein
ren könne. Ein anderes dieser Spielzeuge erlaubt es, d.ringlinge öffnet. Auch das ist nichts völlig Neues:
Mobiltelefone
26 durch Duplizierung ihrer Eigen Um den Raum eines bewohnbaren Hauses und ei
schaften zu klonen. Man fängt dank eines Scanners nes Zuhauses zu schaffen, braucht es auch eine
(es handelt sich um genau jenes Gerät, das wie —
Öffnung, eine Tür und Fenster, muß man dem
—
vorhin erwähnt in Deutschland verkauft wurde) Fremden einen Durchgang anbieten. Es gibt kein
die Nummer des Mobiltelefons und seine Serien Haus oder Innen ohne Tür oder Fenster. Die Mona
nummer ab, und gibt sich für einen anderen aus, de des „Bei-sich“ (cbe-soz) muß gastfreundlich sein,
während der Abonnent die Rechnungen erhält und um pse, um selbst bei sich zu sein (soi-mbne che soi),
die Spur des Parasiten unauffindbar bleibt. Sagen ein Bei-sich-Zuhause, das in der Beziehung des
48 49
Selbst zu sich selbst bewohnbar ist. Was aber schon Privatdetektivs, dem er die Sache anvertraut hatte,
immer auf diese Weise strukturiert war, vervielfacht Bowitz getroffen, die Geräte gesehen und anschlie
—
heute in absolut unerhörtem Maße und absolut ßend die Drogenpolizei und die amerikanischen
unerhörter Weise — sowohl das Zuhause, als auch Geheimdienste alarmiert hatte. Der New Yorker
die Zugänglichkeit dieses Zuhauses. Daher die tief- Richter zog Gesetzestexte heran, die telefonische
gehende Homogenität zwischen den Dispositiven Abhörmaßnahmen zum Abfangen von E-mail-Bot
des privaten, heimlichen, nicht-staatlichen Netzes schaften erlaubten. Nun haben sich also die Verant
und denen des polizeilichen Netzes staatlicher Über wortlichen bei CompuServe, diesem Netzbetreiber,
wachung. Die ihnen gemeinsame Technologie ver der selbst nicht unredlich war, in den Dienst der
bietet jede Undurchlässigkeit zwischen beiden Räu Polizei gestellt. Der Pressesprecher von Compu
men und Sturkturtypen. Serve erklärt: „Das ist das erste Mal, daß wir mit
Betrachten wir noch einmal ein amerikanisches einer derartigen Situation konfrontiert waren. Da
Beispiel Es gibt heute ein liftI#nephone, das auf einem es sich um Straftaten handelte und da legale Doku
einzigen Telefon 99 verschiedene Kombinationen mente vorlagen, war es normal, daß wir unsere Dien
zweier Nummern speichert. Es ist auf dem Markt ste angeboten haben.“ Dieselbe Person sagte eben
— —
(für 1900 Dollar), wird allerdings illegal von der falls: „Pseudonyme und Nummern können Anony
Gesellschaft des bereits erwähnten deutschen Inge mität wahren, doch im Notfall ist es uns immer mög
nieurs namens Bowitz vertrieben und von Drogen lich, die Koordinaten des Abonnenten aufzufinden,
händlern, Kidnappern usw. verwendet. Nun hat sich der ein Delikt begangen hat wir haben immer die
einmal ein Bundespolizist ins Netz eingeschmuggelt Nummer seiner Kreditkarte und seine Adresse.“ Die
und ist „mit offenen Armen“ empfangen worden, Kreditkarte und die Codenummer, das ist heute also
indem er sich als Heroindealer ausgab. Der deutsche der letzte Identitätsnachweis (carte d‘ideniite) und eine
Ingenieur hatte ihm sogar angeboten, das mit seinem der großen Ressourcen der Polizei. Der Fall ähnelt,
Heroin verdiente Geld in Hong Kong zu waschen. mutatis mutandis, ein wenig dem eines Briefträgers
Der Lenker dieser High tech-Maschinerie wurde oder Postangestellten, der bereit wäre, eine Sendung,
Opfer seiner maiIings zur Bestätigung der Käufe, die die ihm verdächtig erscheint oder die als verdächtig
in den elektronischen Briefkästen von beinahe jeder hingestellt wird, zu öffnen oder der Polizei zu über
mann landeten, so zum Beispiel in dem eines Ange geben; oder, um näher bei der Gastfreundschaft zu
stellten von AT&T, der selbst Abonnent bei Compu bleiben, der (übrigens klassischen und geläufigen)
Serve war, und der nach diversen Manövern eines Situation eines Hotelbesitzers, der mit der Polizei
50 51
—
zusammenarbeitet. (Die bloß analogen, und nur Was dieses Paradox und diese Aporie eines Rechts
—
untereinander analogen Probleme im Falle eines auf und einer Ethik der Gastfreundschaft betrifft,
Beichtvaters oder eines Psychoanalytikers wollen wir die sich apriori beschränkt und widerspricht, so
hier beiseite lassen). Das kann in Hotels passieren, wollen wir uns noch einmal einen anderen kleinen,
aber auch in Nachtasylen oder Krankenhäusern. doch großen Text Kants in Erinnerung rufen, nicht
Diese völlige Porosität, diese uneingeschränkte Zu den über das Recht auf „allgemeine Hospitalität“,
, sondern
27
mit dem wir das Seminar eröffnet hatten
gänglichkeit jener technischen Einrichtungen, die
dazu bestimmt sind, das Geheimnis zu wahren, den über ein „vermeintes Recht aus Menschenliebe
28
zu lügen“, den wir unlängst ebenfalls analysierten.
Heimlichkeit zu chiffrieren, zu gewährleisten usw,
diese Porosität ist Gesetz, das Gesetz der Gesetze: Der Imperativ der Wahrhaftigkeit wäre demnach
Je mehr man codiert, je mehr man chiffriert, desto absolut unbedingt. Man müsse stets die Wahrheit
mehr operative Wiederholbarkeit erzeugt man, die sagen, welche Folgen das auch immer haben mag.
das zu schützende Geheimnis zugänglich macht. Ich Denn wenn man, und sei es aus den besten Grün
kann einen Brief nur dadurch verbergen, indem ich den der Welt, irgendein Recht auf Lüge zugestehen
mich von ihm trenne, indem ich ihn also weggebe, würde, so würde man das soziale Band selbst, die
dem Anderen aussetze, ihn archiviere, zu einem universelle Möglichkeit eines Sozialvertrags oder
Dokument mache, das von nun an innerhalb des einer Sozialität ganz allgemein, gefährden. Man
Raums, in dem es hinterlegt wurde, zugänglich ist. konnte zeigen, daß diese Unbedingtheit noch vor
Das ist die paradoxe Folge dessen, was wir hier jeder normativen Vorschrift, von der sie abhängen
als Pervertierbarkeit, als die stets mögliche und in würde (was sie natürlich auch tut), von einer einfa
Wahrheit unvermeidliche, schicksalhafte Perversion chen, sehr einfachen Sprach-Ana/yse abgeleitet ist,
der staatlichen Gewalt oder des Rechts bezeichnen: einer theoretischen, konstatierenden und deskripti
nämlich die Grenze zu verwischen zwischen dem ven Untersuchung der Anrede des Anderen, ihrer
Privaten und dem Öffentlichen, dem Geheimen und Normativität oder ihrer wesentlichen Performativi
tät. Da jede Äußerung ein Performativ enthält, das
dem Phänomenalen, dem Zuhause (das Gastfreund
schaft ermöglicht) und der Verletzung oder der Un verspricht, sich an den Anderen als solchen zu wen
möglichkeit des Zuhauses. Diese Maschinerie ver den (,‚ich spreche zu dir, mit dir, und ich verspreche
bietet Gastfreundschaft, das Recht auf Gastfreund dir die Wahrheit“), da jeder Sprechakt die Wahrheit
schaft, die sie doch ermöglichen sollte (immer noch verspricht (selbst dann und vor allem dann, wenn
gemäß jenem Widerspruch oder jener Aporie, die ich lüge), kann ich zwar immer lügen, gewiß (und
wir seit Beginn dieses Seminars formalisieren). wer könnte schwören oder beweisen, daß Kant selbst
52 53
1
nie gelogen hat?), doch wird dies schlicht und ein rung nach Wahrheit, Geständnis oder öffentlicher
fach bedeuten, daß ich nun nicht mit dem Anderen Transparenz zu widerstehen. Nun bildet aber eben-
spreche, Punktum. Damit erkenne ich weder das diese Forderung nicht nur die Essenz des Rechts
Wesen der Sprache (parole) als gegebenes Wort (parole und der Polizei, sondern des Staates selbst. Mit an
donnte) noch die Notwendigkeit an, ein soziales Band deren Worten: Indem er jedes Recht zu lügen und—
zu knüpfen. Was aber macht nun Kant dieser Logik sei es aus Menschenliebe —‚ also jedes Recht, etwas
folgend dort, wo sie unanfechtbar zu sein scheint (un zu verbergen und für sich zu behalten, bereits an
anfechtbar im Sinne eines Zeugnisses, selbst wenn seiner Wurzel zurückweist, entzieht Kant jedem im
sie logisch widerlegt werden könnte, selbst wenn sie Gewissen, im innersten Bei-sich-Zuhause (cbe- so:),
den gesunden Menschenverstand schockiert, wie es
t im reinen Selbst (so:) angesiedelten und der öffent
bei Benjamin Constant
29 der Fall war; er fragte, ob 1 lichen, politischen oder staatlichen Phänomenologie
man einen Freund, den man gerade beherbergt, sei entzogenen Recht die Legitimation, oder erkhirt es
nen ihn verfolgenden Mördern ausliefern müsse, zumindest für zweitrangig und untergeordnet. Im
eine Frage, auf die Kant ohne Zögern erwidert: Namen der reinen Moral, sobald sie zum Recht wird,
„Man darf niemals lügen, selbst gegenüber Mör führt er die Polizei überall ein, und zwar so sehr
dern nicht“)? Zwei Operationen in einer, daher die und so gut, daß die vollkommen internalisierte Poli
Zweideutigkeit. Einerseits begründet Kant mit ein und zei ihre Augen und Ohren überall hat, daß sie ihre
derselben Geste die rein subjektive Moralität, die apriorischen Detektoren sogar in unsere inneren Te
Pflicht, dem Anderen die Wahrheit zu sagen, als eine 1 lefone, in die geheimsten Maus und Faxe unseres
absolute Pflicht der Achtung vor dem Anderen und Privatlebens, ja sogar unseres rein intimen Selbst-
des Respekts vor dem sozialen Band; er gründet Verhältnisses steckt. Diese Figur des Staates oder
diesen Imperativ auf die Freiheit und die reine Inten 1 der Polizei braucht nicht einmal mehr besonders aus
tionalität des Subjekts; er ruft uns seine Grundlage gefeike Techniken, um intime, strafbare oder porno
durch eine unerbittliche Analyse der Struktur des graphische Gespräche zu überraschen und abzu
Sprechakts in Erinnerung: er garantiert auch das so hören. Der Denker des Wekbürgerrechts auf „allge
ziale Recht als öffentliches Recht. Andererseits schafft meine Hospitalität“ und Autor des Dritten Definitiv-
er, indem er dieses Recht begründet, es in Erinne 1 artikels um ewigen Frieden ist, ohne daß hier irgend
rung ruft und seine Grundlage analysiert, mit dem ein Zufall im Spiel wäre, gleichzeitig derjenige, der
Recht zu lügen gleichzeitig auch jegliches Recht ab, die Möglichkeit dessen, was er auf diese Weise postu
etwas für sich zu behalten, zu verbergen, der Forde lirt und bestimmt, an ihrer Wurzel beseitigt. Dies
54 55
hängt mit der Jundizitat dieses Diskurses zusam Haus weilt, auf das Recht, wie auch jene Beziehung,
men, mit der Einschreibung des Prinzips der Gast die ihn mit den Mördern, der Polizei oder den Rich
freundschaft in ein Recht, während doch die unend tern verbindet. Vom Standpunkt des Rechts aus
liche Idee der Gastfreundschaft dem Recht selbst betrachtet ist der Gast, selbst wenn man ihn gut
—
widerstehen müßte oder jedenfalls da, wo sie dieses aufnimmt, zuallererst ein Fremder, muß er ein Frem
Recht bestimmt, über es hinausgehen müßte. Es ist, 1 dr bleiben. Dem Fremden wird Gastfreundschaft
wie mir scheint, übrigens keineswegs Zufall, wenn geschuldet, gewiß, doch bleibt sie, wie das Recht,
sich in Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe u an Bedingungen geknüpft, und damit eine in ihrer
lugen (1797) das bevorzugte Beispiel (das Benjamin 1
Abhängigkeit von der Unbedingtheit, die das Recht
Constant in der großen Tradition biblischer Erzäh begründet, bedingte Gastfreundschaft.
lungen, die wir letztens rekonstruiert hatten, insbe
sondere der Geschichte von Lot, zunächst selbst Die Frage kehrt also zurück. Was ist ein Fremder?
1 Wer wäre eine Fremde?
vorgeschlagen hat) auf eine Situation der Gasffreund
schaft bezieht: Darf ich Mörder, die mich fragen, ob Nicht nur der oder die, der/die sich in der Fremde
der, den sie töten wollen, sich in meinem Haus be aufhiilt, außerhalb der Gesellschaft, Familie oder Stadt
—
findet, belügen? Die Antwort Kasus und seine Nicht der Andere, der ganz Andere, den man einem
Argumentation ist mühsam, doch bestimmt (wir absoluten und wilden, barbarischen, präkulturellen
können in der Diskussion darauf zurückkommen, und präjuridischen Außen zuordnet, außerhalb und
—
wenn Sie wünschen) lautet „nein“, man muß die jenseits der Familie, der Gemeinschaft, der Stadt, der
1
Wahrheit sagen, selbst in diesem Fall, und somit eher Nation oder des Staates. Die Beziehung zum Frem
riskieren, seinen Gast dem Tod auszuliefern, als zu den ist durch das Recht, durch das Recht-Werden
lügen. Es ist besser, mit der Pflicht zur Gastfreund der Gerechtigkeit geregelt. Dieser Schritt würde uns
schaft zu brechen, als mit der absoluten Pflicht zur nach Griechenland, in die Nähe von Sokrates und
Wahrhaftigkeit, der Grundlage der Menschlichkeit Ödipus, zurückbringen, wenn es nicht schon zu spät
und der menschlichen Sozialität ganz allgemein. wäre.
57
56
Schritt der Gastfreundschaft
Fünfte Sitzung (am 17. Januar 1996)
59
Pflichten, die sich sowohl Gastgebern und Gastge griechisch-lateinische, ja jüdisch-christliche Traditi
berinnen als auch Gästen
3
, denen, die Aufnahme on, wie alles Recht und alle Rechtsphilosophie bis
gewähren wie denen, die Aufnahme fmden, aufer Kant und insbesondere Hegel sie über die Familie,
legen. Es ist, als würden die Gesetze der Gastfreund die bürgerliche Gesellschaft und den Staat definie
schaft, indem sie Grenzen, Befugnisse, Rechte und ren.
Pflichten markieren, darin bestehen, das Gesetz der Bei dieser Aporie haben wir es in der Tat mit einer
Gastfreundschaft herauszufordern und zu übertre Antinomie zu tun. Es geht nämlich um das Gesetz
ten, jenes Gesetz, das fordert, dem Ankömm/ing be (nomos). In diesem Konflikt steht nicht etwa ein
dingungslos Aufnahme zu gewähren. Gesetz einer Natur oder einer empirischen Tatsache
Sagen wir ruhig dem Ankömmiin& vor jeder Bestim gegenüber. Er zeigt vielmehr die Koffision zweier
mung, vor jeder Antizipation, vor jeder Identifiierung; Gesetze an, an der Grenze zwischen zwei gleicher
ob es sich nun um einen Fremden, einen Einwan maßen nicht-empirischen Gesetzesordnungen. Die
derer, einen eingeladenen Gast, einen unerwarteten Antinomie der Gastfreundschaft bringt einen unver
Besucher handelt oder nicht, ob der Ankömmling söhnlichen Gegensatz zum Ausdruck zwischen dem
nun Bürger eines anderen Landes ist oder nicht, ob Gesetz in seiner universellen Singularität und einer
er nun ein menschliches, animalisches oder göttliches Pluralität, die nicht nur Zerstreuung ist (die Gesetze),
Wesen, lebendig oder tot, männlich oder weiblich sondern auch eine strukturierte Vielfalt, die durch
ist. einen Teilungs- und Differenzierungsprozeß deter
Mit anderen Worten: Es gäbe da eine Antinomie, miniert wird: durch Gesetze, die ihre Geschichte und
eine unauflösbare, nicht dialektisierbare Antinomie ihre anthropologische Geographie unterschiedlich
zwischen dem Gesetz der Gastfreundschaft, dem un verteilen.
bedingten Gesetz der uneingeschränkten Gast Die Tragödie — denn es handelt sich sehr wohl
freundschaft (dem Ankömmling sein ganzes Zuhau um eine schicksalhafte —
Tragödie besteht darin, daß
se und sein Selbst zugeben, ihm sein Eigenes, unser die beiden antagonistischen Terme dieser Antinomie
Eigenes zu geben, ohne ihn nach seinem Namen zu nicht symmetrisch sind. Es gibt da eine seltsame
fragen, ohne eine Gegenleistung oder die Erfüllung Hierarchie. Das Gesetz steht über den Gesetzen. Es
auch nur der geringsten Bedingung zu verlangen) ist also illegal, transgredient, gesetzlos, als ein anomi
auf der einen und den Gesetzen der Gastfreund sches Gesetz, nomos a-nomos, ein Gesetz über den
schaft auf der anderen Seite, jenen stets bedingten Gesetzen und außerhalb des Gesetzes (als anomos
und konditionalen Rechten und Pflichten, wie die wird, wie wir uns erinnern, zum Beispiel Ödipus
60 61
bezeichnet, der Vater-Sohn, der Sohn als Vater, Vater ohne Simultanität, Augenblick unmöglicher Syn
und Bruder seiner Töchter). Doch obgleich es über chronie, Moment ohne Moment), da sie sich einan
den Gesetzen der Gastfreundschaft steht, braucht der aussetzen die eine der anderen, die eine den
das unbedingte Gesetz der Gastfreundschaft die —
anderen, die anderen der anderen und sich somit
Gesetze, es erfordert sie. Diese Forderung ist konstitu zugleich als gastfreundlicher und weniger gast
tiv. Das Gesetz wäre nicht wirklich unbedingt, wenn freundlich, als gastlich und ungastlich, gastlich als
es nicht wirklich, konkret, bestimmt werden m4ie, ungastlich erweisen.
wenn darin nicht sein Sein als ein Sein-müssen be Da Ausschließung und Einschließung in ein und
stünde. Es würde Gefahr laufen, abstrakt, utopisch, demselben Moment untrennbar miteinander ver
fflusorisch zu sein und sich somit in sein Gegenteil bunden sind, gibt es jedesmal, wenn man „in eben
zu verkehren. Um zu sein, was es ist, braucht das diesem Moment selbst“ sagen möchte
4
, eine Antino
Gesetz die Gesetze, die es dennoch negieren, die es mie. Das Gesetz im absoluten Singular widerspricht
jedenfalls bedrohen, bisweilen korrumpieren oder den Gesetzen im Plural, doch es ist jedesmal das
pervertieren. Und die dazu immer in der Lage sein Gesetz im Gesetz und im Gesetz jedesmal auj?erhalb
müssen. des Gesetzes. Ebendies ist die so einzigartige Sache,
Denn diese Pervertierbarkeit ist essentiell, irreduzi die man als die Gesetze der Gastfreundschaft
bel, auch notwendig. Sie ist der Preis für die Perfek bezeichnet. Seltsam-befremdlicher Plural, plurale
tibilität der Gesetze. Für ihre Historizität also. Umge Grammatik zjveier J1gkicb unterschiedlicher Plurale. Der
kehrt würden die bedingten Gesetze aufhören, Ge eine der beiden Plurale bringt die Gesetze der Gast
setze der Gastfreundschaft zu sein, wenn sie nicht freundschaft zum Ausdruck, die bedingten usw
vom Gesetz der unbedingten Gastfreundschaft ge Gesetze. Der andere die antinomische Addition, die
leitet, inspiriert, verlangt, ja eingefordert würden. dem einen, einzigartigen und absolut einzigen
Diese beiden Gesetzesordnungen, die Ordnung des Großen Gesetz der Gastfreundschaft, dem Gesetz
Gesetzes und die Ordnung der Gesetze, sind also• der Gastfreundschaft, dem kategorischen Imperativ
zugleich widersprüchlich, antinomisch und untrenn der Gastfreundschaft die bedingten Gesetze hinzu
bar verbunden. Sie implizieren einander und schlie fügt. In diesem zweiten Falle besteht der Plural aus
ßen sich gleichzeitig gegenseitig aus. Sie schließen Einem (oder Einer) + einer Vielzahl, während es
einander in dem Moment ein, da sie einander aus im ersten Falle nur um Vielzahl, Verteilung, Differen
schließen, sie trennen sich in dem Moment, da sie zierung ging. Im einen Fall hat man Eins + n; im
einander umschließen, in dem Moment (Simultanität anderen n ± n ± n usw. (Ein kleiner Einschub: Halten
62 63
wir fest, daß der Kantische Ausdruck „kategorischer der Gas/reundscbafi betitelt ist, diese „handgeschrie
—
benen Seiten“, die der Onkel des Erzählers dessen,
Imperativ“ nicht ganz problemlos als Quasi-Synonym
—
der „mein Onkel Octave“ sagt unter Glas hatte
für „unbedingt“ fungieren kann; wir werden ihn mit
einer gewissen Zurückhaltung beibehalten, in durch- fassen lassen, um sie im Gästezimmer über dem Bett
gestrichener Form, wenn Sie so wollen, oder in einer aufzuhängen, „an der Wand des Besuchern vorbe
Epocb6 Denn um zu sein, was sie sein „soll“, darf 7
. Die unvermeidliche, doch ver
haltenen Zimmers“
die Gastfreundschaft weder eine Schuld begleichen meidbare Charta, denn da, wo sie sich befand (über
noch von einer Pflicht geleitet sein: als freundlich, dem Bett und an etwas gesonderter Stelle zu Beginn
5 „soll“ sie sich nicht dem
freiwillig und unentgeltlich des Buchs), sollte es unmöglich sein, sie nicht zur
Gast [dem Eingeladenen oder Besucher] öffnen, Kenntnis zu nehmen, und dennoch kann man es
auch nicht „pflichtgemäß“ oder, um die Kantische stets unterlassen, sie zu lesen.
Unterscheidung aufzugreifen, „aus Pflicht“. Dieses Er hatte diese „handgeschriebenen Seiten“ also
unbedingte Gesetz der Gastfreundschaft wäre also, „unter Glas in einen Rahmen fassen lassen, um sie
ander Wand des Besuchern vorbehaltenen Zimmers
so man dies denken kann, ein Gesetz ohne Imperativ,
aufzuhängen.“ Da hängen sie nun, in einer bestimm
ohne Befehl und ohne Pflicht. Kurzum: ein Gesetz
ten Höhe: das ist der Platz der Gesetze, diese Verti
ohne Gesetz. Ein Appell, der herbeiruft (mande),
kalität des Allerhöchsten, doch auch der Ort dessen,
ohne zu befehlen (comMtander). Denn wenn ich Gast
was überraschend, unvermeidlicherweise geschieht,
freundschaft aus Pflicht übe [und nicht nur der Pflicht
wobei es sich über jeden Erwartungshorizont und
gemäj], ist diese Gastfreundschaft-aus-Pflichterfüllung
jede mögliche Antizipation hinwegsetzt. Unvermeid
keine absolute Gastfreundschaft mehr, wird sie nicht
lich und unzugänglich, unantastbar, so sind diese
mehr jenseits von Pflicht und Ökonomie freund
„handgeschriebenen Seiten“ über dem Bett ange
lich, freiwillig und unentgeltlich gewährt, wird sie
bracht, als das Gesetz, gewiß, doch genauso bedroh
nicht mehr dem Anderen geschenkt, ist sie keine
lich wie ein über dem Haupt schwebendes Schwert,
Gastfreundschaft mehr, die für die Singularität des
an diesem Ort, an dem der Gast ausruht, der aber
Ankömmlings, des unerwarteten Besuchers erfun
auch jener Ort ist, an dem er nicht umhin kommen
.)
6
den wurde wird, an dem er nicht umhin hätte kommen können,
an dem er nicht umhin wird kommen dürfen, die
Um uns diesen Antinomien anzunähern, hatten wir Texte eines Gesetzes zu lesen, von dem man an
Heute abend; Roberle aufgeschlagen und die unvermeid nimmt, daß jedermann es kennt, und dessen Un
liche Charta zu lesen begonnen, die mit Die Gesetze 8
kenntnis nicht vor Strafe schützt.
64 65
Ob die Gäste schlafen, träumen oder sich lieben: det, um sie um Gastfreundschaft zu bitten, Antigone,
über ihren Häuptern wachen die Gesetze. Sie wa deren blinder Vater am Ende von Ödpus auf Kolonos
chen über sie, sie überwachen sie von einem uner noch diese seltsam-befremdliche Erfahrung der
9
schütterlichen Platz, ihrem gliisernen/eisigen Platz übertretenen Gastfreundschaft illustriert, aufgrund
aus, vom Grabmahl dieser Glasscheibe aus, unter deren man in der Fremde stirbt, und nicht immer
die eine frühere Generation (hier die eines Onkels) so, wie man es sich gewünscht hätte.
sie gelegt (posi), unter der sie sie ausgelegt, auferlegt Wir erinnern uns, von Abschweifung zu Ab
hat. Ein Gesetz wird immer gegen irgendeine Natur chweifung. Ganz zu Beginn des Seminars mußten
gesetzt (pos6), ihr entgegengesetzt, es ist eine einge wir die Frage nach dem Fremden verschieben. Von
setzte These (nomos, thesis). „Unter Glas“, so sind der Geburt zum Tod. Für gewöhnlich definiert man
die Gesetze der Gastfreundschaft keiner Verände den Fremden, den fremden/ausländischen Bürger,
rung zugänglich, unantastbar, gewiß, doch sichtbar den, der der Familie oder der Nation fremd ist, aus
und mehr als sichtbar, lesbar, wie geschriebene Ge gehend von seiner Geburt: Ob man ihm die Staats
setze es sein müssen. Das sind nicht mehr jene Ge bürgerschaft nun gemäß dem Recht des Bodens oder
—
setze, die sich in der berühmten Prosopopöie, die dem des Blutes verleiht oder verweigert, der Fremde
— mit der ihnen unterstellten
10
wir letztes Mal hörten ist fremd durch seine Geburt, er ist gebürtiger Frem
Stimme an Sokrates wenden, sondern geschriebene der. Hier hingegen handelt es sich um die Erfahrung
Gesetze. Sie sind, alles in allem, nur da, um zu befeh des Todes und der Trauer, hier wird, sagen wir es
—
len und um ihre eigene Pervertierung vorzuschrei ruhig, zunachst der Ort der Bestattung bestimmend.
ben. Sie sind da, unter Glas, um über die Gäste und Die Frage des Fremden betrifft das, was beim Tod
über ihre eigene Pervertierung zu wachen. Sie wer geschieht, dann, wenn der Umherwandernde in
den auf uns warten, während wir uns inzwischen fremder Erde ruht.
auf einen langen Umweg begeben. Allen „diiplacedpersons ‘ Exilierten, Deportierten,
Denn diese geschriebenen Gesetze erinnern uns Vertriebenen, Entwurzelten, Nomaden sind zwei
sogleich an jene, die Antigone wird übertreten müs Seufzer, zwei wehmütige Erinnerungen gemeinsam:
sen, um ihren Brüdern die Gastfreundschaft der Er ihre Toten und ihre Sprache. Einerseits möchten sie,
de und der Bestattung gewähren zu können: Antigo zumindest als Pilger, gerne an die Orte zurückkeh
ne, die Fremde, die ihren außerhalb des Gesetzes ren, wo ihre begrabenen Toten ihre letzte Ruhestät
stehenden Vater in dem Moment begleitet, da er te gefunden haben (die letzte Ruhestätte der Seinen
eine Grenze überschreitet und sich an Fremde wen- situiert hier das ethos, die Wohnstatt, auf die man
66 67
sich bezieht, um das Bei-sich-Zuhause zu definieren, schweifung(dzgression). Was nennt nämlich die Spra
die Stadt oder das Land, wo die Eltern, der Vater, che, die sogenannte Muttersprache, die, die man mit
die Mutter, die Großeltern eine Ruhe fanden, die sich trägt, die, die uns ihrerseits von der Geburt zum
der reglose Ort ist, von dem aus alle Reisen und alle Tod trägt? Stellt sie nicht das Bei-sich-Zuhause dar,
Entfernungen ermessen werden).Andererseits betrach das uns niemals verläßt? Das Eigene oder Eigentum,
ten die Exilierten, Deportierten, Vertriebenen, Ent oder zumindest das Phantasma eines Eigentums, das
wurzelten, Heimatlosen, anomischen Nomaden, — und wir kommen immer wieder darauf zurück —
absolut Fremden die Sprache, die sogenannte Mut 1 der unveräußerlichsten Stätte, einer Art mobilen
tersprache, häufig weiterhin als ihte letzte Heimat, Wohnstatt, einem Kleidungsstück oder Zelt, unmit
. So lautete zumindest eines
11
ja ihre letzte Bleibe telbar an unserem Körper (eine) Statt gäbe. Wäre
Tages die Antwort Hannah Axendts: Sie fühlte sich 1 die besagte Muttersprache nicht eine Art zweiter
nicht mehr als Deutsche, außer im Hinblick auf die Haut, die man an sich trägt, ein mobiles Bei-sich
, als wäre die Sprache ein Rest an Zugehö
12
Sprache 4 Zuhause,
Zuhause? Aber auch ein unverrückbares‘
rigkeit, wobei die Dinge —wir werdet fziirück da es mit uns wandert?
—
kommen verwickelter sind. Wenn die Sprache auch Letztes Mal haben wir von den neuen Teletechno
-
68 69
Mund und ein Ohr, die es gestatten, sich im Sprechen schriebenen und ungeschriebenen Gesetze erduldet
zu vernehmen 16 (s‘entendre-parlel)
. und benennt Antigone, noch bevor sie die Erfahrung
—
Wir beschreiben hier was keineswegs darauf jener letzten Pflicht macht, die sie einem ihrer toten
—
hinausläuft, es zu beglaubigen das unermüdlichste Bi:-üder zu erweisen hat, folgende schreckliche Sache:
aller Phantasmen. Denn was mich auf diese Weise des Grabes ihres Vaters beraubt zu sein, vor allem
— —
aber wie ihre Schwester Ismene des Wissens um
nicht verliißt, die Sprache, ist in Wirklichkeit, notwendi
Lerweise, jenseits des Phantasmas, auch das, was nicht die letzte Ruhestätte des Vaters beraubt zu sein. Und
aufhört, von mir abzulassen (se dipartir de mol). Die schlimmer noch, dieses Wissens durch den Vater, auf
Sprache funktioniert nur von mir ausgehend (dpartir eigenen Wunsch des Vaters, beraubt zu sein. Einem
de mol). Sie ist auch das, wovon ich ausgehe (pars), Eid gemäß. Ödipus hatte nämlich, als er starb, The
womit ich mich schmücke (pate) und wovon ich mich seus angewiesen, niemandem je den Ort seines Gra
trenne (separe). Was sich von mir trennt, indem es bes zu enthüllen, insbesondere seinen Töchtern
von mir ausgeht. Das Sich-im-Sprechen-vernehmen, nicht. Als hätte er gehen wollen, ohne eine Adresse
die sogenannte „Seibst-Affektion“ des Sich-selbst für die Trauer derer zu hinterlassen, die ihn lieben.
im—Sprechen-vernehmens, das gegenseitige Sich-im- Er handelt so, als wollte er ihre Trauer unendlich
Sprechen-vernehmen, das Sich-im-Sprechen-ver t vertiefen, ja sie noch zusätzlich mit jener Trauer be
nehmen in der Sprache oder von Mund zu Ohr, ist laden, die sie nicht mehr vollziehen können. Er wird
das mobilste, weil immobilste, ist der Nullpunkt aller sie ihrer Trauer berauben und sie so verpflichten,
Mobiltelefone, der absolute Boden aller Ortsver . Kennt jemand eine groß
17
um die Trauer zu trauern
änderungen; und deshalb denkt man, daß man ihn zügigere und vergiftetere Form der Gabe? Ödipus
bei jedem Schritt an seinen Schuhsohlen mitnimmt, gibt seinen Töchtern nicht einmal die Zeit zu trauern,
wie man so sagt. Doch immer so, daß man sich auf er verweigert sie ihnen; doch eben dadurch gewährt
diese Weise von sich selbst trennt, daß man niemals er ihnen gleichzeitig einen unbegrenzten Aufschub,
mit dem quitt ist, was, von sich ausgehend, nicht schenkt er ihnen eine Art unendlicher Zeit.
aufhört, mit eben diesem Schritt seinen Ursprungs-
ort zu verlassen (quittei). [Kontrapunkt: ein sekundäres, relativ unabhängiges
Was geschieht am Ende von Ödpus auf Kolonos? und in einer Polyphonie überlagertes Motiv. Was von
Ödipus, so sagten wir, illustriert also diese seltsam- nun an über den Tod und die Bestattung des Ödipus
— transgredienter Vater-Sohn, Vater-Sohn, außerhalb
befremdliche Erfahrung der Gastfreundschaft: man
stirbt in der Fremde und nicht immer so, wie man des Gesetzes stehender (anomos) Vater-J3ruder- seiner-
—
Töchter gesagt wird, werden Sie im Kontrapunkt
es sich gewünscht hätte. In dieser Tragödie der ge
70 71
einer beinahe stillen, eher reservierten Meditation der Ort, der Zwischenraum, die Stelle, der Aufenthaltsort, die
Gegend, das Land] führ ich selber gleich dich hin, / berührt
vernehmen können, reserviert in dem Sinne, in dem
von keinem Führer, wo ich sterben soll.
°
2
die Reserviertheit, wie Sie wissen, die Figur eines
Schweigens in der Absicht ist, mehr vernehmen zu
Ödipus beabsichtigt hier, seine Bleibe, seine letzte
lassen als die Beredtheit. Es würde darum gehen,
Bleibe oder Ruhestätte zu wählen. Er möchte es al
darüber nachzudenken, auch zu analysieren, was
leine tun, er allein entscheidet darüber, er ist selbst
soeben zwischen Notre-Dame in Paris und Jarnac
dazu allein, allein als derjenige, der signiert, allein,
geschehen ist: Zugleich das Gegenteil wie dassel
18
weil er eine solche Wahl bestimmt und darauf Wert
be der Bestattung des Ödipus, aber auch ein einma
legt, sich aus eigener Kraft an den Ort seines Todes
9 in der Geschichte der Menschheit, jeden
liger FaW
und seiner Bestattung zu begeben. Er vollzieht seine
falls in der Geschichte des Staates als solchem, in
eigene Beisetzung im Geheimen. Fast im Geheimen,
seiner statutarischen Gestalt. Zwischen zwei Begräb
so müssen wir präzisieren, denn wenn er ein solches
nissen, eine und zwei Familien, von einem Begräb
Geheimnis verlangt, muß er es auch anvertrauen. Er
nis zum anderen: ein einziger patefimilias, ein einzi
ger Hausherr (maftre de cians) und Staatschef, Pri läßt Theseus Geheimhaltung schwören.
vatmann und Monarch, zwei Söhne und eine einzi In Wahrheit enthüllt er dieses Geheimnis nicht
einmal dem Theseus im voraus. Er kündigt es an, er
ge Tochter, Antigone ohne Ismene, eine einzige
Tochter, die zum ungeschriebenen Gesetz eine ein läßt wissen, daß es ein gewahrtes Geheimnis, ein zu
zigartige Beziehung aufrechterhalten soll. Wir wer wahrendes Geheimnis gibt, doch er wird es erst
den hier nichts dazu sagen, Sie werden vielleicht bei enthüllen, wenn er am Rande des Grabes, am Ort
jedem Schritt selbst daran denken, und wir werden der letzten Ruhestätte angekommen ist.
in einer Diskussion in aller Freiheit darauf zurück
Von dieser Stätte aber sprich zu keinem Menschen je, / nicht,
kommen, wenn Sie wollen. Es gäbe zuviel dazu zu 1 wo versteckt sie ist, von ihrem Umland nicht, / daß stärker sie
sagen, als daß ich das für ein Seminar kurz notieren al viele Schilde, als zu Hilf‘ / gerufne Speermacht eurer Nach
könnte.] barn stets dich schützt. / Das heilige Geheimnis, jedem Wort
entrückt [wörtlich: die unreinste, verfluchteste Sache, die man
An der Schwelle des Todes verkündet also Ödipus nicht aussprechen darf, das Geheimnis, das man durch Sprechen
dem Theseus: nicht brechen darf, die verfluchte Sache, die durch den Iogos, die
Rede, weder berührt noch in Bewegung gesetzt werden darf, A
Ich lehr dich, Aigeus-Kind [es handelt sich also um eine Lehre, d‘exa,gista mede k.ineitai logdJ, / erfährst du selbst, begibst du dich
—
dorthin allein. / Denn ich darf es niemand anvertraun [er ist
didaxe], was dir und deiner Stadt, / von Akers Kummer frei,
erhalten bleiben wird. / Zu jener Stätte [Cbo,s‘n, das ist, wie chdra, also ein verfluchtes Geheimnis, dieser Ort, an dem er gestorben
72 73
und begraben sein wird, und er vertraut dieses Geheimnis jeman— uon wird um diesen Preis gesichert werden: von der
dem, dem Theseus, an, indem er ihm gleichzeitig sagt, daß nicht guten Tradition, jener, die die Stadt retten wird, die
einmal er selbst es ihm anvertrauen kann. Ein wenig so, als das politische Wohl der Stadt sichern wird, heißt es,
würde er es selbst nicht kennen, dieses Geheimnis, von dem er
— —
daß sie als die Tradition selbst von der Weitergabe
zu Theseus gesagt hat, daß er es selbst entdecken und von da
an verborgen halten werde, indem er ihn zu seiner letzen Bleibe! eines Geheimnisses getragen sein wird. Nicht irgend
Ruhestätte, seinem letzten Aufenthaltsort, seiner letzten eines lebendigen Geheimnisses, sondern eines Ge
Wohnstatt begleitet], / Denn weder einem dieser Bürger darf heimnisses in bezug auf den geheimen Ort eines
ich‘s anvertraun / noch meinen Kindern, obwohl ich sie doch Todes, des Todes des Ödipus. Geheimwissen, ein
liebe [,‚obwohl ich sie doch liebe“: als wäre Lieben letzten Endes
Geheimnis in bezug auf das Wissen, ein Geheimnis
genau das, was in diesem letzten Liebesbeweis zum Ausdruck
kommen soll, der darin besteht, seine Lieben wissen zu lassen, in bezug darauf, zu wissen, wo der große Übertreter,
wo man stirbt, wo rnan,ge.rtorben ist, wo man tot üt, wo man einmal der außerhalb des Gesetzes stehende, der blinde
gestorben ist, und als ob Ödipus nicht das Recht gehabt hätte, anomos, letztendlich stirbt, der nicht einmal selbst
jenen, denen er seine Liebe erweist und die er liebt, seinen Töch das Geheimnis anvertrauen kann, das zu wahren er
tern und seinen Söhnen, hier seinen Töchtern Antigone und die anderen auffordert, das Geheimnis hinsichtlich
Ismene, diesen letzten Liebesbeweis zu erbringen; und nun,
dessen beraubt, denen, die er liebt, den Ort seines Todes zu
des Ortes, an dem er, der Fremde, einmal wissen
enthüllen, ih,r4 wo er,gestorben iii, wo er ist, tot, einmal gestorben, wird, tot—zu-sein:
wo er, einmal gestorben, tot ist, wo er, einmal gestorben, ein
einziges Mal, ein für alle Mal tot ist, als wäre er der Töchter, die Tu dann dem Allerbesten nur / es kund, und der hinfort enthüll‘s
er hat, beraubt, als hätte er keine Töchter, als hätte er keine dem Folgenden. / So wirst du unbedroht von den Kindern der
mehr oder als hätte er nie welche gehabt], / Du selbst bewahr Erde [die Kinder der Erde, das ist das Geschlecht von Theben,
es immer [du rette-es immer, aJl‘autos aiei s$,-e, und das Immer, das aus den von Kadmos ausgesäten Drachenzähnen hervorge
alei, das „Allezeit“ ist die Zeit dieser Rettung, des geretteten gangen ist. Theben ist die Tochter der Erde] / bewohnen diese
Geheimnisses in bezug auf den Ort, an dem man tot-ist], und Stadt, doch viele Städte [Staaten] lassen sich, / so wohiregiert
wenn du ans Ziel / des Lebens kommst [Idos Ion Zen], tu dann sie sind, zur Maßlosigkeit (bjbris, k.atbybrüan) verleiten! / Der
dem Allerbesten nur / es kund, und der hinfort enthüll‘s dem Götter Auge sieht genau [das Auge der Götter wacht, wie die
‘
2
Folgenden. —
Gesetze, über unseren Häuptern oder dem Bett oder dem
Tod] und selbst lange danach, / wenn einer den Himmel miß
Wenn wir, im Schritt dessen, was wir bereits hörten achtet und sich zum Wahnsinn (mainestbai) kehrt. / Sei fest
und was noch folgen wird, der Logik dieser Rede eitsch1ossen, Aigeus-Kind, daß dieses dir nicht widerfährt
[Furcht vor dem kommenden Krieg zwischen Athen und
folgen, dann können wir dieses Kalkül ermessen.
Theben]?
Vor allem die aufgestellten Bedingungen. Die Tracli
74 75
nen Augen unsichtbar (0 phc5s apbe,ggds), vordem warst du einst
Ödipus eilt also schnellen Schrittes an den Ort, den
mein, / nun aber spürt mein Leib zum letzten Mal deine Berüh
er geheimhält. Er möchte zu dieser Art Rendez-vous 24
rung.
mit den Göttern nicht verspätet erscheinen. Man
müßte das Motiv der Veripätung und der Hast, die Wir hören ihm zu, dem Blinden, dem Fremden ohne
Zeit/den Takt und den Rhythmus dieses Wettlaufs, Blick (regard), dem außerhalb des Gesetzes stehenden
das Haltmachen und die Hast, die den Schritt dieser Fremden, der noch ein Recht auf Einsicht, ein Kon
Tragödie markieren, weiter verfolgen. Als Ödipus trolirecht (dreit de rgard) über den verbotenen Ort
sich an seine Töchter wendet, bittet er sie, ihm zu seiner letzten Ruhestätte behalten möchte. Wir hö
folgen. Bis hierher haben sie ihn geführt, ihn, den ren ihn, diesen Fremden, wie er sich auf seltsam-
Blinden. Von nun an wird er sie führen. Trotz seiner befremdliche Weise beklagt.
Blindheit ist er es, der geht und den Weg zeigt, wird Was ist seine Klage, sein „Klagen“ (grievance) ? Was
er nun den Weg weisen. Er bittet sie sogar, ihn nicht ist mit seiner Trauer? Warum diese letzte Trauer?
zu berühren. Nicht das Gesetz soll hier unangetastet Einem Sterbenden gleich, der dem Licht des Tages
bleiben, sondern der anomor und der Welt rituell Adieu sagt (denn wenn man
geboren wird, indem man das Licht der Welt er
Geht nur, jedoch berührt mich nicht, nein, laßt mich selbst /
die heil‘ge Starte meines Grabes finden (Ion bieron (ymbon), wo /
, dann stirbt man, indem man aufhört, das
25
blickt
mein Los es ist, daß diese Erde hier mich birgt [krjpbtenai cbIoni Licht der Welt zu erblicken), beklagt, bedauert auch
daß ich vergraben, verborgen, verschwunden sei, daß ich in mei er, der Blinde, das Licht der Welt bald entbehren zu
ner Krypta verschwände]? müssen. Indem er aber hier darüber klagt, das Licht
eines Tages verlieren zu müssen, das niemals das
Fremd in einem fremden Land, begibt sich Ödipus seine war, trauert der Blinde um ein beruhrbares Licht,
also an einen Ort der Heimlichkeit. Eine Art heim ein sanft gestreicheltes Licht, ein Sonnenlicht, das
licher Einwanderer, wird er dort im Tod verborgen
sein: begraben, beerdigt, im Geheimen in die Nacht
1 einen wohlig wärmt und streichek. Das Licht berühr
te ihn, er berührte es, dieses zugleich berührbare
einer Krypta fortgetragen. Er vertauscht die Rollen, und (be)rührende Licht. Wärme umfing ihn unsicht
indem er, der Blinde, seine Töchter und Theseus
1 bar. Was er in seiner Verborgenheit, im Moment
führt. Doch er selbst wird ebenfalls geführt, von dieser Krypta, dieser Krypta der Krypta, in dem Mo
Hermes und der Göttin der Unterwelt: ment, da er insgeheim (en cacbette) in einem Versteck
[ (une caehe#e) begraben wird, was er da entbehren wird,
Hier diesen Weg kommt, diesen hier, denn diesen führt / Geld ist ebendiese unerhörte Berührung eines Lichts.
ter Hermes und der Unterwelt Göttin mich. / 0 Licht, das mei
76
t 77
Diese letzte Adresse wird von einer Lexik dominiert, ein Licht verlor, das er bereits verloren hatte, indem
die die semantische Familie der Krypta, des Ver er eines Lichts beraubt wurde, dessen er bereits be
stecks, des Geheimnisses zum Ausdruck bringt. Die raübt war, ein weiteres Mal, um in fremder Erde
‚
Adresse ist verschlüsselt (trj/tie) könnte man sagen, beerdigt zu werden, und zwar nicht nur in der Ferne,
und wenn Ödipus sie seinen Töchtern und Theseus sondern an einem unzugänglichen Ort. Ödipus er
—
gibt dem Theseus, den er seinen lieben, den „lieb— sucht also darum, ihn nicht zu vergessen. Er bittet:
sten Fremden“ oder „liebsten Gast“ nennt dann —‚ daß man ihn als Toten behalte. Er ersucht, er bittet
adressiert er nur eine abstrakte Botschaft an sie: ohne darum, doch diese Bitte ist ein Befehl, sie läßt eine
mehr zu wissen, als daß sie zumindest wissen, daß Drohung durchblicken, sie bereitet eine Erpressung
er sich an einen geheimen Ort begibt. Er lenkt seine vor oder kündigt sie an. Sie ist ihr jedenfalls zum
Schritte zu einer letzten Bleibe, um dort zu verschei Verwechseln ähnlich. Ödipus fordert, ihn nicht zu
den/verschwinden (d4-parai‘ire), um dort in die Kryp vergessen. Denn Vorsicht! Falls man ihn vergißt,
ta gelegt (enqt) zu werden, Krypta in der Krypta: würde sich alles zum Schlechten wenden! Nun rich
tet er diese drohende Bitte und diesen kalkulierten
Denn nun schreit‘ ich dahin, den letzten Lebenstag / zu berg Befehl aber an den xenos, den liebsten Fremden oder
en (krjpsön) in des Hades Reich. 0 liebster Gast [sagt die fran Gast, an den Gast als Freund, an einen befreundeten
zösische Übersetzung für den liebsten Fremden, phütals .‚&ndn, und verbündeten Gast, der jedoch von nun an zu
und die Fremden sind Gastgeber, Ödipus wendet sich in dem
einer Art Geisel wird, zur Geisel eines Toten, zum
Moment, da er in der Fremde, doch an geheimem Ort sterben
wird, an seinen Gastgeber als an einen Fremden], / du selbst (potentiellen) Gefangenen in der Gewalt eines po
und dieses Land und dein Gefolge auch: / Habt einen guten tentiell Verstorbenen/Verschwundenen.
Daimon und im Wohlergehen / vergeßt mich Toten nicht, auf Der Gast wird so zu einer festgehaltenen Geisel,
daß ihr glücklich bleibt! zu einem Empfänger, der Gefangener, Verantwort
licher und Opfer jener Gabe ist, zu der Ödipus —
78 79
doppeldeutige Mahnung und Festlegung seiner Blei Das Ende des Ödipus. Wir vernehmen dort das Ge
be (mise en demeure de soi), die vertrauliche Mitteilung bet/die Bitte (püre) eines Chors: Der Fremde (xenos),
—‚ Ödipus, möge zur allesverbergenden Flur der Toten,
vom Geheimnis seiner Krypta anvertraut der so
erwählte Gast also ist eine Geisel, die durch einen zum stygischen Haus hinabsteigen.
32 Wir vernehmen
Eid gebunden ist. Aber nicht etwa durch einen Eid, zwei Töchter, die sich, nachdem Theseus unter Eid
den er spontan geleistet hätte, sondern durch einen verpflichtet wurde, das Geheimnis zu wahren, von
Eid (orkos), in dem er sich asjymmetriscb gebunden ihrem sterbenden Vater trennen müssen, von einem
fand, jafand. Dem Gott verpflichtet, durch das ein Vater, der nun ziemlich unverzüglich stirbt. Das
fache Wort des Ödipus festgelegt. Denn der Gott —
Thema des Verzugs oder der Verspätung ich habe
überwacht, er wachte über die Bestattung dieses au vorhin schon einmal darauf hingewiesen taucht —
ßerhalb des Gesetzes Stehenden. Und wenn Ödipus‘ indieser Szene immer wieder auf. Vielleicht birgt es
Töchter Theseus bitten werden, die „heil‘ge Stätte sogar das Thema eines organisierenden Konratem
des Grabs“ (bieron ymbon) sehen zu können, wenn pos, den wahren Herrn der Örtlichkeiten in dieser
sie ihn anflehen werden, ihnen zum geheimen Ort ganzen Schlußszene der Gastfreundschaft/in dieser
des Geheimmsses Zugang zu verschaffen, wird The Szene finaler Gastfreundschaft. Man darf sich nicht
seus es ihnen unter Berufung auf den Eid (orkos), verspäten, man muß die Verspätung reduzieren, man
der ihn an den Gott bindet, verweigern. Alle sind muß sich immer etwas mehr beeilen. Man kommt
eine Geisel des Toten, angefangen beim liebsten in gewisser Weise immer zu spat, das Bewußtsein
Gast, der durch das Geheimnis gebunden ist, das antizipiert immer nur einen Aufschub zuviel. Die
ihm gegeben, anvertraut wurde, das zu wahren ihm beiden Töchter wehklagen, doch sie beklagen nicht
gegeben wurde, das er wahren soll, von nun an durch nur, ihren Vater nicht mehr sehen zu können (,‚Uns
das Gesetz verpflichtet, das über ihn hereinbricht, ist tödliche Nacht auf die Augen gesunken“, sagt
noch bevor er die Wahl gehabt hätte, ihm zu gehor Antigone, V. 1683 f.). Sie beklagen sich selbst, vor
chen. allem aber klagen sie, diese Klägerinnen, über zwei
(Das bringt uns wieder auf den Weg des unsicht Dinge, sie plädieren in zwei Sachen und klagen zwei
baren Theaters der Gastfreundschaft zurück, das mal an: Einerseits, daß ihr Vater in der Fremde gestor
Gesetz-ohne-Gesetz der Feindschaft, ja den Geisel ben sei, daß er in der Ferne sterben wollte, andererseits
krieg. Erinnern wir uns an die Formeln von Lvinas, aber auch, daß sein Leichnam, ihr Vater-Leichnam,
auf die wir in einem anderen Register zurückkom m Geheimnis einer fremden Erde verborgen, ohne
, und
30
men werden: „Das Subjekt ist ein Gastgeber“ Grabmal begraben sei. Vielleicht nicht ganz ohne
.)
31
dann, Jahre später: „Das Subjekt ist Geisel“
80 81
Bestattung, doch ohne Grabmal, ohne bestimmba Wie kann man eine Trauer beweinen? Wie kann
ren Ort, ohne Monument, ohne lokalisierbaren und man darum weinen, seine Trauer nicht vollziehen
genau umschriebenen Ort der Trauer, ohne Halt zu können? Wie kann man um die Trauer trauern?
33
(sansarri). Ohne festgehaltenen Ort, ohne bestimm Was kann man aber sonst tun, wenn die Trauer ein
baren topos wird eine Trauer verweigert. Oder, was Ende haben soll? Und wenn die Trauer um die Trau
auf dasselbe herauskommt, sie ist versprochen, ohne er es sich schuldig ist, unendlich zu sein, unmöglich
stattzuhaben/eine Statt zu haben (sims avoir heu), in ihrer Möglichkeit selbst?
ohne einen bestimmbaren Ort (heu), von nun an als Das ist die Frage, die sich durch die Tränen Antigo
unendliche Trauer versprochen, eine endlose Trauer nes hindurchweint. Das ist mehr als eine Frage, denn
als Herausforderung an jegliche Arbeit, jenseits aller eine Frage weint nicht, doch es ist vielleicht der
möglichen Trauerarbeit. Die einzig mögliche Trauer Ursprung jeglicher Frage. Und es ist die Frage des
Fremden — der Fremden. Wer hat sie je gesehen,
ist die unmögliche Trauer.
Klagen (plaintes): Da sie erkennt, daß der solcherart diese Tränen?
verborgene Kärper ihres Vaters sich vor Schändung Wir werden es hören. Die Tränen, die Antigone
und Wiederaneignung schützt, beklagt sich Antigone weint, weint sie, da sie den Tod ihres Vaters in der
auf diese Weise. Sie selbst klagt und sie klagt über Fremde beweint, auf fremder Erde, in der er zu allem
den Anderen, sie klagt gegen den Anderen (Khgen/ Überfluß noch in seinem Tod verborgen bleiben
Anklagen*). Sie klagt darüber, daß ihr Vater in der muß, wodurch er zu einem noch fremderen Fremden
Fremde gestorben und noch dazu an einem Ort ver wird. Dieser Tod ist das Fremd-werden des Frem
graben sei, dem jegliche Lokalisierung fremd ist. Sie den, das Absolute seines Frernd-werdens. Denn im
klagt über die verweigerte Trauer, jedenfalls über Tod hätte die Sichtbarkeit des Grabmals den Frem
eine tränenlose Trauer, eine der Tränen beraubte den wiederaneignen können, sie hätte für ihn eine
Trauer. Sie weint darum, nicht zu weinen, sie weint Art Repatriierung bedeuten können. Nein, hier bleibt
um eine Trauer, die dazu verdammt ist, mit Tränen der Tote umso mehr Fremder in der Fremde, als er
sparsam zu sein. Denn sie weint in der Tat, doch hier kein manftstes Grab (sipulture), kein sichtbares
was sie beweint, ist vielleicht weniger ihr Vater als und phänomenales Grabmal hat, sondern nur eine
ihre Trauer, die Trauer, deren sie beraubt ist, wenn geheime Bestattung, eine unsichtbare Grablegung/
man so sagen kann. Sie weint darum, einer normalen ein Nicht-Grab (ins6pulture)
34
, das selbst für die Sei
Trauer beraubt zu sein. Sie beweint und betrauert nen, selbst für seine Tochter unsichtbar ist. Diese
ihre Trauer, wenn das möglich ist. weint gewiß, wie wir soeben hörten, um eine un
82 83
mögliche Trauer. Doch sie wagt es, sich dabei an gehrt, aber immer noch begehrt
35
, diesen in den Tod
den Toten selbst zu wenden. Denn sie flihrt ihn an, fortgetragenen Körper, diesen Ödipus, der vom
fordert ihn zurück, fordert ihn heraus. Sie wendet Grund des Begebrens dieses absolut geheimen (arcbi
sich noch jenseits des Todes an ihren Vater, an das seat), im Übermaß verschlüsseken/in der Krypta
Gespenst Qpectre) ihres Vaters, des Fremden, der ihr verborgenen (surcrjptee) und trauerlosen Todes aus
fremd wird, da sie nicht einmal um ihn trauern kann weiterhin begehrt, diesen außerhalb des Gesetzes
(es handelt sich also um die Frage des Fremden, in Stehenden, der noch über seinen Leichnam hinaus
all ihren Bedeutungen, und um die Frage der Frem das Gesetz vorgibt, diesen außerhalb des Gesetzes
den an den Fremden). Sie richtet an ihren fremden, Stehenden, der im fremden Staat, der ihn heimlich
außerhalb des Gesetzes stehenden, blinden und to verbirgt, immer noch das Gesetz vorgeben will, die
ten Vater ein Ersuchen, eine Frage und eine Bitte, sen verstorbenen blinden Vater, diesen verschiede
— —‚
sie bittet ihn vor allem, schlicht und einfach sie nen, abgeschiedenen Vater, der von ihr abgelas sen
zu sehen. Besser gesagt, sie bittet ihn, sie weinen zu hat und dessen Figur dieses Gesetz des Gesetzes
sehen, ihre Tränen zu sehen. Die Tränen sagen, daß außerhalb des Gesetzes repräsentiert, diesen ihren
die Augen nicht primär zum Sehen gemacht sind, einzigen Vater bittet Antigone um etwas ganz Klares:
sondern zum Weinen. Hören wir sie an, diese Anti daß er sie endlich sehe, in eben diesem Moment
gone, das fremde Klageweib, das sich an das Ge selbst, und daß er sie weinen sehe. Genauer gesagt:
spenst eines Vaters wendet, der mehr als einmal au Sie fordert ihn auf, ihre Tränen zu sehen. Die Unsicht
ßerhalb des Gesetzes steht, der in mehr als einem barkeit, die Ortlosigkeit, die Illokalität von einem,
Sinne fremd ist, fremd deshalb, weil er gekommen der „ohne festen Wohnsitz“ für den Tod ist, all das,
ist, um in der Fremde zu sterben, fremd auch, weil was den Körper ihres Vaters der phänomenalen
er an einem geheimen Ort begraben ist, fremd, weil Äußerlichkeit entzieht, wird in ihren Augen beweint
er ohne sichtbares Grab begraben ist, fremd, weil ohne gesehen zu werden. Ebendiese Innerlichkeit
er von den von Trauer erfüllten Seinen nicht beweint des Herzens, dieses unsichtbare Sprechen findet in
werden kann, wie es sich, normalerweise, gehört. die Tränen Eingang, steigt als Tränen in die Augen,
Während sie wehklagt und das Los ihres Vaters ein innerliches und zugleich unendliches Leid, das
beklagt, sagt Antigone etwas Erschreckendes. Sie nächtliche Geheimnis, das zu sehen Antigone ihren
wagt zu erklären, daß ihr Vater dieses schreckliche Vater bittet. Sie bittet ihn, zu sehen, das Unsichtbare
Los, dieses Schicksal gewollt habe. Es war Ödipus‘ zu sehen, das heißt das Unmögliche, zweimal das
Wunsch, das Gesetz des Begehrens des Ödipus. Unmögliche zu tun:
Diesen begehrenden Körper, der widerwillig be
84 85
Antgane So gibt es ein Sehnen denn auch nach Schlimmem? / dem für die Seinen unauffindbar, ihrer Trauer entzo
Denn auch das mitnichten Liebreiche war lieb, / solang‘ ich ihn gen sein wollte, wobei er diese und sich selbst in
in meinen Armen noch hielt. / 0 Vater, o du, den ich liebe, / den Abgrund einer Trauer fortreißt, die um ihre
vom ewigen unterirdischen Dunkel nun umfangen, / dir wird Trauer selbst trauert:
es auch dort, ich bürge dir dafür, nicht mangeln / an meiner
Liebe und an ihrer.
Antzgone: Eilen wir, Liebe, zurück!
Cbor Er hatte das Los...
Ismene: Daß wir was tun?
An4gone Das Los, das er wünschte.
Aiiiqgorn-. Ein Verlangen beherrscht mich —
Angesichts dieser doppelten Unmöglichkeit, einem Genau im Moment dieses Wunsches ruft Theseus,
blinden und toten Vater zu sehen zu geben, ihm der zurückgekehrt ist, ihnen den Eid in Erinnerung.
ihre Tra.nen zu sehen zu geben, bleibt Antigone ein Er erinnert sie an jenen Sohn des Zeus, der den
einziger Ausweg: der Selbstmord. Doch sie will an (Namen) Eid trägt (Orkos). Um einem geleisteten
dem Ort Selbstmord begeben, wo ihr Vater begraben Eid treu zu bleiben, um vor einem Eidbruch zu be
ist, einem unauffindbaren Ort, unauffindbar eben wahren, dürfen sie die heilige letzte Ruhestätte des
des Eides wegen, den Theseus ihr in Erinnerung Vaters nicht mit eigenen Augen sehen:
ruft. Denn diese Illokalität beruht nicht auf irgend
Tbeseus Was wünscht ihr, Kinder, daß ich euch gewähr‘?
einer topologischen Operation, sie wird von einem
An4gone: Wir wollen das Grab / des Vaters beschaun mit eige
Schwur dekretiert, von jenem Eid (Orkos), den Ödi nem Blicic
pus selbst gefordert, in Wahrheit auferlegt, festgelegt Tbe.rezr Doch es ist nicht erlaubt, zu gehen dorthin.
hat. Heteronomie, Wunsch und Gesetz des Anderen, Anta?gone Was willst du sagen, Herr, König Athens?
dort, wo letzterer, der Andere, ja der Letzte, Ödipus Tbeseu.s Ihr Kinder, er selber, er hat mir‘s versagt / Kein Sterb
licher darf sich niihern dem Ort, / und keines Stimme erklinge
der erste Mensch (Hegel), wie auch Ödipus der letzte
je hin / zur heiligen Gruft, wo er nun ruht. / Und befolge ich
Mensch (Nietzsche), nicht nur sterben wollte, son
86 87
1
dies, sagte er, genau, / werd leidlos ich stets regieren das Land. / „Tritt rasch ein“, rasch, das heißt unverzüglich und
Unsere Verpflichtung hörten der Gott / und der alles vernimmt, ohne zu warten. Das Begehren ist die Erwartung
Eid (Orkos), der Sohn des Zeus. dessen, was nicht wartet. Der Gast muß sich beeilen.
Antzgorn- Wenn dies sein Wunsch ist, so sei es uns recht. / Nach
Das Begehren mißt die Zeit ausgehend von seiner
Theben jedoch, dem ehrwürdig-alten, send uns zurück, / damit
wir vielleicht verhindern den Mord, / der drohend naht unsern Annullierung in der Bewegung des eintretenden
31
Brüdern. Fremden: Der Fremde, hier der erwartete Gast, ist
nicht nur jemand, zu dem man sagt „komm“, son
Diese lange Abschweifung über Ödipus auf Kolo dern auch „tritt ein“, tritt ein ohne zu warten, ma
nos, zwischen Paris und Jarnac, wurde uns in gewis che Bak bei uns ohne zu warten, beeile dich einzu
ser Weise und in einer ersten Annäherung von einer treten, „komm herein“, „komm in mich“, nicht nur
Charta mit dem Titel „Die Gesetze der Gastfreund zu mir, sondern in mich: besetze mich, nimm Platz
schaft“ diktiert, einer handgeschriebenen und unter in mir, was gleichzeitig auch bedeutet, nimm meinen
t
Glas gefaßten, das heißt 38unantastbaren und lesba Platz ein, begnüge dich nicht damit, mir entgegen
ren Verfassung, die über einem Bett aufgehängt ist. oder „zu mir“ zu kommen. Die Schwelle zu über
Einem Bett des Schlafs und der Liebe, des Traums schreiten, bedeutet einzutreten und nicht nur sich
oder des Phantasmas, des Lebens und des Todes: zu nähern oder zu kommen.
„gerade über dem Bett“. Die Charta wurde vom Seltsam-befremdliche, für uns aber so erhellende
Herrn über diese Örtlichkeiten an diesem Ort ange Logik eines ungeduldigen Herrn, der seinen Gast
bracht, von einem „Hausherrn“ (maftre de cians) der, ‚ als einen Befreier, als seinen Emanzipator erwartet.
wenn wir dem Erzähler Glauben schenken wollen, Es ist, al.r ob der Fremde die Schlüssel in Händen
„keine dringendere Sorge hat, als jeden, der des hielte. Das ist stets die Situation des Fremden, auch
Abends kommt, um sich an seinen Tisch zu setzen in der Politik, nämlich wie ein Gesetzgeber zu kom
und sich unter seinem Dach von den Mühen der men, um das Gesetz vorzugeben und das Volk oder
Reise auszuruhen, seiner Freuden teilhaftig werden die Nation zu befreien, indem er von außen kommt,
zu lassen. .
indem er in die Nation oder das Haus, das Zuhause
Der Hausherr „erwartet auf der Schwelle seines eintritt, die ihn eintreten lassen, nachdem sie ihn
Hauses ängstlich den Fremden, den er am Horizont gerufen haben. Es ist, als ob (und hier gibt stets ein
als Befreier auftauchen sieht. Und wenn er ihn nur als ob das Gesetz vor) der Fremde, so wie Ödipus
von weitem erblickt, wird er ihm eiligst zurufen: ‚Tritt im Grunde genommen, also derjenige, der, falls sein
rasch ein, denn ich fürchte mich vor meinem Sterbeort geheimgehaken wird, die Stadt retten oder
.
39
Glück“ ihr durch den Vertrag, den wir gelesen haben, Wohl-
88 89
ergehen versprechen würde, alf ob also der Fremde Gleichzeitig ereignet sich aber die Unmöglichkeit
den Herrn retten und die Macht seines Gastgebers dieses „Zugleich“. Einmal und jedesmal. Es ist das,
befreien könnte; es ist, als ob der Herr als Herr der was geschehen wird, das, was immer geschieht. Man
Gefangene seines Ortes und seiner Macht, seiner nimmt, ohne zu nehmen. Der Gastgeber nimmt und
Selbstheit Qps6ite‘), seiner Subjektivität wäre (seine — —
empfangt doch ohne sie zu nehmen sowohl „sei
Subjektivität ist eine Geisel). Der Herr, der Einla ten“ Gast als auch „seine“ Frau, die Tante des Er
dende, der einladende Gastgeber wird also zur Gei zählers. So tritt man von drinnen ein: Der Hausherr
—
sei er wird in Wahrheit schon immer eine Geisei ist bei sich zu Hause, doch tritt er nichtsdestoweniger
— —
gewesen sein. Und der Gast, die eingeladene Geisel, dank des Gastes der von draußen kommt bei
wird zum Einladenden des Einladenden, zum Herrn sich ein. Der Herr tritt also von drinnen ein, als ob
des Gastgebers. Der Gast wird zum Gastgeber des von draußen käme. Er tritt dank des (grdce au)
Gastgebers. Besuchers bei sich ein, durch die Gnade (parlagrdce)
Diese Substitunonen machen alle und jeden zur seines Gastes. Da diese Antinomie vollkommen
— —‚
Geisel des Anderen. Das sind die Gesetze der Gast widersprüchlich bleibt wie es sich gehört kann
freundschaft. Sie entsprechen den Scbwiengkeilen und das Ereignis jedoch nicht andauern: „Das währte
Aporien, die von den ersten Zeilen des Buches an nur einen Augenblick. . .“,
präzisiert der Erzähler,
angekündigt und zum Ausdruck gebracht werden. „Denn schließlich kann man nicht zugleich nehmen
Sie werden zunächst berichtet, und zwar vom Er und nicht nehmen, da sein und nicht da sein, eintre
zähler selbst, das heißt vom Neffen, also jemandem ten, wenn man bereits drinnen ist.“
aus der Familie, der nicht der Sohn in direkter Linie Diese Dauer ohne Dauer, diese kürzeste Spanne,
ist und sich als Quasi-Vatermörder gebärden wird. dieses plötzliche Auffiackern, dieser Moment eines
Diese Scbwierzgkeiten werden vorweggenommen, Moments, der sich annulliert, diese unendliche Ge
noch bevor die „unter Glas“ gefaßten Gesetze der schwindigkeit, die sich zu einer Art absolutem Halt
Gastfreundschaft zitiert werden. Lassen sie sich for oder absoluter Hast zusammenzieht, das ist eine
malisieren? Gewiß, und zwar gemäß einer ziemlich Notwendigkeit, die nicht mehr zu überlisten ist: Sie
einfach erscheinenden Antinomie. Das heißt gemäß ist die Erklärung daflir, daß man immer das Gefühl
der Gleichzeitigkeit, des „Zugleichs“ zweier inkom hat, zu spät zu kommen, und daß man sich im Be
patibler Hypothesen: „Denn schließlich kann man gehren nach Gastfreundschaft oder im Begehren als
nicht zugleich nehmen und nicht nehmen, da sein Gastfreundschaft zugleich stets zur Eile hinreißen
und nicht da sein, eintreten, wenn man bereits drin läßt. Im Herzen einer Gastfreundschaft, die stets
nen ist“
.
41 zp wünschen übrig läßt.
90 91
1
Wir werden uns hier damit begnügen, die Phasen zugleich nehmen und nicht nehmen, da sein und nicht da sein,
eintreten, wenn man bereits drinnen ist. Mein Onkel Octave
einer unwahrscheinlichen Folge, die zeitlichen und 1 forderte zuviel, wenn er den Augenblick der offenen Tär verlängern
antinomischen Modalitäten dieser Gesetze, die un t
wollte, es war schon viel, wenn er es erreichen konnte, daß der
mögliche Chronologie dieser Gastfreundschaft her Gast an der Türe erschien und daß der Gast imgleichen Augenblick
auszustellen, all das, was eine diskrete Ironie mit dem hinter Roberte auftauchte, um es Octave zu gestatten, während
Beinamen Schwzenkeiten versehen hat (die Kommen er vom Gast die Geste des Türöffnens übernahm, sich selbst
tierung wollen wir der anschließenden Diskussion als der von draußen kommende Gast zu empfinden, und die
beiden von der Tür aus mit dem Gefühl betrachten zu können,
überlassen). Schwierig sind Dinge, die unmachbar sind
als ob er selbst, Octave, es wäre, der meine Tante überraschte.
und, sobald die Grenze des Schwierigen erreicht ist, 1
sogar die Ordnung des Möglichen als einem Machen Nichts vermag einen besseren Begriff von der Geistesart meines
(faire), einem Herstellen (/aure), einer Machart (fafan) Onkels zu vermitteln als die handgeschriebenen Seiten, die er
übersteigen. Das Unmachbare, so scheint es, flullt in einem antiken Rahmen, in dem ein paar welke Feldblumen
hier in den Bereich der Zeit. Diese Scbwierzgkeiten steckten, unter Glas hatte fassen lassen, um sie an der Wand
des Gästezimmers aufzuhängen, und zwar gerade über dem
haben immer die Form eines Zeit-werdens der Zeit,
Bett
und man könnte das auch für das unkalkulierbare
liming der Gastfreundschaft halten. Wir wollen diese Die Gesetze der Gastfreundschaft
Zeitmarker, die Chronometrie dieser Verwicklung,
nun einmal hervorheben: Der Hausherr, der keine dringendere Sorge hat, als jeden, der des
Abends kommt, um sich an seinen Tisch zu setzen und sich
unter seinem Dach von den Mühen der Reise auszuruhen, seiner
Schwierigkeiten
Freuden teilhaftig werden zu lassen, erwartet auf der Schwelle
Wenn mein Onkel Octave meine Tante Roberte in seine Arme seines Hauses ängstlich den Fremden, den er am Horizont als
nahm, durfte man nicht glauben, daß nur er allein sie in die Befrejer auftauchen siebt. Und wenn er ihn nur von weitem er
Arme nähme. Ein Gast trat ein, obwohl Roberte ihn, solange blickt, wird er ihm eiligst zurufen: „Tritt rasch ein, denn ich flirch
mein Onkel anwesend ur, nicht erwartete, und während sie noch te mich vor meinem Glück.“
42
fürchtete, daß der Gast käme, denn Roberte hatte einen Gast
von unwiderstehlicher Entschlossenheit enaw*4 tauchte der Gast
bereits hinter ihr aaf, und mein Onkel trat im selben Augenblick
—
—
herzu, um den freudigen Schreck meiner von dem Gast über
raschten Tante zu überraschen. Doch im Geist meines Onkels
1 Letztes Mal hatten wir die Frage des Fremden auf
eine etwas seltsam-befremdliche Art und Weise ver
schoben, indem wir ihre Ordnung oder Richtung,
in Wahrheit den Sinn der Frage selbst umkehrten.
währte das nur einen Ai«enblick, und von neuem schickte mein
Onkel sich an, meine Tante in seine Arme zu nehmen. Das Indem wir uns von skizzenhaften Lektüren von
.
wäbrz‘e nur einen Augenblick.. Denn schließlich kann man nicht Texten Platons (Kriton, Sophistes, Politikos, Apolqgie des
92 93
Sokrates) oder Sophokles‘ (Ödpus auf Kolonos) leiten diese Striktur zwischen einem sogenannten weiteren
ließen, hatten uns einige Figuren des Fremden Fra und einem sogenannten engeren (stn‘cte) Sinn. Im
gen aufgegeben. Sie riefen uns eine Vorbedingung weiteren Sinne ist die Sprache, diejenige, in der man
in Erinnerung: Vor der Frage des Fremden als The sich an den Fremden wendet oder in der man ihn
ma oder Titel eines Problems, als einem Forschungs hört, wenn man ihn anhört
43
, die Gesamtheit der
programm, bevor wir also auf diese Weise voraus Kultur, die Werte, Normen, Bedeutungen, die der
setzen, bereits zu wissen, was der oder das Fremde Sprache innewohnen. Dieselbe Sprache zu sprechen,
ist, was er oder es bedeutet, wer er ist, gibt es wahrlich ist nicht nur ein sprachlicher Vorgang. Es geht um
noch die Frage nach dem Fremden als eine an den das ethos im allgemeinen. Nebenbei bemerkt: Ohne
Fremden gerichtete An-Frage (Wer bist du? Woher dieselbe Nationaisprache zu sprechen, kann mir je
—
kommst du? Was willst du? Willst du kommen? Wo mand, wenn er eine bestimmte Kultur zum Beispiel
rauf willst du hinaus? usw), vor allem aber, und noch einen mit einem gewissen Reichtum verbundenen
eher, die Frage des Fremden als eine vom Fremden —
Lebensstil, usw. mit mir teilt, weniger „fremd“ sein
kommende Frage. Als eine Frage der Antwort oder als ein Mitbürger oder Landsmann, der einer anderen
der Verantwortung also. Wie auf all diese Fragen „sozialen Klasse“ angehört, wie man früher sagte
antworten? Wie die Verantwortungfür sie überneh (doch man sollte diese Sprechweise nicht allzu
men? Wie sich selbst ihnen gegenüber verantworten? schnell aufgeben, wenn sie auch kritische Wachsam
Gegenüber Fragen (questions), die ebenso Anfragen keit erfordert). In mancher Hinsicht habe ich mit
(demandes), ja Bitten (pres) sind? In welcher Sprache einem bürgerlichen palästinensischen Intellektuellen,
kann der Fremde seine Frage an uns richten? Die t.
dessen Sprache ich nicht spreche, mehr gemeinsam
unseren empfangen? In welcher Sprache kann man als mit einem Franzosen, der mir aus diesen oder
ihm Fragen stellen? jenen sozialen, ökonomischen oder anderen Grün
„Sprache“, wir wollen dieses Wort zugleich in ei den, in der einen oder anderen Hinsicht fremder
nem engeren und einem weiteren Sinne verstehen. sein wird. Umgekehrt wird mir, wenn man die Spra
Eine der zahlreichen Schwierigkeiten, denen wir hier che im engeren Sinne nimmt, der die Nationalität
—
gegenüberstehen genauso wie in dem Falle, als es nicht umfaßt, ein bürgerlicher israelischer Intellek
darum ging, die Extension des Begriffs der Gast tueller fremder sein, als ein Arbeiter aus der Schweiz,
1
freundschaft oder des Fremden zu regeln —‚ eine ein belgischer Bauer, ein Boxer aus Quebec oder
dieser Schwierigkeiten also ist diese Differenz, aber ein französischer Polizist. Diese Frage der Sprache
auch diese mehr oder weniger enge Verwachsung, im von uns so genannten engeren Sinne, das heißt
94 95
das diskursive Idiom, das sich nicht mit einer be ben. Es ist wahr, daß diese Enthaltung (,‚komm, tritt
stimmten Staatsbürgerschaft deckt (Franzosen und ein, mache Halt bei mir, ich frage dich weder nach
Bewohner Quebecs bzw Engländer und Amerikaner deinem Namen noch bitte ich dich, verantwortlicl?
können im großen und ganzen dieselbe Sprache zu sein, ich frage dich auch nicht, woher du kommst
sprechen), fanden wir auf tausenderlei Weise immer oder wohin du gehst“) der absoluten Gastfreund
wieder in der Erfahrung der Gastfreundschaft impli schaft würdiger zu sein scheint, die die Gabe rück
ziert. Einladung, Empfang, Asyl, Beherbergung ver haltlos offeriert; und einige könnten darin noch eine
laufen über die Sprache oder das Ansprechen des Möglichkeit der Sprache erkennen. Das Schweigen
Anderen. Wie L€vinas unter einem anderen Ge (se-taire) ist bereits eine Modalität möglichen Spre
sichtspunkt sagt: Sprache ist Gastlichkeit. Wir ha chens. Wir werden uns stets zwischen diesen beiden
ben uns immer d gefragt, ob die al3solute, hy Extensionen des Begriffs der Gastfreundschaft wie
perbolische, unbedingte Gastfreundschaft nicht da auch der Sprache abmühen müssen. Wir werden
rin besteht, die Sprache, eine bestimmte Sprache, auch auf die beiden Ordnungen eines Gesetzes der
und selbst das Ansprechen des Anderen zu überra Gastfreundschaft zurückkommen: die unbedingte
schen. Muß man der Versuchung, den Anderen zu oder hyperbolische Ordnung auf der einen, die be
fragen, wer er ist, wie sein Name lautet, woher er dingte und jundisch-politische, ja ethische Ordnung
kommt usw, nicht auch eine Art Zurückhaltung auf auf der anderen Seite, wobei die Ethik in Wahrheit
erlegen? Muß man nicht davon absehen, ihm diese zwischen den beiden aufgespannt ist, je nachdem
Fragen zu stellen, die derart viele geforderte Bedin ob man seine Wohnung nach dem absoluten Respekt
gungen und also Grenzen einer Gastfreundschaft und der absoluten Gabe ausrichtet oder nach dem
ankündigen, die auf diese Weise in ein Recht und in Tausch, der Proportion, der Norm usw. Was die bei
eine Pflicht hineingezwungen und eingeschlossen den Extensionen der Sprache betrifft, so wollen wir
wird? In die Ökonomie eines Zirkels also? Dieses rasch zwei Forschungsrichtungen, zwei Programme
Dilemma zwischen der über das Recht, die Pflicht oder zwei Problernatiken situieren. Beide beschrän
oder sogar die Politik hinausgehenden unbedingten ken sich auf die Sprache im „engeren Sinne“, auf
Gastfreundschaft einerseits und der durch das Recht die natürliche oder die Nationalsprache, aus der die
und die Pflicht umschriebenen Gastfreundschaft Rede, die Aussage und die Ausdrucksweise schöpfen.
andererseits wird immer wieder auf uns lauern. Stets 1. Das Auto-mobil(e) dieser „Sprache, die man
kann die eine die andere korrumpieren, und diese mit sich trägt“, wie wir vorhin sagten, ist weder von
Pervertierbarkeit bleibt irreduzibel. Sie muß es blei- all den technischen Prothesen zu trennn, deren
96 97
Raffinement und Kompliziertheit im Prinzip keine ben. Einerseits drängen wir die Dinge in Richtung
Grenzen kennt (das Mobiltelefon ist nur eine Figur einer allgemeinen und abstrakten Formalisierung,
indem wir bisweilen „unsere“ Geschichte befragen —
davon), noch, wenn man das so sagen kann, von
der sogenannten Selbst-affektion (auto-affiaion), die insbesondere anhand literarischer oder philosophi
man übereinstimmend der Selbst-beweglichkeit scher Texte. Andererseits eröffnen uns bestimmte
—
leispiele unter einer Vielzahl von anderen mögli
(auto-mobiliti) des Lebendigen im allgemeinen zu-
—
chen einen Zugang zum Feld aktueller politischer
schreibt, und zwar als dessen ureigenste Möglichkeit
— —
Gibt es Gastfreundschaft ohne zumindest das und mehr als politischer Dringlichkeiten (denn es geht
Phantasma dieser Auto-nomie? Dieser auto-mobilen hier gerade um das Politische und das Juridische).
Seibst-affektion, für die das Sich-im-Sprechen- Diese Dringlichkeiten aktualisieren aber nicht nur
vernehmen der Sprache die bevorzugte Figur ist? klassische Strukturen. Sie interessieren uns genau
2. Wenn der Eigenname nicht zur Sprache, zum dort und wir nehmen sie eben da in den Blick, wo
üblichen Funktionieren der Sprache gehört, die er sie diese Erbschaften oder die vorherrschenden In
—
dennoch bedingt, wenn wie ich andernorts zu zei terpretationen dieser Erbschaften wie von selbst zu
—
gen versucht habe ein Eigenname nicht wie irgend dekonstruieren scheinen. Wir haben das bereits an
ein anderes Wort der Sprache übersetzt werden kann zudeuten versucht im Zusammenhang mit den neu
(,‚Peter“ ist nicht die Übersetzjing von „Pierre“), en Teletechnologien und der Art und Weise, wie sie
welche Konsequenzen sind dann daraus hinsicht sich auf die Erfahrung des Ortes, des Territoriums,
lich der Gastfreundschaft zu ziehen? Diese setzt bei des Todes usw. auswirken.
des zugleich voraus: den Ruf (appel) oder das In- Was die Struktur der Geisel betrifft, so müßte man
Erinnerung-rufen (rappel) des Eigennamens in seiner auch eine Art Gesetz oder Antinomie analysieren,
reinen Möglichkeit (zu dir, zu dir selbst sage ich die ebenso wesentlich wie quasi ahistonsch ist. Wir
„komm“, „tritt ein“, „ja“) und die Auslöschung des könnten dies auf der Grundlage antiker Beispiele
selben Eigennamens (,‚komm“, „ja“, „tritt ein“, „wer oder ethischer Aussagen von Lvinas tun, aber auch
auch immer du bist und was auch immer dein Name, von dem ausgehend, was diese Problematik in neuen
deine Sprache, dein Geschlecht, deine Gattung ist, Erfahrungen, ja neuen Geiseikriegen transformiert.
.
ob du ein Mensch, ein Tier oder göttlich bist. Was zum Beispiel in Tschetschenien geschieht, müß
Unsere Vorgehensweise mag befremden, doch ist te in dieser Hinsicht in dem Moment analysiert wer
uns auch diese Befremdlichkeit von einer Art Gesetz den, da die Geiselnahme zur schrecklichen Waffe
aufgezwungen. Dieses Gesetz könnte man auch als im Zuge eines Krieges wird, von dem man nicht
eine Kreuzung von Sprachen oder Codes beschrei mehr weiß, ob es ein Bürgerkrieg, ein Partisanen
98 99
krieg (in dem Sinne, den Carl Schmitt diesem Aus Ich hätte in diesem Zusammenhang, wenn ich die
druck gibt) oder ein Krieg ist, in dem sich bald Mit Zeit dazu gehabt hätte und wenn es schicklich wäre,
bürger, bald Glaubensbrüder, bald Fremde usw. ge meinen Aussagen eine etwas autobiographische No
genüberstehen. Die Geiseln sind keine unter dem te zu geben, gerne die jüngere Geschichte Algeriens
Schutz des Kriegs- oder Völkerrechts stehenden untersucht. Deren Auswirkungen auf das gegen
Kriegsgefangenen mehr. Die Geiselnahme ist mitt wärtige Leben beider Länder, Algeriens wie Frank
lerweile in singu]ären Konflikten klassisch geworden, reichs, sind noch ganz frisch und in Wahrheit erst
in denen sich Mitbürger gegenüberstehen, die keine noch im Kommen. In dem, was im französischen
mehr sein wollen und die folglich danach streben, Recht kein Protektorat, sondern eine Gruppe fran
Fremde zu werden, die man wie die Bürger eines zösischer Departements gewesen war, ist die Ge
—
anderen Landes respektiert allerdings eines noch schichte des Fremden, wenn man so sagen kann, ist
nicht existierenden Landes, eines künftigen Staates. die Geschichte der Staatsbürgerschaft, die Entwick
Diese Umstrukturierungen nationalstaatlicher Gren hing von Grenzen, die strikt zwischen Bürgern und
zen nehmen zu, und das nicht nur in Europa. (Was Bürgern zweiter Klasse oder Nicht-Bürgern tren
auch immer das Rätsel dieses Namens und der „Sa nen, von 1830 bis in unsere Tage derart komplex,
che“, auf die er sich bezieht, sein mag, „Europa“ bewegt und verwickelt, daß das Ganze meines Wis
bezeichnet vielleicht jene Zeit und jenen Raum, die sens in der Welt und im Lauf der Menschheitsge
für dieses einmalige Ereignis günstig waren: In Eu schichte beispiellos ist. Ich verweise noch einmal
ropa hätte das Richt auf universelle Gastfreundschaft auf den Artikel „Das Staatsbürgerschafts-Puzzle in
seine radikalste und vermutlich formalisierteste Defi Algerien“ von Louis-Augustin Barrire, der in der
—
nition erhalten zum Beispiel in Kants Text Zum zu Beginn des Seminars angezeigten Nummer der
ewigen Frieden, auf den wir uns immer wieder bezie Zeitschrift Plein Droit erschienen ist. Zu Beginn der
hen, sowie in der ganzen Tradition, die ihn getragen Kolonisierung und bis ans Ende des Zweiten Welt
hat). Ob europäische (Ex-Jugoslawien) oder para kriegs bezeichnete man die Moslems Algeriens als
europäische (Rußland und die ehemalige UdSSR) „nationauxfranfais“ und nicht als „citqyensfranfais“
,
47
Kriege, diese Kriege sind womöglich keine Kolonial ein subtiler, aber entscheidender Unterschied. Im
kriege oder von kolonisierten Völkern geführten Be Grunde genommen besaßen sie keine richtige Staats
freiungskriege im buchstäblichen oder engeren Sin bürgerschaft, ohne aber absolut Fremde oder völlige
ne, sondern nehmen oft die Gestalt von Rekoloni Ausländer zu sein. Im Moment der Annexion des
sierungs- oder Dekolomsierungsbewegungen an. sen, was man damals, in einer Verordnung vom Juli
100 101
2
1834, als die „französischen Besitzungen in Nord Mißerfolg, zum einen, weil die Verwaltung die Mos
afrika“ bezeichnete, bleiben die Bewohner dieses lcrns nicht ermunterte, zugleich aber auch, weil diese
Landes, die Moslems (Araber oder Berber) wie die sich einer Staatsbürgerschaft widersetzten, deren
Juden, einem konfessionellen Recht unterworfen. Gegenleistung gerade in der Aufgabe ihres besonde
Dreißig Jahre später, im Jahre 1865, kommen diese ren Personalstatuts bestand (das heißt namentlich
Einheimischen de jure in den Genuß der Eigenschaft der religiösen Rechte usw.). Man gewährte ihnen,
Franzose — womit sie Stellungen im öffentlichen kurz gesagt, unter der Bedingung innerhalb der fran
Dienst anstreben können —‚ ohne jedoch französi zösischen Staatsbürgerschaft Gastfreundschaft, daß
—
sie gemäß einem Schema, das uns mittlerweile ver
sche Staatsbürger zu sein. Dennoch sahen die Tex
—
ttaut ist auf das verzichteten, was sie als ihre Kultur
te vor, daß der Einheimische, der zwar Franzose,
$
nicht aber Staatsbürger war, die Staatsbürgerschaft betrachteten. Vor dem Zweiten Weltkrieg sichert ein
erlangen könne, wenn er unter bestimmten Bedin ‘ : weiterer Fortschritt (der berühmte Vorschlag Blum
gungen seinen besonderen Status aufgibt und die Violette) all jenen Personen die Staatsbürgerschaft
Staatsgewalt, der letzte Richter in dieser Sache, dem oJne Aufgabe ihres „moslemischen Personalstatuts“
zustimmt. Für die einheimischen Juden wurde der zu, die aufgrund ihres bescheinigten Militärdienstes,
Zugang zur französischen Staatsbürgerschaft durch ihrer akademischen Titel oder anderer Titel im Be
das berühmte „Dcret Crmieux“ vom 24. Oktober reich des Handels, der Landwirtschaft, der Verwal
1870 beschleunigt, das später unter der Vichy-Regie tung oder der Politik, als assimiliert galten. Ein er
rung aufgehoben wurde, und zwar ohne die geringste neuter Mißerfolg. Nach dem Zweiten Weltkrieg, und
Intervention oder Forderung seitens der Deutschen, wiederum aufgrund der Beteiligung algerischer Sol
die damals nur einen Teil des französischen Mutter- daten an der Verteidigung und Befreiung Frank
lands besetzt hielten. Es ist immer wieder der Krieg, reichs, ein weiterer Fortschritt: Am 7. März 1944
der die Dinge in Bewegung bringt. Nach dem Er gewährt ein Erlaß die Staatsbürgerschaft und bestä
1
sten Weltkrieg (und so vielen an der Front gefalle tit zugleich die Gleichheit aller französischen Bür
nen Algenern), unternimmt ein Gesetz vom Februar ger Algeriens ohne Unterscheidung nach Herkunft,
1919 einen weiteren Schritt, indem es den Moslems 1.asse, Sprache und Religion, mit allen in der Präam
Algeriens die französische Staatsbürgerschaft anbie bel und dem Artikel 81 der Verfassung vorgesehenen
tet, und zwar gemäß einem Verfahren, das nicht Rechten und Pflichten. Dennoch unterschied man
—
weiterhin zwischen zwei Wählergruppen was für
mehr dem Ermessen und der Willkür des französi
schen Staates anheimfiel. Doch war dies noch ein die Erhebung, die zur Unabhängigkeit Algenens
1“
102 103
führte, nicht vöffig belanglos war, zumindest als eine bezeichnen könnte (in annähernder und analoger
ihrer Ursachen. Der ersten Gruppe gehörten die Weise, denn im strengen Sinne sind sie gerade in
4
Nicht-Moslems an sowie einige Moslems, die be diesem Fall ausgeschlossen, und es gilt, über diese
stimmte Bedingungen erfüllten (Schulabschlüsse Ausschließung nachzudenken). Zwischen einem un
usw., abgeleisteter Militardienst, Auszeichnungen, bedingten Gesetz der Gastfreundschaft oder einem
—
0ffiziersrang nicht aber Unteroffizier, zahlreiche absoluten Wunsch nach Gastfreundschaft auf der
Führer des Aufstands von 1954 kamen so aus der einen und einem mit Bedingungen verknüpften
Gruppe der Unterofliziere). Diese Zweiteilung der Recht, einer mit Bedingungen verknüpften Politik
Wählerschaft währte bis zum Algerienkrieg. Seit der oder Ethik auf der anderen Seite besteht ein Unter
Unabhängigkeit Algeriens haben diese „Komplika 1 schied, eine radikale Heterogenität, wenngleich sie
tionen“ nicht aufgehört, bis zur sogenannten „loi auch untrennbar miteinander verbunden sind. Das
Pasqua“ und der „Normalisierung“, die Algerier, eine erfordert, impliziert das andere oder schreibt
wenn sie nach Frankreich kommen wollen, seither es vor. Wie kann man, indem man einer unbedingten
denselben Bedingungen unterwirft wie die übrigen Gastfreundschaft stattgibt (faisant droit d), wenn ich
Ausländer (der Evian-Vertrag hatte besondere Rege so sagen darf, einem bestimmten, begrenzbaren und
lungen vorgesehen, die die algerischen Bürger von abgrenzbaren, mit einem Wort: einem kalkulierbaren
der Visaumsp flieht für Frankreich befreiten: die Zeit Recht (eine) Statt geben (donner/ieu)? Wie einer kon
des Evian-Vertrags ist vorbei, hat uns ein Mitarbeiter t kreten Politik und einer konkreten Ethik, die eine
von Herrn Pasqua geantwortet, als wir gegen die Geschichte, Evolutionen, wirkliche Revolutionen,
besagte Normalisierung protesüerten). Fortschritte, kurzum: eine Perfektibilität umfassen?
Bevor wir für heute schließen, wollen wir noch Einer Politik, einer Ethik, einem Recht, die auf diese
kurz auf zwei Antizipationen oder Protokolle ein Weise auf die neuen Anforderungen nie dagewe
gehen. sener historischer Situationen antworten, die diesen
Bedenken wir zunächst den Unterschied zwischen also wirklich entsprechen, indem sie die Gesetze
der unbedingten Gastfreundschaft und den Rechten ändern und die Staatsangehörigkeit, die Demokratie
und Pflichten, die die Bedingungen der Gastfreund oder das internationale Recht usw. anders bestim
schaft festlegen. Weit davon entfernt, den Wunsch nen? Indem sie also im Namen des Unbedingten
nach Gastfreundschaft zu lähmen oder die Forde wirklich in die Bedingung der Gastfreundschaft ein
rung nach Gastfreundschaft zu beseitigen, trägt uns greifen, selbst wenn diese reine Unbedingtheit uner
diese Unterscheidung auf, näher zu bestimmen, w4s reichbar zu sein scheint, unerreichbar nicht nur als
—
—
man in Kantischer Sprache als vermittelnde Schemata regulative Idee eine Idee im Kantischen Sinne,
104 105
r
unendlich fern, der man immer nur in unangemesse Um den Weg dieser schwierigen Frage anzudeuten,
ner Weise näher kommt sondern aus strukturellen
—‚ könnten wir uns die bekannte Geschichte von Lot
Gründen, weil sie durch die von uns analysierten und seinen Töchtern in Erinnerung rufen. Sie steht
internen Widersprüche „blockiert“ wird?
i —
der Tradition des von Kant nach Augustinus und
Die zweite Antizipation wird die Form eines Mot 49 in—
1
seinen beiden großen Büchern über die Lüge
tos (exergue) und einer Referenz besitzen. Sämtliche t.
seiner Schrift Über ein vermeintes Recht aus Menschen
Beispiele, die wir bisher gewählt haben, zeigten die liebe u lugen zitierten Beispiels, keineswegs fremd
selbe Vorherrschafi innerhalb der Struktur des Rechts gegenüber. Muß man seine Gäste Missetätern, Ver
auf Gastfreundschaft und der Beziehung zum Frem gewaltigem, Mördern ausliefern? Oder muß man
—
den sei dieser nun Gast oder Feind. Es handelt letztere anlügen, um die zu retten, die man beher
sich um ein eheliches, väterliches und phallogozentri bergt und für die man sich verantwortlich fühlt? In
sches Modell. Es ist der Familiendespot, der Vater, der Genesis (19, 1 ff.) gibt es einen Moment, da Lot
der Ehemann und Herr, der Hausherr, der die Ge die Gesetze der Gastfreundschaft über alles, insbe
setze der Gastfreundschaft macht. Er repräsentiert sondere über die ethischen Verpflichtungen zu stel
sie und beugt sich ihnen, um ihnen innerhalb dieser len scheint, die ihn mit den Seinen und seiner Fami
Gewalt der Macht zur Gastfreundschaft, dieser lie, zuallererst seinen Töchtern, verbinden. Die Män
Macht der Selbstheit, die wir seit einigen Wochen ner von Sodom wünschen die Gäste zu sehen, die
analysieren, auch die anderen zu unterwerfen. Wir Lot beherbergt und die diese Nacht zu ihm gekom
hatten bei Gelegenheit auch daran erinnert, daß das •1r men sind. Die Männer von Sodom wollen diese
Problem der Gastfreundschaft mit dem Problem der Gäste sehen, um in sie „einzudringen“, wie eine
Ethik koextensiv ist. Es geht stets darum, die Verant Übersetzung sagt (die französische Übersetzung
wortung für eine Bleibe, für ihre Identität, ihren Chouraquis: „Führe sie heraus zu uns: Laßt uns in
Raum, ihre Grenzen, für das ethös als Aufenthalt, sie eindringen!“), um sie zu „erkennen“, wie eine
Wohnung, Haus, Heim, Familie, Zuhause zu über andere schamhaft sagt (die Übersetzung von Dhorme
nehmen. Nun sollten wir aber einmal jene Situatio in der Bibliothque de la Pl&ade: „Führe sie heraus
nen untersuchen, in denen die Gastfreundschaft mit . Lot ist selbst ein
50
2u uns, damit wir sie erkennen“)
der Ethik selbst nicht nur koextensiv ist, sondern in Fremder (gfr), der kam, um bei den Sodomitern zu
denen es den Anschein haben kann, daß einige, wie wohnen (güt). Um die von ihm beherbergten Gäste
man sagen konnte, das Gesetz der Gastfreundschaft um jeden Preis zu schützen, bietet er den Männern
über eine „Moral“ oder eine bestimmte „Ethik“ stel von Sodom als Familienoberhaupt und allmächtiger
len. Vater seine beiden Töchter an, die noch Jungfrauen
106 107
sind. Es sind noch keine Männer in sie „eingedrun Geiseln, und zwar in der berühmten Szene im Ge
gen“. Diese Szene folgt unmittelbar auf jene, in der birge Ephraim aus dem Buch der Richter. Nachdem
Gott und seine drei Boten dem Abraham erschienen, er einen Wanderer aufgenommen hatte, der mit den
der ihnen bei den Eichen von Mamre Gastfreund Seinen nach Beit Lehem [Betlehem] gezogen war,
schaft gewährt. Wir werden später darauf zurück bekommt der Gastgeber Besuch von B‘nai Beliaa1
kommen, es handelt sich hierbei um die große Grun [Söhnen der RuchlosigkeitJ, die verlangen, in den
dungsszene abrahamitischer Gastfreundschaft, die Wanderer „einzudringen“ (,‚im sexuellen Sinne des
zentrale Referenz für Die bei4ge Ga4/reundscbaft oder Wortes“, präzisiert der französische Übersetzer):
Das ‚gegebene W‘rn‘ von Louis Massignon.
51
Der Herr des Hauses ging zu ihnen hinaus / und sagte zu ih
Die beiden Engel kamen am Abend nach Sodom. / Lot saß im nen: Nein, meine Brüder, so etwas Schlimmes dürft ihr nicht
Stadttor von Sodom. Als er sie sah, / erhob er sich, trat auf sie tun. / Dieser Mann ist als Gast in mein Haus gekommen, /
zu, warf sich mit dem Gesicht zur Erde nieder / und sagte: darum dürft ihr keine solche Schandtat begehen. / Da ist meine
Adonai [Herr], kehrt doch im Haus eures Knechtes cm, / bleibt jungfräuliche Tochter und seine Nebenfrau. Sie will ich zu euch
über Nacht und wascht euch die Füße! Am Morgen könnt ihr hinausbringen; / ihr könnt sie euch gefügig machen und mit
euren Weg fortsetzen. / Nein, sagten sie, wir wollen im Freien ihnen tun, was euch gefällt. / Aber an diesem Mann dürft ihr
übernachten. / Er redete ihnen aber solange zu, bis sie mitgingen keine solche Schandtat begehen. / Doch die Männer wollten
und bei ihm einkehrten. / Er bereitete ihnen ein Mahl, ließ nicht auf ihn hören. / Da ergriff der Levit seine Nebenfrau
ungesäuerte Brote backen, und sie aßen. / Sie waren noch nicht und brachte sie zu ihnen auf die Straße hinaus. / Sie drangen in
schlafen gegangen, / da umstellten die Einwohner der Stadt sie ein und trieben die ganze Nacht hindurch bis zum Morgen
das Haus, die Männer von Sodom, / Jung und alt, alles Volk ihren Mutwillen mit ihr. / Sie ließen sie erst gehen, als die Mor
weit und breit. / Sie riefen nach Lot und fragten ihn: / Wo sind genröte heraufzog. / Als der Morgen anbrach, kam die Frau
die Männer, die heute abend zu dir gekommen sind? / Heraus zurück; / vor der Haustür des Mannes, bei dem ihr Herr wohnte,
mit ihnen, wir wollen in sie eindringen. / Da ging Lot zu ihnen
brach sie zusammen und blieb dort liegen, bis es hell wurde. /
hinaus vor die Tür, / schloß sie hinter sich zu / und sagte: Aber
Ihr Herr stand am Morgen auf.‘
5
meine Brüder, begeht doch nicht ein solches Unrecht! / Seht,
ich habe zwei Töchter, in die noch kein Mann eingedrungen
ist. / Ich will sie euch herausbringen. Dann tut mit ihnen, was Das Ende der Geschichte ist bekannter, ihre Sendung
euch gefällt. / Nur jenen Männern tut nichts an; denn deshalb 54
(nvoz)
, wenn ich so sagen darf. Im Namen der Gast
sind sie ja unter den Schutz meines Daches getreten.
52 freundschaft wurde allen Männern eine Frau, ge
nauer gesagt eine NebenfraugesandL
55 Der Gast, der
Sodomie und sexuelle Differenz: Dasselbe Gesetz „Herr“ der Frau, „nahm ein Messer, ergriff seine
der Gastfreundschaft gibt zu einem analogen Han Webenfrau, zerschnitt sie in zwölf Stücke, Glied für
del Anlaß, zu einer Art Hierarchie der Gäste und Glied, und schickte sie in das ganze Gebiet Israels.
108 109
t
Jeder, der das sah, sagte: So etwas ist noch nie gesche Anne Dufourmantelle
hen, so etwas hat man nicht erlebt, seit die B nai
Israel [die Söhne Israels] aus Mizraim [Ägypten] her-
aufgezogen sind, bis zum heutigen Tag. Denkt dar
Einladung
56
über nach, beratet, und sagt (was ihr dazu meint)!“
Sind wir die Erben dieser Tradition der Gesetze der „Ein Akt der Gastfreundschaft kann nur poetisch sein.“
—
Gastfreundschaft? Inwieweit? Wo ist wenn es denn Jacques Dernda
—
eine gibt die Invariante zu situieren, durch diese
Logik und diese Erzählungen hindurch?
Sie legen in unserer Erinnerung endlos Zeugnis Is ist ebendiese poetische Gastfreundschaft
ab. Derridas, die ich im folgenden vor Augen führen
möchte, wobei die Schwierigkeit darin besteht, von
der Nacht zu sprechen, das mitzuteilen, was in ei
nrn philosophischen Denken nicht der Ordnung
ds Tages, des Sichtbaren und des Gedächtnisses
1
angehört. Das bedeutet, den Versuch zu unterneh
men, sich einem Schweigen anzunähern, um das
herum sich der Diskurs anordnet, und das im Ge
dicht bisweilen entdeckt wird, das sich in der Bewe
gung des Sprechens oder des Schreibens selbst aber
stets der Enthüllung entzieht. Wenn ein Anteil Nacht
sich in die Sprache einschreibt, ist er zugleich auch
der Moment ihrer Auslöschung.
Diese nächtliche Flanke der Sprache könnte man
als Obsession bezeichnen. Ein Fälscher kann den
Gestus eines Malers oder den Stil eines Schriftstellers
nachahmen und den Unterschied zu ihnen unmerk
lich werden lassen, doch er wird niemals ihre Obses
sion zu der seinen machen können, das, was sie dazu
110 111
zwingt, unablässig zu diesem Schweigen zurückzu Gastfreundschaft kommentierte und dabei deren
kehren, in dem die ersten Eindrücke versiegelt sind. absolut zeitgenössische Emplikationen hervorhob,
In vorliegender philosophischer Erzählung, die sich Während seinen Zuhörern die Notwendigkeit die
um das so schöne Thema der Gastfreundschaft her sr seltsamen „Visitation“ oder „Heimsuchung“ der
um entspinnt, verweilt die Obsession‘ Derridas da Sophokleischen Tragödie klar wurde. Der an tote
—
bei, die Konturen einer unmöglichen, unstatthaf oder lebende Autoren ergehende Ruf, mit ihm die
Gestade eines Themas zu durchstreifen, führt —
—
ten Geographie der Nähe nachzuzeichnen. Einer
—
seinen eigenen Worten zufolge nicht dazu, daß er
Nähe, deren Gegensatz nicht ein Anderswo wäre,
das sie von außen umzingelt, sondern das,,Nahe des „den uns am Ende dieses Jahrtausends bedrängen
Nahen“, dieser unerträgliche Orbit der Intimität, die den Problemen“ den Rücken kehrt. Im Gegenteil:
in Haß zerfällt. Wenn man sagen kann, daß Mord Er hält der Konfrontation mit ihnen stand.
und Haß all das bezeichnen, was das Nahe aus In diesem Seminar herrscht eine Genauigkeit, die
schließt, dann deshalb, weil sie eine ursprungliche hörbar ist. Das hängt, so glaube ich, mit der innigen
Übereinstimmung von Denken und Spreche ihrem —
Beziehung zur Andersheit von innen her verwüsten.
—
aufeinander abgestimmten Rhythmus zusammen,
2 antwortet auf die Gastfreundschaft
Der „bostis“
(hospitalill) so, wie das Gespenst sich den Leben sowie mit der Skandierung des Themas, das die
den in Erinnerung bringt, ohne Vergessen zuzulas— philosophische Reflexion heimsucht, aber auch mit
sen. Der beruhigten Vernunft Kants setzt Derrida jenem Bis-an-die-Grenze-Gehen, jenen Grenzgän
die ursprüngliche Besessenheit eines Subjekts ent gen (passages la Iimii), die Dernda unternimmt,
gegen, das von der Andersheit daran gehindert wird, wenn er einen &griff solange hin und her wendet,
sich in seiner Seelenruhe abzuschließen. bis er wieder zu dem Rätsel wird, das ihn trägt.
Wenn Demnda Sophokles, Joyce, Kant, Heidegger, Deshalb erschien es uns wichtig, einen bestimmten
Celan, Levinas, Blanchot oder Kafka liest, dann Abschnitt der Seminare so wiederzugeben, wie er
begleitet er nicht nur ihre Texte, indem er ihnen eine s4± präsentierte. Man kann hier diesen einzigartigen
zweite Resonanz verleiht, sondern er „sucht“ sie mit R,hythmus der Derridaschen Reflexion im Moment
dem Thema „heim“, über das er arbeitet und das ihres Ausgesprochenwerdens vernehmen; einen
nunmehr wie ein Photoentwickler wirkt. Davon Rhythmus, der sich deutlich von dem der Schrift
zeugt jener Moment, als Derrida im Seminar die letz unterscheidet, die er andernorts wie ein geduldiger
ten Szenen des Ödpus auf Kolonos im Hinblick auf Goldschmied ziseliert. Es schien uns möglich, zwei
die Idee der dem Tod und den Toten gewährten Sitzungen herauszugreifen, weil in dieser „Enklave“
112 113
r
bereits die ganze Problematik der Gastfreundschaft anderen Worten in die Tatsache, sich zwar in einer
präsent war (wie ein Werk in jedem seiner Fragmente durch die Geburt bestimmten (und ich würde bei
enthalten ist), aber auch die Spanne zwischen über nahe sagen mütterlichen) Beziehung zu befinden,
legter Gewalt und Freundschaft, die diesem Den aber dennoch des Orts, der Bleibe zu entbehren, zu
ken seine Einzigartigkeit, seinen ganz eigenen Ge v ikzeptieren, daß das Denken dem Menschen zu
t
nius verleiht. kommt. Die Betrachtungen Derndas über das Grab,
t
Derrida selbst hat auf die Schwierigkeit hingewie den Namen, das Gedächtnis, den Wahnsinn, der die
sen, das offene Sprechen des Seminars in seinem Sprache heimsucht, über das Exil und die Schwelle
Bezug zur Gastfreundschaft zu vermitteln. „Man sind ebensoviele an diese Frage nach dem Ort adres
müßte das interpretieren, was ich nicht sagen will sierte Winke, die das Subjekt einladen, zu erkennen,
oder kann, das Nicht-Gesagte, das Untersagte, das daß es zuallererst ein Gast(geber) ist.
mit Schweigen Übergangene, das in der Enklave Ein
geschlossene. . .“,betonte er. „Wir stoßen hier er
neut auf die offene Frage des Zusammenhangs zwi [ Bewegungen des Sprechens
schen der Gastfreundschaft und der Frage, das heißt
einer Gastfreundschaft, die mit dem Namen, der Es ist schwierig, etwas von der Genauigkeit eines
Frage nach dem Namen beginnt, oder aber sich ganz Sprechens zu verstehen, ohne den Takt seines
ohne Frage öffnet.. .“ Und weiter: „Man könnte Schritts zu ermessen, das heißt seinen Rhythmus
davon träumen, wie die Lehre von jemandem aus und die Zeit, die das Aussprechen benötigt. „Das
sehen würde, der die Schlüssel zu seinem eigenen r , schrieb
3
Wie der Wahrheit ist genau die Wahrheit“
Wissen nicht besäße, der es sich nicht aneignen wür Kierkegaard. Ich werde also, statt mich der frucht
de. Er würde dem Ort Statt geben, indem er die losen Übung des Kommentars hinzugeben, eher auf
Schlüssel dem Anderen überläßt, um das Wort aus dieses „Wie“ hören, das dem Derndaschen Den
seiner Enklave zu befreien.“ ken zu eigen ist. „Der Philosoph braucht ein zwei
Dieses „dem Ort Statt geben“ (donner heu au heu) tes Gehöt, betonte Nietzsche, in dem Sinne, wie man
ist, wie mir scheint, das Versprechen, das diese Rede die Gabe des zweiten Gesichts besitzt, das heißt er
in der Tat hält. Sie läßt uns die Frage nach dem Ort raucht feinere Ohren.“ Für sein Werk forderte
auch als eine grundsätzliche, grundlegende und Nietzsche eine sensible Wachsamkeit für das Fleisch
ungedachte Frage der Geschichte unserer Kultur der Rede. „0 Mensch, du höherer Mensch, gib acht!
—
vernehmen. Das hieße, ins Exil einzuwilligen, mit diese Rede ist für feine Ohren, für deine Ohren
114 115
4;
116 117
—
von Sokrates bis Kierkegaard das Denken beun den, sodaß die Rede dann von ihrem Lauf abge
ruhigen konnte. Doch kommen wir zum Schrecken lenkt werden kann, damit ein völlig unvorhergese
zurück, den das Betreten eines unbekannten Ortes t hener Dialog entsteht. Ich möchte den Wagemut
in uns auslöst, dessen Fremdheit uns zunächst er (be)grüßen, mit dem eine philosophische Rede uns
starren läßt, bevor wir uns nach und nach an ihn dazu bringt, die geistigen Bastionen, in denen die
gewöhnen. Reicht die erzeugte Angst aus, um uns Vernunft als Herrscherin residiert, zu verlassen,
lebendig zu halten, das heißt diesen Prozeß der Ge wenn das Erstaunen sie für einen Moment lang Gast
wöhnung zu verhindern? Kann man wirklich von sein läßt.
—
Andersheit sprechen und sei es nur eine genannte
oder vernommene —‚ ohne daß das Denken einen
Moment lang von diesem Akt auf die Probe ge Skandierung des Denkens um die Nacht herum,
stellt wird? Nun wird es aber für gewöhnlich nicht die es umfangt. Figuren der Obsession.
im geringsten auf die Probe gestellt. Es denkt „den
Anderen“ (den Gast) auf souveräne Art und Weise Was ist das für eine „Nacht“, vor deren Hintergrund
und geht zur Untersuchung einer anderen Frage eine philosophische Rede sich abhebt? In seinem
über. Bisweilen aber, und L&inas hat das wunder schönen, heimlich publizierten Buch Keteriscbe
bar dargelegt, wird es völlig hilflos. Einer der philo 6 stellte Jan Patoka
Essais zurPbi/osopbie derGescbichte
sophischen Namen für diese Hilflosigkeit heißt Er die Nacht, die hier als eine ontologische Figur zu
staunen. Das Erstaunen aber wendet uns jenem verstehen wäre, den Werten des Tages gegenüber.
Moment zu, in dem das Erschrecken der Gleich Andernorts schreibt er: „Wir müssen das Beunruhi
schaltung des Vertrauten weicht, die der Gewöh gende, Unversöhnte, Rätselhafte in uns wachsen las
nung weitere Durchgangs stellen, weitere Prägungen sen, vor dem das gewöhnliche Leben die Augen ver
erschließt. schließt, worüber es hinweggeht und zur Tagesord
Erstaunen, genau das ist es, was die Rede Derridas 7 In diesem Totalitarismus des den
nung schreitet.“
in uns auslöst. Sie zwingt uns, endlich zu denken Kräften des Tages zugehörigen Wissens erkannte
und uns nicht nur einzubilden, daß wir dächten. Ich Pato&a die Krise der modernen Welt und den Nie
füge hinzu, daß sie im Spiel des Seminars auch das dergang Europas. Von den Werten des Tages aus
Risiko des Anderen auf sich nimmt. Sie akzeptiert gehend zu denken, heißt vom Willen beseelt zu sein,
die Gefahr, mißverstanden, falsch interpretiert, ver das Reale allein zum Zwecke eines quantifizierbaren
göttert, verteufelt oder jäh unterbrochen zu wer- Wissens zu definieren und zu unterwerfen, das von
118 119
den Werten der Technik abhängt. Wenn wir das wußtsein an die Anhäufung eines Sinns band, den
Dunkel von der Helle trennen, werden wir deren es glaubte benutzen zu können. „Dagegen versucht
Verwüstungen unterliegen, sagte Pato&a voraus, Sophokles‘ AnI«one [. . .] uns daran zu erinnern, was
während es doch im Gegenteil notwendig wäre, das Denken Kreons in uns vollständig verdunkelt
unseren Blick bis zur Schwelle dieses Dunkels zu ht Daß der Mensch nicht sich se2‘st gehört, daß sein
lenken. Die Zusammengehörigkeit von Helle und Sinn nicht der Sinn ist, daß der menschliche Sinn am
Nacht zu entziffern, ist meines Erachtens auch ei Ufer der Nacht endet und daß diese Nacht nicht
ner der Wege, die durch die Reflexion Derndas ge nichts ist, sondern zu dem gehört, was im eigentli
bahnt werden. 1
chen Sinne ist.“
Da im Laufe des Seminars auch von Umhenrren Die Nacht ist für Pato&a die „Offenheit für das
den wie Ödipus und Antigone die Rede war, möch 1 Erschütternde“. Sie verlangt von uns, durch die Er
te ich einen Moment lang auf Antigone zurückkom fahrung des Sinnverlusts hindurchzugehen, eine Er
men, so wie Patoka sie interpretiert.
8 fährung, aus der die Authentizität des philosophi
Die mythische Gestalt der Antzgone des Sophokles schen Denkens hervorgeht. Wenn Derrida die Über
fesselt uns, weil sie den Ursprüngen nahe ist. „Zum legungen Pato&as zu seiner Fronterfahrung wäh
Hasse nicht, zur Liebe bin ich“, zitiert Patoka Anti , er
2
rend des Ersten Weltkriegs in Erinnerung ruft‘
gone, doch ist diese Liebe nicht die christliche Liebe, 1?: kennt er darin die äußerste Grenze des Konzepts
sondern „bedeutet Liebe als dem anderen Anteil der Gastfreundschaft. In der Fronterfahrung, so
gehörig, dem Anteil der Nacht, und das ist der An schreibt der tschechische Philosoph, ist der Gegner
teil der Götter.“
9 Was die Konfrontation von Kreon nicht mehr derselbe, er ist „ein Miterleider der Er
und Antigone betrifft, so zeigt Pato&a, daß die von schütterung des Tages. [...] Hier also entsteht das
Kreon repräsentierte Kraft des Gesetzes in Wirklich fr Abgründige des ‚Gebets für den Feind‘, das Phäno
keit der Angst gehorcht, denn „auf ihr ruht seine men der Solidarität der 3Erschütterten.“ Zu sterben,
Polis, als Bereich des Tages.“ Hinter ihrer letzten damit eine Wahrheit des Fragens nach dem Sinn
Maske ist diese Angst die Angst vor dem Tod. „So 1 überlebt, und nicht, um diesem Akt die Arroganz
bestätigt Kreon selbst, ohne es zu wissen, seine An einer Antwort zu verleihen, das bedeutet, der Nacht
gewiesenheit auf das Andere, auf das Gesetz der ihre Realität zurückzugeben; das Gegenteil von
;‚
— —
Nacht. Und dieses Gesetz der Anteil der Nacht Aufgeben.
wird von Antigone verkörpert es ist also vergeblich, In diesem „nächtlichen“ Sinne möchte ich von
ihr mit dem Tode, mit der Nacht zu drohen.“° der Beziehung zwischen der Vernunft und der Ob-
Patoka schreibt bier gegen das an, was unser Be session sprechen, das heißt von der „Offenheit für
120 121
das Erschütternde“. Wenn die Obsession innerhalb hung zum Objekt ab. Es gibt keine Wahrheit außer
des Denkens am Werk ist, oder vielmehr, wenn das de4rjenigen des Talers, der in dem bekannten Abzähl
Denken Kraft genug hat, um sich von ihr bearbeiten reim den Kreis durchwandert, es ist ihre Bewegung,
zu lassen, macht sie das Denken in derselben Weise di sie verrät, und ihre Spur, die sie benennt. Es
kreativ, in der ein Kunstwerk eine bislang unbekann geht weniger darum, zu definieren, zu erklären, zu
te Antwort auf die es umfangende Materie gibt. Die verstehen, als vielmehr darum, sich mit dem Denk-
Nacht ist das, von dem aus zur Sprache kommen gegenstand zu messen, indem man in dieser Kon
kann, „was heimsucht (obsde)“. frontation jenes Territorium entdeckt, in das die
Wenn eine Rede dem Anteil der „Nacht“ angehört, Frage sich einschreibt, ihre Richtigkeit.
dann läßt sie uns die Worte anders vernehmen. Vom Deshalb kehren in Derridas Sprache die „Grenze“,
„Nahen“, „Exilierten“, „Fremden“, vom „Besu die „Schwelle“, der „Schritt über diese Schwelle“
cher“, vom „Beim-Anderen-Zuhause“ zu sprechen, immer wieder, als ob die Unmöglichkeit der Abgren
verhindert, daß sich Konzepte wie „das Ich und dei zung eines stabilen Territoriums, in dem sich das
Andere“ oder „Subjekt und Objekt“ unter einem Denken etablieren könnte, eine Provokation des
fortwährend dualistischen Gesetz präsentieren. Denkens selbst wäre. Er fragt sich: „Muß man, um
Derrida macht uns begreiflich, daß der Gegensatz Gastfreundschaft zu gewähren, von einer gesicher
zum Nahen nicht das Anderswo ist, sondern eine ten Bleibe ausgehen oder erschließt sich die wahre
andere Figur des Nahen. Und diese Geographie Gastfreundschaft nur ausgehend von der Auflösung
führt, meiner Ansicht nach, das ganze Seminar hin des Ortes (dislocation) im Obdachlosen, im fehlen
durch zur Enthüllung, daß die Frage „wo?“ die Frage den Zuhause? Vielleicht kann nur derjenige Gast
nach dem Menschen ist. Eine Frage, die mit der Fra freundschaft gewähren, der die Erfahrung auf sich
ge der Sphinx gemeinsam hat, daß sie sich an einen ni.tnmt, des Hauses beraubt zu sein.“
umherwandernden Menschen richtet, dessen eigener „Wo“, das besagt, daß die erste Frage nicht die
Ort ausschließlich darin besteht, auf dem Weg zu näch dem Subjekt als „pse“ ist, sondern, grundsätzli
sein, der auf einen Bestimmungsort ausgerichtet ist, cher und radikaler, die nach der Bewegung der Frage
der ihm unbekannt ist, dessen Schatten ihm aber 4
sdlbst, von der das Subjekt seinen Ausgang nimmt.
vorausgeht. Diese Frage bringt die Unmöglichkeit zum Aus
Die Frage „wo“ ist alterslos, transitiv, sie kenn druck, ein bestimmtes Terrain für sich zu besitzen,
zeichnet die Beziehung zum Ort, zur Bleibe, zur denn die Frage kehrt zu dem Ort zurück, den man
Ortlosigkeit als essentiell und lehnt in ebendieser für den gesicherten Ausgangspunkt hielt, um von
Funktion das Denken in seiner erfassenden Bezie dort aus zu sprechen zu beginnen. Sie stellt die Frage
122 123
nach dem Anfang oder vielmehr nach der Unmög anderen Zwecken als den ihren dient. Es scheint so,
lichkeit des Anfangs, eines unbestrittenen ersten Ur als würde heute das bunte Durcheinander von We
sprungs, dem der logos einbeschrieben wäre. sentlichem und Unwesentlichem für unsere Gesell
- -
schaft und sei sie demokratisch eine unerträgliche
Ein gewisses Umherirren kann aber auch Schwin
del auslösen, als ob die Tatsache, sich (via Internet Gefahr darstellen. Als müßte alles mit mindestens
und anderer Teletechnologien) von den materiellen einer Ethik zu rechtfertigen sein. Als würde für eine
Wurzeln abzuschneiden, oder —
anders bzw mit Gesellschaft, die sich der Quantifizierung des Nütz
—‚
Derridas Worten ausgedrückt „den Abstand, der lichen und Effizienten widmet, die größte Gefahr
uns von der Schwelle trennt, nicht mehr überwinden im Nutzlosen, Ziellosen, in der absoluten Willkür
zu brauchen“, uns einen Sinnaufschub aufzwingen lichkeit bestehen, und als würde mit der Weigerung,
würde. Denn der gegenwärtige Irrlauf kann ein sub die Willkürlichkeit, das „für nichts“ zu rechtfertigen,
tiler Köder sein. Es handelt sich um einen Irrlauf, das ganze Gebäude der Werte der Effizienz demas
der uns in Wirklichkeit zu brutalen und wilden Zu- kiert. Daher ist die von Derrida von Anfang an ein
—
weisungen verurteilt, in denen wie Derrida be geführte Unterscheidung zwischen dem Gesetz der
—
tont die Rückkehr der Nationalismen und Funda unbedingten Gastfreundschaft und den Gesetzen der
mentalismen in ihren blutigsten Formen in Erschei Gastfreundschaft wesentlich. Denn die unbedingte
nung tritt. Gastfreundschaft stellt für eine Gesellschaft, die in
Nun kann aber Gastfreundschaft nur hier und der Transparenz ein Mittel gefunden hat, die Macht
heute, an irgendeinem Ort, gewährt werden. Die durch Fragmentierung der Verantwortung zu totali
Gastfreundschaft erweist diese schwierige, ambiva sieren, eine Bedrohung dar. Dennoch muß dieses
lente Beziehung zum Ort als in ihrer „Nacht“ unge Gesetz der Gastfreundschaft weiterhin gedacht
dacht. Als ob der.Ort, um den es in der Gastfreund werden, und zwar als eine Magnetisierung (aimanta—
schaft geht, ein Ort wäre, der ursprünglich weder tion), die die Seelenruhe der Gesetze der Gastfreund
zum Gastgeber noch zum Gast gehörte, sondern schaft „in Frage stellt“.
zu einer Geste, durch die der eine den anderen emp Auf diese Weise zu gestatten, daß es offene Orte
—
fangt sogar und vor allem dann, wenn er selbst gibt, die der „Nutzlosigkeit“ der philosophischen
ohne Bleibe ist, von der aus dieser Empfang ge Rede einen Platz einräumen, stellt bereits eine politi
dacht werden könnte. sche Geste dar, die symbolisch einen Raum schützt,
Das ist eine andere Art und Weise, die subtilen indem das Wesentliche gesagt werden und hervor
Formen anzuzeigen, in denen die Ethik schließlich treten kann.
124 125
.
‘,[. .j Und die Frage, die der Fremde an sie richten einer Macht, die ihnen von anderen verliehen wurde,
wird, um diese große Debatte (dibaz‘) zu eröffnen, um sie zu repräsentieren, einen ökonomischen Pro
die auch ein großer Kampf (combaz) sein wird, wird zeß einleiten, vollenden oder aussetzen können, in
keine geringere als die Frage des Politikers sein, die dem sie ihn auf andere, nicht-quantifizierbare Werte
Frage nach dem Menschen als einem politischen We beziehen. Hat aber die politische Utopie im 20. Jahr
4 Die
sen“, sagte Dernda zu Beginn des Seminars.‘ hundert nicht genug Unheil angerichtet, um sich
Frage nach dem Politiker erscheint hier als eine Fra nunmehr vor ihr in Acht zu nehmen?! In der Tat
ge, die vom Anderen, vom Fremden her kommt. hat sich die Utopie, indem sie sich in Ideologie ver
Wenngleich der Politiker eine der prinzipiellen philo wandelte, eine Sprache gegeben, die sie an die uner
sophischen Fragen darstellt, die bereits von den er bittliche Logik der ökonomischen „efficieny“ band,
sten Platonischen Dialogen an am Werk ist, so ist die sie zu bekämpfen vorgab. Indem sich die Uto
die Frage in der Weise, wie Derrida sie diesem Semi pien, vom Marxismus bis zum Faschismus, in die
nar einschreibt, dennoch völlig neu, weil sie uns vom Realität eines Ortes, eines Landes, einer Macht einge
Ort des Anderen, vom wiederholten, beharrlichen schrieben haben, sind sie genau dort zusammenge
Einbruch seiner Frage aus zugestellt wird. Von dem bochen, wo sie sich in der Sehnsucht nach einer
aus, was uns in ihr zur Antwort vorlädt. Zu antwor zeitlosen Festigkeit konstituiert hatten, die über die
‚4 Mittel ihrer Verwirklichung verfügen würde. Das
ten, wie man im Duell für sein Wort einsteht, denn
es handelt sich ja um einen Kampf. Ich verstehe Politische hat sich vor unseren Augen in die subtilen
diese Frage, die der Fremde an uns richtet, als eine Fäden des neuen ökonomischen Werts der Effizienz
„Utopie“ im Sinne des griechischen Wortes topos (der aufgelöst und nut ihm alle Spuren und Prägungen
Ort). Die Utopie, dieses von Thomas Morus pro ausgelöscht.
Wäre es — ausgehend von der radikalen Unver
phetisch gedachte „Nirgendwo“, wäre heute das
„Außerhalb-des-Ortes“, von wo aus uns eine Frage trautheit der Sprache und des Todes in der Fremde,
—‚
zugestellt wird. Nun wirkt aber die Darstellung des wie Dernda oder Lvinas sie denken heute nicht
Menschen als ein politisches Wesen heute insofern angebracht, in der politischen Utopie eine „Ortlosig
unerhört, als unsere Kultur auf dem besten Wege keit“ zu vernehmen, die die Möglichkeit des mensch
zu sein scheint, das Politische als einen Bühneneffekt lichen „Gemeinwesens“ eröffnet? Daß diese „Uto
—
beiseite zu schieben ich sage nicht: die politische 4 pie“ für uns heute unhörbar ist, weil sie vom Ande
Reflexion, sondern den das Politische selbst konsti ren, diesem unerwarteten und stets beunruhigenden
—
tuierenden Akt, der von Anfang an der einzige Akt Gast her hereinbricht, ist eines der „Gespenster“
—
5 unseres Fin dc sicle.
im Derridaschen Sinne‘
ist, durch den eine oder mehrere Personen aufgrund
126 127
Wenn im Hebräischen „Zeit schaffen“ gleichbe legten Seminaxsitzungen entnehme, um dem Leser
deutend ist mit „einladen“, worin besteht dann diese den suspense der philosophischen Erzählung zu las
seltsam-befremdliche Intelligenz der Sprache, die do sen. Das erste Beispiel handelt vom Wahnsinn, das
kumentiert, daß man, um Zeit zu schaffen, zu zweit zweite vom Gespenst.
sein muß, oder vielmehr, daß es einen Anderen
braucht, einen ursprünglichen Einbruch des Ande Dernda gibt zunächst der Erfahrung des „immer“
ren? Die Zukunft ist als das gegeben, was uns vom als Treue gegenüber dem Anderen und sich selbst
Anderen her zukommt, von dem her, was absolut in‘ der Sprache statt. „Welche Formen das Exil auch
überrascht. Die Sprache hebt also die Distanz zwi annehmen mag“, so sagt er, ‚ 1
die Sprache ist das,
schen mir und dem Anderen nicht auf; sondern höhlt was man bei sich behält.“
sie aus. Ebendies läßt den Raum des Politischen von Er zitiert Hannah Arendt, die auf die Frage eines
innen her als Erlösung von einer Unmenschlichkeit Journalisten, warum sie trotz des Nazismus der deut
wirken, die stets bereit ist, sich um ihre Obsessionen 4 schen Sprache treu geblieben sei, folgende Antwort
herum abzuschließen. Die Ermordung des anderen gab: „Was soll man denn machen? Es ist ja nicht die
Menschen ist die Unmöglichkeit für ihn, „ich bin“ deutsche Sprache gewesen, die verrückt geworden
zu sagen, insofern als dieses „ich bin“ ein „hier sieh ist.“ Und sie fügte hinzu: „Es gibt keinen Ersatz für
mich“ ist (Levinas), und zwar „das ‚hier sieh mich‘ die 16
.
Muttersprache“
des Gastes, der auftaucht und traumatisiert“, wie
Derrida den Gedanken aufnimmt
.] als hätte Hannah Arendt sich nicht vorstellen
können, daß der Wahnsinn die Sprache heimsuchen
könnte“, bemerkt Derrida. Ein Erstaunen oder eine
Art Überraschung, die bereits einen ersten Grenz
Hyperbeln gang (passage d limite) vollzieht.
Er ist in der Tat erstaunt, daß Hannah Arendt sich
Zum Schluß möchte ich nun noch versuchen, die nicht vorstellen kann, daß die Sprache, das Intimste,
Dernda eigene Art und Weise zu beleuchten, einen aber auch Allgemeinste, was wir haben, daß eine
oder mehrere Begriffe „bis an die Grenze zu füh Sprache, die unsere Beziehung zum Anderen und
ren“. Um diese Hyperbeln zu erkennen, werde ich zur Welt steuert, und deren Gesetz uns der Roheit
seine Rede bisweilen beinahe Wort für Wort transkri eines gewissen Schweigens entreißt, daß also diese
bieren müssen. Ich werde zwei Beispiele aufgreifen, Sprache eine Komplizin der Barbarei sein könne.
die ich absichtlich nicht den in diesem Band vorge „Als ob das zerbrechliche Gebäude der Arendtschen
128
129
Antwort angesichts des absolut Bösen die Möglich it Welt in Schrecken verwandeln kann; einer Mutter,
keit einer Erlösung bewahren wollte“, fahrt Derrida die unverzüglich dem Wahnsinn anheimfallen kann.
fort, indem er uns zu dem hinführt, was Arendt nicht Aus dem Vertrautesten heraus entsteht plötzlich die
sagt. Und er tut dies, indem er „die deutsche Spra Beunruhigung, daß die durch die Mutter gegebene
che“ in Richtung der Mutter Sprache (langue mre) Welt auf erschütternde und beinahe undenkbare Art
zuspitzt und das Adjektiv „verrückt“ auf die Seite und Weise durch ein unvernünftiges Universum er
der völligen Verrücktheit, des Wahnsinns mit all sei setzt wird.
nen Schrecken und Verblendungen zieht. Er zeigt „Wir müssen in den Gestaden dieses unkontrol
uns, daß Arendt genau dort Zweifel sät, wo sie sich lierbaren Ausbruchs gegenüber dem Allernächsten
Gewißheit verschaffen möchte, so wie die Vernei das Wesen des Wahnsinns mit dem Wesen der Gast
nung genau dasjenige hervorhebt, dessen Spur sie freundschaft vergleichen.“
auslöschen wilL Denn Derrida lauscht in beinahe Anschließend vollzieht Derrida einen weiteren
analytischer Manier, wenn er die nächtliche Flanke Grenzgang, als er vom mütterlichen Wahnsinn sagt,
aufdeckt, die den rätselhaften Ort der Frage trägt. daß er uns etwas vom Wesen des Wabnsinns erahnen
Nachdem dieser Grenzgang einmal vollzogen ist, läßt. Er läßt uns die Mutter Sprache als Metapher
betrachtet Derrida die Neuheit des Territoriums, das für das „Beim-Andern-Zuhause“ (cbe-soi cbe l‘autre)
—
sich ihm darbietet; die Sprache, die als Ort der Ver denken ein ortloser Ort, der sich der Gastfreund
—‚
rücktheit selbst erschien. schaft öffnet die als solche einen Wink bezüglich
„Es gibt eine Verrücktheit der Beziehung zur Mut des W7esens der Gasfreundscbaft gibt.
ter, die uns in die Rätselhaftigkeit des Zuhauses ein Diese Grenzgänge machen die Kontarnination der
führt. Die Verrücktheit der Mutter bedroht das Zu Gastfreundschaft im „unkontrollierbaren Ausbruch
hause. Die Mutter als einzig und unersetzbar, als gegenüber dem Allernächsten“ für uns lesbar, wenn
Ort der Sprache, ist das, was die Verrücktheit mög die Nähe durch den Einbruch einer Gewalt ersetzt
lich macht, als diese immer offene Möglichkeit der wird, die beim Wahnsinn des Mütterlichen Anleihen
Verrücktheit.“ nimmt. Dernda bemerkt, wie eine „intime“ Gewalt
Die geheime, intime Realität der Sprache, die gleicher Art auch in Ereignissen wie Geiselkriegen
Arendt verteidigte, diese Muttersprache, die sie als oder an Zivilisten verübten Terrorakten in Erschei
„unersetzbar“ bezeichnete, birgt Unvernunft, Trau nung tritt, doch geht er hier vor allem der Frage
mata, Haß in sich. Sie ist das Ebenbild der „einzigen nach, wie die Gastfreundschaft (hospilal.iti) ausge
und unersetzbaren“ Mutter, beharrt Derrida, dieser hend von der immer möglichen Pervertierung des
Mutter, in der sich die nahe, begehrende, liebende Geseftes in Feindschaft (bostilit6) umschlägt.
130 131
[
„Die Verrücktheit der Mutter Sprache“, so sagt Später, wenn er die unauflösbare Verbindung zwi
er, „bringt uns auf die Spur einer Mutter, die vom schen dem Mütterlichen und dem Tod untersucht,
Ort eines Außerhalb-des-Gesetzes her das Gesetz wird Derrida auf diese Beziehung zwischen der
vorgibt.“
7 Mütterliche Instanz, die Derrida in die Verrücktheit, der Mutter und der Sprache zurück
Nähe des Ödipus rückt, „der es versteht, von einer kommen. Kann man seine eigene Sprache, weil sie
vor seinen Töchtern geheimgehakenen Grab stätte k Verrat übte, vergessen wie man seine Toten vergißt?
aus mit Hilfe des dem Theseus anvertrauten Ge Wir müssen uns fragen, „was beim Tod des Fremden
heimnisses das Gesetz vorzugeben“. „Vielleicht geschieht, dann, wenn der Umherwandernde in
befiehlt uns das Gesetz der reinen Gastfreundschaft fremder Erde ruht. Allen ‚diiplacedpersons‘, Exilierten,
als Gerechtigkeit, die Gastfreundschaft über die Deportierten, Vertriebenen, Entwurzelten, Noma
Familie hinaus zu öffnen?“, fragt er. Die Familie (und den sind zwei Seufzer, zwei wehmütige Erinnerun
sämtliche Strukturen, in denen sie sich fortsetzt: die 9
gen gemeinsam: ihre Toten und ihre Sprache.“
bürgerliche Gesellschaft, der Staat, die Nation) zu So stark ist dieser Ausdruck des nomadisieren
rückzuweisen, heißt aber, die reine Gastfreundschaft , dessen, was uns Derrida als die Zer
20
den Todes
in ihrer Unmöglichkeit zu bestätigen. Man muß sie brechlichkeit des Bandes zeigt, das das Intime und
also von diesem Paradox her denken. Und er das Ephemere der Subjektivität (die angeborene
schließt: „Das wäre, in Europa, der Raum aller Sprache) mit dem Lesbarsten, Manipulierbarsten,
Kämpfe, die zu führen sind“. Ausgehöhkesten der Beerdigung (dem Leichnam)
In diesem letzten Grenzgang legt uns Dernda verbindet. Der Tote, der uns nicht mehr gehört, der
nicht nur die Problematik des Gesetzes und seiner weder sich selbst noch irgend jemandem gehört, der
Pervertierbarkeit vor, sondern auch das, was die aber in unseren Kulturen zu allen Zeiten vermut
Beziehung zur Sprache im Denken gebiert, insofern lich eifersüchtiger behütet wurde als irgendein Le
sie eine universelle Struktur beschreibt. Als er ver bender, der Tote also ermöglicht den Akt der Profa
schiedene Schriftsteller und Denker nennt, für die nierung. Der Profanierung, die ein Verbrechen ist,
„die Sprache eine errungene und keine mütterliche das sich an die Adresse der Überlebenden, ihres Ge
Vertrautheit“ war, zitiert Derrida den schönen Satz dächtnisses und der unlösbaren Verbindung richtet,
von L&inas, „daß das Wesen der Sprache Freund die dieses Gedächtnis zu seinen Toten unterhält.
8
schaft und Gastlichkeit ist“
, und fügt hinzu: „Der Doch heute wird die Intimität dieses Geheimnisses,
von Arendt verteidigten Heiligkeit des Bodens als das Ödipus nur dem Theseus enthüllen und seinen
radikalem Sinnstifter stellen Lvinas oder Rosen- Töchtern vorenthalten möchte, auf den Marktplatz
Zweig die Heiligkeit des Gesetzes gegenüber.“ hinausposaunt. In unserer Gesellschaft mit ihrer ob-
132 133
sessiven Seßhaftigkeit und Fixiertheit, die aber von Bleibe entferntes Exil verbannt und von der Ärzte-
Tag zu Tag starkere Nomadisierungstendenzen zeigt schaft konfisziert werden, verbirgt sich eine Leug
— wie um die Unvorhersehbarkeit des Lebendigen, nung des Übergangs. Wir werden dessen beraubt,
die jeder von uns in sich trägt, besser „mimen“ zu was uns eben nicht gehört, denn hier ist der Ort der
können —‚ in unserer Gesellschaft also werden die höchsten Gefahr. Was wir nicht besitzen und wo
Zeiten und Orte der Metaxnorphose als potentiell von wir besessen sind, ist vielleicht ein und dasselbe,
gefährlich wahrgenommen, sie bilden jene Furten, viele von denen, die schöpferisch tätig sind, medli
an denen die plötzlichsten Umkehrungen stattfin tieren oder Kinder erwarten, rssen das.
den können, ich meine die Geburt und die „Stunde Derrida lädt uns ein, Schwellen zu überschreiten:
des Todes“, wie Blanchot sie nannte. Die Verführung von der Muttersprache zum Exil, von einem umher-
(und wissenschaftliche Gültigkeit) der Technologien, irrenden Tod wie dem des Ödipus zum Eid über
die sich der Elirnierung des Leidens und der Ver di Geheimhaltung eines Grabs.
—
besserung des Daseins verschreiben, ist dieselbe wie Und als er auf den Eid zu sprechen kommt „Was
die, die heute zum Beispiel sämtliche Etappen einer is; ein Eid? Trägt er nicht notwendigerweise die Mög
—‚ nimmt er uns
Schwangerschaft begleitet, auf die Gefahr hin, aus lichkeit des Eidbruchs in sich?“
& auf einen anderen Grenzgang mit, der darin besteht,
dem Uterus einen vollständig „veröffentlichten“, für
alle Untersuchungen offenen Raum zu machen, ei eben jenen exakten Moment zu denken, an dem ein
nen „allgemeinen Platz/Gemeinpiatz“ (liei commun), Ereignis wie ein Versprechen oder ein Eid sich um-
um den die Medizin sich kümmert. Für den Tod gilt kehrt oder zerschlägt, wobei es aber dennoch irgend
dasselbe: Bei sich zu Hause zu sterben, wird derart etwas vom Wesen dessen bewahrt, worin es bestan
unzulässig, daß man schwere Verstöße gegen die den hatte.
medizinische Verantwortung in Kauf nehmen muß, „Der liebste Fremde oder Gast, der liebste Theseus,
wenn man mit dem Sterbenden allein bleiben möch an den sich Ödipus auf diese Weise im Moment
—
te, ohne weitere „Zeugen“ als seine Angehörigen. seines letzten Willens wendet in dem Augenblick,
ich betrachte dies nicht von einem ethischen Stand d er ihm diese doppeldeutige Mahnung und Fest
punkt aus, sondern von dem einer seltsamen Topo legung seiner Bleibe, die vertrauliche Mitteilung vom
—‚ der so er
logie oder Topographie, die die intimsten, geheim Geheimnis seiner Krypta anvertraut
sten Momente des Daseins aus dem „Zuhause“ ver wählte Gast also ist eine Geisel, die durch einen Eid
treibt. In der Zurückweisung des Todes und der gebunden ist. Aber nicht etwa durch einen Eid, den
Geburt, die beide in ein weit von der Wohnung oder er spontan geleistet hätte, sondern durch einen Eid,
134 135
in dem er sich as,ymmetrisch gebunden fand. Dem
Gott verpflichtet, durch das einfache Wort des Ödi
1; in ihrer Möglichkeit, die Dimension des Verspre
chens und des Eides zu eröffnen, derart beschädigt
pus festgelegt“
.
21 wurde? Mit dem Nazismus wurde ein ganzes Volk,
Die Krypta erinnert an die versiegelten Gewölbe wurden ganze Nationen und Abertausende von Indi
(voz3tes) der Verzauberung (envol1emenl). Dort, wo viduen von einer Sprache „verzaubert“, deren Ziel
der Zauber (enchantemern) die Erzählung in Gesang es war, die Sprache selbst zu entstellen. Der Depor
.1
(cham‘) verwandelt, gleicht die Verzauberung dem tierte konnte diese Sprache nicht mehr sprechen,
Verschließen in einem Grab. Während zu Beginn man überzeugte ihn, von selbst und im Voraus auf
des 17. Jahrhunderts die Welt entzaubert wurde, sie zu verzichten, da er aller Menschlichkeit beraubt
indem sie sich unter all den Zeichen verloren fühlte war. Nun ist aber die Sprache die einzige menschliche
wie Don Quijote in einem Universum, das er nicht Eigenschaft, die durch nichts anderes als durch sich
mehr zu entziffern vermochte, kam es im 20. Jahr selbst entstellt werden kann— man schwört Meineide,
hundert in einem vielleicht noch radikaleren Sinne indem man spricht—, und sie ist tatsächlich von innen
zu einer Entzauberung der Sprache. Ödipus läßt her entstellt worden, von einer Rationalisierung aus
Theseus einen Eid ablegen. Ist aber seit der Shoah gehend, die sich zu einer unvorstellbaren Perversion
ein Eid überhaupt noch möglich? Zum erstenmal entwickelte. Keine Barbarei, kein Gewakausbruch,
hat die Sprache (parole) nicht nur dazu gedient, die kein noch so radikaler Terrorakt hatte die radikale
Auslöschung eines Volkes rational zu begründen, Lüge der Sprache selbst am Beginn systematisiert.
sondern dazu, den Sinn des Eides, des dem Anderen Ich betrachte die phänomenale Entwicklung des
gegebenen Worts (parole donrn!e), zu zerstören, den Bildes und der Medien als Nachwirkung des gebro
Sinn dessen, was dieses Wort in der menschlichen chenen Pakts mit der Sprache. „A disbe/.ief‘, wie die
Sprache an Heiligem trägt. Über diesen undenkbaren Engländer sagen, der die Wurzeln unserer Beziehung
Moment der Geschichte ist alles gesagt, geschrieben 1 zur Sprache und gleichzeitig auch zum Anderen be
und bezeugt worden. Wir wollen hier nicht auf das trifft, diesem Dritten, der bislang Garant des Ver
Trauma des Krieges zurückkommen, sondern zu sprechens war, das dem Mitmenschen, dem Näch
verstehen versuchen, warum die radikale Entzaube sten im Eid gegeben wurde, in dieser wiederholten
rung, die er bewirkte, etwas in unserer Menschlich Anrede, die ich als Subjekt ausspreche und empfange.
keit beschädigte (und das vielleicht für immer), in Indem die Technik die durch die Abwesenheit des
dem, was uns dem Anderen „verspricht“. War dies großen Anderen (niemand ist da, um für den Anderen
nicht das erstemal im Abendland, daß die Sprache die Verantwortung zu übernehmen, auch nicht für
136 137
.4
mich, sondern wir begründen uns beide in dieser ohne Grenzen, absolut verboten, denn ihre Ge
Beziehung zum Dritten: Sprache, Ethik, Transzen schichte, Identität und Schulden werden sie verfol
denz strukturierte Beziehung zur Welt) verwandelt, gen und ebenso gewiß einholen wie auf einem glä
eröffnet sie die Möglichkeit einer Simulation des R.ea serflen Schachbrett.
len. Die in unendlichen Spiegeispielen wiederholte
Logik des Selben. Wenn Verzauberung (envoi2tement) Diese Überlegungen stellen die Frage nach dem Exil,
die Einschließung in ein Gewölbe (voi2te) bedeutet, das notwendig ist, damit „das Selbsj als ein Anderer“
dort, wohin die größte Schwerkraft den Körper werde, um den schönen Ausdruck Paul Ricurs
hinabzieht, so scheinen wir uns heute wirklich da aufzugreifen. Nur, was wird aus einem Denken,
von zu befreien. Die Kommunikation, die Informa wenn es von Anfang an von seinen Wurzeln abge
tik, die Entmaterialisierung aller Austausche deuten schnitten ist, ohne daß es eine Sinn-Übermittlung
auf eine neue Fluidität des Realen hin, das sich auf gäbe? Und was wird aus dem Menschen, wenn man
den ersten Blick von seiner Schwerkraft gelöst hat. ihm nicht Dinge oder sein Haus, sondern genau das
Nun gibt es aber in diesem Schein ein Ins-Gewölbe- raubt, was ihn mit der Innerlichkeit verbindet? Wenn,
einschließen (envaütement), ein In-der-Krypta wie Derrida denkt, Grab und Sprache untrennbar
verschließen (enyptement). Ich glaube, daß wir bis miteinander verbunden sind, weil wir sowohl unsere
lang noch nie so plump materiell waren, so sehr der Worte (mots), als auch unsere Toten (morts) stets mit
—
Gnade des Objekts ausgeliefert sei es nun sichtbar uns tragen, was wird dann aus den Gräbern, wenn
—‚
oder greifbar so sehr im Morast des Realen festge man sie Richtung Klinik verschiebt, wenn man die
fahren. Wir flüchten uns nur deshalb in die Netze Geburt und den Tod, geheime und unveräußerliche
des Web, um in einen dort gegebenen Ort und eine Räume des Schmerzes und des Friedens, aus dem
dort eingeschriebene Zeit eingebunden zu sein. Ich „Zuhause“ verbannt? So viele Fragen, die die besag
möchte als Beweis auch das Schicksal der Nomaden- ten Grenzgange aufwerfen.
völker und alles Nomadisierens überhaupt anführen. Diese Grenzgänge oder vielmehr diese hyperboli
Nomadenvölker und nomadisierende Populationen schen Gänge über die Grenzen hinaus lehren uns
gibt es heute nur mehr kriegsbedingt, wenn sie ins ebensoviel wie das Denken selbst. Sie bescheren uns
Exil gezwungen werden. Daß hingegen ein Indivi die Ergriffenheit des Entdeckens. Dort, wo der ge
duum, eine Familie oder ein Clan von sich aus das schriebene Text die Zäsuren und Dissonanzen des
Land, die Gesetze oder Gebräuche wechseln möch Diskurses aufhebt, um den kontinuierlichen Verlauf
te, das ist heute, an der Schwelle zu einem Europa seiner Grundlage ans Licht zu bringen, stellt die
138 139
gesprochene Rede sie heraus. Wir bewohnen einen und zwar nach genau festgelegten Ritualen.“ In der
Text nicht in der Weise, wie wir von der Rede um Tat geht die Gastfreundschaft einer Katze gegen
hüllt werden. Wenn Derr.ida in einem Seminar von über einem Vogel in der Regel ziemlich schlecht aus,
einer Evidenz ausgeht, wie sie im bereist zitierten 25
außer in einer Skulptur Giacornettis.
Satz Hannah Arendts zum Ausdruck kommt: „Es Zu sagen, der Mensch könne nur einem anderen
ist ja nicht die deutsche Sprache gewesen, die ver Menschen, einem anderen Mann, einer anderen Frau
rückt geworden ist“, dann tut er dies, um diesen oder einem anderen Kind Gastfreundschaft gewäh
Boden sogleich ins Rutschen zu bringen, seine ruhige ren, bedeutet also, aus ihm eine Tiergattung wie jede
Evidenz aufzulösen. Dabei regt er uns an, Schritt andere zu machen. „Besteht aber das Eigentümliche
für Schritt die auf eine souverane Vernunft einge des Menschen nicht im Gegenteil darin“, so schlägt
schworene Welt zu verlassen, wie Kierkegaard es Dernda vor, „daß er auch Tieren, Pflanzen.. und
tat, als er zum Beispiel in Furcht und Zittern das Para Göttern Gastfreundschaft gewähren kann?“
dox des Mordes als Akt des Glaubens herausstell Die Hyperbel tritt zunächst stets als Frage auf.
te.
24 Im Zusammenhang mit der „Dekonstruktion“, Sie erweitert die Grenzen des Bereichs des Denkba
an die Derrida uns gewöhnt, vergißt man bisweilen ren, betritt unheimliche Gegenden, die sie inmitten
jenes beharrliche Bohren, das die beunruhigende eines Territoriums plaziert, das man für vertraut
Fremdheit des Unheimlichen inmitten des Vertrau hielt. Sie erweckt Fragen, die dem Vergessen anheim
testen aufstöbert, dort, wo „man das gar nicht merkt“. gefallen oder verheimlicht worden waren, zu neu
em Leben, wie zum Beispiel in folgender Berner
kung „Wenn man der Gastfreundschaft gegenüber
Im letzten Beispiel für Grenzgänge, das ich anfüh dem Tier nicht stattgibt, dann schließt man auch
ren möchte, klingt die Evidenz, von der Derrida (den) Gott aus.“
ausgeht, beinahe liicherlich. Sie lautet: „Der Mensch Dieser beinahe sibyllinsche Satz Derndas wirft
gewährt nur dem Menschen Gastfreundschaft.“ In nicht nur das gewaltige Problem der Beziehung zwi
der Tat, wie befremdlich wäre es, wenn man hingin schen dem Profanen und dem Heiligen auf, son
ge und einem Tier oder gar einer Pflanze Gas t dern unterstellt auch, daß es zwischen dem Wesen
freundschaft gewährte! Seien wir unbesorgt, Gast des Tiers und dem Wesen des Göttlichen womöglich
freundschaft ist wirklich ein Merkmal des Menschen. unbekannte Korrespondenzen gibt. Wenn wir die
Derrida aber dreht das Argument sogleich um: Spuren der totemistischen Zivilisationen ausgelöscht
„Es ist das Tier, von dem man sagen kann, daß es haben, müssen wir da den Ort einer möglichen
nur seiner ezgenen Gattung Gastfreundschaft gewährt, Gastfreundschaft gegenüber dem Tier nicht diesem
140 141
Vergessen entreißen, schon aus Angst davor, daß Hier wird es die Hand des Todes sein“, fährt Derrida
uns das Göttliche seinerseits verläßt? fort. Das Dreieck, das er nun zwischen der Hilfe,
„In einigen Ländern ist der Fremde, den man em der Heirat und dem Tod errichtet, schreibt die Frage
pfängt, für einen Tag der Gott.“ Und Derrida fügt der Gastfreundschaft eben jenem Ernst ein, den man
hinzu: „Man muß aber weiter gehen und auch die ihr für gewöhnlich verweigert die Gastfreundschaft
Gastfreundschaft gegenüber dem Tod denken. Es unter der Bedrohung der Endlichkeit und der Liebe
gibt keine Gastfreundschaft ohne Erinnerung. Nun zu denken.
wäre aber eine Erinnerung, die sich nicht des Ver Er bringt, wie mir scheint, auch die disseminative
storbenen und des Sterblichen erinnern würde, keine Logik des Todes zum Vorschein. Dez Tod nimmt
Erinnerung. Was wäre eine Gastfreundschaft, die mit sich, was er berührt, er „besucht“ eben nicht.
nicht bereit wäre, dem Toten, dem Wiedergänger Die Gastfreundschaft, die von ihm erwidert/zurück
gewährt zu werden?“ gegeben wird, ist definitiv und für immer. Es ist wie
„Der Tote, der uns besucht/heimsucht, ist das Ge Orpheus auf der Suche nach Eurydike; als er sie
spenst (specre).“ Derrida nähert sich der Frage nach dem Tod entreißen will, wird er selbst mitge
der Gastfreundschaft gegenüber dem Tod, indem nommen.
er die letzte Szene des Don Juan einer erneuten Lek Derrida geht noch einen Schritt weiter: „Eben
türe unterzieht, jene Szene, in der DonJuan vor dem dieser Logik der erwiderten Einladung, der Rück
6 Der Komtur
Grabmal des Komturs herumprahk? gabe, der Übergabe, ist die Logik der Enklave einge
wird der Einladung Don Juans nachkommen, „doch schrieben.“ Das heißt die Logik eines Ortes, der
nur, um ihn seinerseits zu sich einzuladen“, unter seiner Souveränität verlustig ging. Eines gespaltenen,
streicht Derrida. „Eine Herausforderung wird mit geteilten Ortes, eines Ortes, an dem es spukt. „Ein
einer Herausforderung beantwortet; Gabe des To Spukort“, so Derrida weiter, „ist ein Ort ohne
des gegen Gabe des Todes.“ Gespenst. Das Gespenst sucht einen Ort heim, der
Das Gespenst erscheint in Gestalt einer verschlei ohne es existiert; es kehrt dorthin zurück, wo man
erten Frau: „Ich möchte wissen, wer das ist.. .“,
fragt es ausgeschlossen hat.“
Don Juan, bereit, für das Wissen den Tod zu riskie Auf diese Weise kehren die Überlegungen
ren. „Don Juan ist wie Hamlet jemand, der sich nicht Derridas noch einmal zur Frage des Ortes als jener
drankriegen läßt“, merkt Derrida ironisch an. nicht-übernommenen Beziehung zum Sterblichen
„Gib mir deine Hand!“, fordert ihn der Komtur zurück, die uns vom Ungedachten dieser Ausschlie
heraus. „Die erbetene, gegebene Hand symbolisiert ßung her heimsucht. Weitab von jenen Archipelen,
üblicherweise eine Hilfeleistung oder eine Heirat. wo die Menschen aus Gold geflochtene Tiere, in
142 143
denen die Toten einbalsarniert wurden, bis zur Anmerkungen
Trance im Kreise drehen, damit nicht etwa die Seelen
zurückkehren, um ihre Verwandten zu sich zu rufen,
gibt er uns zu bedenken, daß wir die einladende Be
wegung, die die Gastfreundschaft darstellt, in der
Starrheit unseres Trauerns vielleicht vergessen und
damit dem Wunsch nach Wissen womöglich etwas
von unserer Menschlichkeit geopfert haben.
Ich danke Jacques Derrida, den bisweilen kargen Fra,ge des Fremden: vom Fremden kommend
Gefilden der Philosophie die Gastfreundschaft einer 1 Im Orig. question dc l‘itranger. Eine grundsätzliche Anmerkung
Rede gewährt zu haben, die sich nicht fürchtet, zu l‘ifranger es kann ganz allgemein sowohl „der Fremde“ als
Gespenstern die Stirn zu bieten und den Lebenden Person, als auch „die Fremde“ im geographischen Sinne be
deuten, spezieller auch „der Ausländer“ bzw. „das Ausland“;
Querwege (chemins de traverse) zu eröffnen. das substantivierte Adjektiv „das Fremde“ lautet ebenfalls
l‘itran,ger, in dieser Hinsicht ist immer zu berücksichtigen, daß
viele Stellen mit l‘ctran,ger grundsätzlich mehrfach lesbar sind,
wobei der Kontext aber zumeist eine Lesart nahelegt (A.d.O.).
2 Vgl. Emmanuel LVINAS, Jenseits des Seins oder anders alt Sein
rg/Mün
eschiehJ übersetzt von Thomas WIEMER, Freibu
chen: Alber 1998, S. 342 (A.dÜ .).
3 Im Orig. 4 mre d‘exerg,ur, neben a) dem auf einer Münze oder
Medaille für eine inschrift vorbehaltenen Raum bezeichnet
exer,gue b) das Motto, das einem Text vorangestellt wird; ety
mologisch geht es auf die Vorsilbe ex- (,‚außerhalb von“) und
griech. eion (,‚Werk“) zuruck und bezeichnet somit den „Raum
außerhalb des Werks“, wofür hier bisweilen auch das Kunst-
wort „Exergon“ stehen wird (A.d.Ü.).
4 Im Orig. l‘Itranger mit großer Initiale, um zu kennzeichnen, daß
es sich um eine Figur der Platonischen Dialoge handelt; im
Deutschen durch Kursivierung der Kapitale wiedergegeben
(A.d.Ü.).
5 PLATON, Sophisles 241 d, übersetzt von Friedrich SCHLEiER-
MACHER, in: Sämtliche Werke, Band 4, Hamburg: Rowohlt
1980, S. 213 (Steilenangaben nach der Stephanus-Numerie
rung); die Übersetzung, wird, wo durch die Terminologie des
Kontexts geboten, modifiziert (A.d.Ü.).
144 145
6 Ebd.; Schleiermacher übersetzt: „Es leuchtet ein, daß dies muß bzw. „Gesetzesloser“, „Vogelfreier“ bedeutet, hier aber bis
durchgefochten werden in unseren Reden“ (A.d.Ü.). weilen in einer dem französischen Ausdruck folgenden wört
7 PLATON, Politikos, 258 b, übersetzt von Friedrich SCHLEIER- lichen Variante wiedergegeben wird (A.d.Ü.).
MACHER, in: Sämtliche Werke, Band 5, Hamburg: Rowohlt 17 SOPHOKLES, Ödipus asf Kolonos, V. 1-4,9-13,21,26-40, über
1982, S. 12 (A.d.Ü.). setzt von Ktirt STEINMANN, Stuttgart: Redam 1996,5. 9-11.
8 Henn JOLY, LaQuestion des itrangers, Paris: Vrin 1992. 18 Ebd., V. 87-90, 109-110, 124-125, 142, a.a.O., 5. 13-15.
9 PLATON, 4pohgie des Sokrates, 17 c-d, übersetzt von Friedrich 19 Vgl. Pierre KLOSSOWSKI, Die GeseJ« der Ga4freundschaj4 über
Schleiermacher, in: Sämtliche Werke, Band 1, a.a.O., 5. 9 [Zu setzt von Sigrid von MASSEN BACH, Reinbek bei Hamburg:
sammenfassung einer improvisierten Ausfiihrung, von der hier nur Rowohlt 1966, S. 126; das Wort ctans, das nur mehr in dieser
— Verbindung gebraucht wird, geht auf a, „dies“, und altfranz.
eine kurze Noii übrig bkib Worauf wir hier achten müssen
um sie ausführlicher zu kommentieren und zu erläutern ist —‚ en, „innen“, lat. intus, zurück und bedeutet „hier drinnen“
die soziokulturelle Differenz der Sprachen, Codes, Konnota (A.d.Ü.).
tionen innerhalb ein und derselben Nationalsprache, die Spra 20 SOPHOKLES, Ödipus auf Kolonos, V. 510-548, a.a.O., S. 33-36
chen in der Sprache, die „Fremdheits“- Effekte innerhalb der [die Übersetzung wurde bisweilen nach Maßgabe der von
Häuslichkeit, das Fremde im Selben. In einer Sprache kann Derrida verwendeten franz. Übersetzung von P. MAZON und
man viele Sprachen sprechen: daher die Spaltungen, die Span J. IRIGOIN, ditions Bude, modifiziert (A.d.Ü.)].
nungen, die virtuellen oder indirekten, erklärten oder aufge 21 Im Orig. Apris cc loig e.xergue; vgl. weiter oben Anm. 3 (A.d.Ü.).
schobenen Konflikte usw.]. 22 Im Orig. l‘dtrange notion d‘itran,ger, das Adjektiv drange, das „selt
10 Emile BENVENISTE, Iadoeuropäische Institutionen. Wortschatz, sam, sonderbar, befremdlich“ bedeutet, geht auf dieselbe
Geschichte, Funktionen, übersetzt von W BAYER, D. HORN1G Wurzel zurück wie itran,ger (,‚fremd“); es durchzieht den gan
und K. MENKE, hg. von Stefan ZIMMER, Frankfurt! zen Text und wird stets mit „seltsam“ oder dem Doppel
New York/Paris: Campus 1993, S. 77 (A.d.Ü.). „seltsam-befremdlich“ wiedergegeben (A.d.Ü.).
11 Ein Asteriskus bedeutet hier und im Folgenden: Im Original 23 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich HEGEL, Grundlinien der Philoso
deutsch (A.d.Ü.). phie des Rechts, ders. Werke, Band 7, hg. von Eva MOLDEN-
12 Vgl. Immanuel KANT, Zum ewigen Fneden. Ein philosophischer HAUER und Karl Markus MICHEL, Frankfurt am Main:
Entwuf in: Immanuel KANT, Werkausgabe, hrsg. von Wilhelm Suhrkamp 1986, S. 292-512 (A.d.Ü.).
WEISCHEDEL, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, Band 24 Verbreitete satirische Wochenzeitung in Frankreich (A.d.Ü.).
XI, insbesondere 5. 213-21 7; siehe auch weiter unten, [S. 53] 25 Mit dem franz. cbe-soi, das wörtlich übersetzt „bei-sich“ bedeu
(A.d.Ü.) tet, ist bei Nennung des „Zuhauses“ immer auch der Kontext
1 3Vgl. BENVENISTE, Indoeuropäische Institutionen, a.a.O., 5. 77 von „Selbst“ und „Selbstheit“ aufgerufen, was im Folgenden
A.d.Ü.). gelegentlich durch Schreibweisen wie „Bei-sich- Zuhause“
14 HERODOT, Historien, III, 39; dt. Geschichten und Geschichte, nachvoilzogen bzw. besonders hervorgehoben wird (A.d.Ü.).
Band 1, übersetzt von Walter MARG, München/Zürich: Ar 26 Im Orig. tikphone.r cellulaires, eine Übersetzung der englischen
temis 1973, 5. 245 f. (A.d.Ü.). Bezeichnung cellu/arpbone mit einem Anklang an den im Text
15 PLATON, Kriton, 50 a-d, übersetzt von Friedrich SCHLEIER- folgenden Begriff des „Klonens“ (A.d.Ü.).
MACHER, in: Sämtliche Werke, Band 1, a.a.O., 5. 42 £ 27 Vgl. Immanuel KANT, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer
16 Im Orig. bors-hi-loi, was üblicherweise „gesetzlos“, „vogeifrei“ EntwuJ a.a.O., S. 213 (A.d.Ü.).
146 147
1
28 Immanuel KANT, Uber ein vermeintes Recht aus Menschenliebe u 7 Pierre KLOSSOWSKI, „Heute abend, Roberte“, in: Die Gesetze
l.4en, in: ders., Werkausgabe, a.a.O., Band 8, S. 637-643 (A.d.Ü.). der Gasfreundscbaf4 übersetzt von Sigrid von MASSENBACH,
29 Ben;amin Constant (1767-1830), franz. Politiker und Schrift 1 Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1966, S. 123-187,
steller; eine Bemerkung aus seiner Schrift Frankreich im Jahr hier S. 125 ff. [die Übersetzung folgt, wo für Derridas Aus
1797 (Sechstes Stück, Nr. 1) wird von Kant in Über ein führungen erforderlich, möglichst nah dem Original und
vermeinies Recht. . .
zitiert und als Bezugspunkt seiner Antwort weicht daher bisweilen ab] (A.d.Ü.).
genommen (A.d.Ü.). 8 Im Orig. quc uni n ‘est censi d‘tgnorer, womit eine feste juristische
Wendung aufgegriffen wird (Nut n ‘est censi d‘zgnorer la ioi: Un
kenntnis des Gesetzes schützt nicht vor Strafe), die hier zu
Scbntt der Gasfreundschafr
nachst in einer wörtlichen Variante wiedergegeben wird
(A.d.Ü.).
1 Im Orig. Pas d‘hospitaliti, was rein grammatikalisch betrachtet
9 Im Orig. heu deghvce; man kann in diesem Kontext glace in seiner
auch als Verneinung (pas de) gelesen werden könnte: „Keine
Doppelbedeutung von „Eis“ und „Glas(Scheibe)“ aktiviert
Gastfreundschaft“ (A.d.Ü.).
sehen (A.d.Ü.).
2 Im Orig l‘invit4 was für gewöhnlich einfach „Gast“ bedeutet;
die Übersetzung folgt hier und andernorts aber der Aus- 10 VgL weiter oben, Vierte Sitzung [S. 31 f.] (A.d.Ü.).
1
differenzierung in l‘böte, den „Gast“, k visiteur, den „Besucher“, 11 Im Orig. derniire demeure bedeutet als Wendung in der Regel
—
und eben l‘invite, den „Eingeladenen“ (A.d.Ü.). „letzte Ruhestätte“, allerdings kann man demeure hier wie
—
im Folgenden auch in seiner Grundbedeutung als „Bleibe,
3 Im Orig. ein Begriff, allerdings nach dem Geschlecht differen
ziert: hötes et bätesses (A.d.Ü.). Wohnung, usw.“ lesen (A.d.Ü.).
r
4 Vgl. dazu auch Jacques DERRJDA, „En ce moment mme dans 12 Vgl. Jacques DERRIDA, LeMonolinguisme dc l‘autre, Paris: Galilee
cet ouvrage me voici“, in: P ycbe, Paris: Galilhe 1987; dt. „Eben
4 1996, S. 100 fL, dt. Einspracbigkeit, übersetzt von Michael
in diesem Moment in diesem Werk findest du mich“, über WETZEL,erscheint demnächst im Fink-Verlag, München,
setzt von Elisabeth WEBER, in: Parabel Ljvinas, Schriftenrei [vgl. Hannah ARENDT, Fernsehgespräch mit Günter Gaus
he des Evangelischen Studienwerks Vifligst, Band 12, Gie 4 (1964), in: dies., Ich will verstehen. Seibstauskinfte u Leben und
ßen: Focus 1990, S. 42-83, insbesondere S. 52 f. (A.d.Ü.). erk, hg. von Ursula LUDZ, München: Piper 1996, S. 59
7
W
5 Im Orig. gracicuse, was neben „anmutig“ usw. alle drei angegebe (A.d.Ü.)].
nen Bedeutungen haben kann (A.d.Ü.). 13 Im Orig. langue, was „Zunge“ sowohl konkret als auch im über
6 Zur Logik eines solchen Engagements, einer „Pflicht“ ohne 4 tragenen Sinne von „Sprache“ bedeutet (A.d.Ü.).
Schuld oder ohne Pflicht, siehe zum Beispiel Jacques 14 Im Orig. inamovible, das etymol. auf irr. amovere (,‚wegbewegen“)
DERRIDA, Passions, Paris: Galilee 1993, S. 88 f., dt.: Passio zurückgeht, bedeutet im adntinistrativ-juridischen Kontext
neu, übersetzt von Markus SEDLACZEK, in: Jacques „unkündbar, unabsetzbar, nicht versetzbar“ (A.d.Ü.).
DERRIDA, Über den Namen. Drei Essqys, Wien: Passagen 2000, 1 15 „Telefon“ ist hier im Anschluß an seine griechische Etymologie,
S. 59. Es geht also, wenn man richtig lesen will, weder hier als „Fern-Sprecher“ zu lesen (A.cLÜ.).
noch dort darum, das Kantische Argument bezüglich dessen 16 Zu s‘entcndre-parier (wörtl. „Sich-sprechen-hören“) als „Selbst
zu wiederholen, was „pflichtmäßjg“ sei, sondern im Gegen Affektion“ vgL Jacques DERRIDA, Die Stimme und das Phäno
teil, gegen und ohne Kant, darum, sich jenseits von Schuld men, übersetzt von Jochen HÖRISCH, Frankfurt am Main:
und Pflicht, und also auch jenseits dessen zu begeben, was 4
Suhrkamp 1979, S. 135 ff. (A.d.Ü.).
aus reiner Pflicht geschieht. Fortsetzung folgt.
148 149
1
17 Im Orig. d faire leur deldil d.s deuil; unter Bezugnahme auf die 29 Im Orig. qui lid tombe dessus, wobei in diesem Kontext auch das
RedewendungJaire san deuilde qc (,‚sich abfinden mit dem Ver Substantiv tombe, „Grab“, mitklingt (A.d.Ü.).
lust von etw.“) könnte man hier auch lesen: „sie zu verpflich 30 Emmanuel LIVINAS, Totalill etlnfini, Den Haag: Nijhoff 1961,
ten, sich mit dem Verlust der Trauer abzufinden“ (A.d.Ü.). S. 276, dt. Totalität und Unendlichkeit, übersetzt von Wolfgang
18 Am 8. 1. 1996 (also 9 Tage vor der hier dokumentierten Semi Nikolaus KREWANI, Freiburg/München: Alber 1987, S. 434.
narsitzung) starb der ehemalige französische Staatspräsident 31 Emmanuel LEVINAS, Autrement qu‘ltre au au-dehi dc /‘essence,
Franois Mitterand (Präsident von 1981-95); nach einem feier Den Haag: Nijhoff 1974, S 142., dt. Jenseits des Seins oder anders
lichen Requiem in der Kathedrale von Notre-Dame in Paris als Sein geschieht, übersetzt von Thomas WIEMER, Freiburg/
wurde er in seinem Geburtsort Jarnac in der Charente beige München: Alber 1992, S. 248. Siehe auch S. 150, 164, 179,
setzt (A.d.Ü.). 201, 212 (dt. S. 260 f., 283 ff., 308 f., 344 f., 361 f.) und das
19 Im Orig. hapac (z Hapaxlegomenon), Terminus aus der Lingu gesamte Kapitel über „Die Stellvertretung“ (dt. S. 219-288).
istik: ein Wort, eine Form oder ein Gebrauch, die innerhalb Diese Levinas-Lektüre wurde in der Zwischenzeit weiterent
eines Korpus nur ein einziges Mal belegt sind (A.d.Ü.). wickelt (vgl. Jacques DERRIDA, Adieu d Emmanuel Livinas,
20 SOPHOKLES, Ödjpus auf Kolonos, V. 1518-1521, a.a.O., S. 76 Paris: Gali1e 1997, dt. Adieu. Nachruf auf EmmanuelLivinas,
(A.d.Ü.). übersetzt von Reinhold WERNER, München: Hanser 1999).
21 Ebd., V. 1522-1532, a.a.O., S. 76 f. (A.d.Ü.). 32 SOPHOKLES, Ödipus auf Kolonos, V. 1562-1564, a.a.O., S. 78
22 Ebd., V. 1531-1538, a.a.O., S. 77 (A.d.Ü.). (A.d.Ü.).
23 Ebd., V 1544-1546; zur Figur der „Ksypta“ vgl. Jacques 33 Im Orig. Commentfaire son deuildu dcxiii?, was auch heißen kann:
DERRIDA, „Fors“, in: Nicolas ABRAHAM/Maria TOROK, „Wie kann man sich mit dem Verlust seiner Trauer abfin
Le Verbier cle l‘bomme aux loups, Paris: Aubier- Flammarion (dt. den?“, vgl. Anm. 17 (A.d.Ü.).
„Fors‘. Die Winkeiwörter von Nicolas Abraham und Maria 34 Das ungebräuchliche inse7rnlture kann, analytisch zerlegt, einmal
Torok“, übersetzt von Wolfgang HAMACHER, in: Nicolas —
als „Ins-Grab-legung“ gelesen werden, aber auch mit negie
ABRAHAM/Maria TOROK, Kyptonymie. Das Verbanum des —
render Vorsilbe als in-s4öuiture: „Nicht-Grab“ (A.d.Ü.).
W‘olfsmannes, Frankfurt-Berlin-Wien: Ullstein 1979 (A.d. Ü.). 4
35 Im Orig. A ev corps &sirant, de‘sirant d san corps dqendant mais
24 SOPHOKLES, Ödipus auf Kolonos, V. 1547-1550, a.a.O., 5. 77 encore dlsirant (A.d.Ü.).
(A.d.Ü.). 36 SOPHOKLES, Ödipus auf Kolonos, V. 1697-17 14, a.a.O., 5. 83.
25 Im Orig. en vojant kjour. franz.jourkann sowohl „Tag“ als auch
37 Ebd., V. 1755-1772, a.a.O., S. 86 f.
„Licht“ bedeuten (A.d.Ü.).
38 Im Orig. intoucbabie, im doppelten Sinne zu lesen, einmal als
26 Das Verb encrjpter ist hier doppelt lesbar, zum einen als „ver
„nicht berührbar“ (da unter Glas), zum anderen als „unantast
‚
schlüsseln“ (als Gegenstück zu &crypter, „entschlüsseln“) zum
bar“ im juristischen oder moralischen Sinne (A.d.Ü.).
anderen vom Kontext der Krypta her als „in die Krypta legen“
39 KLOSSOWSKI, Die Gesetze, a.a.O., 5. 126 (A.d.Ü.).
— parallel etwa zu eniernr, „beerdigen“ (A.d.Ü.).
40 Im Orig. zunächst: L‘höte devientl‘hdte dc l‘b€ite, was dann in einem
27 SOPHOKLES, Öc.4pus auf Koinos, V. 1551-1555, a.a.O., S. 77
folgenden, denselben Satz noch einmal aufgreifenden Satz
(A.d.Ü.).
unter Zuhilfenahme des Englischen spezifrziert und für fran
28 Wörtliche Übersetzung von ccci cxl man corps, garde-le en souvenir
zösische Augen und Ohren vereindeutigt wird: L‘hdte (guest)
de mai; vgl. Lukas 22, 19: „Das ist mein Leib, der für euch hin
devient i‘bet€ (host) k i‘bdte (host). Der ursprüngliche Satz kann,
gegeben wird. Tut dies zu meinem Gedächtnis“ (Einheitsüber
aufgrund der Polysemie von bdte (,‚Gast“ und „Gastgeber“)
setzung) (A.d.Ü.).
150 151
auch wie folgt gelesen werden: „Der Gastgeber wird zum Gast 52 Genesis, 19, 1-8 [Einheitsübersetzung Derrida zitiert die franzö
des Gastes“ (A.d.Ü.). sische Übersetzung von A. Chouraqui; die dt. Fassung wurde
41 KLOSSOWSKI, Die Gesete, a.a.O., S. 125; dieser Abschnitt dieser Lesart entsprechend an zwei Stellen modifiziert
ist mit „Schwierigkeiten“ übetschrieben (A.d.Ü.) (A.d.Ü.)].
42 Ebd., S. 125-126; Hervorhebungen von). D. (A.d.Ü.). 53 Richter, 19, 23-27 [Einheitsübersetzung; an einer Stelle modifi
43 Im Orig. dans laquelle an l‘cntend, si an l‘entend, wobei entendre an ziert (A.d.Ü.)].
sich „verstehen“ sowohl im akustischen als auch im intellektu 54 Der Begriff envoi kann zum eiren, in Verbindung mit einem
ellen Sinne bedeuten kann (A.d.Ü.). Text, „Schluß- oder Zueigningsstrophe“ bedeuten, zum an
44 Vgl. Emmanuel LEVINAS, Totalität und Unendlichkeit, über deren aber, wie im Folgenden aktualisiert, „Sendung“ (A.d.Ü.).
setzt von Wolfgang N. KREWANI, Freiburg/München: Alber 55 Im Orig. tons l.es bommes se saat envojli unefemmr, hier im Vorgriff
1993, S. 444 (A.d.Ü.). auf das folgende Zitat als passivische Konstruktion gelesen;
45 Diese beiden Punkte sind im Laufe einer improvisierten Diskus wörtlich kann der Satz auch lauten: „Alle Männer haben sich
sion, von der es keine Spuren mehr gibt, ausführlich erörtert eine Frau gesandt“; es existiert aber auch eine umgangssprach
worden. liche Wendung s‘envojver qc (,‚sich twas genehmigen“), die in
46 Louis-Augustin BARR11RE, „Le puzzle dc la citoyennct en Verbindung mit einer weiblichen Person die yulgäre Bedeu
Alg&ie“, in: Plein Drait. Nr. 29-30, November 1995. tung „(ein Mädchen) vernaschen/aufs Kreuz legen“ annimmt,
47 In etwa mit „französischer Inländer“ im Gegensatz zu „franzö was hier ergäbe: „Alle Männer haben eine Frau aufs Kreuz
sischer Staatsbürger“ zu übersetzen. gelegt“ (A.d.Ü.).
48 Charles Pasqua (*1927), franz. Innenminister 1986-1988 und 56 Richter 19, 29-30. Bekanntlich hat Rousseau diese Episode ver
1993-1995; das von ihm initiierte Gesetz von 1993 erschwerte wendet, interpretiert und transformiert. Sowohl im Versuch
den Erwerb der französischen Staatsbürgerschaft. Der Vertrag über den Ursprung der Sprachen (in: Jean-Jacques ROUSSEAU,
von Evian vom 18. März 1962 beendete den Algerienkrieg MJLÜk und Sprache, übersetzt von Dorothea und Peter GÜLKE,
(A.d.Ü.). Leipzig; Reclam 1989, S. 101) als auch in DerLevit aus Ephraim
49 Vgl. Aurelius AUGUSTINUS, Die Lüge und Gegen die L.age, hg. (in: Jean-Jacques ROUSSEAU, KJagin Grille und andere Klein-
von Paul KESELING, Würzburg: Augustinus-Verlag 1953 prosa, hrsg. von Dietrich LEUBE, übersetzt von Anna und
(A.d.Ü). Dietrich LEUBE, Frankfurt am Main: Insel, 1978, S. 59-85),
50 Im Orig. Fais-les .rortir vers nons: pinitrons-les. VgL in deutschen von dem er in den Bekenntnissen sagt, daß er, „wenn er auch
Ausgaben: „Heraus mit ihnen, wir wollen mit ihnen verkeh nicht das beste meiner Werke ist, mir doch stets das liebste
ren“ (Einheitsübersetzung). „Führe sie heraus zu uns, daß wir sein“ wird (Jean-Jacques ROUSSEAU, Beke#ntrnsse, 11. Buch,
uns über sie hermachen“ (Luther, revidierter Text). „Gib sie übersetzt von Alfred SEMERAU, München: div 1981, S. 577).
uns heraus, wir wollen sie erkennen“ (Buber/Rosenzweig) Ich verweise auf die wunderbare Analyse, die Peggy Kamuf
—
152 153
Einladung Zeit. Kulturpbilosophische Schriften, hg. von Klaus NELLEN und
lija SRUBAR., Stuttgart: Klett-Cotta 1987, 5. 122.
1 Eine Obsession, die uns bereits einige Themen seiner Seminare 10 Ebd., 5. 123.
vermitteln: „Das Zeugnis“, „Die Freundschaft“, „Das Ge 11 Ebd., 5. 126.
heinmis“, „Rhetorik des Kanibalismus“. 12 Vgl. Jacques DERRIDA, „Donner la mort“, in: Jean-Michel
2 „Hostis“ bedeutet im Lateinischen Gast, aber auch Feind. RABATE und Michael WETZEL (Hg.), L‘tbique du don.
3 Soren KIERKEGAARD, Abscbliefi‘ende unwissenschaftliche Nach- Jacques Derrida etlapensie du don, Pars: Metailie-Transition 1992,
schrift u den Philosophischen Brocken, (Gesammelte Werke, 16), S. 11-108 (dt. „Den Tod geben“, übersetzt von Hans-Dieter
übersetzt von Hans Martin JUNGHANS, Düsseldorf/Köln: GONDEK, in: Anseim HAVERKAI‘ilP (Hg.), Gewalt und
Diederichs 1958. Gerechtigkeit. Derrida-Benjamin, Frankfurt am Main: Suhrkamp
4 Friedrich NIETZSCHE, A‘so sprach Zarathustra, „Das Nacht 1994, S. 331-445, hierv. a. 5. 346 f.).
wandler-Lied“, K,itiscbe Studienausgabe (KSA), hg. von Giorgio 13 Jan PATO(KA, „Die Kriege des zwanzigsten Jahrhunderts
COLLI und Massimo MONTINARI, München/Berlia/ und das zwanzigsteJahrhundert als Krieg“, übersetzt von Peter
New York: dtv/de Gruyter 1988, Band 4, S. 398 f. SACHER, in: Kete,ische Essais, a.a.O., 5. 158.
5 Friedrich NIETZSCHE, &ce homo, „Warum ich so gute Bücher 14 Vgl. weiter oben, Vierte Sitzung, [S. 19] (A.d.Ii.).
schreibe“, 1, KSA 6, 300. 15 Zum weiten Feld des „Gespensts“ (spectre) siehe v. a. Jacques
6 Jan PATO(jKA, Ketzerische Essais zur Philosophie der Ge DERRIDA, Marx‘ Gespenster, übersetzt von Susanne
LÜDEMANN, Frankfurt am Main: Fischer 1995 (A.d.Ü.).
schichte, hrsg. von Klaus NELLEN und Jiti NMEC, Stutt
16 Hannah ARENDT, Fernsehgespräch mit Günter Gaus (Ok
gart: Klett-cotta, 1988 (A.d.Ü.).
tober 1964), in: Hannah ARENDT, Ich will verstehen. Selbst
7 Jan PATO(KA, „Leben im Gleichgewicht, Leben in der Am
auskidnfte u Leben und Werk, hg. von Ursula LUDZ, München:
plitude“ (1939), übersetzt von Ludger HAGEDORN, in: Jan
Piper 1996, S. 59 (A.d.Ü.).
PATOKA, Texte, Dokumente, Bibliographie, hg. von Ludger
17 Im Orig. quifait la lvi depuis le heu d‘un hors-la-hoi, wobeiJaire ha lvi
HAGEDORN und Hans Rainer SEPP, Freiburg/München:
(wörtlich: das Gesetz machen) üblicherweise „jmd. Vorschrif
Alber 1999, 5. 99.
ten machen“ bedeutet (A.d.Ü.).
8 Zu Patokas Interpretation der Anugone hat Henri D&leve
18 Emmanuel L1V1NAS, Totalität und Unendlichkeit, übersetzt von
folgenden schönen Satz geschrieben: „Der Mensch ist nicht
Wolfgang N. KREWANI, Freiburg/München: Alber 1987/
nur Spaltung, er ist gleichzeitig auch Versöhnung. Aus dem
1993, S. 444 (A.d.Ü.).
direkten Kontakt mit der Nacht, dem Schrecklichen, den To
19 Vgl. weiter oben, Fünfte Sitzung, jS. 67] (A.d.Ü.).
ten, ersteht die obskure Klarheit eines Gesetzes und eines
20 Im Orig. mort transbumante; das Adjektiv transhamante geht
Sinns, die ihm viel eigen tüznlicher sind als das Gesetz und der
auf lat. trans (jenseits) und humus (Erde) zurück (A.d.U.).
Sinn der eigensinnigen Vernunft des Menschen. Ebendies ruft
21 Vgl. weiter oben, Fünfte Sitzung [5. 79 f.] (A.d.Ü.).
die Figur der Antigone in ihrer ursprünglichen Weiblichkeit
22 Obwohl vai2te (,‚Gewölbe“) und envo4tement (,‚Verzauberung“)
in Erinnerung.“ Henri DECLVE, „Le mythe de l‘homme unterschiedliche Etymologien haben (voüte geht auf lat. volutus,
Dieu“, in: M. RICHIR/E. TASSIN (Hg), Jan Pat&ka. Philoso das Partizip Perfekt von volvere, „drehen, rollen“, zurück,
pbie,phdnomdnologie,politique, Grenoble: J. Millon 1992, S. 131. envoütement auf lat. vultus, „Gesicht, Bild“), kann en-voüte-ment
9Jan PATO(jKA, „Noch eine Antigone und Antigone noch ein analytisch auch als „In-ein-Gewölbe-einschließen“ gelesen
mal“, anonyme Übersetzung, in: Jan PATO(KA, Kunst und werden (A.d.Ü.).
154 155
23 \rgl. Paul RICGiUR, Soi-rnlrne comme an a.wtre, Paris: Scuil 1990 Jacques Derrida im Passagen Verlag
(dt. Das Selbst als ein Anderer, übersetzt von Jean GREISCH in Hg. von Peter Engeirnann
Zusammenarbeit mit Thomas BEDORF und Birgit SCHAAF,
München: Fink 1996) (A.d.Ü.).
24 Vgl. Sören KIERKEGAARD, Furcht und Zittern, übersetzt von
Liselotte RICHTER, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1961 Limited Inc.
(A.d.Ü.). Passagen Philosophie
25 Da Mme Maeght Katzen haßte, weil sie Vögel fraßen, schenk
te er ihr zum Geburtstag eine bronzene Katze, die ein Tablett Randgänge der Piilosophie
zwischen ihren Pfoten hielt. „Für die Brösel schmunzel- Passagen Philosophie
te Giacometri.
26 Vgl. MOLIERE, Don Juan (oder Der steinerne Gas/, übersetzt
Dissemination
von Arthur LUTHER, in: MOLIERE, Werke, Wiesbaden: ‚
Passagen Philosophie
sel 1954, S. 431-487, hier S. 476 und 487 (A.d.U.).
Gestade
Passagen Philosophie
Chora
Edition Passagen Band 32
Schibboleth
Für Paul Celan
Edition Passagen Band 12
156
4a
f