4. Integralrechnung
Gesucht ist in diesem Beispiel eine Funktion s(t) mit ds/dt = v(t), also etwa s(t) = (a/2) t2,
denn
d a 2
t = at .
dt 2
Allgemein erfüllt jede Wegfunktion der Form s(t) = (a/2) t2 + s0 mit s0 ∈ — die angegebene
Bedingung.
Sei nun f: I → — eine auf einem Intervall I definierte Funktion. Jede Funktion F: I → — mit
F′(x) = f(x) für alle x ∈ I heißt Stammfunktion oder ein unbestimmtes Integral von f. Die
Gesamtheit aller Stammfunktionen von f ist durch
gegeben. Differenzieren und Integrieren, d.h. das Aufsuchen von Stammfunktionen, sind zu-
einander invers:
d d
dx dx F( x) dx = F( x ) + C .
f ( x )dx = f ( x ),
Man kennt also alle Stammfunktionen einer Funktion f, wenn bereits eine Stammfunktion F
von f bekannt ist. Wie erhält man nun eine solche Stammfunktion? Einige Integrale ergeben
sich unmittelbar als Umkehrung der Regeln zur Ableitung von Grundfunktionen (siehe 2.3):
Ferner liefert jede Differentiationsregel – von rechts nach links gelesen – eine Regel zur
Berechnung eines unbestimmten Integrals. Daraus ergeben sich folgende Integrationsregeln:
1. cf(x)dx = cf(x)dx
2. (u(x) + v(x))dx = u(x)dx + v(x)dx
3. u(x)v′(x)dx = u(x)v(x) − u′(x)v(x)dx (partielle Integration)
4. f(u(x))u′(x)dx = f(u)du mit u = u(x) (Substitutionsregel)
Beispiele:
K ( x ) = k ( x ) dx = (2 x − 3 x ) dx = x 2 − 2 x 3 + C
Während das Differenzieren von elementaren Funktionen zumeist problemlos möglich ist,
gibt es zahlreiche Funktionen, die nicht mehr elementar integrierbar sind. So können z.B. die
sin x 2
Integrale dx oder e x dx nicht exakt berechnet werden.
x
4.1 Das unbestimmte Integral 44
Ein universelles Verfahren zur Integration beliebiger rationaler Funktionen ist die Partial-
bruchzerlegung. Gegeben sei eine Funktion f(x) = p(x)/q(x), wo p(x) und q(x) Polynom-
funktionen sind (sodass der Grad des Zählerpolynoms p kleiner als der Grad des Nenner-
polynoms q ist; andernfalls wird zuvor eine Polynomdivision durchgeführt). Also z.B.
x −3 x −3
f (x) = = .
x − x − x + 1 (x − 1) 2 (x + 1)
3 2
Entsprechend den Nullstellen bzw. den Wurzelfaktoren des Nenners kann nun die Funktion
f(x) in sogenannte Partialbrüche zerlegt werden, wobei zu einer einfachen reellen Nullstelle λ
A
der Partialbruch (mit einer Konstanten A), zu einer r-fachen Nullstelle λ der Bruch
x −λ
A1 A2 Ar
+ + ... +
x − λ (x − λ ) 2
(x − λ ) r
(mit den Konstanten A1,…,Ar) gehören. Ähnliche Terme sind im Fall komplexer Nullstellen
bzw. quadratischer Wurzelfaktoren zu wählen, worauf wir aber hier nicht eingehen werden.
Im konkreten Beispiel besitzt der Nenner x3 − x2 − x + 1 eine Nullstelle λ1 = 1 der Vielfach-
heit 2 und eine einfache Nullstelle λ2 = −1. Dementsprechend machen wir den Ansatz
x −3 A B C
f (x) = = + +
(x − 1) (x + 1) x − 1 (x − 1)
2 2
x +1
mit den unbestimmten Konstanten A, B und C. Wir bringen auf gemeinsamen Nenner und
führen einen Koeffizientenvergleich durch:
x − 3 = A(x − 1)(x + 1) + B(x + 1) + C(x − 1) 2
= (A + C)x 2 + (B − 2C)x − A + B + C
A+C =0
B − 2C = 1
− A + B + C = −3
Das lineare System für A, B, C besitzt die Lösung A = 1, B = C = −1. Damit ist die Partial-
bruchzerlegung von f(x) gefunden
x −3 1 1 1
f (x) = = − − .
(x − 1) (x + 1) x − 1 (x − 1) x + 1
2 2
In weiterer Folge kann das Integral von f(x) bestimmt werden gemäß
x −3
f (x)dx = (x − 1) (x + 1) dx
2
1 1 1
= dx − dx − dx
x −1 (x − 1) 2
x +1
1
= ln x − 1 + − ln x + 1
x −1
x −1 1
= ln + + C, C ∈ ℝ.
x +1 x −1
4.2 Das bestimmte Integral 45
Die Ermittlung der Arbeit in einem Kraftfeld längs eines bestimmten Wegabschnitts, die
Berechnung der Leistung eines Wechselstroms in einem bestimmten Zeitintervall, sowie das
klassische Quadraturproblem, also die Flächenberechnung von krummlinig begrenzten
Flächenstücken sind Beispiele für die Anwendung des bestimmten Integrals.
Zur Berechnung der Fläche unterhalb der Kurve y = f(x) zwischen x = a und x = b (siehe
Abbildung) unterteilt man das Intervall [a,b] in n (äquidistante) Teilintervalle [xi−1,xi] der
Länge ∆x = (b − a)/n, wählt in jedem Teilintervall eine beliebige Zwischenstelle ξi und bildet
die Zwischensumme (Riemannsche Summe)
n
S n = f (ξ i )∆x .
i =1
f(ξi) y = f(x)
ξi x
a = x0 x1 x2 xi−1 xi xn = b
Die Zwischensumme Sn ist eine Summe von Rechtecksflächen und stellt eine Näherung für
das gesuchte Flächenstück dar. Konvergiert nun – unabhängig von der Wahl der Zwischen-
stellen ξi – jede Zwischensumme stets gegen denselben Grenzwert, heißt dieser das be-
stimmte Integral von f auf [a,b]:
b
lim S n = f ( x )dx .
n →∞
a
1. Ist f stetig auf [a,b], dann existiert das bestimmte Integral abf(x)dx.
2. abf(x)dx = −baf(x)dx, falls a > b und aaf(x)dx = 0
3. abf(x)dx = acf(x)dx + cbf(x)dx, falls a ≤ c ≤ b
4. abcf(x)dx = c abf(x)dx, ab(f(x) + g(x))dx = abf(x)dx + abg(x)dx
4.2 Das bestimmte Integral 46
Mittelwertsatz der Integralrechnung: Ist f auf [a,b] stetig, dann gibt es mindestens eine Stelle
ξ mit a < ξ < b, sodass
b
f (x )dx = f (ξ) ⋅ (b − a ) .
a
b
1
b − a a
Den Wert f ( x )dx nennt man Mittelwert der Funktion f im Intervall [a,b]. Der Mittel-
y
y = f(x)
f(ξ)
b−a
x
a ξ b
Beispiel: Für den Gleichrichtwert eines Einweggleichrichters, d.i. der Mittelwert der Strom-
stärke eines Wechselstroms der Form i(t) = i0 sin(t) für 0 ≤ t ≤ π bzw. i(t) = 0 für π < t < 2π,
erhält man mit a = 0 und b = 2π
2π π π
1 1 i i
Ig =
2π 0
i ( t ) dt =
2π 0
i 0 sin( t ) dt = 0 (− cos( t )) = 0 .
2π 0 π
Zur konkreten Berechnung eines bestimmten Integrals stehen prinzipiell zwei Möglichkeiten
offen. Falls eine Stammfunktion der zu integrierenden Funktion bekannt ist, kann das
bestimmte Integral mit Hilfe des so genannten Hauptsatzes der Differential- und Integral-
rechnung exakt bestimmt werden. Andernfalls ist eine näherungsweise Berechnung des
Integrals auf numerischem Weg möglich.
4.2 Das bestimmte Integral 47
(i) Exakte Berechnung mittels des Hauptsatzes der Differential- und Integral-
rechnung
Fasst man das bestimmte Integral als Funktion der oberen Integrationsgrenze auf, d.h.,
betrachtet man die Funktion
x
F( x ) = f ( t ) dt ,
c
dann ist F(x) eine Stammfunktion von f(x), also F′(x) = f(x). Unter Anwendung des Mittel-
wertsatzes der Integralrechnung gilt nämlich (mit ξ zwischen x und x + h)
x+h x+h
F( x + h ) − F( x ) 1
x
1
= ( f ( t ) dt − f ( t ) dt ) = f ( t ) dt = f (ξ)
h h c h
c x .
F( x + h ) − F( x )
F′( x ) = lim = lim f (ξ) = f ( x )
h →0 h h →0
In dieser Beobachtung liegt der Schlüssel für den Zusammenhang zwischen dem bestimmten
und unbestimmten Integral, wie der folgende Satz zeigt:
Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung: Ist f eine auf dem Intervall [a,b] integrier-
bare Funktion und ist F eine beliebige Stammfunktion von f, so gilt
b
b
f (x ) dx = F( x )
a
a
= F(b) − F(a ) .
b a b c b
Beweis: F(b) − F(a ) = ( f ( x ) dx + C) − ( f ( x ) dx + C) = f ( x ) dx + f ( x ) dx = f ( x ) dx .
c c c a a
Beispiele:
• abdx/x = ln |x| |ab = ln(b) − ln(a) = ln(b/a)
• 0πsin(x)dx = −cos(x) |0π = 2
T
1 2
T 0
• Wir berechnen den Effektivwert der Stromstärke i(t) gemäß I eff = i ( t ) dt für
sin
2
(
( t ) dt = − sin( t ) cos( t ) + cos 2 ( t ) dt = − sin( t ) cos( t ) + 1 − sin 2 ( t ) dt )
t sin( t ) cos( t )
sin 2 ( t ) dt = −
2 2
folgt
2π 2π
1 1 t sin( t ) cos( t ) 1 i
I eff = i 0 sin 2 ( t ) dt = i 0 − = i0 π= 0
2
2π 0 2π 2 2 0 2π 2
4.2 Das bestimmte Integral 48
Zur approximativen Berechnung des bestimmten Integrals abf(x)dx schließen wir an die zu
Beginn des Abschnitts betrachtete Zerlegung a = x0, x1, ... xn = b des Integrationsintervalls
[a, b] mit der Schrittweite ∆x = (b − a)/n an, setzen f(xi) = yi und wählen in der Summe Sn
speziell f(ξi) = (yi−1 + yi)/2. Damit beschreibt die Zwischensumme
n n
1 ∆x
Sn = f (ξi )∆x = (yi −1 + yi )∆x = (y 0 + 2y1 + ... + 2y n −1 + y n )
i =1 i =1 2 2
einer Summe von Trapezflächen und liefert die so genannte Sehnentrapezformel
b−a
b
f (x ) dx ≈
a
2n
( y 0 + 2 y1 + ... + 2 y n −1 + y n ) .
Die Näherung wird umso besser, je größer die Zahl der Teilintervalle n in obiger Formel
gewählt wird.
1
Beispiel: Zur Berechnung des Integrals
−1
1 − x 2 dx , d.i. die Fläche eines Halbkreises mit
dem Radius 1, mit Hilfe der Sehnentrapezformel wählen wir n = 4, folglich x0 = −1, x1 = −0,5,
x2 = 0, x3 = 0,5 und x4 = 1 mit der Schrittweite ∆x = 0,5 und erhalten
1
2 1 3 3
−1
1 − x 2 dx ≈
8
(y 0 + 2y1 + 2y 2 + 2y3 + y 4 ) = (0 + 2
4 4
+2+2
4
+ 0) = 1,37 .
Für n = 8 hingegen beträgt die Schrittweite ∆x = 0,25, damit ist x0 = −1, x2 = −0,75, ... x8 = 1
und wir erhalten den genaueren Wert
1
2
−1
1 − x 2 dx ≈
16
(y 0 + 2y1 + ... + 2y 7 + y8 ) =
.
1 7 3 15 15 3 7
= (0 + 2 +2 +2 +2+2 +2 +2 + 0) = 1,50
8 16 4 16 16 4 16
Eine weitere Verbesserung der Genauigkeit erhält man, wenn man die Integralfläche nicht
durch Trapeze, sondern durch Parabelabschnitte annähert. Dazu geht man von einer
Unterteilung x0 = a, x1, ... x2n = b des Integrationsintervalls [a, b] in 2n Teilintervalle aus,
ermittelt die zugehörigen Funktionswerte y0, ..., y2n mit yi = f(xi), und berechnet schließlich
das Integral nach der so genannten Simpson’schen Regel
b−a
b
f (x)
a
dx ≈
6n
(y0 + 4y1 + 2y 2 + 4y3 + ... + 2y 2n − 2 + 4y 2n −1 + y 2n ) .
4.2 Das bestimmte Integral 49
1
Beispiel: Wir berechnen noch einmal das bestimmte Integral
−1
1 − x 2 dx , diesmal nach der
Simpson’schen Regel. Dazu wählen wir die Zerlegung x0 = −1, x1 = −0,75, ..., x8 = 1 des
Intervalls [−1, 1] in 2n = 8 Teilintervalle und erhalten
1
2
−1
1 − x 2 dx ≈
24
(y 0 + 4y1 + 2y 2 + 4y3 + 2y 4 + 4y5 + 2y 6 + 4y 7 + y8 ) =
,
1 7 3 15 15 3 7
= (0 + 4 +2 +4 +2+4 +2 +4 + 0) = 1,54
12 16 4 16 16 4 16
was dem tatsächlichen Wert von π/2 ≈ 1,57 schon sehr nahe kommt.
Wir betrachten eine Erweiterung des Integralbegriffs auf Funktionen mit Unendlichkeits-
stellen sowie Integrale mit unendlichem Integrationsintervall, wie im folgenden dargestellt:
Es sei f eine auf dem Intervall [a,b) bzw. [a,∞) definierte Funktion, welche in jedem Teil-
intervall [a,c] integrierbar ist. Hat f in b eine Unendlichkeitsstelle (linke Abbildung), so
versteht man unter dem uneigentlichen Integral (1. Art)
b c
f (x ) dx = lim f ( x) dx ,
a
c→b
a
falls der Grenzwert auf der rechten Seite der Gleichung existiert. Im Fall eines unendlichen
Integrationsintervalls (rechte Abbildung) ist das uneigentliche Integral (2. Art) gemäß
∞ c
f (x ) dx = lim f ( x) dx
a
c →∞
a
4.3 Erweiterungen und Anwendungen 50
definiert. Besitzt der Integrand eine Unendlichkeitsstelle in der Mitte des Integrationsinter-
valls oder treten beide oben betrachteten Fälle zugleich auf, so ist das jeweilige Integral durch
eine geeignete Aufspaltung auf obige Grundsituationen zurückzuführen.
Beispiele:
1 dx 1 1
•
0
x
= lim x −1 / 2 dx = lim2 x = lim(2 − 2 c ) = 2
c →0 c c →0 c c →0
∞ c c 1
• e − x dx = lim e − x dx = lim(−e − x ) = lim(−e − c + e −1 ) =
1 c →∞ 1 c →∞ 1 c →∞ e
1 dx c dx c π
• 0
1− x 2
= lim
c →1 0
1− x 2
= lim arcsin x 0 = arcsin1 =
c →1 2
1 dx
• Hingegen ist 0 x
= ∞ , d.h., dieses uneigentliche Integral existiert nicht.
• Wird ein kontinuierlicher Zahlungsstrom z(t) vom Zeitpunkt t = 0 bis zum Zeitpunkt
t = T laufend auf ein Konto eingezahlt und mit der Zinsrate ρ > 0 stetig verzinst, dann
beträgt der Endwert dieses Zahlungsstroms
T
K T = z( t )e ρ ( T − t ) dt
0
(ii) Gamma-Funktion
Ein Beispiel für eine nicht elementare Funktion, die mittels eines uneigentlichen Integrals
definiert wird, ist die Gamma-Funktion Γ(x). Dabei ist
∞
Γ(x) = e− t t x −1dt für x > 0.
0
Das Integral ist sowohl bei t = 0 wie bei t = ∞ uneigentlich, ist aber – wie man zeigen kann –
für x > 0 stets konvergent. Insbesondere gilt
∞
∞
Γ(1) = e − t dt = −e − t = 1.
0
0
4.3 Erweiterungen und Anwendungen 51
also Γ(x + 1) = x Γ(x), eine wichtige Eigenschaft der Gamma-Funktion. Mit Γ(1) = 1 folgt
daraus Γ(2) = 1 Γ(1) = 1, Γ(3) = 2 Γ(2) = 2!, Γ(4) = 3 Γ(3) = 3!, usw., also allgemein
Γ(n + 1) = n!.
Die Gamma-Funktion interpoliert also die Faktoriellen, und ist in nachstehender Abbildung
dargestellt.