Nationalstaaten 7.
Am Ende des Ersten Weltkriegs kam eine Kommission, die die
Grenze zwischen Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn fest-
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Was aber ist eigentlich eine Nation? Wodurch entsteht bei einer Kristallisations-
Gruppe, sie mag aus zwei Millionen oder hundert Millionen Men- kerne des
Nationalgefühls:
schen bestehen, das Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit?
Die meisten Menschen würden als Ursache dafür wohl das Vor- Sprache
handensein einer gemeinsamen Sprache nennen. Franzosen wä-
ren demnach Franzosen, weil sie Französisch sprechen. Englän-
der wären Engländer, weil sie Englisch reden. Und die deutsche
194 Nationalismus, Nationen, Nationalstaaten | 7
anderes als ein Verband von Personen, die auf einem bestimmten
Gebiet einer gemeinsamen Rechtsordnung angehören. In Län-
dern wie der Schweiz, in denen mehrere Sprachen gesprochen
werden, sind der Staat und sein Territorium als Kristallisations-
kern des Nationalgefühls von besonderer Bedeutung. Schweizer
Patriotismus lebt von der Identifikation mit der besonderen eid-
genössischen Verfassung des Landes und mit dessen bergiger
7.1 | Die Konstruktion der Nation 195
außen. Mit dem „nationalen Interesse“ ließ sich daher fortan jede
politische Entscheidung begründen und legitimieren. Und wer
solche Entscheidungen kritisierte, tat das auf die Gefahr hin, als
national unzuverlässig gebrandmarkt und aus der Gemeinschaft
hinausgedrängt zu werden.
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stimmung.
Wahlen und Parlamente sind deshalb ebenfalls wichtige Medi- Wahlen und
en der Nationsbildung. Politische Mobilisierung und Selbstmobi- Parlamente
lisierung gehört untrennbar zu ihr. Das lässt sich am Beispiel des
Nationalparlaments im 1871 gebildeten Deutschen Reich zeigen.
Das Reich war zunächst eigentlich eine Gründung der Fürsten,
intendiert mehr als ein loser Staatenbund. Doch die Verankerung
eines demokratisch gewählten Reichstags in seiner Verfassung
trug beträchtlich dazu bei, dass sich daraus bald ein nationaler
Bundesstaat entwickelte. Denn der Reichstag wurde weitaus mehr
als die überwiegend nach ungleichem Klassenwahlrecht gewähl-
ten Landtage zu einem Forum politischer Debatten, bei denen
bald die ganze Bevölkerung mitfieberte. Die Reichstagswahlen
entwickelten sich zu grundsätzlichen Auseinandersetzungen um
den Weg der Nation und ihre Identität.
Dabei ist die Frage nach dem Gewicht des Parlaments im Ver-
fassungsgefüge des Deutschen Reichs genauso wenig relevant wie
die nach der Natur dieses Gefüges. Denn ob demokratisch oder
autoritär verfasst: Nationalstaaten leben von der Teilnahme mög-
lichst großer Bevölkerungsmassen, idealerweise der gesamten
Bevölkerung am politischen und gesellschaftlichen, am „natio-
nalen“ Geschehen. Ein französischer Historiker bezeichnete die
Nation in diesem Sinn treffend als „ein Plebiszit, das sich jeden
Tag wiederholt“.10 Die Beteiligung an Parlamentswahlen ist, selbst
wenn der Wähler nur die Wahl zwischen Zustimmung oder Ab-
lehnung einer Einheitsliste hat, ein ängstlich beobachteter Indi-
kator für die Stabilität der nationalen Gemeinschaft. Ob Bürger
einer Demokratie oder „Volksgenosse“ einer Diktatur: Politisches
Interesse wird im Zeitalter des Nationalismus von beiden erwar-
zulässig.
auf dem Wiener Kongress brachte 1815 freilich weder ein geei-
nigtes Italien noch einen deutschen Einheitsstaat. Enttäuschte
Nationalisten nördlich wie südlich der Alpen versuchten ihre Ziele
in der Folgezeit deshalb durch militärische Aktionen auf eigene
Faust zu erreichen. Radikale italienische Patrioten zettelten bis
1849 eine Reihe von Aufständen an. Doch alle wurden von den
Herrschern der sechs unabhängigen Fürstentümer, die es auf der
Halbinsel gab, mit Unterstützung der seit 1815 über die Lombar-
dei und Venetien regierenden Habsburger niedergeschlagen.
Auch nördlich der Alpen scheiterten während der Revolution von
1848/49 sämtliche Versuche, mit Diplomatie oder Waffengewalt
aus rund drei Dutzend Territorien einen deutschen Staat zu for-
men. Große Teile beider Nationalbewegungen verlegten sich seit-
dem zunehmend darauf, das Bündnis mit einer der existierenden
Territorialherrschaften zu suchen. Preußen sollte so zum Kristal-
lisationskern des deutschen Nationalstaats werden, während die
italienischen Nationalisten auf Piemont-Sardinien als Magnet der
italienischen Einigung setzten.
Tatsächlich erzielte diese neue Taktik bald Erfolge. Piemont- Einigung Italiens
Sardinien unter seinem der italienischen Nationalbewegung zu- 1859/61
geneigten Ministerpräsidenten Cavour nutzte geschickt Span-
nungen zwischen den europäischen Großmächten aus: Cavour
gewann Frankreich als Verbündeten gegen die österreichischen
Habsburger, die das Haupthindernis für eine Einigung Italiens
bildeten. Gemeinsam besiegten Franzosen und Piemontesen
1859 die österreichische Armee. Im nächsten Jahr beseitigten Auf-
stände, militärische Aktionen von Nationalisten unter Führung
von Giuseppe Garibaldi und Volksabstimmungen für einen An-
schluss an Piemont die Herrschaft der Fürsten in den anderen
zulässig.
Karte 7.1: Europa 1914 (mit den seit 1830 entstandenen Nationalstaaten)
214 Nationalismus, Nationen, Nationalstaaten | 7
Karte 7.2: Europa 1922 (mit den zwischen 1917 und 1922 entstandenen Nationalstaaten)
216 Nationalismus, Nationen, Nationalstaaten | 7
Münze.
Ähnlich fragwürdig ist die These, dass Nationalismus sich im Vom „linken“ zum
Lauf der Zeit von einer ursprünglich „linken“ zu einer „rechten“ „rechten“
Ideologie gewandelt habe. Diese Interpretation ist vor allem am Nationalismus?
deutschen Beispiel entwickelt worden. Danach war die National-
bewegung anfänglich eng mit liberal-emanzipatorischen Zielen
verbunden. So habe sie im frühen 19. Jahrhundert innenpolitisch
vor allem auf die Beseitigung der alten ständisch-aristokratischen
Ordnung abgezielt. Seit den 1870er Jahren sei dann aber eine
Wende eingetreten: Seitdem diene Nationalismus primär dem
Machterhalt konservativer Eliten. Solche und ähnliche Thesen
halten sich wohl auch deshalb hartnäckig, weil sie sich zumindest
teilweise mit der populären Ansicht decken, dass Nationalismus
ein politisch ausschließlich „rechtes“ Phänomen ist. Tatsächlich
gibt es reichlich Beispiele für das Gegenteil. Zwar wurden Kon-
servative im Deutschen Reich seit den 1870er Jahren wirklich zu
Nationalisten. Liberale blieben es aber, und Sozialisten wurden es
– in Deutschland und anderswo. Als 1914 der Erste Weltkrieg
ausbrach, schlugen sämtliche großen sozialistischen Parteien Eu-
ropas alle Lippenbekenntnisse zu internationaler Solidarität in
den Wind und standen stramm national zu den Kriegsanstren-
gungen ihrer Länder. Wo sie nicht verboten waren, taten sie das
seit 1939 auch im Zweiten Weltkrieg. Und kommunistische Par-
teien in Osteuropa scheuten sich nach 1945 nicht, nationale Paro-
len im Interesse ihres Machterhalts zu benutzen. Nationalismus
kann sich durchaus mit „linken“ Überzeugungen verbinden.
Wie die gegenteilige Behauptung nicht frei von politisch moti- Staatsbürgernatio-
viertem Wunschdenken ist, so auch die letzte hier anzusprechende nalismus vs.
Typologie: die Unterscheidung zwischen „offenem“ und „ge- ethnischer
Nationalismus
zulässig.
det. Die Menschen würden dort deshalb autoritär als Teil der na-
tionalen Gemeinschaft vereinnahmt, einerlei ob sie wollten oder
nicht. Aus demselben Grund seien die mittel- und osteuropä-
ischen Nationen nicht offen für die Integration von Menschen
anderer Sprache oder Abstammung – „geschlossene“ Gesell-
schaften eben.
Diese Sicht wurde durch persönliche Erlebnisse ihres Autors
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In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte die Verstärkung „Nationalisierung“
des Nationalgefühls beispiellose Konsequenzen. Dass Menschen von Kriegen
einer Nationalflagge auf das Schlachtfeld und bis in den Tod
folgten, war zwar grundsätzlich nichts Neues. Die Quantitäten, in
dem diese Opfer auf dem „Altar der Nation“ dargebracht wurden,
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Südosteuropa vor Schon während der Aufstände gegen die Herrschaft des osma-
1914
nischen Sultans auf dem Balkan und des russisch-osmanischen
Krieges in den späten 1870er Jahren kam es dort zu Massenflucht
und Vertreibungsaktionen aus nationalistischen Motiven. Vor
allem Muslime mussten die neuen Staaten Rumänien, Serbien
und Bulgarien verlassen. Einigermaßen genaue Zahlen über sol-
che Fluchtbewegungen gibt es erst für die Zeit der Balkankriege
1912/13: Etwa 800.000 Menschen wurden damals wegen ihrer
Sprache, Herkunft oder Religion aus ihrer Heimat vertrieben oder
flüchteten vor Verfolgung. Weitergehende Pläne für einen „geord-
neten Bevölkerungsaustausch“ zwischen Griechenland, dem Os-
manischen Reich und Bulgarien wurden mit Ausbruch des Ersten
Weltkriegs bald überholt.
Völkermord an Der Krieg radikalisierte und beschleunigte die Politik „eth-
den Armeniern nischer Säuberung“ vor allem im Osmanischen Reich. Zutiefst
1915 gedemütigt durch den Verlust fast aller seiner europäischen Be-
sitzungen, suchte und fand dessen Elite Trost in der Vision eines
„pantürkischen“ Großreichs, das neben der heutigen Türkei auch
sämtliche „Turkvölker“ Zentralasiens umfassen sollte. Die Anlei-
hen dieser Idee bei westlichen Konzepten des Nationalismus und
Rassismus sind offensichtlich. Doch die Versuche des im Ersten
Weltkrieg mit den Mittelmächten verbündeten Osmanischen
Reiches, der Vision des Pantürkismus durch militärische Erfolge
gegen Russland im Kaukasus näher zu kommen, führten zu Nie-
derlage nach Niederlage. Die jungtürkischen Eliten verdächtigten
daraufhin die christlichen Armenier, deren Siedlungsgebiet im
Kaukasus zudem ohnehin schon den Weg zum pantürkischen
Großreich blockierte, der Zusammenarbeit mit den russischen
Feinden. Die armenischen Soldaten in der osmanischen Armee
zulässig.
„Erst töten wir die Armenier, dann die Griechen,“ sagte ein
türkischer Gendarm zu einer skandinavischen Rotkreuzschwes-
ter, als das Morden an der armenischen Bevölkerungsgruppe im
Osmanischen Reich im Sommer 1915 seinen Höhepunkt erreicht
hatte [Mazower 2000, S. 97]. Denn auf dem Weg zu einer „nati-
onal homogenen“ Türkei bildeten noch andere als ethnische Min-
derheiten etikettierte Menschengruppen Hindernisse. Im Gefolge Griechisch-
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des Ersten Weltkriegs kam es deshalb zu einer Reihe von brutalen türkischer
Austreibungen von christlichen Bewohnern aus Kleinasien. Diese “Bevölkerungsaus-
tausch“ 1919/23
erfolgten im Wechsel mit Massenmorden an und Deportationen
von Muslimen durch Griechen. Knapp zwei Millionen Menschen
verloren durch solche gewaltsamen „Umsiedlungsaktionen“ zwi-
schen 1919 und 1923 in Südosteuropa ihre Heimat; Schätzungen
über die Todesopfer schwanken zwischen fünf- und sechsstelligen
Zahlen.
Der hohe Blutzoll dieser „ethnischen Säuberungen“ ließ man- Intermezzo:
che Europäer nach anderen Lösungen für die durch Ausbreitung Minderheiten-
des Nationalismus heraufbeschworenen Konflikte suchen. Maß- schutz durch den
Völkerbund
nahmen des Minderheitenschutzes gewannen deshalb in der Zeit
zwischen den Weltkriegen vorübergehend an Unterstützung. Als
Instrument dafür bot sich der nach dem Ersten Weltkrieg gegrün-
dete Völkerbund an. Die Antwort des Völkerbunds auf die Radi-
kalisierung des Nationalismus war weniger dessen Überwindung
als seine Ergänzung durch internationale Regelungen zum
Schutz von ethnischen Minderheiten. Mit der Habsburgermon-
archie war das letzte Beispiel eines nur durch seine Herrscher-
dynastie zusammengehaltenen Vielvölkerstaats in seine Bestand-
teile zerfallen. Es schien deshalb keine andere Alternative zu
geben, als durch Garantie der Autonomie von Minderheiten in
den entstandenen Nationalstaaten Übergriffe der Mehrheiten zu
verhindern. Diese Politik ließ sich aber nur schwer in die Realität
umsetzen. Die Sieger des Ersten Weltkriegs, Gründungsmit-
glieder des Völkerbunds, wollten nach Möglichkeit den status
quo auch gegen Minderheiten in den eigenen Grenzen bewah-
ren. Die Verlierer des Krieges, allen voran das 1926 in den Bund
eingetretene Deutsche Reich, unterstützten die Politik des Min-
zulässig.
Abb. 7.5: Plakat zur Wahl der deutschen Nationalversammlung am 19. Januar
1919. Sozialistische und linksliberale Parteien werden durch Identifikation mit
dem jüdischen Namen „Kohn“ als „undeutsch“ zu diffamieren versucht.
7.5 | Radikalisierung und „ethnische Säuberung“ 223
„Das ‚Dritte Reich’ war keine Anomalie und nahm mit seiner Deutscher
Politik der ‚nationalen Säuberung’ nicht einmal eine Vorreiterrol- Radikalnationalis-
mus
le ein, obwohl es sie zu neuen Extremen führte“ [Mazower 2000,
S. 96]. Erstes und Hauptopfer des durch die Niederlage im Welt-
krieg radikalisierten deutschen Nationalismus waren die Juden.
Das dürfte neben antisemitischen Traditionen auch daran gelegen
haben, dass Juden seit 1919 mehr oder weniger die einzige Grup-
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Verbündete im 2.
Mitbürger bereitwillig von den Nationalsozialisten nach Ausch- Weltkrieg
witz deportieren. Die slowakische Regierung zahlte der deutschen
dafür sogar noch eine Millionensumme. Rumänien deportierte
und ermordete seine Juden zumindest teilweise selbst. Mit dem
nationalsozialistischen Deutschland verbündete kroatische Mi-
lizen ermordeten über 300.000 Serben und vertrieben viele mehr
aus ihrer Heimat.
Als das Kriegsglück sich wendete und russische Panzer auf Sowjetunion
breiter Front die deutschen Truppen und ihre Verbündeten zu-
rückdrängten, kam die Reihe an deren Gegner. Die Sowjetunion
selbst hatte schon seit Mitte der 1930er Jahre vor allem Hundert-
tausende Angehörige deutsch- und polnischsprachiger Minder-
heiten des Riesenreiches nach Sibirien und Zentralasien depor-
tiert und vielfach auch exekutiert. Zwischen 1939 und 1941 fand
dann vorübergehend ein Bevölkerungsaustausch mit dem natio-
nalsozialistischen Deutschland über die Grenzen der in Osteuro-
pa vereinbarten Einflusszonen statt. Nach dem deutschen Über-
fall auf die Sowjetunion 1941 wurde die noch verbliebene
deutschsprachige Bevölkerung, über eine Million Menschen, in
sibirische Lager deportiert.
Diese Aktionen verblassten jedoch gegenüber derjenigen „eth- Vertreibung der
nischen Säuberung“, die hierzulande in seltsamer Ignorierung Deutschen aus
vorausgehender deutscher Taten und Pläne als „die“ Vertreibung Osteuropa
1944/48
bekannt ist. Vor allem aus Polen und den diesem 1945 auf der
Potsdamer Konferenz zuerkannten Ostgebieten des Deutschen
Reiches, aus der Tschechoslowakei und zum kleineren Teil auch
aus anderen Gebieten Osteuropas wurden zwischen Ende 1944
und 1948 über zwölf Millionen Menschen in die vier alliierten
Besatzungszonen Deutschlands verjagt und vertrieben. Beson-
zulässig.
2. Weltkriegs
Verbindung mit dieser, teils auch nur parallel zu ihr vollzog sich
eine ganze Reihe weiterer forcierter Bevölkerungsverschiebungen
und Zwangsumsiedlungen. Mehr als sieben Millionen weitere
Europäer wurden gegen Ende des Zweiten Weltkriegs ebenfalls
aus ihrer Heimat vertrieben. Tschechen wurden in den früher
sudetendeutschen Gebiete angesiedelt. Bauern aus den von Po-
len an die Sowjetunion abgetretenen Gebieten hatten sich im
schlesischen Industriegebiet, in Hinterpommern oder Ostpreu-
ßen einzugewöhnen. Währenddessen wurden ihre alten Höfe
von Ukrainern, Weißruthenern oder Litauern übernommen, die
Hunderte von Kilometern weiter östlich aufgewachsen waren.
Und die Bewohner des Dorfes in den Karpaten, die 1918 einfach
nur „von hier“ hatten sein wollen, wechselten 1945 gezwunge-
nermaßen zum vierten Mal innerhalb einer Generation die Na-
tionalität.
sich, sondern sie werden als solche etikettiert. Das Beispiel der
Juden in Deutschland zeigt das besonders deutlich. Die durch
Nationalismus motivierten „ethnischen Säuberungen“ und Kriege
der ersten Jahrhunderthälfte wirkten vielmehr durch Desillusio-
nierung der Bevölkerung. Allein während des Zweiten Weltkriegs
kam in den meisten Ländern Osteuropas wie auch in Deutschland
ein Zehntel der Bevölkerung oder mehr ums Leben. Hier gab es
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ten Eliten sich nach Kräften darum, die in der ersten Jahrhundert-
hälfte zwischen den Nationalstaaten aufgerissenen Gräben zu
überbrücken.
Deutschland und Der Wandel der deutsch-französischen „Erbfeindschaft“ zu
Frankreich: Von einer besonders harmonischen, ja geradezu intimen Beziehung
„Erbfeindschaft“ bietet dafür das beste Beispiel. Konrad Adenauer und Charles de
zu enger
Gaulle begannen eine lange Tradition westdeutscher Bundes-
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Partnerschaft
kanzler und französischer Staatspräsidenten, über Soldatengrä-
bern und bei Militärparaden Händchen zu halten. Damit aus
solchen Altmännerfreundschaften aber auch „Völkerfreund-
schaften“ wurden, scheute man weder Kosten noch Mühen. Ge-
waltige Mengen an Geld und noch mehr Engagement flossen in
Schüleraustausche, Jugendbegegnungen, Städtepartnerschaften
und vieles mehr. Der Erfolg blieb nicht aus. Die wechselseitigen
Feindbilder lösten sich in Wohlgefallen auf, und aus dem neuen
deutsch-französischen Bündnis wurde sogar die Keimzelle der
(west)europäischen Einigungsbewegung.
Europäische Die Idee einer Einigung Europas war zur Überwindung der
Einigungsbewe- nationalstaatlichen Zersplitterung schon lange vor dem Zweiten
gung Weltkrieg propagiert worden. Doch erst danach versuchte man sie
in die Praxis umzusetzen. Die 1952 von Frankreich, der Bundes-
zulässig.
Abb. 7.7: Entwicklung der Bilder vom Andern in Frankreich und Deutschland
(Karikatur 1988)
7.6 | Nationalismus im späten 20. Jahrhundert 229
Abb. 7.8: Straßenschild in Wales (späte 1960er Jahre) – vor den Augen zorniger
junger Männer der „Welsh (Cymraeg) Language Society“ fand nur der traditionelle
Ortsname Llangollen Gnade
Abb. 7.9: Die griechische Sagenfigur Europa auf dem Stier, unterwegs in zwei entgegengesetzte Rich-
tungen (Karikatur um 1980)
Literatur
– Hobsbawm, Eric, Nationen und Nationalismus: Mythos und Realität seit 1780,
Frankfurt 1992 (ebenso exzellenter wie eigenwilliger, mit vielen anschaulichen
Beispielen gespickter Gesamtüberblick zum Thema in lesbarer Buchlänge. Viel-
fach nachgedruckt).
– Hroch, Miroslav/Jitka Maleckova, Nation, in: Encyclopedia of Nationalism, New
Brunswick 2001, S. 203-208 (vorzügliche kurze Zusammenfassung des For-
schungsstandes zur Begriffsgeschichte in einem Nachschlagewerk, das knappe
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und meist klare Auskünfte auch über viele andere Fragen zum Thema Nationa-
lismus bietet).
– Hroch, Miroslav, Das Europa der Nationen. Die moderne Nationsbildung im euro-
päischen Vergleich, Göttingen 2005 (gut lesbare Überblicksdarstellung, die an
vielen Beispielen gerade auch aus den „kleineren“ Nationen veranschaulicht, wie
diese aus dem Zusammenwirken von bestimmten sozialen, politischen und
kulturellen Bedingungen einerseits und zielbewusstem nationalistischem Han-
deln andererseits entstanden. Mit ausführlichen kommentierten Literaturhin-
weisen).
– Langewiesche, Dieter, Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert. Zwischen Parti-
zipation und Aggression, Bonn 1994 (gedruckter Vortrag, der auf gut 20 Seiten
viele wichtige Anregungen gibt und besonders den Doppelcharakter des Natio-
nalismus als Integrations- und Ausgrenzungsideologie betont).
– Mazower, Mark, Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert, Berlin 2000,
S. 69-116, 233-266 (schildert übersichtlich und klar Hintergründe wie Verlauf
der Politik „ethnischer Säuberungen“ im Zeitalter der Weltkriege und beleuchtet
auch die vom Völkerbund betriebene Alternative des Minderheitenschutzes).
– Wehler, Hans-Ulrich, Nationalismus, München 2001 (knappste Einführung in
die meisten Aspekte des Themas in Buchform; interpretiert Nationalismus als
Übergangsphänomen in Modernisierungskrisen; mit provokant überspitzten
Urteilen ebenso anregend wie zum Widerspruch herausfordernd).
– Weichlein, Siegfried, Nationalbewegungen und Nationalismus in Europa, Darm-
stadt 2006 (dieser in der Reihe „Geschichte Kompakt“ erschienene Band hält,
was der Reihentitel verspricht: präzise Informationen über Entstehung, Instru-
mentalisierung, Trägerschichten und Verbreitung des Nationalismus im Europa
des langen 19. Jahrhunderts, angereichert durch zahlreiche Beispiele).
zulässig.
Abbildungsnachweis
Abb. 1.1. Tomika Te Mutu, Häuptling des Stammes der Ngaiterangi, aus:
Christopher Alan Bayly, The Birth of the Modern World 1780-1914,
Oxford 2004, S. 14.
Abb. 1.2. Geronimo, letzter der Apatschen, 1887, aus: Alvin M. Josephy,
500 Nations. Die illustrierte Geschichte der Indianer Nordamerikas,
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pher Alan Bayly, The Birth of the Modern World 1780-1914, Oxford
2004, S. 55.
Abb. 2.10. „Das Lichten eines Hochwaldes“ (Karikatur von 1848), aus:
Jahrbuch des Kreises Trier-Saarburg 1999, S. 79.