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Teil II: Die Sprachen des Nahen und

Mittleren Ostens in Vergangenheit und


Gegenwart
Modul NMS3: Sprachen, Kulturen und
Religionen des NMO
7.5.2018 - Prof. Dr. Stefan Weninger
Heutiges Thema:

SPRACHKONTAKT UND
KONVERGENZ
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Sprachkontakt

• „Das Aufeinandertreffen zweier oder mehrerer Sprachen, meist


durch geographische Nachbarschaft ihrer Sprecher.
Voraussetzung ist, dass Kommunikation über die Grenzen der je-
weiligen einzelnen Sprachgemeinschaft hinweg erfolgt. Typische
Erscheinungsform des Sprachkontakts ist der Bilingualismus.“
H. Glück: Metzler Lexikon Sprache

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Konvergenz

• „Tendenz zur gegenseitigen Annäherung zweier Elemente, deren


Resultat in ihrer Verschmelzung bestehen kann.
Konvergenz tritt auf verschiedenen Ebenen des Sprachsystems auf,
z.B. als Annäherung benachbarter Phoneme oder Morpheme an-
einander und ihr schließliches Zusammenfallen in einer Einheit.
Sprachbundphänomene können als (globale) Konvergenz-Prozesse
aufgefasst werden.“
H. Glück: Metzler Lexikon Sprache

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Konvergenz

• Mögliche Ebenen der Konvergenz:

– Phonetik / Phonologie (lautliche Ebene)


– Morphologie (Formenlehre)
– Syntax (Satzbau)
– Semantik (Bedeutung / Inhaltsseite)
– Lexikon (Wortschatz)

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Sprachkontakt und Konvergenz

• Kontakt der Sprecher auf der Ebene der Sprachverwendung (parole)


• Direkter vs. indirekter Sprachkontakt
– direkt: Mündliche Interaktion der Sprecher, face-to-face
– indirekt:
• medial vermittelt (z.B. Englisch-Deutsch)
• über eine dritte Sprache (z.B. arab. Vokabular im Osmanischen,
das über das Persische vermittelt wurde)
• am üblichsten Fremdwort/Lehnwort
• strukturelle Interferenz (Grammatik an sich; weniger häufig)
• Asymmetrie; kulturelles Gefälle; Prestige (kulturell, religiös etc.)

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Sprachkontakt und Konvergenz

• Schlüsselrolle der bilingualen Sprecher bei struktureller Interferenz


• Angleichung durch Herstellung von 1:1 – Beziehungen
• Veränderter Input beim Spracherwerb
• Spracherwerb: Internalisierung von Regeln auf der Basis der
Sprachverwendung von Eltern und peers

-> verändertes Sprachsystem (langue) erst in der nächsten Gene-


ration

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Innersemitischer Sprachkontakt

Akkadisch ← Amurritisch

Hebräisch ↕

Aramäisch

Nordäthiopisch ← Arabisch (↔) Sabäisch

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Kontakt mit nicht-semitischen Sprachen

• Akkadisch ← Sumerisch

• Aramäisch ← Iranisch, Griechisch

• Arabisch ← Iranisch, Berber, Türkisch

• Äthiosemitisch ← Kuschitisch

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Zwei Fallstudien

1. Arabisch – Iranischer Sprachkontakt über die Jahrhunderte

2. Arabisch – Berberischer Sprachkontakt in Nordafrika

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1. Arabisch – Iranischer Sprachkontakt

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1. a) Historischer Überblick

• Alte Kontaktzone Semitisch - Iranisch; iranisch-aramäische Kontakte


schon sehr alt

• Situation vor Beginn des Islam:


– Reich der Sasaniden (224-651); Sprache: Pahlavi (Mittel-
persisch)
– Laḫmiden (3. Jh. – 602; Zentrum al-Ḥīra, SW-Irak)
Herrscherfamilie Banū Laḫm; christlich; Vasallen der Sasaniden
– zahlreiche persische Lehnwörter bei dem vorislamischen Dich-
ter al-A‘šā

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1. a) Historischer Überblick

• 636/637/638: Schlacht von Qādisīya; in den folgenden Jahren


Eingliederung Irans ins Kalifenreich

• Ab 750: ‘Abbasiden regieren das Reich vom Irak aus (Hauptstadt


Bagdad)

• Funktionseliten im Abbasidenreich oft iranischer Herkunft

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1. a) Historischer Überblick

• Iranische Intellektuelle und Politiker in der Glanzzeit des Kalifats:

– Sībawayh
– Yaḥyā ibn Ḫālid al-Barmakī
– ‘Abdallāh ibn al-Muqaffa‘
– al-Buḫārī

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1. a) Historischer Überblick

• Iranische Intellektuelle und Politiker in der Glanzzeit des Kalifats:

– Sībawayh (Verfasser der ersten Grammatik des Arabischen)


– Yaḥyā ibn Ḫālid al-Barmakī (Wesir, wazīr)
– ‘Abdallāh ibn al-Muqaffa‘ (Übersetzer aus dem Pahlavi, z.B.
Kalīla wa-Dimna [aus Indien stammende Tierfabeln])
– al-Buḫārī (bekanntester Ḥadīṯ-Gelehrter)

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1. a) Historischer Überblick

• ab 10. Jh.: Etablierung des Neupersischen in arabischer Schrift

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Šāhnāme
Heldenepos über das vorislamische
Persien
Dichter: Firdausī (940/41-1020)

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1. a) Historischer Überblick

• ab 10. Jh.: Neupersische Sprache und Literatur

• Arabisch als Sprache der Religion (Sakralsprache) auch im


iranischen Gebiet weiter von großer Bedeutung

• kulturelle Bedeutung des Persischen im arabischen Sprachgebiet

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1. b) Iranisch -> Arabisch

Iranischer Wortschatz im klassischen Arabisch (Eilers 1971):

• Schreibwesen
– ‫ ديوان‬dīwān ‚Liste; Kanzlei‘
• Himmelskunde
– ‫ زيج‬zīǧ ‚astronomische Tafeln‘
• Mineral- und Drogenkunde
– ‫ مسك‬misk ‚Moschus‘
• Pflanzenkunde
– ‫ بنفسج‬banafsaǧ ‚Veilchen‘

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1. b) Iranisch -> Arabisch

• Tierkunde
– ‫ بط‬baṭṭ ‚Ente‘
• Erdkunde
– ‫ مرج‬marǧ ‚Wiese; Weide‘
• Musik
– ‫ كمانجة‬kamānǧa ‚(ein Saiteninstrument)‘
• Sport und Spiel
– ‫ شطرنج‬šaṭranǧ ‚Schach‘
• Farben
– ‫ أزرق‬azraq ‚blau‘

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1. b) Iranisch -> Arabisch

• Stoffe und Kleidung


– ‫ بابوج‬bābūǧ ‚Pantoffel‘
• Küche
– ‫ طبق‬ṭabaq ‚Teller; Gericht‘
• Handwerk
– ‫ شاكوش‬šākūš ‚Hammer‘
• Bauwesen
– ‫ دھليز‬dihlīz ‚Vorhalle‘
• Verwaltung und Hof
– ‫ فھرست‬fihris(t) ‚Liste; Verzeichnis‘

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1. b) Iranisch -> Arabisch

• Heerwesen
– ‫ بيذق‬bayḏaq ‚Fußsoldat‘
• Schiffahrt
– ‫ بندر‬bandar ‚Hafen(stadt)‘

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1. b) Iranisch -> Arabisch

• Grammatischer Einfluss des Persischen schon früh in der Umgangs-


sprache:

Der Dichter al-Ḥarīrī (st. 516/1122) tadelt etwa den Gebrauch von
persisch ham ‚auch‘

• Konsonanten p und v im Irakisch-Arabischen (meist Lehnwörter, u.a.


parda ‚Vorhang‘ < Persisch)

• -> Grammatischer Einfluss nicht in der Standardsprache!

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1. c) Arabisch -> Persisch

• Hohe Anzahl arabischer Fremd- und Lehnwörter

• In der Aussprache ans Persische angepasst (nicht orthographisch!)


– Εmphase wird ignoriert (z.B. kein Unterschied zwischen s ‫ س‬und
ṣ ‫)ص‬
– ġain (‫ )غ‬und qāf (‫ )ق‬werden gleich gesprochen
– ʿain (‫ )ع‬und hamza (‫ )ء‬fallen zusammen oder ganz aus
• arab. ‫غذاء‬ġiḏāʾ ‚Speise‘ > pers. ‫[غذاء‬ġazå]
• arab. ‫ قضاء‬qaḍāʾ ‚Urteil‘ > pers. ‫[ قضاء‬ġazå]
• arab. ‫ بعد‬baʿd ‚nach‘ > pers. ‫[ بعد‬ba:d]

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1. c) Arabisch -> Persisch

• religiös gefärbter Wortschatz:


– solh < arab. ‫ صلح‬ṣulḥ ‚Friede‘

• anderes:
– raġġās ‚Tänzer‘ < ‫ ر ّقاص‬raqqāṣ

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1. d) Persisch -> Arabisch -> Persisch

• In der Sprachgeschichte nicht selten auch Rückentlehnungen

• mittelpers. bōyestān ‚Garten‘

> arab. ‫ بستان‬bustān, Pl. ‫ بساتين‬basātīn

> pers. bostān, Pl. basātīn

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2. Arabisch – Berberischer Sprachkontakt in
Nordafrika

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2. a) Berberisch

• Soziologisch:

– z.T. Rückzugsgebiete; z.T. früher Verbote; nur sehr einge-


schränkt in der Schule verwendet
– hohe Anzahl von zweisprachigen Personen (insb. Männer);
Mehrheit der Berber beherrschen auch Arabisch

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2. a) Berberisch

• Soziologisch:

– asymmetrisches Verhältnis; Arabisch dominant, Berber


benachteiligt

– sehr langer Sprachkontakt (seit 7. Jh. n. Chr.)

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2. b) Berberisch -> Arabisch

• Einfluss hauptsächlich im gesprochenen Dialekt

• Berberischer Einfluss in der Phonologie


– ‚Vokalarmut‘: Reduktion kurzer Vokale in offener Silbe
(z.B. ktǝb ‚er schrieb‘; hocharab. kataba)

– l erscheint mitunter als ž oder n:


• sidna ‘ži = sidna ‘li ‘Herr Ali’ (hocharab. ‫ سيدنا علي‬sayyidunā
‘Alī)
• tqūl-li > tqūn-ni ‘du sagst zu mir’ (hocharab. ‫ تقول لي‬taqūlu lī)

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2. b) Berberisch -> Arabisch

• Berberischer Einfluss in der Morphologie

– Übernahme berberischer Nominalformen durch Lehnwörter:


Z.B. aktuf (= hocharab. katif ‫‘ )كتف‬Schulter’ nach berberischem
Muster wie aγrum ‘Brot’
– Zirkumfix ta- … it:
Im Berberischen Femininzeichen; ins tunesische Arabisch
übernommen für expressive Abstrakta: taklubit ‘Boshaftigkeit;
Schurkerei’ < ‫ كلب‬kalb ‘Hund’

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2. b) Berberisch -> Arabisch

• Bereiche für Lehnwörter:


– Botanik; Agrikultur

• ‚Calques‘ (semantische Kopien):

mar.-arab. lḥem xḍer ‘rohes Fleisch’ (lit. ‘grünes Fleisch’)

Semantik nach Berber ‘grün / frisch / unreif / ungekocht’


[arab. ‫ضر‬ ْ ʾaḫḍar ‚grün‘ hat nicht die Bedeutung ‚unreif / unge-
َ ‫أخ‬
kocht‘]

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2. c) Arabisch -> Berberisch

• Zahlreiche arabische Lehnwörter in Berbersprachen; abhängig von


der Region

• Integration der Lehnwörter in die berberisch Morphologie:

– arab. fəllāḥ ‚Bauer‘ (hocharab. ‫ فالح‬fallāḥ) > afəllāḥ [mit


berberischem maskulinem Präfix]
– Plural afəllāḥən [berberische Pluralendung]

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2. d) Resultat der Konvergenz: Sprachbund

• Sprachbund: „Bezeichnung für Gruppen geographisch benachbarter


Sprachen, die sich, ohne dass zwischen ihnen eine genetische Ver-
wandtschaft zu bestehen braucht, durch auffällige Übereinstimmun-
gen im grammatischen Bau auszeichnen und sich durch dieselben
Gemeinsamkeiten von im weiteren Umkreis gesprochenen Spra-
chen abheben.“
Glück: Metzler Lexikon Sprache

• Alternativer Begriff: Konvergenzareal

• Beispiele: Balkansprachbund, äthiopischer Sprachbund

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2. d) Sprachbund

• Marokkanischer Sprachbund?

• „a likely hypothesis that there is a convergent evolution of the two


North-African native languages“
(Mohand Tilmatine 2011, in: The Semitic Languages)

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Literatur

• Artikel in Encyclopedia of Arabic Language and Linguistics:

1) „Language Contact“ (S. Thomason) II 664-674


2) „Berber Loanwords“ (A. El Aissati) I 293-299
3) „Persian“ (J. Perry) III 573-580
4) „Persian Loanwords“ (A. Asbaghi) III 580-584

[alle auf Ilias verfügbar]

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