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er türkische Premierminister Re- Aber sie prägen das Bild der Amerikaner
cep Tayyip Erdogan ist der wich- von der Türkei – und das ist verheerend.
tigste muslimische Verbündete Die Gerüchte klingen ungeheuerlich.
der USA. Als er antrat, versprach er einen So soll einer der wichtigsten Berater der
demokratischen Islam – eine Vision, die Regierung einer Journalistin anvertraut
Vorbild hätte sein können für andere Staa- haben, dass sich Erdogan bei der Privati-
ten der Region. sierung einer staatlichen Ölraffinerie be-
Doch wenn man den Depeschen der reichert habe. Einer Quelle im Energie-
Amerikaner glauben kann, ist die Türkei ministerium zufolge soll er im vergange-
davon weit entfernt. Die US-Diplomaten nen Jahr die Iraner unter Druck gesetzt
schätzen das Land ganz anders ein. Er- haben, einen Gas-Pipeline-Deal mit einer
dogan? Ein machtgieriger Islamist. Seine türkischen Firma einzugehen, die einem
Minister? Unfähig, ungebildet, manche seiner Schulfreunde gehört. Das Geschäft
korrupt. Die Regierung? Zerstritten. Die hat Beobachter verwundert: Denn das
Opposition? Lächerlich. Unternehmen baut Häfen aus, hat aber
Tausende Berichte schickten die US- kaum Erfahrung im Energiebereich. Er-
Diplomaten in den vergangenen 31 Jah- dogan selbst soll, so behaupten zwei In-
ren aus Ankara. Die jüngeren Dokumen- formanten der Amerikaner, über acht
te sind eine gnadenlose Abrechnung – sie Konten in der Schweiz verfügen.
stehen im Widerspruch zu fast allem, was Die Erdogan-Partei AKP dementiert ve-
die Regierung der USA bislang offiziell hement alle Vorwürfe. Und der Premier
zur Türkei zu sagen hatte. sagt, seinen Reichtum habe er durch Ge-
Vor allem Premier Erdogan misstrauen schenke erlangt, die Gäste seinem Sohn
die Amerikaner: Er habe noch nie ein bei der Hochzeit überreichten. Außerdem
realistisches Weltbild gehabt, heißt es in finanziere ein türkischer Geschäftsmann
einem Schreiben vom Mai 2005. Erdogan seinen vier Kindern das Studium in den
glaube, Gott habe ihn auserkoren, die USA. Die US-Botschaft hält diese Erklä- Premierminister Erdogan: „Er hat noch nie ein
Türkei zu führen, und inszeniere sich gern rungen für „eine faule Ausrede“.
als „Volkstribun von Anatolien“. Aber Erdogan weiß offenbar, wie man en Bürgermeister den Rang abzulaufen.
Der Regierungschef des Nato-Partners die Basis für sich gewinnt: Als seine AKP Bis zum Redaktionsschluss war von Erdo-
mit der zweitgrößten Bündnisarmee in- eine empfindliche Niederlage bei der gan keine Stellungnahme zu erhalten.
formiere sich fast ausschließlich aus isla- Bürgermeisterwahl 2004 in Trabzon ein- Der Premier habe die AKP zu einer
mistennahen Zeitungen, behaupten die stecken musste, soll er, so die Botschafts- „Erdogan-Maschine“ umgebaut, konsta-
Amerikaner, Analysen aus seinen Minis- dokumente, seinen engen Vertrauten tiert die US-Botschaft. Viele AKP-Spit-
terien interessierten ihn angeblich nicht. Faruk Nafiz Özak als Präsidenten des Fuß- zenkräfte seien Mitglied in einer musli-
Das Militär und der Geheimdienst wür- ballclubs Trabzonspor installiert haben. mischen Bruderschaft: auch Erdogan und
den gewisse Berichte nicht mehr an ihn Die Depeschen geben unbewiesene Be- Staatspräsident Abdullah Gül.
weiterleiten. Er traue niemandem wirk- hauptungen von Informanten wieder, Es gebe allgemein „zu wenig Sachver-
lich und umgebe sich mit einem „eisernen demnach soll der Premier Özak einige stand“ in der Regierung, kritisiert US-
Ring von unterwürfigen (aber hochnäsi- Millionen Dollar aus einer geheimen Botschafter Eric Edelman schon im Ja-
gen) Beratern“. Trotz seiner „Prahlerei“ Staatskasse überwiesen haben. Er möge nuar 2004: „Einige AKP-Leute wachsen
sei er von Angst erfüllt, seine Macht zu mit dem Geld, so ein Schreiben vom Juni zwar an ihrem Amt, andere sind inkom-
verlieren. Ein Erdogan-Kenner sagt den 2005, bessere Spieler kaufen, um dem neu- petent, gehen Privatinteressen nach oder
Amerikanern: „Tayyip glaubt an Gott –
aber er traut ihm nicht.“
Erdogan übernahm 2003 das Amt des
Ministerpräsidenten, zwei Jahre zuvor hat-
te er seine Partei, die islamisch-konserva-
tive AKP, gegründet. Im Wahlkampf kün-
digte er an, die Korruption zu bekämpfen.
Doch schon 2004 berichten Informan-
ten den Amerikanern von Korruption auf Urteil des US-Botschafters über Erdogan vom 30. Dezember 2004:
allen Ebenen, sogar innerhalb der Familie
Erdogans. Die Beschuldigungen sind „Erdogan hat sich dem Fluss verlässlicher Informationen entzogen, was
nicht bewiesen, vielleicht wollen die teilweise seine Probleme erklärt, den Kontext zu verstehen.“
Quellen den Premier nur anschwärzen.
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der Politik außerhalb Ankaras, meinen
die Amerikaner. Das halten sie für miss-
lich, denn sie wollen die Türkei in der
EU sehen. Sie glauben nur nicht, dass es
dazu kommt. Um ernsthaft verhandlungs-
fähig zu sein, „müsste die Regierung ein
paar tausend Mitarbeiter einstellen, die
gut Englisch sprechen und von den EU-
Bürokraten ernst genommen werden“,
schrieb der Botschafter. Bisher habe die
AKP vor allem Vertraute aus islamisti-
schen Bruderschaften eingestellt.
Einige AKP-Politiker unterstützen
nach Einschätzung der Amerikaner den
EU-Beitritt aus „finsteren und verwirren-
den“ Gründen, auch weil sie glauben, die
Türkei müsse den Islam in Europa ver-
breiten. Das Mitglied eines führenden
AKP-Think-Tanks überspitzte es nach
Aussagen von US-Diplomaten Ende 2004
so: „Wir wollen Andalusien zurück und
uns für die Niederlage bei der Belagerung
Wiens 1683 revanchieren.“
Außenminister Ahmet Davutoglu geht
zwar nicht so weit, aber die Amerikaner
sind alarmiert über seinen imperialisti-
schen Ton. Im Januar 2010 resümiert der
US-Botschafter eine Davutoglu-Rede in
Sarajevo. „Davutoglus These: Dem Bal-
kan, dem Kaukasus und dem Nahen
Osten sei es unter Kontrolle und Einfluss
der Osmanen bessergegangen. Seitdem
haben Teilung und Krieg verheerende
Auswirkungen gehabt. Jetzt jedoch sei
die Türkei zurück und bereit zu führen.
BURHAN OZBILICI / AP
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