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Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

Joachim Bodamer

Der Mensch ohne Ich


Herder Verlag Freiburg, 1958

Nos autem in experimentis volvimur


Der Mensch aber wird durch das Rad des Lebens
von Prüfung zu Prüfung getrieben
Augustinus, Confessiones

JOACHIM BODAMER, 1910 in Stuttgart geboren, studierte in


Heidelberg, München und Berlin Medizin sowie Philosophie bei Nicolai
Hartmann und Karl Jaspers. Seit 1938 wirkt er als Facharzt für Nerven- und
Geisteskrankheiten am Landeskrankenhaus Winnenden. Neben seinen
fachmedizinischen Problemen beschäftigt er sich zunehmend mit
kulturkritischen und sozialpathologischen Fragen, zu denen er in Büchern und
zahlreichen Rundfunkvorträgen und Zeitungsaufsätzen Stellung nimmt.

Über das Buch:


Hier schreibt ein Arzt und ein Humanist den Krankheitsbericht unserer
Epoche. Er deckt ein tiefes verborgenes Leiden auf, das hinter den
mannigfaltigen Zivilisationserscheinungen steckt. Wir spüren es in uns,
ängstigen uns vor ihm, ohne doch das Wesen dieser Krankheit zu
durchschauen.
Joachim Bodamer stellt die Diagnose: Der Mensch ist dabei, sein Ich zu
verlieren. Im pausenlosen Andrang von Information, Reklame,
Massenvorstellungen, getrieben von dem zivilisatorischen Ehrgeiz nach
ständiger Leistungssteigerung und höherem Lebensstandard, gibt er sich
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Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

selbst auf und büßt die Kraft ein, sein Leben aus der eigenen Mitte zu
gestalten.
Ein lärmender Optimismus und der ständige technische Fortschritt täuschen
über den unheimlichen Verlust hinweg. Joachim Bodamer reißt die Masken
ab und enthüllt uns den ungeheuren Leerlauf, der uns zu beherrschen droht
und der dem Leben heute eine sinnvolle Entfaltung versagt.
Aber Joachim Bodamer ist Arzt, er stellt nicht nur die Diagnose, er weiß auch
Wege zur Heilung. Und so zeigt er Möglichkeiten auf, wie wir uns selbst
wiedergewinnen können im Widerstand gegen die Zeit, wie wir wieder zur
Fülle des Lebens finden, die uns innerlich frei macht und glücklich und
geborgen.

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Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

Inhalt

Kapitel: Der Mensch im Spannungsfeld der technischen Lebensform


Kapitel: Das Ich im Zustand der Stimulation
Kapitel: Das Ich im Spiegel seiner Leiden
Kapitel: Das Alter als Lebensbilanz in der technischen Welt
Kapitel: Wege zum verlorenen Ich

ERSTES KAPITEL

DER MENSCH IM SPANNUNGSFELD DER


TECHNISCHEN LEBENSFORM

I.
Um die leibliche und seelische Bedrohung in ihrem ganzen Umfang zu
verstehen, die der Mensch durch seine Umwelt, die technische Zivilisation
des 20. Jahrhunderts, erleidet, ist zunächst eine Vorbesinnung notwendig.
Denn wer immer zu dieser brennendsten, beunruhigendsten und schwierigsten
Frage unserer Welt- und Seelensituation das Wort ergreifen will, muß sich
darüber klar sein, aus welchem Geist heraus, von welcher Position her, ja mit
welchem Willen er sich und die andern vor eine Wirklichkeit hinführen will,
die sich schon durch die Richtung und Art verändert, mit der sie betrachtet
wird. Denn wir können uns und unsere Lage, deren Gefährdung und
Gefährlichkeit nur noch dem Stumpfesten verborgen ist, nicht mit dem
objektiven, sachkühlen Intellekt des Forschers mustern, dem es nur um die
Wahrheit einer Tatbestandsaufnahme geht. Sind es doch wir selbst, unser
Dasein und unsere Zukunft, um die es sich handelt, wenn das Problem der
technischen Welt und ihrer anthropologischen und metaphysischen
Bedeutung zur Diskussion gestellt wird. Sosehr also die Leidenschaft der
persönlichen Anteilnahme hier berechtigt und notwendig ist, sosehr es von
der individuellen Entscheidung eines jeden einzelnen unter uns abhängen
wird, ob der Mensch zu seiner Umwelt wieder ein natürliches Verhältnis
gewinnt und sich eine neue geistige Freiheit erobert, in ganz dem gleichen
Maße ist es auch notwendig, daß jede extremistische Einstellung beiseite
bleibt.
Weder die Leichtfertigkeit, mit der noch immer bei jedem neuen technischen
Fortschritt nur der Nutzen verherrlicht und nicht die vertiefte Abhängigkeit
bedacht wird, weder der kindliche und flache Stolz auf Weltraumeroberung,
Atomenergie und den Gewinn der kosmischen Strahlung noch auch der
fruchtlose Nihilismus, der sich am liebsten aus dieser Zeit flüchten würde und
der in der technischen Zivilisation nur Teufelswerk und die Zeichen der
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Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

Endzeit zu erblicken glaubt, also weder ein Optimismus, der keine Gefahren
und Abgründe gelten läßt, noch ein Pessimismus, der nur diese sieht, scheint
der Größe einer Aufgabe angemessen zu sein, die in der Erkenntnis unserer
wirklichen Lage besteht. Denn wenn — um dies vorwegzunehmen — die
technische Welt eine bisher nie für möglich gehaltene Belastungsprobe für
das Wesen des Menschen geworden ist, eine unerhörte Herausforderung
seiner geistigen Substanz, seiner Menschlichkeit, ja seiner leib-seelischen
Konstitution, dann darf man eine Gefahr solchen Ranges nur mit dem Mut
angehen und bekämpfen, in welchem die Hoffnung auf Rettung und
Überstehen als Element schon mitgegeben ist. Hugo von Hofmannsthal, der
wohl größte Dichter zwischen den beiden Weltkriegen, hat nach dem
Zusammenbruch seiner bisherigen geistigen Welt und im Hinblick auf die
zunehmende Verschärfung der Lage, sich, aus einem vorfühlenden Instinkt
heraus, bewußt zu seiner Zeit bekannt, denn ihm scheine, wie er einem
Freunde schrieb, der heutigen Unwelt eine solch dunkle, religiöse Würde
innezuwohnen, daß er nicht wohl möchte dafür getröstet werden, daß es ihm
verhängt wurde, dies mitzuerleben, und er sich auch nicht herausnehmen
wolle, einen anderen deswegen zu trösten. Im Geiste dieses Wortes von
Hofmannsthal, im Bewußtsein also, daß die Technik nicht die ökonomische,
nicht die soziale und nicht die geistig-kulturelle, sondern in erster Linie die
religiöse Existenz des Menschen herausgefordert hat, das heißt vielleicht
herausfordernd zum Vorschein bringen will, soll die Frage nach dem
Schicksal des Menschen im technischen Spannungsfeld gestellt werden.
Noch vor 50 Jahren hätte eine Formel wie „Gesundheit und technische
Welt” in jedem die berechtigte Erwartung erweckt, es werde nun eine stolze
Bilanz vorgelegt, wie doch die naturwissenschaftliche Medizin und ihre
technische Anwendung den allgemeinen Gesundheitszustand gehoben habe,
das Leben verlängert, die Seuchen zum Verschwinden gebracht, den Schmerz
weitgehend verdrängt und die Krankheiten so in die Enge getrieben, daß es
nur noch eine Frage der Zeit sein könne, bis die Krankheit als solche von der
Medizin zu einer vermeidbaren, beherrschbaren, auf jeden Fall ungefährlichen
Angelegenheit gemacht werden würde. Wir wissen alle, wie sehr diese
Hoffnung getrogen hat, ähnlich wie so manche Hoffnung, die ihren Antrieb
aus dem unentwegten Fortschritt bezog, so etwa auch diese, daß die
Verbesserung der Lebensbedingungen den Menschen glücklicher mache oder
daß Verständnis und Verständnisbereitschaft der Völker untereinander durch
die Technik als ein angeblich neutrales Medium gefördert würde. Die
Medizin als Wissenschaft und der Arzt als ihr aufnehmendes und
vollziehendes Organ stehen beide heute vor der nicht mehr abzuweisenden
Tatsache, daß die technische Zivilisation eine Unmenge neuer, unerwarteter
Krankheiten in ihrem Gefolge hatte, wenn auch frühere Krankheiten
verschwanden, daß andere sich im Stile ihrer Symptomatik und ihres
Auftretens wandelten, daß weiter mit der Veränderung alter und dem
Entstehen neuer Krankheiten unser bisheriger Krankheitsbegriff fragwürdig
und unsicher wurde, zumindest nur für eine begrenzte Auswahl von
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Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

Krankheitsformen noch zuzutreffen schien, daß es weiter zweifelhaft wurde,


ob die Erkenntnismöglichkeiten und Erkenntnismethoden der
naturwissenschaftlich-technischen Medizin überhaupt zureichten, um der
neuen Situation Herr zu werden, weil mit ihnen eine ganze Reihe von
Zivilisationsstörungen gar nicht zu erfassen, d. h. zu verstehen, geschweige
denn zu heilen waren. Dazu kam das Faktum, daß der zunehmende
Verkehrstod den Sieg bei der Bekämpfung des Seuchentodes wieder
illusorisch gemacht hatte, daß für bestimmte Krankheiten, wie den Krebs, die
Aussicht endgültig schwand, ihn, wie es K. H. Bauer einmal formulierte,
jemals durch unsere therapeutischen Möglichkeiten einzuholen, da er durch
sich summierende pathologische Reize entstünde, deren krankhafte
Anfangsveränderungen im Körper wir nicht zu fassen bekämen und die nur
durch einen sehr einschneidenden Umsturz unserer Daseinsweise zu
vermeiden wären. Aber nicht nur Krankheit, Krankheitsbegriff und der Sinn
therapeutischer Erfolge wurden zwielichtig, sondern mit der sich
ausweitenden technischen Umgestaltung der Welt, mit dem Entstehen von
Massengesellschaft und Massenversorgungsstaat unterlag auch die Stellung
des Arztes einem totalen Wandel, insofern der Arzt als abhängiger Diener der
Sozialversicherung sich heute seiner besten Wirkungsmöglichkeiten beraubt
sieht, einen nicht geringen Teil seiner Kräfte der arztfremden Verteidigung
seiner gesellschaftlichen Stellung widmen muß und mit dem Kranken
zusammen einer übergeordneten Bürokratie verpflichtet wurde, die aus der
Krankheit einen Verwaltungsakt gemacht hat, womit das Verhältnis von Arzt
zu Patient aus einer humanen Beziehung in eine sozialpolitische verkehrt wird.
Damit taucht unversehens die volle Problematik der heutigen Medizin und
des ärztlichen Berufes auf, die mit diesen knappen Strichen wenigstens
umrissen sein soll, da der Arzt in gleichem Maß wie sein Patient dem Angriff
der Technik als Lebensform ausgesetzt ist. Die Formel „Gesundheit und
technische Welt” meint heute die ganz andere Frage, ob und in welchem Maße
die Technik als künstlicher, weitgehend automatisierter Lebensraum den in
ihm lebenden Menschen zu schädigen vermag, in Form von nur der Technik
eigentümlichen, akuten oder chronischen Störungen, wobei der mit
technischen Aktionen verknüpfte Arbeits- oder Verkehrsunfall sowie die
sogenannte Gewerbeschädigung ganz außer Betracht bleiben. Dahinter erhebt
sich die zweite, viel bedeutsamere Frage, ob unter den Seinsvoraussetzungen
einer technischen Zivilisation der Mensch als Mensch sich zu verändern
begonnen habe, sei es daß er, widerstrebend zwar, ihrem selbsttätig
gewordenen Zugriff unterliegt oder sich mehr oder minder bewußt und
willentlich an sie anpaßt.
Nietzsche hat in seinen frühen Schriften das Wesen des Philosophen einmal
damit zu treffen versucht, daß er ihn einen „Arzt der Kultur” nannte, den
Denker als den Diagnostiker seiner Zeit und das philosophische
Gedankensystem als deren Therapie. Heute scheint umgekehrt der Arzt,
sofern er seine Erfahrungen und Einsichten zur allgemeinen Bedeutung
erheben will, ein Philosoph der Kultur werden zu müssen, unserer technisch-
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Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

ökonomischen Kultur. Daher sind in dem Chor der warnenden,


beschwörenden und mahnenden Zeitkritiker immer zahlreicher Ärzte
vertreten, sehen sich diese immer häufiger gezwungen, auf eine Entwicklung
hinzudeuten, die höchst bedenklich zu werden droht, und vielleicht ist
wirklich der Arzt in unserer Lage mehr als jeder andere zu diesem Amt
berufen, weil er mit dem Pulse seiner Patienten gleichzeitig den einer
unruhigen und dysrhythmisch gewordenen Zeit zu fühlen bekommt.
Zudem fordern alle ärztlichen Erfahrungen der jüngsten Zeit immer
eindeutiger die Konzeption einer präventiven, das heißt vorbeugenden
Medizin, weil unsere therapeutischen Erfolge, gemessen an dem apparativen
Aufwand und der Brillanz unseres Krankenhaus- und Gesundheitsbetriebes,
recht bescheiden sind und offenbar immer bescheidener werden, je weiter wir
in dieser Richtung vorwärtsgehen. Ein Kennzeichen der modernen Therapie,
die in jeder Krankheit etwas sieht, was es so schnell wie möglich und so
vollständig wie möglich zu beseitigen gilt, ist, daß sie für den Augenblick
höchst wirkungsvoll und scheinbar verblüffend radikal einzugreifen versteht,
auf die Dauer aber unerwartete, oft gegenteilige Folgen hat, Folgen, die
zuweilen den anfänglichen Therapieeffekt in sein Gegenteil umschlagen
lassen. So die allzu bedenkenlos gegebene Hormonspritze, der beliebte
Sulfonamid- oder Penicillinstoß, der kühne operative Eingriff am vegetativen
Nervensystem, der Elektroschock und manches andere. Mit diesen kritischen
Bemerkungen soll nichts gegen die Unzahl erprobter, aus Erfahrung
gewonnener, krankheitsgerechter Heilweisen gesagt werden, die den Stolz
und die Größe der heutigen Medizin ausmachen. Aber Arzt und Patient
vergessen heute, verführt durch den unbedingten Willen nach schneller
Reparierung jeder Störung, zu gern, daß Krankheit, was schon die Medizin
der Romantik wußte, auch ihr eigenes Wesen, ihren spezifischen Zeitbegriff,
ihren sinnvollen Ablaufmodus hat, den gewaltsam zu ändern, nicht auf den
Moment, wohl aber auf die Dauer gesehen, recht eigentümliche Nachteile hat.
Es kann nun sein, daß es eine gröbliche Verallgemeinerung bedeutet, wenn
gerade psychiatrische Erfahrungen, etwa bei der Elektroschockbehandlung
der Geisteskrankheiten gewonnen, als Modell für eine Kritik der modernen
Therapie im ganzen verwendet werden. Denn die Behandlung der
Geistesstörungen ist, wie bekannt, jahrhundertelang die fast hoffnungslose
Crux der Medizin überhaupt gewesen, und in der Psychiatrie hat sich der
technisch-naturwissenschaftliche Fortschritt der Neuzeit oft zuletzt von allen
Disziplinen in der Medizin bemerkbar gemacht, und es ist wiederum der
Psychiater als behandelnder Arzt, der durch das Verhalten seiner Patienten am
eindeutigsten über Erfolg und Mißerfolg seines Tuns belehrt wird. Der
Psychiater hat kaum eine Chance, sich wohlwollend über Therapieerfolge zu
täuschen, denn sein Patient, der Geisteskranke, vermag ihn und sich nicht zu
täuschen.
Der Elektroschock nun, die Auslösung von Heilkrämpfen durch einen
elektrischen Stromstoß in das Gehirn des Kranken, erfüllt alle
Voraussetzungen einer modernen Therapie, insofern sie praktisch gefahrlos,
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Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

technisch leicht zu handhaben ist und eine saubere, einwandfreie, übrigens


rein empirisch gefundene Methode darstellt, die in den meisten Fällen
schlagartig wirkt. Wer einmal gesehen hat, wie eine schwere Depression, die
mit dem grauenhaften Erlebnis der vollständigen inneren Leere vielleicht das
schwerste Leiden ist, das einen Menschen bei intaktem Bewußtsein und
erhaltener Intelligenz befallen kann – daher der Selbstmord ein so häufig
ergriffener Ausweg aus diesem Grauen ist –, wer also gesehen hat, wie eine
solche Depression unter einem oder wenigen Elektrokrämpfen geradezu aus
der Seele des Kranken herausgestoßen wird und ihn geheilt zurückläßt, der
wird die Psychiatrie preisen, daß sie über ein solches Mittel verfügt, wenn
auch den Kranken selbst seine fast magische Furcht vor diesem patenten
Eingriff nie ganz verläßt. Überblickt man aber eine große Anzahl lange
beobachteter, behandelter und unbehandelter Krankheitsverläufe von
Geisteskranken und gibt sich die Mühe einer sorgfältigen Vergleichung, dann
zeigt sich, daß wir mit der Schockbehandlung in Wahrheit nur bei den
Krankheitsformen Erfolg haben, die sowieso dazu neigen, spontan
auszuheilen, wenn auch erst nach einer längeren Krankheitsdauer, als es
geschieht, wenn der Elektrokrampf angewendet wird. Von einer Heilung im
eigentlichen Sinn des Wortes kann also keine Rede sein. Aber immerhin, wir
kürzen durch den gewaltsamen Eingriff des Elektroschocks die einzelnen
Krankheitsphasen ab, ersparen damit dem Kranken unnötige Leiden und der
Gesellschaft unnötige Ausgaben durch die kürzer gewordenen
Krankenhausaufenthalte. Wenn sich dann aber ergibt, daß der mit
Elektroschock behandelte Patient im Vergleich zu den unbehandelten viel
häufiger an Rückfällen erkrankt und deshalb immer wieder behandelt werden
muß, wenn, wie sich dies ausdrücken läßt, der biologische, natürliche
Rhythmus einer depressiven, einer manischen Phase oder eines schizophrenen
Schubes durch die Elektrokrampfbehandlung in einen künstlichen Rhythmus
überführt wird, der viel schneller schwingt und durch den die Krankheit ihren
eigentlichen Ablauf in der Zeit und ihre genuine Heilungstendenz verliert,
dann werden alle die vorher genannten Vorteile der Therapie wieder hinfällig,
sosehr auch zunächst der Nutzen in die Augen sprang.
Die Behauptung läßt sich rechtfertigen, daß an diesem so abseitigen, wenn
nicht grotesken Beispiel der Elektroschockbehandlung mit ihrer positiven
Momentanwirkung und ihrem negativen, täuschenden Dauereffekt nicht bloß
ein Wesensmerkmal neuzeitlicher Therapie sich verdeutlichen läßt, sondern
darüber hinaus ein allgemeiner, höchst kennzeichnender Zug unseres
Verhaltens zur Welt und zu unseren Mitmenschen. Denn weit
materialistischer und diesseitsgebundener, als wir uns dies je eingestehen
würden, sehen wir uns alle fast unumschränkt regiert von dem jederzeit
einschnappenden Reflex auf den greifbaren, vordergründigen Nutzen in fast
allen Lebensbereichen. Dieser Reflex macht uns blind für die Folge in der
Zeit, für die Verantwortung gegenüber der Zukunft, für dieses
Eingeordnetsein in den geschichtlichen Vorgang, wie ihn der Gang des
Menschen über die Erde bedeutet.
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Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

Aus diesem Grund verdrängt heute in der Schule das Zeugnis die Bildung,
versinkt in der Wirtschaft hinter Reklame und Absatzsteigerung die Güte der
Ware, behauptet sich in der Natur der Raubbau gegenüber dem Gedanken der
Erhaltung. Daher beschäftigen sich unter diesem Reflex Wirtschaftler und
Techniker fast ausschließlich mit den Problemen der technischen und
wirtschaftlichen Ausnutzung der Atomkraft, aber kaum oder nur sehr
widerwillig mit der noch ganz ungelösten Frage, welche biologischen und
gesundheitlichen Schäden die Menschheit vom anbrechenden Atomzeitalter
erwarten darf, obwohl doch wegen der möglichen Keimschädigung, wegen
der denkbaren Veränderung der Erbsubstanz des Menschen diese Frage vor
allen andern hätte klargestellt werden müssen. Es hat leider nicht den
Anschein, als ob die Warnungen von Erbforschern wie H. J. Muller und G. G.
Wendt gehört würden. Der letztere hat vor kurzem in einer Arbeit mit dem
bezeichnenden Titel „Die Fortschritte der ärztlichen Kunst als Gefahr für die
biologische Zukunft der Menschheit” nachgewiesen, daß das seit
Jahrtausenden aufs feinste abgestimmte Gengefüge des Menschen, dieses
Gleichgewicht zwischen Erbanlagen und mutativen Neubildungen, heute
durch ärztliche Eingriffe aufs gröbste gestört werde und die natürliche
Auslese unmöglich mache. Röntgenstrahlen, Radium, radioaktive Isotope
sind nach Wendt in hohem Maße mutationsfördernd, rufen also Mißbildungen
hervor. Auch seien chemische Stoffe in weit größerem Umfang mutagen, als
wir annehmen. Daher „wird man auch bei stärkster Kritik zu der Feststellung
kommen müssen, daß der Fortschritt der ärztlichen Kunst in den letzten 50
oder 75 Jahren tatsächlich eine Gefahr für die Gesundheit künftiger
Generationen bedeutet”, eine Gefahr, die Muller heute schon für „tödlich”
hält. Auch der Kinderkliniker A. Windorfer bezieht die Zunahme der
angeborenen kindlichen Mißbildungen, wie dies überall schon festzustellen ist,
auf Strahlenschäden, während die wachsende Zahl von Frühgeburten (10%
gegen früher 2%) und die häufiger werdenden nervös-konstitutionellen
Störungen bei Säuglingen auf eine allgemeine Erregbarkeitssteigerung bei
Mutter und Kind hinweisen. Was aber die Strahlenschädigung des
Keimgefüges im Menschen betrifft, so berechtigt doch die Sorge, unserer
Generation könnten die Rohstoffe und Kraftquellen ihrer hochgetriebenen
Industrie eines Tages versiegen, nicht dazu, die Zukunft des menschlichen
Geschlechts ohne jeden Sinn für Verantwortung aufs Spiel zu setzen, sowenig
wie die Sorge um unsere Nahrungsgrundlage, wie der Kampf um möglichst
hohe landwirtschaftliche Erträge es je rechtfertigt, daß wir Schädlingsmittel
anwenden, die in unsere Nahrungsmittel übergehen, was zur Folge hat, daß,
wie der Kliniker Hoff sagte, „der Mensch aus Angst, zu verhungern, sich
lieber vergiftet”.
Wir sind noch mitten im Ringen um die Schaffung einer sozialen
Gerechtigkeit in der industriellen Massengesellschaft, und schon tauchen mit
der drohenden Vollautomatisierung neue, kaum erst zu ahnende Gefahren für
den labilen Zustand unserer sozialen Verfassung vor uns auf. So wie wir noch
kaum die medizinischen Probleme unserer technischen Zivilisation in Angriff
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Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

genommen haben, etwa die Dauerwirkung des Lärms, die


pathophysiologischen Folgen hoher Geschwindigkeiten, die seelische
Bedeutung unserer Signalwelt, in welcher Sein gleichzeitig Gesteuertwerden
heißt und in der ganze seelische Provinzen der Verödung anheimfallen, wird
schon durch Atomenergie und Radioaktivität die Szene erneut verdunkelt und
ringt die Angst vor dem Untergang mit der Begeisterung für die neue
technische Utopie einer superperfekten Welt.
Unter diesen Auspizien, nämlich den Vorzeichen einer immer rasanter
werdenden Problemgeschwindigkeit, die uns zu überrennen droht, mutet es
fast hoffnungslos, vielleicht auch antiquiert an, wenn hier versucht wird, den
Entwurf einer Pathologie unserer Zivilisation vorzulegen, eine
Krankheitslehre, in welcher als krank machender Erreger unsere Umwelt
erscheint. Dieser Umwelt stehen wir ja nicht mehr so distanziert gegenüber,
daß sie uns ohne weiteres eine echte Stellungnahme erlaubt, sondern mit
tausend Reizstößen, mit Zerrfäden und Saugarmen rückt sie uns zu Leibe und
überströmt mit Bild und Scheinbild, mit Raum- und Zeitvertauschung unser
Bewußtsein und formt sich selbst das, was wir wahrnehmen, nach ihrem
Willen zurecht. Eine solche, möglichst umfassende Krankheitslehre unserer
Zivilisation wäre erst die notwendige Voraussetzung für die heute so oft
berufene Pathologie des Zeitgeistes. Denn die leib-seelische Irritation des
modernen Menschen wird, wenn sie auch nur den einzelnen trifft, doch für
den Gesamtgeist der Epoche nicht so ganz ohne krankhafte Folgen sein, wie
dies die reinen Naturwissenschaftler unter uns Ärzten noch immer glauben
behaupten zu müssen.
Erst auf Grund einer solchen Pathologie der technischen Umwelt ließe sich
eine entsprechende Gesundheitslehre aufstellen, dieses unumgängliche
Desiderat einer vorsorgenden Medizin. Ihr großes Diätkapitel müßte im
Geiste des Hippokrates, aber durchaus im Hinblick auf unsere denaturierte
Nahrung geschrieben werden, und ihre Gymnastik müßte eine systematische
Übungslehre der angeborenen Lebendigkeit des menschlichen Körpers
enthalten, wiederum im Hinblick auf die sehr speziellen Bewegungsschäden,
denen der autofreudige, aber motorisch träge Mensch heute deshalb
ausgesetzt ist, weil ihn das Spiel des menschlichen Körpers nur noch dann
gefangennimmt, wenn es Rekord verspricht, sensationelle Leistung für eine
bloß schaugierige Masse.
Was wir heute nur sehr unvollkommen unter „seelischer Hygiene” als
passive Schutzmaßnahmen gegen schädliche psychische Einflüsse der
Großstadt beschreiben, müßte eine Haltungslehre werden, ein pädagogisches
System des Sichverhaltens gegenüber einer Umwelt, in der es kaum
angebracht ist, etwas ungeprüft hinzunehmen, bloß weil es farbig glänzt,
leicht eingeht und eine flüchtige, gefahrlose Steigerung des Lebensgefühls in
Aussicht stellt, den berüchtigten „Genuß ohne Reue”. Eine Haltungslehre also
anstelle von Leistungsverherrlichung, eine aktive, bewußte, geistige
Einstellung, die sich um ihrer selbst willen Grenzen zieht, die sich zur
Einsicht bringt und diese Einsicht auch lebt, daß nämlich unsere
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Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

Wahrnehmungs-, unsere Erlebnis- und unsere seelische


Verarbeitungsfähigkeit desto tiefer und reicher wird, je begrenzter die Zahl
der Weltgegenstände ist, die sie von sich aus ergreift, statt vom nicht mehr
Unterscheidbaren, vom flüchtig Flimmernden, vom bloßen Anregenden und
Erregenden in eine Dauerspannung genommen zu werden. Der heutige
Mensch ist innerlich reicher, als er weiß, und er würde das selbst erfahren,
wenn man ihn nur dazu bringen könnte, zu sich zurückzukehren, damit er sich
selbst erlebt, als ein wieder-, als ein neuentstehendes Ich, mit einem
Innenraum, der erfüllt ist von einem noch schattenhaften, chaotisch wogenden,
neuen Lebensgefühl, das nur der Zucht einer bewußten Daseinsführung bedarf,
um Gestalt anzunehmen.
Es spricht nun alles dafür, daß die Technik als globaler Prozeß erst am
Anfang steht, daß die Umwandlung der Physiognomie unserer Erde in eine
Werkstättenlandschaft immer reißendere Fortschritte machen wird, daß die
Macht der Organisationen immer größer, die Entscheidungsfreiheit des
Menschen immer beschränkter, unsere Abhängigkeit von den Geschöpfen
unserer technischen Phantasie immer noch enger werden wird, mit anderen
Worten: die technische Welt, unübersehbar und als Ganzes schon nicht mehr
verständlich, folgt – und wird immer schneller folgen – ihrer eigenen
Gesetzlichkeit, sie erzwingt aus dieser Gesetzlichkeit heraus wirtschaftliche
und politische Entscheidungen und Stoßrichtungen, denen der Mensch mit
seinen Ideologien wiederum nur nachfolgt. Das wird sich nicht ändern lassen
und kann auch nicht geändert werden, denn die Versorgung von
Menschenmassen, wie die Neuzeit sie hervorbrachte, ist ohne technische
Wirtschaft und technische Wissenschaft gar nicht möglich, auch wenn wir
wissen, daß Technik Masse bedingt und wieder die Masse nach der Technik
als der Struktur ihres Lebens verlangt und sie unterhält.
Wenn sich also herausstellen sollte, daß diese technische Bewegung über
den Menschen hinweggeht und nicht mehrbloß seiner Bedürftigkeit, seiner
vitalen Hilflosigkeit mit den Werkzeugen planender Intelligenz aufhilft,
sondern den Menschen ihrem eigenen, dem technischen, Ende und Ziel
entgegenreißt, dann kann dem allem nichts anderes entgegengesetzt werden,
als daß der Mensch sich verändert, als daß er seine Bewegung verlangsamt und
aus der schnell fließenden technischen Zeit wieder in seine eigene übertritt, der
ja ein Körnchen Ewigkeit beigemischt ist, daß er die abgründigen
Verführungen erkennt, die von unserer selbstgeschaffenen Welt ausgehen,
gegen die er eine Ethik setzen muß, deren Pathos ein Wille ist, nicht zum
Sklaven der Seelenlosigkeit der Maschine zu werden. Wir haben noch keine
Vorstellung, wie dieser Mensch aussehen wird, der den Rausch des
Übermenschen von Nietzsche ebenso hinter sich hat wie die Demütigung der
Massenexistenz. Denn wie keiner vorausgegangenen Epoche fehlt unserer Zeit
die Leitfigur, der Typ, in welchem Wille und Sehnsucht einer ganzen Zeit sich
kristallisieren könnten, so wie das Alte Testament den Gerechten vor Gott
kannte, die Antike den Kaloskagathos, den Griechen, der mit der Schönheit
das Gute repräsentierte, wie das frühe Christentum den Heiligen, das
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Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

Mittelalter den Mönch und den Ritter, die Renaissance den Uomo universale,
das Barock den Honnête homme hatte und verehrte, sich an ihm maß und ihm
nachstrebte. Aus dem zeitgenössischen Gewimmel von Filmschauspielern und
Sporthelden, Raketenforschern und Managern, Technokraten und
Großfunktionären, Atomphysikern und Heilpraktikern, an die alle wechselnd
einmal die maßstablose Sehnsucht nach einem Vorbild sich anheften kann, aus
diesem Kaleidoskop ergibt sich noch kein Bild vom Wesen des singulären
Menschen in einer Zeit, für die jede Höchstleistung gleichzeitig soviel ist wie
ein menschlicher Höchstwert. Im Sinne unserer Betrachtungsweise müßte man
sagen, der kommende Mensch, der Mensch, der sich der Technik als eines
Instrumentes seiner Freiheit bedienen könnte, wird einer sein, der das
Schwerste und Unzeitgemäßeste von sich verlangt, nämlich sich selbst im
Genußstreben und Leistungswillen freiwillig eine Grenze zu setzen, und dies
nicht erst dann, wenn sein versagender Körper und seine zersplitterte Seele
ihm diese Grenze gewaltsam setzen, eine Niederlage also anstelle eines Sieges.
Mit dem Begriff der Grenzsetzung, der hier eine rein anthropologische Rolle
spielt, berührt unser Gedankengang neueste Einsichten der modernen Physik.
Das Weltbild der exakten Naturwissenschaft hat unsere heutige Welt, soweit
sie technische Umwelt ist, aus sich geboren und trägt für sie gleichsam die
geistige Verantwortung. Wenn sich dieses Weltbild nun wandelt, weil es
erkennend an seiner eigenen Grenze scheitert, dann wird sich auch das
menschliche Selbstverständnis wandeln müssen, denn es beruhte bisher darauf.
Werner Heisenberg hat uns darüber belehrt, daß dieses naturwissenschaftliche
Weltbild aufgehört habe, ein eigentlich naturwissenschaftliches zu sein. Denn
die wissenschaftliche Methode des Aussonderns, Erklärens und Ordnens
werde sich der Grenzen bewußt, die ihr dadurch gesetzt seien, daß der Zugriff
der Methode das zu untersuchende Objekt verändere und umgestalte, so daß
die Methode sich nicht mehr vom Gegenstand ablösen lasse. Das Bild, das die
exakte Wissenschaft heute von der Natur entwerfe, sei daher nicht eigentlich
ein Bild der Natur, sondern ein Bild unserer menschlichen Beziehungen zur
Natur. Auch in der Naturwissenschaft, sagt Heisenberg, findet der Mensch
nicht eine objektive naturgesetzliche Wahrheit, sondern begegnet nur noch
sich selbst.
Daß der Zugriff einer wissenschaftlichen Methode ihren Gegenstand in
einem bestimmten Sinne weniger erforscht als umgestaltet, und zwar in
Richtung ihrer Betrachtungsweise, das haben wir in der Freudschen
Psychoanalyse erlebt. Seit das von ihr postulierte Menschenbild im heutigen
Massenmensch leibhaft erschienen ist, paßte sich der moderne Mensch
weitgehend in seinen Reaktionen an diese biologistische Triebpsychologie an,
so daß aus einer wissenschaftlichen Theorie eine soziale Konvention geworden
ist. Mit Recht behauptet daher der Soziologe Schelsky, daß in der
Selbstverständlichkeit, mit der sich heute der Mensch als ein lustsuchendes
und lustberechtigtes Wesen verstehe, die wichtigste soziale Funktion liege, die
von der Psychoanalyse durchgesetzt wurde und aufrechterhalten werde. Daher
sei der wissenschaftliche Erkenntniswert dieser Psychologie so gut wie
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belanglos geworden gegenüber ihrer Bedeutung als einer gesellschaftlichen


Funktion, als eines Ersatzes für traditionelle Normen, was auch die Rolle
erkläre, die der Psychologe heute als notwendiger Funktionär einer
Gesellschaft spiele, die den Verpflichtungen rein menschlicher Situationen
dadurch ausweiche, daß sie sie psychologisiere. Ganz ähnlich, wie in der
Erziehung die psychologische Vergegenständlichung des Kindes als eines
„Erziehungsobjektes” mehr und mehr das Entstehen echter Lehr- und
Lernverhältnisse unmöglich mache. Einfacher ausgedrückt:
„Nichts wird man leichter als das, wofür man gehalten wird” (Jean Paul),
weshalb in der tiefenpsychologischen Psychotherapie der Patient nach kurzer
Zeit durchaus die Komplexe, Träume, Assoziationen und Widerstände
produziert, die der Analysator je nach seiner Theorie, das heißt nach seiner
Auffassung, was der Mensch sei, von ihm zu bekommen wünscht. Wir sehen
an diesem Beispiel des Psychologismus, wie fragwürdig selbst die
Wissenschaft im technischen Zeitalter sein kann, und wir sehen auch, wie
riesig die Verantwortung des Forschers wird, wenn er seine Wahrheit nicht
mehr an einer übergeordneten Wahrheit zu messen für nötig hält.
Wenn die Naturwissenschaft heute nur noch Kunde gibt vom Umgang des
Menschen mit der Natur, nicht von der Natur selbst, so kann es nicht
überraschen, daß wir in der Medizin eine analoge Tendenz am Werk finden,
denn gerade die Medizin folgt in ihren Grundvoraussetzungen immer recht
genau den Bewegungen des Zeitgeistes. Auch die Medizin scheint die Gestalt
einer Naturwissenschaft zu verlieren, sie subjektiviert sich, und wir begegnen
in ihr nicht mehr der Krankheit im objektiven Sinn, sondern dem kranken
Menschen als Subjekt. Beweis für diese Verschiebung des Ansatzpunktes ist
die psychosomatische Medizin, von der die strenge Spaltung zwischen
Seelischem und Körperlichem aufgehoben wurde und die nachweisen konnte,
daß Seele und Leib einander in der Krankheit gegenseitig vertreten können,
daß psychische Fehleinstellungen zunächst zur vegetativen Unordnung, dann
zur Störung der Funktion und schließlich zum organischen Leiden zu führen
pflegen, daß also unser Körper sich auf die Welt so einstellt, wie diese von uns
seelisch erlebt wird. Der Kliniker v. Bergmann hat in seiner funktionellen
Pathologie den Satz aufgestellt, daß Krankheit kein Zustand, sondern ein
Geschehen sei, ein dynamischer Prozeß, der mit der gestörten Leistung, der
gestörten Funktion beginne und mit dem anatomisch faßbaren Schaden endige.
Damit wird der Blick frei für eine Pathologie der Zivilisation, für eine
Krankheitslehre, die aus der Mensch-Umwelt-Beziehung ihre Ergebnisse
nimmt und ihre Folgerungen ableitet.
Es ist hier freilich nicht der Ort, über „Möglichkeiten und Grenzen der
psychosomatischen Medizin” Überlegungen anzustellen und darüber zu
diskutieren, ob tatsächlich etwa eine gestörte Beziehung zur umgebenden
sozialen Gemeinschaft, das fehlerhafte Eingefügtsein eines „ich” in ein „wir“,
zur Ulcuskrankheit führen könne oder konstante „fortgesetzte Demütigungen”
zum Bluthochdruck. Aber was die psychosomatische Medizin, die nicht eine
Theorie, sondern eine notwendige, eine sich aufdrängende
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Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

Erfahrungswissenschaft darstellt, was also diese Psychosomatik im Einzelfall


mit solcher Evidenz hat plausibel machen können, nämlich die eminente
Bedeutung des Seelischen, ja des eigentlich Geistigen im Menschen für die
Entstehung selbst sogenannter organischer Krankheiten, das gilt geradezu
universal für eine Pathologie der technischen Zivilisation.

II.
Hier angelangt, wäre zunächst eine brauchbare Definition der Technik
vonnöten, oder besser die Unterscheidung, wo eigentlich das beginnt, was wir
heute unter der technischen Welt verstehen. Vielleicht dort, wo ihre
Apparaturen in ihrer Wirkungsweise deshalb für uns undurchschaubar werden,
weil sie von Naturkräften gespeist sind, die dem Menschen in der
unmittelbaren Erfahrung nicht zugänglich waren und sind, etwa bei der
Elektrotechnik. Das Undurchschaubare, das Geheimnisvolle und übermächtig
Tätige geht dann auch über in die Organisationen und Verwaltungskomplexe,
die der Erhaltung solcher maschineller Riesenapparatur dienen.
Der Mensch erscheint in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts wie eingefügt
als ein Partikel in den riesigen Organismus technisch-organisatorischer Art,
der nach dem Prinzip der Maschine arbeitet, und dieser technische
Organismus mutet nach Heisenberg nicht mehr an als ein Produkt
menschlicher Bemühung um die Ausbreitung materieller Macht, sondern eher
als ein biologischer Vorgang im großen, wobei die im menschlichen
Organismus angelegten Strukturen in immer weiterem Maße auf diese
Umwelt übertragen werden und sich der Kontrolle durch den Menschen
entziehen. Dem entspricht ein Grundgefühl, das sich aus Getriebenwerden,
aus Ohnmacht und Entfremdung zusammensetzt. Da uns diese technische
Welt zunehmend fremd und unheimlich wird, entfremdet sich der Mensch
auch sich selbst, denn er ist auf Ganzheit angelegt, nicht auf das Existieren als
ein spezialisiertes, rational arbeitendes Teilelement in einer Arbeitswelt, die
weder echte Ruhe noch Stille, noch Entspannung von sich aus zuläßt. In den
komplizierten Aufbau eines arbeitsteiligen Massendaseins sind wir deshalb so
unerbittlich hineinverflochten, weil wir mehr Kräfte an sie abgeben, als wir
von ihr zurückerhalten. Denn Erregungen sind keine Kraftzufuhr, sondern auf
Dauer eine Einbuße. Wie weit der leib-seelische Organismus des Menschen
sich an diese Kunststruktur anpassen läßt, wieviel er aushalten kann, ohne
sich vorzeitig zu erschöpfen, wie er sich gegen Anforderungen schützen kann,
die als Krankheiten sich erst dann manifestieren, wenn sie schon irreparabel
geworden sind, diese Frage scheint wichtiger als jeder weitere technische und
soziale Fortschritt, denn gerade dieser steht ja damit auf dem Spiel.
Der Mensch hat sich nicht nur weitgehend an den technischen
Überorganismus seiner Umwelt verloren, sondern ihn, sein lärmendes
Funktionieren, seinen unnatürlichen Reiz- und Arbeitsrhythmus in sich selbst
hineingenommen, er ist durchlässig geworden unter einem Außendruck, der
immer stärker und ungebremster in sein Inneres eintritt, sein vegetatives
Nervensystem unter eine Dauerbelastung nimmt, die dessen Aufgabe,
13
Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

nämlich zusammen mit den Drüsen das körperliche Innenmilieu in


störungsfrei arbeitender Ordnung zu halten, in ein Abbild unseres
Außenmilieus verkehrt.
Die Massenerkrankung, die der Arzt heute unter den wechselnden Namen
der „vegetativen Dystonie“ oder der „neurozirkulatorischen Dystonie” und
ähnlicher Bezeichnungen kennenlernte und die als Massenerscheinung eine
Hochflut von angeblich sedierenden, beruhigenden, entspannenden Mitteln
hervorrief, ist Ausdruck einer exogenen Überbeanspruchung, die zu einer
innerleiblichen Unordnung geführt hat. Man weiß, wie sehr der heutige
Mensch das Wort „Erregung” auch in seiner Umgangssprache bevorzugt. Ein
Gedanke, ein Film, ein Buch, eine Reise muß „erregend” sein, um einen
Eindruck zu hinterlassen, und offenbar spüren wir uns nur noch als der Welt
teilhaftig, wenn wir im Zustand dieser Erregung sind. So sehr ist also die
Spannung der Außenwelt schon zum konstitutiven Element unseres Innern
geworden. Diese Erregbarkeit und diese Sucht nach immer neuen Erregungen
hat zur Basis, daß sich die vegetative Verfassung der meisten Menschen mehr
und mehr im Sinne einer sympathikotonen Erregbarkeitssteigerung
verschoben hat, womit wir eine vielleicht bleibende Veränderung unseres
Organismus als Auswirkung der technischen Welt zu Gesicht bekommen.
Nun ist ja der Sympathikus, als Antagonist des Vagus, der Nerv des wachen
Tages, der Sofortreaktion, der Energiemobilisierung. Er ist der Arbeitsnerv,
denn er macht Energie frei und setzt sie im Kampf des Organismus gegen
seine Umwelt ein. Dabei steigert er Herz und Atemtätigkeit, Blutdruck und
Sauerstoffverbrauch. Bei allzu vielen Arbeitsmenschen befindet sich heute
der Herrschaftsbereich dieses Teils des vegetativen Nervensystems im
Dauerzustand einer Alarmphase, wird überspannt und erholt sich nicht mehr
im natürlich vorgegebenen Rhythmus. Seelische Ruhelosigkeit,
Schlafstörungen und die Neigung zu spastischen Durchblutungsstörungen
resultieren daraus in erster Linie, und es ist das Gesamtsystem von Herz und
Kreislauf, an dem die Dauererregung unseres Nervensystems sich
pathologisch auswirkt. Lang dauernde vasomotorische Störungen führen am
Kreislaufsystem, in den Gefäßen, zu den bekannten Veränderungen der
Arteriosklerose, einst ein Signum des Alters, heute, auch schon bei
jugendlichen Patienten, so häufig, daß man die Arteriosklerose keinesfalls
mehr als Alterskrankheit, sondern als eine ausgesprochen ubiquitäre
Zivilisationsschädigung ansehen muß.
Hier zeigt sich, daß unser Gefäßsystem an den „Streß”, an die Belastung
durch die großstädtische Atmosphäre, an Lärmreiz und Geschwindigkeitssog
sich nicht anpassen läßt und den unphysiologischen Streß mit
Degenerationserscheinungen beantwortet, nachdem eine vasomotorische
Dystonie lange genug vorausgegangen ist. Das gilt nicht nur für die
Arteriosklerose, sondern auch für Bluthochdruck und Herzinfarkt. Alle drei
Krankheiten kommen bei Tieren spontan nicht vor, sie lassen sich aber im
Experiment bei ihnen hervorrufen, wenn man Versuchstiere in einer
Lauftrommel übermäßig körperlich belastet oder sie dauernd mit starkem
14
Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

Licht blendet oder auch konstanten Lärmreizen aussetzt, wenn man sie also
genau unter die Lebensbedingungen bringt, die uns heute als Umwelt
umschließen. Diese Reizwelt, auf die wir unbewußt und unablässig abnorm zu
reagieren gewohnt sind, ist dafür verantwortlich, daß in der Pathologie an die
Stelle der einst führenden Infektionskrankheiten die Kreislaufstörungen
getreten sind, so daß diese auch unter den Ursachen der vorzeitigen Invalidität
absolut an erster Stelle stehen. Die zeitliche Vorverlegung derartiger
Krankheiten, wie sie Arteriosklerose und Hochdruck darstellen, in relativ
frühe Lebensperioden, was sich auch beim Magengeschwür und beim Krebs
beobachten läßt, erklärt wiederum, weshalb bei vielen Menschen heute der
Leistungsknick, der plötzliche oder langsamere Zusammenbruch, die der
Übermüdung folgende Erschöpfung zu früh, in den besten Jahren, auf dem
Höhepunkt der Schaffenskraft sich bemerkbar macht. Die Übermüdung, diese
nicht zum Ausgleich gebrachte Ermüdung, ist als seelisches und körperliches
Gesamtsymptom das prämorbide Vorstadium fast aller Zivilisationsschäden,
deren Therapie nur die Prophylaxe sein kann. Es ist darauf aufmerksam zu
machen, welch ein unterirdisches, lautloses, ja heimtückisches
Zusammenspiel bei diesen zivilisatorischen Krankheitsprozessen zwischen
dem auslösenden Reiz und der antwortenden Reaktion zustande kommt. Nicht
allein, daß sie unter der Schwelle des Bewußtseins, im Halbdunkel unserer
animalischen Verfassung, sich abspielen. Unser Körper hat auch, da es sich
um abiologische, eben technische Reize handelt, denen er dabei ausgesetzt ist,
kein warnendes Radarsystem, das ihn rechtzeitig stutzen läßt, zur Besinnung
und Vorsicht aufruft. Der warnende Schmerz, das nicht mehr funktionierende
Organ, die versagende Leistung treten immer erst auf, wenn die
Dauerirritation des betroffenen Systems schon in die Degeneration, in die
Adaptationskrankheit übergegangen ist. Gewiß, auch die bakterielle oder
virusbedingte Infektion hat ihre Inkubationszeit, ihre symptomlose
Anlaufphase, aber dann bricht sie doch mit Fieber, Schmerz und polymorpher
Symptomatik ein, sie stellt sich dar und läßt sich damit stellen. Eine
Pathologie der Zivilisation muß aber gerade auf diesen Mangel an
Schutzmechanismen, diese Fähigkeit unseres Organismus, eine lang
bestehende abnorme Reizsituation durch klinisch nicht faßbare, die Warnlinie
nicht überschreitende Gegenregulationen zu beantworten, sie muß auf diesen
Mangel abheben und darf dabei nicht verbergen, daß wir diese
Schutzlosigkeit unseres Körpers gegen technische Einwirkungen ja noch
verstärken, indem wir unsere Arbeits- und Erlebniserregungen fast
zwangsartig durch Mittel zu dämpfen suchen, die zu Stimulantien werden
müssen, weil unsere erregbare Verfassung sie als ein sekundäres
Nahrungsmittel einfach benötigt. Nikotin und Schlaftabletten, Sedativa,
Analgetica und Antispasmodica sind fast unentbehrlich gewordene
Ingredienzien einer von der Stimulation lebenden Gesellschaft, die sich ihrer
maschinellen Umwelt anpassen muß und dabei den Teufel mit dem Beelzebub
auszutreiben sucht. Es grenzt an eine Art von Wahnsinn, sagte in diesem
Zusammenhang der Kliniker Kötschau, daß wir die durch eine Störung der
15
Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

schöpferischen Ordnung in uns entstandenen Schäden durch vermehrte


Zufuhr immer neuer technischer Energien zu bekämpfen suchen, anstatt die
einseitige, gefährliche Belastung und die ganz fehlende sinnvolle Entlastung
durch eine systematische Übung unseres gesamten Körpers wieder
auszugleichen und den Angriff durch Mittel abzuwehren, die ihm den Eintritt
in unseren Organismus überhaupt verwehrt.
Erregbarkeit und dauernde Übererregung, ausgelöst durch unsere Umwelt,
sind also die Basis für fast alle Zivilisationsschäden. Was die Medizin des 18.
Jahrhunderts aufs stärkste theoretisch beschäftigte, Albrecht v. Hallers
„Irritabilität”, das physiologische Verhältnis von Reiz und Reaktion, und John
Browns (1735-1788) Auffassung, daß Leben nur in Erregbarkeit bestehe und
Krankheit durch zu viele oder falsche Reize zustande komme, scheint unsere
Zeit in einem Massenexperiment vorführen zu wollen.
Aber nicht allein unser Körper, auch unser Bewußtsein warnt uns nicht,
wenn unsere Seele im Übergang zur Technifizierung begriffen ist und dabei
autochthone Fähigkeiten verliert. Johann Georg Hamann konnte im 18.
Jahrhundert noch sagen, daß in inneren Bildern der ganze Schatz
menschlicher Erkenntnis und menschlicher Glückseligkeit bestehe. „Denn
Sinne und Leidenschaften reden und verstehen nichts als Bilder.” Innere
Bilder, Formen und Gestalten eigenschöpferischer Phantasie, quellender
Reichtum menschlicher Seelenlebendigkeit, Ur- und Eigenstoff für Geist und
Denken, Voraussetzung aller Innerlichkeit und Wahrzeichen der Person, die
im Spiegel ihres Innern Welt und Leben noch einmal schöpft und anschaut.
Heute sucht der Mensch seine Glückseligkeit, wenn es eine ist, im künstlichen,
im technischen Bild. So vollständig scheint er ein optisches Tier werden zu
wollen, daß ihm ein Ereignis auf dem Fernsehschirm in seiner Bilderfolge fast
wirklicher zu sein verspricht als das abgebildete Geschehnis im Draußen. Die
Entbilderung der menschlichen Seele zugunsten einer artefiziellen, gemachten
und unwahren Bebilderung von außen, durch diesen Strom von raffiniert
gesteuerten Blickfängen, hat reißende Fortschritte gemacht, ohne daß wir
eigentlich merkten, was und wie das geschah. Unser Bewußtsein jedenfalls
sträubte sich nicht, sondern gab sich willig hin. Dieser Vorgang der
Entbildlichung des menschlichen Innern und die Verlagerung unseres
seelischen Bilderlebnisses ins Außen, was uns von jeder Anstrengung, jeder
Versenkung, jeder Innenschau entlastet hat, ist von entscheidender,
ungeheurer Bedeutung im Hinblick auf eine Umänderung des menschlichen
Wesens. Denn „von der Imagination”, der Einbildungskraft, hängt es ab, ob
ich mich erinnern kann, ob ich meiner Vergangenheit denkend und sie
anschauend gewiß werde und ob ich eine Vorstellung von der Zukunft habe,
in die ich, mich erweiternd, hineinwachsen möchte. Ist der Massenmensch
deshalb so punktuell, so geschichtslos, so bloß aktuell und im Augenblick
lebend geworden, weil er sich kein Bild mehr von sich machen kann? Ist er
deshalb so verführbar für jeden optischen und akustischen Außenreiz, so
anfällig für die Bildsensation flüchtigster und banalster Art, weil er keine
eigene Innenwelt mehr hat, die er ihr entgegensetzen könnte, die ihm im
16
Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

Eigenbild sagen würde, daß er ist und was er ist? Unsere Sprache ist kahl,
technisch – abstrakt und emotional – kühl geworden, weil wir sie mit eigenen
Bildern nicht mehr füllen und speisen können. Echte geistige Leidenschaft
wird selten, weil gerade diese von der persönlichen Imagination lebt und ein
Bild braucht, an dem sie sich entzünden kann. Unsere religiösen
Vorstellungen verblassen, weil unsere degenerierte Bildkraft den Schöpfer
Gott, das Urbild, nicht mehr erreicht. Dieses Versiegen der inneren Bilderwelt
des menschlichen Bewußtseins gehört auch in eine Pathologie der Zivilisation,
weil es, vom seelischen Schaden abgesehen, nicht ausgemacht ist, wie hoch
der Anteil unseres intakten, bildschöpferischen Bewußtseins und unseres
Unbewußten an dem leiblichen Wohlbefinden unseres Organismus ist. Die
Erfahrungen jedenfalls, die die amerikanische Psychologie mit den Comic-
Bilder-Serien, dieser Seelennahrung der Kinder in der technischen Welt,
gemacht hat, sprechen eine deutliche und bedenkenerregende Sprache.
Bildüberflutung aller Art und mangelnde Konzentration, Nervosität und
pathologisch aggressives Verhalten bei diesen verbildeten Kindern stehen
jedenfalls in einem inneren Zusammenhang. Kinderkliniker haben festgestellt,
daß das heutige Kind gar nicht in der Lage ist, die Vielfalt seiner rasch
wechselnden Eindrücke genügend zu verarbeiten, und diese Störung in der
Ökonomie des Einbaues von Wahrnehmungen in die eigene noch werdende
innere Welt wirkt sich bei Kindern aus wie „unerledigte Handlungen”,
erzeugt einen Spannungszustand, der in Unruhe und Unstetigkeiten sich Luft
macht und gelegentlich in abenteuerliche, romanhafte Eruptionen ausbricht.
Daß die sympathikotone, durch Licht und Lärm wirkende Reizwelt der
großstädtischen Zivilisation zu dem bekannten Längenwachstum und der
sexuellen Frühreife unserer Jugendlichen geführt hat, ist nicht zu bezweifeln
und von zahlreichen Autoren immer wieder hervorgehoben worden. Auch bei
Tieren läßt sich durch Drüsenbelichtung der Eintritt sexueller Reife
beschleunigen. Aus der Diskrepanz zwischen sexueller Frühreife und
verspäteter seelischer Gesamtreifung gehen zahlreiche Verhaltensstörungen,
bis hin zur Zunahme der Jugendkriminalität, hervor. In unserem
Zusammenhang ist entscheidend, daß wir in diesem Phänomen der
Akzeleration mit der Vorverlegung des Eintritts der sexuellen Reife
zweifellos eine bleibende, in ihren Auswirkungen noch schwer zu
beurteilende Folge einer Umgestaltung des Menschen durch den strukturellen
Einfluß der technischen Welt vor uns haben, eine künstlich hervorgerufene
Disharmonie in der Entwicklung, von der wir nur hoffen können, daß sie
einmal zu einer späteren Zeit in einer neuen Harmonie sich wieder ausgleicht.
Die These, daß die Gefahr der technischen Welt für unseren Leib und
unsere Seele vor allem darin bestehe, daß ihre zerstörenden, krank machenden
und umgestaltenden Wirkungen auf einen humanen Organismus treffen, der
gerade dafür nicht genügend Abwehrmechanismen besitzt, läßt sich nirgends
so eindrücklich bestätigen wie beim Lärm, diesem unentrinnbaren Begleiter
der Maschinenwelt. Auch der Lärm der Technik ist wie diese selbst als
Umwelt des Menschen etwas für unsere Natur Unvorhergesehenes, und der
17
Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

Zivilisationsmensch scheint sich an diesen technischen Lärm in hohem Maße


gewöhnt zu haben und auch weiterhin gewöhnen zu können. Denn im
allgemeinen empfinden wir nur noch außerordentliche Lärmqualitäten und
Quantitäten als schmerzhaft und quälend, suchen ihnen zu entrinnen oder sie
zu bekämpfen. Aber in unserer Anpassung an den Lärm der technischen Welt
liegt kein echter Gewöhnungsprozeß vor. Arbeitsphysiologische
Untersuchungen haben ergeben, daß auch der Lärm, der subjektiv gar nicht
als störend empfunden wird, eine eindeutige Wirkung auf unser vegetatives
Nervensystem ausübt, über das irritierte Vegetativum spastische
Erscheinungen an den Herzkranzgefäßen und im gesamten Blutkreislauf
auslöst. Wieder bricht damit eine Störwelle in unserem Organismus ein, deren
verheerende Folgen, was Leistung und Lebensgefühl betrifft, lange Zeit
unterschwellig bleiben, und wir scheinen nur an unsere akustische Umwelt
adaptiert, ohne es zu sein. Lärm in der Stärke von 70 Phon, was einem
mittleren Straßenlärm oder lauter Radiomusik entspricht, ist, wie ermittelt
wurde, die Grenze, von der ab der Lärm eine krank machende Dauerwirkung
auf unseren leib-seelischen Organismus ausübt. Lärm bedeutet also eine
nervöse Dauerbelastung, ganz unabhängig davon, ob diese nervöse Belastung
gleichzeitig als eine seelische empfunden wird oder nicht. Es soll aber noch
auf eine zweite Bedeutung des modernen Lärms hingewiesen werden,
nämlich auf seinen Alarmcharakter und die Rolle des menschlichen Ohres als
eines Alarmorgans (Mikorey). Unsere Welt, die großstädtische Straßen- und
Fabrikationswelt, dröhnt von einer Lärmkulisse, die, je wo wir uns befinden,
Gefahren ankündigt, uns schreckt oder zumindest aufmerksam werden läßt.
Lärm vom Charakter des Alarmes stellt unseren Organismus jedesmal
schlagartig auf Abwehr um, Hormone werden ausgeschüttet, unser
Nervensystem in Spannung versetzt, Herz und Kreislauf zu erhöhter Leistung
mobilisiert. Da es aber meist nur bei der Ankündigung einer möglichen
Gefahr durch das Alarmzeichen bleibt, verpufft diese Abwehrreaktion des
Körpers ins Leere, und bevor sich das System wieder erholen konnte, folgt
schon der nächste Alarmstoß. Diese vom Lärm unterhaltene Derangierung
unseres körperlichen Innenmilieus verbraucht Funktion und Kraft, ohne sie
wieder zu ersetzen, und erzeugt in uns das, was man die spezifische seelische
Malaise des modernen Menschen nennen könnte, seine innere Ruhelosigkeit
und seinen Erregungshunger.
Wenn die Seele des Menschen, sein vegetatives Nervensystem als
Bindeglied und die ihn umgebende Umwelt einen in sich abgestimmten Zirkel
bilden müssen (Delius), damit der Mensch eines harmonischen Seins
teilhaftig wird, dann ist heute dieser „Funktionskreis” durchbrochen. Zentrale
Reizbelastung, die vom Gehirn nicht mehr verarbeitet werden kann, und
Reizentwöhnung an der Peripherie, im Hauptbereich, der dadurch
überempfindlich wird, rufen die Unordnung im ganzen Organismus hervor
und halten Fehlregulationen im Gange. Damit wird der Untergrund des
Menschen verzerrt, und die Verzerrung der Seelen und Geister folgt dann nur
nach.
18
Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

Was ist angesichts der beschriebenen Lage, angesichts dieser fast


unlösbaren Verklammerung, in der sich der Mensch mit seinem leib-
seelischen Organismus im umfassenden Überorganismus der technischen
Welt vorfindet, zu tun, was kann überhaupt getan werden? Die Medizin als
Wissenschaft wird sicher Wege der Vorsorge und Methoden des Schutzes
entwickeln können, die bis zu einem gewissen Grade wirksam sein dürften.
Staat, Organisationen und die Technik selbst können durch gesetzliche
Maßnahmen, durch verordnete Sicherung, durch gegenläufige Apparaturen,
etwa bei der Überwachung unserer Nahrungsmittel, bei der Abwehr von
Geschwindigkeitsgefahren und in der Lärmbekämpfung, Störquellen
abdämpfen, wenn auch nicht allzuviel Durchschlagendes hier erwartet werden
sollte. Aber auch das wenige, was auf diese Weise erreicht werden kann, wird
nicht zu einem Erfolg führen, wenn dem einzelnen Menschen seine
einzigartige geschichtliche Situation nicht so bewußt wird, daß er diese seine
Umwelt nicht mehr als bequemes Feld der Daseinsbefriedigung und als
Kampfplatz um die beste soziale Stellung betrachten kann, sondern als einen
Raum, der ebenso voll von Gefahren und Bedrohungen ist, wie er gleichzeitig
die Stätte bleibt, auf der wir unsere Menschlichkeit zu verteidigen und zu
bewähren haben. Die technische Welt scheint, wie der Verkehr auf unseren
Straßen lehrt, gefährlicher werden zu wollen, als es die einst wilde und
ungeplante Natur war, von deren Druck und Mühsal sich der Mensch ja durch
die Technik befreien wollte, indem er sich so für eine höhere Kultur entlastete.
Dabei wurde in der Selbstherrlichkeit, die das 19. Jahrhundert beseelte,
vergessen, daß der Mensch, um im gesundheitlichen Sinne lebendig zu
bleiben, die natürliche Spannung braucht zu einer ihn naturhaft, d. h. seiner
Natur entsprechend belastenden Umwelt. In den großen schöpferischen
Perioden der Menschheit scheint diese Spannung zwischen Mensch und
Umwelt optimal gewesen zu sein. Der Mensch war dann des ewigen Ringens
um seine nackte Existenz durch die Gunst der Umstände enthoben, aber die
ihn umgebende Natur hielt mit Klima, körperlicher Anstrengung und Kampf
gegen Krankheit seine natürlichen Abwehrkräfte in einer dauernden
Erprobung. Die technische Welt ist, was die Entlastungsfreiheit betrifft, ein
Scheinparadies, sie droht in das Gegenteil dessen umzuschlagen, was sie in
ihren Anfängen versprach, sie erschüttert unser leib-seelisches Fundament mit
Störwellen, die kaum abzuwehren sind, weil sie unserer Kontrolle sich
entziehen.

19
Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

ZWEITES KAPITEL

DAS ICH IM ZUSTAND DER STIMULATION

I.
Die amerikanisch-europäische Gesellschaft des 20. Jahrhunderts kann, unter
dem Gesichtspunkt der technischen Zivilisation und ihrer spezifischen
Schäden, als ein homogener, human-biologischer Organismus aufgefaßt
werden, da alle ihre Einzelglieder, dank der Wirkung der Technik, unter
denselben Arbeits-, Lebens- und Erlebnisbedingungen stehen. Masse läßt sich
daher nicht nur soziologisch, sondern auch medizinisch als etwas
Einheitliches verstehen, als eine Ansammlung uniformer Individuen, die in
gleicher Weise agieren und reagieren und ihre Individualität zugunsten eines
Massenbewußtseins aufgegeben haben, das wie ein autonom gewordenes,
ungreifbares Riesengebilde über ihnen liegt, sie mehr beherrschend, als sie
wissen, obwohl sie deren Riesenseele dauernd mit der eigenen nähren. Weil
es heute dieses Massenbewußtsein als eine alles Persönliche übersteigende
und erdrückende Oberperson gibt, als einen Kollektivgeist von solchen
Dimensionen, daß unter ihm der Einzelgeist und sein persönliches Schicksal
in der Belanglosigkeit verschwindet, deshalb tauchen auch
Massenerkrankungen, Zivilisationsschäden und Sozialepidemien ganz neuer
Art auf, ja man kann sich vorgängig fragen, ob die Umwandlung des
Menschen in ein Massenprodukt seiner selbst nicht schon einen krankhaften
Vorgang darstellt, auch wenn es sicher ist, daß die neuzeitliche Entwicklung
darauf hinauslaufen mußte. Das große düstere Thema der Epoche lautet: „Ich
und Masse”, und nicht mehr wie früher: „Ich und Gott, Ich und Natur oder das
Ich und der Staat”. Nun bildet sich das menschliche Ich, dieser
geheimnisvolle „Spiegel im Spiegel”, wie es von Jean Paul genannt wurde,
einmal in der Welt erschienen, nur im Umgang, in der Auseinandersetzung, in
der Nachahmung anderer Ich,. Es braucht, auch jenseits der Kinderzeit,
deutlich umrissene, objektive, überschaubare Umgangsgestalten, um selbst
Gestalt zu werden und zu bleiben, was so viel heißt, als seiner selbst bewußt
zu sein. Dieser Prozeß der Ichwerdung, der Individuation, stößt in der
Massengesellschaft, die ja, amorph und ungegliedert, eine Gesellschaft im
eigentlichen Sinne gar nicht darstellt, auf ungeahnte Schwierigkeiten, weil
Masse gestaltlos ist und bleibt, sich jederzeit entzieht, aber dauernd wirkt, in
technischen und zivilisatorischen Medien und Apparaturen zwar übermächtig
da ist, aber sich nicht von sich her zur Auseinandersetzung stellt. Das Problem
des neuzeitlichen, technisierten Menschen besteht nicht darin, wie er unter
dem Druck des Massenhaften ein einzelner bleiben könne, sondern ob er
allererst ein menschliches Ich überhaupt noch zu bilden fähig ist, einen Kern
seiner Person, welcher Dauer und Geschichte hat und sich nicht von Situation
zu Situation auflöst oder sich von Erlebnis zu Erlebnis neu konstituiert. Ein
20
Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

Massenmensch, könnte man definieren, ist ein Mensch im Zustand der


Ichlosigkeit, ohne daß er weiß, was ihm fehlt oder was er verloren hat.
Fraglos erleichtert diese Verkümmerung, dieser Verlust des Ichs, den
hemmungslosen Genuß der Produkte einer industriellen Welt, die ihrerseits
jede individuelle Reaktion eines Konsumenten als eine nicht vorher
berechenbare, mit Recht als höchst unangenehme Abweichung empfindet und
sie entsprechend – durch Reklame bekämpft. Um Teilhaber eines
Massenbewußtseins zu werden, das stellvertretend denkt, muß man das eigene
Bewußtsein aufgeben, zumindest den Teil des Ichs, der diesem Bewußtsein
die persönliche Weltsicht verleiht. Verlust des Ichs erzeugt Leere, und so
befindet sich der moderne Mensch als ein Massenteilchen, wie das
gleichnamige Gebilde der modernen Physik, in einer dauernden inneren oder
äußeren Bewegung, im Zustand eines fehlenden Gleichgewichtes, in einer
fortwährenden Gravitation zum Zentrum der Masse hin, das anonym bleibt.
Der Defekt des Ichs wird mit dem Verlust des Gleichgewichts, der inneren
Harmonie und Stetigkeit, bezahlt, und dieses labile innere Gleichgewicht
vieler einzelner ist schuld daran, daß es in Massengesellschaften so leicht und
schnell zu seelischen Massenerregungen kommt, zu Kippvorgängen im
großen, die als explosive Störwellen durch die Gesellschaft laufen. Wo ein
Ich ist, ist auch Widerstand und durch dieses dann Besonnenheit, Kritik,
Überlegung, Helle des Bewußtseins, alles Eigenschaften, die der
Massenmensch nicht mehr besitzt. Das Massenbewußtsein reflektiert und
denkt wohl für uns, es erweckt und steuert unsere Bedürfnisse und läßt uns
infolge seiner Rationalität vergessen, daß wir kein Ich mehr haben, aber es
leidet nicht für uns. Die Schlaflosigkeit, an der ich leide, ist meine eigene,
auch wenn sie durch die Bedingungen einer unnatürlichen Zivilisation
entstanden ist. Im Schmerz bleiben wir auch heute noch einzelne, ja es scheint,
als sei der Schmerz einer der letzten noch offenen Zugänge zu unserem
untergegangenen Ich. Von dieser persönlichen Seite jeder Krankheit
abgesehen, gibt es aber heute Massenerkrankungen, die nicht deshalb so
heißen sollen, weil sie massenhaft auftreten – das tun sie auch –, sondern weil
sie Erkrankungen unserer Massenexistenz sind, Leiden, die aus der Ich-
deformation hervorgehen, die also die ganze Gesellschaft betreffen, auch
wenn der konkrete einzelne davon zufällig frei ist. Es liegt heute in allen
Kulturländern eine unübersehbare medizinische Literatur über diese
sogenannten Zivilisationsschäden, über ihre Formen und
Entstehungsbedingungen vor, und täglich kommt Neues, auch neue
Krankheitsbilder, hinzu. Die Grundlage, der Mutterboden dafür aber scheint
zu sein, daß die moderne Gesellschaft im Zustand der Stimulation lebt, in
einer technisch unterhaltenen Erregung des Körpers und der Seele, die beide
nicht mehr durch ein freies, selbstbewußtes Ich aufeinander abgestimmt und
stabilisiert werden. Massendasein ist stimuliertes Sein, wobei die
Stimulantien sehr unterschiedlich sein können; Bewegungssucht und
Leistungsdrang gehören ebenso dazu wie die chronische Abhängigkeit von
bestimmten Medikamenten. Gemeinsam ist aber allen Stimulantien, daß sie
21
Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

uns in eine Überreizung, in einen artefiziellen Auftrieb versetzen oder dessen


Schäden ausgleichen wollen. Denn das Bild der künstlichen Erregung wird
durch die ebenso künstliche Beruhigung und Entspannung ergänzt, und eine
stimulierte Gesellschaft wie die unsere muß über beide Möglichkeiten
verfügen, um, nachdem sie das natürliche Gleichgewicht verloren hat, ein
künstliches wiederherzustellen, was eine tiefgehende Veränderung des
Menschen zur Voraussetzung hat.

II.
Grad und Umfang der Stimulation, unter welcher die industrielle
Gesellschaft lebt und die wir als ein Hauptmerkmal ihrer psychosomatischen
Verfassung behaupten, läßt sich abschätzen an dem Zwang zum Gegenmittel,
das die Stimulation abfangen und ausgleichen soll. Die pharmazeutische
Industrie hat diesen Markt der modernen Seele durchaus erkannt und bringt,
durch eine psychologisch sehr geschickte Reklame unterbaut, eine Reihe von
Medikamenten in den Handel, die als „Tranquillantien” oder „Ataractica” dem
stimulierten Menschen etwas versprechen, was er aus seiner eigenen Natur
längst nicht mehr hat, nämlich Ruhe, Entspannung und seelische Harmonie.
Diese Tranquilizer, wie sie in den USA heißen, sind pharmakologisch
Meprobamate und gehören wie die Weckamine und die in der Psychiatrie so
bedeutsam gewordenen Phenotiazinkörper und Reserpine zu den sogenannten
„psychotropen” Substanzen, Seelenwendern also, Medikamenten, die, ganz
anders als die Narkotika, eine genau gezielte psycho-nervöse Wirkung haben.
Diese scheint, soweit heute schon erkennbar, in einer Blockade der
Verbindungen zwischen Großhirnrinde und den tieferen Hirnteilen, in denen
die affektive Tiefenperson verankert ist, zu bestehen. Der innige Konnex
zwischen Bewußtsein und Emotion, Gefühl und Wille wird auf diese Weise
unterbrochen, was eine dämpfende Wirkung vor allem auf angstvolle
seelische Spannungen und quälende Erwartungszustände möglich macht. Die
Angst, diese konstante Begleiterin einer Leistungsgesellschaft, die heimliche
Geißel unserer Prosperität, hat in diesen Medikamenten, zu denen auch das
Miltaun, Covatix, Cirpon, Restanil und andere gehören, zum ersten Male
einen ernsthaften Gegner gefunden. An der suchtartigen Verbreitung dieser
Mittel kann man die Größe der Alltagsangst im technischen Zeitalter
einigermaßen ablesen. Aber ein Massenphänomen läßt sich am besten wieder
durch Zahlen illustrieren, denn Masse und Zahl verlangen sich gegenseitig.
Im letzten Jahr wurden, wie Wirth neulich berichtete, die Tranquilizer in den
USA 30 000 000 auf Rezept verschrieben, und eine amerikanische
Herstellerfirma gibt an, daß sie von einem einschlägigen Spitzenpräparat
bisher rund 30 Milliarden Tabletten abgesetzt habe, Zahlen, die darauf
schließen lassen, daß es z. B. in den USA kaum mehr Menschen gibt, die
nicht dauernd oder wenigstens zeitweise unter der Wirkung künstlicher
Beruhigungsmittel leben. Zwar ist der Mensch längst aus einem Homo faber
ein Homo fabricatus geworden, aber was durch diese Ataractica entsteht, ist
darüber hinaus im Effekt nichts anderes als der medikamentös manipulierte
22
Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

Mensch, welcher die Bewältigung seiner persönlichen Probleme an technisch-


chemische Energien abgibt, weil der Ichschwund ihn zu einem
widerstandslosen Opfer seiner Umwelt zu machen droht. Seine
Leistungsfähigkeit muß aber unter allen Umständen erhalten bleiben, das
verlangt er von sich und die Gesellschaft von ihm. Deshalb verspricht und
bewirkt der Tranquilizer, das psychovegetative Stabilans, „seelischer Ruhe
bei geistiger Wachheit”, Auflösung innerer Spannungen, Abreagieren von
Angstzuständen, Harmonisierung der Persönlichkeit, Beseitigung von
Konzentrationsschwäche, die aus seelischer Unruhe herrührt. Und wer könnte
widerstehen, wenn er ohne eigene Anstrengung, nur durch eine Tablette,
„gelassen, heiter und friedfertig” gemacht werden kann? Aber diese
künstliche innere Ruhe, die von außen bewirkte Ataraxieunerschütterlichkeit,
welche die antiken Stoiker, von denen der Ausdruck stammt, nur durch die
Willensanstrengung eines ganzen Lebens erreichten, ist ohne Veränderung
der ursprünglichen Persönlichkeit nicht zu erkaufen. Laubenthal hat die
Persönlichkeitsveränderung unter Meprobamaten psychopathologisch und
experimentell an gesunden Versuchspersonen und Neurotikern genauer
geprüft. Es ergab sich, daß jeder den Tranquilizer als einen „Eingriff in die
Persönlichkeitssphäre” empfand, als eine unangenehm erlebte „Änderung im
Sinne eines persönlichkeitsfremden, passiven Ausgeliefertseins”. Bei
Leistungsprüfungen zeigte sich deutlich, daß von den Versuchspersonen die
ihnen als Test gestellten Aufgaben maschinenhafter, „sturer” und losgelöster
von der Umgebung erledigt wurden. „Der Mensch”, sagt Laubenthal in
diesem Zusammenhang sehr kennzeichnend, „reagiert nicht mehr mit dem
vollen Akkord seiner Persönlichkeit, sondern aus einer eingeengten Sicht.”
Der tranquilierte Mensch wird nicht einfach ruhig und normal ausgeglichen,
sondern indifferent, gleichgültig gegen sich und seine Umgebung, wobei er
sich gleichzeitig schärfer und bewußter auf seine Aufgabe einstellt, er
maschinisiert sich. Das Mittel hilft also nicht nur der Stimulation ab, der
Reizbarkeit und Dauererregung, die ja nicht nur aus der Umgebung kommt,
sondern es baut darüber hinaus den Menschen um, in dem es ihm ein Schein-
Ich verschafft, eine geborgte Seele, sofern man diese alte Bezeichnung für
eine so künstliche Verfassung noch verwenden will. Mit diesen Mitteln wird
die Aufspaltung des neuzeitlichen Menschen in ein ihn dominierendes,
technisches Leistungs- und Arbeitsbewußtsein und in ein Rest-Ich, ein
menschliches Seelenrudiment, erheblich vorwärtsgetrieben, das sich in seiner
Spaltung, wenn nur die Medikamente lange genug genommen werden,
wahrscheinlich nicht mehr zu einem Ganzen restituieren kann. Der Mensch
wird die Angst, die doch zur Struktur seines Wesens gehört, wenn auch der
moderne Lebens- und Arbeitsstil sie unbestreitbar vergrößert hat, zwar los,
aber um den Preis einer Deformierung seines Wesens, das dann freilich
durchaus an die technische Umwelt angepaßt ist und in ihr besser funktioniert,
aber eben nicht mehr sein Wesen ist. Aber vielleicht will der Mensch heute
sich selbst loswerden und beschreitet mit seiner medikamentösen
Umwandlung nur den einfachsten und leichtesten Weg, um die Bürde eines
23
Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

lebendigen, hoffenden, leidenden, sich quälenden und glaubenden Ichs


abzuwerfen, eines Ichs, das in dieser Welt nur dann seiner selbst sicher wäre,
wenn es an seine eigene Unsterblichkeit noch glauben könnte. Erst nachdem
im Zeitalter der Romantik dieser Zerfallsprozeß des Ichs eingesetzt hat, gibt
es eine Existenzphilosophie, welche die Fragwürdigkeit des modernen Ichs
ebenso beschreibt, wie sie ihm mit dem Appell an die Persönlichkeit zu Hilfe
kommen möchte. Aber der Massenmensch, der stimulierte und tranquillierte,
wird sich kaum der Philosophie bedienen, um sein Ich zu retten, das ihm
offenbar höchst lästig geworden ist. Er setzt sich selbst ab, nachdem er als
soziales und politisches Wesen längst schon entmachtet worden ist.
Es ist noch umstritten, ob die Tranquilizer zu einer echten Sucht führen
können, wie die Opiate und Barbiturate; gewisse amerikanische
Beobachtungen jedenfalls sprechen dafür, obwohl von der Reklame die
Ataractica noch als suchtungefährlich angepriesen werden. Aber es ist eine
reine Frage der Definition, nicht der Klinik, was man in der industriellen
Gesellschaft, die als stimulierte durch und durch suchtgefährdet ist, schon als
Sucht bezeichnen will und was nicht. Die Kommission für suchterzeugende
Medikamente innerhalb der Weltgesundheitsorganisation hat sich in ihrem
letzten Bericht, angesichts der überstürzt zunehmenden Verwendung von
Ataractica, veranlaßt gesehen, eindringlich vor diesen
„Beruhigungsmitteln“ zu warnen, da sie stark „gewohnheitsbildend” seien,
ein Begriff, der zwei Haltungen einschließt, die Gewöhnung an das Mittel und
die soziologische Einstellung auf Leistungssteigerung und Angstflucht. Die
Autoren des Berichtes, alles anerkannte Fachleute, suchen dann Sucht und
Gewöhnung definitorisch voneinander zu trennen, wonach Gewöhnung ein
Zustand ist, der von der wiederholten Anwendung eines Medikamentes
herrühre, mit welchem sich das subjektive Wohlbefinden steigern lasse, ohne
daß, wie bei der wirklichen Sucht, die Dosis erhöht werden müsse; außerdem
entstehe bei der Gewöhnung keine physische, sondern auch eine psychische
Abhängigkeit, d. h., das Medikament setzt keine körperlichen Schäden, die als
Abstinenzerscheinungen manifest werden. Die schädliche Wirkung treffe,
wenn überhaupt, nur den an ein Mittel Gewöhnten, nicht, wie bei der Sucht,
die Gesellschaft. Schon das letztere dürfte auf die Tranquilizer nicht zutreffen.
Denn die von uns beschriebene Wesensveränderung einer mit-menschlichen
Gleichgültigkeit, einer Wurstigkeit gegen das, was der Mensch sich und
anderen schuldet, bei gleichzeitiger Steigerung der Arbeitsleistung, wird sich
in nicht allzu ferner Zukunft als ein Gesellschaftsschaden herausstellen, es sei
denn, diese Gesellschaft habe endgültig die Absicht, aus entseelten Robotern
bestehen zu wollen. Aber auch die Unterscheidung zwischen physischer und
psychischer Abhängigkeit scheint akademisch und verschleiert das eigentliche
Problem eher, als daß es dieses klärt, nämlich die Gefahr einer bleibenden
seelischen Strukturänderung unter der gewohnheitsmäßigen Einnahme von
entspannenden und beruhigenden Mitteln. Jede „gewohnheitsbildende”
Bindung an ein Medikament, das dem Menschen mehr seelische und geistige
Energie zuführt, als ihm seine Natur zur Verfügung stellt, ist dann eine Sucht,
24
Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

wenn sie zu einer psychischen Veränderung führt, die diese Gewöhnung


ihrerseits wieder unterhält, womit der Mensch die Herrschaft über sich selbst
an die Tablette abgegeben hat. Die Tablette ist überhaupt eine der
eindrucksvollsten Symbole der technischen Welt, die ihre Angebote an den
Menschen immer in harmlos-ansprechender, sanft überredender Aufmachung
vorbringt.
Die stimulierte Gesellschaft schwankt, weil sie stimuliert ist, zwischen
Überreizung und dem Gegenteil, der Apathie. Der habituellen Überzogenheit
unserer Psyche durch Erlebnisreize und Leistungszwang folgt gewöhnlich der
Absturz und damit der Zwang, sich noch stärker zu stimulieren. Dafür bieten
sich die Weckamine an, zu denen Pervitin, Benzedrin, Elastonon und Ritalin
gehören, um nur einige zu nennen, die, über eine strenge Indikation im
internen und psychiatrischen Bereich hinaus, heute weit verbreitet sind,
obwohl ihre suchtmachende Wirkung viel eindeutiger feststeht als bei den
Tranquilizern. Man kann auch die Beruhigung und Stimulierung im gleichen
Medikament kombinieren, womit dann die psychische Polarität des Menschen,
Aktivität und Ruhe, vollkommen durch die medikamentöse Überlagerung
ersetzt ist. In welchem Maße aber die industrielle Gesellschaft zur
Selbststimulation schon übergegangen ist, weil sie dem Druck ihrer
technischen Umwelt nicht mehr gewachsen ist, zeigt erst richtig der enorme
Abusus an phenacetinhaltigen Kopfschmerzmitteln, wie Saridon, Gelonida
antineuralgica, Melabon, Treupel- und Spalttabletten usw., wobei, wie Gsell
hervorhebt, die Beigabe von Coffein als eigentliches Stimulans für den
Arzneimittelmißbrauch verantwortlich zu machen sei. Nach Schweizer
Autoren betrug z. B. in einer Berner Apotheke der Absatz von Phenacetin als
Saridon oder Treupeltabletten 1939 11,3 kg, 1954 aber 90,2 kg.
Schweingruber berichtet, daß in USA die Verwendung phenacetinhaltiger
Präparate von 1940 bis 1948 um das Doppelte angestiegen ist, und Kielholz
gibt an, daß in der psychiatrischen Universitätsklinik Basel die Zahl der
wegen Medikamentensucht aufgenommenen Patienten sich von 1946 bis 1953
verzehnfacht habe. Es ist gar keine Frage, daß der Kopfschmerz, welcher als
primäre Ursache für die Entstehung des Abusus von Phenacetin gewöhnlich
angegeben wird, ein Symptom vegetativ-vaskulärer Überreizung ist, des
unerbittlichen Zwanges, bei der Arbeit durchzuhalten und gleichzeitig die
Freizeit, statt der Erholung, dem Betrieb zu widmen, der einen ebenso
unwiderstehlichen Sog entfaltet. Der Schweizer Kliniker Gsell hat festgestellt,
daß Analgetica heute durchaus nicht nur von Menschen mit chronischen
Kopfschmerzen oder von neurotisch Stigmatisierten, sondern von primär
gesunden, aber im Beruf überlasteten Menschen, zu 80% von berufstätigen
Frauen gewohnheitsmäßig eingenommen werden. Diese alarmierenden
Zahlen beweisen, daß es sich bei allen Arzneimittelsuchten um „ein im
Grunde einheitliches Krankheitsgeschehen“ (Romeney), um einen generellen,
uniformen Suchttypus handelt, den „vierten” Menschen, der sich selbst
stimuliert, weil er in einer ihn unablässig stimulierenden Gesellschaft lebt.
Und wie seine Leistungen künstlich erborgt, exogen zugeführt und
25
Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

medikamentös ermöglicht sind, so auch seine „Tranquillitas”, seine Ruhe.


Seine Tagesruhe, denn die Schlafmittelsucht soll bei diesen Überlegungen
außer Betracht bleiben, obwohl sie wahrscheinlich alle anderen Suchtformen
noch weit übertrifft.

III.
Die Medizin hat die Psychopathologie der Süchte, den Charakter des
Süchtigen und seine Art, zu reagieren, zuerst an den schweren Formen des
Opiatmißbrauchs genauer studiert. Süchtigkeit aber als ein
massenpsychologisches Problem, als soziologische Erscheinung der gesamten
Gesellschaft, tritt erst jetzt allmählich in ihren Gesichtskreis, und sie erkennt
auch an diesem Massenphänomen der Sucht gewisse Züge wieder, die in der
Klinik festgestellt wurden. So die exzessive Empfindlichkeit des
Einzelsüchtigen gegen jede Art von körperlichem und seelischem Schmerz,
die ihn sofort und immer wieder zu dem scheinbar rettenden Medikament
greifen läßt. Ist diese geradezu infantile Wehleidigkeit, diese Anfälligkeit
gegenüber jeder, auch der belanglosesten psychischen und physischen
Verstimmung nicht auch ein Motiv der heutigen Kollektivsüchtigkeit? Der
moderne Mensch ist gleichzeitig überanstrengt und verwöhnt, wobei er das
eine durch das andere rechtfertigt. Denn er hält es für eines seiner
Grundrechte, wenn nicht Pflichten, keinen Schmerz ertragen zu brauchen,
und je weniger er dazu bereit ist, desto weniger ist er auch dazu fähig, und um
so stärker gerät er in Abhängigkeit von Medikamenten, die ihn wieder gegen
jede Störung seines Wohlbefindens noch empfindlicher machen. So bietet die
stimulierte Gesellschaft als Gesamtorganismus durchaus das Bild einer
klinischen Suchterkrankung, die um so schwerer zu heilen ist, weil sie den
ärztlichen Wirkungsbereich schon weit überschritten hat. Auch wird die
Industrie diesen Markt eisern verteidigen und eher noch ausbauen, unter der
Devise, daß es ihre humanste Aufgabe sei, dem leidenden Menschen die
Mittel zu verschaffen, die er offensichtlich braucht, um „durchhalten” zu
können. Zudem lassen sich medikamentöse Bedürfnisse bei einer subtilen,
tiefenpsychologischen Marktforschung auch hier, wie in der übrigen
Wirtschaft, leicht hervorrufen, zumal bei der Kritiklosigkeit der Konsumenten,
die vielleicht schon ein latentes Zeichen ihrer Suchtbereitschaft ist. Denn es
gibt niemand, der nicht den Stachel in sich fühlt, noch mehr zu leisten, als er
bisher bewältigt hat, seitdem der soziale Neid die stärkste Triebfeder des
Menschen geworden ist. Da der Mensch offenbar nur noch ein
Leistungsgewissen und kein moralisches mehr hat, braucht er den
Tranquilizer, um sich zu beruhigen.

26
Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

DRITTES KAPITEL

DAS ICH IM SPIEGEL SEINER LEIDEN

Um möglichst ohne Umschweife in die Wirklichkeit heutiger


Krankheitslehre und Therapie einzutreten, seien zwei maßgebende
Zahlenangaben vorangestellt. Von den etwa 2000 Herz- und Kreislaufkranken,
die unter 50 Jahren alt waren und im Verlauf weniger Jahre an einer großen
westdeutschen Universitätsklinik zur Aufnahme kamen, boten 40% dieser
Kranken auch bei mehrfacher sorgfältiger Untersuchung keinerlei krankhaften
Befund, weder am Herzen noch an den Gefäßen. Diese Kranken fühlten sich
aber subjektiv krank, waren tatsächlich leistungsunfähig und klinikbedürftig,
obwohl sie es nach dem Zustand ihrer Kreislauforgane gar nicht sein durften
oder konnten. Im Jahre 1940 jedoch betrug der Anteil solcher funktioneller
Herzerkrankungen, wie die Medizin sie nennt, an einem gleich großen und
statistisch vergleichbaren Ausgangsmaterial nur 10%. Im Zeitraum von etwas
mehr als 15 Jahren also eine geradezu erschreckende Zunahme von
Herzkranken, die es nicht sind und doch sind, ja die so sehr krank sind, daß
ein großer Teil von ihnen vorzeitig invalidiert werden mußte. Nun steht, um
die Lage noch weiter zu komplizieren, fest, daß dieses überstürzte Anwachsen
der Krankenzahlen mit funktionellen Herz- und Kreislaufstörungen
keineswegs etwa mit Krieg und Austreibung, mit den sozialen und
wirtschaftlichen Katastrophen zu tun hat, durch die sich unser Jahrhundert so
bedenklich auszeichnet. Denn der gleiche Sachverhalt findet sich in allen
technisch-zivilisierten Ländern, ja man könnte meinen, daß es sich um eine
ausgesprochene Wohlstandskrankheit handelt. Denn ganz gegen jede
Erwartung traten während des Luftkrieges unter der englischen und deutschen
Großstadtbevölkerung derartige Kreislaufstörungen ausgesprochen selten auf,
und anderseits stieg ab 1948, als die schlimmste Not zu weichen begann, die
statistische Kurve der funktionellen Zirkulationsstörungen erst recht an.
Solche Beobachtungen, wobei wir Herz und Kreislauf nur beispielhaft als
Krankheitsgebiet gewählt haben, werfen einige sowohl für den Arzt wie für
den Patienten grundlegende Fragen auf. Zunächst diese: Was sollen wir
eigentlich noch unter „Gesundheit” und „Krankheit” verstehen, wenn die
Grenzen zwischen beiden derart fließend geworden sind, daß der Arzt, wie
dies heute so häufig ist, einen Kranken vom naturwissenschaftlichen
Standpunkt aus als gesund bezeichnen muß, der es offensichtlich weder
seinem Erleben noch seiner Leistungsfähigkeit nach ist. Zweitens fragen wir,
wieweit unsere technische, industrielle Zivilisation, die als indifferente
Umwelt uns alle, Ärzte wie Kranke, umschließt, denn schuld daran ist, daß
wir offensichtlich krank werden können, ohne daß eine der Ursachen vorliegt,
die sich in das bisherige Krankheitsschema der Medizin einordnen lassen.

27
Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

Und drittens, wobei sich jetzt das Vorausgehende als Vorfrage erweist,
versuchen wir den heutigen Menschen ohne seine gewöhnliche Tarnung
aufzufinden, wollen sein innerstes Ich erkennen, das offenbar bestimmte
menschliche und berufliche Situationen mit Krankheit beantwortet, sei es daß
es sich nicht an solche anpassen kann oder vor ihnen flieht oder überhaupt
versagt, weil seine Kräfte in einer glaubenslosen Zeit nicht mehr ausreichen,
sich selbst und damit dem eigenen Leben einen tieferen Sinn zu geben. Dabei
wird sich zeigen, daß die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit eine
Lebenssituation krank machenden Charakter bekommt, für Mann und Frau
ganz verschieden sind. Überhaupt läßt sich grundsätzlich dann weiterfragen,
woher es denn rühre, daß heute der Einfluß des Seelischen auf die Entstehung
organischer Erkrankungen so bedeutend ist und immer weiter zunimmt, daß
organische Krankheiten so häufig eine seelische Wurzel haben. Was hat sich
im Menschen der Neuzeit verändert, daß er so leicht und oft so widerstandslos
in seelisch unbewältigbare Situationen hineingleitet und ihre Problematik
nicht mehr geistig bestehen kann, sondern sie lieber sozusagen körperlich
austrägt? Liegt dies an bestimmten, nur für unsere Zivilisation typischen,
vielleicht neuartigen Situationen, also an der Umwelt, die wir nicht ändern
können, oder an uns, die wir nicht scharf und nicht rechtzeitig genug erkennen,
daß stärkere Mächte mit uns ihr Spiel treiben, als wir wissen? Unsere
Untersuchung läuft also darauf hinaus, ob wir auf dem Weg über die
Krankheit erfahren können, was der Mensch heute ist, und vielleicht eignet
sich die Krankheit besser als jede andere Erscheinung für diesen Aufschluß,
weil sie eben den Menschen am stärksten enthüllt, im Sinne Pascals sein
„Elend” aufzeigt, diesen tief in unsere Daseinsverfassung eingelagerten
Jammer und Zerfall, den keine noch so optimistische Zweckweltanschauung
hinwegdisputieren kann.
Wenn wir uns nun anschicken, zuerst über das Wesen von „Gesundheit”
und „Krankheit” als definierbarer Größen Klarheit zu gewinnen, so geraten
wir, wie jeder, der dies bisher versuchte, sofort und auswegslos in ein un-
entwirrbares Gestrüpp von Abstraktionen und Meinungen, die alle etwas, nur
eine Seite, an der Erscheinung von Gesundheit und Krankheit treffen, aber nie
das Ganze und nie das eigentliche Wesen von Gesund- oder Kranksein. Und
obwohl die Ärzte seit Hippokrates über ihr Tun und ihre Aufgabe nicht
aufgehört haben spekulativ nachzudenken, können wir uns auch aus der
Geschichte der Medizin keinen Rat holen, denn jedes Zeitalter versteht unter
Gesundheit und seinem Gegenteil etwas anderes. Wenn es römischer
Lebensauffassung entsprach, zu sagen: „Mens sana in corpore sano”, bei
einem gesunden Körper auch die Gesundheit der Seele notwendig zu fordern,
so kann nichts falscher sein als diese so oft nachgesprochene Sentenz. Denn
die meisten Geisteskranken, vor allem die Schizophrenen, sind körperlich
auffallend gesund, geradezu zählebig, und erreichen im Durchschnitt ein
hohes Alter. Auch ist Gesundheit keineswegs einfach das Fehlen von
Krankheit, ein Zustand also, der sich schon dadurch ergibt, daß das
Nichtvorhandensein von Krankheit festgestellt wird. Der heutige Gebißzerfall
28
Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

in allen Kulturländern ist ganz zweifellos ein erheblich krankhaftes Phänomen,


aber es wäre unmöglich und absurd, jedem die Gesundheit abzusprechen,
dessen Zähne durch Karies oder Paradentose zerstört sind, denn dann gäbe es
unter uns fast nur noch Kranke. Diesem einen Beispiel der Karies ließen sich
noch eine ganze Reihe anderer angliedern. Sie alle würden zeigen, daß
zahllose krankhafte Prozesse am Menschen sich abspielen können, die aber
seine Gesundheit, im gewöhnlichen Sinne verstanden, nicht zu tangieren
brauchen. Auch ist es bei vielen Krankheiten fast unmöglich, einigermaßen
exakt zu bestimmen, von wann an sie als Krankheit gelten müssen. Der Krebs
braucht bis zu seiner optisch feststellbaren Erscheinung jahrzehntelange
Vorstufen, wobei krankhafte Reize die Zellen eines Organs treffen und diese
in Atmung und Stoffwechsel verändern. Aber erst wenn eine Summation
dieser Reize in der Zeit eingetreten ist, wenn eine Schwelle endgültig
überschritten wird, beginnt das eigentliche, dramatische und den Körper als
ein Ganzes zerstörende Wuchern des Krebses, und jetzt erst können wir
genauerweise von Krebskrankheit sprechen. Aber es ist kein Zweifel, daß
auch die unbemerkten, nicht feststellbaren unterschwelligen Vorstadien dieses
Krebsleidens schon pathologisch waren, aber wir können nicht oder bisher
nicht sicher erkennen, von wann an dies gilt. Sowenig wir nun objektiv und
mit Schärfe abgrenzen können, was noch gesund oder was schon krankhaft ist,
ebensowenig gibt das subjektive Wohlbefinden oder das körperliche
Mißbehagen des Menschen ein brauchbares Kriterium ab für die Scheidung
der Gesundheit vom Kranksein. Der Herzinfarkt, dieses Damoklesschwert
über dem Lebensfaden eines jeden heutigen Leistungsmenschen, kann diesen
aus heiterem Himmel, d. h. aus einem trügerischen Gesundheitsgefühl heraus,
töten, obwohl wir doch wissen, daß diesem Endschlag des Herzens krankhafte
Störungen der Blutversorgung und anatomische Veränderungen an den
Herzkranzgefäßen vorausgegangen sein müssen. Ein ausgedehntes
Magenkarzinom kann deshalb durch Zufall entdeckt werden, weil es dem
Träger nicht die geringsten Beschwerden gemacht hat, und wir finden nicht
selten bei der Sektion unklarer, plötzlich eingetretener Todesfälle eine
Hirngeschwulst bis zu Hühnereigröße, die weder klinische Symptome noch
eine subjektive Störung beim Träger dieses Leidens hervorgerufen hatte. Wir
können uns also weder auf die Krankheit als einen körperlichen Prozeß noch
auf den Kranken als den Seismographen des Leidens verlassen, wenn wir
darauf aus sind, Gesundheit und Krankheit säuberlich voneinander zu trennen.
Beide, die Krankheit und der Kranke, geben zu oft verwirrende Aufschlüsse,
wie übrigens bei allen Versuchen, Gesundheit und Krankheit je in eine
einzige er-schöpfende Formel zu fassen. Nicht unerwähnt soll die neueste
dieser theoretischen Gesundheitsformeln bleiben. Sie liegt der Satzung der
Weltgesundheitsorganisation, der WHO, zugrunde und lautet: „Gesundheit ist
der Zustand völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens”,
und dieses auf solche Weise dreifach gekennzeichnete Wohlbefinden soll, wie
es dann weiter heißt, ein Grundrecht des Menschen darstellen. Diese
Verlautbarung einer überstaatlichen Organisation, der die Gesundheit unserer
29
Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

Welt am Herzen liegt, ist, obwohl von anerkannten medizinischen Fachleuten


aufgestellt, in ihrer Naivität einfach erstaunlich. Denn schon auf den ersten
Blick ist zu erkennen, daß damit nicht das Wesen von so etwas, wie es die
Gesundheit ist, umschrieben, sondern daß eine Forderung erhoben wird, und
zudem eine durch und durch utopische. Denn einen Zustand völligen
körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens als eine andauernde
Verfassung des Einzelmenschen hat es nie gegeben und ist wohl auch in
Zukunft nur auf ganz flüchtigen Höhepunkten eines menschlichen Lebens
möglich. Außerdem, was soll das heißen: „Soziales Wohlbefinden”? Ist es
denn nicht so, daß, je mehr das Soziale im Wohlfahrtsstaat konzentriert wird
und um sich greift, gerade das Wohlbefinden der Menschen abnimmt? Weil
wir meinen, es ließen sich alle Schwierigkeiten, die der Mensch mit sich,
seiner Natur und der Umwelt hat, durch bloßes soziales Organisieren lösen,
geraten wir immer tiefer, ich möchte nicht sagen, in die Asozialität hinein,
aber in eine mechanisch funktionierende Wohlstandsapparatur, die dem
Menschen immer unbehaglicher werden muß, je abhängiger sie ihn von ihren
staatlich verordneten Segnungen macht. Was sich in dieser Formel ausdrückt,
ist die klassische Fortschrittsideologie des Materialismus, die dem Glauben
verfallen ist, der Mensch müßte dann a priori glücklich sein, wenn er keine
seelischen Schwierigkeiten mehr mit sich hat, Krankheit nicht ernstlich zu
fürchten braucht und auf der sozialen Stufenleiter dort steht, wo ihn kein
Konkurrierender mehr bedrängt. Welch eine Auffassung vom Wesen des
Menschen, der die Krankheit vielleicht zu seinem Heil, zu seiner inneren
Kräftigung braucht und der in einem höheren Verstand sich wahrscheinlich
gar nicht wohl befindet, wenn er sich nur wohl befindet. Noch zweifelhafter
und bedenklicher scheint die Behauptung, daß Gesundheit ein Recht des
Menschen sei, auf das er einen Anspruch erheben kann. An wen? An Gott
wohl nicht, dieser kann kaum gemeint sein. Die stumme, nach ihren Gesetzen
ablaufende Natur noch weniger, denn die Natur entzieht sich jedem
menschlichen Anspruch. Also ist es ein Anspruch an den Staat, an die
Gesellschaft, von welcher wir in einer zeitüblichen Verwirrung immer mehr
und mehr Rechte garantiert haben wollen – wie das Recht auf Arbeit, Freizeit,
Altersversorgung –, ohne zu merken, daß wir uns dabei jedesmal eines
eigenen Rechtes, das wir uns selbst geben müssen, berauben. Gesundheit nun
ist beileibe kein Grundrecht des Menschen, am wenigsten in dieser
sonderbaren Form eines totalen Dauerwohlbefindens, sondern Gesundheit
bedeutet eine Pflicht, aber nicht gegen Staat und Gesellschaft, nicht einmal
gegen Familie und die Nächsten, sondern eine von mir selbst für mich zu
leistende Pflicht, und zwar deshalb, weil ich den persönlichen Sinn und die
spezifisch menschliche Aufgabe meines Lebens eher im Zustand der
Gesundheit erfüllen kann, als wenn die Krankheit mich von dieser nur durch
mich zu verwirklichenden Aufgabe abhält. Auch wenn die Form des
modernen bürokratisierten Gesundheitswesens und die Tendenzen des
industrialisierten Massenmenschen dem widersprechen, so halten wir doch
daran fest, daß der Anspruch auf Gesundheit, dieser Wille und Wunsch,
30
Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

gesund zu sein, keinesfalls ein Recht ist, das der Mensch an anonyme
Instanzen delegieren kann, um es von dort als das seine wieder einzufordern.
Dies wäre nicht bloß unwahr, sondern ist bekanntlich auch mit Gefahren
verknüpft. Denn dann bestimmt der Staat, was gesund und was krank ist, was
unter normal und abnorm zu verstehen sei, und die furchtbaren Folgen einer
solchen dekretierten Staatsgesundheit, getarnt hinter der sogenannten
„gesunden Volksempfindung”, sollten gerade wir Deutschen noch im
Gedächtnis haben.
Auch die Definition, die Friedrich Deich, geleitet von praktischen
Gesichtspunkten, jüngst von der Gesundheit gegeben hat, ist nur teilweise
brauchbar. Gesundheit sei – so meint dieser Autor – Angepaßtsein an die
äußeren Lebensbedingungen. Das trifft zum Beispiel sicher für einen Eskimo
zu, der in Kleidung, Nahrung und Konstitution an die Kälte seiner
grönländischen Lebensbedingungen so gut angepaßt ist, daß es Krankheiten
unter den Eskimos, sofern diese nicht mit unserer Zivilisation in Berührung
kommen, faktisch kaum gibt. Ein völliges Angepaßtsein jedoch an die
äußeren Lebensbedingungen der technischen Zivilisation, an ihren
Arbeitsrhythmus und ihre immer mehr zunehmenden Anforderungen an die
Kraft und seelische Verarbeitungsfähigkeit des Großstadtmenschen kann für
diesen schon Krankheit bedeuten, und Gesundheit entsteht und bleibt unter
den heutigen äußeren Lebensformen weit eher erhalten, wenn man sich
diesem zivilisatorischen Leben wenigstens zum Teil entzieht.
Als Summe und Fazit unserer bisherigen Überlegungen: Es läßt sich weder
von der Gesundheit noch von der Krankheit zutreffend und umfassend sagen,
was beide ihrem Wesen nach sind. Sie enthalten weit mehr, als wir durch
unsere Begriffe umschreiben können, weil beide Urphänomene sind,
Grundtatsachen des menschlichen Seins, Strukturelemente unserer irdischen
Existenz, und beide weisen auf etwas Größeres, aber für uns Verborgenes hin,
sie sind transzendentaler Natur. Daher zeigen sie uns immer nur einen Teil
ihres Wesens. Diese Eigenschaften teilen Gesundheit und Krankheit als
Urphänomene mit anderen Primärerscheinungen. So geschieht beim Tod
mehr, als daß nur ein Körper seine animalischen Funktionen einstellt, und bei
der Geburt erscheint nicht nur ein x-beliebiger neuer Mensch, sondern die
Welt hebt noch einmal an, Adam betritt wieder von neuem seine Erde. Wenn
wir aber schon nicht wissen, sondern vielleicht nur ahnen können, was
Gesundheit und Krankheit wesentlich sind und sein sollen, dann können wir
vielleicht doch ihr Verhältnis zueinander, ihre gegenseitige Bezogenheit
verstehen, anstatt sie gegeneinander aufmarschieren zu lassen als sich
ausschließende Größen. Vergleicht man Gesundheit und Krankheit als zwei
Wesenheiten, die einander zugehören, die einen Lebenskreis schließen, dann
werden wir bald eines Irrtums inne, auf den Viktor v. Weizsäcker in seinem
letzten Werk, „Pathosophie”, so eindringlich aufmerksam gemacht, auf den
Irrtum nämlich, daß die Mehrzahl von uns Menschen die längste Zeit ihres
Lebens gesund sei und daß wir nur da und dort und dann und wann krank
würden. Weizsäcker vergleicht in diesem Zusammenhang die Übermacht der
31
Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

Krankheit mit dem allverbreitenden Unrecht, im Hinblick auf welches wir ja


auch fälschlich meinen, „daß der Hauptteil des gesellschaftlichen und
politischen Lebens sich moralisch und juristisch einwandfrei abspiele und nur
hin und wieder ein Unrecht geschehe, das dann, wieder in der Mehrzahl der
Fälle, bemerkt, aufgegriffen und geahndet würde”. Tatsächlich verhält es sich
gerade umgekehrt, denn „die Summe des fortwährend erzeugten Unrechtes ist
ganz ungeheuer, und das meiste davon bleibt unkorrigiert und straflos, auch
nimmt diese Summe fortwährend zu, weil ein ungesühntes Unrecht durch
zeitliche Entfernung nicht weniger Unrecht wird”, denn „Verjährung ist ein
praktisches Verhalten, kein natürlicher Vorgang”. Wie mit dem Unrecht im
politischen und menschlichen Dasein, so verhält es sich auch mit der
Normalität unseres Leibes und unserer Seele, mit der Gesundheit im
Gesamtsinne. Für den Psychiater, dem seine Erfahrung und sein Wissen das
Auge geschärft hat auch für die Spezies Mensch außerhalb seiner Klinik, ist
es keine Frage, daß Abnormes die Häufigkeit und die Normalität einen
seltenen Glücksfall, eine Spitzenleistung darstellt, sofern man unter „normal”
einen Menschen verstehen will, der, bei ausreichender Intelligenz, seelisch in
sich harmonisch, frei von psychotischen Zügen und neurotischen Reaktionen
ist, aber auch frei von quälenden Ressentiments und wahnhaften
Selbsttäuschungen, frei von ideologischer Verfinsterung und bösartiger
Intoleranz. Jeder Mensch vereinigt in sich einen Bestand, eine mehr oder
minder glückliche Mischung von Normalität und von Zügen, die man
psychopathologisch nur als abnorm bezeichnen kann, und sein innerer
Lebensweg besteht eigentlich darin, daß er durch Selbsterziehung und durch
die Zucht der Erfahrung zur Helle einer menschlichen Norm hinzustrebe,
gleichgültig, ob und wie er dieses Ziel erreicht. Ganz ähnlich ist auch im
Sexualleben das Natürliche und menschlich Richtige nicht eine
selbstverständliche Gegebenheit, sondern ein Ergebnis der Humanität, der
Kultur des Gefühls und des Körpers, der Verwandlung von Sexualität in den
Eros mit Hilfe der Liebe als eines nur geistigen Aktes. Daher sind unter der
sogenannten einfachen Bevölkerung sexuelle Abnormitäten und Perversionen
durchaus nicht selten, sondern häufiger als in den kulturelleren Schichten.
„Krank oder krankhaft ist also der vielleicht größere Teil unseres Lebens und
jedenfalls ein viel größerer Teil unseres Lebens als das, was davon bemerkt
und anerkannt wird ...“ „Man versteht das kranke Wesen am besten, wenn
man sich das ganze Leben als einen unablässigen Krieg mit der Krankheit
vorstellt” (Viktor v. Weizsäcker). Eine solche Behauptung wäre früher, vor
der technischen und naturwissenschaftlichen Ära, nicht auffallend gewesen.
Denn damals trat die Krankheit sinnfälliger, dramatischer und bildhafter
hervor als heute, und bis tief ins 19. Jahrhundert waren es die Seuchen und
Infektionskrankheiten, die den Menschen mit ihrem unvorhersehbaren, aber
wilden Zugriff ständig bedrohten. Heute sind die Herz- und
Kreislauferkrankungen an ihre Stelle getreten, und in dieser Verschiebung
dokumentiert sich ein großer Erfolg und eine unerwartete Niederlage der
modernen technischen Medizin. Denn die Krankheit, als Ganzes genommen,
32
Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

hat nur ihr Gesicht gewandelt und ihre Angriffspunkte geändert. Sie tritt
unauffälliger und in mancher Hinsicht weniger bedrohlich, dafür aber
häufiger und intensiver, stiller wohl, aber um so nachhaltiger an den
Menschen heran. Der unablässige Krieg, den die Krankheit gegen das Leben
führt, wird auch durch die Erfolge der Hygiene, der chirurgischen und
medikamentösen Medizin nur verschleiert, und unsere unleugbaren
therapeutischen Leistungen haben nur allzuoft die Wirkung, daß die
Krankheit mit neuer Gewalt durch eine andere Türe wieder hereintritt,
nachdem wir ihr die eine endgültig verschlossen zu haben glaubten. So ist, um
dafür ein Beispiel nur zu erwähnen, den Klinikern schon immer aufgefallen,
daß Kinder aus guten bis besten Verhältnissen, die also hygienisch umsorgt
und beschützt aufwuchsen, in einem höheren Prozentsatz an der spinalen
Kinderlähmung erkranken als andere, die in ihrer Kinderzeit notgedrungen
auch mit dem Schmutz in jeglicher Gestalt in Berührung kamen. Die
Erklärung liegt darin, daß die weniger hygienisierten Kinder früh mit dem
Virus der Kinderlähmung sich infizieren, eine leichte Erkrankung in Form
einer harmlosen Erkältung durchmachen und dann immun sind, zumindest für
den Zeitraum der hauptsächlichsten späteren Gefährdung. Ein zweites
Beispiel für die kriegerische List, mit der die Krankheit verfahren kann, ist
eine Beobachtung auf den Säuglingsstationen unserer Kinderheime, wo in
sauberen Glasboxen nach Vorschrift und letzter hygienischer Erkenntnis
gewindelte, gefütterte, gebadete und versorgte Säuglinge liegen, die entweder
keine Mutter haben oder eine solche, der ihre berufliche Arbeit wichtiger ist
als ihr Kind. Nun erkranken gerade diese Musterkinder neuzeitlicher
Kinderheilkunde beängstigend oft an Ernährungsstörungen, entwickeln sich
schlecht, haben leblose, wie erfrorene Gesichter, lächeln fast nie, lernen spät
sprechen und sich aufrichten. Dabei fehlt ihnen nichts, außer der mütterlichen
Liebe, die mit ihnen spricht, sie auf den Arm nimmt und liebkost, denn dazu
haben die überlasteten Säuglingspflegerinnen beim besten Willen weder Zeit
noch Kraft. Es blieb dem Prof. Rene Spitz in Paris, einer psychoanalytisch
orientierten Kapazität, vorbehalten, zu entdecken, daß ein Säugling sich nicht
entwickeln könne ohne die unablässig ihn dicht wie eine zweite Haut
umgebende Liebe seiner Mutter oder wenigstens einer liebenden Ersatzfigur.
Denn Seelisches wird nur durch Seelisches lebendig, und der affektive
Liebeskontakt ist für ein Kleinkind weit wichtiger als die beste und völlig
einwandfrei zusammengestellte Nahrung. Man nennt diese Entdeckung, daß
schon Säuglinge aus seelischen Ursachen organisch-neurotisch erkranken
können, nach seinem Autor den „Spitzeffekt” und ist froh, eine
wissenschaftliche Bezeichnung für etwas zu haben, was jeder Mutter nur ein
Lächeln abnötigen kann, weil sie dies immer schon instinktiv wußte und nicht
zu lernen brauchte.
Ich kehre nach dieser Abschweifung, die nur schlag-lichtartig die
Gefahren neuzeitlicher Medizin beleuchten sollte, zu unserer Kernfrage nach
dem Wesen der Gesundheit zurück, der Gesundheit, die nur entsteht aus
einem beständigen Kampf mit dem Krankhaften. Weizsäcker bezeichnet
33
Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

gesunde Zeiten als Fortsetzungen dieses Krieges mit anderen Mitteln. „Wer
ein Sinnesorgan besäße''`, sagt er, „welches eigens fürs Krankhafte da wäre
und welches so stets bereit und hell wie das Auge wäre, der begriffe diese
beständige Entstehung des Gesunden aus der Abwehr des Kranken am
leichtesten. Wer sich für völlig gesund hält, der ist nur blind für das
Pathologische.” Es fragt sich jetzt, ob diese alarmierende These von dem
Überwiegen des Krankhaften gegenüber dem Gesunden beim zivilisierten
Menschen der Neuzeit im Ernst der Wirklichkeit entspricht oder nur eine
psychosomatische Theorie darstellt. Diese Behauptung ließe sich nachprüfen,
wenn eine ausgewählte Gruppe von Fachärzten, wie in einem Experiment,
eine genügend große Anzahl von Großstadtmenschen jeden Alters und
Geschlechtes einmal auf ihren Gesundheitszustand untersuchen würde, wobei
natürlichgeringfügige Abweichungen von der Norm und banale Erkrankungen
nicht berücksichtigt sein sollen. Das ist in England in den Jahren 1926 bis
1943 durchgeführt worden, mit all der Sorgfalt, die ein solches Experiment
erfordert. Leider sind die Ergebnisse dieser Gesundheitsüberprüfung der
Weltöffentlichkeit nicht genügend zum Bewußtsein gekommen. Es wurde die
gesamte Bevölkerung der Londoner Vorstadt Peckham untersucht, rund 2000
Männer und 2000 Frauen. Das Ergebnis war, daß höchstens 14% der Männer
und nur 4% der untersuchten Frauen als gesund anzusprechen waren. Dabei
fiel als eine ganz unerwartete Tatsache auf, „daß die meisten Menschen sich
über ihren Gesundheitszustand täuschen”. Denn die Gesamtgruppe der
Untersuchten ließ sich aufteilen in: 1. solche, bei denen eine Störung begleitet
war von einer Krankheit, dies waren 32%, aber nur ein Teil befand sich in
ärztlicher Behandlung; 2. solche Menschen, bei denen Störungen durch
Überkompensation (also erhöhte Willensanstrengung) maskiert waren. Diese
befanden sich in einem Zustand scheinbaren und subjektiven
„Wohlbefindens”; und 3. solche, bei denen weder Störungen noch
Krankheiten, noch Invalidität gefunden wurde: 9%. Der Freiburger
Hygieniker Kollath, bekannt durch seinen unermüdlichen Kampf um eine
menschenwürdige Ernährung, dem ich diese Zahlen verdanke, kommentiert
das Ergebnis des Peckhamer Experimentes folgendermaßen: Nur 9% (der
Untersuchten) schienen objektiv gesund, 91% waren aber nachweisbar krank
oder wenigstens nicht mehr voll gesund. Der bei weitem größte Teil der
zivilisierten Menschen scheint also mehr oder weniger krank zu sein.“ Wir
wollen uns gewiß vor jeder sensationellen Übertreibung dieser Untersuchung
hüten, die übrigens ähnliche in Nordamerika mit ganz ähnlichen Ergebnissen
ausgelöst hat, aber wie sehr, um allgemein zu sprechen, das Krankhafte uns
umgibt, in uns eindringt, sich unser bemächtigt und wie die Gesundheit
eigentlich der bewußt Wille ist, sich dieser Krankheitsmaterie zu erwehren,
das wird wohl aus solchen statistisch-medizinischen Befunden deutlich. Sie
kommen zustande durch das Zusammenwirken dreier Faktoren. Einmal ist der
Druck, den die moderne technisch-industrielle Zivilisation auf Seele, Geist
und Körper des Menschen ausübt, viel beträchtlicher, als uns bewußt wird,
weil wir als agierende, arbeitende und lebende Individuen zu einem Teil
34
Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

dieser Zivilisation geworden sind. Zumal ist die Kenntnis von den Schäden
und Gefahren dieser Zivilisation noch kaum verbreitet, und der Instinkt für
ein richtiges oder falsches Verhalten gegenüber den Zivilisationsgütern ist
ganz rudimentär. Dieser Instinkt müßte z. B. wissen, daß der menschliche
Körper ein ganz bestimmtes Quantum von Eigenbewegung braucht, um
gesund und leistungsfähig zu bleiben, denn auf diese Bewegungsmenge hin
sind seine Organe und Funktionen angelegt. Die Mehrzahl der heutigen
Männer aber verbringt ihr Leben sitzend an einem Schreibtisch oder hinter
dem Steuer des Autos oder alternierend zwischen beiden Sitzplätzen. Daß die
Wirbelsäule des Managers diese unphysiologische Mißhandlung dann mit
Bandscheibenschäden beantwortet oder mit Magengeschwüren infolge einer
Irritation über das Nervensystem, das kann bloß den wundern, der noch
immer meint, bei einer solchen Lebensweise genüge ein Skiurlaub, um den
Anspruch des Körpers auf Bewegung zu befriedigen. Dann sind weiter als
Folge unserer Zivilisation die meisten Menschen gegen Angriff von
Krankheit deshalb widerstandslos, weil diese Zivilisation uns alle natürliche
Belastung, Erprobung und Abhärtung so weit abgenommen hat, daß man
schon von einer Dauerverwöhnung sprechen kann, einer dadurch enormen
Anfälligkeit gegen Störung und Schmerz jedwelcher Art. Der moderne
Mensch mutet sich, was Arbeit, Leistung und Zielstrebigkeit betrifft, ein
Übermaß zu, das zudem Ausdruck seines permanenten Aufstiegswillens ist,
aber seine Gesundheit zu trainieren, sein Abwehrgefühl gegen das Krankhafte
zu wecken und zu steigern und sich von einem Gesundheitsgewissen
beunruhigen zu lassen, statt von seiner Krankheitsangst, dazu scheint er
außerstande zu sein. Freilich hilft dabei der dritte Faktor mit, die moderne
Medizin, insofern sie ihr Augenmerk fast ausschließlich auf die Beseitigung
augenblicklicher Schäden gerichtet hat, während die Vermeidung von
Krankheiten und die vorbeugende Vorsorge gegen die Zivilisationsschäden
noch kaum über ihre Anfänge hinausgediehen sind. Die Schattenseiten
unseres medizinisch medikamentösen Betriebes sind auf dem Kongreß der
deutschen Internisten in München 1954 deutlich zur Sprache gekommen, und
die Kenntnis der Therapiekrankheiten, der Störungen, die durch kurzsichtige
Behandlung zusätzlich verursacht werden, hat sich seither erheblich vermehrt.
Diese Situation der ärztlichen Wissenschaft hat ein führender amerikanischer
Arzt als ein Paradox bezeichnet, denn die Medizin habe mit ihren neuesten
Errungenschaften, mit der Chemotherapie und den antibiotischen Mitteln, die
Bedrohung des Menschen durch kurzfristige Krankheit auf ein Minimum
verringert, aber jene durch langfristige Krankheit auf ein Maximum gesteigert.
Diese Erörterung über „Gesund” und „Krank“ und über die Rolle der
Medizin, die zwar weiß und erkennt, was krankhaft ist, aber nicht, wie
Gesundheit aus der krank machenden Umgebung entsteht, soll darauf
hinweisen, daß die Frage, ob Krankheit auch die Folge eines unerfüllten, d. h.
sinnleeren Lebens sein kann, sich nicht beantworten läßt, wenn nicht vorher
geklärt ist, unter welchen Umweltbedingungen heute alle Menschen leben,
von welchen gemeinsamen Gefahren sie insgesamt bedroht sind und wie die
35
Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

Zivilisationsschäden aussehen, denen sie unterliegen. Nur aus dem


Unpersönlichen können wir zum Persönlichen kommen, aus der
Massensituation zum Einzelfall, der zwar sein individuelles Gepräge trägt,
aber doch wieder aufschlußreich sein kann für viele, die gemeinsame
Leidensgenossen sind und sich in dieser Gemeinsamkeit erkennen. Wie ja
überhaupt ein einzelner Patient, den ein Arzt teilnehmend und ohne Rücksicht
auf Zeitverluste anhört, dessen Lebens- und Krankheitsgeschichte er nicht nur
medizinisch, sondern auch biographisch bis in alle menschlichen
Hintergründe hinein kennt, einen weit sichereren Einblick gewährt, auch in
die soziologischen Engpässe, als die Ergebnisse der Meinungsforschung und
die Statistiken der Gesundheitsämter. Aber es scheint, als ob die Kranken
allmählich die Fähigkeit verlören, von sich zu sprechen, sich dem Arzt zu
offenbaren, und daß die Ärzte wieder das intensive Zuhören verlernt haben.
Beides, Sprechen und Zuhören, sind menschliche Begabungen, die in unserem
schnellen und sachlichen Zeitalter nicht mehr gefragt sind und zum Schaden
aller langsam auf die Verlustseite geraten. Aber auch ein Arzt, der die Kunst,
einen Patienten durch stummes Zuhören zum Sprechen zu bringen, noch
beherrscht, wird die Erfahrung machen, daß es nicht bloß die Schuld der
Ärzte und unseres Krankenkassenbetriebes ist, wenn der Kranke so wenig
dazu kommt, „sich auszusprechen”. Er spricht zwar, womöglich wortreich
und umständlich, von seinen Beschwerden und Symptomen, aber von sich als
einer bestimmten Person mit einmaligen Erlebnissen spricht er nicht, ja sein
wirkliches Ich ist ihm selbst oft so unbekannt, daß es ihm erst in der
Krankheit und durch die Deutung des Arztes zu Gesicht kommt, nicht immer
zu seiner Freude und oft unter heftigem Widerstreben. Für einen Arzt, den der
Wandel der Krankheiten, ihre psychosomatische Zusammensetzung zwingt,
Psychotherapie zu treiben, ist es immer wieder höchst eindrucksvoll, zu sehen,
wie wenig Menschen es gibt, die über sich selbst, um es schlicht
auszudrücken, Bescheid wissen, wie verborgen und verschlossen nicht bloß
dem Kranken – das wäre eine Täuschung –; sondern der Mehrzahl der heute
Lebenden die Grundstruktur ihres Daseins ist, ihre eigenen Antriebe, die
wirkliche Problematik ihres Tuns und Handelns und die Konflikte, die sie
selbst durch ihr Verhalten zuweilen heraufbeschwören und die dann auf sie
zurückwirken. Natürlich hat der Mensch von jeher sich mit Vorliebe und Lust
über sich selbst Illusionen gemacht, sich dort groß gesehen, wo er klein war,
und sich für besser gehalten, als er es ist, weil man ohne ein Minimum von
positiver Eigenmeinung nicht wohl leben kann. Aber die Unbekanntheit des
heutigen Menschen mit sich selbst ist doch etwas anderes, etwas Neuartiges,
sie übersteigt die Normalpsychologie der üblichen Selbsttäuschung und der
gewöhnlichen Abneigung der Menschen, sich mit sich selbst zu beschäftigen.
Es ist wie ein blinder Fleck im inneren Auge, eine Art Seelenblindheit für das
eigene Ich oder ein tiefer, stark mit Widerstand geladener Widerwille, sich
ernsthaft mit dem eigenen Innern auseinanderzusetzen. Der Terminus
technicus, der sich hier anbietet, um diese Erfahrung zu beschreiben, ist die
von Freud geschaffene „Verdrängung“. Aber mir scheint, daß gerade nicht
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Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

etwas verdrängt wurde, sondern daß sich eine Fähigkeit aufgelöst hat oder
verkümmert ist, die Fähigkeit der schonungslosen Selbsteinkehr, der
persönlichen Beichte, des Willens, nicht mit der Umwelt, dem Beruf, der
eigenen Leistung, dem persönlichen Aufstieg sich zu begnügen, sondern mit
sich selbst im reinen zu sein, auch wenn dieser Prozeß nur unter bitteren
Schmerzen durchzuhalten ist. Seitdem der heutige Mensch den Glauben an
seine jenseitige Bestimmung und an die Notwendigkeit seiner Erlösung
faktisch aufgegeben hat, fehlt ihm der reinigende Spiegel, der ihm das Bild
seines Ichs unerbittlich und ohne Beschönigung korrigiert zurückwirft.
Offenbar erblickt der Mensch sein eigenes Bild nur im und durch das
Gegenbild Gottes, denn er kann die Maßstäbe für sich selbst nicht seinem Ich
entnehmen oder den Notwendigkeiten des Tages, den wechselnden
Weltanschauungen und am wenigsten dem sogenannten Fortschritt. Ich-
Verlust und Gottesverlust sind also zwei Seiten desselben Vorganges. Die
Brennlinse, die das Ich des Menschen als seinen inneren Mittelpunkt
zentrieren könnte, ist trübe geworden, und mit ihr dieses Ich, in welchem
winzigen Wörtchen die ganze, unabsehbare Wirklichkeit, die schlichte Größe
und die Monstrosität des Menschen sich artikuliert. Das scheint auch der
Grund für eine weitere Erfahrung zu sein, daß nämlich der – selbst in der
Krankheit – sich entfliehende Mensch so selten an Schuldgefühlen leidet und
so schwer dazu zu bringen ist, eine Schuld, die er objektiv auf sich geladen
hat, auch als solche anzuerkennen. Dem scheint zu widersprechen, daß in der
Psychotherapie und bei der Behandlung von Neurosen so viel von Schuld und
Schuldgefühlen die Rede ist, aber der Neurotiker bezichtigt sich meist einer
Scheinschuld, er leidet unter Verfehlungen, die er so gar nicht begangen hat,
und der Nachweis ist nicht schwierig, daß damit oft die wirkliche Schuld, die
Unfähigkeit zur mitmenschlichen Liebe, nur zugedeckt werden soll, meist
unbewußt, was die Behandlung dann außerordentlich erschwert. Der Mensch
muß aber, um sich schuldig zu fühlen, ein verantwortliches Ich haben, eine
innere Zentralstelle, die unaufgefordert Stellung nimmt und Scheinlösungen
wie Selbsttäuschungen verachtet. Wenn dieses Ich aber keine moralische
Institution der Selbsterkenntnis mehr ist, sondern nur noch der Ort einer
unaufhörlichen Selbstbestätigung unserer Triebhaftigkeit und Getriebenheit,
dann wird der Mensch wieder „schuldlos”, in einem bösen und vernichtenden
Sinn, wird ein großes Kind oder ein ewig infantiler Erwachsener, der von dem
tiefen und tragischen Ernst menschlichen Daseins keine Ahnung mehr hat.
Die Theologie des Ich-Verlustes entspricht der Soziologie des
menschlichen Organismus, der sich einer Umwelt ausgesetzt sieht, die heute
als technische Zivilisationsform vielfach diskutiert, kritisiert und so, wie sie
sich zu entwickeln droht, von niemand mehr unbedingt bejaht wird. Wir
haben im vorausgehenden Kapitel die Erscheinungsweise dieser Zivilisation
zu beschreiben versucht. Sie wird heute überall und nach allen Richtungen,
vom „überforderten Schulkind” bis zur Freizeitgestaltung, vom Verkehr bis
zur chemisierten Nahrung, vom Schlafmittelmißbrauch bis zur Lärmgefahr,
eingehend publiziert, daß wir hier nur noch einmal auf ihren Grundzug
37
Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

aufmerksam machen wollen, wie sehr die Umwelt des zivilisierten


Großstadtmenschen aus einer natürlichen zu einer sogenannten Reizumwelt
geworden ist, die bis in den Schlaf der Menschen hinein ihre Erregungen
versendet. Es ist die Verwandlung des uns umgebenden Lebensraumes aus
einem relativ statischen und stabilen Gefüge in ein dynamisches Gehäuse, das
aus sich heraus immer schnellere Bewegungen hervorbringt, sinnbildlich
dargestellt am modernen Verkehr. Aber auch dort, wo der Mensch sich in
Ruhe befindet, ist er den ruheauflösenden, zerstreuenden Reizen optischer
oder akustischer Art so pausenlos ausgesetzt oder gibt sich ihnen selbst so hin,
daß er aus der künstlichen Dauererregung nicht mehr herauskommt, weil die
Eindrücke jeder Art zu schnell aufeinanderfolgen und sich dadurch verstärken.
Ein Reiz fordert ja Reaktion, und selbst wenn uns diese nicht bewußt wird,
erfolgt sie doch, so daß der moderne Mensch als der vorwiegend
„reagierende” nicht als ein aus sich heraus „agierender” bezeichnet werden
muß. Seine Aktivität ist eigentlich fast immer Reaktivität. Auch die dauernd
sich drängenden Aufgaben des Berufes, die inneren Antriebe, denen wir
folgen, weil alle andern es auch tun und wir uns davon nicht ausschließen
können, sind Reize, weil sie uns zu Reaktionen zwingen, die in unserer
eigenen Intention nicht gelegen wären. Die gesundheitlichen Folgen dieser
Reizverhaftung und Reagibilität vor allem hinsichtlich von Herz- und
Kreislauf haben wir gestreift, aber die grundsätzliche Bedeutung dieser
Umwelt liegt doch darin, daß der Mensch unter solchen Lebensbedingungen
sich selbst nicht mehr zusammenhalten kann, daß sein Ich sich spaltet und in
dieser Spaltung gleichsam verschwindet. Der in Erfüllung gegangene Traum
moderner Naturwissenschaft, die Kernspaltung, hat durchaus ihr Gegenstück
in dieser Ich-Spaltung, und es wäre eine Frage zeitgerechter Metaphysik, den
Zusammenhang zwischen beiden Erscheinungen freizulegen. Der Mensch
würde als Täter und Opfer zugleich erscheinen.
Damit ist wenigstens in Umrissen eine Anthropologie, eine Lehre vom
Wesen der neuzeitlichen technisierten Menschen entworfen. Ihr Leitsatz
lautet dahin, daß der Mensch zum ersten Male kein geschlossenes, in sich
zentriertes Ganzes mehr ist, sondern mehr und mehr zum Abdruck seiner
Umwelt wird, anstatt an seinem Urbild festzuhalten, das ihm das Geschenk
eines Ichs verliehen hat. Innerhalb dieser Reizwelt, die in solcher Form,
Intensität und Pausenlosigkeit etwas vollkommen Revolutionäres darstellt, ist
die Belastungssituation des einzelnen wieder ein Fall für sich, bei dem
entscheidend ins Gewicht fällt, wie eine Belastung, der alle ausgesetzt sind,
individuell verarbeitet wird und welche Bedeutung sie für das Subjekt in einer
bestimmten Lage annimmt. Die Belastung oder Überforderung ist nichts
gleichförmig Absolutes, sondern erreicht erst diese Höhe und führt zur
Krankheit, wenn ein dauerndes Mißverhältnis zwischen Wollen und Können
besteht, wenn ein Versagen oder Kaum-mehr-Bewältigen durch eine
Überanstrengung ausgeglichen werden muß, ohne daß ein menschlicher oder
praktischer Erfolg sichtbar wird, wenn also unerfüllt bleibt, was Ziel einer
fortwährenden Anstrengung seelischer Art ist. Was mit diesen Worten
38
Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

theoretisch gemeint ist, haben Christian und Fink-Eitel vor kurzem in einer
sozialanthropologischen Studie zur Entstehung funktioneller Herz- und
Kreislaufstörungen sehr lebensnah und einleuchtend gezeigt, deren wichtigste
Ergebnisse kurz referiert werden sollen. Obwohl Mann und Frau heute, im
Zeitalter der Gleichberechtigung, denselben pathologischen Umweltreizen in
gleicher Stärke ausgesetzt sind, erkranken doch doppelt so viele Frauen als
Männer an vegetativen, funktionellen Kreislaufstörungen. Zwar sind die
seelischen Konfliktsmöglichkeiten bei beiden Geschlechtern verschieden,
beim Mann stammen sie vorwiegend aus der Sphäre des Berufes, bei der Frau
liegen sie in oder im Umkreis der Ehe, doch würde dies den
Erkrankungsunterschied noch nicht erklären. Die 250 von den beiden Autoren
biographisch eingehend analysierten und internistisch genau untersuchten
Frauen boten überraschenderweise keine höhere Quote an Doppelberufen,
Flüchtlingsschicksalen und den üblichen Belastungen, nur 28% waren
zusätzlich zum Haushalt berufstätig. Der eigentliche Belastungskomplex, der
sie krank werden ließ, hatte seine Wurzel fast durchweg in einem gestörten, in
Unordnung geratenen Familiengefüge. „Was in diesem Zusammenhang bei
der Frau als Belastung aufgefaßt werden kann, ist der chronische
Anpassungszwang an unterhöhlte Ehen, an die familiäre Desintegration und
insgesamt an eine Situation, in welcher der Austrag von Kraftentfaltung und
menschlicher Bemühung ständig in Frage gestellt ist.” Zudem kann die Frau,
wenn ihre Weiblichkeit keine Erfüllung findet, weit schwerer in eine
Ersatzleistung ausweichen als der Mann, weil sie ihr wesensfremd ist,
während der Mann die Enttäuschung über eine mißratene Ehe meist durch
gesteigerte berufliche Leistungen kompensiert und vor sich selbst damit
rechtfertigt. Das Erlebnis, in einer Ehe menschlich nicht geborgen zu sein,
vom Manne mißverstanden zu werden, die innere Auflösung eines
Familienverbandes nicht verhindern zu können, ist dann für die Frau ein
krankmachender Faktor, wenn jahrzehntelange Bemühung und
Überanstrengung voraus-gegangen ist, die Anstrengung verstanden als ein
Mißverhältnis „von Wollen und Können, Aufwand und Erfolg”. Es ist die
weibliche Lebenssituation, in der die Hoffnung erlischt und die Resignation
ihren Platz einnimmt. Diese Beobachtungen der Heidelberger Klinik decken
sich mit eigenen, wobei hinzugefügt werden soll, daß manchen Patientinnen,
die sich jahrelang gewaltsam an eine Daseinssituation anzupassen suchten,
der sie ihren Kräften nach nicht gewachsen sein konnten, der eigentliche
Konflikt verborgen blieb, nämlich die Fehlentscheidung, die zu einer Ehe
führte, welche weniger aus Liebe als aus dem Wunsch, versorgt zu sein oder
nicht mehr allein bleiben zu müssen, geschlossen wurde. Man findet in den
Biographien dieser Kranken, die an einem „Anstrengungssyndrom" leiden,
immer den Punkt, wo sie gegen ihre bessere Einsicht, ihre innere Stimme,
gegen ihren weiblichen Instinkt entschieden haben. Insofern ist die später
ausbrechende Krankheit auch Folge einer ursprünglichen Unwahrheit. Oft
gibt dann die Krankheit der Unausgefülltheit des Daseins wieder eine Art
Fülle, der Sinnlosigkeit einen Hintersinn, wenn auch auf einer niedrigen Stufe
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Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

und ohne daß Aussicht bestünde, den Lebenskonflikt zu lösen, wenn er in den
Leib verlagert wird. Es ist nun weder ein Zufall noch chevalereske
Bevorzugung, wenn die Frau und ihre Krankheit ein so gutes und
einleuchtendes Exempel dafür abgibt, wie leicht der moderne Mensch eine
geistige Notlage oder eine seelische Frustration ins Körperliche, in die
Funktionsstörung überträgt und dort austrägt. Seele und Leib sind bei der
Frau inniger miteinander verbunden als beim Mann, ja oft identisch, und eine
seelische Emotion stößt bei der Frau kaum auf Widerstand, wenn sie einen
Weg ins Körperliche sucht, um sich dort festzusetzen. Daher erkrankt die
Frau häufiger aus seelischen Ursachen als der Mann, bei dem der
entscheidende Störungsfaktor von außen kommt, aus dem Milieu und den
Spannungen des Berufes. Und trotzdem ist die Frau, wie tausendfältige
Erfahrung beweist, gegen Krankheiten und Belastungen widerstandsfähiger,
sofern diese eben nicht einem seelischen Dilemma entstammen oder von ihm
genährt werden. Dieses existenzielle weibliche Dilemma, diese heute so
häufige Zerreißprobe liegt darin, daß die Frau, dank ihres Wesens und ihrer
Stellung zum Mann, nicht selten in den Konflikt zwischen ihrer
Selbstentfaltung und Eigenentwicklung und der Anpassung an Lebens- und
Ehesituationen gerät, die den Verzicht auf ihr weibliches Eigenwesen
verlangen. Zwei Tendenzen, zwei Triebkräfte, die sich ausschließen, die
gegeneinander arbeiten und zwischen denen das Beste, über das ein
weiblicher Mensch verfügt, zerrieben werden kann, so daß in der
Hoffnungslosigkeit des Kampfes der Daseinssinn, das sichere
Aufgabenbewußtsein verlorengeht und die Unerfülltheit zu einer Wunde wird,
die sich nicht mehr schließen will. Das läßt sich deutlicher zeigen an einem
Fall, der allerdings etwas extrem gelagert ist. Aber das Extreme läßt das
allzeit Mögliche besser hervortreten. Eine junge Frau, einer der ältesten
Adelsgeschlechter Deutschlands entstammend, aus dem Osten, wo ihre
Familie reich begütert war, nach dem Westen vertrieben und schon dadurch in
einer nur mühsam ausbalancierten Entwurzelungssituation, in ihrem
Gedächtnis noch die Schrecken der Flucht, die sie als Kind erlebte, lernt als
Krankenschwester, die sie geworden ist, einen schwäbischen
Kleinbauernsohn kennen als ihren Patienten. Sie ist beeindruckt von einem
gewissen Zug der Verfeinerung und scheinbarer Noblesse, der sie anzieht und
allmählich ihre Liebe erweckt. Die beiden heiraten, trotz des großen
Familienunterschiedes, der extremen Herkunft, nach halbjähriger
Verlobungszeit, wobei es an Warnungen von seiten der Familie der Frau nicht
gefehlt hat. Aber die junge Adlige besteht auf dem Recht und der
Wahrhaftigkeit ihrer Liebe und unterbaut diese Liebe noch mit der Erklärung,
daß sie durch ihre Heirat mit einem Bauern wieder im Boden, wenn auch
unter kleinsten und fast ärmlichen Verhältnissen, Wurzel zu schlagen hoffe,
wahrhaft heimisch werden könne und mit dieser Rückkehr zur einfachen und
mühseligen Feldarbeit gleichsam den langen, geschichtlichen Weg ihres
Geschlechtes noch einmal beginnen könne. Sie ist von einem tiefen christlich
fundierten Willen erfüllt, sich ihrem Mann unterzuordnen, ihn als ihren Herrn
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Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

anzuerkennen. Aber sie muß schon bald nach der Heirat erkennen, daß der
feine und empfindsame Zug an ihrem Mann Degeneration war. Denn der
junge Ehemann läßt seine kleine Landwirtschaft verkommen, zeigt geringen
Arbeitswillen und wenig bäuerliches Geschick, gilt unter den anderen Bauern
als Tunichtgut und verwöhnter einziger Sohn einer Mutter, die zäh von
Gefühl und lieblos die fremde Schwiegertochter vollkommen ablehnt und
sofort einen unter-irdischen Kleinkrieg gegen sie eröffnet, dem die Frau
hilflos gegenübersteht. Trotzdem verliert diese nicht den Mut, bewältigt
neben Haushalt und mehreren Geburten die ganze Feld- und Stallarbeit und
versucht alles, um die angeborene Lethargie ihres Mannes durch den
hoffnungsvollen Schwung und die Lebensfreude zu überwinden, mit der sie
selbst den verkommenen Hof wieder emporbringen will, was, wenn der junge
Bauer mitgemacht hätte, durchaus im Bereich des Möglichen gelegen hätte.
Jahrelang arbeitet sie weit über ihre Kräfte, aber es stellt sich kein äußerer und
innerer Erfolg ein, die Armut wird chronisch, ihre Lage bitter, weil die
ursprüngliche Achtung vor dem Mann dahinschwindet und die eheliche Liebe
deshalb zu körperlicher Qual und seelischer Enttäuschung wird. Sie erkennt
fast widerstrebend ihre geistige Überlegenheit, die durch immer wiederholte
Enttäuschungen über das Versagen des Mannes sich bestätigt, aber ihr in
dieser Lage nichts nützt. Zur Übermüdung durch die schwere Arbeit kommen
Streit, endlose Auseinandersetzungen, unerträgliche Spannung. Da ihre
religiöse Einstellung eine Scheidung verbietet, steht sie in dem sich
verschärfenden Konflikt, ihren Mann, als Mann und Autorität, der sie sich so
gern unterworfen hätte, verneinen zu müssen und dem Zwang zur Anpassung
an Verhältnisse, für die sie nicht geschaffen war und in denen sie nur leben
konnte, wenn sie als Persönlichkeit sich gänzlich aufgegeben hätte. In dieser
Situation chronischer Unerfülltheit und ebenso chronischer, erfolgloser
Überanstrengung erkrankt sie an einer Störung der Schilddrüse, an einer
sogenannten Hyperthyreose, deren Krankheitscharakter darin besteht, daß die
Schilddrüsenfunktion entgleist, auf Hochtouren gerät und zuviel von ihrem
Hormon produziert, wodurch eine ganze Reihe hier nicht näher zu
beschreibender klinischer Krankheitssymptome entsteht. Exensymptom der
Schilddrüsenüberfunktion jedoch ist eine seelische Übererregbarkeit, die
schon auf harmlose Reize anspringt. Die Überanstrengung schlägt in eine
Übererregbarkeit körperlicher und seelischer Art um, ein Organ, hier die
Schilddrüse, drückt den Konflikt aus, demonstriert ihn körperlich, so als ob
das Organ aussprechen wollte, was die Patientin zögernd und nur teilweise
sich eingestand und erst in der Sprechstunde vor dem übergeordneten und
unparteiischen Forum des Arztes ganz in ihr Bewußtsein heben konnte: Es ist
klar, daß in der Entwurzelung der Patientin aus ihrer angestammten Heimat,
im frühen Tod ihres Vaters, der von den Russen erschossen wurde, in den
Zeitumständen also, ein bedingender Faktor dieser biographischen
Fehlentwicklung zu suchen ist, für den man die Patientin nicht wohl
verantwortlich machen kann. Aber ihr verständlicher Drang nach einer
Heimat hatte den weiblichen Warninstinkt überlagert, der ihr sagen könnte,
41
Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

daß sie als Frau einen Mann nicht bedingungslos wählen durfte, den sie
vorher nicht in seiner alltäglichen Umgebung erlebt hatte, den sie, mit
anderen Worten, nicht genügend auf seine Qualitäten als Mann geprüft hatte.
Ich führe die Analyse dieses Falles nicht weiter aus, weil er wohl deutlich
genug zeigt, wie Krankheit aus dem hoffnungslos gewordenen Konflikt sich
herausbildet, wenn dieser lange genug bestanden hat. Denn derartige
Störungen der Schilddrüse schließen sich sehr selten an einen einmaligen
Schreck oder an ein singuläres schweres Schockerlebnis an, obwohl man sie
gerade da erwarten sollte. Das Enscheidende für die Pathogenese einer
Krankheit aus dem seelischen Derangement, aus der nicht zu bewältigenden
Anpassung, ist eben der Dauerreiz, der jahrelang immer in gleicher Richtung
einwirkt und dabei an Intensität zunimmt.
Es wäre nun nicht schwer, anhand von ausgewählten Fällen darzulegen, daß
es immer höchst aufschlußreich und nie zufällig ist, an welcher der
mannigfachen funktionell entstehenden Störungen ein überanstrengter
Mensch erkrankt, ob an Herz- und Kreislauf, an einer Hyperthyreose, an
vegetativer Dystonie, an einem Magengeschwür oder einem Bluthochdruck.
Das „Über” einer abnormen und lange durchgehaltenen Anstrengung kann
bald zu einer Übersäuerung des Magens, einer Überhöhung des Blutdruckes,
einer Überspannung in einem Teil des Nervensystems oder der Überfunktion
einer Drüse führen, und das erkrankte Organ ist nicht seltenklüger als der
betroffene Mensch, indem es sich zu Wort meldet, wo dieser seine Situation
vor sich selbst noch nicht wahrhaben will.
Doch ist es heute eine Krankheit, die das Sammelbecken aller biographisch
bedingten Erkrankungen und Leistungsstörungen zu werden scheint, die
Tetanie. Sie ist, psycho-biographisch betrachtet, die klassische Krankheit der
Lebensenttäuschung, einer Enttäuschung, die sich in vielen Fällen an einen
geliebten und verehrten Partner knüpft, sei es in der Ehe oder im Beruf, einer
Enttäuschung freilich, die zur Dauerqual geworden sein muß und gegen die
das tapfere Bemühen, ihrer Herr zu werden, lange Zeit anlief, um schließlich
in der Krankheit zum Erliegen zu kommen. Diese Erkrankung der Tetanie
braucht als immer chronisch entstandene eine beträchtliche Zeit, bis sie sich
einstellt, und sie weicht nur sehr zögernd wieder und unter häufigen
Rückfällen, auch dann, wenn die ursächliche Situation, der die Enttäuschung
stimulierende Konflikt, aufgelöst und beseitigt werden konnte. Die Tetanie
hat außerdem noch die Besonderheit, daß sie ursprünglich – sie wurde 1830
zum ersten Male beschrieben – ein rein und eng umschriebenes organisches
Krankheitsbild war, entstanden durch direkte oder indirekte Schädigung der
sogenannten Epithelkörperchen, zweier winziger Anhänger an der
Schilddrüse, die mit dieser selbst physiologisch nichts zu tun haben. Es
kommt bei dieser organischen Form der Tetanie zu einer schweren Störung
des Kalkstoffwechsels, einer Senkung der Kalziumkonzentration im Blut, die
unter normalen Verhältnissen eine mittlere Spannung und Erregbarkeit der
Muskulatur aufrechterhält. Ein Absinken des Kalziumspiegels führt zu
Übererregbarkeit, zu charakteristischen Hand- und Fußkrämpfen, zuweilen
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Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

verbunden mit generalisierten Krampfanfällen unter Bewußtlosigkeit. Diese


organische Tetanie hat nun in den letzten Jahrzehnten unter unseren Augen
ihr Gesicht, die Form ihres Auftretens und die Art ihrer Entstehung
gewechselt, sie erscheint „larviert”, verkappt gleichsam, zeigt häufig einen
normalen Kalkspiegel im Blut und ist in der Mehrzahl der Fälle psychogen
bedingt, seelisch ausgelöst. Ihr Bild ist so buntfarbig, vielgestaltig und
verwirrend geworden, daß die Diagnose oft nicht leicht ist, auch dann, wenn
man ihre hauptsächlichsten Symptome kennt. Diese sind: leichte
Ermüdbarkeit bis zur seelischen und körperlichen Schwäche, ein
Kopfschmerz, der als dumpfer, oft reifenförmiger Kopfdruck beschrieben
wird, Krampfzustände in Händen und Füßen, anfallsweises Taubwerden der
Haut, Engegefühl im Hals, als ob dieser zusammengeschnürt würde,
quälendes Allgemeingefühl der Unfähigkeit. Dazu können je nachdem
tetanisch bedingte Gallenblasenkrämpfe, Magenschmerzen und morgendliche
Depressionen kommen. Sehr häufig sagt der Kranke, er befinde sich wie im
Nebel, wie hinter einer Wand, die zwischen ihm und den Dingen sei, er fühle
sich unsicher beim Gehen, habe oft die Angst, fallen zu müssen, oder die Erde
schwanke unter ihm. Körperliche und seelische Symptome mischen sich
zuweilen unentwirrbar und scheinen sich gegenseitig ineinander verwandeln
zu können. Diese Schilderung ist absichtlich, weil es nicht möglich ist, in
Kürze die zahlreichen Nebenformen und Abarten der Tetanie und ihren
schwierigen pathophysiologischen Mechanismus darzulegen. Jedenfalls ist sie
ein wahrer Proteus unter den Krankheiten, ein hoher Prozentsatz dieser
seelisch bedingten Tetanien, die bei der Frau etwas häufiger sind als beim
Mann, erwachsen auf der Grundsituation der Lebensenttäuschung, aus J. P.
Sartres Ekel an einem Dasein, das jede Bemühung, es zum Guten zu wenden,
zunichte macht, weil beim nächsten und wichtigsten Menschen gerade die
Qualitäten fehlen, an welche man aus ganzer Bereitschaft geglaubt hatte. Die
Tetanie als psychosomatische Krankheit ist der körperlich-seelische Ausdruck
der immer wieder versuchten Selbstvergewaltigung, der erzwungen
personalen Anpassung, der bewußten oder unbewußten Ich-Aufgabe. Daraus
erklärt sich auch ein Symptom, das bei den schweren Fällen dieser seelischen,
körperlich verkappten Tetanien vorkommen kann und das wieder somatisch
illustriert, was die biographische Erforschung des Patienten vermuten ließ. Es
treten nämlich Zustände von Depersonalisation auf. Darunter versteht man
kurz dauernde, bei völligem Bewußtsein erlebte Anfälle, in denen der Patient
das Gefühl hat, nicht mehr ganz er selbst zu sein, einer Entfremdung, wenn
auch nur für Minuten, anheimzufallen, als ob er einen Schritt aus sich
herausgetreten wäre und nicht mehr zu sich zurückkehren könnte. Es fällt
nicht ins Gewicht, daß solche Zustände selten sind und wahrscheinlich einer
besonderen Disposition bedürfen, einer schon vorher gegebenen
menschlichen Sensibilität, aber sie sind ein Hinweis auf die Art der
krankhaften seelischen Gleichgewichtsstörung, die deshalb eintrat, weil ein
anderer, ursprünglich geliebter Mensch kein oder ein falsches Gewicht hatte.
Unter den Zivilisationskrankheiten ist die Tetanie die persönlichste, weil es
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Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

eben die Krankheit ist, welche entsteht, wenn die Bestätigung durch ein
anderes Ich ausbleibt, nachdem dieser Halt einmal tatsächlich oder vor-
getäuscht da war, weil an ihn geglaubt wurde.
Von allen Krankheiten aber, die aus einem unerfüllten Leben kommen,
kann gelten, was der Hamburger Kliniker Arthur Jores in einem Vortrag vor
Ärzten über die Zivilisationskrankheiten jüngst sagte: „Ich bitte Sie, sich
einmal anzuhören, wie das Leben Ihrer Patienten, die also mit den
verschiedenen Zivilisationskrankheiten zu Ihnen kommen, abläuft. Sie
werden zunächst einmal feststellen, daß es hochgradig einseitig ist und daß
ein wirklich erfülltes Sein, eine Beschäftigung, die Freude macht, fast immer
oder zumindest weitgehend fehlt. Der heutige Mensch ist im allgemeinen
nicht glücklich, zum größten Teil kennt er dieses Gefühl eines Glückes, einer
inneren Befriedigung nicht mehr.”
So läßt sich also zeigen, wenn auch nicht exakt beweisen, wie Krankheit
verschiedenster Art auch dadurch entstehen kann, daß einem Menschen der
Sinn seines Lebens abhanden gekommen ist. Der Mensch nun kann vieles
ertragen, Unwahrscheinliches klaglos erleiden, Unerwartetes leisten und
dulden, er verkümmert aber, wenn er von der eigenen oder der Leere eines
andern leben soll, er erkrankt, wenn seine Existenz sich nicht rundet und
schließt, sondern auseinanderfällt, wenn ihm sein Tun und Sein sinnarm und
hoffnungsbar wird. Ausdruck dieser Seinsverkümmerung, dieses Ich-
Unterganges ist die Krankheit, die auf der Klaviatur des Körpers die
Dissonanz schmerzlich erklingen läßt. Da es unsere Aufgabe ist, eine
Diagnose zu stellen, soll die Therapie nur kurz berührt werden. Sieht man
von den wirklich verzweifelten Fällen, die es natürlich gibt und vor denen
auch der glühendste Helferwille des Arztes die Hände entmutigt sinken läßt,
ab, so verläuft die Heilung über mehrere Stufen, wobei vorauszuschicken ist,
daß jede wirkliche Heilung ein schöpferischer Vorgang ist, zu welchem eine
Gnade hinzukommen muß, die weder der Arzt noch der Patient von sich aus
erzwingen kann. Der Lebenskranke muß zuerst erkennen, wie seine
persönliche Situation beschaffen ist, wo ihre Ursprünge und ihre
Verwicklungen liegen. Er muß weiter den Mut haben, anzuerkennen, wo sein
Anteil an Schuld liegt, wo die Stelle in seinem Leben ist, da er gegen seine
Person handelte, eine Fehlentscheidung traf, die er hätte nicht fällen müssen,
wenn er sich selbst besser verstanden hätte. Er wird die Verantwortung für
diese Schuld auf sich nehmen und dabei erfahren, daß das Leben schon
leichter wird, wenn die Schuld ihm eine wirkliche Schwere gibt. Die
Sinnlosigkeit kann aber Sinn bekommen, Leere kann durch Fülle ersetzt
werden, wenn ein Mensch die verstandene Tragik seines Lebens bewußt auf
sich nimmt, den Konflikt bejaht, sein Lebensschicksal als das seine, als ein
ihm auferlegtes, von sich aus ergreift. Dazu gehört freilich eine Haltung, die
heute nicht hoch im Kurs steht, ja fast verschwunden ist, weil wir glauben,
ohne sie auskommen zu können: die Haltung der Demut. Sie, die Demut,
werden wir immer brauchen, heute mehr denn je, wenn wir gesund bleiben
wollen, in dem großen Sinne eines erworbenen, eines verdienten Heiles.
44
Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

VIERTES KAPITEL

DAS ALTER ALS LEBENSBILANZ IN DER


TECHNISCHEN WELT

I.
Früher, zu einer Zeit, deren Entfernung von der unsrigen wir nicht exakt zu
bestimmen vermögen und in welcher, wenigstens für unser rückgewandtes
Gefühl, Menschen und Dinge noch in einem natürlichen Gleichgewicht
zueinander standen, wurde nicht vom Alter gesprochen, sondern das Alter
äußerte sich unmittelbar durch seine Erscheinung und durch sein Wesen. Der
alt gewordene Mensch sprach von der Höhe seiner erreichten Lebensstufe und
aus der Fülle seiner Daseinserfahrung, wann immer er sich noch angerufen
fühlte, zu einer ihn umwachsenden und ihm willig nachwachsenden
Umgebung. Das Alter an sich war die Legitimation des Alten, seine Stellung
und Autorität schienen unanzweifelbar, denn beide ruhten mit der
selbstverständlichen Sicherheit eines natürlichen Zustandes in sich. Wie das
Gehirn der höchstdifferenzierteste, reifste und zugleich älteste Teil des
menschlichen Körpers ist, so war in einer Gesellschaft, deren soziale Ordnung
die somatische des Organismus nachbildet, der alte Mensch die führende
Figur und die humane Krönung des gesellschaftlichen Gefüges. Damit hängt
auch zusammen, daß es in dieser Zeit, der vortechnischen Ära, noch
Phänomene gab wie Ehrfurcht, Respekt, Distanz, Autorität, Würde und
Entsagung: Haltungen und geisterfüllte Formen, die sich um das Bild des
echten Alters gruppieren und zu ihm gehören. Sie stehen uns heute nur noch
als Begriffe zur Verfügung, als manipulierbare Worthülsen, mit denen sich
nichts mehr verbindet als die vage Erinnerung an ihren einstigen Inhalt. Denn
das Alter und der alte Mensch, überhaupt die ganze Welt des Alten und
Verehrungswürdigen, bedeuten für unsere heutige Gesellschaft, für ihre
Selbstauffassung und ihr soziales Bewußtsein nicht mehr die gewordene und
bejahte Überwölbung, den Schlußstein des Ganzen, sondern sind ihr
Skandalon. Das scheint ein hartes, ungerechtes Wort. Denn Skandalon ist,
was wohl sich ereignet, aber nur ungern geduldet wird, was zwar noch
erscheint, aber nach allgemeinem Urteil eigentlich nicht sichtbar sein sollte,
was man zwar in seinem Dasein leugnen möchte, aber eben nicht ohne
weiteres leugnen kann. Denn als Aspekt, als Anblick unserer in Lebensformen
sich bewegenden Welt ist das Alter noch immer da, wenn wir auch alle
Anstrengungen machen, sein Gesicht in ein jugendlich täuschendes
umzugestalten. Aber „alt sein” ist kein Wert mehr, hat weder ein geistiges
noch menschliches Gewicht, im vollen Sinn dieses Wortes. Umwertung also
und damit Entwertung des Alters. Nietzsche, der negative Prophet des
Nihilismus, sprach als erster von der Umwertung aller Werte und hatte dabei
45
Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

vor allem den obersten Wert im Auge, Gott, durch den, dank eines
persönlichen Gottesverhältnisses, der Mensch erst „wertvoll” wurde.
Nietzsche sah nicht voraus, daß mit dem Sturz dieses obersten Wertes die
Vielfalt aller Werte mitgehen würde und daß keine menschliche Anstrengung
dieses allgemeine Stürzen mehr aufhalten könnte, so, wie bei einer
Währungsabwertung, was jeder neuzeitliche Mensch erfahren hat, weit mehr
entwertet wird als nur das nackte Geld.
Wir reden also über das Alter, weil es für uns kein fragloser Seinszustand
und keine respektierte Lebensstufe mehr ist, sondern ein Problem vom
Charakter des Unbewältigten, und dies für jeden einzelnen wie für die
Gesellschaft als Ganzes. Dabei sieht es so aus, als hätten wir die Problematik
des Alters in der modernen, industriellen Gesellschaft gerade eben erst zu
Gesicht bekommen. Denn mit einer sonderbaren Plötzlichkeit tauchen
allerorts Bücher und Abhandlungen über das Alter auf, über seine
Psychologie und Pathologie, und es wird auf Tagungen und bei Begegnungen
der alternde Mensch und unsere Einstellung zum Alter in den Mittelpunkt
gestellt und nach allen Seiten diskutiert. Dem trug auch die Wissenschaft
Rechnung. Sie grenzte von ihrem Gesamtgebiet, als ein Pendant zur
Kinderheilkunde, die Altersheilkunde, die Gerontologie, ab, und schon gibt es
eigene Gesellschaften, periodische Kongresse und eine zentrale Zeitschrift für
dieses neue Fachgebiet der Lehre vom Alter und seiner nur ihm eigenen
Fragen und Störungen. Diese Interessiertheit, ja diese auffallende
Beflissenheit, sich des Alters wissenschaftlich und organisatorisch
anzunehmen, hat nun ganz gewiß ihre sehr berechtigten und realen Gründe,
eine geradezu quantitative Nötigung in dieser zunehmenden Masse alter und
ältester, aus dem Arbeitsprozeß ausgeschiedener Menschen, die, auf Pension
oder Rente verwiesen, noch Jahrzehnte ihres Lebens vor sich sehen, ohne die
geringste Beziehung zu ihrem früheren Arbeitsdasein und häufig auch ohne
sie umschließende familiäre Bindungen, da die moderne Kleinfamilie die
Alten, vor allein räumlich, aus ihrem Leibe rücksichtslos ausscheidet. Jeder
kennt die durch den Erfolg der naturwissenschaftlich-technischen Medizin
auf den Kopf gestellte, „umgewertete” Alterspyramide mit ihrer Zuspitzung
nach unten, zu den jungen Jahrgängen hin, und ihrer enormen Verbreitung
nach oben, zur Skala der Alten. Und diese Masse der Alten liegt in fast allen
Kulturländern wie eine drückende Last auf dem ökonomischen Körper und
dem sozialen Gewissen der verantwortlichen, weil noch im Arbeitsprozeß
stehenden und deshalb herrschenden Mittelschicht. Denn es läßt sich
unschwer errechnen, wieviel mehr die nachfolgenden, der Zahl nach immer
schwächer werdenden Generationen für eine geraume Zeit werden leisten
müssen, um die in ihren Augen unproduktiv gewordene Altersmasse am
Leben zu erhalten, eine Aufgabe, die auch die Hypothek gefährlicher
Generationsspannungen wie einen Zündstoff in sich schließt. Zum andern ist
dem allgemeinen Bewußtsein dieser tragenden Mittelschicht die Sorge
allmählich vertraut geworden, ob nicht der einzelne in dieser Masse der Alten
noch einsamer zu werden drohe, als der moderne Mensch dies ohnehin schon
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Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

ist. Zwar gehört Alleinsein zum Wesen des Alters, es ist ein Teil seiner
inneren zu bejahenden Gesetzlichkeit. Aber es ist ein Unterschied, ob man in
diese besondere Alterseinsamkeit langsam hineinwächst, sie sozusagen
erlernt, oder in sie hineingestoßen wird, weil einem der anonyme Arbeitgeber,
Staat oder Wirtschaft, an einem bestimmten Termin einfach kündigt, das
Gefüge des Lebenslaufes plötzlich abreißt und der Mensch in die Leere seines
Selbst fällt. Die negativen, die unbarmherzigen Seiten unserer Zivilisation
scheinen sich im und am Alter noch schärfer auszuwirken als an den anderen
Altersgruppen. In keiner vergleichbaren Epoche der menschlichen Geschichte
war der alte Mensch chronologisch so alt wie heute, aber auch in keiner
menschlich so isoliert und irdisch so unbrauchbar, was sich in den
ansteigenden Zahlen der Altersselbstmorde statistisch gesichert, deutlich zeigt.
Das ist der soziologische, der bildhafte Aspekt unserer so zeitgemäßen und
zeitnotwendigen „Gerontologie”, dieser uns aufgedrängten Beschäftigung mit
dem Wesen und der zahlenmäßigen Bedeutung des Alters in einer technisch
gewordenen Welt. Ihn ergänzt ein zweiter, gleichsam innerer. Wenn das
neuzeitliche Bewußtsein über irgendein Problem in eine kontinuierliche
Dauerreflexion gerät und diese Spannung alsbald in organisatorischen
Aktionen nach außen entlädt, dann kann man sicher sein, daß das so bewußt
gewordene und aktiv angegangene Phänomen in Wahrheit auf die
Verlustseite geraten ist, ja man könnte sagen, daß sein Schwund sich gerade
auf diese Weise ankündigt, indem wieder ein neuer Defekt in unserer
Condition humaine gleichzeitig eifrig registriert und zugedeckt wird. So etwa
deutet die Diskussion um die sogenannte „Freizeitgestaltung” an, daß der
technisierte Mensch wahrhaft freie, ihm zwecklos zur Verfügung stehende
Zeit weder kennt noch im Grunde will, und ebenso, um ein zweites Beispiel
zu geben, ist das „Vaterproblem” nur ein anderes Wort für den Totalschwund
der väterlichen Autorität, beruhend auf dem Mißtrauen des modernen Vaters
gegenüber seiner eigenen Person und seiner überpersönlichen Aufgabe, ein
Tarnwort auch für die Tatsache, daß eine neue, den Erziehungsanforderungen
dieser technisch-anarchischen Welt gewachsene Vaterautorität sich noch
nicht einmal in Ansätzen herausbilden will.
Diese Überlegungen von der zweideutigen Doppelnatur moderner
Problemreflexion, angewandt auf unsere Frage nach dem Alter, erhellen, daß
wir überhaupt kein genuines Verhältnis zum Alter mehr haben und
wahrscheinlich, wie sich später zeigen wird, das Alter auch nicht zu sich
selbst. Das Alter ist in unserer Welt gleichsam ohne Ort, es hat keine Geltung,
genießt nicht den ihm zukommenden Rang und übt keine Funktion aus. Die
gesammelte Erfahrung, die Lebens- und Weisheitsfülle, welche in einer
früheren Welt das Alter als eine Integration aller Lebensstufen erscheinen ließ,
dieser immaterielle Schatz jedes Menschen ist wertlos und braucht nicht
weitergegeben zu werden, wenn, wie heute, schon eine Generation mehr
Veränderungen ihrer äußeren und inneren Existenz durchmachen muß als
früher Jahrhunderte. Wo Tradition vollständig untergehen und neue in dem
unaufhörlichen Fluß vorwärtsdrängender politischer und ökonomischer
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Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

Wandlungen sich gar nicht mehr bilden können, muß das Alter seine
wichtigste Aufgabe verlieren, nämlich die erlebnisgesättigte, maßstabsetzende
Weitergabe von Tradition und Weltanschauung. Man wird vielleicht diese
Auffassung von der Bedeutungslosigkeit des Alters in unserer Epoche
bestreiten mit dem Hinweis auf die unersetzliche Rolle, die hochbetagte
Staatsmänner heute doch zweifellos spielen. Aber wir bestaunen diese
formidablen Erscheinungen ja eigentlich nicht wegen ihres ehrwürdigen
Alters, sondern weit mehr wegen ihrer abnormen Jugendlichkeit und
Leistungsfähigkeit. Sie sind die hypertrophen Ausnahmen, die eine bittere
Regel nur bestätigen, die Regel nämlich, daß das Alter sich heute zu tarnen
gezwungen ist, weil es seine geringe Geltung nur zu gut kennt und an sich
selbst irre geworden ist.
Vermutlich verhindert die technische Welt überhaupt jedes lebendige
Verhältnis zum „Alten” an sich als einer Erscheinung, die durch ihr Alter
Gegenwärtigkeit beansprucht. Schon die Objekte, z. B. die Gebrauchsdinge,
welche die technische Welt hervorbringt, können gar nicht wirklich altern,
sondern werden nach einer gewissen Lebenszeit eben unbrauchbar und
nutzlos. Sie sind nur da, um von neuen, besseren Objekten überholt zu werden,
und dies so rasch wie möglich, damit die Wirtschaft durch den Verschleiß
floriert. Ein altes Auto etwa ist für den, der es sieht, ein Gegenstand
mitleidigen Lächelns und für seinen Besitzer ein Anlaß zur sozialen Scham,
denn der technisierte Mensch schämt sich höchstens seiner technischen
Rückständigkeit, während er seine moralischen Mängel nicht einmal mehr zur
Kenntnis nimmt. Unsere moderne Architektur wagt man sich alt gar nicht
vorzustellen, weil sie nicht für die Zeit gebaut ist. Sie wird in 50 Jahren nicht
älter und deshalb schöner, sondern bloß unerträglich häßlich geworden sein.
Unsere mittelalterlichen Kathedralen stehen in den hastig und hypermodern
wiederaufgebauten Städten völlig beziehungslos da, wie zufällig noch
übriggeblieben, erschütternd einsam, als gleichsam metaphysische
Restbestände in einer nur noch physikalischen Raumwelt. Die Schönheit des
Altgewordenen ist ein Unding in der technisierten Welt, während früher nicht
allein Menschen, sondern auch Gegenstände durch ihr Alter schön und
verehrungswürdig wurden, ja auch Tiere und Bäume konnten zu dieser
gemeinsamen Welt des Alters gehören, die es heute nicht mehr gibt, weil
unsere Devise „verbrauchen”, nicht „erhalten” heißt. Unter ihr haben wir
unseren Weg in die Zukunft angetreten. Wenn aber die Dinge nicht mehr in
der Zeit altern dürfen, sondern nur noch zu warten haben, bis sie unbrauchbar
werden, dann kann dies nicht ohne Einfluß auf das Selbstverständnis des
Menschen bleiben, denn Objekt und Mensch gehören inniger zusammen, als
der bloß oberflächliche, nur vom Nutzen und der Brauchbarkeit bestimmte
Umgang ahnen läßt. Die „Dinge” sind ein Teil von uns selbst, weil sie die
nächste Welt darstellen, in der wir uns bewegen. Sie sind nicht gleichgültige
Materie, lebloser Stoff, sondern sagen uns etwas durch ihr Bild. Die Art, wie
wir mit ihnen verfahren, ist eine Kreisbewegung, die auf uns selbst

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Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

zurückwirkt. Kein Wunder also, daß auch der Mensch in diesen Prozeß des
„Verbrauchs” einbezogen wurde und „nutzlos” werden kann.
Wie zum Alten überhaupt, so haben wir auch zum „Altertum” keine
lebendige, sondern nur noch eine abstrakte, sachliche Beziehung. Dem scheint
zu widersprechen, daß Archäologie und Prähistorie uns heute ganze
Jahrtausende erschlossen haben, die früher im Dunkel lagen, daß unser
historisches Wissen über die Antike unübersehbar geworden ist und die
Etruskerausstellung besucht zu haben eine gesellschaftliche Forderung wurde,
während die Hethiter sich gefallen lassen mußten, zum Gegenstand eines
Bestsellers zu werden. Aber diese Vorgeschichtsbegeisterung, diese ganze
Pseudoarchaik ist nur Mode, oberflächliches Interesse eines
Massenbewußtseins, das sich für alles nur interessiert und jeden Gegenstand
durch dieses bloßes Interesse nivelliert, ihn so lange auf die gleiche Ebene
abschleift, bis Prinzeß Margarets Liebesgeschichten und Ausgrabungen von
Ur in Chaldäa nebeneinander rangieren, dies vermittelt durch eine Zivilisation
der „Bild-Zeitung”. Schon der unaufhörliche Rückgang lateinischer und
griechischer Sprachkenntnisse beweist, daß die Antike für uns keine
Bildungsquelle mehr darstellt, denn nur durch die Sprache der großen antiken
Autoren spricht der Geist des abendländischen Altertums so intensiv zu uns,
daß er uns im Innern ergreifen und formen könnte. Wirkliches Leben mit der
Antike, mit dem „Alten” unserer Geistesgeschichte, wäre in erster Linie die
Kenntnis der alten Sprachen, nur durch sie ist Ehrfurcht und Verehrung
möglich, würde uns das Alte noch bilden als ein Ausdruck seiner in uns
fortdauernden Kraft. Wirkliche Liebe zum Altertum scheint ausschließlich
Sache von Spezialisten werden zu wollen, wobei der Spezialist – nach einer
guten Definition – ein Mann ist, der von immer weniger Dingen immer mehr
weiß, während die Masse der Zeitgenossen nichts weiß und ihre historischen
Kenntnisse aus Monsterfilmen in Technicolor bezieht, die den Geist der
Geschichte durch technische Optik „verbiedern” (Anders) und verflüchtigen.
Das Alte und das Alter haben weder als ein Gegenwärtiges noch als eine
geschichtliche Erscheinung für uns eine wirkliche Bedeutung, was in der
Tiefe mit unserem Mißverhältnis zur Zeit zusammenhängt, welches wiederum
eine Folge unseres bloß technischen Bewußtseins ist. Dieses letztere aber lebt
ganz von dem Vorrang des Aktuellen, Augenblicklichen und Neuen. Daher ist
Neuheit unbestreitbar für das moderne, technische Denken schon ein positives
Werturteil, wie Alter und alt ein negatives.
Max Picard hat die vortechnische Zeit als eine solche charakterisiert, in
der noch die Kontinuität herrschte, während die technische Epoche die
Zusammenhangslosigkeit zu ihrem Prinzip hat. „In dieser Welt der
Augenblickhaftigkeit und Zusammenhangslosigkeit” – sagt Picard –
„bedeutet der alte Mensch, dessen Wesen auf einer in der Dauer der Zeit
gemachten Erfahrung gegründet ist und in dem überhaupt die Dauer und der
Zusammenhang der Zeit sichtbar wird – der alte Mensch bedeutet nichts. Der
alte Mensch gilt hier als der Mensch am Ende, man sieht den Anfang vom
Leben und die Mitte gar nicht, man sieht das Leben nicht als Ganzes, von dem
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Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

Anfang, Mitte und Ende nur Teile sind, man sieht vom Alten nur das
Endhafte, Abgebrauchte, das Erledigte, den Abfall, den man wegwerfen
muß.”
Aus modernen medizinischen Untersuchungen zum Altersproblem geht
hervor, daß der menschliche Organismus, oder genauer, bestimmte
Zellverbände in ihm schon beim Säugling, sofort nach der Geburt also, zu
altern beginnen – eine für unsere Mentalität ganz typische wissenschaftliche
Verlautbarung, denn sie besagt: Es lohnt sich nicht, vor dem Altern Angst zu
haben, wenn es damit schon begann, als wir noch Säuglinge waren.
Anderseits ist das ganze therapeutische Bemühen der Altersheilkunde darauf
gerichtet, durch Vitamine, Hormone, Bogomoletzserum und Frischzellen dem
Alter die biologische Lebendigkeit der Jugend künstlich solange wie möglich
zu erhalten oder sie von außen her wieder zu verschaffen. Der elastische,
jugendlich wirkende, für alles interessierte und aufgeschlossene Endachtziger
ist die idealtypische Vorstellung dieser Wissenschaft, die sich mit diesem Tun
nur als die Dienerin des Massenbewußtseins und Massenwillens erweist. Als
ob nicht das Langsam- und Schwerwerden, die zunehmende Inaktivität des
Körpers, ja sogar das schmerzliche Erlebnis der Gebrechlichkeit und der
Rückzug aus der aktiven Teilnahme an der Welt, als ob nicht diese natürliche
Reduzierung die notwendige, seinshafte Voraussetzung für das Alter wäre,
damit es zu sich selbst kommen kann? Als ob es nicht einen tiefen,
hilfreichen Sinn hätte, daß uns der eigene Körper durch seine Denaturierung
langsam und stufenweise auf den Tod und die Ewigkeit vorbereitet, indem er
durch die Natur von seiner Vitalität befreit wird, um uns die Lösung aus der
Verklammerung mit der Welt zu erleichtern? Aber die Naturwissenschaft
scheint die Gesetzlichkeit der Natur nur entdecken zu wollen, um sie dann
wieder außer Kraft setzen zu können. Sie schließt sich der Negation, dieser
Rebellion gegen das Alter, mit ihren Methoden an und leugnet, daß der
physische Altersprozeß doch die Voraussetzung eines metaphysisch
bestimmten Vorganges ist. Wenn Weizsäckers Grundregel für eine Theologie
des Menschen lautet: „Der Mensch ist die Vermittlung zwischen Leben und
Tod”, muß dieses Leben auf der Altersstufe notwendig sich physiologisch
zurückziehen, damit der Tod, bevor er als Wirklichkeit kommt, geistig
vermittelt werden kann.
Daß das Alter und der alte Mensch nichts gelten, ist also einmal eine Folge
unserer Gesellschaftsordnung, die auf der Willensgrundlage eines extremen
Leistungsbewußtseins ruht, dann aber auch durch die Tatsache bedingt, daß
das Alter und Altsein für uns alle so ungemein enthüllend ist. Wer, wie der
Psychiater, beruflich viel mit alten Menschen zu tun hat, kommt nicht umhin,
sich zu fragen, warum denn der Altersprozeß mit so hoher Regelmäßigkeit
gerade die bösen, die nichtigen und kleinlichen Seiten eines Menschen in den
Vordergrund bringt, warum er mit so hoher Konstanz unangenehme
Eigenschaften und störende Neigungen, die vorher verborgen waren, zutage
treten läßt. Es wäre doch auch das Umgekehrte möglich, und das Gute in
einem Menschen würde dann zur selbstverständlichen Dominante, die nur
50
Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

noch des Alters bedurft hatte, um vollends schlackenlos sich zu manifestieren?


Aber Gutsein und Güte, Geist und Überlegenheit, Toleranz und Wohlwollen,
seelische Fülle und menschliche Bescheidung sind eben allzu selten natürlich
gegebene Elemente des menschlichen Wesens, sondern müssen gegen die
naturhafte Tendenz ein Leben lang durch den Geist gleichsam immer wieder
neu erworben werden, wenn sie im Alter dann als Besitz da sein sollen.
Menschliche Aufgaben, die uns das Leben stellte und die wir als unbewältigte
mitschleppen, Disharmonien in uns, die wir nicht ausgleichen konnten,
Charakterdefekte, an denen wir vorbeisahen, alle diese Minusvarianten
verlieren wir im Alter keineswegs, nur bekommen sie beim Alten oft eine
quälende, karikierte, peinliche Schärfe. Was nicht reifte, bleibt auch im Alter
unreif, was wir nicht bewältigten, löst sich auch im Alter gewöhnlich nicht
auf, und was wir wenigstens im Ansatz auf der Höhe des Lebens nicht
wurden, das – werden wir auch im Alter keinesfalls mehr.
Aufs große gesehen, folgt daraus, daß die moderne Seelenlehre, der
spezifisch-humane Substanzschwund, die Unfähigkeit, bei sich selbst zu
bleiben, und die Einebnung des eigenen Ichs im Alter erst recht zum
Vorschein kommen müssen, wenn nämlich die große Gegenhilfe, der
verschleiernde Arbeits- und Leistungszwang, weggefallen ist. Es ist schwer,
sich auf der letzten Stufe, dem Alter, zum Verzicht durchzuringen, zu einem
Verzicht, der eigentlich das Vorwort zur Bejahung des Todes ist, wenn der
Verzicht an sich ein so anstößiger Begriff geworden ist, wie dies heute der
Fall ist. Der alte Mensch weiß mit seinem Alter nichts anzufangen, weil er
schon vorher verlernt hatte, mit sich selbst etwas anzufangen.
Es kann nun als ein Gesetz gelten, daß in unserer technischen Welt nichts
mehr auf natürliche, „vorgegebene“ Weise sich entwickelt, also sich von
selbst entfaltet, von seinem Grund her wächst, dann deutlich erscheint und
uns in seine Erscheinung mit hineinnimmt. So ist das Alter kein Phänomen
mehr, das gleichsam in seiner stillen Überlegenheit und autonomen Fülle uns
erwartet, so daß wir uns ihm hingeben könnten. Aber genauso wie der Akt
des Glaubens, da keine gemeinsame Welt des Glaubens mehr da ist, von
jedem, jederzeit und immer von neuem vollzogen werden muß in einer
glaubensarmen Welt, so müßten wir auch in einer im Grund altersfeindlichen
Welt uns zum Alter hin entscheiden, was in zweifacher Weise geschehen
kann: als Negation des Alters oder als seine Bejahung. Daß die zeitübliche
Negation des Alters zu einer geradezu grotesken Flucht vor dem Alter
ausarten kann, dafür ist Amerika ein Beispiel und eine Warnung für uns, die
wir im Begriffe sind, mit amerikanischen Wirtschaftsmethoden auch deren
Lebensgefühl und Lebensstil zu übernehmen, selbst wenn wir dies bewußt
gar nicht wollen. Wer Amerika kennt, weiß, daß es dort keine alten Frauen
gibt. Auch eine siebzigjährige Großmutter setzt in Amerika alles daran, in
Kleidung, Aussehen und Verhalten ein junges Mädchen zu imitieren. Eine
solche, weder alte noch junge Frau ist bei allem dabei, läßt sich nichts
entgehen, reist von einem Ende der Welt zum andern, bewegt sich immer
frisch und munter, strotzt von Aktivität den ganzen Tag, auch wenn diese
51
Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

geheuchelt ist. Gerät man als Europäer in eine Versammlung älterer und alter
Amerikanerinnen, dann kann man sich bei allem Respekt vor diesen
Musterexemplaren amerikanischen Zweckoptimismusses des Eindrucks nicht
erwehren, daß man sich unter Gespenstern bewegt, da man sich zwischen
Menschen sieht, die zweifellos alt sind, aber mit jedem ihrer Worte und ihrer
ganzen krampfhaft angestrengten Haltung einem zu beweisen suchen, daß sie
unbestimmbar jung sind. Wie bei uns schon in Ansätzen, so in Amerika in
Vollendung, dient die Kosmetik mit allem, was ihr anhängt, beileibe nicht der
Aufgabe, die natürliche Schönheit der Frau durch einen Kunstgriff zu
vertiefen, sondern diese Schönheitsindustrie ist tatsächlich ein einziger
gewalttätiger Angriff gegen das Alter, äußerlich und innerlich, entsprungen
dem hybriden Willen, der negativen Entscheidung, daß das Alter nicht sein
darf. Dahinter steht die nackte Angst vor dem für endgültig gehaltenen Ende,
das für den modernen Menschen offenbar der Schluß schlechthin ist, womit
unsere Zivilisation hinter die der primitivsten Australneger zurückgefallen ist,
denn diese dürfen nach dem Tod wenigstens als Ahnen in den
Naturerscheinungen, im Rauschen der Bäume und im Wehen des Windes
wieder auferstehen. Die Negation des Alters ist gleichzeitig die des Todes,
was wieder in Amerika zu dem für uns noch kaum einführbaren Brauch
geführt hat, den Toten so zu kleiden, herzurichten und zu schminken, als lebe
er noch. Er darf gar nicht wirklich gestorben sein, das läßt der
Daseinsoptimismus nicht zu. Der Tod ist eine Täuschung. Der Tod als
Wirklichkeit könnte sich freilich für diese Mißachtung seiner ewigen und
bitteren Majestät noch einmal so grauenhaft rächen, daß uns Menschen alle
surrealen Scherze und Lügen dieser Art vergehen. Denn Angst zu haben,
erzeugt mit Sicherheit gerade das, wovor man Angst hat, und seit wir den Tod
so bewußt leugnen, steigt er immer deutlicher am Horizont der Menschheit
als eine alles überschattende Totalvernichtung herauf. Wenn es in Amerika
heute als ein Verstoß gegen die gute Sitte angesehen wird, von Krankheit,
Alter und Sterben auch nur zu reden, dann zeigt dies, wie weit die
Vertreibung menschlicher Realitäten aus der industriellen Gesellschaft schon
vorgeschritten ist und wie tief sich die Grundstruktur unseres Wesens
verändert haben muß.
Das vorstehend Beschriebene ist ein Bild der Entscheidung, die gegen das
Alter ausgefallen ist. Es wird verleugnet zugunsten der Jugend, womit wieder
die Jugend als bloßer Zustand ein Gewicht bekommen muß, das ihr gar nicht
zukommt, eine selbstverständliche Bedeutung, die sie bisher nie gehabt hat
und durch die sie unnatürlich überfordert werden muß. Der Alterskrampf der
Jugendlichkeit und das Übergewicht der Jungen in unserem
Gesellschaftskörper zeigt gleichmäßig die Züge einer neuen
Zivilisationsneurose. Die Grenzen zwischen Jugend und Alter werden so
verwischt und undeutlich gemacht, daß Jugend nicht mehr einen Zeitabschnitt
der menschlichen Lebensentwicklung bedeutet, sondern als permanente,
gewollte und dann habituelle Unreife festgehalten wird. Das eben hat den
Anblick unserer Gesellschaft so erstaunlich verändert. Früher wollten die Jun-
52
Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

gen möglichst alt aussehen, weil das Alter erst Rang und Ansehen gab, heute
ist jung zu wirken schon an sich ein so großer gesellschaftlicher und
beruflicher Vorzug, daß bald niemand mehr sich diesem Zwang zum Jung-
sein-Müssen zu entziehen wagt.
Wir sagten, daß heute nicht mehr das Alter über uns entscheidet, indem wir
einfach in diese Lebensstufe hineinwachsen könnten, und dies nicht einfach
durch biologisches Altern, sondern weil wir in den Raum des Alters eintreten,
der uns ebenso erwartet wie wir ihn. Wir selbst müssen heute darüber
bestimmen, was wir im Alter sind oder sein werden, während anderseits der
Geist der Zeit übermächtig und dringend von uns zu fordern scheint, den
Gedanken an das Alter soweit wie möglich wegzuschieben und ihn höchstens
materiell, als Vorsorge und Altersversicherung, zuzulassen. Aber, so wollen
wir wenigstens fragen, ist nicht auch eine Entscheidung für das Alter möglich,
eine bewußte Bejahung seines Wesens, ja müßten wir nicht versuchen, das
Alter und seine Bedeutung für uns, seinen Sinn also, ganz neu zu verstehen,
so daß es auch in unserer Zeit wieder die Krönung des Lebens, der letzte zum
Ausblick führende Aufstieg und nicht ein resigniert ertragener Abstieg wird?
Ein Aufstieg, der uns die Angst wegnimmt, das gefürchtete Alleinsein heiter
macht, eine Lebenswürde zurückgibt, die wir verschleudert haben? Und wenn
es diese Bejahung des Alters als der höchsten und wichtigsten Wertstufe des
Lebens gibt, wie muß sie aussehen, wie sich auswirken?

II.

Lebensfülle und Lebensleistung in ihrer doppelten Beziehung zum Alter


Bejahung dieser Art ist immer die Antwort auf eine Frage, die das Leben
aus geheimnisvollen Tiefen an jeden in individueller Form gestellt hat, wir
verstehen sie, wenn überhaupt, erst allmählich und ganz erst auf dem
Scheitelpunkt des Lebens, und um sie hören und beantworten zu können,
müssen wir uns von diesem Leben, von seinen Zwängen, Forderungen und
Aufdringlichkeiten so rechtzeitig frei machen, daß wir, schon bevor das Alter
eintritt, verstehen können, was Gott mit uns, unserem Schicksal und unserem
Daseinslauf, gemeint haben könnte. So wie man sich nicht erst in
unmittelbarer Nähe des Todes daran erinnern sollte, daß für den Menschen,
das Ebenbild Gottes, ohne ein persönliches Gottesverhältnis der Tod zu einem
Verenden wird, so darf das Alter, unser persönliches Alter, nicht dann erst für
uns eine Aufgabe werden, wenn wir schon alt sind, sondern muß uns
Jahrzehnte früher schon bewußt werden. Wie das Kind schon im Mutterleib
bewußtlos Organe ausbildet, wie die Lunge, die ihm für sein embryonales
Dasein gar nicht nötig sind, ohne die es aber nach der Geburt zugrunde gehen
müßte, so sollten wir schon in unserer mittleren Lebenszeit, bewußt und
planvoll, die Kräfte entwickeln, von denen wir dann im Alter leben werden,
geistige und seelische Organe, die den physiologischen Altersprozeß nicht
aufheben, aber kompensieren, ja diesem viele so sehr bedrückenden Verlust

53
Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

biologischer Vitalität erst einen wunderbaren, jetzt zu lebenden Sinn geben.


Das oben berührte Gesetz biologischen Werdens, daß jede Lebensstufe, noch
während sie ihrem Höhepunkt zustrebt, schon die Organe für die nächste
Stufe ausbildet und bereitstellt, gilt auch für unsere geistige Existenz, und so
verstanden, ist das menschliche Leben in seinem Hergang nur eine
Vorbereitung und Ausbildung für den Tod, für ein Sein jenseits der
Todesgrenze, wenn es auch vielen scheint, als kämen wir aus einem
Schweigen und gingen wieder in ein Schweigen, und nur zwischen diesen
beiden, zwischen Geburt und Tod, sei eigentlich Leben und wirkliches Dasein
gewesen. Der menschliche Lebenslauf wird dirigiert durch den Gegensatz von
Möglichkeit und Wirklichkeit. Je älter wir werden, desto mehr schwinden
auch unsere Möglichkeiten, die zu Beginn, in der Jugend, noch unzählige
schienen. Jede Entscheidung, jeder Entschluß, jede Wendung unseres Lebens
ist eine endgültige Wahl unter vielen auf ihre Verwirklichung wartenden
Möglichkeiten zugunsten einer einzigen, die dann nicht mehr rückgängig zu
machen ist. Die letzte wirklichste Wirklichkeit ist schließlich der Tod, der
allen erdgebundenen Möglichkeiten und ihrer Wahl ein Ende setzt und, wie
wir als Christen glauben und dessen gewiß sind, eine neue überirdische
eröffnet, die den Stachel des Todes nicht kennt. Das Alter ist nicht ein
langsamer Abschied vom Leben oder trauernder Rückblick, sondern Vorstufe
zu dieser jenseitigen Möglichkeit. Daher wird das Alter, wenn es wie heute
den Tod leugnen will und von seinem Kommen wegschaut, sinnleer und eine
Karikatur seiner selbst, nicht zuletzt auch, weil es dann gerade seine
menschliche Aufgabe versäumt, nämlich der nächsten nachfolgenden
Generation das Sterben vorzuleben. Der innere Mensch, der im Alter
hervortreten müßte, wenn der äußere zu verblassen beginnt, bleibt aus, weil
sich dieser innere Mensch, die inwendige, geistige Figur einer menschlichen
Existenz, das Ich des Alters – könnte man sagen –, gar nicht hat bilden
können. Denn die Struktur unserer Zeit ist so, daß sie zwar organisatorisch
und karitativ alles tut, um das Alter seine Nutzlosigkeit nicht zu sehr fühlen
zu lassen, gleichzeitig aber verhindert diese Zeit auch mit allen Mitteln, daß
wir im geistigen Sinn richtig alt werden können, dem Alter entgegenzureifen
vermögen. Wir treten unter den Bedingungen der technischen Welt in das
Alter ein, ohne der Forderung des Altseins gewachsen zu sein; wir sind dann
alt, aber nicht reif, vom Äußerlichen dieser Welt wohl schmerzlich
abgedrängt, aber dafür nicht innerlich geworden. Wohl auf jeder Tagung über
das Alter dürfte das Wort zitiert werden, daß man im Alter in Fülle besitze,
was man in der Jugend entbehren mußte, und meint damit nicht selten den
Trost materieller Güter. Aber Fülle ist hier und immer Lebensfülle, sie
schließt ein: das Zur-Ruhe-gekommen-Sein, die innere Bejahung der
wartenden Stille, die nur im Alter mögliche liebende Toleranz gegen sich
selbst und die Mit-lebenden, die große Fähigkeit zum Verzeihen als einer
Vorwirkung des Verzeihens, das der alte Mensch von Gott erhofft, dann die
Lebensfülle der herbstklaren Heiterkeit, der „serenitas”, die das menschliche
Getriebe und seine stumpfsinnigen Ziele nur noch lächelnd von oben
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Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

betrachtet. „Zu viel begehrt das Herz”, spricht Hölderlin in seiner Elegie
„Abendphantasie”, „doch endlich, Jugend, verglühst du ja, du ruhelose,
träumerische! Friedlich und heiter ist dann das Alter.” Ewige Jugend ist ein
Attribut nur der Götter. Die Jugend des Menschen aber ist, strenggenommen,
etwas wie Armut, weil sie der Lebensfülle noch entbehrt, ihren Glanz holt sie
sich aus der Zukünftigkeit, und ihr Zauber beruht darin, daß sie ein einziges
Versprechen ist, ohne dieses gleich einlösen zu müssen. Sie ist wohl ein
glücklicher Traum, doch weniger für den jungen Menschen, der ihn oft
zerrissen und angstvoll träumen muß, als für den Erwachsenen, der aus ihm
längst erwacht ist und in verklärender Erinnerung wehmütig zu ihm
zurückblickt. Das Alter, ließe sich mit einer letzten Metapher sagen, ist nicht
und soll nicht sein die dürre, skelettierte Krone unseres Lebensbaumes,
sondern die Frucht, die aus der Fülle kommt. Doch wenn unser Leben diese
Fülle nicht vorher schon ansammelt und den Samen keimen läßt, wie sollte
dann das Alter etwas anderes sein können als eine leere, taube Frucht, was
eben heißt, keine.
Das soziologische Zustandsbild, das sich ja unschwer beschreiben läßt,
belehrt uns nicht über die innere Ursache, warum dem industrialisierten
Menschen sein Alter leer und fruchtlos zu werden droht. Sie liegt in der
Vertauschung von Lebensleistung und Lebensfülle, in diesem vollständigen
Ersatz des Seins durch das Tun, in der Verwechslung von Machen und
Werden. Lebensfülle und Lebensleistung müßten auseinander hervor- oder
wenigstens nebeneinander hergehen, während sie sich unter den Bedingungen
der heutigen arbeitsteiligen Berufsformen gegenseitig ausschließen.
Schlichter gesagt: Je mehr heute einer leistet, desto weniger hat er vom Leben,
wobei dieses Nichts-vom-Leben-Haben durchaus auf diesen Verlust der
Lebensfülle zielt. Denn offenbar ist sie es doch, die unserem Leben den heute
so schmerzlich vermißten inneren Gehalt, den echten Selbstgenuß, die Ich-
Freude anstelle von Warenkonsum, Prestigewahn und Leistungsegoismus
geben könnte. Das Wort von der „Leistungsgesellschaft” trifft zu, denn in der
Tat wird heute jeder nur nach seiner Leistung, seinem kontrollier- und
meßbaren Arbeitsprodukt, seiner Funktion in der Leistungshierarchie bewertet.
Was er außerdem noch als individuelles Ich, mit seiner persönlichen
Geschichte und einem nur ihm erteilten Daseinsauftrag darstellt, ist recht
nebensächlich und interessiert auch die Sozial- und Tiefenpsychologie nicht,
die eher der Erforschung und Steigerung von Leistung und Konsumfähigkeit
dienen. Denn auf diesen beiden Säulen, Konsum und Leistung, ruht der
Betonpalast unserer modernen Zivilisation, ihre sonst noch wirksamen
kulturellen Ziele und geistigen Werte sind nur akzessorisch. Auch die
Medizin ist seit Beginn der technischen Ära eine wissenschaftliche
Leistungsmedizin geworden, sie spricht von Leistungspathologie, untersucht
nichts so eingehend wie die Leistungen der einzelnen Organe, stellt den
Betriebshaushalt des Körpers auf, den Wechsel von Einnahmen und
Ausgaben und interessiert sich nur noch für Funktionen, nicht für das, was die
Funktion ermöglicht und erhält, nicht also für die umfassende Gesamtordnung
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Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

des Körpers, die sicher von metaphysiologischen Gleichgewichten abhängt.


Es sollte uns bedenklich stimmen, wie total und wie kritiklos die Medizin,
deren Geist ein so schwer zu fassender ist, den Tendenzen des Zeitgeistes
Vorschub leistet. Schon Rudolf Virchow hat Ende des 19. Jahrhunderts seine
Zellularpathologie, die den menschlichen Körper als einen Massenhaufen von
Zellen, nicht als eine Hierarchie von Organen interpretierte, auch mit
außermedizinischen Gesichtspunkten zu begründen gesucht: er habe zeigen
wollen, daß der menschliche Organismus nach der Seinsweise einer sozialen
Demokratie, nach dem Prinzip der Egalité aller Zellen untereinander gebaut
sei. Dies nur als kurze Abschweifung auf ein Gebiet, das als die verborgene
Geistesgeschichte der Medizin einer besonderen Durchleuchtung bedürfte.
Die Devise der Aufklärung und des Rationalismus, „l'homme machine”, ist
weit über Erwarten befolgt worden. Die Maschine als Idee und Wirklichkeit
ist unser unbestreitbares Vor- und Leitbild geworden. Ihr suchen wir uns mit
unseren Leistungen anzupassen, und wenn wir in der Konkurrenz zur
Maschine versagen, werden Menschen grundsätzlich durch Maschinen ersetzt.
Daher ist der menschliche Lebenslauf nicht mehr ein Schaffens-, sondern ein
Leistungsprozeß, analog der Maschine, die soundso viel Stückzahlen leistet,
aber nicht etwas schafft. Das Wort „schaffen”, das ja auf das Schöpferische
zurückweist, auf das Urwort „Gott schuf”, ist für die Maschine gar nicht
anwendbar. Die Maschine aber leistet das Ihre für den Verbrauch, nicht für
die Fülle. Was sie, auf Hochtouren laufend, hervorbringt, verschwindet
ebenso rasch wieder und muß immer von neuem für den einkalkulierten
Verschleiß produziert werden, genau wie auch das, was der überwiegende
Teil der heutigen Menschen an Arbeit, an Arbeitsquanten leistet, im
unübersehbaren Arbeitsprozeß spurlos wieder verschwindet und nie mehr zu
ihm zurückkehrt, ihn nicht als von ihm geschaffenes Gebilde, als seine Tat,
als von ihm nicht ablösbare Wirkung stärkt und „erfüllt”. So finden wir heute
viele, die, je mehr sie leisten, sich desto unbefriedigter fühlen und keinen
andern Ausweg aus diesem Dauerzustand des Unbefriedigtseins wissen, als
eben noch mehr zu leisten. Das Alter des industriellen Sisyphos kann deshalb
nur von dem ohnmächtigen Neid erfüllt sein, nicht mehr dabeisein zu können,
von diesem heute chronisch gewordenen Altersressentiment, das die
Menschen zwingt, sich wie Schiffbrüchige an ihre Positionen und
Arbeitsplätze zu klammern, weil sie wissen, daß sie ohne ihre Leistung nicht
mehr viel sind und mit der Leistung auch das meiste ihres Seins verlieren. Der
Leistungs-, der Maschinengott triumphiert über uns, und das Wort „Gott” ist
in diesem Zusammenhang durchaus am Platze, schon deshalb, weil auf der
letzten deutschen Automobilmesse die Besucher, wenn sie das
„Allerheiligste” betraten, den Raum, wo die neuen großen Chromschiffe
standen, verstummten wie vor einem Numinosum und ehrfürchtig die Hüte
abnahmen, was sie in einer Kirche nicht mehr mit dieser selbstverständlichen
Gebärde tun wie einst.
Mit diesen wenigen Hinweisen läßt sich natürlich keine Metaphysik oder
Ontologie der industriellen Arbeit und unserer Leistungsbesessenheit
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Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

zeichnen. Daß aber Leistung um der Leistung willen und Fülle des Daseins
einander nicht bedingen, dürfte deutlich sein, wie auch daß wir aus einer
Seinsgesellschaft zu einer Leistungsgesellschaft geworden sind. Wir werden
dies bleiben, solange die beiden Dogmen des industriellen Zeitalters von der
Masse so geglaubt werden, als seien sie religiöser Herkunft: nämlich daß die
Maschine Arbeit spare und dafür mehr Muße verschaffe, was der Soziologe
Alexander Rüstow mit einleuchtenden Gründen widerlegt hat, und zweitens
solange wir nicht einsehen wollen, daß die ausschließliche
Maschinenzivilisation uns nicht reicher, sondern ärmer macht, sofern wir
unter Armut das Fehlen von Lebensfülle und nicht den Mangel von Auto,
Radio, Kunstnahrung und Kunststoffen verstehen wollen. Dieser Zwang zur
Leistung, der ja wie eine Naturgewalt über uns liegt, hat außerdem bewirkt,
daß das menschliche Leben heute in drei Leistungsphasen zerfällt: die Jugend
– in Schule, Lehrzeit und Hochschule als Vorbereitung auf Leistung –, die
mittlere Lebenszeit als die Strecke der Leistungshöhe, der vorher investierten
Leistungskapazität, und das Alter als die Leistungsleere, die Zeit des
Leerlaufes. Diese Zentrierung schon unserer Ausbildung auf die bloße
faktische Leistung hat zur Folge, daß wir mehr und mehr Leistung nach ihrer
Quantität, nicht nach ihrer Qualität messen und beurteilen. Ein Mann wie der
Kliniker Lukas Schönlein, Professor der Medizin in Würzburg zur Zeit der
Romantik, der in seinem ganzen Leben nur eine einzige wissenschaftliche
Arbeit von vier Seiten verfaßte, wäre in unserem Zeitalter der
Maschinenleistung unmöglich, bekäme nie einen Lehrstuhl oder die Leitung
einer Klinik. Dafür war Schönlein aber menschlich wie in seinem
therapeutischen Können ein überragend großer Arzt, dessen Methode der
Krankenuntersuchung und Klinikführung für seine vielen Schüler vorbildlich
wurde und weit über sein Leben hinaus weiterwirkte. Man braucht den
Manager als den Typ des durch Überleistung leistungskrank Gewordenen
nicht noch als zusätzliches Gespenst beschwören, um den innigen
Zusammenhang von Maschine und Leistung, Motor und Mensch aufzuzeigen.
Nun sind wir freilich im Irrtum, wenn wir meinen, erst unserer Zeit seien über
die Frustrationen und Verluste, die Zwänge und Verkümmerungen der
technischen Zivilisation zu ihrem Schrecken die Augen aufgegangen, als sich
im Fortschritt auch der Rückschritt ankündigte. Es gab bedeutende Köpfe, die
alles, was kam, schon zu einer Zeit voraussagten, als Industrie und Technik
noch in ihren Anfängen standen und jeder sich beim Anblick der brausenden
neuen Zeit in den schönsten Illusionen wiegte. Damals schrieb der Freiherr
vom Stein an einen Freund: „Unser ökonomisch-technologisch-populierendes
System, durch eine zentralisierende, regierungssüchtige Bürokratie angewandt,
frißt sich selbst auf wie Saturn seine Kinder; wir sind übervölkert, haben
überfabriziert, überproduziert, sind überfüttert und haben mit Buchstaben und
Tinte die Beamten entmenscht, die Verwaltung entgeistet, alles in toten
Mechanismus aufgelöst.” Und Arndt äußerte: „Das ist noch das Schlimmste,
daß durch die verwünschte Fabriksüchtigkeit und Fabrikflüchtigkeit auch der
Staat selbst vor vieler Staatsverwalterei und Staatseinrichterei fast nur wie
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Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

eine Fabrikanstalt gewürdigt und verwaltet wird. Wenn alle Handwerker


Fabrikanten werden, wenn der Ackerbau selbst endlich wie eine Fabrik
angesehen und betrieben wird, dann steht es schlecht um das Glück und die
Herrlichkeit unseres Geschlechts. Wenn wir dahin kommen, daß Axt, Säge
und Senkblei von selbst Häuser zuschnitten und aufrichteten, daß der Pflug
und die Sense von selbst den Acker pflügten und abernteten, wenn wir
endlich auf Dampfmaschinen über Berg und Tal fahren und auf Luftbällen in
die Schlacht reiten könnten, kurz, wenn wir neben unsere künstlichen
Maschinen, die alle Arbeit für uns täten, nur so hinzuschlendern brauchten,
dann würden wir ein so entartetes, nichtiges und elendiges Geschlecht werden,
daß die Geschichte auf ewig ihre Bücher vor uns schließen würde.” Und
Goethe triff die Verwandlung der Arbeit von einem Mittel zu einer Leistung
als Selbstzweck, wie wir dies heute vor uns haben, mit mythischer
Ahnungskraft: „Die Menschen werden an sich und anderen irre, wenn sie die
Mittel als Zweck behandeln, da dann vor lauter Tätigkeit gar nichts geschieht
oder vielleicht gar das Widerwärtige” (Sprüche in Prosa). Arbeit, Leistung,
Lebensleistung sind nicht mehr Mittel, damit dem Menschen durch sie ein
Höheres vermittelt werde, sondern Zweck an sich, dem jetzt der Mensch als
Mittel dient und dienen muß, wenn er seinen jeweiligen Ort in der
Gesellschaft behaupten will. Unser Leistungsgeschrei verdeckt also nur, daß
uns die Lebensfülle verlorengegangen ist, und meist merken wir dies erst im
Alter.
Was aber ist Fülle als Gegensatz zur Leistungsleere? Zunächst und
phänomenologisch einfach ein „Mehr”, als ein „Plus”, etwas, das einfach da
ist und nicht ausgegeben, vernützt und angegriffen zu werden braucht, das
dann mit der Zeit immer mehr wird, weil es der „Zeit” nicht ausgeliefert wird.
So leben zwei Menschen aus der Fülle ihrer Liebe, wenn sie mehr Liebe
zueinander haben, als sie brauchen, wenn sie sich ihre Liebe nicht
fortwährend beweisen und bestätigen müssen, sondern mit ihrer subjektiven
Liebe in einem objektiven „Mehr” an Liebe aufgehoben sind. So hat eine Ehe
Fülle, wenn die beiden Partner ihre Ehe höher stellen als sich selbst und
beide an einer überpersönlichen Wirklichkeit teilhaben, die ihre
Individualität übersteigt oder sich von oben her auf sie herabsinkt. Fülle ist in
der Arbeit, wenn sie ein „Mehr” erzeugt, das nicht durch mein Tun immer
wieder reproduziert werden muß, sondern sich davon löst und als
Geschaffenes überdauert. Fülle also ist die reine Substanz des Seins, das
Leben in seiner nach außen getretenen inneren Wirklichkeit. Ich habe als
Mensch teil an der Lebensfülle, wenn ich wesentlich mehr verkörpere, als
Leistung, Beruf und Einkommen von mir aussagen. Deshalb war der nicht in
der Fülle, von dem es am Ende seines Lebens rühmend heißt, er sei ganz in
seinem Beruf aufgegangen und habe sich für seine Aufgabe geopfert.

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Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

III

Der Sinn des heutigen Alters

Die Bejahung des Alters als die Entscheidung gegen ihre zeitübliche
Negation verlangt, daß wir in ihm die Zeit der Fülle sehen, so wie der Herbst
die Jahreszeit der Ernte ist. Wir bekommen – und dies ist unsere heutige Lage
– diese Fülle nicht geschenkt, sie fällt uns als Lebensreife nicht mehr einfach
zu. Schon auf der Höhe des Lebens sollten wir, wenigstens gedanklich,
planend und seelisch sammelnd, das vorbereiten, was im Lande des Alters
spät noch wachsen soll. In jedem Lebensbau bleiben ja soundso viele Stellen
leer, weil uns die Hetze der Zeit, das Drängen des Berufs, die Vielfalt der
unbedingt zu erledigenden Aufgaben nie die Freiheit ließen, uns ihnen
zuzuwenden. Jeder kennt oder kann sich bewußt machen seine geistigen,
religiösen und seelischen Versäumnisse während eines ganzen Lebens. Er
weiß, was er sich selbst und andern schuldig geblieben ist, er sieht, was sich
nicht schließen und runden wollte. Genauso, wie wir instinktiv bestrebt sind,
unser Alter materiell zu sichern, sollten wir es rechtzeitig auch menschlich
vorbereiten, jeder auf seine Weise und auf seine Individualität zugerichtet.
Das setzt voraus, daß wir schon vor dem Alter in eine deutliche Distanz zu
uns selbst und zu unserem Tun treten, daß wir uns jetzt schon ein wenig lösen
aus unserer viel zu tiefen Verflochtenheit mit der Welt. Es ist dies ein
Vorgang, den man mit einem paradoxen Wort als „aktive Innerlichkeit”
bezeichnen könnte, eine Aktion, die nach innen, statt nach außen geht, die
sich zurückwendet zum eigenen Ich, um es auf Fülle, Verläßlichkeit und
Wahrheit rechtzeitig zu prüfen. Denn es ist keine Frage, daß heute bei vielen
Menschen das Ich als Zentrum der Person untergegangen ist, sie sind nur
noch Schablone, fleischgewordenes Schlagwort, von Vorstellungen und
Gefühlen lebend, die gar nicht ihre eigenen sind, sondern von außen an sie
herangetragen wurden. Sie haben ein Fremd-Ich, ein Allerwelts-Ich.
Aber die eigentliche Fülle des Alters stammt nicht und strömt nicht aus
dem Diesseits, sondern kommt von der dem Alter eigenen Nähe zum Tode
und zur Ewigkeit. Und hier liegt, im Gegensatz zu allen düsteren und nur zu
berechtigten Zeitdiagnosen, eine unerwartete, zu wenig verstandene Chance,
die von der modernen Medizin mit ihrer Verlängerung der Altersstufe um
rund fünfzehn Jahre zwar keineswegs beabsichtigt war, aber uns durch sie
zugefallen ist. Denn das Schlimmste, was uns die moderne, industrielle Zeit
mit ihrer künstlichen Welthaftigkeit antut, ist doch, daß sie uns mehr und
mehr von Gott abdrängt. Durch die Verschleierung und Verworrenheit, durch
den Lärm und die technische Aufdringlichkeit unserer Umwelt wird es immer
schwerer, Gottes Angesicht zu sehen und seine Stimme zu hören. Im Alter,
wenn wir zu uns zurückkehren, weil diese Welt uns endlich losläßt, werden
wir uns nur finden, wenn wir mit unserem Ich den verlorengegangenen Gott
wieder suchen. Und da wir sehr ungeübte Christen sind, des Heils längst
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Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

Entwöhnte, wird uns mehr Zeit gegeben als jeder früheren Generation, haben
wir einen längeren Lebensabend, um der göttlichen Fülle, von der alles
abstammt, was diesen Namen verdient, doch noch teilhaftig zu werden. Von
den Patriarchen sagt die Bibel, daß sie alt und lebenssatt starben, gesättigt von
der Fülle des Lebens und froh der Nähe des Todes. Ihre Werke aber folgten
ihnen nach, nicht ihre Leistungen.

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Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

FÜNFTES KAPITEL
WEGE ZUM VERLORENEN ICH
I
Kultur und Zivilisation

Ein späterer Geschichtsschreiber, der freilich die Größe und Kapazität


Jacob Burckhardts haben müßte, käme in Verlegenheit, wenn er, wie sein
berühmter Vorgänger über das 16. Jahrhundert in Italien, ein ähnliches Werk
über das 20. in Angriff nehmen wollte. Denn beim historisch-soziologischen
Studium der Lebens- und Geistesformen dieses nun für den Betrachter weit
zurückliegenden 20. Jahrhunderts würde sich erstens kaum ein geschlossenes
Bild ergeben, noch fände sein suchender Blick so etwas wie eine Kultur.
Unser erdachter Historiograph müßte zweifellos sein Buch „Die Zivilisation
des 20. Jahrhunderts” nennen und würde diese schildern als eine vorwiegend
technisch-industrielle, wenngleich noch durchsetzt von Resten und
Überbleibseln früherer Kulturleistungen, diese aber in langsamem Absterben
begriffen. Denn Kultur entsteht dort, wo die bestimmende und führende
Schicht einer Gesellschaft über längere Zeit von der Idee erfaßt ist, daß der
Mensch seine Fähigkeiten, seinen Geist und seinen Charakter zu bilden und
zu steigern habe, ohne Rücksicht darauf, ob ihm diese Selbstmühe materiellen
Nutzen bringt oder in der Gesellschaft einen hervorragenden, mit Macht
verbundenen Platz garantiert. Die nicht begründbare Sehnsucht eines
individuellen Ichs, seine eigene Art und die in ihr schlummernden Kräfte, die
Möglichkeiten seiner Weltsicht und die Sensibilität eines persönlichen
Gefühls in sich zu entdecken und mit Hilfe des Geistes früherer Kulturen
auszubilden, die Goethesche Pyramide des eigenen Daseins immer mehr
zuzuspitzen, dieser Wille zum eigenen Ich muß sich durchsetzen, damit
Kultur zustande kommt als eine Symbiose des Menschen mit seinen geistigen
und künstlerischen Leistungen. Die sichtbare Kultur einer Epoche ist nur die
Frucht dieses unbewußten, fast instinktartigen Bildungswillens einer ganzen
Zeitgenossenschaft, die eine Idee davon in sich trägt, was der Mensch sein
soll. Natürlich bedarf es gewisser sozialer und zivilisatorischer
Erleichterungen, „Entlastungen”, wie man heute zu sagen pflegt, damit Kultur
beim Individuum und als eine Forderung der Gesellschaft möglich ist, obwohl
nicht selten ein einzelner auch gegen barbarische Mißgunst der Verhältnisse
seinem Genius zur Entfaltung verhilft. Aber die Zivilisation als die Summe
äußerer Daseinsverbesserung, als die Befreiung von unmittelbarer Not und
Bedrohung ist nicht obligatorisch für eine Kultur, sie kann ihr korreliert sein,
muß es aber nicht. Wir heute sind von der Technik dazu verführt worden,
Zivilisation mit Kultur zu verwechseln, oder glauben, Kultur ergäbe sich ganz
von selbst, je höher der Stand unserer technisch-zivilisatorischen
Einrichtungen und Fortschritte sei. Auto und Fernsehapparat und Kühlschrank
– um die drei wichtigsten und unentbehrlichsten Bestandstücke unserer
Umwelt zu nennen – haben die Menschheit zweifellos zivilisiert, insofern sie
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Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

Beschränkungen aufheben, die wir erst empfinden, seitdem wir diese


technischen Requisiten haben, aber für unsere menschliche und geistige
Kultur sind sie völlig belanglos, haben nicht die geringste Beziehung zu ihr.
Alle zivilisatorischen Errungenschaften – ganz besonders im technischen
Zeitalter – bringen nur immer wieder Zivilisation hervor, d. h., sie verbleiben
im materiellen Bereich, aber sie vermitteln dem Menschen keine Kultur,
geschweige denn, daß sie eine hervorbrächten. Es scheint, als ob wir noch gar
nicht begriffen hätten, daß unsere technische Zivilisation ein Gebilde ohne
Kopf ist, eine gefährliche Mißgeburt, deren hypertrophes Wachstum durch
keine Kultur, als den Inbegriff der ihr entsprechenden Menschlichkeit, im
Schach gehalten und begrenzt wird. Auch läßt sich nicht leugnen, daß die
technische Zivilisation, die gleichzeitig sozial und bürokratisch ist, Züge
angenommen hat, die nur scheinbar der Befreiung des Menschen von Gefahr
und Daseinsdruck dienen, in Wirklichkeit aber ihn mit dem Versprechen von
Sicherung und unbeschränktem Genuß in Knechtschaft zu seinem eigenen
Geschöpf gebracht haben. Daher die Paradoxie, daß wir immer mehr arbeiten
und opfern müssen, um eine Zivilisation auf Hochglanz zu halten, die mit der
einen Hand wieder nimmt, was sie mit der andern gegeben hat. Dieser
Freiheitsverlust, diese extreme Abhängigkeit von Wohlfahrtsstaat, Konsum
und dirigierter Freizeit ist so groß, daß die Zivilisation gerade das verhindert,
was sie schaffen müßte, die Kultur sowohl als Gesamterscheinung wie als
selbstgewählte Erziehung des einzelnen. Sowohl die familiäre wie die
staatliche Erziehung und Bildung, sofern man die bloße Übermittlung von
Kenntnissen noch so nennen will, läuft ja auf nichts anderes hinaus, als den
jungen Menschen daraufhin zu präparieren, daß er sich in der heutigen
Zivilisation möglichst erfolgreich, sicher und unauffällig bewegen lernt. Die
teils gerühmte, teils beklagte Skepsis der modernen Jugend ist weniger die
Folge eines gesunden Mißtrauens oder realen Denkens und früher
Erfahrungen, sondern der Ausdruck des vollkommenen Fehlens einer Idee des
Menschseins, die dem materiellen Druck dieser Zivilisation gewachsen wäre.
Sowohl der Staat wie die Erwachsenen präsentieren dem jungen Menschen ja
nur das eine Ziel: Erwerb materieller Güter oder Besitz von Macht, die solche
ohnedies nach sich zieht, und selbst die geistigen Berufe sind nur Umwege
zum Zivilisationsgenuß, daher der immer wieder erneute Protest der Geistigen,
sie kämen zu kurz bei diesem Drang nach unentwegtem Konsum. Die
technische Zivilisation trägt ihren Namen zu Recht, denn wie eine Maschine
hat sie die überkommene gesellschaftliche Ordnung, die einst geltende Moral
und Sitte zerstört, ohne daß sie bisher fähig war, eigene neue Regeln des
Zusammenlebens zu entwickeln, einen neuen menschlichen Stil zu schaffen,
Formen des Gemeingefühls und der Verantwortlichkeit, die geachtet und
respektiert würden. Im Grund darf jeder alles, da es keine Tabus und keinen
Kodex mehr gibt, sofern nicht das Strafrecht entgegensteht, weshalb wohl
auch die juristische Praxis und Denkweise sich immer tiefer in alle
Lebensgebiete hineinfrißt, da sie offenbar zum Ersatz für die fehlende
ungeschriebene Sitte werden muß. Je erstaunlicher und grenzenloser die
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Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

technischen Errungenschaften und Möglichkeiten werden, desto größer die


menschliche Anarchie, die, wie es scheint, an der technischen Perfektion
keinen Halt findet. Wer aus Leichtsinn oder in der Trunkenheit einen
Mitmenschen totfährt, fällt durchaus nicht der allgemeinen Verachtung
anheim, geschweige denn, daß er selbst ein Schuldgefühl empfindet, und ein
Geschäftsmann, der, um noch mehr zu verdienen, Nahrungsmittel mit Gift
versieht, macht sich aus seinem Tun kein Gewissen, da er ja durch den
höheren Absatz von vornherein Absolution erhält und seines bürgerlichen
Prestiges sicher sein darf. Betrug, der nicht entdeckt wird, Lebenslüge, die als
Anpassung gilt, und Rücksichtslosigkeit, die nichts vor sich sieht als den
Erfolg, das sind die heimlich bewunderten Mittel des Vorankommens im
Apparat. Der wirkliche Konformismus, um dieses künstliche Schreckgespenst
der Intellektuellen zu erwähnen, die damit eigentlich ihre Abneigung gegen
jede Tradition meinen, ist unsere so gut wie vollständige Anpassung an das
Prinzip der technischen Zivilisation, eine Adaptation, die nur deshalb möglich
war, weil wir unser Ich als selbstbeurteilende Instanz aufgaben. Es ist in
diesem Zusammenhang von geistesgeschichtlicher Bedeutung, daß die
geschlossenste Krankheitslehre, die unsere Epoche hervorbrachte, die Theorie
des Adaptationssyndroms des Kanadiers Selye ist. Danach sind Krankheiten
im Endeffekt mißlungene Anpassungsversuche des Organismus an einen
„Streß”, eine Belastung, oder, wie Kollath sagt, an einen „Dauerschock”, der
mit überschießenden oder ungenügenden Gegenregulationen beantwortet wird.
Entweder ist der Streß unphysiologisch, d. h. sozusagen von der Natur nicht
vorgesehen, oder der Organismus war aus andern Gründen schon so
geschädigt, daß er sich einem normalen Streß nicht mehr anpassen kann. Die
Parallele zu unserer Ichpsychologie der modernen Zivilisationsmenschen liegt
auf der Hand. Je besser wir an unsere technische Zivilisation adaptiert sind,
desto mehr von unserem ursprünglichen Menschsein mußten wir aufgeben,
wir sind also, freilich nicht nach dem naturwissenschaftlichen
Krankheitsbegriff, krank, ohne es zu wissen. Denn Krankheit ist immer die
vorübergehende oder bleibende Störung einer Ordnung. Aber wie sollte uns
die Krankheit unserer Person, die Atomisierung unseres Ichs, zum
Bewußtsein kommen, wenn wir die Ordnung des menschlichen Wesens
überhaupt nicht mehr kennen?
Erst wenn man den Gegensatz zwischen Zivilisation und Kultur, der sicher
in früheren Epochen so nicht bestand, für unsere Zeit möglichst scharf
herausarbeitet, wird deutlich, daß der technisch hochzivilisierte, moderne
Mensch gar kein Bedürfnis nach Kultur hat, ja es ist fraglich; ob er überhaupt
weiß, was darunter zu verstehen sei. Seine hierin zum Vorschein kommende
seelische Primitivität, die nichts anderes ist als ein Symptom der
Ichverarmung, stellt ihn auf die gleiche Stufe wie die geschichtslosen
Primitiven, die, wie man heute sieht, die Technik und ihre Vorteile ebenso
unbekümmert übernehmen wie er und sie gleichfalls für „Kultur” halten. Die
technische Zivilisation hat also einen Modus von Barbarisierung, erworben
oder angeboren, zu ihrer Voraussetzung. Sie benötigt seelisch möglichst
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Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

unkomplizierte, unbekümmert konsumierende, lärm- und geschwindigkeits-


feste, unentwegt „fortschreitende”, leicht zu lenkende Massentypen, deren
Religion zu dem Glauben an die magische Verwirklichungskraft der Technik
degeneriert ist, einer Technik, von deren wissenschaftlicher Herkunft und
Problematik sie nicht das geringste verstehen, während jeder sich für seinen
Privatgebrauch und sein Privatleben einen Aberglauben zurechtmacht, der aus
Astrologie, Psychoanalyse, Konstitutionslehre und Parapsychologie bunt
gemischt ist. Wenn nun das Prinzip der Zivilisation, insonderheit der
technischen, darin besteht, daß sie das Leben als animalischen Vorgang
enorm erleichtert, so tut jede Kultur, die diesen Namen verdient, das
Gegenteil, sie erschwert es, weil sie den Menschen durch ihre jeweilige Idee
zwingt, sich über seine bloßen Bedürfnisse, seine gewünschten
Annehmlichkeiten, über seinen Genußdrang zu erheben, um seiner selbst
willen, seines Ichs wegen, das nur noch dann von Umwelt sprechen könnte,
wenn es im echten Sinne Mittelpunkt geblieben ist, Mittelpunkt in sich und
Zentrum seiner Welt. Mit dem Beginn der technischen Ära stellt sich bei
Marx und Hegel Erscheinung und Begriff der Entfremdung ein und wird die
leitende Vorstellung, nicht allein für die soziale Lage des Arbeiters und deren
seelische Spiegelung, sondern für die seelische Verfassung des technisch-
zivilisierten Menschen überhaupt. Er wird sich selbst entfremdet, seinem Ich,
das gleichsam nur noch ein Umschlagplatz von Reizen, Wünschen und
Massenanschauungen ist, bar jeder Personalität. Dieser Begriff der
Entfremdung des neuzeitlichen Menschen, der, kaum geschaffen, schon
wieder feuilletonistisch zu Tode geredet wird, öffnet den Zugang zu einer
Metaphysik der technischen Zivilisation. Zu deren Kategorien gehört die
Totalität des Auftretens einer Technik, die sich in den Dienst der untersten
Schichten des Menschen stellt. Niemand und nichts kann sich dem Andringen
dieser Zivilisation entziehen. Sie erfüllt Himmel und Erde, ist überall oder
wird bald überall sein mit ihrem Lärm, ihren Apparaturen, ihren Gefahren und
Zerstörungen, und sie besetzt auch den Menschen bis tief hinein in sein
Innerstes. Eine weitere Kategorie ist ihre Imitation der Schöpfung. Nicht der
Mensch, aber ein anderer, unbekannter Demiurg muß sich an die Stelle Gottes
gesetzt haben und läßt nun diese seine Sekundärschöpfung technische Gebilde
gebären, deren Formen, Leistungen und Ziele immer gigantischer und
fabelhafter werden. Ein dritter Zug, den man einer Metaphysik unserer
Zivilisation zuordnen könnte, ist, daß wir zwar den innersten Kern der
Materie zu spalten vermögen und damit den Urgrund der Welt betreten haben,
aber in gleichem Maße als Menschen der Wirklichkeit immer ferner rücken.
Sie wird uns, ob als Substanz oder Erlebnis, nur immer vermittelt, wir
schmecken oder erfahren sie fast nie mehr rein und unverstellt, in ihrer
eigentlichen Qualität. Daher hat die technische Welt ein surreales Aussehen,
ist wirklich gewordene Unwirklichkeit und kann einen Betrachter zuweilen
erstarren lassen, als habe er einen bösen Traum vor sich. Der Entfremdung im
Innern des Menschen korrespondiert die Fremdheit im Äußeren. Es ist eine
Zivilisation, in der sich nur der heimisch fühlt, dem diese doppelte
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Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

Entfremdung schon zur „zweiten Natur” geworden ist und der längst nicht
mehr weiß, was Heim und heimisch bedeutet. Es heißt nicht die Technik
dämonisieren, wenn wir meinen, in ihrer Zivilisation seien eine Kraft oder
Kräfte am Werke, die aus dem Jenseits der ursprünglichen, kosmischen
Ordnung stammen und diese Ordnung aufheben wollen. Sie auf billige Weise
dämonisieren bedeutet nur, daß man verharmlost, was hier geschieht. Doch ist
ein unzweifelhaft demiurgischer Zug, daß diese Zivilisation mit ihren
proklamierten Zielen und Ideologien zwar immer das Gute will, in der
Konsequenz ihres Fortschritts aber immer das Böse hervorbringt. Sie
verspricht und erstrebt Sicherheit für alle, und die Unsicherheit,
eingeschlossen die Zweifelhaftigkeit aller Rechtsansprüche und ökonomischer
Sicherheiten, wird gleichzeitig immer größer. Noch nie ist in den Händen und
der Verfügungsgewalt weniger Menschen so entsetzenerregend viel Macht
vereinigt gewesen, und der einzelne ist dafür in einem Maße macht- und
hilflos, daß er sich wie ein Opfer erscheinen muß, das jederzeit geschlachtet
werden kann. Die Entlastung von Naturgefahren schlägt um in eine Belastung
durch die Zivilisation, die nicht mehr weit davon ist, eine wirkliche, aber
nicht mehr abwerfbare Last zu werden. Parallel mit dem Fortschritt der
Medizin nehmen die Krankheiten nach Zahl und Art zu, und unsere
psychologischen Kenntnisse und Fertigkeiten scheinen die Absicht zu haben,
den Menschen endgültig zu entseelen, insofern sie nicht einem besseren
Verstehen des Menschen dienen, sondern seiner Manipulierbarkeit, seiner
Abrichtung auf Zwecke der Wirtschaft und für Tendenzen der Politik. Jedes
Programm, das heute verkündet wird, hebt an mit der Forderung nach
endgültiger und vollständiger sozialer Gerechtigkeit, aber der Wunsch, daß es
jedem gleich gut gehe, wird von einem Neid erstickt, der keinem gönnt, was
er hat. Eine Zivilisation, die aus dem Mehr-haben-Wollen ihren stärksten
Antrieb empfängt, kann nur den Zustand einer getarnten Armut hervorbringen,
die keinen persönlichen Besitz mehr kennt. Man könnte dieses Gesetz der
technischen Zivilisation ihre immanente Inversion nennen, ihre offenbar von
Anfang an mitgegebene Tendenz, sich in ihr Gegenteil zu verkehren. Aber
wenn der Prozeß des Fortschritts einmal rückläufig geworden ist, sind
dreifache Anstrengungen nötig, um nur die Schäden auszubessern, die er
sowohl in der Natur wie beim Menschen anrichtet.
Das Glaubensbekenntnis der Aufklärung, daß der Mensch besser werde,
wenn es ihm besser gehe, daß seine Vernunft ein vernünftiges Verhalten
garantiere, wenn man sie nur frei schalten lasse, und daß seine Natur gut sei,
sobald er ihr ohne Einengung frei folgen dürfe, hat seine ganze Absurdität
bewiesen. Eine Kultur als Form menschlichen Verhaltens und als bejahte
geistige Verpflichtung ist seither nicht mehr entstanden, hingegen wohl eine
Zivilisation, die als bloß technische Umwelt den Menschen unaufhörlich
barbarisiert, weil sie ihn kontinuierlich seines Ichs entfremdet.

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Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

II

Zivilisation und Askese


Hans Freyer hat unlängst in einer Untersuchung für „die Persönlichkeit
unter den Bedingungen der gegenwärtigen Gesellschaft” darauf hingewiesen,
daß es weder Sentimentalität noch Modepessimismus sei, wenn der Soziologe
den Menschen vom Räderwerk einer funktionalisierten Zivilisation bedroht
sehe, das seine Persönlichkeit von allen Seiten her zermahle. Alles, was diese
Zivilisation bemerkenswert macht, ihr System der Arbeitsteilung, ihre
zweckgerichtete Rationalität und ihre Fähigkeit, alles zu teilen, damit sie
unbeschränkt über das Ganze herrsche, ist gleichzeitig ein Prozeß, der den
Menschen ebenso aufteilt, rationalisiert und als Zweck verwendet. Die
technische Zivilisation ist also auch vom Gesichtspunkt der Soziologen
extrem persönlichkeitsfeindlich und ich-vernichtend, weil sie nur dann ohne
Betriebsverlust funktioniert, wenn sich das Ich des Menschen, dieser
zweckfreie, irrationale, indivisible Lebenskeim im Menschen, nicht mehr
störend einmischen kann. Den technisch-zivilisierten Menschen nicht mehr zu
sich selbst kommen zu lassen, ist eine sehr verhüllte, aber um so mächtigere
Tendenz in allen Zerstreuungen und Genüssen, die angeboten werden. Freyer
stimmt Gehlen zu, der, wie er, das Ende der menschlichen Persönlichkeit sich
abzeichnen sieht und diese als eine moralische Kategorie, als ein Gesamt von
„erlernbaren, erwerbbaren Tugenden” definiert, deren Wahrung oder
Gewinnung auf dem sehr ungünstigen Felde der gegenwärtigen
Gesellschaftsordnung nur mit Anstrengung, und zwar in lauter zähen,
trockenen, undramatischen und unscheinbaren Anstrengungen, möglich sei.
Wir möchten noch einen Schritt weiter gehen und dabei den Begriff der
Persönlichkeit in diesem Zusammenhang fallenlassen, er schillert allzusehr
und wird zu häufig gerade dort mißbraucht, wo angeblich eine
„Persönlichkeit” benötigt wird, während ein Funktionär gemeint ist. Diese
Tugenden einer Persönlichkeit sind eben nicht zu erwerben ohne ein Ich, das
seiner selbst in Freiheit bewußt ist und sich durch diesen Akt immer wieder
erneut hervorbringt, im Gegensatz zum neuzeitlichen „Ego“, das kaum mehr
als der flüchtige Widerhall dessen ist, was ihm die Zivilisation zuruft.
Deshalb ist das erste die Wiedergewinnung, die Neuschöpfung eines Ichs als
eines Zentrums, während Persönlichkeit mehr die Außenfront eines Ichs
darstellt, wie sie sich im Umgang und in der Erfahrung von Welt gebildet hat.
Der Geist der Geschichte fordert von jeder Epoche, als einer geschlossenen
geschichtlichen Phase, eine besondere, einmalige Anstrengung, die je
nachdem bald auf politischem Feld, bald in einer umstürzenden denkerischen
Leistung oder im Erwerb einer neuen „moralischen Kategorie” liegt.
Angesichts der unerschütterlichen Selbstverständlichkeit und der zielstrebigen
Automatik, mit welcher der technische Prozeß, einmal entfesselt, nun
fortschreitet und sich der Menschen als seiner Helfer und Opfer bedient,
angesichts der Wirkungslosigkeit und Unverbindlichkeit aller rein
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Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

intellektuellen Operationen, die entweder in der Logistik oder einer


philosophischen Ideologie enden, scheint die Aufgabe unserer Zeit in dem so
lange vernachlässigten Bereich einer Moral zu liegen, die allererst davon
ausgeht, daß das Ich, das Selbst, die Person des Menschen, nicht mehr als
etwas einfach Gegebenes, immer Vorhandenes, Naturhaftes verstanden
werden darf, sondern Obernatur, mühseliger Erwerb und Ziel der Erziehung
ist. Freud, der Protagonist des Ich-Verlustes, hat dem Ich des Menschen
zwischen den anonymen Mächten des Es und des Über-Ich folgerichtig eine
höchst bescheidene, kaum erwähnenswerte Rolle zugeschrieben. Und gerade
hier müssen wir ansetzen, müssen versuchen, ob sich dieses von jeder
Tiefenpsychologie so verächtlich behandelte Ich des individuellen Menschen
aus der tödlichen Umklammerung befreien und zu einer lebendigen Instanz
erheben läßt, die über, nicht unter den Dingen steht. Wir sehen übrigens, um
bei Freud zu bleiben, wie heute der Unterschied zwischen Es und Über-Ich
dahinfällt, seit Verkaufspsychologie und Motivforschung sich über die
Erkenntnisse der Psychoanalyse des Unbewußten bemächtigt haben, um ihm
die ökonomischen Konsumforderungen der Gesellschaft als unbewußt
wirkende Reaktionen aufzuzwingen. Selten hat eine geistfeindliche Theorie
vom Menschen, wie die Psychoanalyse, in ihrer neuesten Entwicklung so
eindrücklich verraten, woher sie stammt und wohin sie zielt.
Da heute die eigentliche Gefahr für das menschliche Ich im technisch-
zivilisatorischen Zersetzungsprozeß liegt, vergleichbar einem Kristall, der
sich in einer Flüssigkeit auflösen will, kann dieser Gefahr nur durch eine
gegen-zivilisatorische Haltung begegnet werden. Sie verneint nicht diese
Zivilisation an sich, was lächerlich wäre, wohl aber ihren totalen Anspruch,
ihren Willen, den Menschen immer weiter von sich selbst zu entfernen. Diese
Haltung ist Erkenntnis und Handlung in einem, insofern der Blick auf die
inhumanen Seiten der technischen Zivilisation gerichtet bleibt und sich ihnen
durch Verzicht entzieht. Da Haltung immer auch Enthaltung ist, taucht seit
einiger Zeit im Schrifttum bei Theologen, Philosophen und Ärzten immer
häufiger die Mahnung zur „Zivilisationsaskese” auf als dem einzigen Weg,
der noch gangbar sei, wenn der Mensch nicht endgültig zum Spielball seiner
Konsumzivilisation werden will. Der alte Begriff der Askese ist freilich für
diese Form eines Zivilisationswiderstandes, wie wir ihn meinen, denkbar
ungeeignet, da er sofort eine Flut von Assoziationen weckt, die sich negativ
einstellen gegen das, was sich einst in dem Wort Askese verkörperte. Denn
die Askese war, vor allem im Mönchtum, das „wörtlich genommene Neue
Testament”, das konsequent verwirklichte vollkommene Christentum, das der
Laie zwar nicht erreichen konnte, dessen Vorhandensein aber, wenigstens bei
einer kleinen Gruppe, sein Gewissen beruhigte. Um eine solche geistig-
geistliche Elitebildung, die durch Askese einen besonderen Stand bildet, kann
es sich schon deshalb nicht handeln, weil dem neuzeitlichen Menschen dafür
alle religiösen Einsichten und Leidenschaften fehlen, die sich in Tat und
Haltung umsetzen ließen. Hingegen ist nach dem vorchristlichen,
griechischen Wortgebrauch der Asket ganz schlicht einer, der sich in etwas
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Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

übt, insbesondere der Athlet von Profession, der sich auf einen Wettkampf
vorbereitet und durch Askesis auf alle Dinge verzichtet, die seine
kämpferische Verfassung mindern könnten. Übung der eigenen seelischen
und körperlichen Kräfte und Verzicht auf das, was gegen die Ordnung des
Leibes und der Seele gerichtet ist, bedeutet Askese, und in diesem Sinne ist
sie auch die durchaus vorreligiöse Haltung, durch welche die Dezentrierung
des Menschen aufgehalten werden könnte, die wiederum das Endergebnis
seiner modernen Areligiosität ist. Askese in diesem neuzeitlichen Sinn ist also
nichts anderes als Widerstand und Übung im Widerstand, in der Hoffnung,
daß sich dann die ich-leere Stelle in der Seele des Menschen wieder fülle, so
wie ein Kranker erst einmal wieder gesund werden muß, ehe er irgendwelche
lebensentscheidenden Entschlüsse fassen kann. Wir sind allesamt so tief in
das Gespinst unserer Zivilisation hineingeraten, daß wir uns aus ihr erst
einigermaßen befreien müssen, ehe wir überhaupt zu einem unserer Lage
entsprechenden religiösen Leben kommen können.
Wenn wir nun versuchen, in einigen Strichen mit praktischen Hinweisen zu
verdeutlichen, wie diese Zivilisationsaskese gelebt werden sollte, so ist klar,
daß dies immer nur ein allgemeiner Entwurf sein kann, den jeder erst mit den
Besonderheiten seiner persönlichen Existenz ausfüllen oder nach seinen
Problemen abwandeln muß; denn einen Nichtraucher etwa braucht man vor
den Gefahren des Nikotins nicht zu warnen. Wenn unsere technisierte
Umwelt mit allen ihren so vielfältig ausgebildeten, pseudopsychologisch
durchdachten Mitteln unaufhörlich darauf aus ist, unser Ich zu „zerstreuen”,
so können wir dieser Zerstreuung nur entgehen durch den Verzicht auf die
hauptsächlichsten Zivilisationsmittel, auf Radio, Fernsehen, Kino und
illustrierte Presse, denn gerade mit ihnen wird dem Menschen kontinuierlich
eingeredet, was er zu sein, zu erleben und zu denken hat, ohne daß sein Ich
dazu überhaupt Stellung nehmen könnte. Es ist ein Irrtum, mit einem
gewissen Stolz auf die eigene Kraft zu meinen, man könnte sich dieser
Vehikel unserer Konsumkultur je nach Bedarf und in dosierter Form bedienen.
Die Wirkung der Gewöhnung ist viel stärker und umbildender, der Druck
dieser Medien viel nachhaltiger und unwiderstehlicher, als der naive
Konsument ahnt und wahrhaben will. Da weiter der moderne Mensch durch
seine tägliche Arbeit meist bis aufs äußerste täglich beansprucht wird, wobei
diese Arbeit sein inneres Wesen meist nicht anspricht, ist es höchst sonderbar,
daß er in seiner Freizeit diese Abwendung von seinem Ich fortsetzt, statt im
Gespräch, im Nachdenken, in der Unberührtheit von allen äußeren und
ablenkenden Reizen zu untersuchen, was eigentlich der Arbeitstag von ihm
noch übriggelassen hat. Die so notwendige Rückkehr zu sich selbst, nach
welcher heute oft und meist unwahrhaftig geseufzt wird, geschieht niemals
auf dem Weg über das abendliche Fernseh- und Radioprogramm und die
gierig beglotzte Illustrierte. Das Argument, man bräuchte am Abend einmal
etwas anderes, ist richtig, aber das andere ist man selbst, und dieses Selbst ist
ein den meisten unbekannter Kontinent, den sie seltener betreten als die
fernsten Länder, die ihnen optisch jederzeit ins Haus vermittelt werden
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Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

können. Gerade weil unsere Zivilisation von sich aus jede Ordnung, jeden
natürlichen Rhythmus zerstört und die Grenzen zwischen Arbeit und
Erholung, Zwang und Freiheit konsequent und diabolisch verwischt müssen
wir uns selbst eine Ordnung wiedergeben, die den Menschen sammelt, nicht
noch mehr zerstreut. Zu dieser Ordnung gehört auch, daß der Sonntag ebenso
von Arbeit wie von den gewöhnlichen Zerstreuungen gänzlich frei bleibt. Zu
dieser zweifelhaften Sonntagszerstreuung rechnen wir auch die
Zwangskrankheit der üblichen Autofahrt, die ja meist nur deshalb
unternommen wird, weil sich die innere Unruhe der Arbeitswoche am
leichtesten durch bloßes Fahren abreagieren läßt. Der Sonntag – wir bleiben
außerhalb aller religiösen Überlegungen – ist die Übungsstätte im Nichtstun,
einer Aufgabe, die dem zivilisierten Menschen am allerschwersten fällt,
weshalb er auch tausend Einwände dagegen hat. Aber nur das vollkommene
Nichtstun, das zwecklose Dasein, das gelassene Zusehen und Erleben, wie die
reine Zeit verrinnt und im Dahinströmen ihren heilenden Zauber entfaltet, ist
wirkliche Erholung, das Hinabsteigen in ein verjüngendes und stärkendes Bad.
Nur wenn wir nichts tun, kommt die Stille zu uns und mit ihr die Gedanken,
die vom Alltäglichen ganz frei geworden sind. Die meisten Menschen sind
heute fleischgewordene Terminkalender, telefonierende, disponierende,
planende, immer handelnde und sich selbst aufhetzende Arbeitsmaschinen,
die nur eines nicht können: einfach dasein und in diesem bloßen Sein ein
Glück empfinden, das zur Konstitution und Gesundheit des Menschen
unentbehrlich ist. Lieber verordnen sie sich schwierige Meditationen, Joga-
und Entspannungsübungen, „stille Zeiten” und richten sich krampfhaft auf
Erholung ein, anstatt dem eigenen Ich sich hinzugeben, das von sich aus
erwacht, wenn ihm nur einmal in der völligen Freiheit von Zweck und
geplantem Tun wieder der eigene Atem gegönnt wird. Es verlangt eben Zucht
und Einsicht, auf der Italienreise anstelle von zehn Kirchen am Tag nur eine
anzusehen, aber diese so, daß man sie als unzerstörbares Bild in seiner Seele
heimträgt, nur wenige Kunstwerke, Städte, Landschaften auf sich wirken zu
lassen, diese aber ganz zu umfassen, innig in sich aufzunehmen, dergestalt,
daß sie sich mit uns für immer verbinden und unserem Ich zur Nahrung
werden. Es ist schwer, dem zu widerstehen, was alle tun, an nur weniges sich
zu halten und das Vielzuviele abzulehnen. Das meinen wir, ist ein
Grundaxiom, die zu erlernende und zu übende Urtugend der Askese in allen
Bereichen unseres Lebens: das wenige zu wählen und das viele zu verwerfen,
das Einfache dem Vielfältigen vorzuziehen, die Ruhe der Bewegung, die
Dauer der Abwechslung, das eigene Ich der Umwelt. Pascal sah alles Elend
der Menschen daher kommen, daß sie nicht fähig seien, in ihren vier Wänden
zu bleiben. Dieses Bild trifft auch auf unsere Sucht zu, über alles informiert
zu sein, an allem teilzunehmen, unsere primitive Nachrichtenneugier in eine
Pflicht der Teilnahme an der Welt und ihren Geschehnissen umzufälschen.
Der durch die heutigen Nachrichtenmittel hochinformierte Zeitgenosse
deformiert in gleichem Maße sein eigenes Denken und würde mehr von der
Welt wissen, wenn er weniger wüßte. Eine einzige eigene innere Überlegung
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Joachim Bodamer – Der Mensch ohne Ich

hält die Welt eher in Ordnung als das tägliche Aufnehmen von Hunderten von
Nachrichten, die morgen schon belanglos sind, aber gerade diesen eigenen
Gedanken, das Entstehen dieser einzigen Überzeugung durch ihre
Massenhaftigkeit verhindert haben. Ein Verzicht auf die pausenlose
Information bedeutet weder Isolation noch Weltfremdheit, denn wer sich
selbst kennt, ist nie weltfremd, ganz abgesehen davon, daß die Übersättigung
mit Nachrichten, mit fremden Meinungen, lancierten Meldungen und
gemachten Sensationen alles andere, nur kein zutreffendes Weltbild ergibt.
Auch in der Arbeit wird der Mut zum Widerstand notwendig, weil jeder
sich mehr auflädt, als er leisten kann, oder sich einem Diktat unterwirft, das
nicht immer, aber doch viel häufiger, als wir eingestehen, aus uns selber
kommt und nicht von der Arbeitsform- oder -organisation, der wir
unterworfen sind. Askese in der Arbeit bedeutet gerade das Gegenteil des
Wortlautes, nämlich die Prüfung, was ich mir zumuten darf, wenn ich nicht
bloß „Arbeiter” sein, sondern Mensch bleiben will. Wie ein großer Künstler
oft erst durch das groß ist, was er bei einem Kunstwerk wegläßt, also nicht
ausdrückt, so der heutige Leistungsmensch durch die wache und sorgsame Art,
wie er seine Leistung selbst begrenzt und dies als eine Forderung seiner
Individualität gegen die Umwelt durchsetzt. Das kann Verzicht auf Karriere,
Rang, soziales Ansehen und scheinbaren Erfolg bedeuten, dafür aber Gewinn
und Zuwachs im Innern, eine neue, wenn auch bescheidene Form der
Menschenwürde in der technischen Zivilisation, ein Element inneren Friedens,
das auf die Umgebung ausstrahlt. Diese durch Widerstand gegen unsere
Zivilisation entstehende Menschenwürde ist die einzige, die der Mensch sich
heute noch selbst geben kann. Sie ist die seine, weil sie von keiner politischen
Verfassung, die ja jederzeit wandelbar ist, garantiert zu werden braucht.
Wenn heute außerdem feststeht, daß wir uns den einschneidenden
gesundheitsschädlichen Wirkungen unserer Zivilisation nicht mehr entziehen
können, etwa der chemischen Verfälschung der Nahrung, der Vergiftung von
Luft und Wasser, der Irritation durch den Lärm und der ständigen
Nervenbelastung durch den Verkehr, dann sollten wir wenigstens auf alle
Leistungsstimulantien verzichten lernen und überall dort uns an das
Unverfälschte halten, wo dies, selbst in der technischen Zivilisation, noch zu
haben ist. Wir greifen in unserer chronischen Gedankenlosigkeit immer nach
dem Zunächstliegenden, dem sich zuerst Anbietenden, dem Mittel, das
schnellste Abhilfe verspricht, ohne zu prüfen, was es darüber hinaus noch an
Gegeneffekten haben kann. So ist Askese zunächst einmal nichts als der
Versuch, dem eigenen Ich wieder Raum zu schaffen, den es ausfüllen kann,
dann die Kräfte zu üben, die diesen Raum erhalten und vor dem Ansturm der
Zivilisation schützen. Unsere Gesundheit ist nicht dazu da, uns immer höhere
Arbeitsleistungen zu ermöglichen, sondern uns das menschliche Dasein tiefer
empfinden zu lassen. Wer sich bemüht, nur dann das Auto zu benützen, wenn
es sich nicht umgehen läßt, sollte dies nicht deshalb tun, weil Bewegung
gesünder erhält, sondern weil der Gang des Menschen zu seinen
Verwirklichungen gehört wie die aufrechte Haltung, die Sprache und das
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Schweigen. Askese, die nur den Zweck hätte, uns vor Krankheiten zu
schützen, ist schon eine halbe Neurose oder wird zur Hypochondrie. Sie muß
darüber hinausgehen und den Menschen bei sich selbst festhalten, in seinem
Kern wiedererwecken und selbstsicher machen, anstelle von
Versicherungsschutz. Erst im Widerstand findet der Mensch einen eigenen
Stand und wird zum Herrn und Schiedsrichter seiner Zivilisation, während er
jetzt nichts als ein Nutznießer und am Ende nur noch ihr Produkt ist.

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