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1

Sabina Kienlechner

Was meint Friedrich Kittler eigentlich, wenn er „Musik“ sagt?

Mit dieser bescheidenen Frage habe ich nun versucht, mich


dem sogenannten „späten“ Friedrich Kittler zu nähern, seinem
Werk über Musik und Mathematik: einem Buch mit siebentausend
Siegeln, geschrieben mit „hoher Gelehrsamkeit“, sagt ein
Kritiker, mit „großer Akribie“ und dem „Halbstarken-Gestus,
die erste richtige Deutung geliefert zu haben“. Aha… aber
warum „halbstark“? wegen der „ständigen Versuche, mit
sexuellen Mythologien zu provozieren“?1 Das muß man freilich
ertragen können, wenn man Kittler lesen will. Ich habe
eigentlich nichts Halbstarkes entdeckt. Ich bin vielmehr auf
eine Reise gegangen, eine Reise, nicht „ans Ende der Nacht“
bzw. „au bout de la nuit“, sondern au bout de la musique:
hinein in ein Gebiet, das man meinte zu kennen, und das am
Ende so anders aussah, daß einem zumute war als müsse man ganz
von vorne anfangen mit dem Denken. Ich bin weit davon
entfernt, alles verstanden zu haben, ich habe nur gerade mal
eine Ahnung bekommen. Ich will auch von vorn herein auf jede
„hohe Gelehrsamkeit“ verzichten und stattdessen versuchen,
meine Ahnung in simplen Worten darzustellen – in parole
povere, wie die Italiener sagen (was für die Italiener nicht
bedeutet, daß die Worte tatsächlich armselig sind, sondern
nur, daß sie nicht der hohen Schule der Rhetorik folgen).
Denn in Italien beginnt das Ganze ja. Genauer auf den Isole
Li Galli, die Friedrich Kittler im Jahr 2004 mit einem
Schlauchboot umschiffte, wie Odysseus, um zu erforschen, wie
sich die zwei singenden Sirenen anhören, die er vorher auf dem
Felsen platziert hatte (und natürlich um zu beweisen, daß
Odysseus log, als er behauptete, er habe die Inseln nicht
betreten)2. Li Galli bestehen aus drei ufernahen, winzigen
Eilanden, auf denen es keine Blumenwiesen gibt, wie Kittler
behauptet (glaubt mir, ich kenne die Gegend gut. Vielleicht
dachte Friedrich Kittler ja: wenn Odysseus lügt, dann kann ich
das auch), auch kein Trinkwasser, sondern nur etwas Macchia-
Gewächs (das aber durchaus auch Blüten treibt) und mittendrin
zwei stilistisch unpassende, protzig luxuriöse Ferienvillen
(denen das Süßwasser, mit dem sie ihre künstlichen
Blumengärten bewässern, per Pipeline vom Festland zugeführt
wird). Das Archipel liegt in Sicht-, fast Rufweite von der

1
Oliver Müller: „Du Erwartung ich Begehren“, Berliner Zeitung 21.08.2006
2
s. F.K.: „Musik und Mathematik I“, 1. Teilband, München 2006, S.43-58;
sowie „Musen, Nymphen und Sirenen“, Hörbuch 2006; et passim.
2

Sorrentinischen Halbinsel entfernt: dort trafen im November


1877 Wagner und Nietzsche zusammen, zum letzten Mal in ihrem
Leben. Die Begegnung war zufällig, es war nicht geplant
gewesen, sich zu sehen; und es ging auch nicht gut aus.
Wagner, schon Herrscher in Bayreuth, stieß auf einen
Nietzsche, der zu diesem Zeitpunkt bereits mediterranisiert
und weitgehend ent-wagnert war („il faut méditerraniser la
musique!“, forderte er lautstark). Er sollte von da an nur
noch Hohn und Spott über Wagners Musik ausschütten, der er
einst geradezu verfallen war.
Auf der anderen Seite der Inseln, etwas weiter entfernt,
aber doch auch noch fast in Sichtweite, liegt Ravello: wo
Wagner für den Parsifal „Klingsors Zaubergarten“ entdeckte… In
der unromantischen Wirklichkeit handelt es sich dabei um den
ebenfalls künstlichen, rational beschnittenen Garten einer
durch und durch italienischen Renaissance-Villa, Landsitz der
ebenfalls durch und durch italienischen Nobelfamilie Rufolo,
die vermutlich von einem Klingsor keine Ahnung hatte. So wurde
zu jener Zeit alles, was Nietzsche sah und hörte, mediterran;
und alles Mediterrane, was Wagner erblickte, im Handumdrehen
deutsch.
Es fällt auf, wie oft Kittler auf Nietzsches Forderung nach
einer „mediterranen“ Musik zu sprechen kommt, sein ganzes Werk
hindurch. Schon in den „Aufschreibesystemen“ zitiert er
Nietzsches Traum von „einer tieferen, mächtigeren, vielleicht
böseren und geheimnisvolleren Musik“, die „vor dem Anblick des
blauen wollüstigen Meers und der mittelländischen Himmels-
Helle nicht verklingt, vergilbt, verblasst, wie es alle
deutsche Musik thut, einer übereuropäischen Musik, die noch
vor den braunen Sonnen-Untergängen der Wüste Recht behält“.3
Trotz aller Mediterranisierung war und blieb Friedrich
Nietzsche natürlich ein Deutscher. Er war nur auch von dem
romantischen Glücksrausch erfaßt, der so viele Deutsche
überkommt, kaum daß sie „mittelländischen“ Boden betreten:
weil plötzlich der moralische, der ganze schrecklich verkehrte
Ballast wie durch einen Zauber von einem genommen ist; sodaß
man meint, man wisse zum ersten Mal, was Leben heißt.
Friedrich Kittler bildete da keine Ausnahme, er war vom selben
Glücksrausch befallen („In Amalfi schossen mir die Tränen in
die Augen“, gesteht er4): und vielleicht war es ja tatsächlich
Nietzsche, auf dessen Geheiß er ins Land der Griechen ging (zu
dem ja auch die süditalienische Magna Graecia gehört), um dort
am „blauen wollüstigen Meer“ nach einer Musik zu suchen, so

3
F.K.: „Aufschreibesysteme 1800 – 1900“. München 1985, S.236f., et passim.
4
Musik und Mathematik I,1, S.57
3

groß und so tief, daß sie noch vor der Himmels-Helle und der
Wüste Recht behalten würde.
Doch was sollte das für eine Musik sein? Friedrich Kittler
war bestimmt nicht nach Griechenland gegangen, um, wie
Nietzsche, Wagner zu „überwinden“, ganz im Gegenteil; auch
nicht, um etwas wie „edle Einfalt und stille Größe“ (z.B. nur
noch Oktaven, Quinten, Quarten) in der Archaik zu suchen oder
dgl. Und doch wollte er zu den Anfängen zurück: um etwas zu
„verwinden“: „Wir `laufen´ in der Zeit `zurück´, von heute zu
den Griechen, zugleich jedoch auch in der Zeit voran, vom
ersten Anfang bis zu seiner wiederholenden Verwindung.“5.
Verstehen kann man das nur, wenn man sich bewußt macht, daß
noch ein zweiter Deutscher ihn nach Griechenland geschickt
hatte, nämlich Martin Heidegger. Das scheint zwar im ersten
Moment auch nicht hilfreich, denn ausgerechnet mit der Musik
hatte Heidegger gar nichts am Hut. Aber Heidegger war eben der
Erretter der wahren „Seinsgeschichte“. Und eine solche
Seinsgeschichte - genauer eine Geschichte wider die
Seinsvergessenheit - wollte Friedrich Kittler schreiben.
Freilich auf seine unnachahmliche Kittler´sche Art; denn die
Intention hinter diesem „ganzen Buchprojekt“ war, „die Seins-
Geschichte von Martin Heidegger auf eine Liebesgeschichte
umzustellen“6. Also eine Geschichte wider die Liebes-
Vergessenheit letztlich, und zwar mit Hilfe von Musik und
Mathematik.
Aus diesem Grund geht das Ganze mit den winzigen
Liebesinselchen vor der Sorrentinischen Halbinsel los, um
klarzustellen, daß Odysseus den Lockrufen der Sirenen
keineswegs „widerstanden“ hat (wovon z.B. noch
Horkheimer/Adorno überzeugt waren, weshalb sie ihn sofort zum
ersten neuzeitlichen Aufklärungsbürger erklärten)7, sondern
vielmehr schnurstraks zu ihnen auf den Felsen gestiegen ist
und also ein antiker Grieche blieb: „Er hat nicht nur Gesang
genossen, sondern seine volle Lust.“8 Ja; damit wäre also der
erste Beweis für die „Liebesvergessenheit“ der abendländischen
Geschichte erbracht.
Weitere Beweise folgen zu Hauf. Wir möchten ihnen hier
jedoch nicht nachgehen (sie sind leicht aufzuspüren und
sprechen sozusagen für sich), sondern uns lieber der
musikalischen Seinsgeschichte zuwenden. Auch sie soll auf der
Sireneninsel beginnen, und zwar darum, weil Lust offenbar

5
Musik und Mathematik I, 2. Teilband, S.245)
6
F:K.: „Das Nahen der Götter vorbereiten“. München 2012, S.63
7
Horkheimer/Adorno: Dialektik der Aufklärung, 1944
8
Musik und Mathematik I/1, S.54
4

Musik erzeugt (und nicht etwa umgekehrt): „Wer vor der


Heimkehr volle Lust genossen hat, weiß zugleich mehr. Ihm ist
Musik entborgen.“9 Das mag sein - aber unbedingt zwingend ist
das ja nicht. Handfester und (wie ich finde) auch wesentlich
interessanter ist eine andere Feststellung, nämlich die, daß
die Sirenen zu zweit waren und daß sie in Oktaven sangen: eine
hoch, eine tief. Denn mit der Oktave ist die ganze Musik
gewissermaßen schon da. Oder anders gesagt: mit der Oktave
beginnt die Musik zu sein; es kommt jetzt nur noch darauf an,
sie in ihrem Sein zu entbergen. Eben diese Entbergung ist das
Werk der alten Griechen, von Odysseus über Pythagoras bis zu
dem Pythagoreer Archytas. Und wie diese Entbergung ganz echt
und wahrhaftig vonstattenging, will Friedrich Kittler uns
zeigen.
Er ist gewiß nicht der erste und einzige, der sich mit der
Musik der griechischen Antike befaßte. Die Wissenschaft hat
das Gebiet längst erforscht. In den musikhistorischen Werken
kann man lesen, daß nur ganz wenige Beispiele griechischer
Musik erhalten sind: davon läßt Friedrich Kittler sich nicht
schrecken; auch solch eine Bemerkung wie z.B.: „Wie
Aristoteles richtig bemerkt, folgten die Pythagoreer eher
einer deduktiven als induktiven Methode, und die von ihnen
dargestellte Beziehung zwischen der Harmonie der Gestirne und
der Musik ist rein ideologisch zu verstehen und hat keinerlei
Entsprechung in der Empirie“,10 ist ihm Hekuba. Kittler hält
sich an Heidegger, der sagt: „Die Wissenschaft denkt nicht“11.
Er setzt diesen Satz als Motto in die Mitte des zweiten
Bandes, dorthin, wo von Aristoteles die Rede ist - dem Kittler
(ebenfalls im Gefolge Heideggers) es geradezu übel zu nehmen
scheint, daß er Metapher und wirkliche Rede, Sinnliches und
Nichtsinnliches, Physisches und Nichtphysisches voneinander
trennte.
Daß dieses Getrennte eigentlich (d.h. ontologisch) nicht
getrennt gehört, will Friedrich Kittler beweisen, und zwar -
man könnte sagen: am Beispiel von Musik und Mathematik (wenn
der Begriff „Beispiel“ nicht schon schief wäre, da er ja
ebenfalls bloß Seiendes meinen kann, und nicht das Sein).
Beide, Musik und Mathematik, sind eins – was sich schnell
daran zeigt, daß jede einzeln in ihrem Sein bezweifelt werden
kann, beide zusammen jedoch nicht. Denn was ist schon, in
einem ontologischen Sinn, Musik? Existiert sie überhaupt? Und
was ist, erst recht, Mathematik? WIE „ist“ sie? abhängig oder

9
ebda
10
Enrico Fubini: „Geschichte der Musikästhetik“, Stuttgart 1997, S.19
11
Musik und Mathematik I/2, S.207.
5

unabhängig von unserem Denken? real, nicht real? Und was ist
ein mathematisches Objekt? In der Musik gibt es zumindest
unzweifelhaft etwas zu hören, den Klang: dieser ist in der Tat
ihr Medium. Aber als bloßer „Klang“ ist sie noch lange keine
Musik. Was ist das Besondere daran, wenn zwei Stimmen in
Oktaven singen, was macht sie so verführerisch, so
eindringlich? Warum kann „jedes Kind“ (wie Kittler sagt)
hören, ob die Oktaven rein sind oder verstimmt?
Vor dem Hintergrund solcher und ähnlicher Fragen ist es
äußerst spannend zu lesen, wie die alten Griechen das
Geheimnis lichteten, das die besonderen Klänge in sich bergen,
die wie Sirenengesang oder eben wie Musik in den menschlichen
Ohren klingen. Das Geheimnis besteht in ganz bestimmten,
reinen, immer gleichbleibenden Verhältnissen; und zwar
Verhältnissen, die sich in Zahlen ausdrücken lassen: zunächst
1:2 für die Oktave. Sodann das Verhältnis 3:2 für die Quinte,
4:3 für die Quarte, wobei die Quarte über die Quinte gestellt
wiederum eine Oktave ergibt. Zu entdecken war dies z.B. an den
Saiten der Kithara, die, wenn man sie nur leicht in ihrer
Mitte berührte, sogleich eine Oktave höher erklangen, bei der
Berührung im oberen Drittel noch eine Quinte höher, usw.
Wichtig dabei ist zu wissen, daß die „Kithara“ keine Gitarre
ist (was Kittler nicht überall klarstellt), sondern eine
Leier; d.h. sie hat kein Griffbrett. Es ist ein Leichtes,
mittels eines Griffbretts (ohne Bünde) die Saiten zu
verkürzen, man kann damit (in einem gewissen Rahmen) jeden
beliebigen Ton in jeder beliebigen Höhe erzeugen. Die
„Verhältnisse“ aber, welche die natürliche Musik, das Wunder
der Harmonie zum Klingen bringen, gibt nur die freischwingende
Saite preis.
Da die Intervall-Verhältnisse, in Zahlen ausgedrückt, immer
dieselben blieben, egal, welche Spannung die Saite zufällig
gerade hatte, gaben auch die Zahlen sich in ihrem eigentlichen
Sein zu erkennen. Sie wurden mit einem Mal „reine Form“, sie
klebten nicht mehr bloß an zählbarem Seienden, eben z.B. an
einer bestimmten Saitenspannung, oder an soundsoviel
Schritten, Ellenlängen, geknoteten Seilabschnitten, und was
sonst noch zum Vermessen und Berechnen hergenommen wurde. „Es
entsteht eine Mathematik“, so erklärte es Friedrich Kittler
einmal nebenbei, „in der eben Zahlentheorie nicht Ausrechnen
ist, sondern Ungerechtnetlassen. Gerade und ungerade sind
sozusagen der Ursprung einer Entwicklung, daß Mathematik
Strukturen sieht und nicht mehr zählbare Dinge.“12 Mit der
Erkenntnis der Struktur – was nichts anderes bedeutet als

12
„Rock me Aphrodite“, Telepolis, Interview vom 24.05.2006
6

Verhältnisse, Relationen, Verfugung, „Fuge“, nennt Kittler es


manchmal sogar -, mit dieser Erkenntnis aber ist etwas
entborgen, das man nicht sehen, nicht hören und nicht anfassen
kann, das aber der Grund dafür ist, daß wir die Welt verstehen
können. Die Pythagoreer, die das als erste einsahen – und zwar
in der Musik -, waren davon so ergriffen, daß sie es sogleich
übertrieben und die Zahlentheorie schlichtweg in allem walten
sahen; bis hin daß sie die Gestirne selbst „singen“ zu hören
meinten, vermutlich ebenfalls in Oktaven, Quinten und Quarten…
was (wie der wackere Musikwissenschaftler uns eilig
versichert, s.o.) „rein ideologisch ist und keinerlei
Entsprechung in der Empirie hat“. Natürlich nicht. Dennoch
haben die Pythagoreer eine Einsicht geschaffen, die bis heute
gilt und die man in aller Kürze so formulieren könnte: Die
Natur ist dem menschlichen Geist transzendent. Wir können sie
dennoch erkennen - wenn wir sie in mathematische Relationen
fassen. Es wäre jedoch ein Irrtum, darin die Geburtsstunde des
empirischen Beweises und der Naturwissenschaft sehen zu
wollen. Es war vielmehr der Beginn eines nicht mehr nur
alltäglichen, sondern „kosmologischen“ Verstehens der Welt;
und insofern war es eher die Geburtsstunde des Geistes in
einer „reinen Form“. Wie wahrhaft kolossal diese „Entbergung“
war und wie fundamental sie noch immer die menschliche Welt
bestimmt, will Friedrich Kittler uns ins Bewußtsein rufen,
wenn er sagt: „Musik und Mathematik entziehen sich der
Denkschablone namens Fortschritt. Nichts Griechisches wird
falsch, wenn etwas Neues sich entbirgt, nur immer abgründiger
und allgemeiner.“13
Für die Pythagoreer war die Welt in natürlichen Zahlen
verfaßt: so wie sich das in der Musik zweifelsfrei beweisen
ließ. Das sollte nicht so bleiben, weder in der Mathematik noch
in der Musik. Das „immer Abgründigere und Allgemeinere“, das
sich durch neue Entbergungen auftat, ist aber gewiß nicht nur
positiv gemeint (weder von Kittler noch von Heidegger); hat es
uns doch tief in die „Seinsvergessenheit“ getrieben, d.h.: in
eine verkehrte Auffassung davon, wie die Welt eingerichtet und
wie sie überhaupt möglich ist. Friedrich Kittler ist nicht
mehr dazu gekommen, die ganze musikalisch/mathematische
Seinsgeschichte niederzuschreiben, er verstarb, viel zu früh.
Wir haben nur eine Art Dissemination in ein paar Aufsätzen,
die erahnen lassen, wie diese Seinsgeschichte weitergehen
sollte. Unzweifelhaft ist, daß Kittlers Geschichte sich von
dem, was wir unter einer „Musikgeschichte“ verstehen, auch
weiterhin fundamental unterschieden hätte. Wenn Kittler von

13
Musik und Mathematik I/2, S.244
7

Musik spricht, sagt er nicht: Bach, Mozart, Beethoven,


Schubert, Brahms etc.; sondern er sagt: Pythagoras, Archytas,
Stevin, Mersenne, Leibniz, Helmholtz… Nicht die Werke
interessieren ihn, auch nicht die Komponisten, nicht die
Epochen, Stilrichtungen oder Gattungen… sondern allein, wie
das Medium Musik sich in seinem ahistorischen (nicht
„fortschrittlichen“) Sein mehr und mehr entfaltet.
Dabei beginnt man plötzlich zu begreifen, daß nicht die
Komponisten große Musik erschaffen haben, sondern daß,
umgekehrt, die Musik große (und weniger große) Komponisten
hervorgebracht hat. „Musik wird über Musik geschrieben“, sagt
einer, der etwas verstanden hat (Rainer Bayreuther): „Der
brisante Normalfall ist, daß ein Komponist an die aktuellen
Möglichkeiten des Musikalischen anschließt. Es ist evident
[…], daß der Notre-Dame-Komponist eines zweistimmigen
Organums, Ockeghem, Beethoven und Stockhausen an letztlich ein
und derselben musikalischen Problemstellung arbeiten.“14. Den
Mathematikern gestehen wir das ohne weiteres zu: daß sie alle,
egal in welchem Jahrhundert oder Jahrtausend, an ein und
derselben großen Sache arbeiten, nämlich an der Mathematik und
eben ihren „Problemstellungen“. Nicht so in der Musik: da
ziehen wir es vor, eine Werkgeschichte zu schreiben, Genies
aufzulisten, „unwichtige“ Komponisten einfach zu vergessen,
Epochengeschichte, Ästhetik, Stilrichtungen, Gattungen, tonale
Musik, atonale Musik, freitonale Musik, E-Musik, U-Musik…
obwohl sie ja, in der Tat, es alle mit derselben Sache zu tun
haben, nämlich der Musik und ihren immergleichen
„Schwingungen“. Genau diesem Wahnsinn will Friedrich Kittler
sich entgegenstemmen, auf die ihm eigene romantische,
pathetische, ironische und zuweilen sehr heideggersche Art:
„Am Wunder der Oktavharmonie hat sich, seit Welt geweltet
worden ist, nie etwas geändert, daran wird sich, solange
Welten welten, auch nichts ändern.“15
Auf diese Weise „weltlich“ betrachtet, wird deutlich, daß
auch die Aufteilung in Theorie und Praxis im Grunde sinnlos
ist. Es gibt dafür keinen besseren Beweis als das Drama um die
temperierte Stimmung. Es waren die Praktiker, die Komponisten,
die sehnlichst etwas wie eine temperierte – d.h. „korrigierte“
– Stimmung herbeiwünschten, weil sie, solange ihre Klaviere
rein („pythagoreisch“) gestimmt waren, an den engen Raum von
höchstens drei Quinten gekettet blieben wie Hofhunde. Aber
ohne die Kenntnisse der mathematischen Schwingungsverhältnisse

14
Rainer Bayreuther: „Überlegungen zur Geschichtlichkeit von Musik im
Anschluß an Heidegger und Kittler“, Berlin 2012/15, S.15
15
Musik und Mathematik I/1, S.282
8

wäre eine wohlklingende temperierte Stimmung, so wie sie heute


im Konzertsaal und von den Tonträgern erklingt, nicht möglich
gewesen.
Mit der temperierten Stimmung hat die Musik sich freilich
weit von den „Tongeschlechtern“ der griechischen Musik
entfernt (und zuweilen scheint es, als habe Friedrich Kittler
das im Innersten bedauert: denn diese Tongeschlechter hätten
„griechische Musik so unerratbar schön gemacht, so orphisch
machtvoll über Steine, Tiere, Menschen und selbst Götter“16).
Aber es ist doch gleichwohl nicht zu leugnen, daß erst durch
die Temperatur der Stimmung (und die damit verbundene
enharmonische Verschiebung des pythagoreischen Kommas) die
Musik sich zu einem System schließen konnte: zu jenem
„tonalen“ System, durch das sie, weit jenseits ihrer
mathematische Natur, zu der wahrlich großen menschlichen Kunst
werden konnte, vor der – ja, man möchte sagen: vor der am Ende
auch die Götter erblassten. Es war nicht erst Rameau, der den
Dreiklang „entdeckte“, wie Kittler meinte17 (das war vielmehr
Zarlino), aber Rameau machte die Musikwelt auf die
Umkehrbarkeit der Dreiklänge und auf etliche Quint- und
Terzverwandtschaften aufmerksam: also auf eine musikalische
„Logik“. Dies zusammen mit der temperierten Stimmung eröffnete
der Musik ein vielleicht nicht unendliches, aber doch immenses
Spielfeld für immer tiefere und raffiniertere Entfaltungen und
„Entbergungen“.
Dadurch „lichtete“ sich – wie einst zu Pythagoras´ Zeiten
die Struktur - eine weitere ontologische Komponente, eine
Seinsweise der menschlichen Welt, für die ich in Friedrich
Kittlers „Seinsgeschichte“ keinen Hinweis gefunden habe. Durch
das tonale System, in dem jeder Akkord, ja jeder Ton
funktional eingebunden ist und in dem jede kleinste
Veränderung über den Fortgang des Ganzen entscheidet –, in
einem solchen System wurde mit einem Mal erkennbar, was Sinn,
was Bedeutung an sich ist: ohne daß sie länger an einem
Zeichen, einem Wort, einem Symbol, einem Bild oder einem
Repräsentanten „klebt“. Wie einst bei Pythagoras durch die
Intervall-Verhältnisse die Zahlen sich gleichsam
emanzipierten, sodaß die Ontologie der Struktur erkennbar
wurde, so wird nun durch das tonale Regel-System die Ontologie
der Bedeutung „entborgen“: die in einem „Holismus“ besteht,
einer generischen Abhängigkeit aller Komponenten, die ihre
Eigenschaften nur dank der Tatsache haben, daß sie einem

16
Musik und Mathematik I/2, S.135
17
F.K.: „Und der Sinus wird weiterschwingen. Über Musik und Mathematik.“
Köln 2011, S.37
9

Ganzen angehören. Und noch etwas gehört dazu: daß ein solches
System stets auf offenen, anwendbaren Regeln beruht. Dies ist
die transzendentale Bedingung dafür, daß wir Menschen
Bedeutung verstehen können.
Friedrich Kittler aber verfolgte (neben der mathematisch-
physikalischen) eher noch eine andere Seins- oder
Wirkungsweise der Musik. Zwei weitere sind der Musik
traditionellerweise eigen: Zum einen ist dies ihre Fähigkeit,
im Menschen Gefühle und Affekte zu erregen. Diese Fähigkeit
wird von Kittler zwar öfters angesprochen, aber er hütet sich,
ihr auf den Grund zu gehen. Zum anderen aber gab es im Laufe
der Geschichte vielfach Bemühungen, die Musik mit einer
Symbolik zu versehen, die sie als Ausdruck eines „höheren“
Weltgesetzes erscheinen lassen. So z.B. wurde der Dreiklang
häufig mit der göttlichen Dreifaltigkeit verglichen: diese
„analogia entis“ konnte Friedrich Kittler freilich nicht
reizen. Aber es wurden auch Analogien zur Natur und ihren
intrinsischen Geheimnissen hergestellt, und für diese Art der
Symbolik war Kittler durchaus empfänglich – vermutlich, weil
sie ihm der griechischen Ungeschiedenheit von Musik, Natur,
Göttern und Eros näher zu sein schienen. So etwa kommt Kittler
wiederholt in seinen Aufsätzen auf Schopenhauer zu sprechen,
der es ihm diesbezüglich besonders angetan zu haben scheint;
und zwar weil „Arthur Schopenhauer in Die Welt als Wille und
Vorstellung (1819) […] die Musik dem unbewußten Weltwillen
selber zudachte. Und wie sieht das dann aus?“ fragt Kittler
weiter: „Der Weltwille äußert sich darin, daß es die Obertöne
gibt, les harmoniques, wie Schopenhauer schreibt. Der Baß
entspricht dem unbewußten Drang der Steine Stein zu sein. Der
Tenor entspricht dem Drang der Bäume Baum zu sein. Der Alt
entspricht dem Drang der Tiere sich zu paaren, und der Sopran
entspricht dem Menschen – in dem der unbewußte Weltwille
plötzlich zu Selbstbewußtsein kommt […] und anfängt,
artikuliert zu singen.“18
Man kann bei Schopenhauer noch einen Haufen weiterer
solcher verschrobener Analogien finden, die man nicht anders
als naiv oder besser banal bezeichnen kann.19 Es nimmt wunder,
daß Friedrich Kittler ausgerechnet diese Seite Schopenhauers
für sich beansprucht – denn es gibt bei diesem Philosophen
auch weitaus interessantere Stellen, die bezeugen, daß er die
autonome innere Logik der Musik schon auch erkannt hatte.

18
Ebda, S.38
19
Kittler meinte dennoch, diese Analogien seien zu Schopenhauers Zeit
„revolutionär“ gewesen, und zwar weil Musik damit „die Sprache der Welt“
redet (s. F.K. „Musik als Medium“. In: Dotzler/Müller (Hrsg.), „Wahrnehmung
und Geschichte“, Berlin 1995, S.95f.)
10

Kittler aber zieht sogar Wagner noch in denselben


verschrobenen naturalistischen Weltgeist hinein. Denn
unmittelbar darauf fährt er fort: „Das [nämlich Schopenhauers
Analogie Baß = Stein, Tenor = Baum, etc.] braucht man dann
bloß noch auszukomponieren. Man muß nur noch – das hat
Schopenhauer leider nie gemacht – man muß nach Italien fahren,
genauer gesagt nach La Spezia. Man muß dort verdorbenes
Speiseeis zu sich nehmen, man muß den 5. September 1855
schreiben, da war Schopenhauer noch am Leben, glaube ich, und
man muß 137 Takte in dieser Magenkolik halluzinieren, deren
einzige Entfaltung die Obertonreihe in Es-Dur ist und sonst
nichts. Ohne jede harmonische Wirkung und dergleichen. Einfach
137 Takte Es-Dur-Dreiklang. Wie nennen wir diese Komposition?
Richard Wagner, Das Rheingold. Vorspiel. Ich bin fertig.“20
Nein: selbst mit viel Humor kann man das nicht gutheißen.
Denn so einfach ist es ja nicht – „nur“ verdorbenes Speiseeis
essen, und dann mit „Magenkolik“ eine geniale Musik
halluzinieren. Diesen 137 Takten geht eine aberwitzig komplexe
Seinsgeschichte voraus, ein unermüdliches, hochkonzentriertes
Arbeiten ungezählter Musiker an dem einen tonalen System der
abendländischen Musik – ein kollektives Arbeiten, das Richard
Wagner in allen Details kannte. Und es ist auch nicht so, daß
der „absolute Anfang des Rings, das Rheingold-Vorspiel,
Schopenhauers Musikentstehung aus anorganischem
Wasserrauschen“ vorführt, wie Kittler an einer ernsthafteren
Stelle schreibt.21 Friedrich Kittler vergißt, daß der Musik
(eben dank der Intervalle und deren
Verwandtschaftsverhältnissen) etwas wie eine Syntax eigen ist,
daß sie von sich aus zu einem Ende kommt („fertig wird“, wie
Nietzsche sagt22), daß diese Syntax Erwartungen an ihren
Verlauf generiert – und daß es nicht einer „Magenkolik“,
sondern des allerhöchsten Regelwissens bedarf, um diese
Erwartungen gekonnt zu umgehen: und erst dadurch eben jenen
fließenden „Rausch“ zu erzeugen, dessentwegen Wagners Musik
von den einen leidenschaftlich geliebt und von den anderen
abgelehnt wird.
Es ist das tonale Regelsystem, dem wir zu verdanken haben,
daß die Musik drei, vier Jahrhunderte lang in voller Blüte
stand. Wäre es nicht dazu gekommen, wäre sie stattdessen bei
den griechischen „Tongeschlechtern“ mit Aulos und Kithara
stehen geblieben, würden wir schwerlich so viel Aufhebens um

20
Ebda, S.38f.
21
F.K.: „Musik als Medium“, in: „Wahrnehmung und Geschichte“, a.a.O., S.96
22
Friedrich Nietzsche: „Der Fall Wagner“. Sämtliche Werke (de Gruyter) Bd.6,
S. 14
11

sie machen, sondern uns vermutlich mit Platon damit begnügen,


sie als ein nützliches Mittel für die Erziehung anzusehen.
Doch das tonale System war Kittlers Sache nicht. Ihn
interessierte Harmonia, die Tochter der Aphrodite und des
Ares, die Harmonielehre interessierte ihn nicht. Und um auf
die anfängliche Frage zurückzukommen: wenn Friedrich Kittler
„Musik“ sagt, so meint er m.E. Ungeschiedenheit, oder auch
eigentliche (ontologische) Unteilbarkeit von Wissenschaft
(mathesis), Klang, und – nun, sagen wir: Lust; jenem
erlösenden mediterranen Zustand, der sich anfühlt, als läge
man den Göttern im Schoß (am liebsten natürlich dem der
Aphrodite). Kittler sagte beiläufig einmal: „Es macht mir eben
mehr Spaß, in der Geschichte der Erotik zu stehen.“23
Tatsächlich wollte er das Sein in einem
fundamentalontologischen Sinn mit der Liebe eröffnen – nicht
etwa mit dem menschlichen Geist. Die Frage, ob er eine solche
Geschichte wider die Liebesvergessenheit über alle
ideologischen Fallgruben hinweg bis ins 21. Jahrhundert hätte
herüberretten können, muß leider für immer unbeantwortet
bleiben.

23
F.K.: „Das Nahen der Götter vorbereiten“, a.a.O., S.63

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