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Sabina Kienlechner
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Oliver Müller: „Du Erwartung ich Begehren“, Berliner Zeitung 21.08.2006
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s. F.K.: „Musik und Mathematik I“, 1. Teilband, München 2006, S.43-58;
sowie „Musen, Nymphen und Sirenen“, Hörbuch 2006; et passim.
2
3
F.K.: „Aufschreibesysteme 1800 – 1900“. München 1985, S.236f., et passim.
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Musik und Mathematik I,1, S.57
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groß und so tief, daß sie noch vor der Himmels-Helle und der
Wüste Recht behalten würde.
Doch was sollte das für eine Musik sein? Friedrich Kittler
war bestimmt nicht nach Griechenland gegangen, um, wie
Nietzsche, Wagner zu „überwinden“, ganz im Gegenteil; auch
nicht, um etwas wie „edle Einfalt und stille Größe“ (z.B. nur
noch Oktaven, Quinten, Quarten) in der Archaik zu suchen oder
dgl. Und doch wollte er zu den Anfängen zurück: um etwas zu
„verwinden“: „Wir `laufen´ in der Zeit `zurück´, von heute zu
den Griechen, zugleich jedoch auch in der Zeit voran, vom
ersten Anfang bis zu seiner wiederholenden Verwindung.“5.
Verstehen kann man das nur, wenn man sich bewußt macht, daß
noch ein zweiter Deutscher ihn nach Griechenland geschickt
hatte, nämlich Martin Heidegger. Das scheint zwar im ersten
Moment auch nicht hilfreich, denn ausgerechnet mit der Musik
hatte Heidegger gar nichts am Hut. Aber Heidegger war eben der
Erretter der wahren „Seinsgeschichte“. Und eine solche
Seinsgeschichte - genauer eine Geschichte wider die
Seinsvergessenheit - wollte Friedrich Kittler schreiben.
Freilich auf seine unnachahmliche Kittler´sche Art; denn die
Intention hinter diesem „ganzen Buchprojekt“ war, „die Seins-
Geschichte von Martin Heidegger auf eine Liebesgeschichte
umzustellen“6. Also eine Geschichte wider die Liebes-
Vergessenheit letztlich, und zwar mit Hilfe von Musik und
Mathematik.
Aus diesem Grund geht das Ganze mit den winzigen
Liebesinselchen vor der Sorrentinischen Halbinsel los, um
klarzustellen, daß Odysseus den Lockrufen der Sirenen
keineswegs „widerstanden“ hat (wovon z.B. noch
Horkheimer/Adorno überzeugt waren, weshalb sie ihn sofort zum
ersten neuzeitlichen Aufklärungsbürger erklärten)7, sondern
vielmehr schnurstraks zu ihnen auf den Felsen gestiegen ist
und also ein antiker Grieche blieb: „Er hat nicht nur Gesang
genossen, sondern seine volle Lust.“8 Ja; damit wäre also der
erste Beweis für die „Liebesvergessenheit“ der abendländischen
Geschichte erbracht.
Weitere Beweise folgen zu Hauf. Wir möchten ihnen hier
jedoch nicht nachgehen (sie sind leicht aufzuspüren und
sprechen sozusagen für sich), sondern uns lieber der
musikalischen Seinsgeschichte zuwenden. Auch sie soll auf der
Sireneninsel beginnen, und zwar darum, weil Lust offenbar
5
Musik und Mathematik I, 2. Teilband, S.245)
6
F:K.: „Das Nahen der Götter vorbereiten“. München 2012, S.63
7
Horkheimer/Adorno: Dialektik der Aufklärung, 1944
8
Musik und Mathematik I/1, S.54
4
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ebda
10
Enrico Fubini: „Geschichte der Musikästhetik“, Stuttgart 1997, S.19
11
Musik und Mathematik I/2, S.207.
5
unabhängig von unserem Denken? real, nicht real? Und was ist
ein mathematisches Objekt? In der Musik gibt es zumindest
unzweifelhaft etwas zu hören, den Klang: dieser ist in der Tat
ihr Medium. Aber als bloßer „Klang“ ist sie noch lange keine
Musik. Was ist das Besondere daran, wenn zwei Stimmen in
Oktaven singen, was macht sie so verführerisch, so
eindringlich? Warum kann „jedes Kind“ (wie Kittler sagt)
hören, ob die Oktaven rein sind oder verstimmt?
Vor dem Hintergrund solcher und ähnlicher Fragen ist es
äußerst spannend zu lesen, wie die alten Griechen das
Geheimnis lichteten, das die besonderen Klänge in sich bergen,
die wie Sirenengesang oder eben wie Musik in den menschlichen
Ohren klingen. Das Geheimnis besteht in ganz bestimmten,
reinen, immer gleichbleibenden Verhältnissen; und zwar
Verhältnissen, die sich in Zahlen ausdrücken lassen: zunächst
1:2 für die Oktave. Sodann das Verhältnis 3:2 für die Quinte,
4:3 für die Quarte, wobei die Quarte über die Quinte gestellt
wiederum eine Oktave ergibt. Zu entdecken war dies z.B. an den
Saiten der Kithara, die, wenn man sie nur leicht in ihrer
Mitte berührte, sogleich eine Oktave höher erklangen, bei der
Berührung im oberen Drittel noch eine Quinte höher, usw.
Wichtig dabei ist zu wissen, daß die „Kithara“ keine Gitarre
ist (was Kittler nicht überall klarstellt), sondern eine
Leier; d.h. sie hat kein Griffbrett. Es ist ein Leichtes,
mittels eines Griffbretts (ohne Bünde) die Saiten zu
verkürzen, man kann damit (in einem gewissen Rahmen) jeden
beliebigen Ton in jeder beliebigen Höhe erzeugen. Die
„Verhältnisse“ aber, welche die natürliche Musik, das Wunder
der Harmonie zum Klingen bringen, gibt nur die freischwingende
Saite preis.
Da die Intervall-Verhältnisse, in Zahlen ausgedrückt, immer
dieselben blieben, egal, welche Spannung die Saite zufällig
gerade hatte, gaben auch die Zahlen sich in ihrem eigentlichen
Sein zu erkennen. Sie wurden mit einem Mal „reine Form“, sie
klebten nicht mehr bloß an zählbarem Seienden, eben z.B. an
einer bestimmten Saitenspannung, oder an soundsoviel
Schritten, Ellenlängen, geknoteten Seilabschnitten, und was
sonst noch zum Vermessen und Berechnen hergenommen wurde. „Es
entsteht eine Mathematik“, so erklärte es Friedrich Kittler
einmal nebenbei, „in der eben Zahlentheorie nicht Ausrechnen
ist, sondern Ungerechtnetlassen. Gerade und ungerade sind
sozusagen der Ursprung einer Entwicklung, daß Mathematik
Strukturen sieht und nicht mehr zählbare Dinge.“12 Mit der
Erkenntnis der Struktur – was nichts anderes bedeutet als
12
„Rock me Aphrodite“, Telepolis, Interview vom 24.05.2006
6
13
Musik und Mathematik I/2, S.244
7
14
Rainer Bayreuther: „Überlegungen zur Geschichtlichkeit von Musik im
Anschluß an Heidegger und Kittler“, Berlin 2012/15, S.15
15
Musik und Mathematik I/1, S.282
8
16
Musik und Mathematik I/2, S.135
17
F.K.: „Und der Sinus wird weiterschwingen. Über Musik und Mathematik.“
Köln 2011, S.37
9
Ganzen angehören. Und noch etwas gehört dazu: daß ein solches
System stets auf offenen, anwendbaren Regeln beruht. Dies ist
die transzendentale Bedingung dafür, daß wir Menschen
Bedeutung verstehen können.
Friedrich Kittler aber verfolgte (neben der mathematisch-
physikalischen) eher noch eine andere Seins- oder
Wirkungsweise der Musik. Zwei weitere sind der Musik
traditionellerweise eigen: Zum einen ist dies ihre Fähigkeit,
im Menschen Gefühle und Affekte zu erregen. Diese Fähigkeit
wird von Kittler zwar öfters angesprochen, aber er hütet sich,
ihr auf den Grund zu gehen. Zum anderen aber gab es im Laufe
der Geschichte vielfach Bemühungen, die Musik mit einer
Symbolik zu versehen, die sie als Ausdruck eines „höheren“
Weltgesetzes erscheinen lassen. So z.B. wurde der Dreiklang
häufig mit der göttlichen Dreifaltigkeit verglichen: diese
„analogia entis“ konnte Friedrich Kittler freilich nicht
reizen. Aber es wurden auch Analogien zur Natur und ihren
intrinsischen Geheimnissen hergestellt, und für diese Art der
Symbolik war Kittler durchaus empfänglich – vermutlich, weil
sie ihm der griechischen Ungeschiedenheit von Musik, Natur,
Göttern und Eros näher zu sein schienen. So etwa kommt Kittler
wiederholt in seinen Aufsätzen auf Schopenhauer zu sprechen,
der es ihm diesbezüglich besonders angetan zu haben scheint;
und zwar weil „Arthur Schopenhauer in Die Welt als Wille und
Vorstellung (1819) […] die Musik dem unbewußten Weltwillen
selber zudachte. Und wie sieht das dann aus?“ fragt Kittler
weiter: „Der Weltwille äußert sich darin, daß es die Obertöne
gibt, les harmoniques, wie Schopenhauer schreibt. Der Baß
entspricht dem unbewußten Drang der Steine Stein zu sein. Der
Tenor entspricht dem Drang der Bäume Baum zu sein. Der Alt
entspricht dem Drang der Tiere sich zu paaren, und der Sopran
entspricht dem Menschen – in dem der unbewußte Weltwille
plötzlich zu Selbstbewußtsein kommt […] und anfängt,
artikuliert zu singen.“18
Man kann bei Schopenhauer noch einen Haufen weiterer
solcher verschrobener Analogien finden, die man nicht anders
als naiv oder besser banal bezeichnen kann.19 Es nimmt wunder,
daß Friedrich Kittler ausgerechnet diese Seite Schopenhauers
für sich beansprucht – denn es gibt bei diesem Philosophen
auch weitaus interessantere Stellen, die bezeugen, daß er die
autonome innere Logik der Musik schon auch erkannt hatte.
18
Ebda, S.38
19
Kittler meinte dennoch, diese Analogien seien zu Schopenhauers Zeit
„revolutionär“ gewesen, und zwar weil Musik damit „die Sprache der Welt“
redet (s. F.K. „Musik als Medium“. In: Dotzler/Müller (Hrsg.), „Wahrnehmung
und Geschichte“, Berlin 1995, S.95f.)
10
20
Ebda, S.38f.
21
F.K.: „Musik als Medium“, in: „Wahrnehmung und Geschichte“, a.a.O., S.96
22
Friedrich Nietzsche: „Der Fall Wagner“. Sämtliche Werke (de Gruyter) Bd.6,
S. 14
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23
F.K.: „Das Nahen der Götter vorbereiten“, a.a.O., S.63