Source: Osteuropa
Eastern Europe
Location: Germany
Author(s): Oskar Anweiler
Title: Von der "Ostpädagogik" zur vergleichenden Bildungsforschung
From "Eastern Pedagogics" to Comparative Educational Research
Issue: 12/1971
Citation Oskar Anweiler. "Von der "Ostpädagogik" zur vergleichenden Bildungsforschung".
style: Osteuropa 12:901-908.
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ZEITSCHRIFT FüR GEGENWARTSFRAGEN DES OSTENS
o SKAR ANWEILER
nicht mehr entsprechende Rückständigkeit kritisiert (2). Mit der - allerdings häufig
überschätzten - Erweiterung des internationalen pädagogischen Horizonts und der
grundsätzlichen Internationalität jeder Wissenschaft, also auch der Erziehungs-
wissenschaft/ entfielen zunehmend die Notwendigkeit und das Bedürfnis, Aus-
landspädagogik als eigenen legitimen wissenschaftlichen Arbeitsbereich zu betrei-
ben. Deskriptive Bestandsaufnahmen von Bildungssystemen gehörten bestenfalls
in den Vorhof der Vergleichenden Erziehungswissenschaft, und einzelne Teilana-
lysen von Bereichen oder Problemen aus einem bestimmten Bildungssystem be-
säßen eine Berechtigung nur dann, wenn sich daraus Generalisierungen ableiten
ließen, die auf dem Hintergrund umfassenderer theoretischer Konzepte gewon-
nen werden.
Das gewachsene wissenschaftstheoretische und methodologische kritische Bewußt-
sein innerhalb der Vergleichenden Erziehungswissenschaft kann einen Gegen-
standsbereich nicht unberührt lassen, für den sich eine Zeitlang der Ausdruck
~,Ostpädagogik" eingebürgert hatte. Es ist die Absicht der folgenden, durchaus
vorläufigen überlegungen, eine kritische überprüfung des als "Ostpädagogik"
bezeichneten Teilgebiets der auslandspädagogischen Forschung anzuregen und
die bereits erkennbaren neueren Tendenzen weiterzuführen.
Wie ich bereits vor mehreren Jahren in einer Skizze über die Entwicklung der
"Ostpädagogik" in Deutschland bemerkt hatte, haftet der Bezeichnung "Ostpäd-
agogik" ein mißverständlicher Klang an (3). Nicht nur deswegen, weil mit dieser
Bezeichnung von kommunistischer Seite jeder unabhängigen und kritischen Be-
schäftigung mit den pädagogischen Problemen in den osteuropäischen Ländern
der Stempel der Unwissenschaftlichkeit aufgedrückt worden ist, erweist sich dieser
Ausdruck als hinderlich; wichtiger ist, daß er durch seine handliche Kürze die
Komplexität des Problems verdeckt und Mißverständnissen auch dort Vorschub
leistet/ wo es sich nicht von vornherein um böswillige Unterstellungen handelt.
Die von mir vorgeschlagene korrekte Bezeichnung des wissenschaftlichen Arbeits-
gebiets lautete daher: Studium der Pädagogik und des Bildungswesens in den
Ländern Osteuropas. Der Umfang des Begriffs Osteuropa sollte dabei pragmatisch
bestimmt werden.
Nun handelt es sich bei unserem Problem natürlich nicht in erster Linie um eine
Frage der richtigen Benennung. Vielmehr zwingt die eingangs erwähnte allge-
meine kritische Selbstreflexion der Vergleichenden Erziehungswissenschaft dazu,
die inhaltlichen und methodischen Probleme dieses Forschungsgebiets neu zu
durchdenken. Sie lassen sich wie folgt gruppieren:
Auch gegenwärtig gilt noch im großen und ganzen die 1965 getroffene Feststel-
lung:
Die bisherige Forschung hat sich fast ausschließlich mit der Pädagogik und
dem Bildungswesen in der Sowjetunion und in der DDR beschäftigt,
während die Verhältnisse in den anderen osteuropäischen Ländern kaum
untersucht wurden. Dabei haben wir es mit einem ausgesprochenen Nach-
holbedarf des europäischen Kulturbewußtseins zu tun. Die pädagogischen
Leistungen der Vergangenheit, die führenden Erziehergestalten und die
gegenwärtigen Probleme in diesen Ländern sind selbst den Fachleuten in
Deutschland kaum bekannt. Die Wissenschaft hat hier noch nicht einmal
die Stufe der Informationsvermittlung erreicht. (Oskar AnweHer: Die So-
wjetpädagogik in der Welt von heute, Heidelberg 1968, S. 12)
Dank der Initiative des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische For-
schung (Frankfurt/Main) haben inzwischen die Arbeiten von F. Singule über das
tschechoslowakische Schulwesen (4) und von V. von Zsolnay über das ungari-
sche (5) einen ersten allgemeinen überblick vermittelt, der aber in dieser Form
für Polen, Bulgarien, Rumänien, Jugoslawien und Albanien noch aussteht; man
ist für diese Länder auf die Arbeit von N. Grant (6), vereinzelte Zeitschriften-
aufsätze sowie die laufenden Nachrichten im "Informationsdienst" des Referats
Bildungswesen im Osteuropa-Institut an der Freien Universität Berlin angewie-
sen. Für die schulpolitische Entwicklung in der Tschechoslowakei liefert die jüng-
ste Arbeit von R. Urban (7) reiches Material. Auch aus der DDR ist nur eine
einzige jüngere Buchpublikation - außer Zeitschriftenbeiträgen in der "Verglei-
chenden Pädagogik" - erschienen, in der auf die erwähnten Länder eingegangen
wird (8).
Die Gründe für diese Situation der auslandspädagogischen Forschungen über ost-
europäische Länder (mit Ausnahme der Sowjetunion und abgesehen von der
DDR) in der Bundesrepublik liegen vor allem in der unzureichenden personellen
Kapazität der wenigen hierfür in Frage kommenden wissenschaftlichen Einrich-
tungen, und dieser Personalengpaß wiederum beruht zu einem großen Teil auf
dem unzureichenden Spezialistennachwuchs. Die Kombination einer erziehungs-
wissenschaftlichen Ausbildung mit einem Studium von ein oder zwei slawischen
Sprachen und einer allgemeinen Landes- und Kulturkenntnis ist nach wie vor
eine Seltenheit. Hier müssen künftig die Bemühungen planmäßig verstärkt wer-
den.
Allerdings berühren die eben konstatierten Mängel noch nicht das Problem der
notwendigen Forschungsansätze und Konzepte. Es erhebt sich die Frage, in wel-
chem Umfang und mit welchem Ziel die noch ausstehende Deskription und
Primäranalyse des Bildungssystems (in seinem historischen und aktuellen gesamt-
gesellschaftlichen Zusammenhang) erfolgen sollte. Die Ermittlung und Darbie-
tung von Grundinformationen über die genannten Bildungssysteme muß be-
reits von einem Problemkatalog ausgehen, dessen Aufstellung wiederum aus
einem umfassenderen, d. h. auf einen Vergleich hin angelegten Fragehorizont
heraus erfolgen sollte. Schon die Bereitstellung von Grunddaten über die Bil-
dungssysteme dient damit einem möglichen höheren Zweck, z. B. der verglei-
chenden Strukturanalyse (siehe unten).
Die Schwierigkeiten, auf die eine so angelegte auslandspädagogische Forschung
allerdings stößt, sind erheblich. Auf der Ebene der Datenermittlung liegen sie
Die eben erörterten Probleme betreffen, wie gesagt, in erster Linie die bisher
vernachlässigten Länder auf der osteuropäischen Landkarte der Bildungssysteme.
Die "Ostpädagogik" in ihrer traditionellen Form hatte sich fast ausschließlich
auf die Sowjetunion und die DDR konzentriert. Sieht man von den polemischen
Ansätzen bei einigen, wissenschaftlich keineswegs führenden ersten Vertretern
der "Ostpädagogik" ab, so hat die etwa zwei Jahrzehnte dauernde Beschäftigung
mit den Bildungssystemen in der DDR und der Sowjetunion zu einer erheblichen
Schärfung des methodischen Bewußtseins, zu einem höheren Niveau der For-
schungen und zu einer deutlichen Abgrenzung gegenüber auf diesem Gebiet dilet-
tierenden "Gelegenheitsarbeitern" geführt.
Gleichzeitig mit dieser immanenten Kontrolle des wissenschaftlichen Niveaus
durch kritische Auseinandersetzung (z. B. auf wissenschaftlichen Tagungen) ist
auf dem Gebiet der erziehungswissenschaftlichen Sowjet- und DDR-Forschung
eine zunehmende Spezialisierung eingetreten. Neben die historisch orientierte
pädagogische Forschung (9) ist in zunehmendem Maße eine differenzierte Bil-
dungsforschung im Sinne von Struktur-,Prozeß- und Problemanalysen getreten (10).
Dabei zeigt sich eine interessante, auch sonst zu beobachtende Entwicklung: die
vertiefende Spezialisierung im Hinblick auf den untersuchten Gegenstand führt
andererseits zur Erweiterung des Forschungsansatzes im konzeptuellen Sinne.
Die Isolierung des Problems muß teilweise dadurch wieder aufgehoben werden,
daß in der methodischen Bearbeitung die übergreifenden Zusammenhänge und
die Mehrdimensionalität des Problems deutlich gemacht werden (I I).
Von hier aus zur kooperativen multi- und interdisziplinären Forschung ist dann
nur noch ein Schritt. Allerdings fällt er in der Praxis nicht leicht. Abgesehen von
organisatorischen Hindernissen liegen die Hauptschwierigkeiten in dem hier er-
örterten Bereich im folgenden:
2. Die andere Schwierigkeit der multi- und interdisziplinären Forschung liegt dar-
in, daß in der Regel Wirtschaftswissenschaftlern, Soziologen und Politologen die
spezifische erziehungswissenschaftliche Fragestellung eben wegen der Komplexi-
tät des Gegenstandes (nErziehungll, nBildungssystemll) generell nicht leicht nahe-
zubringen istj im Rahmen sowjetologischer Untersuchungen kann die aufgrund
allgemeiner Modellvorstellungen von der sowjetischen Gesellschaft oder dem poli-
tischen System vorhandene Bewertung der Rolle des Erziehungs- und Bildungs-
systems zu einer unzulässigen Mediatisierung der spezifisch pädagogischen Frage-
stellung führen. Die frühere, ursprünglich von Politologen entwickelte, jetzt
weitgehend überwundene Konzeption der ntotalitären Erziehung ll für die so-
wj etische Pädagogik ist hierfür ein Beispiel.
Mit diesen Bemerkungen sollte lediglich auf die Schwierigkeiten eines erweiterten
interdisziplinären Forschungsansatzes hingewiesen werden, ohne dessen Bedeu-
tung in Frage stellen zu wollen. Im Rahmen der auf ein einzelnes Land bezoge-
nen, von mehreren wissenschaftlichen Disziplinen gemeinsam konzipierten For-
schungsvorhaben wird in den nächsten Jahren der Sonderforschungsbereich nIn-
dustrialisierung und Gesellschaft in der Sowjetunion ll im Osteuropa-Institut Ber-
lin den Beweis für neue Formen interdisziplinärer Arbeit, unter wesentlicher Be-
teiligung von Erziehungswissenschaftlem, erbringen können.
auch von der Funktion des Curriculums bzw. Lehrplans im pädagogischen Pro-
zeß abhängig ist; sie führt dann weiter bis zu einer vergleichenden Analyse der
in einem Curriculum latent oder manifest vorhandenen gesellschaftlichen Ziele
und Normen.
Die marxistische Vergleichende Pädagogik z. B. geht bei ihren Untersuchungen
über die Lern- und Bildungsziele in den IIkapitalistischen Systemen" von der
Leninschen Klassentheorie aus, d. h. sie korreliert die proklamierten, den schuli-
schen Lehrplänen zugrundeliegenden Unterrichtsziele mit der sozialen Klassen-
struktur der Gesellschaft, als deren Widerspiegelung jene Ziele letzten Endes gel-
ten. Umgekehrt jedoch wird die im eigenen System gültige Ordnung der Ziele
keineswegs einer soziologischen Analyse unterzogen, und zwar aufgrund der vor-
ausgesetzten und nicht weiter überprüften Annahme, daß sich in der sozialisti-
schen bzw. kommunistischen Gesellschaft dieses Problem gar nicht stelle, da es in
ihr keine Klassen - nach dem Marx-Leninschen Klassenbegriff - mehr gebe.
Es wäre nun zweifellos ein Fehler einer international-vergleichenden Untersu-
chung über den Zusammenhang von Gesellschaftsstruktur und der in einem
Curriculum wirksamen bzw. von ihm intendierten Bildungs- und Erziehungs-
ziele, wenn sie sich mit dieser systemkonformen Aussage begnügte und auf eine
möglic11e überprüfung von sich aus verzichtete. Umgekehrt käme ein "System-
zentrismus" entgegengesetzter Art zustande, wenn das in der eigenen Gesell-
schaft und dessen Bildungssystem als gültig oder dominierend ermittelte Ziel-
und Wertesystem samt dessen soziologischen Bedingtheiten stillschweigend als
Grundlage für den Vergleich genommen würde. Um bei unserem Beispiel zu
bleiben: Es hätte wenig Sinn, mit Kriterien, die dem soziologischen Modell der
"middle class"-Gesellschaft und den dort vorhandenen, in den amerikanischen
Schulcurricula manifesten Erziehungszielen entstammen, an eine wissenssozio-
logische und ideologiekritische Analyse sowjetrussischer Lehrpläne heranzugehen.
Ihre wesentlichen !(omponenten kämen dabei wahrscheinlich gar nicht ins Blick-
feld.
AUSBLICK
LITERATURHINWEISE
(I) Vgl. aus der Vielzahl der Beiträge: Gottfried Hausmann: A century of Comparative
Education, 1785-1885, in: Comparative Education Review, Bd.II, Nr.l (Februar
1967), S. 1-21; Oskar Anweiler: Von der pädagogischen Auslandskunde zur Ver-
gleichenden Erziehungswissenschaft, in: Pädagogische Rundschau, 20. ]g. (1966),
S. 886-895 i Stewart E. Fraser, William W. Brickmann: A History of International and
Comparative Education: Nineteenth Century Documents, Glenvi11e, 111. 1968
(2) Vgl. Harold l. Noah, Max A. Eckstein: Toward a Science of Comparative Education,
London/New York 1969; Saul B. Robinsohn: Vergleichende Erziehungswissenschaft,
in: Handbuch pädagogischer Grundbegriffe, hrsg. von losef Speck und Gerhard
Wehle, Bd. I, München 1970, S.456-492
(3) Oskar Anweiler: "Ostpädagogikl l in der Bundesrepublik Deutschland, in: Bildung
und Erziehung, 18. Jg. (1965), S.I24-130. überarbeitete Fassung in dem Sammel-
band des Verfassers: Die Sowjetpädagogik in der Welt von heute, Heidelberg 1968,
S·7-I 4
(4) Frantisek Singule: Das Schulwesen in der Tschechoslowakischen Sozialistischen
Republik, Weinheim 1967
(5) Vilmos von Zsolnay: Das Schulwesen in der Ungarischen Volksrepublik, Weinheim
1968
(6) Nigel Grant: Society, Schools and Progress in Eastern Europe, Oxford 1969
(7) Rudolf Urban: Die Entwicklung des tschechoslowakischen Schulwesens, 1959-1970,
Berlin/Heidelberg 1971
(8) Werner Kienitz u. a.: Einheitlichkeit und Differenzierung im Bildungswesen, Berlin
[Ost] 1971
(9) Hier ist vor allem die ausgedehnte Makarenko-Forschung zu nennen. Vgl. hierzu:
Götz Hillig, Siegfried Weitz: Makarenko-Materialien, Bd. I, 11, Marburg 1969/71.
Außerdem: Oskar Anweiler: Geschichte der Schule und Pädagogik in Rußland vom
Ende des Zarenreiches bis zum Beginn der Stalin-Ära, Berlin/Heidelberg 1964;
S. T. Schazki: Ausgewählte pädagogische Schriften, hrsg. von Isabella Rüttenauer
und Bernhard Schiff, Berlin/Heidelberg 1970
(10) Vgl. für die DDR: Horst Siebert: Erwachsenenbildung in der Erziehungsgesellschaft
der DDR, Düsseldorf 1970; Hartrnut Vogt: Bildung und Erziehung in der DDR,
Stuttgart 1969. Für die Sowjetunion: Detlef Glowka: Schulreform und Gesellschaft
in der Sowjetunion 1958-1968, in: Schulreform im gesellschaftlichen Prozeß, hrsg.
von Saul B. Robinsohn, Bd. I, Stuttgart 1970. Für Osteuropa allgemein: Bildungsrefor-
men in Osteuropa, hrsg. von Oskar Anweiler, Stuttgart 1969
(lI) Vgl. außer der genannten Studie von Glowka z. B. Ludwig Liegle: Familienerzie-
hung und sozialer Wandel in der Sowjetunion, Berlin/Heidelberg 1970
(12) Die Aufsätze und Artikel zur "pädagogischen KonvergenztheorielI, besonders aus
der DDR, sind überreich vorhanden. Vgl. zur Kritik der Kritik: Detlef Glowka:
Konvergenztheorie und vergleichende Bildungsforschung, in: Bildung und Erzie-
hung, 24. Jg. (1971), H. 6 .
(I3) Oskar Anweiler: Probleme eines Leistungsvergleichs der Bildungssysteme in der
Bundesrepublik und der DDR, in: Bildung und Erziehung, 22. Jg. (1969), S.24 I -253