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MAURICE HALBWACHS

Das kollektive Gedächtnis


Mit einem Geleitwort zur deutschen Ausgabe von Heinz Maus
Aus dem Französischen von Holde Lhoest-Offermann

FISCHER TASCHENBUCH VERLAG

Zu diesem Buch
Nach Durkheim und Mauss ist Halbwachs der wichtigste und anregendste Klassiker der
modernen französischen Sozialwissenschaft. In seinen Schriften verbindet sich ein
hochwachsames Interesse an empirischer Forschung mit einer bahnbrechenden Neugier für
die lautlosen kulturellen Bestandteile individueller und gesellschaftlicher Erfahrung: für das
menschliche Gedächtnis, für die menschliche Vorstellungskraft sowie deren »wirkliche
Zeitrechnung«. Halbwachs zeigt, wie das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft, einer
Gruppe das Bild der vergangenen Geschehnisse rekonstruiert, es bewahrt und zugleich den
Erwartungen eingliedert, die der Vergangenheit und der Gegenwart jeweils entgegengebracht
werden: Das Neue ist im Vergangenen enthalten.
Das Manuskript des vorliegenden Buchs ist nach Halbwachs' Tod in seinem Nachlaß entdeckt
worden.

Der Autor
Maurice Halbwachs, 1877 in Reims geboren, war Professor an der Sorbonne und am Collège
de France. Am 16. März 1945 wurde er im KZ Buchenwald ermordet. Sein Werk Das
Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen (1925) ist vor mehreren Jahren in deutscher
Übersetzung erschienen.

FISCHER WISSENSCHAFT

4-5. Tausend: Juli 1991


Ungekürzte Ausgabe Veröffentlicht im Fischer Taschenbuch Verlag GmbH,
Frankfurt am Main, September 1985 Titel der französischen Originalausgabe:
>La Mémoire collectives erschienen im Verlag Presses Universitaires de France, Paris
Für die deutsche Ausgabe:
© Ferdinand Enke Verlag, Stuttgart 1967
Alle Rechte an dieser Ausgabe vorbehalten durch
Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Umschlaggestaltung: Jan Buchholz/Reni Hinsch
Druck und Bindung: Wagner GmbH, Nördlingen
Printed in Germany 198;
ISBN 3-596-V359-5
Geleitwort
Die Kenntnis der klassischen französischen Soziologie ist in Deutschland noch immer wenig
verbreitet. Zwar ist einmal die allgemeine Vorstellung, was unter Soziologie zu verstehen sei,
durch sie bestimmt worden: durch A. Comte, auf den nicht nur ihr Name, sondern auch ihr
erster systematischer Entwurf zurückgeht, der heute freilich als veraltet, ja, als höchst dubios
gilt. Völlig vergessen gar ist G. Tarde, dessen Ansicht, es gebe nur dort Gesellschaft, wo
seelische Wechselwirkung zwischen den Individuen statthabe, gleichwohl inzwischen zum
gängigen Glaubensgut der Sozialpsychologie geworden ist, zu der sich mancherorts die
Soziologie verwandelt hat. Und auch E. Durkheim, mit dem — neben Max Weber — manche
Autoren erst die wissenschaftliche Phase der Soziologie beginnen lassen möchten, ist
hierzulande bis in die jüngste Zeit kaum beachtet worden. Die „französische Schule" der
Soziologie, die sich um ihn scharte, hat indessen viele Jahrzehnte hindurch nicht bloß das
geistige Leben der Dritten Republik, sondern auch die Entwicklung der Soziologie in Nord-
und Südamerika, in Japan und Vorderasien mitbestimmt; Juristen und Linguisten, Ethnologen
und Nationalökonomien, Psychologen und Moralphilosophen standen unter ihrem Einfluß,
der in Frankreich auch heute noch nicht erloschen ist, nicht zuletzt dank dem wohl
selbständigsten Schüler Durkheims, Maurice Halbwachs, dessen letzte, unvollendet
gebliebene Arbeit hier erstmals in deutscher Sprache vorgelegt wird.
Die Durkheim-Schule wehrte sich lange gegen die Psychologisierung soziologischer
Tatbestände, aber das „kollektive Bewußtsein", das zugleich das „Gewissen der Gruppe" ist,
da es sich, nach Durkheims Einsicht, in den Normen und Regulierungen niederschlägt, die das
Verhalten der Einzel-Individuen und selbst ihre Gefühle, ihre Glaubensvorstellungen und
noch ihr Denken bestimmen, — dieses Generalthema der Durkheimschen Soziologie ist, wie
wir heute wissen, der Sozialpsychologie keineswegs so fremd, wie dies Durkheims

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Argwohn gegenüber der psychologischen Ausdeutung sozialer Fakten und die schroffe
Forderung, sich nicht der Introspektion, sondern objektiver Verfahren zu bedienen, anfangs
wahrhaben wollte. Freilich geriet ihm dies kollektive Bewußtsein, mit dem er einen
entscheidenden Sachverhalt sozialen Lebens mißverständlich bezeichnete, unter der Hand
gelegentlich zu einer fast metaphysisch anmutenden Substanz; zu den Verdiensten von
Halbwachs zählt, diesen Begriff entmythologisiert zu haben.
Maurice Halbwachs, 1877 in Reims geboren, war zunächst, wie seine Lehrer Bergson und
Durkheim auch, lange Jahre im höheren Schuldienst tätig, begann währenddessen jedoch mit
einem neuen Studium — der Rechts- und Sozialwissenschaften und der Mathematik — und
lehrte danach in Caen, Straßburg und an der Sorbonne. Er gehörte der Académie des Sciences
morales et politiques und dem Institut international de Statistique an, arbeitete am
Internationalen Arbeitsamt in Genf und im Völkerbundausschuß für Fragen der
Arbeiterernährung mit, präsidierte seit 1938 dem Institut français de Sociologie, war
Vizepräsident der Société de Psychologie und erhielt, wenige Tage, bevor er deportiert wurde,
am Collège de France eine Professur für Sozialpsychologie. Am 16. März 1945, fünf Tage
nach seinem Geburtstage und unmittelbar vor der Befreiung, wurde er in Buchenwald
ermordet.
Anfangs hatte er sich literarischen und, vor allem, philosophischen Studien hingegeben und
über Stendhal und Leibniz gearbeitet, aber zunehmend erlangte die Soziologie sein Interesse;
sie war im genauen Wortsinn noch eine junge Wissenschaft, und es reizte ihn, die neuen
Wege mitzubahnen, die sie von der Spekulation, als die sie zu großem Teile von den
Zeitgenossen noch betrieben wurde, zur empirischen Wissenschaft leiten sollten. Er stützte
sich hierbei auf die Statistik und diejenigen Arbeiten, in denen er sich ihrer bedient hat — die
Untersuchung über die Grundstückpreise und die soziale Schichtung in Paris, über die
Moralstatistik Quetelets, über die soziale Morphologie, über die Lebensverhältnisse der
Arbeiterklasse zum Beispiel — sind Musterstücke früher empirischer Forschung, die von der
theoretischen Soziologie einst, was heute nicht übersehen werden sollte, noch kaum
berücksichtigt wurde. Freilich hat Halbwachs davor gewarnt, die Statistik als diejenige Form
der Erfahrung aufzufassen, auf die die Soziologie sich allein verlassen dürfe;

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er ist zwar — unter dem Einfluß seines Freundes Simiand — anfangs durchaus dieser
Überzeugung gewesen, aber im Fortgang seiner soziologischen Studien nahmen die
Vorbehalte gegenüber dem allzu eng gefaßten Begriff der Erfahrung zu, zu dem die Statistik
die Realität des Sozialen verdünnt.
Denn zu dieser Realität und zu ihrer Erfahrung zählt auch, was sich nicht ohne weiteres
quantifizieren läßt: das Gedächtnis und das Urteil der Individuen. Aber zur gleichen Realität
zählt auch, daß Gedächtnis und Urteil spezifischen sozialen Bedingungen unterliegen, die
gleichsam den Rahmen abgeben, in dessen Zusammenhang erinnert und gedacht wird:
innerhalb kollektiver Vorstellungen, die allerdings von Gesellschaft zu Gesellschaft, von
Klasse zu Klasse, Gruppe zu Gruppe variieren und die dennoch jeweils für eine Gesellschaft,
eine Klasse, eine Gruppe — und sei es auch nur die einer Familie — bezeichnend sind.
Glaubte Bergson die „wirkliche Zeit" als ein unablässig strömendes Bewußtsein vom
physikalischen, aus Raumpunkten abstrahierten Zeitbegriff, wie ihn auch die Historiker
benützten, ablösen zu können, so zeigte Halbwachs, daß sie vielmehr vom kollektiven
Gedächtnis abhängt, das, unendlich vielfältig, das Bild der vergangenen Geschehnisse
rekonstruiert, es bewahrt und zugleich den Vorstellungen und Erwartungen anpaßt und
eingliedert, die der Vergangenheit und der Gegenwart jeweils entgegengebracht werden:
Tradiertes bleibt sich nicht gleich und das Neue ist im Vergangenen enthalten.
Seit Halbwachs 1925 in den „Sozialen Rahmen des Gedächtnisses" nachzuweisen
unternommen hatte, daß die (datierbaren) Erinnerungen der Individuen sich an einem sozialen
Zusammenhang orientieren, dank dessen sie der Erinnerung erst fähig sind, hat ihn das
Problem des sozialen Denkens nicht verlassen. Er faßte es als ein Gedächtnis, dessen Inhalt
aus kollektiven Erinnerungen besteht, durch die Vergangenes in einer Weise wiederhergestellt
werde, daß es auf aktuelle Bedürfnisse zu antworten vermag; er führte es in der „Legendären
Topographie der Evangelien im Heiligen Lande" 1941 aus. Seine für die Wissenssoziologie
wie die Sozialpsychologie gleichermaßen bemerkenswerten Reflexionen über die
Beziehungen von Gedächtnis und Gesellschaft wurden durch seine Ermordung unterbrochen.
Sie sind sein Vermächtnis an die Soziologie der Gegenwart, sich ihrer selbst zu erinnern.
Inhalt
I. Kapitel
Kollektives und individuelles Gedächtnis ......... l
Gegenüberstellung .............. l
Das Vergessen durch Loslösung von einer Gruppe ...... 3
Notwendigkeit einer gefühlsmäßigen Übereinstimmung ..... 11
Von der Möglichkeit eines strikt individuellen Gedächtnisses ... 14
1. Kindheitserinnerungen ............ 16
2. Erinnerungen des Erwachsenen ......... 22
Die individuelle Erinnerung als Grenze der kollektiven Interferenzen . 26
II. Kapitel
Kollektives und historisches Gedächtnis ......... 34
Autobiographisches und historisches Gedächtnis : ihr scheinbarer Widerstreit 34 Ihre reelle
gegenseitige Durchdringung (Die Geschichte der Gegenwart) 39 Die von der Kindheit an
erlebte Geschichte ........ 45
Das lebendige Band der Generationen ......... 48
Rekonstruierte Erinnerungen ............ 55
Verhüllte Erinnerungen ............. 58
Weitgefaßte Rahmen und nahehegende Milieus ....... 64
Abschließende Gegenüberstellung des kollektiven Gedächtnisses und der
Geschichte ............... 66
Die Geschichte, Bild der Ereignisse; die kollektiven Gedächtnisse, Sitz
der Traditionen .............. 71
III. Kapitel
Das kollektive Gedächtnis und die Zeit ......... 78
Die soziale Einteilung der Zeit ........... 78
Die reine (individuelle) Zeitdauer und die „gemeinsame Zeit" nach Bergson 80
Kritik des Bergsonschen Subjektivismus ......... 85
Das Datum, Rahmen der Erinnerung .......... 90
Abstrakte Zeit und reelle Zeit ........... 92
Die „universale Zeit" und die historischen Zeiten ....... 94
Historische Chronologie und kollektive Tradition ....... 99
Vielfalt und Heterogenität der Arten der kollektiven Zeitdauer . . . 100
Undurchdringlichkeit der Arten der kollektiven Zeitdauer ..... 107
Langsamkeit und Schnelligkeit des sozialen Werdens ...... Hl
Die unpersönliche Substanz der dauerhaften Gruppen ..... 114
Permanenz und Transformierung der Gruppen: ....... 117
Die Epochen der Familie ........... 117
Das Weiterleben entschwundener Gruppen ....... 121
Die kollektive Zeitdauer, einzige Grundlage des sogenannten individuellen
Gedächtnisses ............... 123
IV. Kapitel
Das kollektive Gedächtnis und der Raum ....... 127
Die Gruppe in ihrem räumlichen Rahmen. Macht des materiellen Milieus 127
Die Steine der Stadt ............. 130
Lagen und Verlagerungen. Festhalten der Gruppe an ihrem Platz . . 134
Gruppierungen, die scheinbar keine räumlichen Grundlagen haben: juristische, wirtschaftliche
und religiöse Gruppierungen ...... 130
Das Sicheinfügen des kollektiven Gedächtnisses in den Raum .... 142
Der juristische Raum und das Rechtsgedächtnis ..... 143
Der wirtschaftliche Raum ........... 149
Der religiöse Raum .............. 156
Erstes Kapitel

Kollektives und individuelles Gedächtnis

Gegenüberstellung
Wir ziehen Zeugenaussagen heran, um zu erhärten oder zu entkräften, aber auch um zu
vervollständigen, was wir von einem Ereignis wissen, über das wir schon in irgendeiner
Weise unterrichtet sind, von dem uns indessen mancherlei Umstände unklar bleiben. Der erste
Zeuge, auf den wir uns stets berufen können, sind jedoch wir selbst. Wenn jemand sagt: „Ich
traue meinen Augen nicht", so fühlt er, daß zwei Wesen in ihm sind: das eine, das
wahrnehmende Wesen, kommt einem Zeugen gleich, der über das Gesehene vor jenem Ich
aussagt, das nicht gegenwärtig, sondern vielleicht früher gesehen und sich vielleicht ebenfalls
eine Meinung unter Zuhilfenahme der Zeugnisse anderer gebildet hat. So hilft uns das, was
wir wahrnehmen, wenn wir in eine Stadt zurückkommen, in der wir schon einmal gewesen
sind, ein Bild zu rekonstruieren, von dem etliche Teile vergessen waren. Wenn das, was wir
heute sehen, sich in den Rahmen unserer alten Erinnerungen einfügt, so passen sich
umgekehrt diese Erinnerungen der Gesamtheit unserer gegenwärtigen Wahrnehmungen an. Es
ist, als konfrontierten wir mehrere Zeugenaussagen. Da diese trotz gewisser Divergenzen im
Grundlegenden übereinstimmen, können wir eine Gesamtheit von Erinnerungen
rekonstruieren, in der wir dies Wesentliche wiedererkennen.
Gewiß, wenn sich unser Eindruck nicht nur auf unsere Erinnerung, sondern auch auf die der
anderen stützt, wird unser Vertrauen in seine Genauigkeit größer sein — so als sei die gleiche
Erfahrung nicht nur von derselben Person, sondern von mehreren Personen von neuem
gemacht worden. Treffen wir einen Freund wieder, von dem das Leben uns getrennt hat,
bereitet es uns anfangs einige Mühe, den Kontakt mit ihm wiederaufzunehmen. Aber
beginnen wir nicht,

gemeinsam zu denken und uns zu erinnern, sobald wir gemeinsam verschiedene Umstände
haben lebendig werden lassen, an die jeder von uns sich erinnert, und die nicht dieselben sind,
obgleich sie mit denselben Ereignissen zusammenhängen? Gewinnt das vergangene
Geschehen nicht an Gestalt, meinen wir nicht, es intensiver wiederzuerleben, weil wir es uns
nicht mehr allein vergegenwärtigen, weil wir es jetzt so sehen wie wir es früher gesehen
haben, als wir es zugleich mit unseren Augen mit denen eines anderen betrachteten?
Aber unsere Erinnerungen bleiben kollektiv und werden uns von anderen Menschen ins
Gedächtnis zurückgerufen — selbst dann, wenn es sich um Ereignisse handelt, die allein wir
durchlebt und um Gegenstände, die allein wir gesehen haben. Das bedeutet, daß wir in
Wirklichkeit niemals allein sind. Es ist nicht notwendig, daß andere Menschen anwesend
sind, die sich materiell von uns unterscheiden: denn wir tragen stets eine Anzahl
unverwechselbarer Personen mit und in uns.
Ich bin zum ersten Mal in London und gehe dort wiederholt bald mit diesem, bald mit jenem
Begleiter spazieren. Einmal ist es ein Architekt, der mich auf die Bauten, ihre Proportionen,
auf ihre Lage aufmerksam macht; dann ist es ein Historiker: ich erfahre, zu welcher Zeit eine
bestimmte Straße angelegt worden ist, daß in jenem Haus ein berühmter Mann geboren
wurde, daß hier oder dort bemerkenswerte Ereignisse stattgefunden haben. Gemeinsam mit
einem Maler bin ich für die Farbtönung der Parkanlagen empfänglich, für die Linienführung
der Paläste, der Kirchen, für das Spiel von Licht und Schatten auf den Mauern und Fassaden
von Westminster, der Kathedrale, auf der Themse. Ein Kaufmann, ein Geschäftsmann führt
mich durch die bevölkerten Straßen der Innenstadt, läßt mich vor den Läden, den
Buchhandlungen, den Kaufhäusern innehalten. Aber selbst wenn ich nicht geführt worden
bin, genügt es, wenn ich aus all diesen verschiedenen Betrachtungsweisen heraus verfaßte
Stadtbeschreibungen gelesen habe, wenn man mir geraten hat, diese oder jene Stadtansicht zu
betrachten — einfacher noch, wenn ich den Stadtplan studiert habe. Nehmen wir an, ich gehe
allein spazieren. Kann man sagen, daß ich an diesen Spaziergang nur individuelle
Erinnerungen, die allein mir gehören, zurückbehalte? Ich bin indessen nur scheinbar allein
spazieren gegangen. Vor Westminster habe ich daran gedacht, was mir mein Freund, der
Historiker, darüber gesagt

hatte (oder — was auf dasselbe hinausläuft — daran, was ich darüber in einem
Geschichtsbuch gelesen hatte). Auf einer Brücke habe ich die Wirkung der Perspektive
betrachtet, auf die mein Freund, der Maler, hingewiesen hatte (oder die mir auf einem
Gemälde, auf einem Stich aufgefallen war). Ich habe mich bei meinem Gang in Gedanken von
meinem Stadtplan leiten lassen. Als ich zum ersten Mal in London war — vor Saint Paul oder
Mansion House, auf dem „Strand" oder in der Umgebung von Court's of Law — brachten mir
viele Eindrücke die Romane von Dickens in Erinnerung, die ich in meiner Kindheit gelesen
hatte: so ging ich dort also mit Dickens spazieren. Von keinem dieser Augenblicke, von
keiner dieser Situationen kann ich sagen, daß ich allein war, daß ich allein nachdachte; denn
in Gedanken versetzte ich mich in diese oder jene Gruppe — in die, die ich mit dem
Architekten und darüber hinaus mit jenen Menschen, deren Interpret er nur für mich war, oder
in die, die ich mit dem Maler (und seiner Gruppe) bildete, mit dem Geometer, der den
Stadtplan gezeichnet hatte, oder mit einem Romancier. Andere Menschen haben diese
Erinnerungen mit mir gemeinsam gehabt. Mehr noch, sie helfen, mir diese ins Gedächtnis
zurückzurufen: um mich besser zu erinnern, wende ich mich ihnen zu, mache mir zeitweilig
ihre Denkungsart zu eigen; ich füge mich von neuem in ihre Gruppe ein, der ich auch
weiterhin angehöre, da ich immer noch ihre Einwirkungen erfahre und in mir manche
Vorstellungen und Denkweisen wiederfinde, die ich allein nicht hätte entwickeln können und
durch die ich mit diesen Menschen in Verbindung bleibe.

Das Vergessen durch Loslösung von einer Gruppe


So sind Zeugen im gewöhnlichen Sinne des Wortes, d. h. in materieller und fühlbarer Form
gegenwärtige Individuen, nicht notwendig, um eine Erinnerung zu bestätigen oder
heraufzubeschwören.
Sie würden uns im übrigen kaum genügen. Tatsächlich kommt es vor, daß eine oder mehrere
Personen, die ihre Erinnerungen zusammentragen, sehr genau Geschehnisse und Dinge
beschreiben können, die wir mit ihnen zugleich erlebt und gesehen haben — ja, daß sie selbst
die gesamte Folge unserer Handlungen und Worte unter bestimmten Umständen
wiedererstehen lassen können, ohne daß wir uns an irgendetwas erinnern könnten. Das
beispielsweise ist eine unbestreitbare Tatsache. Man bringt uns sichere Beweise, daß jenes

Ereignis stattgefunden hat, daß wir anwesend und aktiv daran beteiligt waren. Gleichwohl
bleibt uns die Szene fremd, so als habe ein anderer unsere Rolle gespielt. Um auf ein Beispiel
zurückzugreifen, das man uns entgegengehalten hat: es hat in unserem Leben eine bestimmte
Anzahl von Ereignissen gegeben, die notwendigerweise stattgefunden haben müssen. Es ist
gewiß, daß es einen Tag gegeben hat, an dem ich zum ersten Mal auf dem Gymnasium war,
einen Tag, an dem ich ein Schuljahr begonnen habe, etwa das dritte, das vierte usw. Obgleich
eine solche Tatsache zeitlich und räumlich lokalisiert werden kann — und selbst wenn
Verwandte und Freunde mir einen genauen Bericht darüber ablegen würden —, stehe ich
einer abstrakten Gegebenheit gegenüber, der ich keinerlei lebendige Erinnerung entsprechen
lassen kann: ich erinnere mich an nichts. Ich erkenne auch eine Gegend, durch die ich
bestimmt ein oder mehrere Male gekommen bin, nicht wieder, noch entsinne ich mich eines
Menschen, dem ich sicherlich begegnet bin. Gleichwohl sind die Zeugen da. Verhält es sich
also so, daß diese Zeugen eine völlig nebensächliche und nur komplementäre Rolle spielen,
daß sie mir zwar zweifellos dazu dienen, meine Erinnerungen zu präzisieren und zu
vervollständigen — jedoch nur unter der Voraussetzung, daß diese Erinnerungen zuerst
wiederauftauchen, d. h. daß sie in meinem Geist fortbestanden haben? Nichts darf uns hieran
jedoch erstaunen. Es genügt nicht, daß ich einem Ereignis, das andere als Zuschauer oder
Handelnde erlebt haben, beigewohnt oder an ihm teilgehabt habe, damit sich später, wenn
jene anderen diese Ereignisse in meiner Gegenwart heraufbeschwören, wenn sie ein Bild
Stück für Stück in meinem Geist neu rstehen lassen, diese künstliche Konstruktion plötzlich
belebt und das Bild sich in Erinnerung umformt. Es ist wahr, daß oft jene Bilder, die uns
durch unsere Umwelt aufgedrängt werden, den Eindruck modifizieren, den wir von einem
früheren Ereignis, von einem ehemals gekannten Menschen haben zurückbehalten können. Es
kann möglich sein, daß diese Bilder die Vergangenheit ungenau wiedergeben und daß die
Spur von Erinnerung, die wir selber daran hatten, der Wirklichkeit weit mehr entsprach:
einigen wirklichen Erinnerungen wird auf diese Weise eine kompakte Masse fiktiver
Erinnerungen beigefügt. Umgekehrt können allein die Zeugnisse anderer exakt sein, können
unsere Erinnerung korrigieren und sich mit ihr vereinen. Im einen wie im anderen Falle heißt
das: wenn jene Bilder

so eng mit unseren Erinnerungen verschmelzen und wenn sie von ihnen ihre Substanz zu
entlehnen scheinen, konnte unser Gedächtnis nicht völlig leer sein, und wir fühlten uns fähig,
aus eigener Kraft darin — wie in einem trüben Spiegel — einige Züge und (vielleicht
illusorische) Konturen wahrzunehmen, die uns das Bild der Vergangenheit wiederzugeben
vermöchten. Ebenso wie man einen Keim, damit er Kristalle bilde, in eine gesättigte Lösung
einführen muß, ist es notwendig, dieser Gesamtheit uns fremder Zeugnisse so etwas wie den
Samen eines Erinnerns zuzuführen, damit sie sich zu einer konstanten Masse von
Erinnerungen festigt. Wenn dagegen jenes Ereignis sozusagen keine Spur in unserem
Gedächtnis hinterlassen zu haben scheint, d. h. wenn wir uns mangels dieser Zeugen völlig
unfähig fühlen, es auch nur teilweise zu rekonstruieren, kann man uns eine lebensvolle
Beschreibung davon geben — sie wird gleichwohl niemals eine Erinnerung sein.
Wenn wir behaupten, daß eine Zeugenaussage uns nichts ins Gedächtnis rufen wird, wenn
nicht irgendeine Spur des vergangenen Geschehens, das zu beschwören es gilt, in unserem
Geist haftet, so meinen wir im übrigen damit nicht, daß die Erinnerung oder ein Teil dieser
Erinnerung unverändert in uns hat fortbestehen müssen, sondern nur, daß wir von dem
Zeitpunkt an, zu dem wir und die Zeugen derselben Gruppe angehörten und in bestimmter
Hinsicht gemeinschaftlich dachten, mit dieser Gruppe in Verbindung und fähig geblieben
sind, uns mit ihr zu identifizieren und unsere Vergangenheit mit der ihren zu vereinen.
Ebensogut könnte man sagen: seit diesem Augenblick dürfen wir keinesfalls weder die
Gewohnheit noch das Vermögen verloren haben, als Mitglied dieser Gruppe, der wir und ein
bestimmter Zeuge angehörten, zu denken und uns zu erinnern, das heißt, die Dinge aus ihrer
Sicht heraus zu sehen und von allen Kenntnissen Gebrauch zu machen, die ihren Mitgliedern
gemeinsam sind.
Nehmen wir den Fall eines Professors, der zehn oder fünfzehn Jahre lang an einem
Gymnasium unterrichtet hat. Er trifft einen seiner früheren Schüler und erkennt ihn kaum
wieder. Dieser spricht von seinen damaligen Schulkameraden. Er ruft sich ihre Plätze auf den
verschiedenen Klassenbänken ins Gedächtnis zurück. Er läßt manchen Vorfall schulischer Art
Wiederaufleben, der sich in dieser Klasse in einem bestimmten Jahr ereignet hatte, er erwähnt
die Er-

folge dieses oder jenes Kameraden, die Wunderlichkeiten und Streiche eines anderen,
bestimmte Abschnitte des Lehrstoffes, bestimmte Erklärungen, die den Schülern besonders
aufgefallen sind oder sie besonders interessiert haben. Nun kann es sehr wohl möglich sein,
daß der Lehrer sich an nichts von allem erinnert. Dennoch täuscht sich sein Schüler nicht. Es
dürfte im übrigen gewiß sein, daß dem Lehrer in jenem Jahr, während jedes einzelnen Tages,
das Bild der Gesamtheit der Schüler und die Physiognomie eines jeden einzelnen stets
gegenwärtig waren — ebenso wie all die Ereignisse und Zwischenfälle, die den Rhythmus des
Klassenlebens verändern, beschleunigen, unterbrechen oder verlangsamen und die bewirken,
daß diese Klasse eine Geschichte hat. Wie hat er all dies vergessen können? Und woran liegt
es, daß die Worte seines ehemaligen Schülers außer wenigen vagen Anklängen keinerlei Echo
in seinem Gedächtnis wachrufen? Der Grund liegt darin, daß die von einer Klasse gebildete
Gruppe ihrem Wesen nach ephemer ist — zumindest wenn man die Klasse als gleichzeitig
aus den Schülern und dem Lehrer bestehend auffaßt — und darin, daß sie nicht mehr dieselbe
ist, sobald die Schüler, dieselben vielleicht, von einer Klasse in die andere kommen und sich
auf anderen Bänken wiederfinden. Zu Ende des Schuljahres zerstreuen sich die Schüler und
diese bestimmte und besondere Klasse wird sich nie wieder neu bilden. Jedenfalls muß eine
Unterscheidung vorgenommen werden. Für die Schüler wird die Klasse noch einige Zeit
fortbestehen; zumindest wird sich ihnen häufig die Gelegenheit bieten, an sie
zurückzudenken, sich an sie zu erinnern. Da sie etwa gleichaltrig sind, vielleicht demselben
sozialen Milieu angehören, werden sie nicht vergessen, daß sie unter demselben Lehrmeister
einander nähergebracht wurden. Die Lehren, die er ihnen übermittelt hat, tragen sein Gepräge;
oft, wenn sie an diese Lehren und an manches, was mit ihnen zusammenhing, zurückdenken
werden, werden sie den Lehrer vor sich sehen, der sie ihnen vermittelt hat, und auch ihre
Klassenkameraden, die sie zur gleichen Zeit wie sie empfangen haben. Für den Lehrer selbst
wird es ganz anders sein. Als er in seiner Klasse war, übte er seine Funktion aus; der
technische Aspekt seiner Tätigkeit ist aber ebenso unabhängig von dieser wie von irgendeiner
anderen seiner Klassen. Tatsächlich unterscheidet sich für den Lehrer, der alljährlich
denselben Lehrstoff wiederholt, ein jedes dieser Unterrichtsjahre nicht so deutlich von den
anderen wie für die

Schüler jedes ihrer auf dem Gymnasium verbrachten Schuljahre. Während für die Schüler
Unterricht, Ermahnungen, Verweise, ja selbst Gunstbezeigungen des Lehrers, seine Gesten,
seine Sprechweise, sogar seine Scherze neu sind, bedeuten sie vielleicht für den Lehrer nur
eine Folge gewohnter Handlungen und Verhaltensweisen, die sein Beruf mit sich bringt.
Nichts von alledem kann als Grundlage einer Gesamtheit von Erinnerungen dienen, die sich
eher auf diese Klasse als auf eine andere beziehen würden. Es besteht keine dauerhafte
Gruppe, der der Lehrer weiterhin angehören würde, an die zurückzudenken er Veranlassung
hätte, und deren Betrachtungsweise er sich wieder zueigen machen könnte, um sich mit ihr
der Vergangenheit zu erinnern.
Aber so ist es in allen Fällen, in denen andere für uns Ereignisse rekonstruieren, die wir mit
ihnen erlebt haben, ohne daß wir in uns das Gefühl des Schön-Gesehenen wieder aufleben
lassen könnten. Es besteht in der Tat eine Diskontinuität zwischen diesen Ereignissen, den
Menschen, die daran beteiligt waren und uns selbst — nicht nur weil die Gruppe, innerhalb
derer wir die Ereignisse wahrgenommen haben, materiell nicht mehr besteht, sondern auch
weil wir nicht mehr an sie gedacht haben und über keine Mittel verfügen, ihr Bild zu
rekonstruieren. Jedes der Mitglieder dieser Gesellschaft wurde in unseren Augen durch seinen
Platz innerhalb der Gesamtheit der anderen Mitglieder charakterisiert und nicht durch seine
uns unbekannten Beziehungen zu anderen Milieus. Alle Erinnerungen, die innerhalb der
Klasse entstehen konnten, stützen sich aufeinander und nicht auf außerhalb dieser Gruppe
liegende Erinnerungen. Die Dauer eines solchen Erinnerns war also zwangsläufig auf die
Existenzdauer der Gruppe beschränkt. Wenn trotzdem Zeugen fortbestehen, wenn
beispielsweise ehemalige Schüler sich erinnern und versuchen können, ihrem Lehrer
Ereignisse zu vergegenwärtigen, an die dieser sich nicht erinnert, so weil diese Schüler
innerhalb der Klasse mit einigen Kameraden oder außerhalb der Klasse mit ihren Eltern
kleine, engere, auf jeden Fall aber dauerhaftere Gemeinschaften bildeten, und weil das
Klassengeschehen auch diese kleinen Gesellschaften interessierte, sich in ihnen auswirkte und
seine Spuren hinterließ. Aber der Lehrer war von ihnen ausgeschlossen — oder zumindest
wußte er selbst nichts davon, wenn diese Gesellschaften ihn mit in sich einbezogen.

Wie oft kommt es nicht tatsächlich vor, daß sich innerhalb der verschiedenartigen
Gesellschaften, die die Menschen untereinander bilden, einer von ihnen eine falsche
Vorstellung davon macht, welchen Raum er im Denken des anderen einnimmt, und die Quelle
wievieler Mißverständnisse und Desillusionen ist nicht diese Verschiedenheit der
Betrachtungsweisen. Im Bereich der gefühlsbedingten Beziehungen, in dem die Einbildung
eine große Rolle spielt, erfährt ein menschliches Wesen, das sehr geliebt wird und nur mäßig
liebt, oft erst sehr spät von der Bedeutung, die seinen geringsten Schritten, seinen
unbedeutendsten Worten beigemessen wurde, oder wird sich ihrer niemals ganz bewußt. Der
Mensch, der am stärksten geliebt hat, wird dem anderen später Erklärungen und
Versprechungen ins Gedächtnis rufen, an die dieser sich nicht erinnert. Das kann nicht immer
auf Unbeständigkeit, Untreue oder Leichtsinn zurückgeführt werden, sondern darauf, daß der
eine weit weniger stark als der andere an dieser Gesellschaft beteiligt war, die auf einem
ungleich geteilten Gefühl beruhte.
So würde ein sehr frommer Mann, dessen Leben schlicht erbaulich war und den man nach
seinem Tode heilig gesprochen hat, sehr erstaunt sein, würde er ins Leben zurückkehren und
seine Legende lesen können; diese jedoch ist an Hand sorgfältig aufbewahrter Erinnerungen
zusammengestellt und gläubig niedergeschrieben worden, und zwar von jenen Menschen, in
deren Mitte der dargestellte Abschnitt seines Lebens gelebt wurde. In diesem Falle ist es
wahrscheinlich, daß viele der zusammengetragenen Ereignisse, die der Heilige nicht
wiedererkennen würde, nicht stattgefunden haben; aber es gibt Begebenheiten, die ihm
möglicherweise nicht aufgefallen sind, weil er seine Aufmerksamkeit auf das innere Bild
Gottes konzentrierte, die aber von den ihn umgebenden Menschen bemerkt wurden, da ihre
Aufmerksamkeit vor allem auf ihn gerichtet war.
Jedoch ist es möglich, daß man sich zunächst ebensosehr wie andere und sogar noch stärker
für ein bestimmtes Ereignis interessiert und trotzdem nichts davon in Erinnerung behält, so
daß man es nicht wiedererkennt, wenn die anderen es einem beschreiben, weil man seit dem
Zeitpunkt, zu dem es geschehen ist, die Gruppe, von der es bemerkt wurde, verlassen hat und
nicht wieder in sie zurückgekehrt ist. Es gibt Menschen, von denen man sagt, daß sie ständig
in der Gegenwart leben, das heißt, daß sie sich nur für die Menschen und

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Dinge interessieren, in deren Mitte sie sich augenblicklich befinden und die mit dem
derzeitigen Gegenstand ihrer Tätigkeit, Beschäftigung oder Zerstreuung in Verbindung
stehen. Sobald ein Geschäft abgeschlossen, eine Reise beendet ist, denken sie nicht mehr an
diejenigen zurück, die ihre Partner oder Gefährten waren. Sogleich werden sie von anderen
Interessen erfaßt, in andere Gruppen aufgenommen. Eine Art lebenswichtiger Instinkt befiehlt
ihnen, ihr Denken von allem abzuwenden, was sie von ihrer augenblicklichen Beschäftigung
ablenken könnte. Manchmal ergeben die Umstände, daß diese Menschen sich gleichsam im
Kreise drehen und von einer Gruppe der anderen zugeführt werden — so wie in jenen alten
Tanzfiguren, bei denen man, ständig den Partner wechselnd, gleichwohl denselben in kurzen
Intervallen wiederfindet. So verliert man sie nur, um sie wiederzufinden, und da dieselbe
Fähigkeit des Vergessens sich abwechselnd zum Nachteil und zum Vorteil jeder der Gruppen,
die sie durchqueren, auswirkt, kann man sagen, daß man sie ganz und gar wiederfindet. Aber
es kommt auch vor, daß sie hinfort einen Weg verfolgen, der nicht mehr jenen kreuzt, den sie
verlassen haben, einen Weg, der sie sogar mehr und mehr von diesem entfernt. Trifft man
dann später Mitglieder der Gesellschaft wieder, die uns so sehr fremd geworden ist, befindet
man sich vergeblich erneut in ihrer Mitte — es gelingt einem nicht, die alte Gruppe mit ihnen
neuzubilden. Es ist, als gelange man von der Seite her an eine Straße, die man früher
entlanggegangen ist, so daß man sie nun von einem Punkt aus sieht, von dem aus man sie
niemals betrachtet hat. Man ordnet ihre verschiedenen Einzelheiten in eine andere, durch
unsere augenblicklichen Vorstellungen gebildete Gesamtheit ein. Es scheint, als komme man
auf eine neue Straße. Tatsächlich nehmen jene Einzelheiten ihren früheren Sinn nur im
Zusammenhang mit einer ganz anderen Gesamtheit an, die von unserem Denken nicht mehr
umspannt wird. Man wird uns alle Einzelheiten sowie ihre Anordnung ins Gedächtnis rufen
können. Man müßte indessen von der Gesamtheit ausgehen. Dies jedoch ist uns nicht mehr
möglich, da wir uns seit langem von ihr entfernt haben und zu weit in die Vergangenheit
zurückgehen müßten.
Alles geht hier vor sich wie im Fall jenes pathologischen Gedächtnisschwundes, der einen
ganz bestimmten und begrenzten Komplex von Erinnerungen betrifft. Es ist festgestellt
worden, daß man bis-

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weilen infolge eines Gehirnschocks vergißt, was sich während eines gesamten, im
allgemeinen vor dem Schock liegenden und mit einem bestimmten Datum beginnenden
Zeitraumes zugetragen hat, während man sich an alles übrige erinnern kann. Oder man
vergißt eine ganze Kategorie gleichgearteter Erinnerungen, welches auch der Zeitpunkt
gewesen sein mag, zu dem man sie erworben hat: so beispielsweise alles, was man von einer
fremden Sprache wußte. Vom physiologischen Standpunkt aus scheint das leicht erklärbar —
nicht etwa dadurch, daß die Erinnerungen an denselben Zeitraum oder die Erinnerungen
gleicher Art in einen bestimmten, allein verletzten Teil des Gehirns lokalisiert seien; sondern
die Gehirnfunktion des Erinnerns muß in ihrer Gesamtheit angegriffen sein. Das Gehirn hört
daraufhin auf, bestimmte — und nur diese — Tätigkeiten zu verrichten, ebenso wie ein
geschwächter Organismus während einiger Zeit unfähig ist, zu gehen oder zu sprechen oder
Nahrung zu verwerten, obgleich alle ändern Funktionen fortbestehen. Jedoch könnte man
ebensogut sagen, daß die allgemeine Fähigkeit angegriffen ist, mit den Gruppen in
Verbindung zu treten, aus denen sich die Gesellschaft zusammensetzt. Daraufhin löst man
sich von einer oder einigen unter ihnen los — und von diesen allein. Die Gesamtheit der
Erinnerungen, die wir mit ihnen gemeinsam haben, verschwindet jäh. Einen Abschnitt seines
Lebens vergessen heißt: die Verbindung zu jenen Menschen verlieren, die uns zu jener Zeit
umgaben. Eine fremde Sprache vergessen bedeutet: nicht mehr imstande sein, jene Menschen
zu verstehen, die uns in dieser Sprache anredeten — mochten sie im übrigen lebendig und
gegenwärtig sein oder Autoren, deren Werke wir lasen. Wenn wir uns ihnen zuwandten,
nahmen wir eine bestimmte Haltung ein, ebenso wie jedweder menschlichen Gesamtheit
gegenüber. Es hängt nun nicht mehr von uns ab, diese Haltung einzunehmen und uns dieser
Gruppe zuzuwenden. Nun können wir jemanden treffen, der uns versichert, daß wir diese
Sprache sehr wohl gelernt, können beim Durchblättern unserer Bücher und Hefte auf jeder
Seite sichere Beweise dafür finden, daß wir diesen Text übersetzt haben, daß wir diese Regeln
anzuwenden wußten. Nichts von alledem wird genügen, den unterbrochenen Kontakt
zwischen uns und jenen Menschen wiederherzustellen, die in dieser Sprache sprechen oder
geschrieben haben. Das bedeutet, daß wir nicht mehr genug Aufmerksamkeit aufzubringen
vermögen, um

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gleichzeitig mit dieser und mit anderen Gruppen in Verbindung zu bleiben, an denen wir
zweifellos enger und unmittelbarer festhalten. Es ist im übrigen nicht erstaunlich, daß diese
Erinnerungen — und ausschließlich sie — auf diese Weise alle zugleich ausgeschaltet
werden. Es besagt, daß sie ein unabhängiges System bilden, da sie Erinnerungen derselben
Gruppe, untereinander verbunden und aufeinander gestützt sind, und daß diese Gruppe sich
deutlich von allen anderen unterscheidet, so deutlich, daß man sich zugleich innerhalb aller
jener und außerhalb dieser einen befinden kann. Liegen keine pathologischen Störungen vor,
entfernen und isolieren wir uns auf vielleicht weniger brüske und brutale Weise allmählich
von manchen Milieus, die uns nicht vergessen, die wir selbst jedoch nur vage in Erinnerung
behalten. Mit allgemeinen Begriffen können wir die Gruppen, denen wir angehört haben,
noch umschreiben. Aber sie interessieren uns nicht mehr, weil alles uns gegenwärtig von
ihnen entfernt.

Notwendigkeit einer gefühlsmäßigen Übereinstimmung


Nehmen wir nunmehr an, wir haben eine Reise mit einer Gruppe von Begleitern gemacht, die
wir seitdem nicht wieder gesehen haben. Unsere Gedanken waren ihnen damals zugleich sehr
nahe und sehr fern. Wir plauderten mit ihnen. Wir interessierten uns mit ihnen für die
Einzelheiten der Fahrtroute und die verschiedenen Zwischenfälle der Reise. Aber gleichzeitig
nahmen unsere Gedanken einen Lauf, der sich ihrer Kenntnis entzog. Tatsächlich brachten
wir Gefühle und Vorstellungen mit, deren Ursprung bei anderen — wirklichen oder
imaginären — Gruppen lag: innerlich unterhielten wir uns mit anderen Menschen; während
wir durch dieses Land fuhren, bevölkerten wir es in Gedanken mit anderen Wesen: ein
bestimmter Ort, ein bestimmter Umstand nahm dann in unseren Augen eine Bedeutung an, die
er nicht für jene haben konnte, die uns begleiteten. Später werden wir vielleicht einen von
ihnen wiedertreffen und er wird Besonderheiten dieser Reise erwähnen, an die er sich erinnert
und auf die wir uns müßten besinnen können, wenn wir mit denen in Verbindung geblieben
wären, die die Reise mit uns gemacht und die seitdem oft zusammen über sie gesprochen
haben. Aber uns ist alles entfallen, was er berichtet und was uns ins Gedächtnis
zurückzurufen er sich vergeblich bemüht. Dagegen werden wir uns an das

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erinnern, was wir damals ohne Wissen der anderen empfunden haben — so als habe sich
diese Art Erinnerung unserem Gedächtnis tiefer eingeprägt, weil sie allein uns anging. So
vermögen in diesem Fall einerseits die Zeugenaussagen anderer nicht, unsere verblaßte
Erinnerung wieder aufzufrischen, andererseits erinnern wir uns scheinbar ohne Beihilfe
anderer an Eindrücke, die wir niemandem mitgeteilt haben.
Folgt daraus, daß das individuelle Gedächtnis in seiner Eigenschaft als Gegenteil des
kollektiven Gedächtnisses eine notwendige und hinreichende Voraussetzung für das
Auffinden und Wiedererkennen einer Erinnerung darstellt? In keiner Weise. Denn wenn diese
erste Erinnerung verblaßt ist, wenn es uns nicht mehr möglich ist, sie wieder aufzufrischen, so
deshalb, weil wir seit langem nicht mehr der Gruppe angehören, in deren Gedächtnis sie
aufbewahrt wurde. Soll unser Gedächtnis das der anderen zuhilfe nehmen, genügt es nicht,
daß diese uns ihre Zeugnisse liefern: unser Gedächtnis darf obendrein nicht aufgehört haben,
mit dem ihren zu harmonieren, und es müssen genügend Verbindungspunkte zwischen dem
einen und dem anderen bestehen, damit die neuerweckte Erinnerung auf einer gemeinsamen
Grundlage rekonstruiert werden kann. Um eine Erinnerung zu wecken, genügt es nicht, Stück
um Stück das Bild eines vergangenen Ereignisses wiederherzustellen. Dieser Wiederaufbau
muß von gemeinsamen Gegebenheiten und Vorstellungen aus unternommen werden, die
sowohl in unserem Bewußtsein als auch in dem der anderen enthalten sind, da sie
ununterbrochen vom einen zum anderen überwechseln — und umgekehrt —, was nur möglich
ist, wenn alle Individuen derselben Gesellschaft angehört haben und weiterhin angehören. So
nur ist zu verstehen, daß eine Erinnerung zugleich wiedererkannt und rekonstruiert werden
kann. Was bedeutet es mir, daß die anderen noch von einem Gefühl beherrscht werden, das
ich früher mit ihnen teilte und das ich heute nicht mehr empfinde? Ich kann es nicht mehr in
mir erwecken, da ich seit langem nichts mehr mit meinen früheren Gefährten gemeinsam
habe. Dafür kann weder mein noch ihr Gedächtnis verantwortlich gemacht werden, sondern
nur das Verlöschen eines breiteren, kollektiven Gedächtnisses, das beide zugleich umfaßte.
So trennen sich bisweilen Menschen, die durch die Notwendigkeit eines gemeinsamen
Unternehmens, durch die Verehrung eines unter ihnen, durch verwandt-

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schaftliche Bande, durch eine künstlerische Beschäftigung usw. zusammengehalten wurden,


später in mehrere Gruppen: jede dieser Gruppen ist zu begrenzt, um alles beinhalten zu
können, was das Denken der Partei, des literarischen Kreises, der religiösen Versammlung,
die sie früher alle zusammen umfaßten, beschäftigt hat. Auch widmen sich die Gruppen nur
einem Aspekt jenes Denkens und bewahren ein Andenken allein an einen Teil jener Tätigkeit.
Daher mehrere Bilder einer gemeinsamen Vergangenheit, die nicht übereinstimmen und von
denen keines wirklich zutreffend ist. Tatsächlich kann von dem Augenblick an, in dem sich
die Gruppen getrennt haben, keine von ihnen den gesamten Inhalt des ehemaligen Denkens
wiedergeben. Wenn nur zwei dieser Gruppen von neuem miteinander in Verbindung treten,
fehlt ihnen zum gegenseitigen Verständnis und zum gegenseitigen Bestätigen der Erinnerung
an diese gemeinsam gelebte Vergangenheit die Fähigkeit, die Schranken zu vergessen, die sie
gegenwärtig trennen. Ein Mißverständnis lastet auf ihnen wie auf zwei Menschen, die sich
wiederfinden und die gleichsam nicht mehr dieselbe Sprache sprechen. Was die Tatsache
anbetrifft, daß wir Erinnerungen an Eindrücke bewahren, um die keiner unserer Gefährten der
damaligen Zeit hat wissen können, so stellt auch sie keinen Beweis dafür dar, daß unser
Gedächtnis sich selbst genügen kann und nicht stets der Unterstützung durch das der anderen
bedarf. Nehmen wir an, wir seien zum Zeitpunkt des Antritts unserer Reise mit einer Gruppe
von Freunden lebhaft mit Dingen beschäftigt gewesen, von denen diese nichts wußten; von
einer Vorstellung oder einem Gefühl völlig in Anspruch genommen, bezogen wir hierauf
alles, was wir sahen oder hörten: wir nährten unser geheimes Denken mit allem, was
innerhalb unseres Wahrnehmungskreises mit diesen Dingen verbunden werden konnte. Es
war, als hätten wir die Gruppe mehr oder minder entfernter menschlicher Wesen, mit der wir
durch unsere Überlegungen verknüpft waren, nicht verlassen; wir fügten in sie alle Elemente
des neuen Milieus ein, die sie nur aufnehmen konnte; diesem Milieu — an sich und vom
Standpunkt unserer Begleiter aus betrachtet — gehörten wir jedoch nur zum geringsten Teil
unseres Selbst an. Wenn wir später an die Reise zurückdenken, kann man nicht sagen, daß wir
uns an die Stelle derer versetzen, die sie mit uns gemacht haben. An sie selbst werden wir uns
nur in dem Maße erinnern, als sie in den Rahmen unserer

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Überlegungen eingeschlossen waren. Ebenso bleiben, wenn man ein Zimmer zum ersten Male
bei einbrechender Nacht betreten und die Wände, die Möbel und alle Gegenstände in einem
Halbdunkel gesehen hat, diese phantastischen und geheimnisvollen Formen in unserem
Gedächtnis als der kaum wirkliche Rahmen des Gefühls von Beunruhigung, Überraschung
oder Trauer haften, das uns in dem Augenblick befiel, als wir sie erblickten. Um sie uns ins
Gedächtnis zurückzurufen, würde es genügen, das Zimmer bei hellem Tageslicht
wiederzusehen: wir müßten gleichzeitig an unsere Trauer, an unsere Überraschung und
Beunruhigung zurückdenken. Ist es demnach unsere persönliche Reaktion in Gegenwart
dieser Dinge, die sie für uns in solchem Maße verändert? Ja, wenn man so will — aber unter
der Voraussetzung, daß man nicht vergißt, daß unser persönliches Denken und Fühlen seinen
Ursprung in bestimmten sozialen Milieus und unter bestimmten sozialen Umständen hat, und
daß die Kontrastwirkung sich vor allem daraus ergibt, daß wir in diesen Gegenständen nidit
suchten, was die mit ihnen vertrauten Menschen darin sahen, sondern was mit den
Betrachtungen anderer verbunden war, deren Denken sich wie das unsere zum ersten Mal mit
diesem Zimmer beschäftigte.

Von der Möglichkeit eines strikt individuellen Gedächtnisses


Wenn diese Analyse exakt ist, würde das Resultat, zu dem sie uns führt, vielleicht erlauben,
dem ernsthaftesten und im übrigen natürlichsten Einwand zu begegnen, dem man sich
aussetzt, wenn man vorgibt, sich nur unter der Bedingung zu erinnern, daß man den
Standpunkt einer oder mehrerer Gruppen einnimmt und sich von neuem in eine oder mehrere
Strömungen kollektiven Denkens einfügt.
Man wird uns vielleicht zubilligen, daß eine große Anzahl von Erinnerungen wieder
auftaucht, weil andere Menschen sie uns ins Gedächtnis zurückrufen; man wird selbst
einräumen, daß man — sind diese Menschen materiell nicht gegenwärtig — von einem
kollektiven Gedächtnis sprechen kann, wenn wir ein Ereignis Wiederaufleben lassen, das
einen bestimmten Raum im Leben unserer Gruppe einnahm und das wir vom Standpunkt
dieser Gruppe aus sahen und auch augenblicklich, da wir es uns ins Gedächtnis zurückrufen,
noch so sehen. Wir haben sehr wohl das Recht, zu verlangen, daß man uns diesen zweiten
Punkt zubilligt, da eine derartige gei-

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stige Haltung nur bei einem Menschen möglich ist, der einer Gesellschaft angehört oder ihr
angehört hat und, aus der Ferne zumindest, noch ihren Einfluß erfährt. Es genügt, daß wir an
einen bestimmten Gegenstand nur denken können, weil wir uns als Mitglied einer Gruppe
betragen, um das Bestehen der Gruppe offenbar zur Voraussetzung dieses Gedankens werden
zu lassen. Darum ist ein Mensch, der ohne Begleitung nach Hause geht, zweifellos einige Zeit
lang „allein gewesen", wie man sagt. Aber er war es nur scheinbar, denn selbst während
dieses Zeitraums erklärt sich sein Denken und Handeln aus seiner Eigenschaft als soziales
Wesen, hat er nicht einen Augenblick aufgehört, in irgendeine Gemeinschaft einbezogen zu
sein. Da liegt nicht die Schwierigkeit.
Gibt es jedoch nicht Erinnerungen, die wiederauftauchen, ohne daß es irgendwie möglich
wäre, sie mit einer Gruppe in Verbindung zu bringen, da das Ereignis, das sie wiedergeben,
von uns wahrgenommen wurde, als wir allein waren — nicht scheinbar, sondern wirklich
allein —, Erinnerungen, deren Bild sich in das Denken keiner menschlichen Gemeinschaft
einfügt und die wir uns aus einer Sicht heraus ins Gedächtnis zurückrufen, die nur die unsere
sein kann? Selbst wenn Fälle dieser Art sehr selten und sogar außergewöhnlich wären, würde
es genügen, einige von ihnen beweisen zu können, um darzulegen, daß das kollektive
Gedächtnis nicht alle unsere Erinnerungen erklärt und vielleicht, daß es nicht allein das
Erwecken irgendeiner Erinnerung ermöglicht. Schließlich beweist nichts, daß all die
Kenntnisse und Bilder, die den sozialen Milieus, denen wir angehören, entlehnt sind und die
im Gedächtnis wirksam werden, nicht wie ein Schirm eine individuelle Erinnerung abdecken,
selbst wenn wir dieser nicht im geringsten gewahr werden. Die gesamte Frage besteht darin,
ob es eine solche Erinnerung geben kann, ob sie denkbar ist. Die Tatsache, daß sie
vorgekommen ist — wenn auch nur ein einziges Mal —, würde genügen, um zu beweisen,
daß nichts ihrem Wirksamwerden in allen Fällen entgegensteht. Jeder Erinnerung läge dann
das Zurückrufen eines rein individuellen Bewußtseinzustandes zugrunde, den wir — um ihn
von den Wahrnehmungen zu unterscheiden, in die mannigfache Elemente des sozialen
Denkens mit eindringen — als „intuition sensible" bezeichnen lassen wollen.
„Man empfindet einige Beunruhigung", sagte Charles Blondel,

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„wenn man sieht, wie aus der Erinnerung aller Abglanz dieser ,intuition sensible' eliminiert
oder nahezu eliminiert wird, die zweifellos nicht die gesamte Wahrnehmung bedeutet, die
aber gleichwohl offensichtlich deren unentbehrliche Einleitung und Bedingung sine qua non
ist... Damit wir nicht die Rekonstruierung unserer eigenen Vergangenheit mit jener
verwechseln, die wir von der Vergangenheit unseres Nachbarn machen können, damit diese
empirisch, logisch und sozial mögliche Vergangenheit uns mit unserer wirklichen
Vergangenheit übereinzustimmen scheint, muß sie zumindest in manchen ihrer Teile etwas
mehr als eine an Hand entliehener Elemente bewirkte Wiederherstellung sein" (Revue
Philosophique, 1926, S. 296). Désiré Roustan seinerseits schrieb uns: „Beschränkten Sie sich
darauf zu sagen: ,Wenn man sich auf die Vergangenheit zu besinnen glaubt, besteht dieser
Vorgang zu 99 % aus Rekonstruierung und zu l % aus wahrhaftem Sichbesinnen', genügte
dieser Rückstand, der sich von Ihnen nicht erklären lassen würde, um das gesamte Problem
des Bewahrens der Erinnerung von neuem aufzuwerfen. Können Sie indessen diesen
Rückstand vermeiden?"

1. Kindheitserinnerungen
Es ist schwierig, auf Erinnerungen zu stoßen, die uns an einen Zeitpunkt zurückversetzen, zu
dem unsere Empfindungen nur der Abglanz äußerer Gegenstände waren, zu dem wir ihnen
keines der Bilder, keinen der Gedanken beimischten, durch die wir mit den uns umgebenden
Menschen und Gruppen verbunden waren. Wenn wir uns nicht an unsere früheste Kindheit
erinnern, so weil unsere Eindrücke tatsächlich über keinen Anhaltspunkt verfügen, solange
wir noch kein soziales Wesen sind. „Meine früheste Erinnerung", erzählt Stendhal, „ist, Frau
Pinson-Dugalland, meine Cousine, eine Frau von fünfundzwanzig Jahren, die beleibt war und
viel Rouge trug, in die Wange oder in die Stirn gebissen zu haben. Ich sehe die Szene vor mir,
jedoch zweifellos deshalb, weil man unverzüglich ein Verbrechen daraus gemacht hat und
unaufhörlich ein Verbrechen daraus machte." Ebenso erinnert er sich, eines Tages ein
Maultier gekniffen zu haben, das ihn daraufhin umstieß. „,Ein wenig mehr, und er war tot',
sagte mein Großvater. Ich stelle mir das Geschehen vor, aber wahrscheinlich ist dies keine
direkte Erinnerung, sondern nur die Erinnerung an das Bild, das ich mir sehr früh, zur Zeit der
ersten Schilderungen,

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die man mir gab, von der Angelegenheit machte" (Vie de Henri Brulard, S. 31 und 58).
Ebenso verhält es sich mit vielen der sogenannten Kindheitserinnerungen. Die früheste, auf
die zurückgehen zu können ich lange Zeit geglaubt habe, war unsere Ankunft in Paris. Ich
war damals zweieinhalb Jahre alt. Wir stiegen abends die Treppe hinauf (die Wohnung lag im
vierten Stock), und wir Kinder bemerkten ganz laut, daß man in Paris auf dem Speicher
wohne. Nun, daß einer von uns diese Bemerkung gemacht hat, ist möglich. Aber es war
natürlich, daß unsere Eltern, die sie belustigt hat, sie behalten und uns später wiedererzählt
haben. Ich sehe noch unser erleuchtetes Treppenhaus, aber ich habe es seitdem sehr oft
gesehen.
Hier nun ein Kindheitsereignis, das Benvenuto Cellini zu Beginn seiner „Memoiren" erzählt:
es ist nicht sicher, ob es eine Erinnerung ist. Wenn wir es dennoch wiedergeben, so weil es
uns helfen wird, das darauffolgende Beispiel, auf das wir besonderen Wert legen werden,
besser zu verstehen. „Ich war ungefähr drei Jahre alt, mein Großvater Andrea Cellini lebte
noch und war schon über hundert. Eines Tages hatte man ein Rohr eines Spülbeckens
ausgewechselt, und heraus war ein riesiger Skorpion gekommen, ohne daß man es bemerkt
hatte. Er war auf den Fußboden hinuntergekrochen und hatte sich unter einer Bank versteckt.
Ich sah ihn, lief zu ihm und fing ihn ein. Er war so groß, daß auf der einen Seite meiner Hand
sein Schwanz und auf der anderen seine beiden Scheren herausschauten. Man hat mir erzählt,
daß ich hocherfreut auf meinen Großvater zusprang und rief: ,Schau, Großvater, mein schöner
kleiner Krebs!' Er erkannte sofort, daß es ein Skorpion war und wäre in seiner Liebe zu mir
vor Schrecken fast tot umgefallen. Er suchte, ihn mir abzuschmeicheln, aber ich preßte ihn
nur noch stärker und weinte, denn ich wollte ihn nicht hergeben. Mein Vater, der noch im
Hause war, kam bei dem Geschrei herzugeeilt. In seinem Entsetzen wußte er nicht, wie er es
verhindern sollte, daß dieses giftige Tier mich töte, als ihm eine Schere ins Auge fiel. Er
bewaffnete sich mit ihr und schnitt, mich gleichzeitig liebkosend, dem Skorpion Schwanz und
Scheren ab. Sobald er mich aus der Gefahr befreit hatte, betrachtete er dieses Ereignis als ein
gutes Vorzeichen." Diese bewegte und dramatische Szene spielt sich gänzlich innerhalb der
Familie ab. Als das Kind nach dem Skorpion greift, kommt ihm nicht einen Augenblick lang
der Gedanke, dies sei ein gefährliches Tier: es ist

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ein kleiner Krebs, wie die, die seine Eltern ihm gezeigt haben, die sie ihn wie ein Spielzeug
haben anfassen lassen. In Wirklichkeit ist ein fremdes Element in das Haus eingedrungen, und
der Großvater, der Vater reagieren jeder auf seine Art. Tränen des Kindes, Flehen und
Schmeicheln der Eltern, ihre Angst, ihr Schrecken und der darauffolgende Freudenausbruch:
jede dieser Familienreaktionen zeigt den Sinn des Ereignisses auf. Nehmen wir an, das Kind
rufe sich dieses ins Gedächtnis zurück: das Bild fügt sich in den Rahmen der Familie ein, da
es von Anfang an darin einbezogen war und ihn niemals verlassen hat.
Hören wir nun Charles Blondel: „Ich erinnere mich", erzählt er, „daß ich als Kind einmal
beim Durchforschen eines verlassenen Hauses unvermittelt mitten in einem dunklen Zimmer
bis zum Gürtel in ein Loch eingebrochen bin, auf dessen Grund Wasser stand, und ich
entsinne mich mehr oder weniger mühelos, wo und wann dies passiert ist; aber hier ist es
mein Wissen, das völlig meiner Erinnerung untergeordnet ist." Nehmen wir an, daß die
Erinnerung wie ein nicht lokalisiertes Bild erschienen ist. Man hat sie also nicht dadurch
zurückrufen können, daß man zuerst an das Haus dachte, das heißt, aus der Sicht der Familie
heraus, die dort wohnte — dies um so weniger, hat Blondel uns gesagt, als er diesen Vorfall
niemals irgendeinem seiner Verwandten erzählt hat und als er sicher ist, seitdem nicht wieder
an ihn gedacht zu haben. „In diesem Fall", fügt er hinzu, „muß ich die Umgebung meiner
Erinnerung konstruieren, ich brauche keineswegs sie selbst wiederherzustellen. Es scheint
wirklich, als hätten wir bei Erinnerungen dieser Art einen direkten Kontakt mit der
Vergangenheit, der der historischen Rekonstruierung vorausgeht und sie bedingt" (a. a. O., S.
297). Diese Schilderung unterscheidet sich deutlich von der vorhergehenden — vor allem
dadurch, daß Benvenuto Cellini uns als erstes angibt, zu welchem Zeitpunkt und an welchem
Ort sich die Szene, die er wachruft, abgespielt hat, was Blondel keineswegs wußte, als er
seinen Sturz in ein halb mit Wasser gefülltes Loch beschrieb. Er hebt das selbst nachdrücklich
hervor. Aber vielleicht ist dies dennoch nicht der grundlegende Unterschied zwischen den
beiden. Die Gruppe, der das Kind in diesem Alter am engsten zugehört und die es
unaufhörlich umgibt, ist die Familie. Dieses Mal indessen hat das Kind sie verlassen. Es sieht
nicht nur seine Eltern nicht mehr, sondern es mag scheinen, als seien

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sie ihm auch geistig nicht mehr gegenwärtig. Jedenfalls nehmen sie in keiner Weise an der
Geschichte teil, da sie nicht einmal von ihr in Kenntnis gesetzt worden sind oder ihr nicht
genügend Bedeutung beigemessen haben, um sie in Erinnerung zu behalten und sie später
dem zu erzählen, der ihr Held gewesen ist. Aber genügt dies, um behaupten zu können, er sei
wirklich allein gewesen? Erklären die Neuheit und die Lebhaftigkeit seines Eindruckes —
eines schmerzlichen Eindruckes der Verlassenheit, eines eigenartigen Eindruckes der
Überraschung über das Unerwartete und das nie Gesehene oder Gefühlte —, daß sein Denken
sich von den Eltern abgewandt hat? Hat er sich nicht im Gegenteil plötzlich in Not befunden,
eben weil er ein Kind war, das heißt, ein im Netzwerk des häuslichen Denkens und Fühlens
den Erwachsenen eng verbundenes Wesen? Dann aber dachte er an die Seinen und war nur
scheinbar allein. Infolgedessen bedeutet es wenig, daß er sich nicht erinnern kann, zu
welchem genauen Zeitpunkt und an welchem bestimmten Ort er sich befand, daß er auf
keinen räumlichen oder zeitlichen Rahmen Bezug nehmen kann. Es ist der Gedanke an die
abwesende Familie, der den Rahmen liefert, und das Kind braucht nicht, wie Blondel sagt,
„die Umgebung seiner Erinnerung zu rekonstruieren", da die Erinnerung sich innerhalb dieser
Umgebung einstellt. Daß das Kind dies nicht bemerkt hat, daß seine Aufmerksamkeit in
diesem Augenblick durchaus nicht auf diesen Aspekt seines Denkens gerichtet war, daß
später, wenn der Mann diese Kindheitserinnerung wachruft, er ihn ebenfalls nicht bemerkt,
darf uns in keiner Weise erstaunen. Eine soziale „Denkströmung" ist gewöhnlich ebenso
unsichtbar wie die Luft, die wir einatmen. Im normalen Leben spürt man ihre Existenz nur,
wenn man ihr Widerstand leistet — aber das Kind, das die Seinen herbeiruft und das ihre
Hilfe braucht, widersetzt sich ihnen nicht.
Blondel könnte uns sehr richtig entgegenhalten, die Tatsache, daß er sich an eine Gesamtheit
von Einzelheiten erinnert, stehe in keiner Beziehung zu irgendeinem Aspekt seiner Familie.
Ein dunkles Zimmer erkundend, ist er in ein halb mit Wasser gefülltes Loch gefallen. Nehmen
wir an, es habe ihn gleichzeitig erschreckt, sich weit entfernt von den Seinen zu fühlen. „Das
Grundlegende, hinter das womöglich alles übrige zurücktritt, ist dieses Bild, das in sich selbst
als völlig losgelöst von dem häuslichen Milieu erscheint. Dieses Bild indessen, seine
Aufbewahrung müßte erklärt werden. So wie es ist, unter-

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scheidet es sich tatsächlich von jeglicher anderen Lage, in der ich mich befand, wenn ich
bemerkte, daß ich fern von den Meinen war, in der ich mich demselben Milieu und derselben
.Umgebung' zuwandte, um dort Hilfe zu finden. Mit anderen Worten, es ist nicht ersichtlich,
wie ein so allgemeiner Rahmen wie die Familie eine derart besondere Begebenheit wieder
hervorbringen könnte." „Diese Formen, die von den durch die Gesellschaft bedingten
kollektiven Rahmen gebildet werden", sagt weiterhin Blondel, „bedürfen wohl einer Materie".
Warum nicht einfach behaupten, daß diese Materie in der Tat existiert und nichts anderes ist
als eben all das, was in unserer Erinnerung keine Beziehung zu dem Rahmen hat, das heißt
die Empfindungen und „intuitions sensibles", die in diesem Bild Wiederaufleben würden? Als
der kleine Däumling von seinen Eltern im Wald verlassen worden ist, hat er sicherlich an
seine Eltern gedacht; aber viele andere Dinge haben sich ihm dargeboten: er ist einem oder
mehreren Pfaden gefolgt, er ist auf einen Baum geklettert, er hat einen Lichtschein entdeckt,
er hat sich einem einsam gelegenen Haus genähert usw. Wie kann man das alles in der
einfachen Bemerkung zusammenfassen: er hat sich verirrt und hat seine Eltern nicht
wiedergefunden? Wenn er einem anderen Weg gefolgt wäre, andere Begegnungen gehabt
hätte, wäre das Gefühl der Verlassenheit dasselbe gewesen, jedoch hätte er ganz andere
Erinnerungen zurückbehalten.
Dem antworten wir, daß, wenn ein Kind sich in einem Wald oder einem Haus verirrt, alles so
vor sich geht, als werde es — das bis dahin der Denk- und Gefühlsströmung gefolgt ist, die es
mit den Seinen verbindet — gleichzeitig von einer anderen Strömung erfaßt, die es von jener
entfernt. Vom kleinen Däumling kann man sagen, daß er innerhalb der Familiengruppe bleibt,
da er seine Brüder bei sich hat. Aber er setzt sich an ihre Spitze, er nimmt sie alle in seine
Obhut, er führt sie — das heißt, er wechselt von der des Kindes zur Vaterstelle über, er tritt in
die Gruppe der Erwachsenen ein und bleibt nichtsdestoweniger ein Kind. Dies aber trifft auch
auf jene von Blondel erwähnte Erinnerung zu, die gleichzeitig eine Kindheitserinnerung und
die Erinnerung eines Erwachsenen ist, da das Kind sich zum ersten Male in der Lage eines
Erwachsenen befunden hat. Als Kind war sein Denken dem eines Kindes gemäß. Gewohnt,
die äußeren Gegenstände mit Hilfe von Kenntnissen zu beurteilen, die

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es seinen Eltern verdankte, rühren sein Erstaunen und seine Furcht von der Mühe her, die es
ihm bereitete, das, was er jetzt sah, in seine kleine Welt einzuordnen. Erwachsen wurde er
insofern, als er sich — da die Seinen nicht mehr in seiner Reichweite waren — ihm neuen und
beunruhigenden Dingen gegenüber fand, die dies jedoch zweifellos nicht für einen
Erwachsenen waren, zumindest nicht in demselben Maße. Er hat nicht lange auf dem Grunde
dieses dunklen Schachtes bleiben können. Nichtsdestoweniger hat er Verbindung mit einer
Welt aufgenommen, die er später wiederfinden wird, wenn er mehr sich selbst überlassen sein
wird. Es gibt im übrigen im Laufe der Kindheit viele Augenblicke, in denen man so dem
entgegentritt, was nicht mehr dem Familienbereich angehört — sei es, daß man sich bei der
Berührung mit den Dingen stößt oder verletzt, sei es, daß man sich ihrem Zwang unterwerfen
und beugen muß, so daß man unweigerlich eine ganze Reihe kleiner Prüfungen durchläuft,
die einer Vorbereitung auf das Erwachsenenleben gleichkommen: dies ist der Schatten, den
die Gesellschaft der Erwachsenen auf die Kindheit wirft — und mehr noch als ein Schatten,
da das Kind dazu berufen werden kann, an Sorgen und Verantwortungen teilzuhaben, deren
Gewicht gewöhnlich auf stärkeren Schultern als den seinen lastet, und da es dann — zeitweise
zumindest und nur mit einem Teil seiner selbst — in die Gruppe der Älteren aufgenommen
wird. Daher sagt man bisweilen manchen Menschen nach, sie haben keine Kindheit gehabt,
weil die Notwendigkeit des Brotverdienens sie zu frühzeitig gezwungen hat, in jene Bereiche
der Gesellschaft einzutreten, in denen die Menschen um ihr Leben kämpfen — während die
Mehrzahl der Kinder nicht einmal weiß, daß diese Bereiche existieren — oder weil sie infolge
eines Trauerfalles eine Art von Leiden kennengelernt haben, das gewöhnlich Erwachsenen
vorbehalten ist und dem sie in gleicher Weise wie diese die Stirn bieten müssen. Der
besondere Inhalt solcher Erinnerungen, der sie von allen anderen abhebt, würde sich also
dadurch erklären, daß sie sich an einem Überschneidungspunkt zweier oder mehrerer
Gedankenfolgen befinden, durch die sie mit ebenso vielen Gruppen verbunden sind. Es würde
nicht genügen, zu sagen: am Kreuzungspunkt einer Gedankenfolge, die uns an eine Gruppe
bindet — hier die Familie —, und der einer anderen, die nur Empfindungen enthält, die in uns
durch die Dinge ausgelöst werden; alles würde dann von neuem in Frage

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gestellt werden, denn da dieses Bild der Dinge nur für uns existiert, würde sich ein Teil
unserer Erinnerungen auf kein kollektives Gedächtnis stützen. Aber ein Kind hat Angst im
Dunklen oder wenn es sich an einem verlassenen Ort verirrt, weil es diesen Ort mit
eingebildeten Feinden bevölkert, weil es sich in dieser Dunkelheit an wer weiß welch
gefährlichen Wesen zu stoßen fürchtet. Rousseau erzählt, daß Monsieur Lambercier ihm an
einem sehr dunklen Herbstabend den Kirchenschlüssel gab und ihn von der Kanzel die Bibel
holen hieß, die dort liegengeblieben war. „Als ich das Portal öffnete", sagt er, „hörte ich im
Gewölbe einen unbestimmten Widerhall, der Stimmen zu gleichen schien und der anfing,
meine römische Entschlossenheit wanken zu machen. Ich wollte durch das geöffnete Portal
eintreten, aber kaum hatte ich einige Schritte getan, als ich innehielt. Die tiefe Dunkelheit
wahrnehmend, die in diesem weiten Raum herrschte, wurde ich von einem Entsetzen
ergriffen, das mir die Haare zu Berge stehen ließ. Ich verhedderte mich in den Bänken, ich
wußte nicht mehr, wo ich war, und da ich weder die Kanzel noch das Portal finden konnte,
wurde ich in eine unaussprechliche Verwirrung gestürzt." Wäre die Kirche erhellt gewesen,
so hätte er gesehen, daß niemand da war und hätte sich nicht gefürchtet. Die Welt ist für das
Kind niemals leer von menschlichen Wesen, von wohltätigen und bösartigen Einflüssen. Den
Punkten, in denen diese Einflüsse sich treffen und überschneiden, entsprechen in der
Vorstellung von seiner Vergangenheit vielleicht deutlichere Bilder, denn ein Gegenstand, den
wir von zwei Seiten und mit zwei Lichtquellen beleuchten, bietet uns mehr Einzelheiten dar
und zieht unsere Aufmerksamkeit stärker auf sich.

2. Erinnerungen des Erwachsenen


Beschäftigen wir uns nicht weiter mit den Kindheitserinnerungen. Man könnte eine große
Anzahl von Erinnerungen aus dem Erwachsenendasein anführen, die so ursprünglich sind und
so festgefügt wirken, daß sie durchaus unzerlegbar erscheinen. Aber bei diesen Beispielen
würde es uns immer möglich sein, die gleiche Illusion aufzuzeigen. Daß ein bestimmtes
Mitglied einer Gruppe zufällig auch einer anderen Gruppe angehört, daß die Denkweisen, die
der einen und der anderen entstammen, plötzlich in seinem Geist aufeinandertreffen;
vermutlich nimmt es allein diesen Kontrast wahr.

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Wie sollte es also nicht glauben, daß in ihm seine Empfindung entsteht, die nicht im
geringsten dem gleichkommt, was die anderen Mitglieder dieser beiden Gruppen verspüren
können, wenn diese keine anderen Berührungspunkte mit ihm haben? Diese Erinnerung ist in
zwei Rahmen zugleich enthalten; aber einer dieser Rahmen hindert es, den anderen
wahrzunehmen, und umgekehrt: es verschwendet seine Aufmerksamkeit auf den Punkt, in
dem sie aufeinandertreffen, und kann so ihrer selbst nicht mehr gewahr werden. So bildet man
sich gerne ein, daß, wenn man am Himmel zwei verschiedenen Konstellationen zugehörige
Sterne wiederzufinden sucht und befriedigt ist, vom einen zum anderen eine imaginäre Linie
gezogen zu haben, allein die Tatsache, sie so aufzureihen, ihrem Ganzen eine Art Einheit
verleiht; gleichwohl ist jeder nur ein in einer Gruppe enthaltenes Element, und wenn wir sie
haben wiederfinden können, so weil keines der Sternbilder in diesem Augenblick von einer
Wolke verdeckt war. Ebenso glauben wir, daß zwei Denkweisen, einmal
gegeneinandergestellt, sich gegenseitig zu verstärken scheinen, weil sie kontrastieren, ein
Ganzes bilden, das aus sich selbst heraus existiert, unabhängig von den Gesamtheiten, denen
sie entnommen sind — und wir bemerken nicht, daß wir in Wirklichkeit zugleich die beiden
Gruppen betrachten, jedoch jede aus der Sicht der anderen.
Greifen wir nun die Annahme wieder auf, die wir zuvor entwickelt haben. Ich habe eine Reise
mit Menschen gemacht, die ich seit kurzem kenne und die wiederzusehen mir später nur in
großen Zeitabständen bestimmt war. Wir reisten zu unserem Vergnügen. Aber ich sprach
wenig, ich hörte kaum zu. Mein Sinn war angefüllt mit Gedanken und Bildern, die die
anderen nicht interessieren konnten und von denen sie nichts wußten, weil sie mit meinen
Eltern, meinen Freunden zusammenhingen, von denen ich im Augenblick entfernt war. So
fanden sich Menschen, die ich liebte, die die gleichen Interessen hatten wie ich — eine ganze
Gemeinschaft, die mir eng verbunden war —, ohne es zu wissen in ein Milieu eingeführt, in
Ereignisse verwickelt, Landschaften zugesellt, die ihnen vollkommen fremd oder gleichgültig
waren. Betrachten wir daraufhin unsere Eindrücke. Sie lassen sich zweifellos durch das
erklären, was im Mittelpunkt unseres Gefühls- und Geisteslebens stand. Aber sie haben sich
gleichwohl innerhalb eines zeitlichen und räumlichen

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Rahmens und inmitten von Umständen entfaltet, auf die unser damaliges inneres
Beschäftigtsein seine Schatten warf, die jedoch ihrerseits dessen Hergang und Gepräge
modifizierten, so wie am Fuße eines antiken Monumentes erbaute Häuser, die nicht seines
Alters sind. Wenn wir uns diese Reise ins Gedächtnis zurückrufen, so tun wir dies
selbstverständlich nicht aus derselben Sicht wie unsere Begleiter, da sie sich in unseren
Augen letztlich aus einer Reihe allein uns bekannter Eindrücke zusammensetzt. Aber man
kann auch nicht sagen, daß wir ausschließlich die Betrachtungsweise unserer Freunde, unserer
Eltern, unserer bevorzugten Autoren annehmen, deren Andenken uns begleitete. Während wir
auf einer Bergstraße neben Menschen von bestimmtem Aussehen, von bestimmtem Charakter
wanderten, uns zerstreut in ihre Unterhaltung einmischten, unsere Gedanken indessen
innerhalb unseres früheren Milieus weilten, kamen die verschiedenen Eindrücke, die in uns
einander folgten, einer bestimmten Anzahl besonderer, origineller und neuer Arten gleich, die
Menschen, die uns teuer waren und die Bande, die uns mit ihnen verknüpften, zu sehen. Aber
andererseits sind diese Eindrücke — gerade weil sie neu sind und weil sie viele Elemente
enthalten, die unseren früheren und zutiefst unseren gegenwärtigen Gedankengängen fremd
sind — ebenso fremd für die Gruppen, die uns am innigsten umfassen. Sie bringen diese zum
Ausdruck, aber zugleich auf diese Weise nur unter der Voraussetzung, daß sie materiell nicht
mehr da sind, da alle Gegenstände, die wir sehen, alle Menschen, die wir hören, uns vielleicht
allein in dem Maße auffallen, wie sie uns die Abwesenheit der ersteren fühlen lassen. Diese
Sicht, die weder die unserer augenblicklichen Begleiter ist noch vollkommen und unvermischt
die unserer Freunde von gestern und morgen — wie sollten wir sie nicht von den einen wie
von den anderen loslösen, um sie uns selber zuzuschreiben? Stimmt es nicht, daß das, was uns
auffällt, wenn wir uns auf diesen Eindruck besinnen, jene Elemente in ihm sind, die sich nicht
durch unsere Beziehungen zu dieser oder jener Gruppe erklären lassen, die von deren
Denkweise und Erfahrung abweichen? Ich weiß, daß dieser Eindruck von meinen Begleitern
nicht geteilt werden, nicht einmal erraten werden konnte. Ich weiß ebenfalls, daß er mir in
dieser Form und in diesem Rahmen nicht von jenen Freunden und Verwandten hätte
eingegeben werden können, an die ich in dem Augenblick dachte, in den ich mich

25

jetzt erinnernd zurückversetzte. Besteht nicht in meinem Gedächtnis etwas wie ein Rückstand
eines Eindruckes, der sich dem Denken und dem Gedächtnis sowohl der einen wie der
anderen entzieht und der nur für mich existiert?
Im Vordergrund des Gedächtnisses einer Gruppe stehen die Erinnerungen an Ereignisse und
Erfahrungen, die die größte Anzahl ihrer Mitglieder betreffen und die sich entweder aus ihrem
Eigenleben oder aus ihren Beziehungen zu den ihr nächsten, am häufigsten mit ihr in
Berührung kommenden Gruppen ergeben. Was jene anbelangt, die eine sehr geringe Anzahl
und bisweilen ein einziges ihrer Mitglieder betreffen, so treten sie in den Hintergrund,
obgleich sie im Gedächtnis der Gruppe enthalten sind, da sie zumindest teilweise innerhalb
ihrer Grenzen entstanden sind. Zwei Wesen können sich eng aneinander gebunden fühlen und
alle ihre Gedanken gegenseitig austauschen. Wenn sie zu manchen Zeitpunkten innerhalb
verschiedener Milieus leben, müßten sie sich — obgleich sie durch Briefe, Beschreibungen,
durch ihre Berichte bei ihrem Wiedersehen gegenseitig in allen Einzelheiten die Umstände
wissen lassen können, in denen sie sich befanden, als sie nicht mehr miteinander in Berührung
waren — einer mit dem anderen identifizieren, um alles, was von ihren Erfahrungen dem
einen oder dem anderen fremd war, in ihr gemeinsames Denken eingehen zu lassen. Wenn
Mlle de Lespinnasse an Graf Guibert schreibt, kann sie ihm annähernd verständlich machen,
was sie fern von ihm, aber innerhalb der ihm bekannten Gesellschaften und mondänen Kreise
empfindet, weil auch er ihnen zugehört. Er kann seine Geliebte so sehen, wie sie sich aus der
Sicht jener Männer und Frauen sehen kann, die nichts von ihrem romanhaften Leben wissen
— und er kann sie ebenso sehen, wie sie sich selbst sieht, aus der Sicht der geheimen und
geschlossenen Gruppe heraus, die sie zu zweit bilden. Gleichwohl ist er fern, und ohne daß er
es weiß, können innerhalb der Gesellschaft, in der sie verkehrt, etliche Veränderungen
eintreten, von denen ihm ihre Briefe keine hinreichende Vorstellung geben, so daß ihm
manches in ihrer Haltung diesen mondänen Kreisen gegenüber entgehen und immer entgehen
wird: es genügt nicht, daß er sie liebt, so wie er sie liebt, um diese Verhaltensweisen zu
erraten.
Eine Gruppe tritt gewöhnlich mit anderen Gruppen in Verbindung. Es gibt etliche Ereignisse,
die sich aus ähnlichen Kontakten

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ergeben, und ebenso manches Gedankengut, dem allein sie zugrunde liegen. Zuweilen sind
diese Beziehungen oder Kontakte permanent oder wiederholen sich jedenfalls recht häufig,
werden während einer recht ausgedehnten Zeitspanne fortgesetzt. Wenn beispielsweise eine
Familie lange Zeit in derselben Stadt oder in der Nähe derselben Freunde lebt, bilden Stadt
und Familie, Freunde und Familie gleichsam komplexe Gesellschaften. Alsdann entstehen
Erinnerungen, die in zwei den Mitgliedern der beiden Gruppen gemeinsamen Denkbereichen
enthalten sind. Um eine derartige Erinnerung wiederzuerkennen, muß man zugleich an der
einen und an der anderen teilhaben. Diese Voraussetzung wird eine Zeitlang von einem Teil
der Familienmitglieder erfüllt, jedoch in unterschiedlicher Weise zu verschiedenen
Zeitpunkten — je nachdem ob das Interesse dieser letzteren auf die Stadt oder auf ihre
Familie gerichtet ist. Und es genügt im übrigen, daß einige der Familienmitglieder diese Stadt
verlassen, in eine andere ziehen, um sich weniger mühelos an das erinnern zu können, was sie
nur behielten, weil sie gleichzeitig in zwei konvergierende Strömungen kollektiven Denkens
einbezogen waren, während sie gegenwärtig fast ausschließlich den Einfluß einer dieser
Strömungen erfahren. Da nur ein Teil der Mitglieder einer dieser Gruppen in der anderen
enthalten ist — und umgekehrt —, ist zudem jeder dieser beiden kollektiven Einflüsse
schwächer als wenn er sich allein auswirken würde. Tatsächlich ist es nicht die gesamte
Gruppe — die Familie beispielsweise —, sondern nur ein Teil von ihr, der einem der Ihren
helfen kann, sich diese Art von Erinnerungen ins Gedächtnis zurückzurufen. Man muß sich in
Verhältnissen befinden oder sich in Verhältnisse versetzen, die diesen beiden Einflüssen
erlauben, ihre Aktion aufs günstigste zu verbinden, damit die Erinnerung wieder auftaucht
und wiedererkannt wird. Daraus ergibt sich, daß sie weniger vertraut erscheint, daß man sogar
deutlich die kollektiven Faktoren wahrnimmt, die sie bestimmen, und daß man die Illusion
hat, sie sei weniger als die anderen der Kraft unseres Willens unterworfen.

Die individuelle Erinnerung als Grenze der kollektiven Interferenzen


Es kommt recht häufig vor, daß wir uns selbst Vorstellungen und Überlegungen oder Gefühle
und Leidenschaften zuschreiben — so als sei ihre Quelle nirgendwo als nur in uns selbst —,
die uns von

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unserer Gruppe eingegeben worden sind. Dann sind wir so gut auf unsere Mitmenschen
abgestimmt, daß wir mit ihnen „im Gleichtakt schwingen" und nicht mehr wissen, wo der
Ausgangspunkt der Schwingungen liegt, ob in uns oder in den anderen. Wie oft bringt man
dann nicht mit einer ganz persönlich scheinenden Überzeugung Überlegungen zum Ausdruck,
die man einer Zeitung, einem Buch oder einer Unterhaltung entnommen hat? Sie passen so
gut zu unserer Betrachtungsweise, daß man uns in Erstaunen versetzen würde, entdeckte man
uns, wer ihr Urheber ist, und daß nicht wir es sind. „Wir hatten schon daran gedacht" : wir
bemerken nicht, daß wir indessen nur ein Echo sind. Die gesamte Kunst des Redners besteht
vielleicht darin, seinen Zuhörern die Illusion zu verschaffen, daß die Überzeugungen und
Gefühle, die er in ihnen wachruft, ihnen nicht von außen her eingegeben worden sind, daß sie
sie von sich selbst aus entwickelt haben, daß er lediglich erraten hat, was im geheimen ihres
Bewußtseins entstand, und daß er ihnen nur seine Stimme geliehen hat. Auf die eine oder
andere Art bemüht sich jede soziale Gruppe, in ihren Mitgliedern eine ähnliche Überzeugung
zu unterhalten. Wieviele Menschen haben genügend kritischen Sinn, um in dem, was sie
denken, den Anteil der anderen zu unterscheiden und um sich selbst einzugestehen, daß sie
meist nichts von sich aus dazu getan haben? Bisweilen erweitert man den Kreis der
Menschen, mit denen man verkehrt, und der Bücher, die man liest; man rechnet sich seinen
Eklektizismus, der uns erlaubt, die verschiedenen Aspekte der Fragen und Dinge zu erkennen
und zu vergleichen, als Verdienst an; selbst dann kommt es oft vor, daß die Dosierung unserer
Meinungen, die Komplexität unserer Gefühle und Neigungen nur der Ausdruck des Zufalls
ist, der uns mit verschiedenartigen oder selbst gegensätzlichen Gruppen in Berührung
gebracht hat, und daß der Teil, den wir von jeder ihrer Betrachtensweisen übernehmen, durch
die ungleiche Intensität der Einflüsse bestimmt wird, die sie auf uns ausgeübt haben.
Jedenfalls meinen wir, in dem Maße, in dem wir widerstandslos einer Beeinflussung von
außen her nachgeben, frei zu denken und zu fühlen. So bleibt die Mehrzahl der sozialen
Einflüsse, denen wir am häufigsten gehorchen, von uns unbemerkt. Dies aber trifft ebenso
und vielleicht in noch stärkerem Maße zu, wenn am Treffpunkt mehrerer sich in uns
kreuzender Strömungen kollektiven Denkens einer dieser komplexen Zustände entsteht, in
denen

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man ein einzigartiges Ereignis hat sehen wollen, das nur für uns existieren wird. Da ist ein
Reisender, der sich plötzlich erneut von Einflüssen erfaßt fühlt, die einem seinen Begleitern
fremden Milieu entstammen. Da ist ein Kind, das sich durch ein unerwartetes
Zusammentreffen von Umständen in einer Situation befindet, die seinem Alter nicht
angemessen ist, und dessen Denken sich Gefühlen und Besorgnissen eines Erwachsenen
aufschließt. Da ist ein Orts-, Berufs-, Familienwechsel, der noch nicht völlig die Bande
zerreißt, die uns an unsere alten Gruppen binden. Indessen kommt es vor, daß in einem
solchen Fall die sozialen Einflüsse komplexer, weil zahlreicher, verworrener werden. Aus
diesem Grunde ermißt und unterscheidet man sie weniger deutlich. Man nimmt jedes Milieu
zur gleichen Zeit wie in dem seines eigenen im Lichte des oder der anderen wahr und hat den
Eindruck, daß man sich seiner Einflußnahme widersetzt. Zweifellos müßte bei diesem
Konflikt oder dieser Kombination der Einflüsse jeder von ihnen deutlicher hervortreten. Aber
da diese Milieus einander entgegenwirken, meint man, weder an dem einen noch an dem
anderen beteiligt zu sein. Besonders das, was in den Vordergrund tritt — die Fremdheit der
Situation, in der man sich befindet —, genügt, um das individuelle Denken zu absorbieren.
Dieser Vorgang schiebt sich wie ein Schirm zwischen dies letztere und die sozialen
Denkweisen, aus deren Verbindung es hervorgegangen ist. Er kann von keinem der
Mitglieder dieser Milieus außer von mir voll und ganz verstanden werden. In diesem Sinne
gehört er mir, und schon in dem Augenblick, in dem er in Erscheinung tritt, würde ich
versucht sein, ihn durch mich, und durch mich allein, zu erklären. Ich würde höchstens
zugeben, daß die Umstände, das heißt das Aufeinandertreffen dieser Milieus, zum Anlaß
gedient haben — daß sie das Sicheinstellen eines seit langem in meinem persönlichen
Schicksal beschlossenen Ereignisses, das Zutagetreten eines Gefühls, das potentiell in mir
persönlich vorhanden war, erlaubt haben. Da die anderen es nicht gekannt und in keiner
Weise zu seinem Entstehen beigetragen haben (zumindest bilde ich mir dies ein), werde ich
später, wenn es in meinem Gedächtnis wieder aufleben wird, nur ein Mittel haben, mir seine
Wiederkehr zu erklären: weil es auf die eine oder andere Weise unverändert in meinem Sinn
bewahrt worden ist. Dem ist jedoch keineswegs so. Diese Erinnerungen, die uns rein
persönlich und nur für uns kenntlich und auffindbar scheinen,

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unterscheiden sich von den anderen durch die größere Komplexität der zu ihrer
Wiederbelebung notwendigen Umstände; dies aber ist nur ein gradmäßiger Unterschied.
Bisweilen beschränkt man sich darauf, zu behaupten, daß unsere Vergangenheit zwei Arten
von Elementen enthält: jene, die wachzurufen uns möglich ist, wann immer wir es wünschen,
und jene, die dagegen unserem Ruf nicht gehorchen, so daß es scheint, als stoße sich unser
Wille an einem Hindernis, wenn wir sie in der Vergangenheit suchen. In Wirklichkeit kann
man von den ersten sagen, daß sie der Allgemeinheit angehören — in dem Sinn, daß das, was
uns derart vertraut oder leicht zugänglich ist, es ebenfalls für die anderen ist. Die Vorstellung,
die wir uns am mühelosesten machen, die aus beliebig persönlichen und besonderen
Elementen zusammengesetzt ist, ist die Vorstellung, die die anderen von uns haben; und die
Ereignisse unseres Lebens, die uns stets am gegenwärtigsten sind, haben auch das Gedächtnis
der uns enger verbundenen Gruppen gezeichnet. So gehören die Begebenheiten und
Kenntnisse, die wir uns am mühelosesten ins Gedächtnis zurückrufen, dem Gemeingut
zumindest eines oder einiger Milieus an. In diesem Maße sind diese Erinnerungen also „aller
Welt" zu eigen; und weil wir uns auf das Gedächtnis der anderen stützen können, sind wir
jederzeit und wann immer wir wollen fällig, sie zurückzurufen. Von den zweiten, von denen,
die wir nicht beliebig zurückrufen können, wird man gerne sagen, daß sie nicht den anderen,
sondern uns gehören, weil allein wir sie haben kennen können. So seltsam und paradox es
scheinen mag — die Erinnerungen, die zu erwecken uns am schwersten fällt, sind jene, die
nur uns angehen, die unser ausschließliches Eigentum darstellen, so als könnten sie der
Kenntnis der anderen nur unter der Voraussetzung entgehen, auch uns selbst zu entfallen.
Wird man sagen, daß es uns ebenso ergeht wie jemandem, der seinen Schatz in einem
Panzerschrank eingeschlossen hat, dessen Schloß so kompliziert ist, daß es ihm nicht mehr
gelingt, es zu öffnen, daß er sich nicht mehr auf die Schlüsselzahlen besinnen kann und es
dem Zufall überlassen muß, ob es ihm wieder einfällt? Aber es gibt eine zugleich natürlichere
und einfachere Erklärung. Zwischen den Erinnerungen, die wir beliebig heraufbeschwören
und jenen, die sich unserem Zugriff entzogen zu haben scheinen, würde man in Wirklichkeit
alle Abstufungen finden. Die Voraussetzungen, die not-
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wendig sind, um die einen und die anderen wiedererstehen zu lassen, unterscheiden sich nur
dem Grad der Komplexität nach. Die ersteren sind immer für uns erreichbar, weil sie
innerhalb von Gruppen fortbestehen, in die einzudringen uns jederzeit freisteht — innerhalb
eines kollektiven Gedankengutes, mit dem wir stets so eng in Berührung bleiben, daß alle
seine Elemente, alle Verbindungen zwischen diesen Elementen sowie ihre unmittelbaren
gegenseitigen Übergänge uns vertraut sind. Die zweiten sind uns weniger und seltener
zugänglich, da die Gruppen, die sie uns nahebringen könnten, weiter entfernt sind, weil wir
mit ihnen nur gelegentlich in Berührung kommen. Es gibt Gruppen, die sich
zusammenschließen oder häufig zusammentreffen, so daß wir von der einen in die andere
übergehen, gleichzeitig in der einen und der anderen sein können; zwischen anderen Gruppen
sind die Beziehungen so begrenzt, daß wir weder die Gelegenheit haben noch auf den
Gedanken kommen, die verwischten Bahnen zu verfolgen, auf denen sie miteinander
verkehren. Dabei würden wir auf solchen Bahnen, auf solchen verborgenen Wegen die
Erinnerungen wiederfinden, die uns zu eigen sind — ebenso wie ein Reisender eine Quelle,
eine Felsengruppe, eine Landschaft als allein ihm gehörig betrachten kann, zu denen man nur
unter der Bedingung gelangt, von der Straße abzuweichen und über einen schlecht gebahnten
und unbegangenen Weg eine andere einzuschlagen. Die Ansätze dieses Querweges befinden
sich wohl an den beiden Straßen, und sie sind einem bekannt: aber es bedarf einiger
Aufmerksamkeit und vielleicht eines Zufalls, um sie wiederzufinden — und man kann etliche
Male die eine wie die andere Straße entlanggehen, ohne auf den Gedanken zu kommen, sie zu
suchen; besonders dann, wenn man nicht damit rechnen kann, durch die Passanten auf einer
dieser Straßen auf sie aufmerksam gemacht zu werden, da diese nicht dorthin zu gehen
suchen, wo die andere Straße sie hinführen würde.
Scheuen wir uns nicht, nochmals auf die Beispiele zurückzukommen, die wir gegeben haben.
Wir werden sehen, daß die Ansatzpunkte oder Elemente dieser persönlichen Erinnerungen,
die niemandem als nur uns zu gehören scheinen, sich durchaus in bestimmten sozialen
Milieus befinden und dort fortbestehen können, und daß die Mitglieder dieser Gruppen
(denen wir selbst anzugehören nicht aufhören), fragten wir sie gehörig aus, sie dort entdecken
und

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uns zeigen könnten. Unsere Reisegefährten kennen die Eltern und die Freunde nicht, die wir
daheim gelassen haben. Aber sie haben bemerken können, daß wir uns ihnen selbst nicht
völlig angeschlossen haben. In bestimmten Augenblicken haben sie gefühlt, daß wir eine Art
fremdes Element in ihrer Gruppe waren. Wenn wir sie später wiedertreffen, werden sie uns
ins Gedächtnis rufen können, daß wir während eines bestimmten Teils der Reise zerstreut
waren, oder daß wir eine Überlegung angestellt, Worte ausgesprochen haben, die zeigten, daß
nicht alle unsere Gedanken bei ihnen waren. Das Kind, das sich im Wald verirrt oder sich in
einer Gefahr befunden hat, die in ihm Gefühle eines Erwachsenen wachgerufen hat, hat nichts
davon seinen Eltern erzählt. Diese aber haben bemerken können, daß es daraufhin nicht mehr
so sorglos wie gewöhnlich war — so als sei ein Schatten über es hinweggegangen —, und daß
es eine Wiedersehensfreude bezeigte, die nicht völlig die eines Kindes war. Bin ich von einer
Stadt in eine andere umgezogen, wußten die Einwohner dieser letzteren nicht, woher ich kam;
aber bevor ich mich meinem neuen Milieu angepaßt habe, sind mein Erstaunen, meine
Neugierde, mein Unwissen einem ganzen Teil ihrer Gruppe gewiß nicht entgangen.
Zweifellos haben diese kaum sichtbaren Spuren von Vorgängen, die ohne große Bedeutung
für das Milieu selbst waren, dessen Aufmerksamkeit nicht lange angezogen. Ein Teil seiner
Mitglieder würde sie jedoch wiederfinden oder wüßte zumindest, wo sie zu suchen sind, wenn
ich ihnen den Vorgang erzählen würde, der sie hat hinterlassen können.
Wenn überdies das kollektive Gedächtnis seine Kraft und seine Beständigkeit daraus herleitet,
daß es auf einer Gesamtheit von Menschen beruht, so sind es indessen die Individuen, die sich
als Mitglieder der Gruppe erinnern. In dieser Masse gemeinsamer, sich aufeinander stützender
Erinnerungen sind es nicht dieselben, die jedem von ihnen am deutlichsten erscheinen. Wir
würden sagen, jedes individuelle Gedächtnis ist ein „Ausblickspunkt" auf das kollektive
Gedächtnis; dieser Ausblickspunkt wechselt je nach der Stelle, die wir darin einnehmen, und
diese Stelle selbst wechselt den Beziehungen zufolge, die ich mit anderen Milieus unterhalte.
Es ist demnach nicht erstaunlich, daß nicht alle das gemeinsame Werkzeug mit dem gleichen
Nutzen anwenden. Will man diese Verschiedenheit

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erklären, so stößt man indessen immer wieder auf eine Kombination von Einflüssen, die alle
sozialer Natur sind.
Von diesen Kombinationen sind manche überaus komplex. Deshalb hängt es nicht von uns ab,
sie wiedererscheinen zu lassen. Man muß sich dem Zufall anvertrauen, muß darauf warten,
daß sich innerhalb der sozialen Milieus, in denen wir uns materiell oder gedanklich bewegen,
mehrere Wellensysteme erneut überschneiden und in gleicher Weise wie früher das
Registriergerät, das unser individuelles Gedächtnis ist, in Schwingungen versetzen. Aber die
Art der Kausalität ist hier dieselbe und könnte nur dieselbe wie früher sein. Die Folge der
Erinnerungen, selbst der allerpersönlichsten, erklärt sich immer aus den Veränderungen, die
in unseren Beziehungen zu den verschiedenen kollektiven Milieus entstehen, das heißt,
letztlich aus den Veränderungen jedes einzelnen dieser Milieus und ihrer Gesamtheit.
Man wird sagen, es sei seltsam, daß Zustände, die einen so auffallenden Charakter
unwiderlegbarer Einheit aufweisen, daß unsere persönlichsten Erinnerungen sich aus der
Verschmelzung so vieler verschiedenartiger und getrennter Elemente ergeben. Zuerst einmal
löst sich bei näherer Überlegung diese Einheit durchaus in eine Vielheit auf. Man hat
bisweilen behauptet, daß man in einem wahrhaft persönlichen Bewußtseinszustand bei
genauerer Untersuchung den gesamten Geistesinhalt, von einem gewissen Gesichtspunkt aus
betrachtet, wiederfindet. Aber unter Geistesinhalt sind alle Elemente zu verstehen, die die
Beziehungen zu den verschiedenen Milieus kennzeichnen. Ein persönlicher
Bewußtseinszustand enthüllt so die Komplexität der Kombination, aus der er hervorgegangen
ist. Was seine scheinbare Einheit anbetrifft, so erklärt sie sich aus einer ganz natürlichen
Illusion. Philosophen haben gelehrt, das Gefühl der Freiheit erkläre sich aus der Vielfalt der
kausalen Folgen, die sich verbinden, um eine Handlung hervorzubringen.
Wir kommen überein, daß jedem dieser Einflüsse ein anderer entgegenwirken kann; wir
glauben dann, daß unser Handeln von allen diesen Einflüssen unabhängig ist, da es von
keinem von ihnen ausschließlich abhängt, und wir bemerken nicht, daß es sich in Wirklichkeit
aus ihrer Gesamtheit ergibt und stets vom Gesetz der Kausalität beherrscht wird. Da die
Erinnerung durch die Auswirkung mehrerer Folgen ineinander verflochtener kollektiver
Denkweisen

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wiederersteht, und wir sie keiner von ihnen ausschließlich zuschreiben können, meinen wir
auch hier, sie sei unabhängig und stellen ihre Einheit deren Vielfalt gegenüber. Ebensogut
kann man annehmen, ein schwerer, an einer Anzahl gekreuzt gespannter Fäden in der Luft
aufgehängter Gegenstand schwebe frei im Leeren.
Kollektives und historisches Gedächtnis
35

Zweites Kapitel
Kollektives und historisches Gedächtnis

Autobiographisches und historisches Gedächtnis: ihr scheinbarer Widerstreit


Man ist noch nicht daran gewöhnt, vom Gedächtnis einer Gruppe zu sprechen, selbst bildlich
nicht. Es scheint, als könne die Fähigkeit des Sicherinnerns nur in dem Maße existieren und
fortdauern, als sie mit einem individuellen Körper oder Geist verbunden ist. Nehmen wir
jedoch an, daß die Erinnerungen auf zweierlei Art in Erscheinung treten — daß sie sich bald
einem bestimmten Menschen zugesellen können, der sie aus seiner Sicht betrachtet, bald sich
innerhalb einer großen oder kleinen Gesellschaft verteilen können, von der sie eine bestimmte
Anzahl von Teilbildern sind. Es würde also individuelle und, wenn man so will, kollektive
„Gedächtnisse" geben. Mit anderen Worten, das Individuum würde an zwei Arten von
Gedächtnissen teilhaben. Aber je nachdem, ob es an dem einen oder dem anderen teilhat,
würde es zwei sehr verschiedene und selbst gegensätzliche Haltungen einnehmen. Einerseits
würden seine Erinnerungen sich in den Rahmen seiner Persönlichkeit oder seines
persönlichen Lebens einfügen — sogar die, die es mit anderen gemeinsam hat, würden von
ihm allein unter dem Aspekt betrachtet, der es selber als sich von den anderen
unterscheidendes Individuum interessiert. Andererseits würde es zu bestimmten Zeitpunkten
fähig sein, einfach als Mitglied einer Gruppe aufzutreten, das dazu beiträgt, unpersönliche
Erinnerungen wachzurufen und zu unterhalten — in dem Maße, als diese die Gruppe
interessieren. Wenn diese beiden Gedächtnisse einander häufig durchdringen, wenn im
besonderen das individuelle Gedächtnis — um bestimmte Erinnerungen zu bestätigen, um sie
zu präzisieren und selbst um einige seiner Lücken zu schließen — sich auf das kollektive
Gedächtnis stützen, sich in es hineinversetzen, zeitweise mit ihm verschmelzen kann, folgt es
nichtsdestoweniger seiner eigenen Bahn, und dieser gesamte äußere Beitrag wird allmählich
seiner Substanz angeglichen und in sie aufgenommen. Das kollektive Gedächtnis andererseits
umfaßt die individuellen Gedächtnisse, aber verschmilzt nicht mit ihnen. Es entwickelt sich
seinen Gesetzen gemäß, und dringen auch zuweilen bestimmte individuelle Erinnerungen in
es ein, so verändern sie sich, sobald sie in eine Gesamtheit eingefügt werden, die nicht mehr
ein persönliches Bewußtsein ist.
Betrachten wir nun das individuelle Gedächtnis. Es ist nicht vollkommen isoliert und in sich
abgeschlossen. Um seine eigene Vergangenheit wachzurufen, muß ein Mensch oft
Erinnerungen anderer zu Rate ziehen. Er nimmt auf Anhaltspunkte Bezug, die außerhalb
seiner selbst liegen und von der Gesellschaft festgelegt worden sind. Mehr noch, das
Tätigsein des individuellen Gedächtnisses ist nicht möglich ohne jene Instrumente, die durch
die Worte und Vorstellungen gebildet werden, die das Individuum nicht erfunden und die es
seinem Milieu entliehen hat. Nichtsdestoweniger trifft es zu, daß man sich allein an das
erinnert, was man zu einem bestimmten Zeitpunkt gesehen, getan, gefühlt, gedacht hat — das
heißt, daß unser Gedächtnis nicht mit dem der anderen verwechselt werden kann. Es ist
räumlich und zeitlich ziemlich eng begrenzt. Das kollektive Gedächtnis ebenfalls — aber
seine Grenzen sind nicht dieselben. Sie können gedrängter, aber auch sehr viel weiter
gespannt sein. Im Laufe meines Lebens ist die nationale Gruppe, der ich angehöre, der
Schauplatz einer bestimmten Anzahl von Ereignissen gewesen, von denen ich behaupte, daß
ich mich an sie erinnere, die ich jedoch nur aus den Zeitungen kenne oder durch die
Zeugnisse jener, die unmittelbar in sie verwickelt gewesen sind. Sie nehmen im Gedächtnis
der Nation einen bestimmten Raum ein. Aber ich habe ihnen nicht selbst beigewohnt. Wenn
ich sie Wiederaufleben lasse, bin ich genötigt, mich völlig auf das Gedächtnis der anderen zu
verlassen, das hier nicht das meine ergänzt oder verstärkt, sondern das die alleinige Quelle
dessen ist, was ich mir von ihnen vergegenwärtigen will. Ich kenne sie oft weder besser noch
anders als jene früheren Ereignisse, die vor meiner Geburt stattgefunden haben. Ich trage
einen Bestand historischer Erinnerungen in mir, den ich durch Unterhaltungen oder Lektüre
bereichern kann. Dies jedoch ist ein ent-

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liehenes Gedächtnis und nicht das meine. Im nationalen Denken haben diese Ereignisse eine
tiefe Spur hinterlassen, nicht nur, weil die Institutionen durch sie verändert wurden, sondern
weil ihre Überlieferung innerhalb dieses oder jenes Bereiches der Gruppe sehr lebendig
fortlebt — innerhalb einer politischen Partei, einer Provinz, einer Berufsklasse oder selbst
innerhalb dieser oder jener Familie und in manchen Menschen, die persönlich ihre Zeugen
gekannt haben. Für mich sind dies Begriffe, Symbole; sie bieten sich mir in einer mehr oder
minder volkstümlichen Form dar; ich kann sie mir vorstellen; es ist mir gleichwohl
unmöglich, mich an sie zu erinnern. Mit einem Teil meiner Persönlichkeit bin ich der Gruppe
verbunden, so daß nichts, was in ihr vorgeht, solange ich an ihr teilhabe, nichts sogar, was sie
beschäftigt und verändert hat, bevor ich in sie eintrat, mir völlig fremd ist. Aber wenn ich die
Erinnerung an ein solches Ereignis in aller Vollständigkeit wiederherstellen wollte, müßte ich
all die deformierten und partiellen Wiedergaben vergleichend nebeneinanderstellen, die alle
Mitglieder der Gruppe von ihm gemacht haben. Dagegen gehören meine persönlichen
Erinnerungen ganz mir, sind ganz in mir beschlossen.
Es bestünde also die Veranlassung, tatsächlich zweierlei Gedächtnisse zu unterscheiden,
deren eines man, wenn man so will, innerlich oder intern und deren anderes man äußerlich
nennen würde, oder auch persönliches Gedächtnis und soziales Gedächtnis. Noch genauer
würden wir sagen: autobiographisches und historisches Gedächtnis. Das erste würde das
zweite zu Hilfe nehmen, da schließlich die Geschichte unseres Lebens zur Geschichte
allgemein gehört. Aber das zweite würde naturgemäß sehr viel umfassender sein als das erste.
Andrerseits würde es uns die Vergangenheit nur in gedrängter und schematischer Form
vergegenwärtigen, während die Erinnerung an unser eigenes Leben uns ein sehr viel
zusammenhängenderes und dichteres Bild geben würde.
Kommt man überein, daß wir unser persönliches Gedächtnis nur von innen her und das
kollektive Gedächtnis von außen her kennen, so wird tatsächlich zwischen dem einen und
dem anderen ein lebhafter Kontrast bestehen. Ich erinnere mich an Reims, weil ich ein ganzes
Jahr lang dort gelebt habe. Ebenso erinnere ich mich, daß Jeanne d'Arc in Reims gewesen ist
und daß man dort Karl VII. gesalbt hat, weil ich es erzählen hörte oder weil ich es gelesen
habe. Jeanne d'Arc

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ist so oft im Theater, im Film usw. dargestellt worden, daß es mir wirklich keinerlei Mühe
bereitet, mir Jeanne d'Arc in Reims vorzustellen. Gleichzeitig weiß ich wohl, daß ich nicht
Zeuge des Ereignisses selbst habe sein können; ich mache hier bei den Worten halt, die ich
gelesen oder gehört habe — bei quer durch die Zeit reproduzierten Zeichen, die alles sind,
was aus der Vergangenheit zu mir gelangt. Ebenso ist es mit allen historischen
Geschehnissen, die wir kennen. Eigennamen, Jahreszahlen, Formeln, die eine lange Reihe von
Einzelheiten zusammenfassen, bisweilen eine Anekdote oder ein Zitat: das ist die Gedenktafel
der Ereignisse früherer Zeiten, ebenso knapp, allgemein und arm an Sinn wie die Mehrzahl
der Inschriften, die man auf Grabmälern liest. Das bedeutet, daß die Geschichte in der Tat
einem Friedhof gleicht, dessen Raum abgemessen ist und auf dem jederzeit Platz für neue
Gräber gefunden werden muß.
Wenn das vergangene soziale Milieu für uns nur in derartigen historischen Formeln bestünde,
wenn — allgemeiner — das kollektive Gedächtnis nur Jahreszahlen und Definitionen oder
willkürliche Erinnerungen an Ereignisse enthielte, bliebe es uns durchaus fremd. Innerhalb
unserer so ausgedehnten nationalen Gesellschaft fließt manches Leben dahin, ohne mit den
gemeinsamen Interessen der größten Anzahl jener in Berührung zu kommen, die die Zeitung
lesen und den öffentlichen Angelegenheiten einige Aufmerksamkeit schenken. Wieviele
Zeitabschnitte gibt es nicht — selbst dann, wenn wir uns nicht in diesem Maße absondern —,
während derer wir, vom Lauf der Tage absorbiert, nicht mehr wissen, „was los ist". Später
werden wir uns vielleicht vornehmen, die bemerkenswertesten zeitgenössischen öffentlichen
Ereignisse während eines bestimmten Abschnittes unseres Lebens zusammenzustellen. Was
geschah in der Welt und in meinem Land im Jahre 1877, als ich geboren wurde? Es ist das
Jahr des 16. Mai, in dem sich die politische Lage von einer Woche zur anderen verändert, in
dem die Republik wirklich geboren wurde. Das Kabinett de Broglie war an der Macht.
Gambetta erklärte: „Il faut se soumettre ou se démettre". Zu diesem Zeitpunkt stirbt der Maler
Courbet. Ebenfalls zu diesem Zeitpunkt veröffentlicht Viktor Hugo den 2. Band der „Légende
des Siècles". In Paris vollendet man den Boulevard St. Germain und beginnt, die Avenue de
la République anzulegen. In Europa konzentriert sich alle Aufmerksamkeit auf den Krieg
Rußlands gegen die Türkei. Pascha Osman

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muß nach einer langen und heroischen Verteidigung Plevna übergeben. So rekonstruiere ich
einen Rahmen, der jedoch sehr weitgefaßt ist und in dem ich mich seltsam verloren fühle.
Von jenem Augenblick an bin ich zweifellos in den Strom des nationalen Lebens
aufgenommen worden, aber ich habe mich ihm kaum angehörig gefühlt. Ich war wie ein
Reisender auf einem Schiff. Die beiden Ufer gleiten am Auge vorüber, die Fahrt fügt sich gut
in diese Landschaft ein — aber nehmen wir an, der Reisende sei innerlich beschäftigt oder
werde durch seine Reisebegleiter abgelenkt: so wird er nur von Zeit zu Zeit darauf achten,
was am Ufer geschieht, und später wird er sich an die Fahrt erinnern können, ohne viel an
Einzelheiten der Landschaft zu denken, oder er wird ihren Verlauf auf der Karte verfolgen
können; vielleicht wird er auf diese Weise einige vergessene Erinnerungen wiederfinden,
andere präzisieren. Aber zwischen dem durchfahrenen Land und dem Reisenden wird es
keine wirkliche Verbindung gegeben haben.
Manche Psychologen mögen sich vielleicht vorstellen, daß die historischen Ereignisse als
Hilfsmittel unseres Gedächtnisses keine andere Rolle spielen als die auf einer Uhr
eingezeichneten oder durch den Kalender festgelegten Zeiteinteilungen. Unser Leben fließt in
einer fortgesetzten Bewegung dahin. Aber wenn wir auf das so Verflossene zurückblicken, ist
es uns stets möglich, seine verschiedenen Abschnitte zwischen die Unterteilungspunkte der
kollektiven Zeit zu verteilen — Punkte, die wir außerhalb unserer selbst vorfinden und die
allen individuellen Gedächtnissen von außen her aufgezwungen werden, gerade weil diese
ihren Ursprung in keinem dieser Abschnitte haben. Die so festgelegte soziale Zeit würde
völlig außerhalb der vom Bewußtsein gelebten Zeitdauer liegen. Dies wird offensichtlich,
sobald es sich um eine Uhr handelt, die die astronomische Zeit mißt. Aber ebenso ist es mit
den auf dem Zifferblatt der Geschichte eingezeichneten Daten, die den bemerkenswertesten
Ereignissen des Lebens einer Nation entsprechen, von denen wir bisweilen zum Zeitpunkt
ihres Geschehens keine Kenntnis haben oder deren Bedeutung wir erst später erkennen. Unser
Leben würde an der Oberfläche der sozialen Strukturen liegen, es würde ihnen in ihren
Veränderungen folgen, würde die Nachwirkung ihrer Erschütterungen erfahren. Aber ein
Ereignis nimmt seinen Platz innerhalb der Folge der historischen Tatsachen erst einige Zeit
ein, nachdem es geschehen ist. Wir kön-
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nen also nur nachträglich die verschiedenen Phasen unseres Lebens den nationalen
Geschehnissen zugliedern. Nichts würde besser beweisen, wie künstlich und äußerlich das
Verfahren ist, das darin besteht, die Unterteilungen des kollektiven Lebens zu Anhaltspunkten
zu nehmen. Ebenso würde nichts deutlicher zeigen, daß man in Wirklichkeit zwei
verschiedene Dinge beobachtet, richtet man seine Aufmerksamkeit einmal auf das
individuelle, zum anderen auf das kollektive Gedächtnis. Die Ereignisse und Daten, die die
Substanz selbst des Lebens der Gruppe darstellen, können für das Individuum nur äußere
Zeichen sein, auf die es allein unter der Voraussetzung Bezug nimmt, aus sich selbst
herauszutreten.
Gewiß, wenn das kollektive Gedächtnis über keine andere Materie als über Reihen von
Jahreszahlen oder Verzeichnisse historischer Fakten verfügte, würde es nur eine durchaus
sekundäre Rolle bei der Verdichtung unserer Erinnerungen spielen. Dies jedoch ist eine ganz
besonders eng gefaßte Konzeption, die nicht der Wirklichkeit entspricht. Eben aus diesem
Grunde ist es uns schwergefallen, sie in dieser Form darzustellen. Es war jedoch notwendig,
da sie durchaus mit einer allgemein anerkannten These übereinstimmt. Sehr häufig hält man
das Gedächtnis für eine im Grunde individuelle Fähigkeit, d. h. die innerhalb eines
Bewußtseins wirksam wird, das, abgeschieden von den anderen, allein auf sich selbst
angewiesen und fähig ist — sei es willentlich, sei es zufällig —, sich auf die Zustände zu
besinnen, die es ehemals durchlebt hat. Da es indessen unbestreitbar ist, daß wir unsere
Erinnerungen oft in einen Raum oder eine Zeit einordnen, über deren Unterteilungen wir uns
mit den anderen verständigen, daß wir sie zwischen Daten einfügen, die nur Sinn in
Verbindung mit den Gruppen haben, denen wir angehören, nimmt man an, daß dem so ist.
Dies jedoch stellt eine Art Mindestkonzession dar, die für jene, die ihr zustimmen, die
Spezifität des individuellen Gedächtnisses nicht beeinträchtigt.

Ihre reelle gegenseitige Durchdringung (Die Geschichte der Gegenwart)


„Indem ich mein Leben im Jahre 1835 beschreibe", beobachtete Stendhal, „mache ich etliche
Entdeckungen . . . Neben erhaltenen Freskenausschnitten fehlen die Daten; ich muß auf die
Jagd nach den Daten gehen ... Wie ist von meiner Ankunft in Paris im Jahre 1799
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an mein Leben mit den Ereignissen aus der Zeitung verbunden, alle Daten stehen fest ... Im
Jahre 1835 entdecke ich die Physiognomie und das Warum der Ereignisse" (Vie de Henri
Brulard). Die Daten und die historischen oder nationalen Ereignisse, die sie darstellen (denn
in diesem Sinne versteht sie Stendhal), können völlig außerhalb — zumindest scheinbar —
unserer Lebensumstände liegen; später aber, wenn wir darüber nachdenken, „machen wir
etliche Entdeckungen", „entdecken wir das Warum etlicher Ereignisse". Dies kann auf
mehrere Arten verstanden werden. Wenn ich eine Geschichte der Gegenwart durchblättere
und die verschiedenen französischen oder europäischen Ereignisse an mir vorbeiziehen lasse,
die seit meinem Geburtsdatum einander gefolgt sind, so habe ich, was die ersten acht oder
zehn Jahre meines Lebens betrifft, tatsächlich den Eindruck eines äußeren Rahmens, dessen
Existenz mir unbekannt war — und ich lerne, meine Kindheit in die Geschichte meiner Zeit
einzugliedern. Aber wenn ich auf solche Weise diese erste Phase meines Lebens von außen
her beleuchte, wird mein Gedächtnis in seinen persönlichen Elementen dadurch kaum
bereichert, und ich sehe in meiner kindlichen Vergangenheit keine neuen Lichter aufleuchten,
keine neuen Gegenstände auftauchen und sich enthüllen. Dies rührt zweifellos daher, daß ich
damals keine Zeitungen las und mich nicht in die Gespräche der Erwachsenen einmischte.
Gegenwärtig kann ich mir eine Vorstellung, aber eine notwendigerweise willkürliche
Vorstellung der öffentlichen und nationalen Verhältnisse machen, für die meine Eltern sich
interessiert haben müssen: ich kann mich ebensowenig an diese Ereignisse wie an die
Reaktion erinnern, die sie bei den Meinen auslösten. Mir scheint, als sei das erste die Nation
betreffende Ereignis, das in das Geflecht meiner Kindheitseindrücke eindrang, die Beerdigung
Victor Hugos gewesen (ich war damals acht Jahre alt). Ich sehe mich noch an der Seite
meines Vaters am Vorabend zum Arc de Triomphe de l'Etoile hinaufgehen, wo der Katafalk
errichtet war, und am nächsten Tag dem Trauerzug von einem Balkon an der Ecke der Rue
Soufflot und der Rue Gay-Lussac aus beiwohnen. Hat sich bis zu diesem Zeitpunkt keine
Erschütterung der nationalen Gruppe, in die ich eingeschlossen war, bis zu mir und dem
engen Kreis meiner Beschäftigungen hin ausgewirkt? Gleichwohl kam ich mit meinen Eltern
in Berührung: sie selbst waren für viele Einflüsse empfänglich; teilweise waren sie so und
nicht

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anders, weil sie eben zu jener Zeit lebten, in jenem Land, in bestimmten politischen und
nationalen Verhältnissen. In ihrer gewöhnlichen Erscheinung, in der allgemeinen
Gestimmtheit ihrer Gefühle entdecke ich vielleicht keine Spur bestimmter „historischer"
Ereignisse wieder. Aber es herrschte im Frankreich der auf den Krieg von 1870/71 folgenden
zehn, fünfzehn oder zwanzig Jahre sicherlich eine psychologisch und sozial einzigartige
Atmosphäre, die man zu keiner anderen Epoche wieder antreffen würde. Meine Eltern waren
Franzosen dieser Epoche; damals haben sie bestimmte Gewohnheiten und Züge angenommen,
die nie aufgehört haben, einen Teil ihrer Persönlichkeit auszumachen und die früh meine
Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben müssen. Es ist also keine Rede mehr von Daten und
Geschehnissen. Gewiß, die Geschichte selbst der Gegenwart besteht zu häufig allein aus einer
Reihe allzu abstrakter Begriffe. Aber ich kann diese vervollständigen, ich kann die
Vorstellungen durch Bilder und Eindrücke ersetzen, sobald ich die Gemälde, die Portraits, die
Stiche aus dieser Zeit betrachte, sobald ich an die Bücher denke, die erschienen, an die
Stücke, die aufgeführt wurden, an den Stil der Epoche, an die Scherze und die Art der Komik,
die damals beliebt waren. Bilden wir uns nun nicht ein, daß dieses Bild einer seit kurzem
entschwundenen und so durch künstliche Mittel wiederbelebten Welt der ein wenig
unnatürliche Hintergrund werden wird, auf den wir die Profile unserer Eltern projizieren
werden, und daß damit so etwas wie ein Milieu besteht, in das wir unsere Vergangenheit
eintauchen werden, um sie zu „enthüllen". Im Gegenteil, wenn die Welt meiner Kindheit —
so wie ich sie, mich erinnernd, wiederfinde — sich auf diese Weise natürlich in den Rahmen
einfügt, den das historische Studium dieser nahen Vergangenheit mir wieder herzustellen
erlaubt, so weil sie schon von ihr gezeichnet war. Ich entdecke, daß ich mit einem
genügenden Aufwand an Aufmerksamkeit in meinen Erinnerungen an diese kleine Welt das
Bild des Milieus hätte wiederfinden können, in dem sie einbegriffen war. Viele verstreute
Einzelheiten, zu vertraut vielleicht, als daß ich daran gedacht hätte, sie miteinander zu
verbinden, als daß ich ihre Bedeutung gesucht hätte, lösen sich jetzt los und fügen sich
untereinander zusammen. Ich lerne, in der Physiognomie meiner Eltern und im Gesamtbild
dieser Periode das zu unterscheiden, was sich nicht etwa durch die persönlichen Wesensarten,
durch Umstände, die zu jeder anderen

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Zeit hätten eintreten können, erklären läßt, sondern durch das zeitgenössische nationale
Milieu. Meine Eltern waren wie alle anderen Menschen Kinder ihrer Zeit — desgleichen ihre
Freunde und alle Erwachsenen, mit denen ich zu jener Zeit in Berührung kam. Wenn ich mir
vergegenwärtigen will, wie man zu dieser Zeit lebte, wie man dachte, so wendet sich meine
Überlegung ihnen zu. Dies bewirkt, daß mich die zeitgenössische Geschichte in ganz anderer
Weise interessiert als die Geschichte der vorhergehenden Jahrhunderte. Sicherlich kann ich
nicht sagen, daß ich mich in allen Einzelheiten an die Geschehnisse erinnere, da ich sie nur
aus Büchern kenne. Aber im Unterschied zu den anderen Epochen lebt diese in meinem
Gedächtnis, da ich in sie hineinversetzt wurde und da ein ganzer Teil meiner Erinnerungen an
früher ihr Abglanz ist.
So ist es besser — selbst wenn es sich um Erinnerungen an unsere Kindheit handelt —, nicht
zu unterscheiden zwischen einem persönlichen Gedächtnis, das unsere damaligen Eindrücke
unverändert wiedergeben würde, das uns nicht aus dem engen Kreis unserer Familie, der
Schule und unserer Freunde herausführen würde, und einem anderen Gedächtnis, das man
historisch nennen würde, in dem nur die nationalen Ereignisse enthalten wären, von denen wir
damals keine Kenntnis haben konnten — so als würden wir durch das eine in ein Milieu
eindringen, in dem unser Leben sich schon abspielte, jedoch ohne daß wir es wußten,
während das andere uns nur mit uns selber oder mit einem Ich in Verbindung setzen würde,
das in Wirklichkeit bis auf die Grenzen der Gruppe ausgedehnt ist, die die Welt des Kindes
umschließt. Nicht auf die gelernte, sondern auf die gelebte Geschichte stützt sich unser
Gedächtnis. Unter Geschichte ist dann nicht eine chronologische Folge von Ereignissen und
Daten zu verstehen, sondern alles, was bewirkt, daß eine Epoche sich von der anderen
unterscheidet und wovon die Bücher und Berichte uns im allgemeinen nur ein sehr
schematisches und unvollständiges Bild
bieten.
Man wird uns vorwerfen, diese Form des kollektiven Gedächtnisses, die die Geschichte sei,
jenes unpersönlichen Charakters, jener abstrakten Präzision und jener relativen Einfachheit zu
berauben, die aus ihr gerade einen Rahmen machen, auf den unser individuelles Gedächtnis
sich stützen könnte. Wenn wir uns auf die Eindrücke beschränken, die bestimmte Ereignisse
oder die Haltung unserer El-

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tern Ereignissen gegenüber, die später eine historische Bedeutung haben werden, oder allein
die Sitten, die Sprech- und Handlungsweisen einer Epoche auf uns gemacht haben — worin
unterscheiden sie sich von all dem, was unser Kinderleben ausfüllt und was das Gedächtnis
der Nation nicht aufbewahren wird? Wie könnte das Kind fähig sein, den
aufeinanderfolgenden Abschnitten des Bildes, das das Leben vor ihm aufrollt, verschiedene
Werte zuzumessen und warum sollten ihm besonders die Geschehnisse oder die Züge
auffallen, die die Aufmerksamkeit der Erwachsenen fesseln, weil diese über viele zeitliche
und räumliche Anhaltspunkte zum Vergleich verfugen? Ein Krieg, ein Aufstand, eine
nationale Zeremonie, ein Volksfest, ein neues Fortbewegungsmittel, Bauarbeiten, die die
Straßen eines Stadtzentrums verändern, können in der Tat aus zweierlei Sicht betrachtet
werden. Es sind in ihrer Art einzige Vorkommnisse, durch die das Dasein einer Gruppe
verändert wird. Aber sie lösen sich andrerseits in eine Reihe von Bildern auf, die das
individuelle Bewußtsein durchziehen. Betrachtet man nur diese Bilder, werden sie sich im
Bewußtsein eines Kindes von den anderen durch ihre Besonderheit, durch ihren Glanz, ihre
Intensität abheben; ebenso aber ist es mit etlichen Bildern, die nicht Ereignissen von solcher
Tragweite entsprechen. Ein Kind kommt nachts auf einem mit Soldaten überfüllten Bahnhof
an. Ob diese aus den Schützengräben kommen oder dorthin zurückfahren, oder ob sie einfach
im Manöver sind — sie werden es nicht mehr, nicht weniger beeindrucken. Was war von
weitem die Kanone der Schlacht von Waterloo als nur ein verschwommenes Donnergrollen?
Ein Wesen wie das ganz kleine Kind, das auf seine Wahrnehmungen beschränkt ist, wird an
solche Schauspiele nur eine schwache und wenig dauerhafte Erinnerung zurückbehalten. Um
hinter dem Bild die historische Realität zu erfassen, muß es aus sich selbst heraustreten, muß
man ihm die Betrachtungsweise der Gruppe zugänglich machen, muß es sehen können, wie
ein bestimmtes Geschehnis Geschichte macht, weil es in den Kreis der Beschäftigungen,
Interessen und Leidenschaften der Nationen eingedrungen ist. Aber in diesem Augenblick
hört das Ereignis auf, einem persönlichen Eindruck gleichzukommen. Wir nehmen wieder
Verbindung mit dem Schema der Geschichte auf. Man muß sich also wohl — so wird man
sagen — auf das historische Gedächtnis stützen. In ihm drückt dieses, meinem Kinderleben
fremde Ereignis gleichwohl einem

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bestimmten Tag, einer bestimmten Stunde sein Zeichen auf, und in ihm wird mich der
Anblick dieses Zeichens an die Stunde oder den Tag erinnern; aber es selbst ist oberflächlich,
von außen her aufgedrückt, ohne Beziehung zu meinem persönlichen Gedächtnis und meinen
Kindheitseindrücken.
Einer solchen Beschreibung liegt außerdem die Vorstellung zugrunde, daß die Denkweisen
ebenso deutlich voneinander getrennt sind wie ihre materiellen Träger, die Organismen. Und
jeder von uns ist vor allem und bleibt meistens in sich selbst eingeschlossen. Wie erklärt sich
dann, daß er sich den anderen mitteilt und sein Denken auf das ihre abstimmt? Man wird also
annehmen, daß sich eine Art künstliches Milieu bildet, das außerhalb all dieses persönlichen
Denkens besteht, es aber umschließt — eine kollektive Zeit und ein kollektiver Raum und
eine kollektive Geschichte. Innerhalb eines solchen Rahmens würden die Denkweisen der
Individuen ineinander übergehen, was voraussetzt, daß jeder von uns zeitweise aufhören
würde, er selbst zu sein. Bald würde er wieder in sich selbst zurückkehren und in sein
Gedächtnis Anhaltspunkte und Zeit- oder Raumeinteilungen einführen, die er völlig fertig von
außen her mitbringen würde. Wir werden unsere Erinnerungen an sie anknüpfen, aber
zwischen diesen Erinnerungen und diesen Bezugspunkten wird keine innere Verbindung,
keine Substanzgemeinschaft bestehen. Deshalb würden diese historischen und allgemeinen
Kenntnisse hier nur eine durchaus zweitrangige Rolle spielen: sie setzen die vorherige und
autonome Existenz des individuellen Gedächtnisses voraus. Die kollektiven Erinnerungen
würden die individuellen Erinnerungen überlagern und uns somit erlauben, diese bequemer
und sicherer wiederaufzugreifen; aber in diesem Falle müssen die individuellen Erinnerungen
zuerst da sein. Sonst würde unser Gedächtnis vergeblich arbeiten. So gibt es gewiß einen Tag,
an dem ich zum erstenmal einen bestimmten Kameraden getroffen habe, oder, wie Blondel
sagt, einen ersten Tag, an dem ich auf dem Gymnasium war. Dies ist mir ein geschichtlicher
Begriff, aber wenn ich innerlich nicht eine persönliche Erinnerung an dieses erste Treffen, an
diesen ersten Tag habe, wird dieser Begriff in der Luft hängen, dieser Rahmen leer bleiben,
ich werde mich auf nichts besinnen. So gibt es offensichtlich in jedem Gedächtnisakt ein
spezifisches Element, das in der Existenz eines

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individuellen Bewußtseins besteht, das fähig ist, sich selbst zu genügen.

Die von der Kindheit an erlebte Geschichte


Aber kann man wirklich unterscheiden einerseits zwischen einem Gedächtnis ohne Rahmen,
einem Gedächtnis, das, um seine Erinnerungen zu ordnen, nur über die Wörter der Sprache
und einige dem praktischen Leben entlehnte Begriffe verfügen würde — und andererseits
einem historischen oder kollektiven Rahmen ohne Gedächtnis, d. h. der nicht innerhalb des
individuellen Gedächtnisses konstruiert, rekonstruiert und aufbewahrt werden würde? Wir
glauben es nicht. Sobald das Kind die Stufe des rein sensitiven Lebens überschritten hat,
sobald es sich für die Bedeutung der Bilder interessiert, die es wahrnimmt, kann man sagen,
daß es gemeinsam mit den anderen denkt und daß sein Denken zwischen der Flut ganz
persönlicher Eindrücke und verschiedenen kollektiven Denkströmungen geteilt ist. Es ist
nicht mehr in sich selbst eingeschlossen, da sein Denken jetzt völlig neue Perspektiven
beherrscht, von denen es weiß, daß es seine Blicke nicht alleine in ihnen spazieren führt.
Jedoch ist es nicht aus sich herausgetreten, und um sich den Gedankenreihen aufzuschließen,
die den Mitgliedern seiner Gruppe gemeinsam sind, ist es nicht genötigt, sein eigenes Denken
völlig aufzugeben, denn unter irgendeinem Aspekt und in irgendeiner Beziehung interessieren
diese neuen, nach außen gerichteten Beschäftigungen immer noch, was wir hier den inneren
Menschen nennen, d. h. sie sind unserem persönlichen Leben nicht völlig fremd.
Stendhal wohnte als Kind von der Galerie des Hauses aus, in dem sein Großvater wohnte,
einem Volksaufstand bei, der zu Beginn der Revolution in Grenoble ausbrach: dem „Tag der
Dachziegel" („Journée des Tuiles"). „Das Bild", erzählt er, „kann mir nicht deutlicher vor
Augen stehen. Es ist ungefähr 43 Jahre her. Ein Hutmacher, durch einen Bajonettstoß im
Rücken verletzt, ging mühevoll auf zwei Männer gestützt, auf deren Schultern er seine Arme
gelegt hatte. Er war ohne Rock, sein Hemd und seine gelbliche oder weiße Hose waren voll
Blut. Ich sehe ihn noch. Die Wunde, aus der das Blut strömte, war tief unten im Rücken,
ungefähr gegenüber dem Nabel... Ich sah diesen Unglücklichen auf allen Etagen der Treppe
des Hauses Périer wieder (in dem man ihn zum sechsten Stock hin-

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aufbrachte). Diese Erinnerung ist begreiflicherweise die deutlichste, die mir aus dieser Zeit
geblieben ist" (Vie de Henri Brulard, S. 64). Dies ist in der Tat ein Bild, aber ein Bild, das
sich im Zentrum eines Gesamtgemäldes befindet, einer Volks- und Revolutionsszene, deren
Zuschauer Stendhal gewesen ist: er hat später oft ihre Beschreibung hören müssen, besonders
da dieser Aufstand damals als der Anfang einer sehr bewegten politischen Periode und als von
entscheidender Bedeutung erschien. Selbst wenn er zunächst nicht wußte, daß dieser Tag
seinen Platz zumindest in der Geschichte Grenobles haben würde, so genügten doch die
ungewöhnliche Lebhaftigkeit auf den Straßen, die Gesten und Kommentare seiner
Verwandten, um ihn verstehen zu lassen, daß das Ereignis den Kreis seiner Familie oder
seines Straßenviertels überschritt. Ebenso sieht er sich an einem anderen Tag während dieser
Zeit in der Bibliothek, wie er seinem Großvater in einem mit Menschen gefüllten Saal zuhört.
„Aber warum alle diese Menschen? Aus welchem Anlaß? Das sagt das Bild nicht. Es ist nur
Bild" (ibid. S. 60). Würde er jedoch die Erinnerung daran behalten haben, wenn es sich nicht,
wie der „Tag der Dachziegel", in einen Rahmen geistiger Beschäftigungen einfügen würde,
die zu dieser Zeit in ihm zum Durchbruch kamen und durch die er schon an einer breiteren
kollektiven Denkströmung teilnahm?
Es kann sein, daß die Erinnerung nicht sofort von dieser Strömung erfaßt wird und daß einige
Zeit verstreicht, bevor wir den Sinn des Ereignisses verstehen. Das Grundlegende ist, daß der
Augenblick, in dem wir verstehen, recht früh kommt, d. h. während die Erinnerung noch
lebendig ist. Dann sehen wir die Erinnerung selbst gewissermaßen seine historische
Bedeutung ausstrahlen. Aus der Haltung der Erwachsenen dem Geschehen gegenüber, das
uns aufgefallen ist, wußten wir wohl, daß es verdienen würde, behalten zu werden. Wenn wir
uns daran erinnern, so weil wir fühlten, daß man sich um uns herum damit beschäftigte.
Später werden wir besser verstehen, warum. Anfangs war die Erinnerung wohl in der
Strömung mit einbegriffen, aber sie wurde durch irgendein Hindernis zurückgehalten, von
den Gräsern des Ufers erfaßt, blieb sie zu nahe am Rand. Auch durchziehen etliche soziale
Denkströmungen den Geist des Kindes, aber erst auf die Dauer erfassen sie alles, was ihnen
angehört.
Ich erinnere mich (es ist eine meiner frühesten Erinnerungen), daß vor unserem Haus in der
Rue Gay-Lussac, dort wo jetzt das Ozeano-
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graphische Institut steht, neben dem Kloster ein kleines Gasthaus lag, in dem Russen
abgestiegen waren. Man sah sie mit Pelzmützen und Schafspelz vor der Türe sitzen, man sah
ihre Frauen und Kinder. Vielleicht hätte ich sie trotz der Fremdheit ihrer Kleidung und ihres
Typs nicht so lange betrachtet, wenn ich nicht bemerkt hätte, daß die Passanten
stehengeblieben und daß meine Eltern selbst auf den Balkon kamen, um sie anzuschauen. Es
waren Einwohner Sibiriens, die von tollwütigen Wölfen gebissen worden waren und sich für
einige Zeit in Paris in der Nähe der Rue d'Ulm und der Ecole Normale niederließen, um von
Pasteur behandelt zu werden. Ich hörte diesen Namen zum erstenmal, und zum erstenmal
auch vergegenwärtigte ich mir, daß es Gelehrte gab, die Entdeckungen machten. Ich weiß im
übrigen nicht, inwieweit ich verstand, was ich darüber sagen hörte. Vielleicht habe ich es erst
später völlig begriffen. Aber ich glaube nicht, daß diese Erinnerung so deutlich in mir
geblieben wäre, wenn bei diesem Bild mein Denken nicht schon neuen Horizonten zugewandt
gewesen wäre — unbekannten Regionen, in denen ich mich immer weniger einsam fühlte.
Diese Anlässe, bei denen das Kind infolge irgendeiner Erschütterung des sozialen Milieus
unvermittelt den engen Kreis, der es einschloß, sich halb öffnen sieht, diese Enthüllungen —
während plötzlicher Ausblicke — eines politischen nationalen Lebens, auf dessen Niveau es
normalerweise nicht gelangt, sind sehr selten. Wenn es sich in die ernsthaften Gespräche der
Erwachsenen einmischen, wenn es die Zeitungen lesen wird, wird es das Gefühl haben, ein
unbekanntes Land zu entdecken. Indessen wird es nicht das erste Mal sein, daß es mit einem
umfassenderen Milieu als dem seiner Familie oder der kleinen Gruppe seiner Freunde oder
der Freunde seiner Eltern in Berührung kommt. Die Eltern haben ihre Interessen, die Kinder
haben andere, und es gibt viele Gründe, aus denen die Grenze zwischen diesen beiden
Gedankenzonen nicht überschritten wird. Aber das Kind kommt ebenso mit einer Kategorie
von Erwachsenen zusammen, deren gewöhnliche Unkompliziertheit der Anschauungen sie
ihm näher bringt. Dies sind beispielsweise die Dienstboten. Mit ihnen unterhält das Kind sich
gern — zum Ausgleich für die Zurückhaltung und das Schweigen, zu dem seine Eltern es bei
allem, was „nicht seinem Alter gemäß ist", verurteilen. Die Dienstboten sprechen zuweilen
freimütig vor dem Kind oder mit ihm, und
48 Kollektives und historisches Gedächtnis
es versteht sie, da sie sich oft wie große Kinder ausdrücken. Fast alles, was ich über den Krieg
von 1870, die Kommune, das Zweite Empire, die Republik gewußt habe und was ich davon
habe verstehen können, ist mir aus den Erzählungen einer alten, völlig abergläubischen und
voreingenommenen Kinderfrau vermittelt worden, die ohne weiteres das Bild dieser
Ereignisse und Regime akzeptierte, so wie es von der Einbildung des Volkes gemalt worden
war. Durch sie gelangte das verworrene Gerücht zu mir, das wie die Bewegung der
Geschichte ist, die sich innerhalb der Bauern-, Arbeiter- und Kleineleutemilieus fortpflanzt.
Meine Eltern konnten die Achseln zucken, wenn sie es hörten. In diesen Augenblicken
erreichte mein Denken undeutlich, wenn auch nicht die Ereignisse selbst, so doch zumindest
einen Teil der menschlichen Milieus, die davon bewegt wurden. Heute noch erweckt mein
Gedächtnis diesen ersten historischen Rahmen meiner Kindheit zur gleichen Zeit wie meine
ersten Eindrücke wieder. In dieser Form jedenfalls habe ich mir anfangs die Ereignisse
vergegenwärtigt, die kurz vor meiner Geburt geschehen waren, und wenn ich auch jetzt
erkenne, wie unzutreffend diese Schilderungen waren, so kann ich doch nicht mehr ändern,
daß ich mich über diesen verschwommenen Strom gebeugt habe und daß mehr als eines
dieser verworrenen Bilder noch manche meiner Erinnerungen an früher umrahmt und
verzerren.
Das lebendige Band der Generationen
Das Kind kommt ebenfalls mit den Großeltern in Berührung, und durch sie findet es in eine
noch fernere Vergangenheit zurück. Die Großeltern nähern sich den Kindern an, vielleicht
weil — aus verschiedenen Gründen — die einen wie die anderen sich nicht für die
zeitgenössischen Ereignisse interessieren, auf die sich die Aufmerksamkeit der Eltern richtet.
„In den ländlichen Gesellschaften", sagt Max Bloch, „kommt es recht häufig vor, daß
tagsüber, während Vater und Mutter auf dem Feld oder mit tausend Hausarbeiten beschäftigt
sind, die kleinen Kinder der Obhut der ,Alten' anvertraut bleiben, und von diesen werden
ihnen in gleicher Weise, wenn nicht stärker als von ihren direkten Eltern Gebräuche und
Traditionen aller Art übermittelt" (Mémoire collective, traditions et coutumes. Revue de
Synthèse historique, 1925, Heft 118—120, S. 79). Gewiß gehören auch die Großeltern, die
Bejahrten, „ihrer Epoche" an. Ob-

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gleich das Kind dies nicht sogleich wahrnimmt und die persönlichen Züge seines Großvaters
nicht erkennt — was sich einfach daraus zu erklären scheint, daß er alt ist — und obgleich es
nicht unterscheidet, was er von der früheren Gesellschaft übernommen hat, in der er gelebt, in
der er sich gebildet hat und von der er gezeichnet bleibt, empfindet das Kind jedenfalls, daß
es, wenn es in das Haus seines Großvaters eintritt, wenn es in sein Straßenviertel oder in die
Stadt kommt, in der er wohnt, in einen andersgearteten Bereich eindringt, der ihm jedoch
nicht fremd ist, da er zu sehr zu dem Gesicht und der Seinsweise der ältesten Mitglieder
seiner Familie paßt. In deren Augen — und es wird sich dessen bewußt — nimmt es
gewissermaßen die Stelle seiner Eltern selbst ein, Eltern jedoch, die Kinder geblieben sind
und die nicht vollkommen am Leben und an der Gesellschaft der Gegenwart teilnehmen. Wie
sollte es sich nicht — in gleicher Weise wie für die Ereignisse, die es selbst betreffen und in
die es verwickelt worden ist — für alles interessieren, was jetzt in den Berichten der alten
Menschen wiederersteht, die den Zeitunterschied vergessen und über die Gegenwart hinweg
die Vergangenheit mit der Zukunft verknüpfen? Es sind nicht nur die früheren Geschehnisse,
sondern auch die Seins- und Denkweisen, die so in seinem Gedächtnis haften bleiben. Man
bedauert bisweilen, nicht gründlicher diese einzigartige Gelegenheit genutzt zu haben, mit
Zeitabschnitten in direkte Berührung zu kommen, die man jetzt nur von außen her kennen
wird — durch die Geschichte, durch die Gemälde, durch die Literatur. Jedenfalls hebt sich die
Gestalt eines bejahrten Verwandten in dem Maße als sie durch all das gewissermaßen
konkretisiert wird, was sie uns über eine frühere Epoche und Gesellschaft enthüllt, in unserem
Gedächtnis nicht als eine ein wenig verwischte physische Erscheinung ab, sondern mit dem
Relief und der Farbe einer Figur, die im Mittelpunkt eines Gemäldes steht, das sie
zusammenfaßt und verdichtet. Warum hat Stendhal von allen Mitgliedern seiner Familie eine
so tiefgehende Erinnerung besonders an seinen Großvater behalten und warum zeichnet er uns
ein so lebendiges Portrait gerade von ihm? Liegt der Grund nicht darin, daß dieser für ihn das
ausgehende 18. Jahrhundert darstellt, weil er einige der „Philosophen" gekannt hatte, weil
Stendhal durch ihn in jene vorrevolutionäre Gesellschaft hat eindringen können, mit der er
sich unaufhörlich beschäftigen wird? Wäre die Gestalt dieses Greises

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nicht frühzeitig in seinem Denken mit den Werken Diderots, Voltaires, d'Alemberts, mit
einem Interessen- und Gefühlsbereich verbunden gewesen, der den Horizont einer kleinen,
engstirnigen und konservativen Provinz überschritt, wäre er nicht er selbst gewesen, d. h.
derjenige seiner Verwandten, den Stendhal am meisten geschätzt und am häufigsten erwähnt
hat. Er hätte sich vielleicht mit ebensolcher Deutlichkeit an ihn erinnert, aber er hätte nicht
eine solche Stelle in seinem Gedächtnis eingenommen. Es ist das 18. Jahrhundert — aber das
gelebte 18. Jahrhundert, das sein Denken wirklich durchdrungen hat —, das ihm in all seiner
Schärfe das Abbild des Großvaters zeigen wird. Die kollektiven Rahmen des Gedächtnisses
bestehen also nicht nur aus Jahreszahlen, Namen und Formeln, sondern stellen Denk- und
Erfahrungsströmungen dar, in denen wir unsere Vergangenheit nur wiederfinden, weil sie von
ihnen durchzogen worden ist.
Die Geschichte ist nicht die gesamte Vergangenheit, aber sie ist auch nicht das, was von der
Vergangenheit übrigbleibt. Ja, wenn man so will, gibt es neben der geschriebenen Geschichte
eine lebendige Geschichte, die durch die Epochen hindurch fortbesteht oder sich erneuert und
innerhalb der es möglich ist, eine ganze Anzahl jener ehemaligen Strömungen
wiederzufinden, die nur scheinbar verschwunden waren. Wenn das nicht so wäre, hätten wir
dann das Recht, von einem kollektiven Gedächtnis zu sprechen? Und wozu könnten uns
Rahmen dienen, die nur noch in Form unpersönlicher und nüchterner historischer Begriffe
bestehen? Die Gruppen, in denen sich früher Konzeptionen und Geisteshaltungen bildeten,
die eine Zeitlang die gesamte Gesellschaft beherrschten, treten bald zurück und machen
anderen Platz, die ihrerseits während einer bestimmten Zeit Sitten und Gebräuche bestimmen
und die öffentliche Meinung nach neuen Modellen formen. Man könnte meinen, daß die Welt,
die wir noch mit unseren bejahrten Großeltern betrachtet haben, plötzlich entwichen ist. Da
uns an die Übergangszeit zwischen jener weit vor unserer Geburt liegenden Welt und der
Epoche, in der die zeitgenössischen nationalen Interessen sich unserer bemächtigen, kaum
Erinnerungen bleiben, die den Familienkreis überschreiten, ist es, als habe es tatsächlich eine
Unterbrechung gegeben, in der die Welt der Erwachsenen langsam verblichen ist, während
neue Züge das Bild überdeckten. Beachten wir jedoch, daß es vielleicht

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kein früheres Milieu, keinen früheren Denk- oder Gefühlszustand gibt, von dem keine Spuren
fortbestehen — ja sogar mehr als Spuren —, kurz alles, was notwendig ist, um ihn zeitweise
wieder aufleben zu lassen.
So hat es mir oft geschienen, als hätte ich innerhalb der Gruppe, die ich bisweilen mit meinen
Großeltern gebildet und neugebildet habe, die letzten Ausklänge der Romantik
wahrgenommen. Unter Romantik verstehe ich nicht nur eine künstlerische und literarische
Bewegung, sondern auch eine besondere Art der Empfindsamkeit, die nicht mit der Stimmung
der sensiblen Gemüter des ausgehenden 18. Jahrhunderts zu verwechseln ist, sich jedoch auch
nicht sehr deutlich von ihr unterscheidet und die sich teilweise in der Frivolität des Zweiten
Empire aufgelöst hat, zweifellos aber hartnäckiger in den ein wenig abgelegenen Provinzen
fortlebte (und dort eben habe ich ihre letzten Spuren gefunden). Indessen ist es uns sehr wohl
gestattet, dieses Milieu zu rekonstruieren und um uns herum diese Atmosphäre
wiederherzustellen — insbesondere an Hand von Büchern, Stichen und Bildern. Es handelt
sich hier nicht in erster Linie um große Dichter und ihre bedeutendsten Werke. Sie machen
auf uns zweifellos einen ganz anderen Eindruck als auf die Zeitgenossen. Wir haben in ihnen
etliche Entdeckungen gemacht. Aber da gibt es die Zeitschriften der Epoche und jene gesamte
„Familien"-Literatur, in denen diese Geisteshaltung, die alles durchdrang und in allen Formen
auftrat, eingefangen ist. Beim Umblättern scheint es uns, als sähen wir noch die Großeltern,
die die Gesten, den Ausdruck, die Haltung hatten und die Kleidung trugen, die diese Stiche
wiedergeben; wir meinen ihre Stimmen zu hören und die Ausdrücke, die sie gebrauchten.
Zweifellos ist es ein Zufall, daß diese „Unterhaltungsblätter für's Haus" und „pittoresken
Illustrierten, Zeitschriften" fortbestanden haben. Man hätte sie im übrigen ebensogut niemals
aus ihrem Fach herauszunehmen und zu lesen brauchen. Wenn ich jedoch diese Bücher
öSnen, wenn ich diese Stiche, Bilder und Portraits wieder anschauen will, gehe ich nicht etwa
hin — angeregt durch die Neugierde des Gelehrten oder die Vorliebe für alte Dinge — und
schlage in den Büchern in einer Biblothek nach oder betrachte die Bilder in einem Museum.
Sie sind bei mir oder bei meinen Verwandten, ich entdecke sie bei Freunden, sie fesseln
meinen Blick an den Seineufern, in den Schaufenstern der Antiquitätenläden.

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Zudem hat die Vergangenheit außerhalb der Stiche und Bücher in der heutigen Gesellschaft
etliche bisweilen sichtbare Spuren hinterlassen, die man ebenso im Ausdruck der Gesichter
wie im Aussehen der örtlichkeiten wahrnimmt — und selbst in den Arten des Denkens und
Fühlens, die von bestimmten Menschen und in bestimmten Milieus unbewußt beibehalten
worden sind. Man gibt gewöhnlich hierauf kaum acht. Aber es genügt, daß man seine
Aufmerksamkeit in diese Richtung lenkt, um wahrzunehmen, daß die modernen Gebräuche
auf alten Schichten beruhen, die an mehr als einer Stelle zum Vorschein kommen.
Bisweilen muß man ziemlich weit zurückdenken, um scheinbar unverändert erhaltene Inseln
der Vergangenheit zu entdecken, so daß man sich plötzlich um fünfzig oder sechzig Jahre
zurückversetzt fühlt. In Österreich, in Wien, hatte ich eines Tages in der Familie eines
Bankiers, bei dem ich eingeladen war, den Eindruck, mich in einem französischen Salon um
1830 zu befinden. Das lag weniger an der äußeren Ausstattung, an den Möbeln, als an einer
recht eigenartigen mondänen Atmosphäre, an der Art, wie die Gruppen sich bildeten, an
irgendetwas ein wenig Konventionellem, das wie ein Abglanz des Ancien Régime war.
Ebenso erlebte ich in Algerien in einem Gebiet, in dem die europäischen Ansiedlungen recht
zerstreut waren und in das man nur mit einem Postwagen gelangte, daß ich neugierig Männer-
und Frauentypen beobachtete, die mir vertraut vorkamen, weil sie jenen glichen, die ich auf
Stichen aus dem Zweiten Empire gesehen hatte, und ich stellte mir vor, daß die Franzosen, die
sich dort nach der Eroberung niedergelassen hatten, wie auch ihre Kinder in dieser
Abgeschiedenheit und Ferne mit Vorstellungen und Gebräuchen hatten leben müssen, die
noch aus jener Epoche stammten. Auf jeden Fall vereinigten sich diese beiden reellen oder
imaginären Bilder in mir mit Erinnerungen, die mich in ähnliche Milieus versetzten: eine alte
Tante, die ich etliche Male in einem bestimmten Salon sah, ein alter Offizier im Ruhestand,
der zu Beginn der Kolonialzeit in Algerien gelebt hatte. Ohne jedoch Frankreich, selbst Paris
oder eine Stadt, in der wir ständig gelebt haben, zu verlassen, können wir leicht und häufig
Beobachtungen gleicher Art anstellen. Obwohl sich seit einem halben Jahrhundert das
Aussehen der Städte recht verändert hat, gibt es mehr als ein Stadtviertel, in Paris selbst mehr
als eine Straße, mehr als einen Häuserblock, die sich von der
restlichen Stadt abheben und ihre frühere Physiognomie bewahren. Die Bewohner gleichen
im übrigen dem Straßenviertel oder dem Haus. Nun besteht zu jeder Epoche eine enge
Beziehung zwischen den Gewohnheiten, der Geisteshaltung einer Gruppe und dem Aussehen
des Raumes, in dem sie lebt. Es hat ein Paris des Jahres 1860 gegeben, dessen Bild eng mit
der zeitgenössischen Gesellschaft und den zeitgenössischen Gebräuchen verbunden ist. Um es
Wiederaufleben zu lassen, genügt es nicht, daß man die Tafeln aufsucht, die auf die Häuser
hinweisen, in denen einige berühmte Persönlichkeiten dieser Epoche gelebt haben und
gestorben sind — auch nicht, daß man eine Geschichte der Umbauten von Paris liest.
Vielmehr bemerkt der Beobachter in der Stadt und in der Bevölkerung von heute etliche Züge
der damaligen Zeit, besonders in jenen abgeschiedenen Zonen, in die sich das kleine
Handwerk verflüchtigt, oder auch an manchen Tagen oder Abenden eines Volksfestes im
Paris der Kleinhändler und Arbeiter, das sich weniger gewandelt hat als das andere. Aber das
Paris von damals findet sich vielleicht noch besser in manchen kleinen Provinzstädten wieder,
aus denen die Menschentypen, die Kleidung selbst und die Sprechweisen nicht verschwunden
sind, die man in der Rue St. Honoré und auf den Pariser Boulevards zur Zeit Balzacs antraf.
Im Kreise selbst unserer Eltern haben unsere Großeltern ihre Spur hinterlassen. Früher
bemerkten wir sie nicht, weil wir vor allem für das empfänglich waren, was die Generationen
voneinander unterschied. Unsere Eltern gingen uns voran und führten uns der Zukunft
entgegen. Es kommt ein Augenblick, in dem sie innehalten und wir sie überholen. Dann
müssen wir uns nach ihnen umwenden, und es scheint uns, als seien sie gegenwärtig in die
Vergangenheit aufgenommen worden und mit den Schatten von früher vereint. Marcel Proust
beschreibt auf einigen bewegten und tiefgründigen Seiten, wie es ihm seit den Wochen, die
dem Tod seiner Großmutter folgten, plötzlich schien, als identifiziere sich seme Mutter in
ihren Zügen, ihrem Ausdruck und ihrem gesamten Aussehen allmählich mit der Verstorbenen
und als zeige sie ihm deren Bild — so als ob innerhalb der Generationen der gleiche Typ in
zwei aufeinanderfolgenden Wesen wiedererstehe. Ist dies einfach ein Phänomen
physiologischer Verwandlung, und muß man sagen, daß, wenn wir unsere Großeltern in
unseren Eltern wiederfinden, unsere Eltern altern, und daß

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auf der Leiter der Altersstufen die leergewordenen Plätze schnell besetzt sind, da man sie
unaufhörlich hinuntersteigt? Aber vielleicht rührt alles vielmehr daher, daß wir unsere
Aufmerksamkeit in eine andere Richtung lenken. Unsere Eltern und unsere Großeltern
vertraten für uns zwei verschiedene und deutlich getrennte Epochen. Wir bemerkten nicht,
daß unsere Großeltern mehr der Gegenwart und unsere Eltern mehr der Vergangenheit
verbunden waren als wir glaubten. Zwischen dem Augenblick, in dem ich inmitten der
Menschen und Dinge erwacht bin, und dem Krieg von 1870 waren zehn Jahre verflossen. Das
Zweite Empire war in meinen Augen eine weit entfernte Periode, die einer fast
verschwundenen Gesellschaft entsprach. Gegenwärtig trennen mich zwölf bis fünfzehn Jahre
vom Weltkrieg, und ich nehme an, daß für meine Kinder die Gesellschaft der Zeit vor 1914,
die sie nicht gekannt haben, in gleicher Weise in eine Vergangenheit zurücktritt, die ihr
Gedächtnis nicht zu erreichen glaubt. Aber für mich wird die Kontinuität zwischen den beiden
Perioden nicht aufgehoben. Es ist dieselbe Gesellschaft — zweifellos durch neue Erfahrungen
gewandelt, vielleicht um frühere Besorgnisse und Vorurteile erleichtert, um jüngere Elemente
bereichert, in gewisser Weise an die veränderten Verhältnisse angepaßt —, aber sie ist
dieselbe. Zweifellos fallen ich und meine Kinder mehr oder minder stark einer Täuschung
anheim. Ein Zeitpunkt wird kommen, zu dem ich, wenn ich um mich schaue, nur noch eine
kleine Anzahl derer wiederfinden werde, die wie ich und mit mir vor dem Krieg gelebt und
gedacht haben, zu dem ich verstehen werde — wie ich bisweilen das Gefühl und die
Besorgnis habe —, daß neue Generationen auf der meinen gewachsen sind, und daß eine
Gesellschaft, die mir in ihrem Streben und ihren Gebräuchen weitgehend fremd ist, den Platz
derjenigen eingenommen hat, mit der ich am engsten verbunden bin; und meine Kinder, deren
Blickwinkel sich geändert hat, werden erstaunt sein, plötzlich zu entdecken, daß ich ihnen so
fern bin und daß ich in meinen Interessen, Vorstellungen und Erinnerungen meinen Eltern so
nahe war. Sie und ich unterliegen dann zweifellos einer umgekehrten Täuschung: ich werde
ihnen nicht so fern sein, da meine Eltern mir nicht so fern sind; aber je nach Alter und
Umständen fallen einem besonders die Unterschiede oder die Ähnlichkeiten der Generationen
auf, die sich bald ganz auf sich
selbst stellen und sich voneinander entfernen, bald sich einander anschließen und miteinander
verschmelzen.

Rekonstruierte Erinnerungen
Auf diese Weise — und das haben wir im Vorausgehenden gezeigt — wird das Leben des
Kindes mehr, als man glaubt, in soziale Milieus einbezogen, durch die es mit einer mehr oder
minder entfernten Vergangenheit in Berührung kommt, die gleichsam der Rahmen ist, der
seine persönlichsten Erinnerungen umschließt. Auf diese gelebte Vergangenheit wird sich
später sein Gedächtnis viel mehr stützen können als auf die aus der Geschichtsschreibung
erfahrene. Wenn es auch anfangs diesen Rahmen und die Bewußtseinszustände, die sich in
ihn einfügten, nicht erfaßt hat, so trifft es doch zu, daß sich allmählich in seinem Geist die
Trennung zwischen seiner kleinen internen Welt und der Gesellschaft, die sie umgibt,
vollziehen wird. Aber wenn diese beiden Arten von Elementen ursprünglich eng
verschmolzen waren, wenn sie ihm alle als an seinem kindlichen Ich teilhabend erschienen
sind, kann man nicht sagen, daß später alle die, die dem sozialen Milieu entsprechen, sich ihm
als ein abstrakter und künstlicher Rahmen darbieten werden. Gerade in diesem Sinne
unterscheidet sich die gelebte von der geschriebenen Geschichte: sie verfügt über alles, was
notwendig ist, um einen lebendigen und natürlichen Rahmen zu bilden, auf den das Denken
sich stützen kann, um das Bild seiner Vergangenheit zu bewahren und wiederzufinden.
Aber wir müssen jetzt noch weiter gehen. In dem Maße als das Kind heranwächst und
besonders, wenn es erwachsen ist, nimmt es entschiedener und überlegter am Leben und
Denken jener Gruppen teil, denen es angehörte, ohne sich dessen anfangs recht bewußt zu
werden. Wie würde die Vorstellung, die es sich von seiner Vergangenheit macht, dadurch
nicht verändert werden? Wie sollten die neuen Kenntnisse, die es erwirbt — Kenntnisse von
Geschehnissen, Betrachtungen und Vorstellungen — nicht auf seine Erinnerungen
zurückwirken? Wir haben es oft wiederholt: die Erinnerung ist in sehr weitem Maße eine
Rekonstruktion der Vergangenheit mit Hilfe von der Gegenwart entliehenen Gegebenheiten
und wird im übrigen durch andere, zu früheren Zeiten unternommene Rekonstruktionen
vorbereitet, aus denen das Bild von ehemals schon

56

recht verändert hervorgegangen ist. Gewiß, wenn wir durch das Gedächtnis unmittelbar in
Berührung mit diesem oder jenem unserer vormaligen Eindrücke gebracht würden, würde
sich diese Erinnerung per definitionem von jenen mehr oder minder präzisen Vorstellungen
unterscheiden, die uns unsere Überlegungen mit Hilfe der Berichte, Zeugnisse und
vertraulichen Mitteilungen der anderen von dem, was unsere Vergangenheit hat sein müssen,
zu machen erlauben. Aber selbst wenn es möglich ist, in so direkter Weise Erinnerungen
heraufzubeschwören, ist es unmöglich, solche Fälle von jenen zu unterscheiden, in denen wir
uns das Gewesene vorstellen. Wir können also viele Vorstellungen als Erinnerungen
bezeichnen, die zumindest teilweise auf Zeugenaussagen und Folgerungen beruhen. Dann
aber ist der Anteil des Sozialen oder, wenn man so will, des Historischen in unserer
Erinnerung an unsere eigene Vergangenheit sehr viel größer, als wir glaubten. Denn seit der
Kindheit haben wir im Kontakt mit den Erwachsenen etliche Mittel erworben, viele
Erinnerungen wiederzufinden und zu präzisieren, die wir sonst wohl oft vollkommen oder
teilweise vergessen hätten.
Hier stoßen wir zweifellos auf einen schon erwähnten Einwand, der näher untersucht zu
werden verdient. Genügt es, die historische Kenntnis eines Ereignisses zu rekonstruieren, das
sicher stattgefunden hat, von dem wir jedoch keinen Eindruck zurückbehalten haben, um aus
dem Nichts eine Erinnerung herzustellen? Zum Beispiel weiß ich — weil man es mir gesagt
hat und weil es mir bei einiger Überlegung als gewiß erscheint —, daß es einen Tag gegeben
hat, an dem ich zum ersten Male auf dem Gymnasium gewesen bin. Dennoch habe ich keine
persönliche und direkte Erinnerung an dieses Ereignis. Vielleicht deshalb, weil — da ich
etliche aufeinanderfolgende Tage auf dasselbe Gymnasium gegangen bin — alle diese
Erinnerungen ineinander verschmolzen sind. Vielleicht auch, weil ich an diesem ersten Tag
aufgeregt war. „Ich habe", sagt Stendhal, „keine Erinnerung an die Zeiten und Augenblicke,
während derer ich zu lebhaft empfunden habe" (Vie de Henri Brulard, S. 121). Genügt es, daß
ich den historischen Rahmen dieses Ereignisses rekonstruiere, um sagen zu können, daß ich
die Erinnerung daran wiederhergestellt habe?
Gewiß, wenn ich in Wirklichkeit keine Erinnerung an dieses Ereignis hätte, und wenn ich
mich allein an die historische Kenntnis halten
würde, auf die ich mich beschränken muß, würde das seine Folgen haben: ein leerer Rahmen
kann sich nicht von allein füllen; das abstrakte Wissen und nicht das Gedächtnis würde
wirksam werden. Aber man kann sich einen Zeitraum ins Gedächtnis rufen, ohne sich an
einen bestimmten Tag zu erinnern, und es stimmt nicht, daß die Erinnerung an den Zeitraum
einfach die Summe der Erinnerungen an einige Tage ist. In dem Maße, in dem die Ereignisse
in die Ferne rücken, sind wir gewöhnt, sie uns in Form von Gesamtheiten ins Gedächtnis zu
rufen, von denen sich bisweilen einige unter ihnen abheben, die jedoch viele andere Elemente
umfassen, ohne daß wir eins vom anderen unterscheiden noch sie jemals vollständig
aufzählen könnten. So habe ich, da ich nacheinander mehrere Schulen, Pensionate und
Gymnasien besucht habe und jedes Jahr in eine neue Klasse gekommen bin, eine allgemeine
Erinnerung an alle diese Schulanfänge — eine Erinnerung, die den besonderen Tag
mitumfaßt, an dem ich zum erstenmal ein Gymnasium betreten habe. Ich kann also nicht
sagen, daß ich mich an diesen Schulanfang erinnere, aber ich kann auch nicht sagen, daß ich
mich nicht daran erinnere. Andererseits ist der historische Begriff meines Eintritts ins
Gymnasium nicht abstrakt. Erstens habe ich seitdem eine bestimmte Anzahl reeller oder
fiktiver Berichte gelesen, in denen die Eindrücke eines Kindes beschrieben werden, das zum
ersten Male in eine Schulklasse kommt. Es kann sehr wohl sein, daß, als ich sie gelesen habe,
die persönliche Erinnerung an solche Eindrücke mit der Beschreibung aus dem Buche
verschmolzen ist. Ich rufe mir diese Beschreibungen ins Gedächtnis zurück, und vielleicht ist
in ihnen all das enthalten und ich nehme in ihnen all das unwissentlich wieder wahr, was von
meinem auf diese Weise übertragenen Eindruck fortbesteht. Wie dem auch sei, die so
verdichtete Vorstellung ist kein einfaches Schema ohne Inhalt mehr. Hinzugefügt sei, daß ich
von dem Gymnasium, das ich zum ersten Male besucht habe, sehr viel mehr kenne und
wiederfinde als nur den Namen oder die Lage auf einem Stadtplan. Ich bin damals jeden Tag
dort gewesen, ich habe es seitdem mehrere Male wiedergesehen. Selbst wenn ich es nicht
wiedergesehen hätte, so habe ich doch andere Gymnasien kennengelernt, habe meine Kinder
dorthin gebracht. Etliche Züge des familiären Milieus, das ich verließ, wenn ich zur Schule
ging, rufe ich mir noch ins Gedächtnis zurück, denn seitdem bin ich mit den Meinen in
Berührung ge-

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blieben: es handelt sich nicht um eine Familie im allgemeinen, sondern um eine lebendige
und konkrete Gruppe, deren Bild natürlicherweise in dem Gesamtbild meines ersten
Schulanfangs — so wie ich es neuerstehen lasse — enthalten ist. Welchen Einwand erhebt
man demnach dagegen, daß es es uns gelingt, beim Nachdenken über das, was unser erster
Schulanfang hat sein müssen, dessen Atmosphäre und allgemeines Bild wiederherzustellen?
Fließendes, zweifellos unvollständiges und vor allem rekonstruiertes Bild: aber wieviele
Erinnerungen, die wir getreu erhalten zu haben glauben und deren Identität uns zweifelhaft
erscheint, sind ebenso fast vollständig auf der Grundlage falschen Wiedererkennens,
Berichten und Zeugenaussagen zufolge geschmiedet worden! Ein Rahmen kann nicht aus sich
heraus eine genaue und persönliche Erinnerung hervorbringen. Aber hier ist der Rahmen mit
persönlichen Überlegungen, mit Familienerinnerungen gefüllt, und die Erinnerung ist ein in
anderen Bildern enthaltenes Bild, ein in die Vergangenheit zurückversetztes Familienbild.

Verhüllte Erinnerungen
Ebenso werden wir sagen: Wenn ich alle diejenigen meiner Erinnerungen sammeln und
präzisieren will, die mir die Gestalt und die Person meines Vaters, so wie ich ihn gekannt
habe, wiedergeben könnten, ist es recht unnütz, die Begebenheiten der zeitgenössischen
Geschichte der Epoche, in der er gelebt hat, an mir vorbeiziehen zu lassen. Indessen, wenn ich
jemanden treffe, der ihn gekannt hat und der mir Einzelheiten und Umstände über ihn mitteilt,
von denen ich nichts wußte, wenn meine Mutter sein Lebensbild erweitert und vervollständigt
und bestimmte Abschnitte erhellt, die mir dunkel geblieben waren — ist es dann nicht so, daß
ich den Eindruck habe, in die Vergangenheit zurückzugehen und eine ganze Gruppe von
Erinnerungen zu erweitern? Dies ist nicht eine einfache Täuschung der Retrospektive, so als
fände ich einen Brief von ihm wieder, den ich hätte lesen können, als er noch lebte — so daß
diese neuen Erinnerungen, frischen Eindrücken entsprechend, sich den anderen zugesellen
würden, ohne sich wirklich mit ihnen zu vermischen. Aber die Erinnerung an meinen Vater in
ihrer Gesamtheit verändert sich und erscheint mir jetzt der Wirklichkeit gemäßer. Das Bild,
das ich mir von meinem Vater, seitdem ich ihn gekannt, gemacht habe, hat

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sich unaufhörlich weiterentwickelt, nicht allein weil sich während seines Lebens
Erinnerungen zu Erinnerungen gefügt haben: sondern ich selber habe mich geändert, d.h.
mein Blickwinkel hat sich verschoben, weil ich innerhalb meiner Familie eine andere Stelle
einnahm und vor allem, weil ich an anderen Milieus teilhatte. Wird man sagen, daß es
indessen ein Bild meines Vaters gibt, das durch seinen authentischen Charakter alle anderen
in den Schatten stellen muß: jenes, das ich in dem Augenblick festgehalten habe, in dem er
gestorben ist? Aber wie oft hat es sich bis jetzt nicht schon verändert? Außerdem hält der
Tod, der dem physiologischen Leben ein Ende setzt, nicht plötzlich den Strom der Gedanken
auf, die sich mit dem Menschen beschäftigen, dessen Körper uns verläßt. Einige Zeit noch
stellt man sich ihn vor, als sei er lebendig; er bleibt in das tägliche Leben einbezogen, man
überlegt, was er unter bestimmten Umständen sagen oder tun würde. Gerade am Tage nach
dem Tode eines Menschen ist die Aufmerksamkeit der Seinen am intensivsten auf ihn
gerichtet. Gerade dann ist sein Bild auch am wenigsten gefestigt, es bildet sich unaufhörlich
um, den verschiedenen Abschnitten seines Lebens entsprechend, die man wiedererstehen läßt.
In Wirklichkeit erstarrt das Bild eines Dahingegangenen niemals. In dem Maße, als es in die
Vergangenheit zurückweicht, ändert es sich, weil manche Züge sich verwischen und andere
hervortreten — je nach der Perspektive, aus der man es betrachtet, d. h. je nach den neuen
Verhältnissen, in denen man sich befindet, wenn man sida ihm zuwendet. Alles, was ich an
Neuem über meinen Vater und auch über jene, die mit ihm in Berührung kamen, erfahre, alle
neuen Urteile, die ich über die Epoche fälle, in der er gelebt hat, alle neuen Überlegungen, die
ich anstelle, lassen mich — je fähiger ich werde, nachzudenken, und über je mehr
Vergleichsmöglichkeiten ich verfüge — dazu neigen, sein Bildnis zu „retuschieren". Auf
diese Weise verblaßt langsam die Vergangenheit, so wie sie mir früher erschien. Die neuen
Bilder überdecken die alten — so wie unsere nächsten Verwandten sich zwischen uns und
unsere fernen Vorfahren schieben, so daß wir von diesen nur wissen, was jene uns über sie
berichten. Die Gruppen, denen ich zu den verschiedenen Epochen angehöre, sind nicht
dieselben. Ich betrachte indessen die Vergangenheit aus ihrer Sicht. Meine Erinnerungen
müssen sich also in dem Maße, als ich diesen

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Gruppen enger zugehöre und unmittelbarer an ihrem Gedächtnis teilhabe, erneuern und
vervollständigen.
Es ist wahr, dies setzt eine doppelte Bedingung voraus: einmal, daß meine Erinnerungen
selbst, so wie sie waren, bevor ich in diese Gruppen eintrat, nicht gleichmäßig von allen
Seiten beleuchtet waren — so als hätte ich sie bis dahin nicht vollkommen wahrgenommen
und verstanden; zum anderen, daß die Erinnerungen dieser Gruppen nicht ohne Beziehung zu
den Ereignissen sind, die meine Vergangenheit bilden.
Die erste Bedingung wird dadurch erfüllt, daß viele unserer Erinnerungen auf Zeiten
zurückgehen, in denen uns aus Mangel an Reife, Erfahrung oder Aufmerksamkeit der Sinn
mehr als einer Begebenheit, die Natur mehr als eines Gegenstandes oder Menschen zur Hälfte
entging. Wir hielten, wenn man will, noch zu sehr an der Gruppe der Kinder fest und hingen
schon mit einem Teil unseres Verstandes, wenn auch in lockerer Form, der Gruppe der
Erwachsenen an. Daher manche Hell-Dunkel-Wirkungen: was einen Erwachsenen
interessiert, fällt auch uns auf — oft aber einzig aus dem Grunde, weil wir das Interesse der
Erwachsenen dafür spüren — und bleibt in unserem Gedächtnis wie ein Rätsel oder wie ein
Problem haften, das wir nicht verstehen, von dem wir jedoch fühlen, daß es gelöst werden
kann. Bisweilen bemerken wir zunächst nicht einmal diese undeutlichen Aspekte, diese
Zonen der Dunkelheit; wir vergessen sie indessen keineswegs, da sie unsere klarsten
Erinnerungen umgeben und uns helfen, von der einen zur anderen zu finden. Wenn ein Kind
in seinem Bett einschläft und in der Eisenbahn wieder aufwacht, empfindet es das Gefühl,
dort wie hier unter der Obhut seiner Eltern geblieben zu sein, als beruhigend — ohne daß es
sich im übrigen erklären kann, wie und warum sie in der Zwischenzeit gehandelt haben. Es
gibt durchaus Abstufungen dieser Unwissenheit oder dieses Nichtverstehens, und im einen
oder anderen Sinne erreicht man niemals die Grenze der völligen Klarheit oder des
vollkommen undurchdringlichen Dunkels.
Eine Szene aus unserer Vergangenheit kann uns so erscheinen, als werde niemals etwas davon
abzustreichen noch hinzuzufügen sein und als werde niemals mehr oder weniger davon zu
verstehen sein. Aber sollten wir jemanden wiedertreffen, der in sie verwickelt gewesen ist
oder ihr beigewohnt hat, sollte er sie Wiederaufleben

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lassen und sie schildern — nachdem wir ihn gehört haben, werden wir nicht mehr so sicher
wie vorher sein, daß wir uns in der Reihenfolge der Einzelheiten, in der relativen Bedeutung
der Teile und dem allgemeinen Sinn des Ereignisses nicht täuschen konnten; denn es ist wohl
unmöglich, daß zwei Menschen, die dasselbe Geschehen beobachtet haben, es auf völlig
gleiche Weise wiedergeben, wenn sie einige Zeit später darüber berichten. Kommen wir hier
noch einmal auf das Leben des Henri Brulard zurück. Stendhal erzählt, wie er und zwei
Freunde als Kinder einen Pistolenschuß auf den Baum der Brüderlichkeit abgegeben haben.
Es ist eine Folge sehr einfacher Szenen. Aber in jedem Augenblick macht sein Freund R.
Colomb, während er das Manuskript mit Anmerkungen versieht, Irrtümer ausfindig. „Die
Soldaten berührten uns fast", erzählt Stendhal, „wir retteten uns durch die Türe G des Hauses
meines Großvaters, aber man sah uns sehr wohl. Alle Welt war an den Fenstern. Viele Leute
rückten die Leuchter heran und machten Licht." „Irrtum", schreibt Colomb, „all dies fand vier
Minuten nach dem Schuß statt; da waren wir alle drei im Haus." „Er und ein anderer", fährt
Stendhal fort, „stiegen im Hause nach oben und suchten bei zwei alten frömmlerischen
Modehändlerinnen Zuflucht." Die Polizisten kommen. Diese alten Jansenistinnen lügen, die
Jungen hätten den ganzen Abend bei ihnen verbracht. Notiz von Colomb: „Nur H. B.
(Stendhal) ist bei den Demoisellen Caudey eingetreten. R. C. (er selbst) und Mante machten
sich durch die Passage auf den Speichern aus dem Staube und erreichten so die Grande-Rue."
— Stendhal: „Als wir die Polizisten nicht mehr hörten, kamen wir heraus und stiegen weiter
zur Passage hinauf." Colomb: „Irrtümer." Stendhal: „Mante und Treillard, gewandter als wir
(Colomb: „Treillard war nicht bei uns dreien"), erzählten uns am nächsten Tage, daß sie, als
sie an das Tor zur Grande-Rue kamen, es von zwei Wachposten besetzt fanden. Sie fingen an,
von der Liebenswürdigkeit der Demoisellen zu reden, mit denen sie den Abend verbracht
hatten. Die Posten stellten ihnen keine Fragen, und sie machten sich aus dem Staub. Ihr
Bericht hat mir so sehr den Eindruck der Wirklichkeit vermittelt, daß ich nicht sagen könnte,
ob es nicht Colomb und ich waren, die dadurch hinauskamen, daß sie von der
Liebenswürdigkeit dieser Demoisellen sprachen." Colomb: „In Wirklichkeit kletterten R. C.
und Mante auf die Speicher, wo R. C., der erkältet war, sich den Mund mit Lakritzensaft
füllte, da-

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mit sein Husten nicht die Aufmerksamkeit der Sucher auf sich zog. R. C. erinnerte sich an
einen Korridor, über den man an einen Dieneraufgang gelangte, der auf die Grande-Rue
führte. Dort sahen sie zwei Gestalten, die sie für Polizisten hielten, und fingen an, ruhig und
wie Kinder von den Spielen zu plaudern, die sie gerade beschäftigt hatten." Stendhal: „Indem
ich dies schreibe, taucht das Bild des Baumes der Brüderlichkeit vor mir auf. Mein
Gedächtnis macht Entdeckungen. Ich meine zu sehen, daß der Baum der Brüderlichkeit von
einer zwei Fuß hohen, mit Quadersteinen belegten Mauer umgeben war, die ein fünf oder
sechs Fuß hohes Eisengitter trug." Colomb: „Nein." — Es war nicht unnütz, an einem
Beispiel zu beobachten, welche Teile eines Berichtes, die bis dahin ebenso klar wie die
anderen schienen, plötzlich anders aussehen und dunkel und unbestimmt werden, selbst
entgegengesetzten Zügen und Charakteren Platz machen, sobald ein anderer Zeuge seine
Erinnerungen mit den unseren konfrontiert. Stendhals Einbildungskraft hat die Lücken seines
Gedächtnisses ausgefüllt: alles in seinem Bericht scheint Glauben zu verdienen — dasselbe
Licht spielt auf allen Wänden, aber die Risse zeigen sich, wenn man sie unter einem anderen
Winkel betrachtet.
Umgekehrt gibt es im Gedächtnis keine absolute Leere, d. h. keine Bereiche unserer
Vergangenheit, die so völlig aus unserem Gedächtnis entschwunden sind, daß jedes Bild, das
man in sie hineinprojiziert, an keinerlei Erinnerungselement Halt finden kann und auf reine
Einbildung stößt — oder auf eine historische Vorstellung, die uns fremd bleiben würde. Man
vergißt nichts, aber dies kann auf verschiedene Weise verstanden werden. Für Bergson bleibt
die Vergangenheit, so wie sie für uns gewesen ist, vollständig in unserem Gedächtnis
bestehen; aber bestimmte Hindernisse, insbesondere die Verhaltensweisen unseres Gehirns,
verhindern, daß wir alle ihre Teile Wiederaufleben lassen. Jedenfalls sind die Bilder
vergangener Ereignisse in uns gänzlich vollendet (in unserem Unterbewußtsein) — so wie
gedruckte Seiten in Büchern, die man aufschlagen könnte, auch dann, wenn man sie nicht
mehr aufschlägt. Was für uns dagegen fortbesteht, sind nicht fertige Bilder in irgendeinem
unterirdischen Schacht unseres Denkens, sondern innerhalb der Gesellschaft all jene
Anhaltspunkte, die notwendig sind, um bestimmte Teile unserer Vergangenheit zu
rekonstruieren, die wir uns in unvollständiger und
unklarer Weise vergegenwärtigen oder die wir sogar völlig aus unserem Gedächtnis
entschwunden glauben. Wie kommt es in der Tat, daß — wenn der Zufall uns mit denen
zusammenbringt, die zur gleichen Zeit wie wir an denselben Ereignissen teilgenommen
haben, die ihre Akteure oder Zeugen waren, wenn man uns erzählt oder wir anderweitig
entdecken, was damals um uns herum geschah — wir diese offensichtlichen Lücken
ausfüllen? Der Grund liegt darin, daß das, was wir für einen leeren Raum hielten, in
Wirklichkeit nur eine etwas undeutliche Zone war, von der unser Denken sich abwandte, weil
es dort zu wenig Spuren fand. Gegenwärtig, da man uns mit Genauigkeit den Weg angibt, den
wir verfolgt haben, treten die Spuren hervor, wir verbinden sie untereinander, sie vertiefen
sich und gehen von selbst ineinander über. Sie existieren also, waren jedoch im Gedächtnis
der anderen schärfer ausgeprägt als in uns selbst. Zweifellos rekonstruieren wir, aber dies
Rekonstruieren vollzieht sich in von unseren übrigen Erinnerungen und den Erinnerungen der
anderen schon vorgezeichneten Bahnen. Die neuen Bilder knüpfen an das an, was in den
anderen Erinnerungen ohne sie undeutlich und unerklärlich bleiben würde, was aber nicht
weniger wirklich ist. So empfinden wir, wenn wir die alten Viertel einer Großstadt
durchstreifen, eine besondere Befriedigung dabei, uns die Geschichte dieser Straßen und
Häuser erzählen zu lassen. Dies alles sind neue Kenntnisse, die uns jedoch bald vertraut
erscheinen, weil sie mit unseren Eindrücken übereinstimmen und sich mühelos in das
bestehende Dekor eingliedern. Es scheint uns, als habe dies Dekor sie allein hervorrufen
können und als sei das, was wir uns vorstellen, nur die Weiterführung dessen, was wir schon
wahrnahmen. Das bedeutet, daß dem Bild, das sich vor unseren Augen aufrollt, eine
Bedeutung innewohnt, die uns dunkel blieb, von der wir jedoch manches errieten. Die Art der
Wesen, mit denen wir zusammengelebt haben, muß uns mit Hilfe unserer gesamten
Erfahrung, die sich während der darauffolgenden Zeitabschnitte gebildet hat, entdeckt und
erklärt werden. Auf Geschehnisse projiziert, die wir schon kennen, enthüllt uns das neue Bild
in ihnen mehr als einen Zug, der sich in dieses einfügt und so eine klarere Bedeutung erhält.
So bereichert sich das Gedächtnis mit fremden Beiträgen, die sich, sobald sie Wurzel gefaßt
und ihren Platz gefunden haben, nicht mehr von anderen Erinnerungen unterscheiden.

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Weitgefaßte Rahmen und naheliegende Milieus


Damit das Gedächtnis der anderen auf diese Weise das unsere verstärkt und vervollständigt,
sagten wir, müssen auch die Erinnerungen dieser Gruppen in irgendeinem Zusammenhang
mit den Ereignissen stehen, die meine Vergangenheit bilden. Jeder von uns ist in der Tat
gleichzeitig Mitglied mehrerer mehr oder minder ausgedehnter Gruppen. Wenn wir indessen
unsere Aufmerksamkeit auf die umfassendsten Gruppen richten — beispielsweise auf die
Nation —, kann man, obgleich unser Leben und das unserer Eltern oder Freunde in dem ihren
enthalten ist, nicht sagen, die Nation als solche interessiere sich für das individuelle Schicksal
jedes ihrer Mitglieder. Nehmen wir an, die nationale Geschichte sei eine getreue
Zusammenstellung der bedeutendsten Ereignisse, die das Leben einer Nation verändert haben.
Sie unterscheidet sich von der Orts-, Provinz- und Stadtgeschichte dadurch, daß sie nur die
Geschehnisse festhält, die die Gesamtheit der Bürger interessieren, oder, wenn man so will,
die Bürger als Mitglieder der Nation. Damit die so verstandene Geschichte, selbst wenn sie
sehr detailliert ist, uns hilft, die Erinnerungen an ein individuelles Schicksal zu bewahren und
wiederzufinden, muß das betreffende Individuum selbst eine historische Persönlichkeit
gewesen sein. Gewiß gibt es Augenblicke, in denen alle Bewohner eines Landes ihre
Interessen, ihre Familien, die beschränkten Gruppen vergessen, an deren Grenzen gewöhnlich
ihr Blickfeld endet. Es gibt nationale Ereignisse, die zur gleichen Zeit das Dasein eines jeden
Einzelnen verändern. Sie sind selten. Nichtsdestoweniger können sie allen Bewohnern eines
Landes einige zeitliche Anhaltspunkte bieten. Aber gewöhnlich ist die Nation zu weit vom
Individuum entfernt, als daß es die Geschichte seines Landes als etwas anderes als einen sehr
ausgedehnten Rahmen betrachtet, mit dem seine eigene Geschichte nur sehr wenige
Berührungspunkte hat. In etlichen Romanen, die das Schicksal einer Familie oder eines
Individuums nachzeichnen, ist es kaum von Bedeutung, daß man weiß, zu welcher Zeit sich
diese Ereignisse abspielen: sie würden nichts von ihrem psychologischen Gehalt verlieren,
wenn man sie von einem Zeitraum in den anderen versetzte. Intensiviert sich das Innenleben
nicht in dem Maße, als es sich von jenen äußeren Umständen absondert, die in den
Vordergrund des historischen Gedächtnisses treten? Wenn manche Romane oder
Theaterstücke von

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ihren Autoren in eine um mehrere Jahrhunderte entfernte Zeit hineinverlegt werden — ist das
nicht sehr häufig ein Kunstgriff, in der Absicht, den Rahmen der augenblicklichen Ereignisse
beiseite zu schieben und besser fühlen zu lassen, wie sehr das Spiel der Gefühle unabhängig
von den Ereignissen der Geschichte ist und wie es sich zu allen Zeiten gleich bleibt? Wenn
man unter historischem Gedächtnis die Folge der Ereignisse versteht, deren Erinnerung die
nationale Geschichte aufbewahrt, so stellen weder es selbst noch seine Rahmen das
Grundlegende dar, was wir kollektives Gedächtnis nennen.
Aber zwischen dem Individuum und der Nation gibt es etliche andere Gruppen, die begrenzter
sind als diese, die ebenso ihr Gedächtnis haben und deren Veränderungen sich sehr viel
unmittelbarer auf das Leben und Denken ihrer Mitglieder auswirken. Wenn ein Rechtsanwalt
die Erinnerung an die Rechtssachen, die er vertreten hat, bewahrt, ein Arzt die Erinnerung an
die Kranken, die er betreut hat — wenn der eine oder der andere sich seiner Berufskollegen
entsinnt, mit denen er in Berührung gekommen ist — wenn er seine Aufmerksamkeit auf all
diese Gesichter lenkt, dringt er dann nicht sehr weit in alle Einzelheiten seines persönlichen
Lebens vor und entsinnt er sich so nicht etlicher Gedanken und Beschäftigungen, die mit
seinem früheren Ich verbunden sind, mit dem Schicksal seiner Familie, mit seinen
Freundschaftsbeziehungen, d. h. mit allem, was seine Geschichte ausmacht? Gewiß ist dies
nur ein Aspekt seines Lebens. Jeder Mensch aber — wir haben daran erinnert — taucht
gleichzeitig nacheinander in mehrere Gruppen ein. Jede Gruppe übrigens zersetzt sich und
schließt sich fester zusammen — zeitlich und räumlich gesehen. Innerhalb dieser
Gesellschaften entwickelt sich eine bestimmte Anzahl origineller kollektiver Gedächtnisse,
die eine Zeitlang die Erinnerung an Ereignisse unterhalten, die nur für sie von Bedeutung
sind, aber ihre Mitglieder um so mehr interessieren, je weniger zahlreich diese sind. Während
es leicht ist, sich in einer Großstadt in Vergessenheit zu bringen, beobachten die Bewohner
eines Dorfes einander ununterbrochen, und das Gedächtnis ihrer Gruppe registriert getreulich
alles, was es an Handlungen und Gesten eines jeden unter ihnen gewahr werden kann, weil sie
auf diese ganz kleine Gesellschaft zurückwirken und dazu beitragen, sie zu verändern. In
solchen Milieus denken und erinnern sich alle Individuen gemeinschaftlich. Jeder sieht
zweifellos die Dinge aus seiner

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eigenen Sicht, aber in so enger Verbindung und Übereinstimmung mit der der anderen, daß,
wenn seine Erinnerungen sich verformen, er nur den Blickpunkt der anderen einzunehmen
braucht, um sie zu berichtigen.
Abschließende Gegenüberstellung des kollektiven Gedächtnisses und der Geschichte
Aus allem Vorangegangenen geht hervor, daß das kollektive Gedächtnis nicht mit der
Geschichte zu verwechseln ist, und daß der Ausdruck „historisches Gedächtnis" nicht sehr
glücklich gewählt ist, da er zwei Glieder verbindet, die sich in mehr als einem Punkt
widersprechen. Die Geschichte ist zweifellos das Verzeichnis der Geschehnisse, die den
größten Raum im Gedächtnis der Menschen eingenommen haben. In Büchern gelesen, in den
Schulen gelernt, sind die vergangenen Ereignisse jedoch Notwendigkeiten und Regeln
zufolge ausgewählt, nebeneinandergestellt und eingeordnet, die nicht für jene Gruppen von
Menschen zwingend waren, die sie lange Zeit als lebendiges Gut aufbewahrt haben. Das
bedeutet, daß die Geschichte im allgemeinen an dem Punkt beginnt, an dem die Tradition
aufhört — in einem Augenblick, in dem das soziale Gedächtnis erlischt und sich zersetzt.
Solange eine Erinnerung fortbesteht, ist es unnötig, sie schriftlich festzulegen, sie überhaupt
festzulegen. Ebenso erwacht das Bedürfnis, die Geschichte eines Zeitabschnitts, einer
Gesellschaft und selbst eines Menschen zu schreiben, erst dann, wenn sie schon zu weit in der
Vergangenheit liegen, als daß man hoffen könnte, in seiner Umgebung lange Zeit noch viele
Zeugen zu finden, die irgendeine Erinnerung an sie bewahren. Wenn die Erinnerung an eine
Folge von Ereignissen nicht mehr eine Gruppe zum Träger hat — jene selbst, die in sie
verwickelt war oder ihre Konsequenzen erfahren hat, die ihnen beigewohnt oder einen
lebendigen Bericht der ersten Akteure und Zuschauer erhalten hat —, wenn sie sich über
mehrere individuelle Gedächtnisse verteilt, die innerhalb jener neuen Gesellschaften verloren
sind, die diese Geschehnisse nicht mehr interessieren, weil sie ihnen entschieden fremd sind,
ist das einzige Mittel, solche Erinnerungen zu retten, sie schriftlich in einer fortlaufenden
Erzählung festzuhalten, da, während die Worte und Gedanken vergehen, die Schriftstücke
bestehen bleiben. Wenn die notwendige Voraussetzung der Existenz eines Gedächtnisses ist,
daß

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derjenige, der sich erinnert — sei es ein Individuum oder eine Gruppe —, das Gefühl hat, auf
seine Erinnerungen in einer kontinuierlichen Bewegung zurückzugehen, wie könnte dann die
Geschichte ein Gedächtnis sein, da die Kontinuität zwischen der Gesellschaft, die diese
Geschichte liest, und den damaligen Zeugen- oder Teilnehmergruppen der Ereignisse, die
darin beschrieben sind, aufgehoben ist?
Sicherlich kann es gerade eines der Ziele der Geschichtsschreibung sein, eine Brücke
zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu schlagen und diese unterbrochene Kontinuität
wiederherzustellen. Aber wie kann man kollektive Gedankenströmungen wieder ins Leben
rufen, die in der Vergangenheit entstanden sind, während einem nur die Gegenwart greifbar
ist? Die Historiker können in genauester Kleinarbeit eine Menge von bedeutenden und
unbedeutenden Geschehnissen entdecken und zutage fördern, die man endgültig verloren
glaubte — insbesondere wenn sie das Glück haben, unveröffentlichte Memoiren zu
entdecken. Kann man jedoch sagen, daß, als beispielsweise die „Mémoires de Saint-Simon"
zu Beginn des 19. Jahrhunderts veröffentlicht wurden, die französische Gesellschaft um 1830
wirklichen Kontakt, einen lebendigen und direkten Kontakt mit dem Ende des 17.
Jahrhunderts und der Epoche der Régence aufnahm? Was ist von diesen „Mémoires" in die
elementare Geschichtsschreibung übergegangen, jene, die von einer hinreichend großen
Anzahl von Menschen gelesen wird, um kollektive Meinungszustände zu schaffen? Der
einzige Effekt solcher Veröffentlichungen besteht darin, verständlich zu machen, wie weit wir
von dem, der schreibt, und von denen, die er beschreibt, entfernt sind. Um die Schranken
niederzureißen, die uns von dieser Epoche trennen, genügt es nicht, daß einige verstreute
Individuen auf diese Lektüre viel Zeit und Aufmerksamkeit verwandt haben. Das Studium der
so verstandenen Geschichte ist nur einigen Spezialisten vorbehalten, und wenn selbst eine
Gesellschaft der Leser der „Mémoires de Saint-Simon" bestände, würde sie entschieden zu
begrenzt sein, um ein zahlreiches Publikum zu berühren.
Die Geschichte, die genau das Detail der Geschehnisse untersuchen will, nimmt den
Charakter von Gelehrtheit an, und Gelehrtheit ist Sache nur einer ganz geringen Minderheit.
Wenn sie sich im Gegenteil darauf beschränkt, jenes Bild der Vergangenheit zu bewahren,

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das innerhalb des heutigen kollektiven Gedächtnisses noch eine Rolle spielen kann, behält sie
von ihr nur das, was unsere Gesellschaften interessiert, d. h. im ganzen recht wenig.
Das kollektive Gedächtnis unterscheidet sich von der Geschichte in zumindest zweierlei
Hinsicht. Es ist eine kontinuierliche Denkströmung — von einer Kontinuität, die nichts
Künstliches hat, da sie von der Vergangenheit nur das behält, was von ihr noch lebendig und
fähig ist, im Bewußtsein der Gruppe, die es unterhält, fortzuleben. Per definitionem erstreckt
sich das kollektive Gedächtnis nicht über die Grenzen dieser Gruppe hinaus. Sobald eine
Epoche aufhört, die darauffolgende Epoche zu interessieren, ist es nicht dieselbe Gruppe, die
einen Teil ihrer Vergangenheit vergißt: es bestehen in Wirklichkeit zwei Gruppen, die
einander folgen. Die Geschichte teilt die Folge der Jahrhunderte in Perioden ein, so wie man
den Stoff einer Tragödie über mehrere Akte verteilt. Aber während in einem Theaterstück von
einem Akt zum anderen dieselbe Handlung fortgeführt wird — mit denselben Personen, die
bis zum Abschluß ihrer Wesensart treu bleiben und deren Gefühle und Leidenschaften sich in
einer ununterbrochenen Bewegung fortentwickeln —, hat man in der Geschichte den
Eindruck, daß sich von einer Periode zur anderen alles erneuert — treibende Interessen,
Geisteshaltungen, Arten der Beurteilung von Menschen und Ereignissen, wie auch
Traditionen und Zukunftsperspektiven — und daß das Wiederauftauchen scheinbar derselben
Gruppen bedeutet, daß die äußeren Unterteilungen, die sich aus den Örtlichkeiten, den Namen
und auch aus der allgemeinen Natur der Gesellschaft ergeben, fortbestehen. Aber die
Gesamtheiten von Menschen, die dieselbe Gruppe in zwei aufeinanderfolgenden Perioden
bilden, sind zwei Bruchstücke, die einander allein an ihren beiden entgegengesetzten
Endpunkten berühren und nicht wirklich einen und denselben Körper bilden.
Zweifellos entdeckt man nicht von Anfang an innerhalb der Folge der Generationen einen
hinreichenden Grund, aus dem ihre Kontinuität zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt und
nicht zu anderen unterbrochen wird, da die Zahl der Geburten sich von einem Jahr zum
anderen kaum ändert — so daß die Gesellschaft jenen Fäden ähnelt, die man erhält, wenn
man eine Reihe animalischer oder pflanzlicher Fibern in einer Weise übereinandergleiten läßt,
daß sie sich regelmäßig überlagern — oder vielmehr dem Tuch, das aus der Über-

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kreuzung der Fäden entsteht. Es ist wahr, das Woll- oder Seidentuch unterteilt sich, und die
Trennungslinien kommen dem Abschluß eines Motivs oder eines Musters gleich. Ist es mit
der Folge der Generationen ebenso?
Die Geschichte, die außerhalb der Gruppen und über ihnen steht, zögert nicht, in den Strom
der Fakten einfache Unterteilungen einzuführen, deren Stelle ein für allemal festgelegt ist.
Indem sie dies tut, gehorcht sie nicht nur einer didaktischen Notwendigkeit der
Schematisierung. Es scheint, als betrachte sie jede Epoche als eine Gesamtheit, die
größtenteils unabhängig von der vorausgehenden und der nachfolgenden ist, da sie ein
bestimmtes Werk — sei es gut, schlecht oder keines von beiden — zu verrichten hat. Solange
dieses Werk nicht vollendet ist, solange bestimmte nationale, politische, religiöse Situationen
nicht alle ihre nur immer möglichen Konsequenzen entwickelt haben, würden junge wie alte
Menschen trotz der Altersunterschiede denselben Gesichtskreis haben. Sobald es beendet ist,
sobald neue Aufgaben sich anbieten oder sich stellen — von diesem Augenblick an befinden
sich die kommenden und die vorausgehenden Generationen bildlich auf entgegengesetzten
Abhängen desselben Berges. Es gibt einige Nachzügler. Aber die jungen Leute reißen sogar
einen Teil der älteren Erwachsenen mit sich, die ihren Schritt beschleunigen, so als fürchteten
sie, „den Anschluß zu versäumen". Umgekehrt sehen diejenigen, die über beide Abhänge
verteilt sind, selbst wenn sie der Trennungslinie sehr nahe sind, einander nicht besser; sie
kennen sich ebensowenig, wie wenn sie sich weiter unten — die einen auf dem einen Hang,
die anderen auf dem anderen — befänden, d. h. weiter in die Vergangenheit oder das, was
nicht mehr die Vergangenheit ist, entrückt wären oder, wenn man so will, sich an auf der
gewundenen Linie der Zeit weiter voneinander entfernten Punkten befänden.
Vieles an diesem Bilde trifft zu. Von weitem und im ganzen, vor allem aber von außen her
gesehen, von einem Zuschauer betrachtet, der den Gruppen, die er beobachtet, nicht angehört,
lassen sich die Geschehnisse auf diese Art gruppenweise in aufeinanderfolgenden und
getrennten Gesamtheiten zusammenstellen, wobei jede Periode einen Anfang, eine Mitte und
einen Abschluß hat. Aber ebenso wie die Geschichte — die sich besonders für die
Unterschiede und Gegensätze interessiert — innerhalb der Gruppe verstreute Züge auf eine
70

individuelle Gestalt konzentriert und überträgt, damit sie gut sichtbar werden, überträgt und
konzentriert sie Wandlungen, die sich in Wirklichkeit innerhalb einer viel längeren Zeit
vollzogen haben, auf einen Zeitraum von einigen Jahren. Es ist möglich, daß nach einem
Ereignis, das die Struktur einer Gesellschaft erschüttert, teilweise zerstört oder erneuert hat,
eine neue Periode beginnt. Aber man wird dessen erst später gewahr werden, wenn tatsächlich
eine neue Gesellschaft aus sich selber neue Kräfte geschöpft und sich andere Ziele gesetzt
haben wird. Die Historiker dürfen diese Trennungslinie nicht ernst nehmen und nicht glauben,
daß sie von jenen bemerkt wurden, die während der Jahre lebten, die sie durchqueren — wie
jene Lustspielgestalt, die ausruft: „Heute beginnt der hundertjährige Krieg!" Wer weiß, ob
nicht nach einem Krieg, einer Revolution, die eine Kluft zwischen zwei Gesellschaften
aufgerissen haben, die junge Gesellschaft oder der junge Teil der Gesellschaft, so als sei eine
Zwischengeneration verschwunden, im Einverständnis mit dem bejahrten Teil vor allem
damit beschäftigt ist, die Spuren dieser Entzweiung zu verwischen, die entgegengesetzten
Generationen einander anzunähern und trotz allem die Kontinuität der Entwicklung
aufrechtzuerhalten? Die Gesellschaft muß weiterleben; selbst wenn die sozialen
Einrichtungen tiefgehend verändert wären — und vor allem dann, wenn sie es sind —, ist das
beste Mittel, um sie Wurzel fassen zu lassen, sie mit all dem zu untermauern, was an
Tradition noch erfaßbar ist. Nach diesen Krisen sagt man sich dann von neuem: es muß an
dem Punkt wiederangefangen werden, an dem man unterbrochen worden ist; hier muß man
die Dinge von Grund auf neu beginnen. Und tatsächlich meint man einige Zeit lang, es habe
sich nichts geändert, da man den Faden der Kontinuität wieder zusammengeknüpft hat. Diese
Illusion, von der man sich bald befreien wird, hat dann zumindest erlaubt, daß man von einem
Zeitabschnitt in den anderen überwechselt, ohne daß das kollektive Gedächtnis zu
irgendeinem Zeitpunkt unterbrochen schien.
In Wirklichkeit gibt es innerhalb der fortlaufenden Entwicklung des kollektiven
Gedächtnisses keine deutlich gezogene Trennungslinien wie in der Geschichte, sondern nur
unregelmäßige und unbestimmte Grenzen. Die Gegenwart (verstanden als eine bestimmte, die
heutige Gesellschaft interessierende Zeitspanne) und die Vergangenheit unterscheiden sich
nicht so wie zwei benachbarte histo-

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rische Perioden. Denn die Vergangenheit existiert nicht mehr, während für den Historiker
beide geschichtlichen Perioden gleich wirklich sind. Das Gedächtnis einer Gesellschaft
erstreckt sich, so weit es kann, d. h. bis dorthin, wohin das Gedächtnis der Gruppen reicht, aus
denen sie sich zusammensetzt. Es vergißt eine so große Menge früherer Ereignisse und
Gestalten keineswegs aus bösem Willen, aus Antipathie, Widerwillen oder Gleichgültigkeit.
Vielmehr sind diejenigen Gruppen verschwunden, die sie in ihrer Erinnerung bewahrten.
Würde die Dauer des menschlichen Lebens verdoppelt oder verdreifacht, wäre der Bereich
des kollektiven Gedächtnisses, in Zeiteinheiten gemessen, sehr viel ausgedehnter. Es steht im
übrigen nicht fest, daß dieses erweiterte Gedächtnis inhaltlich reicher sein würde, wenn die
durch so viele Traditionen belastete Gesellschaft sich beschwerlicher fortentwickeln würde.
Ebenso würde, wenn das Menschenleben kürzer wäre, ein eine beschränktere Zeitspanne
umfassendes kollektives Gedächtnis deshalb vielleicht keineswegs ärmer sein, weil sich in
einer so entlasteten Gesellschaft die Wandlungen überstürzen würden. Da das Gedächtnis
einer Gesellschaft sich langsam zersetzt, hört es jedenfalls nicht auf, sich an seinen Grenzen
in dem Maße umzuformen, als seine individuellen Glieder, vor allem die ältesten,
dahinscheiden oder sich absondern, und die Gruppe selbst ändert sich unaufhörlich. Es ist im
übrigen schwierig zu sagen, in welchem Augenblick eine kollektive Erinnerung erloschen und
ob sie endgültig dem Bewußtsein der Gruppe entfallen ist — eben weil es genügt, daß sie in
einem begrenzten Teil des sozialen Körpers aufbewahrt wird, um sie stets darin wiederfinden
zu können.

Die Geschichte, Bild der Ereignisse; die kollektiven Gedächtnisse, Sitz der Traditionen
Es gibt in der Tat mehrere kollektive Gedächtnisse. Dies ist der zweite Wesenszug, durch den
sie sich von der Geschichte unterscheiden. Die Geschichte ist ungeteilt, und man kann sagen,
daß es nur eine Geschichte gibt. Hierunter verstehen wir folgendes: Gewiß kann man die
Geschichte Frankreichs, die Geschichte Deutschlands, die Geschichte Italiens und überdies
die Geschichte einer bestimmten Periode oder einer bestimmten Region, einer Stadt (und
selbst eines Individuums) unterscheiden. Man wirft selbst bisweilen der historischen
Forschung jenes Übermaß an Spezialisierung und die über-

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triebene Vorliebe für die detaillierte Abhandlung vor, die sich vorn Gesamten abwendet und
den Teil gewissermaßen als ein Ganzes betrachtet. Aber sehen wir näher hin. Was in den
Augen des Historikers diese Detailuntersuchungen rechtfertigt, ist die Tatsache, daß das dem
Detail hinzugefügte Detail ein Ganzes ergibt, daß dieses Ganze sich anderen Ganzheiten
angliedert und daß innerhalb des Gesamtbildes, das sich aus all diesen einander folgenden
Summierungen ergeben wird, kein Element einem anderen untergeordnet ist, daß ein
Geschehnis so interessant ist wie das andere und jedes in gleicher Weise verdient,
hervorgehoben und aufgeschrieben zu werden. Indessen resultiert eine solche Wertungsart
daraus, daß der Historiker sich nicht an die Stelle einer der wirklichen und lebendigen
Gruppen versetzt — die existieren oder die selbst existiert haben —, für die im Gegenteil die
Ereignisse, Orte und Zeitabschnitte längst nicht alle von gleicher Bedeutung sind, da sie nicht
in gleicher Weise von ihnen berührt werden. Aber ein Historiker beabsichtigt durchaus,
objektiv und unparteiisch zu sein. Selbst wenn er die Geschichte seines Landes schreibt,
bemüht er sich, eine Gesamtheit von Fakten zusammenzustellen, die einer bestimmten
anderen Gesamtheit, der Geschichte eines anderen Landes, so angegliedert werden kann, daß
keine Unterbrechung der Kontinuität eintritt, und daß man innerhalb des Gesamtbildes der
Geschichte Europas nicht etwa die Ansammlung verschiedener nationaler Betrachtensweisen
der Geschehnisse findet, sondern vielmehr die Folge und Totalität der Geschehnisse, so wie
sie sind, und zwar nicht für ein bestimmtes Land oder eine bestimmte Gruppe, sondern
unabhängig von jedem Gruppenurteil. Daher sind innerhalb eines solchen Bildes selbst die
Unterteilungen, die die Länder voneinander trennen, in gleicher Weise wie die anderen
historische Fakten. Alles liegt also auf gleicher Ebene. Die historische Welt ist gleich einem
Ozean, in den alle Teilgeschichten einmünden. Es ist nicht erstaunlich, daß man zu Anbeginn
der Geschichtsschreibung und selbst zu alten Zeiten so manches Mal beabsichtigt hat, eine
Universalgeschichte zu verfassen. Das ist die natürliche Ausrichtung des historischen Geistes.
Das ist der verhängnisvolle Drang, von dem jeder Historiker mitgerissen würde, wenn er nicht
aus Bescheidenheit oder mangelnder Ausdauer im Rahmen begrenzter Arbeiten
zurückgehalten würde.
Gewiß, die Muse der Geschichte ist Polyhymnia. Die Geschichte

73

kann als das universale Gedächtnis des Menschengeschlechtes erscheinen. Aber es gibt kein
universales Gedächtnis. Jedes kollektive Gedächtnis hat eine zeitlich und räumlich begrenzte
Gruppe zum Träger. Man kann die Totalität der vergangenen Ereignisse nur unter der
Voraussetzung zu einem einzigen Bild zusammenstellen, daß man sie vom Gedächtnis jener
Gruppen löst, die sie in Erinnerung behielten, daß man die Bande durchtrennt, durch die sie
mit dem psychologischen Leben jener sozialen Milieus verbunden waren, innerhalb derer sie
sich ereignet haben, und daß man nur ihr chronologisches und räumliches Schema
zurückbehält. Es handelt sich nicht mehr darum, sie in ihrer Realität wiederzuerleben, sondern
sie in jene Rahmen einzufügen, in die die Geschichte die Ereignisse einordnet — Rahmen, die
den Gruppen selbst fremd bleiben —, und sie durch gegenseitige Gegenüberstellungen zu
definieren. Dies will besagen, daß die Geschichte sich vor allem für die Unterschiede
interessiert und von Ähnlichkeiten absieht, ohne die es indessen kein Gedächtnis gäbe, da
man sich nur an Geschehnisse erinnert, deren gemeinsamer Zug die Zugehörigkeit zu ein und
demselben Bewußtsein ist. Trotz der Vielfältigkeit der Örtlichkeiten und Zeiten betrachtet die
Geschichte die Ereignisse als scheinbar vergleichbare Elemente, was ihr erlaubt, sie wie
Variationen eines oder mehrerer Themen untereinander zu verbinden. Nur so gelingt es ihr,
uns einen verkürzten Überblick über die Vergangenheit zu geben — wobei sie langsame
kollektive Entwicklungen in einen Augenblick zusammenfaßt und durch einige brüske
Wandlungen, durch einige Unternehmungen der Völker und Individuen symbolisiert. Auf
diese Weise bietet sie uns ein einheitliches und totales Bild dar.
Um uns dagegen eine Vorstellung von der Vielfältigkeit der kollektiven Gedächtnisse zu
machen, mögen wir uns ausdenken, wie die Geschichte unseres Lebens aussähe, würden wir
— während wir sie erzählen — jedesmal innehalten, wenn wir uns an eine jener Gruppen
erinnern, denen wir angehört haben, um sie in sich selbst zu untersuchen und alles zu
berichten, was wir von ihr kennengelernt haben. Es würde dabei nicht genügen, einige
Gesamtheiten zu unterscheiden: wie etwa unsere Eltern, die Schule, das Gymnasium, unsere
Freunde, unsere Berufskollegen, unsere gesellschaftlichen Beziehungen und dazu bestimmte
politische, religiöse, künstlerische Gesellschaften, an die wir uns haben anschließen können.
Diese großen

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Unterteilungen sind bequem, aber sie entsprechen einer noch äußerlichen und vereinfachten
Sicht der Realität. Diese Gesellschaften enthalten sehr viel kleinere Gruppen, die nur einen
Teil ihres Raumes einnehmen, und wir sind nur mit einem örtlich begrenzten Ausschnitt einer
bestimmten Gruppe in Berührung gekommen. Die Gruppen verwandeln, zerstreuen sich, so
daß es vorkommt — selbst wenn wir an Ort und Stelle bleiben und die Gruppe nicht verlassen
—, daß sie durch eine langsame oder rasche Erneuerung ihrer Mitglieder tatsächlich eine
andere Gruppe wird, die nur wenige Traditionen mit jenen Mitgliedern gemeinsam hat, die sie
anfangs bildeten. Ebenso hat man, wenn man lange Zeit in derselben Stadt lebt, neue Freunde
und alte Freunde; und selbst innerhalb der Familie kommen Trauerfälle, Hochzeiten,
Geburten einer bestimmten Anzahl aufeinanderfolgender Ausgangs- und
Wiederanfangspunkte gleich. Gewiß, diese neueren Gruppen sind bisweilen nur
Unterabteilungen einer Gesellschaft, die sich ausgedehnt und verzweigt hat, der sich neue
Gesamtheiten eingegliedert haben. Wir unterscheiden in ihnen indessen verschiedene Zonen,
und wenn wir von der einen in die andere überwechseln, sind es nicht dieselben
Denkströmungen und Erinnerungsfolgen, die unser Bewußtsein durchziehen. Dies will
besagen, daß die Mehrzahl dieser Gruppen, selbst wenn sie augenblicklich nicht geteilt sind,
indessen — wie Leibniz sagte — eine Art unendlich und den verschiedensten Linien nach
teilbare soziale Materie darstellen.
Betrachten wir jetzt den Inhalt dieser vielfältigen kollektiven Gedächtnisse. Wir wollen nicht
behaupten, daß das kollektive Gedächtnis im Unterschied zur Geschichte oder, wenn man so
will, des historischen Gedächtnisses nur die Ähnlichkeiten behält. Damit man von einem
Gedächtnis sprechen kann, müssen die Abschnitte der Periode, die es umfaßt, durchaus in
irgendeiner Weise differenziert sein. Jede dieser Gruppen hat eine Geschichte. Man
unterscheidet darin Gestalten und Ereignisse. Es fällt uns jedoch auf, daß im Gedächtnis die
Ähnlichkeiten gleichwohl in den Vordergrund treten. In dem Augenblick, in dem die Gruppe
auf ihre Vergangenheit zurückblickt, fühlt sie wohl, daß sie dieselbe geblieben ist und wird
sich ihrer zu jeder Zeit bewahrten Identität bewußt. Die Geschichte, haben wir gesagt,
übergeht jene Zeitabschnitte, während derer sich scheinbar nichts ereignet, innerhalb derer
sich das Leben darauf beschränkt, sich zu

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wiederholen — in leicht unterschiedlichen Formen zwar, aber ohne grundlegende


Veränderung, ohne Unterbrechung und Umwälzung. Aber die Gruppe, die zuerst und vor
allem für sich lebt, strebt danach, die Gefühle und Bilder, die die Substanz ihres Denkens
bilden, zu verewigen. So nimmt die Zeit, die verstrichen ist, ohne daß irgendetwas die Gruppe
tiefgreifend verändert hat, den größten Raum in ihrem Gedächtnis ein. Die Ereignisse, die
innerhalb der Familie geschehen können, sowie die verschiedenen Unternehmungen ihrer
Mitglieder, denen man in einer Familienchronik besonderes Gewicht verleihen würde, würden
so für sie ihren gesamten Sinn dadurch erhalten, daß sie dieser Gruppe von Verwandten
erlauben, ihren eigenen, von allen anderen verschiedenen Charakter kundzutun, der sich kaum
verändert. Wenn im Gegenteil ein Ereignis oder das Beginnen eines oder einiger ihrer
Mitglieder oder endlich äußere Umstände in das Leben der Gruppe ein neues, mit ihrer
Vergangenheit unvereinbares Element einführen würden, entstünde eine andere Gruppe mit
einem eigenen Gedächtnis, in dem nur eine unvollständige und verworrene Erinnerung an das
fortbestehen würde, was dieser Krise vorausgegangen ist.
Die Geschichte ist ein Bild der Wandlungen, und es ist natürlich, daß — von ihr aus gesehen
— die Gesellschaften unaufhörlich im Wandel begriffen sind; denn sie richtet ihren Blick auf
das Ganze, und es vergeht kaum ein Jahr, in dem nicht innerhalb eines Gebietes dieses
Ganzen irgendeine Veränderung vor sich ginge. Da aber für die Geschichte alles miteinander
verbunden ist, muß jede dieser Veränderungen sich auf die anderen Teile des sozialen
Körpers auswirken und hier oder dort eine weitere Wandlung vorbereiten. Allem Anschein
nach ist die Reihe der historischen Ereignisse diskontinuierlich, da jedes Geschehnis von dem
vorausgehenden oder dem darauffolgenden durch einen Zeitraum getrennt ist, von dem man
glauben kann, es habe sich nichts in ihm ereignet. In Wirklichkeit wissen diejenigen, die die
Geschichte schreiben und die vor allem auf den Wechsel, auf die Unterschiede achten, sehr
wohl, daß, um den Übergang vom einen zum anderen herzustellen, sich eine Reihe von
Veränderungen entwickeln muß, von denen die Geschichte nur die Summe (im Sinne der
Integralrechnung) oder das Endergebnis wahrnimmt. Die Betrachtungsweise der Geschichte
ist so geartet, weil sie die Gruppen von außen her erforscht und weil sie eine ziemlich lange

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Zeitdauer umspannt. Das kollektive Gedächtnis dagegen sieht die Gruppe von innen und
während eines Zeitabschnittes, der die durchschnittliche Dauer des menschlichen Lebens
nicht überschreitet, der sogar meist viel kürzer ist. Es zeigt der Gruppe ein Gesamtbild ihrer
selbst, das sich zweifellos zu einer früheren Zeit aufrollt, da es sich um ihre Vergangenheit
handelt — jedoch so, daß sie sich in diesen aufeinanderfolgenden Teilbildern jederzeit
wiedererkennt. Das kollektive Gedächtnis ist ein Bild der Ähnlichkeiten, und es ist natürlich,
daß es meint, die Gruppe bleibe dieselbe, sei dieselbe geblieben — denn es richtet seine
Aufmerksamkeit auf die Gruppe —, und das, was sich geändert hat, seien die Beziehungen
und Kontakte der Gruppe zu den anderen. Da die Gruppe stets dieselbe ist, müssen wohl die
Veränderungen scheinbare sein: die Veränderungen, d. h. die Ereignisse innerhalb der
Gruppe, lösen sich selber in Ähnlichkeiten auf, da ihre Bestimmung zu sein scheint, einen
gleichen Inhalt, d. h. die verschiedenen grundlegenden Züge der Gruppe selbst, unter
verschiedenen Aspekten darzustellen.
Wie wäre überdies ein Gedächtnis möglich, und ist es nicht paradox vorzugeben, man könne
die Vergangenheit in der Gegenwart aufbewahren oder die Gegenwart in die Vergangenheit
einführen, wenn diese nicht zwei Zonen desselben Bereiches sind und wenn die Gruppe nicht
in dem Maße, in dem sie sich in sich selber zurückzieht, in dem sie sich erinnernd ihrer selbst
bewußt wird und sich von den anderen absondert, dazu neigte, sich in eine relativ
unbewegliche Form einzuschließen? Zweifellos erliegt sie einer Täuschung, wenn sie glaubt,
daß die Ähnlichkeiten stärker sind als die Unterschiede, aber es ist ihr unmöglich, sich dessen
bewußt zu werden, da sich das Bild, das sie sich früher von sich selbst machte, langsam
gewandelt hat. Aber, ob der Rahmen sich erweitert oder verengt hat — er ist in keinem
Augenblick gesprengt worden, und man kann jederzeit annehmen, daß die Gruppe allmählich
nur ihre Aufmerksamkeit auf jene Teile ihrer selbst gerichtet hat, die früher in den
Hintergrund traten. Das Grundlegende ist, daß die Züge, durch die sie sich von den anderen
unterscheidet, fortbestehen und daß sie ihrem gesamten Inhalt den Stempel aufdrücken.
Stimmt es nicht, daß, wenn wir uns von einer dieser Gruppen loslösen müssen — keineswegs
für eine zeitweilige Trennung, sondern weil sie sich verläuft, weil ihre letzten Mitglieder
dahinschwinden, weil ein Orts-, Berufs-, Sympathien-
oder Glaubenswechsel uns zwingt, ihr Lebewohl zu sagen — und uns dann die gesamte in ihr
verlebte Zeit ins Gedächtnis zurückrufen, sich uns die Erinnerungen wie aus einem Guß
darbieten, so daß es uns bisweilen scheint, als seien die ältesten die nächsten oder vielmehr
noch, als würden alle von einem gleich starken Licht erhellt — wie Gegenstände, die in der
Dämmerung ineinander verschmelzen...

Drittes Kapitel
Das kollektive Gedächtnis und die Zeit

Die soziale Einteilung der Zeit


Die Zeit lastet oft als ein harter Zwang auf uns — sei es, daß wir eine kurze Zeit zu lang
finden, wenn wir ungeduldig sind oder uns langweilen oder Eile haben, eine undankbare
Aufgabe beendet, eine physische oder moralische Prüfung überstanden zu haben, sei es, daß
uns umgekehrt eine relativ lange Dauer als zu kurz erscheint, wenn wir uns gedrängt und
gehetzt fühlen, handele es sich nun um eine Arbeit, ein Vergnügen oder einfach um den
Übergang von der Kindheit zum Alter, von der Geburt zum Tode. Bald wünschen wir, daß die
Zeit schneller verstreiche, bald daß sie langsamer dahinfließe oder stehenbleibe. Wenn wir im
übrigen resignieren müssen, so zweifellos in erster Linie, weil die Folge der Zeit, ihre
Schnelligkeit, ihr Rhythmus nur eine notwendige Ordnung ist, derzufolge sich die Phänomene
der materiellen Natur und des Organismus aneinanderreihen. Aber auch und vielleicht vor
allem, weil die Zeiteinteilungen, die Dauer der so festgelegten Teile, sich aus Konventionen
und Gebräuchen ergeben und weil sie die ebenfalls unausweichliche Ordnung ausdrücken,
nach der die verschiedenen Phasen des sozialen Lebens aufeinander folgen. Durkheim hat
nicht versäumt, anzumerken, daß ein isoliertes Individuum im Extremfall kein Gefühl für das
Verstreichen der Zeit haben könnte, daß jedoch das Leben innerhalb der Gesellschaft bedingt,
daß alle Menschen sich über die Zeiten und die Längen der Zeitdauer einigen und genau die
Konventionen kennen, deren Gegenstand sie sind. Deshalb gibt es eine kollektive Vorstellung
von der Zeit; sie stimmt zweifellos mit den großen astronomischen und erdphysikalischen
Vorgängen überein; diese allgemeinen Rahmen aber werden von der Gesellschaft mit anderen
überdeckt, die vor allem mit den Verhältnissen und Gewohnheiten der
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konkreten menschlichen Gruppen übereinstimmen. Man kann sogar sagen: die


astronomischen Daten und Zeiteinteilungen werden von den sozialen Einteilungen so
verdeckt, daß sie allmählich verschwinden und die Natur es mehr und mehr der Gesellschaft
überläßt, die Zeitdauer zu gestalten.
Ob die Einteilungen nun so oder so sind, die Menschen passen sich ihnen im übrigen recht gut
an, da jene im allgemeinen traditionell sind und jedes Jahr, jeder Tag die gleiche zeitliche
Struktur wie die vorausgehenden aufweist — so als seien sie alle auf demselben Baum
gewachsene Früchte. Wir können nicht darüber klagen, in unseren Gewohnheiten gestört zu
werden. Der Zwang, den wir erfahren, ist anderer Art. Zuerst einmal ist es die
Gleichförmigkeit, die auf uns lastet. Die Zeit ist für alle Mitglieder der Gesellschaft in der
gleichen Weise unterteilt. Es kann uns indessen unangenehm sein, daß die Stadt jeden
Sonntag nach Müßiggang aussieht, daß die Straßen sich leeren oder sich mit einem
ungewohnten Publikum anfüllen, daß das Schauspiel dort draußen uns veranlaßt, nichts zu tun
oder uns zu zerstreuen, während wir jedoch in Arbeitsstimmung sind. Geschieht es aus Protest
gegen dieses allen gemeinsame Gesetz, daß viele Menschen, Milieus, Stadtviertel die Nacht
zum Tage machen oder daß die, die es können, mitten im Winter die Wärme des Südens
suchen? Zweifellos würde das Bedürfnis, uns von den anderen in bezug auf die Art zu
unterscheiden, in der wir unsere Zeit einteilen und normen, noch mehr zutage treten, wenn
wir bei unseren Beschäftigungen und Zerstreuungen nicht genötigt wären, uns in dieser
Hinsicht der sozialen Disziplin zu fügen. Wenn ich ins Büro gehen will, kann ich mich nicht
in dem Augenblick dorthin begeben, in dem die Arbeit unterbrochen wird, in dem die
Angestellten sich nicht mehr dort befinden. Die soziale Arbeitsteilung zieht die Gesamtheit
der Menschen in dieselbe mechanische Verkettung der Tätigkeiten hinein: je mehr
Fortschritte sie macht, um so mehr nötigt sie uns, genau zu sein. Ich muß durchaus pünktlich
ankommen, wenn ich einem Konzert, einem Theaterstück beiwohnen will, wenn ich nicht die
Teilnehmer an dem Essen, zu dem ich geladen bin, warten lassen will, wenn ich nicht meinen
Zug verpassen will. Ich bin also gezwungen, mich in meinem Tun nach dem Lauf eines
Uhrzeigers zu richten oder nach dem von den anderen angenommenen Rhythmus — der
meinen Hang, mit meiner Zeit zu geizen, keine Zeit zu verlieren, nicht Rech-

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nung trägt —, da ich sonst einige der Chancen und Vorteile gefährden würde, die mir das
Leben innerhalb der Gesellschaft bietet. Aber das Unangenehmste ist vielleicht, daß ich mich
ständig gezwungen fühle, das Leben und die Ereignisse, die es ausfüllen, unter dem Aspekt
des Messens zu betrachten. Nicht nur, daß ich angstvoll über mein in einer Anzahl von Jahren
ausgedrücktes Alter und ebenso über die Anzahl von Jahren, die mir noch bleiben, nachdenke
— so als ob das Leben eine weiße, durch eine Anzahl Linien in gleiche Abschnitte unterteilte
Seite sei, oder vielmehr noch, als ob die Jahre, die ich vor mir habe, abnehmen und sich
zusammenziehen würden, weil jedes einzelne eine immer kleinere Proportion der
verflossenen Zeit, die anwächst, darstellt. Sondern man kommt durch das viele Messen der
Zeit — in der Ansicht, sie wohl auszufüllen — dahin, nicht mehr zu wissen, was man mit
jenen Teilen der Zeitdauer machen soll, die sich nicht mehr auf die gleiche Weise unterteilen
lassen, weil man in ihnen sich selbst ausgeliefert und gewissermaßen aus der Strömung des
äußeren sozialen Lebens ausgeschieden ist. Ebensogut könnte dies eine Oase sein, in der man
die Zeit gerade vergißt, dafür aber sich selbst wiederfindet. Man empfindet im Gegenteil sehr
stark die leeren Zeiträume, und das Problem besteht dann darin, zu wissen wie man die Zeit
verbringen soll. So macht uns die Gesellschaft, indem sie uns nötigt, unser Leben
unaufhörlich auf ihre Art zu messen, immer unfähiger, auf unsere eigene Weise darüber zu
verfügen. Zweifellos bleibt es für manche Menschen zutreffend, daß die verlorene Zeit
diejenige ist, die man am wenigsten bereut (oder, in einem anderen Sinne, die man am
meisten bereut). Aber das sind Ausnahmen.

Die reine (individuelle) Zeitdauer und die „gemeinsame Zeit" nach Bergson
Wenn eine soziale Zeit existiert, deren Einteilungen so dem individuellen Bewußtsein
aufgezwungen werden, wo nimmt sie selbst ihren Ursprung? Man hat behauptet, daß die Zeit
oder die Zeitdauer selbst und ihre Einteilungen zu unterscheiden seien. Genauer gesagt,
würde jedes mit einem Bewußtsein begabte Wesen das Gefühl für die Zeitdauer haben, da in
ihm verschiedene Bewußtseinszustände aufeinander folgen. Die Zeitdauer würde nichts
anderes sein als die Folge dieser Zustände, als die Strömung, die durch sie

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hindurch, unter ihnen hinweg zu gehen scheint, wobei sie einen nach dem anderen in
Erscheinung treten läßt. Jeder Mensch würde in diesem Sinne seine eigene Zeitdauer haben,
und sie würde eine jener grundlegenden Gegebenheiten des Bewußtseins sein, die wir
unmittelbar kennen und deren Kenntnis nicht von außen her zu uns zu dringen braucht. Da
diese Zustände verschiedenartig sind, würde es sogar möglich sein, innerhalb dieser Folge
natürliche Unterteilungen festzustellen, die dem Übergang von einem Zustand in den anderen
entsprechen, von einer fortlaufenden Reihe ähnlicher Zustände in eine andere Reihe
gleichfalls ähnlicher Zustände. Mehr noch, da wir die äußeren Dinge wahrnehmen und da es
in der Natur viele regelmäßige Wiederholungen gibt — die Aufeinanderfolge der Tage, die
Folge der Schritte, die unseren Gang unterteilen usw. —, würde ein isoliertes Individuum
fähig sein, sich aus eigener Kraft und auf Grund der Gegebenheiten einzig seiner Erfahrung
einen Begriff von einer meßbaren Zeit zu machen ...
Aber in bezug auf manche Dinge trifft unser Denken ebenfalls mit dem der anderen
zusammen; jedenfalls stelle ich mir die fühlbare Existenz jener, mit denen ich durch die
Stimme oder durch Gesten in einem bestimmten Augenblick in Verbindung trete, räumlich
vor. So würden gleichzeitig in meiner Zeitdauer und in der ihren Einschnitte entstehen, die
jedoch dahin tendieren, sich bis auf die Zeitdauer und das Bewußtsein anderer Menschen zu
erstrecken — aller auf der Welt Lebenden. Nun werden wir uns vorstellen können, daß
zwischen diesen aufeinanderfolgenden und gemeinsamen Augenblicken, von denen man
annimmt, daß wir sie in der Erinnerung behalten werden, eine Art leerer Zeit verstreicht —
gemeinsame Hülle der von jedem persönlichen Bewußtsein erlebten Zeitdauer, wie die
Psychologen sagen. Da die Menschen übereinkommen, die Zeit mittels bestimmter
Bewegungsabläufe zu messen, die in der Natur entstehen — wie die der Sterne —, oder die
wir künstlich schaffen und regeln — wie auf unseren Uhren —, heißt das, daß wir innerhalb
der Folge unserer Bewußtseinszustände nicht genügend bestimmte Anhaltspunkte würden
finden können, die für jedes Bewußtsein gültig sein könnten. Die Eigentümlichkeit der Arten
der individuellen Zeitdauer besteht in der Tat darin, daß sie unterschiedlichen Inhalts sind, so
daß die Schnelligkeit der Aufeinanderfolge ihrer Zustände von der einen zur anderen und
ebenso innerhalb jeder

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einzelnen während der verschiedenen Perioden mehr oder minder variiert. Es gibt leere
Stunden und Tage, während wir in anderen Augenblicken — sei es, daß sich die Ereignisse
überstürzen, sei es, daß wir rascher denken oder uns in einem Zustand der Erregung oder
Gefühlsaufwallung befinden — den Eindruck haben, innerhalb einiger Stunden oder Tage
Jahre durchlebt zu haben. Aber genauso ist es, wenn man in demselben Augenblick mehrere
Bewußtseinsarten vergleicht. Auf einen wachen, ungeduldigen und gespannten Geist würden
viele kommen, die nur ausnahmsweise von irgendeinem äußeren Ereignis angeregt werden
und deren gewöhnliche Bewegung langsam und eiförmig ist, weil ihr Interesse sich allein —
und dazu nicht sehr intensiv — auf eine geringe Anzahl von Dingen richtet. Vielleicht erklärt
ein wachsendes Desinteresse, eine fortschreitende Abschwächung der gefühlsmäßigen
Fähigkeiten, daß in dem Maße, als man älter wird, der Rhythmus des Innenlebens sich
verlangsamt, und daß, während der Tag eines Kindes mit vielfältigen Eindrücken und
Beobachtungen angefüllt ist und in diesem Sinne eine große Anzahl von Augenblicken
umfaßt, mit dem Abnehmen der Jahre der Inhalt eines Tages — wenn man nur den wirklichen
Inhalt berücksichtigt, d. h. das, was unsere Aufmerksamkeit erweckt und uns das Bewußtsein
unseres Innenlebens gegeben hat —, sich auf sehr viel weniger voneinander verschiedene
Zustände und in diesem Sinne auf eine geringe Anzahl eigenartig ausgedehnter Augenblicke
reduziert. Der Greis, der seine Kindheit in Erinnerung behalten hat, meint, seine Tage
vergingen gegenwärtig langsamer und seien zugleich kürzer — was besagen will, daß er bald
glaubt, die Zeit fließe langsamer dahin, weil die Augenblicke, so wie er sie zu leben das
Gefühl hat, länger sind, und dann wieder meint, sie verfliege schneller, weil die Augenblicke,
so wie man sie um ihn herum zählt, mit soldier Schnelligkeit aufeinander folgen, daß es sein
Fassungsvermögen übersteigt: er hat keine Zeit, einen Tag mit all dem anzufüllen, was ein
Kind bequem in ihm unterbringen kann: weil seine innere Zeitdauer langsamer verstreicht,
scheint ihm der Zeitraum eines Tages zu klein. Deshalb würden sich ein Greis und ein Kind,
die Seite an Seite leben würden und kein anderes Mittel der Zeitmessung hätten, als sich auf
ihr Gefühl der Zeitdauer und auf die Einteilungen, die ihr Innenleben mit sich bringt, zu
beziehen, weder über die Teilungspunkte noch über die

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Länge der als gemeinsame Einheit gewählten Zeitabschnitte verständigen können — eine
Einheit, die dem Kinde als zu klein, dem Bejahrten als zu groß erscheinen würde. Um die
Zeiteinteilungen festzulegen, ist es besser, daß wir uns von den Veränderungen und
Bewegungen leiten lassen, die innerhalb der materiellen Körper entstehen, damit es uns
immer möglich ist, auf sie Bezug zu nehmen. Wir wären nicht ganz von selbst auf den
Gedanken gekommen, diese Wahl zu treffen. Wir mußten uns in dieser Hinsicht mit anderen
Menschen verständigen: was wir als Anhaltspunkte gewählt haben, ist in Wirklichkeit
innerhalb der periodischen Wiederkehr bestimmter materieller Phänomene die Gelegenheit,
die diese uns bieten — uns und den anderen, da wir sie gleichzeitig wahrnehmen —, gerade
festzustellen, daß zwischen manchen unserer Wahrnehmungen, d. h. manchen unserer
Gedanken — der ihren und der unseren —, eine Gleichzeitigkeitsbeziehung besteht, und vor
allem, daß diese Beziehung in regelmäßigen Abständen, die wir als gleich zu betrachten
übereinkommen, sich von neuem einstellt. Von diesem Augenblick an werden uns die
konventionellen Zeiteinteilungen von außen her aufgezwungen. Aber sie haben ihren
Ursprung in den individuellen Denkweisen. Diesen ist nur bewußt geworden, daß sie in
bestimmten Augenblicken miteinander in Verbindung treten, daß sie bisweilen eine
gleichartige Haltung demselben äußeren Objekt gegenüber einnehmen und daß diese Haltung
sich mit derselben periodischen Regelmäßigkeit wiederholt. Durch ein solches Vorgehen und
durch die Konventionen, die sich daraus ergeben, haben sie nur diskontinuierliche
Anhaltspunkte festlegen können, die teilweise außerhalb eines jeden Bewußtseins liegen, da
sie allen gemeinsam sind. Aber sie haben keine neue, unpersönliche Zeitdauer schaffen
können, die den Raum zwischen den als Anhaltspunkten gewählten Augenblicken füllen
würde, d. h. eine soziale und kollektive Zeit, die innerhalb ihrer Einheit selbst alle
individuellen Arten der Zeitdauer umfassen und in allen deren Teilen untereinander verbinden
würde. In Wirklichkeit gibt es innerhalb des Zeitraumes, der zwischen zwei den
Anhaltspunkten entsprechenden Einschnitten liegt, nur getrennte, individuelle Denkweisen,
eine bestimmte Anzahl verschiedener Denkströmungen, von denen jede ihre eigene Zeitdauer
hat. Man kann sich, wenn man will, eine leere Zeit vorstellen, die alle individuellen Arten der
Zeitdauer beinhalten und die durch die-

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selben Einschnitte unterteilt würde — und zweifellos drängt sich eine derartige Vorstellung in
der Tat jedem Denken auf: aber sie ist nur ein abstraktes Bild, dem keine Realität mehr
entsprechen würde, wenn die individuellen Arten der Zeitdauer zu existieren
aufhörten.
Machen wir uns doch einmal diese Bergsonsche Betrachtungsweise zu eigen. Der Begriff
einer universalen Zeit, die jedes Dasein, die alle aufeinanderfolgenden Reihen von
Phänomenen in sich einschließt, würde sich in einer diskontinuierlichen Folge von
Augenblicken erschöpfen. Jeder von ihnen würde einer zwischen mehreren individuellen
Denkweisen hergestellten Beziehung entsprechen, die sich ihrer gleichzeitig bewußt würden.
Gewöhnlich voneinander getrennt, treten diese Denkweisen jedesmal, wenn ihre Wege sich
kreuzen, aus sich heraus und verschmelzen einen Augenblick lang zu einer breiteren
Ausdrucksform, die zugleich die Bewußtseinsinhalte und die zwischen ihnen bestehenden
Beziehungen umfaßt: eben hierin besteht die Gleichzeitigkeit. Die Gesamtheit dieser
Augenblicke würde einen Rahmen bilden, den umzugestalten, zu regulieren und zu
vereinfachen uns im übrigen freistehen würde. Denn die Zeit, die diese Augenblicke trennt, ist
leer, und alle ihre Teile lassen sich ebenfalls auf die verschiedenste Weise unterteilen: sie ist
wie eine Tafel, auf der man eine unendlich große Anzahl paralleler Linien ziehen kann.
Nichts hindert uns also, uns eingeschobene Gleichzeitigkeiten an irgendeinem Punkt jener
zeitlichen und abstrakten Linie vorzustellen, die zwei Augenblicke mit der Hälfte, dem
Drittel, dem Viertel dieses Zeitraumes verbinden (und die wir durch das Bild einer
gleichförmigen Bewegung oder eines gleichförmigen Wechsels zwischen dem einen und dem
anderen Augenblick darstellen können). Auf diese Weise werden die Einteilungen der Zeit in
Jahre, Monate, Tage, Stunden, Minuten und Sekunden entstehen: schließlich können wir
durchaus annehmen, daß eine bestimmte Anzahl individueller Denkweisen zu all den
bestimmten Zeitpunkten miteinander in Verbindung treten, die die Stunden und selbst die
Minuten voneinander trennen: die Zeiteinteilungen symbolisieren nur alle diese
Möglichkeiten. Nichts würde deutlicher beweisen, daß die Zeit, die als für die Gesamtheit der
Menschen gültig aufgefaßt wird, nur eine künstliche Schöpfung ist, die durch die
Summierung, die Verbindung und Vervielfältigung

85

der den individuellen Arten der Zeitdauer — und nur ihnen — entlehnten Gegebenheiten
erhalten wurde.

Kritik des Bergsonschen Subjektivismus


Wenn jedoch diese Zeiteinteilungen nicht schon im voraus in den Bewußtseinsinhalten
enthalten und angedeutet sind, genügt es dann, zwei oder eine größere Anzahl dieser letzteren
aufeinander abzustimmen, um sie aus ihnen hervorgehen zu lassen? Dieser Ansicht oder
diesem Postulat muß besondere Beachtung geschenkt werden, denn hier zeigt es sich am
deutlichsten, welche besondere Konzeption der Zeitdauer der Behauptung zugrunde liegt, das
Gedächtnis sei eine individuelle Fähigkeit.
Um uns fühlen zu lassen, was das innere und persönliche Denken ist, läßt man uns zuerst alles
daraus entfernen, was an den Raum und die äußeren Gegenstände erinnert. Seine
aufeinanderfolgenden Zustände bilden zweifellos eine Vielfalt und sind voneinander
verschieden, jedoch auf ganz andere Art als die materiellen Dinge. Sie fließen als ein
ununterbrochener Strom dahin, ohne daß es zwischen ihnen eine genaue Trennungslinie gäbe.
Diese allerdings ist für das Gedächtnis erforderlich, oder vielmehr für jene Form des
Gedächtnisses, das allein wirklich aktiv und psychisch und nicht mit dem Mechanismus der
Gewohnheit zu verwechseln ist. Das (in diesem Sinne verstandene) Gedächtnis kann die
vergangenen Zustände nur deshalb wiederaufgreifen und sie uns nur deshalb in ihrer früheren
Realität wiedergeben, weil es sie weder untereinander, noch mit anderen, älteren oder
neueren, verwechselt — d, h, daß es sich auf die Unterschiede stützt. Nun sind deutlich
voneinander getrennte Zustände zweifellos hierdurch selbst verschieden. Würden sie aus der
Folge der anderen herausgelöst, aus der Strömung, in der sie sich befanden, zurückgezogen —
was wohl ihr Los wäre, wollten wir jeden von ihnen als eine getrennte Realität mit zeitlich
deutlich markierten Konturen betrachten —, wie könnten sie dann jedoch völlig verschieden
von jedem anderen ebenfalls abgesonderten und begrenzten Zustand bleiben? Jede Trennung
dieser Art bedeutet, daß man diese Zustände in den Raum zu projizieren beginnt. Aber
räumliche Dinge, so unterschiedlich sie sein mögen, enthalten viele Ähnlichkeiten. Die Orte,
an denen sie sich befinden, sind verschieden, liegen jedoch innerhalb eines homogenen
Milieus. Die Unterschiede,

86

die man bei ihnen feststellt, lassen sich in bezug auf eine bestimmte Anzahl gemeinsamer
Arten bestimmen, an denen die einen wie die anderen teilhaben. Dagegen ist die Strömung,
von der die Gedanken innerhalb eines jeden Bewußtseins erfaßt werden, kein homogenes
Milieu, da sich hier die Form nicht von der Materie unterscheidet und der Behälter mit dem
Inhalt eins ist. Innerhalb der verschiedenen Bewußtseinszustände (um übrigens einen
inadäquaten Ausdruck zu gebrauchen, da es in Wirklichkeit keineswegs Zustände, sondern
Bewegungen oder ein unaufhörlich im Werden begriffenes Denken gibt) unterscheidet man
Eigenschaften nur durch Abstraktion, da das Grundlegende hier ist, daß jeder von ihnen eine
Einheit bildet und daß sie eine bestimmte Anzahl von Ausblickspunkten auf das gesamte
Bewußtsein darstellen: es gibt unter ihnen keine gemeinsamen Arten, da jeder einmalig in
seiner Art ist. Jeder Versuch eines Vergleichs des einen mit dem anderen würde die
Kontinuität der Reihe unterbrechen. Aber gerade diese Kontinuität selbst erklärt, daß die
einen an die anderen erinnern — an die, die ihnen vorausgegangen oder gefolgt sind —,
ebenso wie man kein Kettenglied ergreifen kann, ohne die gesamte Kette mitzuziehen. Weil
sie also alle verschieden sind, bilden die individuellen Bewußtseinszustände eine fortlaufende
Reihe, in die jede Ähnlichkeit, jede Wiederholung ein Element der Diskontinuität einführen
würde. Gerade auch weil die Erinnerungen verschieden sind, rufen sie einander gegenseitig
wach; sonst würde die Reihe aufhören, sich zu vervollständigen, und könnte jeden
Augenblick abreißen.
Wenn dies aber zutrifft, ist es unverständlich, wie zwei individuelle Bewußtseinsinhalte
jemals miteinander in Verbindung treten können, wie es zwei so kontinuierlichen Reihen von
Zuständen gelingen soll, sich wirklich zu überschneiden — was notwendig ist, damit ich das
Gefühl habe, daß Gleichzeitigkeit zwischen zwei Veränderungen besteht, von denen die eine
in mir, die andere in einem von dem meinen verschiedenen Bewußtsein eintritt. Zweifellos
kann ich annehmen, wenn ich äußere Gegenstände gewahre, daß ihre Realität sich in meiner
Wahrnehmung erschöpft. Was andauert, sind nicht die Gegenstände, sondern mein Denken,
das sie mir vergegenwärtigt, und ich trete dabei nicht aus mir heraus. Anders ist es, wenn eine
menschliche Form, eine Stimme, eine Geste mir die Gegenwart eines anderen Denkens als des
meinen offenbart. Dann würde ich den
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Gegenstand aus zweierlei Sicht dargestellt vor mir sehen — aus der meinen und aus der eines
anderen, der wie ich ein Bewußtsein hat, das andauert. Aber wie ist das möglich, wenn ich in
meinem Bewußtsein eingeschlossen bin, wenn ich mich nicht aus meiner Zeitdauer
herauslösen kann? Ich kann mich indessen nicht aus ihr herauslösen, wenn, wie behauptet
wird, meine Bewußtseinszustände einander in einer ununterbrochenen Bewegung folgen,
wenn sie so eng miteinander verbunden sind, daß es zwischen ihnen keine Trennungslinie
gibt, keinen Stillstand in ihrem Fluß, wenn kein scharf umrissener Gegenstand sich von der
Oberfläche meines bewußten Lebens reliefartig abhebt.
Man wird sagen, daß das, was die Kontinuität meines bewußten individuellen Lebens
unterbricht, die Einwirkung ist, die ein anderes Bewußtsein, das mir eine Vorstellung
aufzwingt, in der es enthalten ist, von außen her auf mich ausübt. Es mag ein Mensch sein,
der meinen Weg kreuzt und mich nötigt, seine Gegenwart zu bemerken. Aber schließlich
drängen sich die materiellen Gegenstände ebenfalls von außen her meinem
Wahrnehmungsvermögen auf. Wenn wir indessen annehmen, daß ich in mich selbst
eingeschlossen bin und nichts von der äußeren Welt weiß, würde eine solche sinnliche
Wahrnehmung den Fluß meiner Bewußtseinszustände keineswegs eher aufhalten als ein
gefühlsmäßiger Eindruck oder ein beliebiger Gedanke: sie wird sich in ihn einfügen, ohne
mich aus mir selber heraustreten zu lassen. Genauso wäre es, wenn ich — immer in der
Annahme eines auf die Kontemplation seiner Zustände beschränkten Bewußtseins — eine
menschliche Form, eine Stimme, eine Geste wahrnehme. Der Verlauf des individuellen
Denkens würde dadurch keineswegs verändert werden: ich würde keineswegs den Eindruck
einer anderen Zeitdauer als der meinen haben. Damit es anders sei, muß der Gegenstand wie
ein Zeichen auf mich einwirken. Das aber bedingt, daß ich jederzeit fähig bin, den
Gegenstand gleichzeitig aus meiner wie aus der Sicht eines anderen heraus zu sehen und daß
ich — während ich mir mehrere zumindest potentielle Bewußtseinsinhalte und die
Möglichkeit, daß sie untereinander in Verbindung treten, vorstelle — mir gleichfalls eine
Zeitdauer vorstelle, die ihnen gemeinsam ist.
Wir haben ein in sich selbst eingeschlossenes Bewußtsein vorausgesetzt, für das seine
Wahrnehmungen nur subjektive Zustände wä-

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ren, die ihm nichts über die Existenz der Gegenstände offenbaren würden. Wie aber würde ein
solches Denken dann jemals die Kenntnis der äußeren Welt erlangen? Sie kann ihm unter
diesen Bedingungen weder von innen, noch von außen her zukommen. Indessen muß
eingeräumt werden, daß jede sinnliche Wahrnehmung dazu neigt, sich nach außen
auszuwirken, d. h. das Denken aus dem engen Kreis des individuellen Bewußtseins, in dem es
sich bewegt, herauszuführen und den Gegenstand so zu betrachten, als sei sein Bild zugleich
in einem oder mehreren anderen Bewußtseinsinhalten enthalten oder als könne es jederzeit in
ihnen enthalten sein. Dies aber setzt voraus, daß man sich schon eine „Gesellschaft der
Bewußtseinsinhalte" vorstellte. Mehr noch, wenn wir an Zustände denken, die uns im
Unterschied zu den sinnlichen Wahrnehmungen nicht mit der äußeren Wirklichkeit in
Verbindung zu stehen scheinen, wie die affektiven Zustände als solche — ist dann das, was
sie charakterisiert und ihnen einen rein innerlichen Aspekt verleiht, die Tatsache, daß die
Vorstellung jener Bewußtseinsinhalte fehlt? Oder ist es nicht vielmehr so, daß diese
Vorstellung vorübergehend verdeckt ist, daß kein von außen her auf uns ausgeübter Einfluß
ihr Gelegenheit gibt, sich zu zeigen, daß sie jedoch stets latent hinter den scheinbar
persönlichsten Eindrücken fortbesteht? Das würde der Fall sein, wenn wir seit einiger Zeit
einen physischen Schmerz fühlen und uns ganz in unseren Empfindungen verzehren würden,
so daß der gegenwärtige Schmerz den vorausgegangenen Schmerz zu verlängern und aus ihm
seine gesamte Substanz zu beziehen scheint. Wenn wir nun entdeckten, daß dieser Schmerz
durch eine materielle — äußerliche oder organische — Einwirkung hervorgerufen wird, wenn
wir ihn uns nur vorstellen oder wenn wir außerdem bedenken, daß andere Wesen denselben
Schmerz fühlen oder fühlen könnten, dann wird sich unsere Empfindung teilweise zumindest
in das verwandeln, was wir eine objektive Vorstellung des Schmerzes nennen wollen. Wie
aber kann die Vorstellung aus der Empfindung hervorgehen, wenn sie nicht schon darin
enthalten war? Und muß man nicht annehmen, daß — da diese Vorstellung nur so ist, weil sie
mehreren Bewußtseinsinhalten gemeinsam, weil sie in genau dem gleichen Maße kollektiv
wie objektiv ist —, wenn auch nicht der Schmerz selbst, so doch zumindest das Bild, das ich
mir vorher von ihm machte (und das alles

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ist, was in der Erinnerung von ihm zurückbleibt), nur eine unvollständige und verstümmelte
kollektive Vorstellung war?
Auf diese Weise würde zweifellos das alte metaphysische Paradox von Leibniz in einem
neuen Sinn interpretiert werden können — wissen, daß die physischen Schmerzen und die
Empfindungen im allgemeinen nur verworrene und unvollendete Ideen sind. Der Schmerz
verliert nicht nur deshalb in manchen Fällen allmählich an Schärfe, weil man sich die Art und
den Mechanismus, die Teile und ihre Beziehungen getrennt vorstellt, sondern es scheint
vielmehr, daß wir, indem wir uns vorstellen, er könne von mehreren Menschen empfunden
und ertragen werden (was nicht sein könnte, wenn er eine rein persönliche und daher
einzigartige Empfindung wäre), einen Teil seiner Last auf die anderen übertragen und daß sie
uns ihn ertragen helfen. Das Tragische des Schmerzes, das bewirkt, daß er — steigert er sich
bis zu einem bestimmten Punkt — in uns ein verzweifeltes Gefühl der Angst und Ohnmacht
hervorruft, besteht darin, daß über ein Übel, dessen Ursache in jenen Bereichen unserer selbst
liegt, die den anderen unzugänglich sind, niemand Macht hat, da wir mit dem Schmerz eins
werden und der Schmerz sich nicht selbst zerstören kann. Deshalb suchen wir instinktiv und
finden eine Erklärung dieses Übels, die einleuchtend ist, d. h. auf die die Mitglieder einer
Gruppe sich einigen können — ebenso wie der Zauberer dem Kranken Linderung verschafft,
indem er scheinbar einen Stein, Knochen, eine Spitze oder eine Flüssigkeit aus seinem Körper
entfernt. Oder wir berauben das Leiden seines Geheimnisses, indem wir seine andere Seite
entdecken — die, die es dem Bewußtsein anderer Menschen zukehrt, sobald wir uns
vorstellen, daß es von unsresgleichen empfunden worden ist oder empfunden werden kann:
wir verweisen es so in einen vielen Wesen gemeinsamen Bereich zurück und geben ihm eine
kollektive und vertraute Physiognomie wieder.
So führt eine tiefergehende Analyse der Gleichzeitigkeit dazu, daß wir die Hypothese der rein
individuellen, einander undurchdringlichen Arten der Zeitdauer beiseite schieben. Die Folge
unserer Bewußtseinszustände ist keine feine Linie, deren Teile nur mit denen
zusammenhängen, die ihnen vorausgehen und die ihnen folgen. In Wirklichkeit
überschneiden sich in unserem Denken zu jedem Zeit-Punkt und während jeder Periode seines
Verlaufs viele Strömungen, die von einem Bewußtsein zum anderen gehen und deren
Treffpunkt

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es ist. Zweifellos rührt die offensichtliche Kontinuität dessen, was man unser Innenleben
nennt, zum Teil daher, daß es zeitweise dem Lauf einer dieser Strömungen folgt — dem
Verlauf eines Denkens, das sich zugleich in uns und in den anderen entwickelt, der
Ausrichtung eines kollektiven Denkens. Sie erklärt sich ebenfalls aus der Verbindung, die
zwischen unseren Bewußtseinszuständen unaufhörlich diejenigen unter ihnen herstellen, die
sich vor allem aus der Kontinuität unseres organischen Lebens ergeben. Es besteht zwischen
den einen und den anderen im übrigen nur ein gradmäßiger Unterschied, da selbst die
affektiven Eindrücke dazu neigen, sich zu kollektiven Bildern und Vorstellungen zu entfalten.
Wenn man mit Hilfe individueller Arten der Zeitdauer eine breitere und unpersönliche
Zeitdauer rekonstruieren kann, so jedenfalls weil diese selbst sich von dem Hintergrund einer
kollektiven Zeit abheben, aus der sie ihre gesamte Substanz beziehen.

Das Datum, Rahmen der Erinnerung


Wir sprechen von einer kollektiven Zeit im Gegensatz zu der individuellen Zeitdauer. Nun
aber erhebt sich die Frage, ob die kollektive Zeit einheitlich ist, und wir beantworten sie
keineswegs von vornherein. Der Theorie nach, die wir hier erörtern, würde es in der Tat
einerseits ebensoviele Arten der Zeitdauer wie Individuen geben, andrerseits eine abstrakte
Zeit, die sie alle einschließen würde. Diese Zeit ist leer, und vielleicht ist sie nur eine Idee.
Die Abschnitte, in die wir sie an den Punkten unterteilen, an denen mehrere individuelle
Arten der Zeitdauer einander überschneiden, sind nicht mit jenen Bewußtseinszuständen zu
verwechseln, von denen wir bemerken, daß sie sich gleichzeitig einstellen. In diesen
Abschnitten könnte nicht mehr enthalten sein als in der Zeit, die sie unterteilen und die als ein
homogenes Milieu, als eine der Materie beraubte Form gedacht ist. Aber welche Art von
Realität können wir dieser Form beimessen — und vor allem, wie kann sie als Rahmen für die
Ereignisse dienen, die wir in sie hineinverlegen?
Eine so definierte Zeit läßt sich auf jede Weise unterteilen. Kann man deshalb alle Ereignisse
in ihr lokalisieren? Bevor diese Frage beantwortet wird, muß bemerkt werden, daß die Zeit
hier für uns nur in dem Maße von Bedeutung ist, als sie uns erlauben muß, die Ereignisse, die
in ihr geschehen sind, in der Erinnerung zu behalten

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und uns ins Gedächtnis zurückzurufen; das ist der Dienst, den wir von ihr erwarten. Für die
vergangenen Ereignisse trifft dies zu. Wenn wir uns an eine Reise erinnern, gibt es selbst
dann, wenn wir uns nicht auf ihr genaues Datum besinnen können, indessen einen ganzen
Rahmen zeitlicher Gegebenheiten, mit denen diese Erinnerung gewissermaßen verknüpft ist:
es war vor oder nach dem Krieg, ich war ein Kind, ein junger Mann, ein fertiger Mann in den
besten Jahren; ich war mit einem bestimmten Freund zusammen, der selbst so oder so alt war;
es war zu einer bestimmten Jahreszeit, ich bereitete eine bestimmte Arbeit vor; es war die
Rede von einem bestimmten Ereignis. Gerade dank einer Reihe derartiger Überlegungen
nimmt eine Erinnerung häufig Gestalt an und vervollständigt sich. Wenn im übrigen eine
Unklarheit hinsichtlich der Periode besteht, in der das Ereignis stattgefunden hat, fügen sich
dann nicht wenigstens andere Erinnerungen in bestimmte andere Perioden ein? Dies ist eine
weitere Möglichkeit, das Ereignis zu lokalisieren. Zudem ist das Beispiel einer Reise
vielleicht nicht das günstigste, weil sie ein isoliertes und zu meinen übrigen Leben in keiner
besonderen Beziehung stehendes Ereignis darstellen kann. Dann ist es — wie wir sehen
werden — weniger die Zeit als vor allem der räumliche Rahmen, der wirksam wird. Wenn es
sich aber um ein Ereignis aus meinem Familien-, meinem Berufsleben handelt oder um ein
Ereignis, das innerhalb einer der Gruppen geschehen ist, zu denen mein Denken am
häufigsten zurückkehrt, wird mir vielleicht der zeitliche Rahmen am besten helfen, mich
daran zu erinnern. Ebenso ist es mit einer bestimmten Anzahl von künftigen Ereignissen, die
in der Gegenwart vorbereitet werden: an eine Verabredung erinnert mich häufig der
Zeitpunkt, zu dem ich sie vereinbart habe; daran, daß ich einen Verwandten, einen Freund
treffen werde, daß ich eine bestimmte Aufgabe erfüllen, einen bestimmten Schritt
unternehmen muß, daß ich mir eine bestimmte Zerstreuung vorgenommen habe, erinnert mich
das Datum, an dem alle diese Ereignisse eintreten sollen. Ebenso kommt es vor, daß wir den
zeitlichen Rahmen erst rekonstruieren, nachdem die Erinnerung wieder aufgetaucht ist, und
daß wir genötigt sind, alle ihre Teile im einzelnen zu untersuchen, um das Datum des
Ereignisses ausfindig zu machen. Selbst dann ist die Erinnerung, da sie die Spuren der
Periode bewahrt, auf die sie sich bezieht, vielleicht nur dadurch ins Gedächtnis zurückgerufen
worden,

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daß wir die Spuren geahnt und an die Zeit gedacht haben, zu der das Ereignis geschehen ist.
Die anfangs annähernde und sehr grobe Lokalisierung ist hernach, als die Erinnerung da war,
präziser geworden. Nichtsdestoweniger trifft es zu, daß wir in einer großen Anzahl von
Fällen, gerade indem wir den Rahmen der Zeit in Gedanken durchmessen, in ihm das Bild der
vergangenen Ereignisse wiederfinden: dazu aber ist es notwendig, daß sich die Zeit dazu
eignet, einen Rahmen für die Erinnerungen zu bilden. j

Abstrakte Zeit und reelle Zeit !


Wir wollen zuerst die Zeit in ihrer abstraktesten Form betrachten: die vollkommen homogene
Zeit der Mechanik und der Physik — einer von Geometrie durchdrungenen Mechanik und
Physik —, die wir die mathematische Zeit nennen können. Sie ist der „gelebten Zeit"
Bergsons entgegengesetzt wie ein Pol dem anderen und diesem Philosophen nach
vollkommen „leer von Bewußtsein". Der Vorteil eines solchen Begriffes würde sich daraus
ergeben, daß er jene Grenze darstellen würde, der die Menschen sich in dem Maße zu nähern
neigen, als sie, anstatt in ihrem eigenen Denken eingeschlossen zu bleiben, die Dinge aus der
Sicht von Gruppen und ausgedehnteren Gesamtheiten heraus betrachten. Die Zeit muß
allmählich von jener Materie entleert werden, die erlauben würde, ihre Abschnitte
voneinander zu unterscheiden, damit sie für eine wachsende Anzahl verschiedener Wesen
gültig sein kann. Was das Denken der Individuen bei diesem Bemühen, die Zeit zu erweitern
und zu verallgemeinern, leiten würde, wäre die latente Vorstellung eines vollkommen
gleichförmigen Milieus, die der Vorstellung vom Raum sehr nahe kommt, wenn nicht gar mit
ihr verschmilzt. Jedermann, sagt man uns, ist natürlicherweise Geometer, da er im Raum lebt.
Es ist also nicht erstaunlich, daß der Mensch, wenn er an die Zeit denkt, indem er von den
besonderen Ereignissen absieht, von denen das individuelle Bewußtsein, das sich in ihr
entfaltet, berührt wird, sich ein dem geometrischen Raum ähnliches homogenes Milieu
vorstellt. Aber würde eine so verstandene Zeit unserem Gedächtnis irgendeine
Zugriffsmöglichkeit bieten? Wo könnten die Erinnerungen auf einer so vollkommen glatten
Oberfläche einen Anhaltspunkt finden. Hier kann man vielleicht noch einmal mit Leibniz
sagen, daß weder aus dieser Zeit selbst, noch aus ihren Abschnitten ersichtlich ist

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warum ein Ereignis eher hier als dort stattfindet, da alle diese Abschnitte nicht zu
unterscheiden sind. In der Tat tritt die mathematische Zeit nur in Erscheinung, wenn es sich
um Dinge oder Phänomene handelt, deren Platz innerhalb der reellen Zeit festzulegen und in
der Erinnerung zu behalten man nicht die Absicht hat — um Ereignisse ohne Datum, deren
Art sich nicht ändert, wenn sie zu verschiedenen Zeitpunkten geschehen. Wenn man durch t0,
t1, t2 ... tn das fortschreitende Anwachsen der Zeit von null an darstellt, legt man zweifellos so
die Dauer und die verschiedenen Phasen einer Bewegung fest — einer jener Bewegungen
jedoch, die man jederzeit wiedererzeugen kann, ohne daß sie einem anderen Gesetz gehorcht.
Mit anderen Worten, der Anfangspunkt tO ist völlig frei von jeder Bindung an irgendeinen
Augenblick der reellen Zeit. Die Gesetze der physikalischen Bewegungen sind in der Tat und
in diesem Sinne unabhängig von der Zeit. Deshalb kommen die Mathematiker überein, solche
Bewegungen in eine völlig leere Zeitdauer hineinzuversetzen und stellen so nur das Paradox
einer Bewegung dar, die zwar zeitlich ist, da sie andauert, die jedoch zu keinem bestimmten
Zeitpunkt abläuft. Aber mit Ausnahme der die Bewegungen der trägen Körper studierenden
Gesellschaft der Mathematiker oder Gelehrten interessieren sich alle menschlichen Gruppen
für Ereignisse, deren Art und Tragweite dem Zeitpunkt nach wechseln, zu dem sie geschehen.
Eine unbestimmte, allem, was man in sie hineinverlegt, gegenüber gleichgültige Zeit würde
ihrem Gedächtnis in keiner Weise behilflich sein können.
Zweifellos scheint es, daß wir auf eine Vorstellung dieser Art Bezug nehmen, wenn wir die
Zeit in gleiche Intervalle einteilen. Die Tage, Stunden, Minuten und Sekunden sind indessen
keineswegs mit den Einteilungen einer homogenen Zeit zu verwechseln: sie haben in der Tat
eine bestimmte kollektive Bedeutung. Sie stellen eine bestimmte Anzahl von Anhaltspunkten
innerhalb einer Zeitdauer dar, deren sämtliche Teile innerhalb des gemeinsamen Denkens
voneinander verschieden sind und sich gegenseitig nicht ersetzen können. Dies beweist die
Tatsache, daß, wenn wir erfahren, daß ein Zug um 15 Uhr abfahren soll, wir zu übersetzen
und uns zu erinnern genötigt sind, daß er in Wirklichkeit um 3 Uhr nachmittags abfährt.
Ebenso unterscheidet sich für uns der 30. oder 31. des Monats vom ersten Tag des folgenden
Monats wenn nicht stärker,

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so doch zumindest auf andere Art als der 1. vom 2. oder der 15. vom 16. Selbst wenn unsere
Aufmerksamkeit sich dann nur auf Zahlen heftet, wissen wir wohl, daß dies keine
willkürlichen Einteilungen sind und daß man sie nicht beliebig ändern kann — so wie man in
der Mechanik den Koordinatennullpunkt verschiebt oder zu einem anderen Achsenkreuz
übergeht. Es ist etwas ganz anderes, von der Sommerzeitrechnung zur Winterzeitrechnung
überzugehen und übereinzukommen, daß man künftig ein Uhr statt zwölf Uhr mittags sagen
wird: die Gruppe will ihre Zeit nicht verlieren, und wenn diese eine Verschiebung erfährt,
will das soziale Leben ihren Rahmen nicht verlassen und begleitet sie in ihrer Verlagerung. In
der Tat ist die soziale Zeit nicht unempfindlich für die Unterteilungen, die man in ihr
vornimmt. So fällt sie nicht mehr als die individuelle Zeitdauer mit der mathematischen Zeit
zusammen. Es besteht ein grundlegender Gegensatz zwischen der wirklichen, individuellen
oder sozialen Zeit und der abstrakten Zeit, und man kann nicht einmal sagen, daß die reelle
Zeit sich in dem Maße, wie sie sozialer wird, dieser letzteren annähert.

Die „universale Zeit" und die historischen Zeiten


Konkreter, bestimmter wird uns jetzt erscheinen, was man die universale Zeit nennen könnte,
die sich auf alle Ereignisse erstreckt, die an irgendeinem Ort der Welt geschehen sind — auf
alle Kontinente, alle Länder, in jedem Land auf alle Gruppen und in ihnen auf alle Individuen.
Man kann sich in der Tat die Gesamtheit der Menschen als einen ausgedehnten Körper
vorstellen, der im übrigen selbst gegenwärtig, besonders aber in der Vergangenheit, nur eine
sehr unvollkommene organische Einheit darstellt, indessen aber so gestaltet ist, daß alle Teile,
aus denen er besteht, ein zusammenhängendes Ganzes bilden, weil kaum einer von ihnen
nicht zumindest in Abständen mit irgendeinem anderen in irgendeiner Weise in Berührung
gekommen ist, und sie sich so allmählich durch mehr oder minder lockere Bande mit dem
Ganzen verbinden. Wir wissen, daß dies streng genommen nicht zutrifft. Es gibt Regionen,
die zweifellos seit langem bewohnt sind und die man erst ziemlich spät entdeckt hat. Ebenso
gibt es Völker, um deren Existenz man fast immer gewußt hat — jedoch nur durch sehr vage
Überlieferungen, durch recht knappe Reiseberichte —, und die keine eigentliche Geschichte
in dem
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Sinne haben, daß man in ihr das Datum früherer Ereignisse festlegen kann, selbst dann nicht,
wenn man irgend etwas von ihnen in der Erinnerung bewahrt hat. Gleichwohl nimmt man an,
daß diese Ereignisse zu gleicher Zeit wie jene stattgefunden haben, die wir in unseren
Zivilisationen kennen, und daß uns nur schriftliche Dokumente, Inschriften auf Monumenten
oder Annalen fehlen, um sie in jene Zeit hineinverlegen zu können, in die unsere Geschichte
uns zurückzugehen erlaubt. Wir begegnen hier der historischen Zeit wieder, von der wir im
vorigen Kapitel gesprochen haben — mit dem Unterschied, daß wir sie als über jene Grenzen
hinaus ausgedehnt annehmen, die wir ihr gesetzt hatten, dergestalt, daß sie das Leben der
Völker, die keine Geschichte gehabt haben, und selbst die vorgeschichtliche Vergangenheit
mit einschließt.
So natürlich auch eine solche Ausdehnung erscheinen mag, so müssen wir uns doch fragen,
ob sie wirklich legitim ist und welche Bedeutung für uns eine Zeit haben kann, an die sich die
Völker, selbst die ältesten, die wir kennen, nicht erinnern können. Zweifellos können wir
immer aus Analogien Schlüsse ziehen. Wir können beispielsweise annehmen, daß der Planet
Mars bewohnt ist und immer bewohnt gewesen ist. Werden wir indessen sagen, daß seine
Bewohner zur selben Zeit gelebt haben wie jene Erdbevölkerungen, deren Geschichte wir
kennen? Damit eine solche Annahme einen ganz bestimmten Sinn hat, müssen wir außerdem
voraussetzen, daß sich die Bewohner dieses Planeten uns durch irgendein Mittel wenigstens
von Zeit zu Zeit haben mitteilen können, so daß sie und wir miteinander in Verbindung
getreten sind, daß wir etwas von ihrem Leben und ihrer Geschichte kennengelernt haben, und
sie von der unseren. Wenn dem nicht so ist, wird alles so sein wie im Fall zweier einander
verschlossener Bewußtseinsformen, deren Arten der Zeitdauer sich niemals überschneiden.
Wie kann man dann von einer Zeit sprechen, die ihnen gemeinsam sein würde?
Aber wir müssen weiter gehen und uns fragen — wobei wir uns an die Ereignisse der
Vergangenheit halten, deren Datum und Reihenfolge die Historiker zumindest annähernd
haben festlegen und rekonstruieren können — ob das Bild, das sie von den Ereignissen
entworfen haben, die zur gleichen Zeit in weit voneinander entfernten Ländern und Regionen
geschehen sind, uns erlaubt, auf die Realität einer universalen Zeit innerhalb der Grenzen der
Ge-

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schichte zu schließen. Man spricht allgemein von historischen Zeiten, als gäbe es mehrere
davon, und vielleicht bezeichnet man damit die mehr oder weniger weit zurückliegenden,
aufeinanderfolgenden Perioden. Aber wir können diesem Ausdruck auch einen anderen Sinn
verleihen, so als gäbe es mehrere „Geschichten", von denen im übrigen die einen früher, die
anderen später beginnen, die aber verschieden sind. Gewiß ist es einem Historiker möglich,
sich außerhalb all dieser parallelen Entwicklungen und über sie zu stellen und sie als eine
bestimmte Anzahl von Aspekten einer universalen Geschichte zu betrachten. Aber wir
empfinden wohl, daß in vielen und vielleicht in den meisten Fällen die Einheit, die man
erhält, völlig künstlich ist, weil man so Ereignisse nebeneinanderstellt, die in keiner Weise
aufeinander eingewirkt haben, und Völker, die nicht einmal zeitweise in einem gemeinsamen
Denken verschmolzen.
Wir haben die „Chronologie Universelle" von Dreyss vor Augen, die 1858 in Paris
veröffentlicht wurde, und in der von den fernsten Zeiten an Jahr für Jahr die
bemerkenswertesten Geschehnisse aufgeführt werden, die sich in einer bestimmten Anzahl
von Regionen ereignet haben. Überschlagen wir die erste Periode von der Erschaffung der
Welt bis zur Sintflut. Schließlich findet man im besonderen die Überlieferung der Sintflut bei
sehr vielen Völkern wieder. Vielleicht entspricht sie der verschwommenen Erinnerung an
einen gemeinsamen Ursprung und verdient als solche, am Anfang einer synchronischen
Übersicht über die Schicksale der Nationen aufgeführt zu werden. Daraufhin hat der Autor
sich darauf beschränkt, bis zu Christi Geburt und selbst bis zum 5. Jahrhundert nach Christus
die Geschichte Griechenlands und die Geschichte Roms, die Geschichte der Juden und die
Geschichte Ägyptens aus dem Ganzen herauszulösen und diese Fragmente
nebeneinanderzustellen. Das ist nur ein kleiner Teil der Welt. Zumindest handelt es sich urn
Regionen, die so nahe beieinander liegen, daß alle häufig die Nachwirkung der
Erschütterungen erfahren haben, die in einer von ihnen entstanden. Zwischen diesen Städten
und Städtegruppen, die halbgeschlossene Gesamtheiten bildeten, fand ein Austausch von
Ideen statt, verbreiteten sich die Neuigkeiten. Im Jahre 1858, und schon früher, hatte sich der
historische Gesichtskreis hinsichtlich der Vergangenheit gewiß erweitert, und es wäre
möglich gewesen, innerhalb dieses chronologischen Rahmens des Altertums viel mehr Regio-

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nen Beachtung zu schenken. Jedoch gibt jene Übersicht, so wie sie uns mit ihren
Begrenzungen dargeboten wird, vielleicht ein der Realität gemäßeres Bild. Sie zeigt uns eine
Gesamtheit von Völkern, deren Schicksale hinreichend eng verbunden waren, um ihre
Wechselfälle in dieselbe Zeit hineinverlegen zu können. Dies ist nur die Welt, die die Alten
kannten: zumindest bildete sie annähernd ein Ganzes.
Später und in dem Maße, als man sich der Moderne nähert, erweitert sich die Übersicht,
verliert jedoch mehr und mehr an Einheit. Es wird berichtet, daß 1453 der Hundertjährige
Krieg beendet ist und daß im selben Jahr die Türken Konstantinopel einnehmen. In welchem
gemeinsamen kollektiven Gedächtnis haben diese beiden Ereignisse ihre Spuren hinterlassen?
Zweifellos hängt alles untereinander zusammen, und man kann zunächst nicht voraussehen,
welche Rückwirkungen ein Ereignis haben wird und bis in welche Bereiche des Raumes sie
sich fortpflanzen werden. Aber nicht das Ereignis, sondern die Auswirkungen gehen in das
Gedächtnis eines Volkes ein, das sie erfährt — und dies erst von dem Augenblick an, in dem
sie es erreichen. Es bedeutet wenig, daß Ereignisse in demselben Jahr stattgefunden haben,
wenn diese Gleichzeitigkeit von den Zeitgenossen nicht bemerkt worden ist. Jede örtlich
definierte Gruppe hat ihr eigenes Gedächtnis und eine nur ihr eigene Vorstellung von der Zeit.
Es kommt vor, daß Städte, Provinzen, Völker zu einer neuen Einheit verschmelzen; dann
erweitert sich die gemeinsame Zeit und reicht vielleicht weiter in die Vergangenheit zurück
— zumindest für einen Teil der Gruppe, der dann an älteren Traditionen teilnimmt. Ebenso
kann das Gegenteil eintreten, wenn ein Volk zerfällt, wenn sich Kolonien bilden, wenn neue
Kontinente sich bevölkern. Die Geschichte Amerikas ist bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts
und seit der ersten Besiedlung eng mit der Geschichte Europas verbunden. Während des
gesamten 19. Jahrhunderts und bis in die Gegenwart hinein scheint es, als habe sie sich von
ihr losgelöst. Wie könnte sich ein Volk, daß nur eine kurze Geschichte hinter sich hat,
dieselbe Zeit vorstellen wie andere Völker, deren Gedächtnis in eine weitentfernte
Vergangenheit zurückreichen kann? Mittels einer künstlichen Konstruktion läßt man diese
beiden Zeiten einander durchdringen oder stellt sie nebeneinander in eine leere Zeit, die

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nichts Historisches hat, da sie schließlich nicht mehr ist als die abstrakte Zeit der
Mathematiker.
Vergessen wir nicht, es ist wahr, daß zu einer Zeit, da die Kommunikationsmittel
beschwerlich waren, da es weder Telegrafen noch Zeitungen gab, jedoch gereist wurde, und
die Neuigkeiten schneller und innerhalb eines weiteren Umkreises zirkulierten, als wir
vermuten. Die Kirche umspannte ganz Europa und streckte ihre Fühler selbst nach anderen
Kontinenten aus. Ein stark entwickeltes diplomatisches Organisationswesen erlaubte den
Fürsten und ihren Ministern, ziemlich rasch zu erfahren, was sich in anderen Ländern
ereignete. Die Kaufleute hatten Warenlager, Niederlassungen, Korrespondenten in den
ausländischen Städten. Es hat immer bestimmte Milieus und bestimmte Gruppen gegeben, die
als Verbindungsglieder zwischen den entferntesten Ländern dienten. Aber der Gesichtskreis
der Volksmasse wurde dadurch kaum erweitert. Lange Zeit hat sich die Mehrzahl der
Menschen kaum dafür interessiert, was außerhalb der Grenzen ihrer Provinz oder gar ihres
Landes geschah. Deshalb hat es gegeben und gibt es noch ebensoviele verschiedene
Geschichtsschreibungen wie Nationen. Derjenige, der die Weltgeschichte schreiben und
diesen Begrenzungen entgehen will — aus der Sicht welcher Gesamtheit von Menschen
heraus muß er dies tun? Sind deshalb in den geschichtlichen Berichten lange Zeit die
Ereignisse, die die Kirche angehen — wie die Konzile, die Schismen, die Nachfolge der
Päpste, die Konflikte zwischen geistlichen und weltlichen Fürsten —, oder die Geschehnisse,
die die Diplomatie betreffen — Verhandlungen, Allianzen, Kriege, Verträge, Hofintrigen —,
in den Vordergrund getreten? Hat man zudem nicht deshalb, weil während der neueren Zeiten
jene sozialen Kreise, die die Kaufleute, Geschäftsleute, Industriellen und Bankiers umfassen,
ihre speziellen Betätigungen über den größten Teil der Erde ausgedehnt haben, in die
Universalgeschichtsschreibung dem Fortschritt der Industrie, den Verlagerungen der
Handelsströmungen, den Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Völkern einen Platz
eingeräumt? Aber die so verstandene Universalgeschichte ist nichts weiter als eine
Nebeneinanderstellung von Teilgeschichten, die nur das Leben bestimmter Gruppen
umspannen. Wenn die auf diese Weise rekonstruierte einheitliche Zeit sich auch über
ausgedehntere Räume erstreckt, umfaßt sie doch nur einen beschränkten Teil der Menschheit,

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die diese Erdoberfläche bevölkert: die Bevölkerungsmasse, die nicht diesen begrenzten
Kreisen angehört und die dieselben Gebiete bewohnt, hat indessen ebenso ihre Geschichte
gehabt.

Historische Chronologie und kollektive Tradition


Vielleicht haben wir die Dinge aus einer Sicht heraus gesehen, die nicht die der Historiker ist
und auch nicht sein kann. Wir warfen ihnen vor, innerhalb einer einheitlichen Zeit nationale
und lokale „Geschichten" zu verschmelzen, die eine bestimmte Anzahl unterschiedlicher
Entwicklungslinien darstellen. Wenn es indessen jemandem gelingt, uns eine synchronische
Übersicht vorzulegen, in der alle Ereignisse, wo sie auch vorgekommen seien,
nebeneinandergestellt sind, so zweifellos weil er sie aus jenen Milieus herauslöst, für die sie
in ihrer eigenen Zeit geschehen sind, d. h. weil er von der reellen Zeit absieht, in der sie
enthalten waren. Es besteht die landläufige Meinung, daß die Geschichte sich im Gegenteil
vielleicht zu ausschließlich für die rein chronologische Reihenfolge der Ereignisse
interessiert. Aber erinnern wir an das, was wir im vorigen Kapitel sagten, als wir einander
gegenüberstellten, was man das historische Gedächtnis und das kollektive Gedächtnis nennen
kann. Das erstere behält vor allem die Unterschiede: aber die Unterschiede oder die
Wandlungen bezeichnen nur den brüsken und fast unmittelbaren Übergang von einem
Zustand, der andauert, zu einem anderen Zustand, der andauert. Wenn man von den
Zuständen oder Zwischenräumen absieht, um nur ihre Grenzen zurückzubehalten, läßt man in
Wirklichkeit das Wesentlichste der Zeit selbst außer acht. Zweifellos erstreckt sich eine
Wandlung ebenfalls über eine Zeitdauer hin, bisweilen über eine sehr lange Dauer. Das aber
heißt, daß sie in eine Reihe von partiellen Wandlungen zerfällt, die durch Zeiträume getrennt
sind, in denen sich nichts ändert. Diese kleineren Zeiträume bleiben von der historischen
Berichterstattung ebenfalls unberücksichtigt. Es würde im übrigen unmöglich sein, daß sie
uns noch mehr wiedergibt. Um uns wissen zu lassen, was sich nicht ändert, was im wahren
Sinne des Wortes andauert, um uns davon eine angemessene Vorstellung zu geben, müßten
wir uns in das soziale Milieu hineinversetzen, dem diese relative Stabilität bewußt wurde —
müßte man für uns ein kollektives Gedächtnis wieder aufleben lassen, das es nicht mehr gibt.
Genügt es, uns eine Institution zu beschreiben und

100

uns zu sagen, daß sie sich seit einem halben Jahrhundert nicht gewandelt hat? Zuerst einmal
ist dies unrichtig, denn es hat auf jeden Fall eine ganze Anzahl langsamer und unmerklicher
Veränderungen gegeben, die der Historiker nicht wahrnimmt, die jedoch von der Gruppe
empfunden wurden — zur gleichen Zeit übrigens wie eine relative Stabilität (die beiden
Vorstellungen sind stets eng verbunden). Es ist andererseits und infolgedessen eine rein
negative Gegebenheit, solange man uns nicht den Bewußtseinsinhalt der Gruppe und die
verschiedenen Umstände zur Kenntnis bringt, unter denen sie hat erkennen können, daß die
Institution sich tatsächlich nicht veränderte. Die Geschichte ist notwendigerweise eine
Raffung, und deshalb drängt und zieht sie in einigen Augenblicken Entwicklungen
zusammen, die sich über ganze Perioden hin erstrecken: in diesem Sinne löst sie die
Veränderungen aus der Zeitdauer heraus. Nichts hindert uns daran, die so von der wirklichen
Zeit abgelösten Ereignisse zusammenzustellen und in chronologischer Folge zu ordnen. Aber
erne solche fortlaufende Reihe entwickelt sich innerhalb einer künstlichen Zeitdauer, die für
keine der Gruppen, denen diese Ereignisse entnommen sind, der Wirklichkeit entspricht: für
keine von ihnen ist das die Zeit, innerhalb derer ihr Denken sich zu bewegen und das zu
lokalisieren gewohnt war, was sie sich von ihrer Vergangenheit ins Gedächtnis rief.

Vielfalt und Heterogenität der Arten der kollektiven Zeitdauer


Das kollektive Gedächtnis reicht bis zu einer bestimmten Grenze in die Vergangenheit zurück
— einer Grenze, die im übrigen je nach der Gruppe, um die es sich handelt, mehr oder
weniger weit zurückliegt. Darüber hinaus erfaßt es die Ereignisse und Menschen nicht mehr
in unmittelbarer Weise. Gerade das indessen, was sich jenseits dieser Grenze befindet, fesselt
die Aufmerksamkeit der Historiker. Man sagt bisweilen, die Geschichte interessiere sich für
die Vergangenheit und nicht für die Gegenwart. Die wirkliche Vergangenheit ist jedoch für
sie das, was nicht mehr innerhalb des Bereiches liegt, auf den sich noch das Denken der
gegenwärtigen Gruppen erstreckt. Es scheint, als müsse sie warten, bis die alten Gruppen
verschwunden sind, bis ihr Denken und ihr Gedächtnis verlöscht sind, um sich damit
beschäftigen zu können, das Bild und die Reihenfolge der Ereignisse festzulegen, die
aufzubewahren nun sie allein fähig ist. Zweifellos

101

müssen dann frühere Zeugnisse zu Hilfe genommen werden, deren Spur in offiziellen Texten,
in Zeitungen jener Epoche, in zeitgenössischen Memoiren fortbesteht. In der Auswahl aber,
die er unter ihnen trifft, in der Bedeutung, die er ihnen beimißt, läßt der Historiker sich von
Beweggründen leiten, die nichts mit der damaligen Meinung zu tun haben; denn diese
Meinung existiert nicht mehr, er braucht ihr nicht Rechnung zu tragen, er braucht nicht zu
fürchten, daß sie ihn dementiert. So kann er seine Arbeit nur unter der Bedingung tun, daß er
sich willentlich außerhalb der von jenen Gruppen gelebten Zeit stellt, die den Ereignissen
beigewohnt haben, die mehr oder weniger unmittelbar mit ihnen in Berührung gekommen
sind und die sich an sie erinnern können.
Betrachten wir nun die Dinge aus der Sicht des kollektiven Bewußtseins heraus, da dies für
uns das einzige Mittel ist, innerhalb einer reellen Zeit zu bleiben, die so kontinuierlich ist, daß
das Denken alle ihre Teile durchlaufen kann und dabei es selbst bleibt und das Gefühl seiner
Einheit bewahrt. Wir haben gesagt, daß man eine bestimmte Anzahl von kollektiven Zeiten
unterscheiden muß — ebensoviele wie es getrennte Gruppen gibt. Wir dürfen indessen nicht
verkennen, daß das soziale Leben in seiner Gesamtheit und in allen seinen Teilen innerhalb
einer Zeit dahinfließt, die in Jahre, Monate, Tage und Stunden unterteilt ist. Dies muß
durchaus so sein; sonst könnte man, wenn die Zeitdauer in jeder der verschiedenen Gruppen,
in die die Gesellschaft zerfällt, unterschiedliche Unterteilungen enthalten würde, keine
Verbindung zwischen ihren Bewegungen herstellen. Jedoch gerade, weil diese Gruppen
voneinander getrennt sind, weil jede von ihnen ihre eigene Bewegung hat und weil die
Individuen indessen von der einen in die andere überwechseln, müssen die Zeiteinteilungen
überall annähernd gleichartig sein. Wenn man sich in einer ersten Gruppe befindet, muß es
stets möglich sein vorauszusehen, zu welchem Zeitpunkt man in eine zweite eintreten wird,
wobei sich dieser Zeitpunkt wohlverstanden auf die Zeit der zweiten bezieht. Dies ist das
Problem, das sich einem Reisenden stellt, der ins Ausland fahren muß und zur Zeitmessung
nur über die Uhren seines Landes verfügt. Er wird indessen sicher sein, seinen Zug nicht zu
versäumen, wenn die Uhrzeit in allen Ländern dieselbe ist oder wenn es für die verschiedenen
Länder eine Übersicht über die einander entsprechenden Uhrzeiten gibt.

102

Werden wir nun behaupten, daß es wohl eine einzige und universale Zeit gibt, auf die alle
Gesellschaften Bezug nehmen, deren Einteilungen für alle Gruppen zwingend sind — und
daß, in alle Regionen der Welt weitergeleitet, diese gemeinsame Schwingung die
Verbindungen und Beziehungen zwischen ihnen wiederherstellt, die die Schranken zwischen
ihnen zu verhindern neigen würden? Aber zuerst einmal entsprechen sich die Zeiteinteilungen
in verschiedenen benachbarten Gesellschaften viel weniger genau, als wenn es sich um
internationale Eisenbahnfahrpläne handelt. Das erklärt sich im übrigen aus der Tatsache, daß
die Forderungen der verschiedenen Gruppen in dieser Hinsicht nicht dieselben sind. Innerhalb
der Familie hat die Zeit im allgemeinen einen gewissen Spielraum — sehr viel mehr als auf
dem Gymnasium oder in der Kaserne. Obwohl ein Geistlicher seine Messe pünktlich abhalten
muß, ist nichts hinsichtlich der genauen Dauer seiner Predigt vorgesehen. Außerhalb dieser
Zeremonien, zu denen sie im übrigen oft zu spät kommen und die sie nicht immer bis zum
Schluß verfolgen, können die Gläubigen zur Kirche gehen, wann es ihnen gefällt, und bei sich
zu Hause ihre Gebete und Andachten verrichten, ohne sich an die astronomische Uhrzeit zu
halten. Ein Kaufmann muß sich pünktlich einstellen, um nicht eine geschäftliche Besprechung
zu versäumen; aber die Einkäufe verteilen sich über den ganzen Tag hin, und wenn es auch
für die Bestellungen, die Lieferungen bestimmte Fristen gibt, so werden sie doch im
allgemeinen nur annähernd festgelegt. Es scheint im übrigen, als ob man sich in manchen
Milieus von der Genauigkeit erholt oder einen Ausgleich für die Genauigkeit sucht, zu der
man in anderen genötigt wird. Es gibt eine Gesellschaft, deren Materie sich unaufhörlich
erneuert, deren Elemente sich unaufhörlich gegeneinander verschieben — das ist die
Gesamtheit der Menschen, die sich auf den Straßen bewegen. Nun sind zweifellos manche
von ihnen in Eile, beschleunigen den Schritt, sehen an den Bahnhofseingängen, bei ihrer
Ankunft und beim Verlassen der Büros auf ihre Uhren; im allgemeinen aber, wenn man
spazieren geht, wenn man bummelt, wenn man die Auslagen der Geschäfte betrachtet, mißt
man nicht die Dauer der Stunden, gibt man nicht darauf acht, wieviel Uhr es genau ist; und
wenn man eine lange Fahrt machen muß, läßt man sich, um ungefähr zeitig anzukommen, von
einem vagen Gefühl leiten — so wie man seine Schritte, ohne auf die Straßennamen zu
achten,

103
mit einer Art Spürsinn durch eine Stadt lenkt. Da man in den verschiedenen Milieus die Zeit
nicht mit derselben Genauigkeit messen muß, ergibt sich, daß die Bürozeiten, die häuslichen
Zeiten, die Ausgehzeiten, die Besuchszeiten nur innerhalb bisweilen sehr weitgefaßter
Grenzen übereinstimmen. Wenn man zu einer geschäftlichen Besprechung zu spät eintrifft
oder zu einer ungewöhnlichen Uhrzeit nach Hause kommt, entschuldigt man sich deshalb
damit, daß man jemanden auf der Straße getroffen hat: das will besagen, daß man sich auf die
Zwanglosigkeit beruft, mit der man die Zeit in einem Milieu mißt, in dem man in dieser
Hinsicht nicht allzusehr auf Genauigkeit achtgibt.
Wir haben vor allem von Stunden und Minuten gesprochen, aber man sagt bisweilen zu einem
Freund: ich werde Sie in diesen Tagen, nächste Woche, in einem Monat besuchen; wenn man
einen entfernten Verwandten wiedersieht, überschlägt man ungefähr die Anzahl der Jahre, seit
denen man sich nicht mehr gesehen hat. Das bedeutet, daß diese Art von Beziehung oder von
Gesellschaft keine bestimmte zeitliche Lokalisierung mit sich bringt. So und schon aus dieser
Sicht heraus gesehen, würde man nicht genau dieselbe Zeit, sondern sich mehr oder minder
genau entsprechende Zeiten innerhalb unserer Gesellschaften vorfinden.
Es stimmt, daß sich alle von demselben Typus herleiten lassen und sich auf denselben
Rahmen beziehen, der als die soziale Zeit par excellence betrachtet werden könnte. Wir
brauchen nicht nach dem Ursprung der Einteilung der Zeitdauer in Jahre, Monate, Wochen
und Tage zu forschen. Aber es steht fest, daß sie in der Form, in der wir sie kennen, sehr alt
ist und auf Traditionen beruht. Man kann in der Tat nicht behaupten, daß sie sich aus einer
zwischen allen Gruppen getroffenen Übereinkunft ergibt, da dies einschließen würde, daß die
Gruppen zu einem bestimmten Zeitpunkt die sie trennenden Schranken beseitigen und für
einige Zeit zu einer einzigen Gesellschaft verschmelzen würden, deren Zweck es wäre, ein
System der Einteilung der Zeitdauer festzulegen. Aber es ist möglich und zweifellos
notwendig, daß diese Übereinkunft früher innerhalb einer einheitlichen Gesellschaft realisiert
worden ist, aus der alle Gesellschaften, die wir kennen, hervorgegangen sind. Nehmen wir an
die Institutionen seien früher stark von den religiösen Glaubenslehren geprägt worden.
Vielleicht haben die Menschen, die die

104

Eigenschaften der Führer und Priester in sich vereinigten, die Zeit eingeteilt, indem sie sich
gleichzeitig von ihren religiösen Auffassungen und der Beobachtung des natürlichen Laufes
der himmlischen und irdischen Phänomene leiten ließen. Als die politische Gesellschaft sich
von der religiösen Gruppe ablöste, als die Familien sich mehrten, haben sie weiterhin die Zeit
in der gleichen Weise wie innerhalb der ursprünglichen Gemeinschaft eingeteilt, aus der sie
hervorgegangen sind. Jetzt noch, wenn sich neue Gruppen bilden — dauerhafte oder
ephemere Gruppen von Menschen mit demselben Beruf, aus derselben Stadt oder demselben
Dorf, Freundesgruppen mit dem Ziel eines sozialen Werkes, einer literarischen oder
künstlerischen Tätigkeit oder einfach anläßlich eines Zusammentreffens, einer gemeinsamen
Reise — so immer durch Abtrennung von einer oder mehreren umfassenderen und älteren
Gruppen. Natürlich findet man in diesen neuen Formierungen etliche Züge der Mutter-
Gemeinschaften wieder, und viele der innerhalb dieser letzteren herangebildeten Kenntnisse
und Vorstellungen gehen in jene über: die Zeiteinteilung würde eine dieser Überlieferungen
sein, die man im übrigen nicht entbehren kann; denn es gibt keine Gruppe, die nicht die
verschiedenen Teile ihrer Zeitdauer unterscheiden und wiedererkennen muß. So findet man in
den Namen der Wochentage etliche Spuren verschwundener Glaubenslehren und Traditionen,
datiert man die Jahre stets von Christi Geburt an und stammt die heutige Einteilung des Tages
in Stunden, Minuten und Sekunden von den alten religiösen Vorstellungen von den Tugenden
der Zahl zwölf her.
Indessen ergibt sich daraus, daß diese Einteilungen fortbestehen, keineswegs, daß es eine
einheitliche soziale Zeit gibt; denn trotz ihres gemeinsamen Ursprungs haben sie eine sehr
unterschiedliche Bedeudeutung innerhalb der verschiedenen Gruppen angenommen. Dies
rührt nicht nur daher, daß — wie wir gezeigt haben — das Bedürfnis an Genauigkeit sich von
einer Gesellschaft zur anderen ändert; sondern da es gilt, diese Einteilungen auf eine Reihe
von Ereignissen oder Unternehmungen anzuwenden, die in mehreren Gruppen verschieden
sind und in unterschiedlichen Zeitabständen enden und neubeginnen, kann man zuerst einmal
sagen, daß die Zeit in diesen Gesellschaften von verschiedenen Ausgangspunkten an
gerechnet wird. Das Schuljahr beginnt nicht am selben Tag wie das Kirchenjahr. Im
Kirchenjahr bestimmen der Geburtstag Christi sowie sein

105

Todestag und der Tag seiner Auferstehung die grundlegenden Einteilungen des christlichen
Jahres. Das weltliche Jahr beginnt am ersten Januar, aber je nach den Berufen und Arten der
Tätigkeit der Menschen bringt es sehr unterschiedliche Einteilungen mit sich. Die des
bäuerlichen Jahres richten sich nach dem Verlauf der Landarbeiten, der selbst durch den
Wechsel der Jahreszeiten bestimmt wird. Das industrielle oder Handelsjahr zerfällt in
Perioden, in denen man mit vollem Ertrag arbeitet, in dem die Bestellungen zuströmen, und in
andere, in denen das Geschäft stockt und selbst stilliegt: es sind im übrigen nicht dieselben
Perioden in allen Handels- und Industriezweigen. Das Militärjahr wird bald in direkter
Richtung vom Zeitpunkt der Einziehung an gerechnet, dann wieder dem Zeitpunkt der
Entlassung nach — dem Zeitraum zufolge, der einen davon trennt —, d. h. in umgekehrter
Richtung — und das vielleicht, weil die Monotonie der Tage bewirkt, daß diese Dauer sich
am meisten der homogenen Zeit nähert, in der man nach Übereinkunft zur Messung die
Richtung wählen kann, die man will. So gibt es ebensoviele verschiedene Zeitursprünge wie
es Gruppen gibt. Nicht einer von ihnen ist für alle Gruppen zwingend.
Aber ebenso ist es mit dem Tag. Man könnte glauben, daß der Wechsel der Tage und Nächte
eine grundlegende Einteilung bedeutet, einen elementaren Zeitrhythmus, der in allen
Gesellschaften derselbe ist. Die dem Schlaf gewidmete Nacht unterbricht in der Tat das
soziale Leben. Sie ist die Periode, während der der Mensch fast vollkommen dem Zugriff der
Gesetze, der Gebräuche, der kollektiven Vorstellungen entgeht, in der er wirklich alleine ist.
Ist die Nacht indessen in dieser Hinsicht eine außergewöhnliche Periode, und ist es nur der
physische Schlaf, der zeitweise die Bewegung jener Ströme, die die Gesellschaften bilden,
aufhält? Wenn wir ihm diese Eigenschaft zuschreiben, so weil wir vergessen, daß es nicht nur
eine Gesellschaft, sondern Gruppen gibt, und daß das Leben vieler dieser Gruppen lange vor
der Nacht und auch noch zu anderen Zeitpunkten unterbrochen wird. Sagen wir — wenn man
so will —, eine Gruppe schläft ein, sobald keine Menschen mehr da sind, die sich
zusammengeschlossen haben, um ihre Denkweise zu erhalten und zu entwickeln; aber sie
schlummert nur, sie existiert weiter, solange ihre Mitglieder bereit sind, zusammenzukommen
und sie von neuem so zu bilden, wie sie war, als sie sie verlassen haben. Es gibt

106

indessen nur eine Gruppe, von der man sagen kann, daß ihr bewußtes Leben periodisch durch
den physischen Schlaf der Menschen aufgehoben wird, und das ist die Familie; denn im
allgemeinen sind es die Seinen, von denen man sich verabschiedet, wenn man zu Bett geht,
und die man vor allen anderen beim Erwachen sieht. Aber das Bewußtsein der
Familiengruppe trübt sich und verlöscht außerdem noch zu anderen Zeitpunkten: wenn ihre
Mitglieder fortgehen — der Vater und manchmal die Mutter zur Arbeit, das Kind zur Schule;
und die Perioden der Abwesenheit, die den mit der Uhr gemessenen Stunden nach kürzer sind
als die Nacht, erscheinen vielleicht der Familie selbst nicht weniger lang, denn während der
Nacht wird sie sich der Zeit nicht bewußt; ob ein Mensch eine oder zehn Stunden lang
geschlafen hat — beim Erwachen weiß er nicht, wieviel Zeit verstrichen ist: eine Minute, eine
Ewigkeit? Was die anderen Gruppen anbetrifit, so wird ihr Leben im allgemeinen lange vor
der Nacht unterbrochen und beginnt lange nach ihr von neuem. Wenn im übrigen diese
Unterbrechung auch länger ist, so ist sie doch nicht anderer Art als andere Pausen, die im
Leben dieser selben Gruppen zu anderen Zeitpunkten des Tages eintreten. Jedenfalls erstreckt
sich der Arbeitstag nicht ununterbrochen über die gesamte Stundenfolge hin, die das
Erwachen vom Schlaf trennen: er berührt diese beiden Grenzen nicht, und er wird von
Zeiträumen durchsetzt, die anderen Gruppen angehören. Mehr noch trifft dies auf den
kirchlichen oder gesellschaftlichen Tagesablauf zu. Wenn uns die Nacht indessen den
grundlegenden Einschnitt in die Zeit zu bedeuten scheint, so weil sie dies tatsächlich für die
Familie ist, und weil es keine Gemeinschaft gibt, mit der wir enger verbunden sind. Aber
bleiben wir bei den anderen Gruppen, deren Leben bald aussetzt und bald neubeginnt:
nehmen wir an, die Zeiträume des Stillstandes seien ebenso leer wie die Nacht, und das
Zeitgefühl sei in ihnen ebenso vollkommen ausgelöscht. Es würde sehr schwierig sein zu
sagen, wo in diesen Gruppen der Tag beginnt und wo er endet, und jedenfalls würde er nicht
in allen Gruppen zu demselben Zeitpunkt beginnen.
Im Grunde indessen, haben wir gesehen, besteht eine ziemlich genaue Übereinstimmung
zwischen all diesen Zeiten, obwohl man nicht sagen kann, daß sie einander durch eine
zwischen den Gruppen getroffene Abmachung angepaßt sind. Alle Gruppen teilen die Zeit im
großen und ganzen in derselben Weise ein, weil sie alle in dieser

107

Hinsicht dieselbe Überlieferung empfangen haben. Diese traditionelle Einteilung der


Zeitdauer stimmt im übrigen mit dem Lauf der Natur überein, was nicht erstaunlich ist, da sie
von Menschen vorgenommen wurde, die den Lauf der Sterne und der Sonne beobachteten. Da
das Leben aller Gruppen unter denselben astronomischen Bedingungen verläuft, können sie
alle feststellen, daß der Rhythmus der sozialen Zeit und der Wechsel der Phänomene der
Natur gut einander angepaßt sind. Nichtsdestoweniger trifft es zu, daß die Zeiteinteilungen,
die übereinstimmen, nicht in allen Gruppen dieselben sind und auf jeden Fall nicht denselben
Sinn haben. Es ist so, als teile ein und derselbe Pendel seine Bewegungen allen Teilen des
sozialen Körpers mit. Aber in Wirklichkeit gibt es keinen einheitlichen Kalender, der
außerhalb der Gruppen besteht und auf den sie Bezug nehmen würden. Es gibt ebensoviele
Kalender wie verschiedene Gesellschaften, da die Zeiteinteilungen bald mit religiösen
Begriffen (jeder Tag ist einem Heiligen gewidmet), bald mit geschäftlichen Ausdrücken
(Verfallstag usw.) bezeichnet werden. Es ist wenig wichtig, ob man hier wie dort von Tagen,
Monaten, Jahren spricht. Eine Gruppe könnte sich nicht des Kalenders der anderen bedienen.
Der Kaufmann lebt nicht im religiösen Bereich und kann dort keine Anhaltspunkte finden.
Wenn dies zu mehr oder weniger weit zurückliegenden Zeiten auch anders war, wenn die
Messen und Jahrmärkte an den Von der Religion geweihten Tagen stattfanden, wenn der
Ablauf einer Schuldenfrist auf Johannis, auf Lichtmeß festgesetzt wurde, so weil die
Wirtschaftsgruppe sich noch nicht von der religiösen Gesellschaft losgelöst hatte.

Undurchdringlichkeit der Arten der kollektiven Zeitdauer


Dann aber erhebt sich die Frage, ob diese Gruppen selbst wirklich getrennt sind. Es wäre in
der Tat denkbar, daß sie gegenseitig nicht nur zahlreiche Anleihen machen, sondern auch daß
sie einander recht °ft nahekommen und ineinander verschmelzen, ihre Entwicklungsbahnen
sich unaufhörlich überschneiden. Wenn mehrere kollektive Denkströme sich so zumindest
von Zeit zu Zeit vermischen, ihre Substanz austauschen und in demselben Bett dahinfließen
können — wie kann man dann von vielfältigen Zeiten sprechen? Fügt sich nicht wenigstens
ein Teil ihrer Erinnerungen in eine und dieselbe Zeit ein? Wenn wir einen
Entwicklungsabschnitt des Lebens einer Gruppe

108

wie der Kirche verfolgen, werden wir sehen, daß ihr Denken das Leben anderer
zeitgenössischer Gesellschaften widerspiegelt, mit denen sie in Berührung gekommen ist.
Wenn Sainte-Beuve „Port Royal" schreibt, dringt er um so tiefer in diese einzigartige
religiöse Bewegung ein, erfaßt er um so besser ihre verborgenen Triebkräfte und ihre innere
Originalität, als er in sein Bild eine Fülle von anderen Milieus entliehenen Ereignissen und
Personen hineinbringt, die jedoch eine bestimmte Anzahl von Berührungspunkten zwischen
dem weltlichen Leben und den Bestrebungen dieser Einsiedler darstellen. Es gibt kaum ein
religiöses Ereignis, das nicht eine dem äußeren Leben zugekehrte Seite hätte und keinen
Widerhall in den weltlichen Gruppen fände. Man achte einmal auf die Gespräche, die bei
einer Familienzusammenkunft oder in einem Salon über das geführt werden, was in anderen
Familien, in anderen Milieus geschieht — so als dringe die Gruppe der Artisten, der Politiker
ins Innere dieser von ihnen so verschiedenen Versammlungen ein oder als bezögen sie sie in
ihre Bewegung mit ein. Wenn man von einer Gruppe, von einer Familie, von einem
gesellschaftlichen Milieu sagt, sie seien von der alten Schule oder sie gingen mit der Zeit —
denkt man dann nicht gerade an Durchdringungen oder „Ansteckungen" dieser Art? Daß
jedes bemerkenswerte Ereignis, in welchem Bereich des sozialen Körpers es auch entstanden
sein mag, von jeder beliebigen Gruppe zum Anhaltspunkt für die Bestimmung der Abschnitte
ihrer Zeitdauer genommen werden kann — ist das nicht der Beweis dafür, daß die Grenzen,
die man zwischen den verschiedenen kollektiven Strömungen zieht, willkürlich sind, und daß
letztere sich in zuvielen Punkten ihres Verlaufes berühren, als daß sie getrennt werden
könnten?
Man sagt, daß dasselbe Ereignis gleichzeitig mehrere verschiedene kollektive
Bewußtseinsarten berühren kann; man schließt daraus, daß sie sich in diesem Augenblick
einander nähern und in einer gemeinsamen Vorstellung vereinen. Aber ist es wirklich ein und
dasselbe Ereignis, wenn jede dieser Denkweisen es sich auf ihre Art vorstellt und in seine
Sprache übersetzt? Es handelt sich um Gruppen, die alle räumlich sind. Auch das Ereignis
geschieht im Raum, und es kann sein, daß alle Gruppen es wahrnehmen. Wichtig aber ist die
Art, in der sie es interpretieren, der Sinn, den sie ihm geben. Damit sie ihm dieselbe
Bedeutung verleihen, müssen zwei Bewußt-

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seinsinhalte zuvor ineinander verschmolzen sein. Indessen war angenommen worden, daß sie
getrennt sind. In der Tat ist es kaum denkbar, daß zwei Denkweisen sich auf diese Art
gegenseitig durchdringen. Zweifellos kommt es vor, daß zwei Gruppen ineinander
verschmelzen, aber dann entsteht ein neues Bewußtsem, dessen Umfang und Inhalt nicht
dieselben sind wie vorher. Oder aber diese Verschmelzung ist nur scheinbar, wenn die beiden
Gruppen sich späterhin wieder trennen und sich im wesentlichen so wiederfinden wie sie
vorher waren. Ein Volk, das ein anderes besiegt, kann das besiegte sich angleichen; dann aber
wird es selbst ein anderes Volk oder tritt zumindest in eine neue Phase seines Daseins ein.
Wenn der Besiegte dem Sieger nicht angeglichen wird, behält jedes der beiden Völker sein
eigenes Nationalbewußtsein und reagiert verschiedenartig auf dieselben Ereignisse. Ebenso
aber ist es innerhalb eines und desselben Landes, was die religiöse und die politische
Gesellschaft anbetrifft. Wenn die Kirche dem Staat untergeordnet, mit seinem Geist erfüllt ist,
wird sie zum Organ des Staates und verliert den Charakter einer religiösen Gesellschaft; der
Strom des religiösen Denkens vermindert sich zu einem schmalen Rinnsal innerhalb jenes
Teils der Kirche, der sich nicht darein schickt dahinzuschwinden. Wenn Staat und Kirche
getrennt sind, wird dasselbe Ereignis — beispielsweise die Reformation — in den religiösen
Gemütern und im Geiste der politischen Führer verschiedene Vorstellungen hervorrufen, die
sich ganz natürlich mit dem Denken und den Traditionen der beiden Gruppen verbinden, aber
nicht gleichartig sein werden.
Wenn die Veröffentlichung der „Lettres Provinciales" einen Markstein in der
Literaturgeschichte und im Leben von Port Royal darstellt, dürfen wir uns ebensowenig
einbilden, daß in jenem Jahr die Strömung des literarischen Denkens und die religiöse
Strömung des Jansenismus ineinander übergegangen sind. Wir wissen sehr wohl, daß Pascal
M. de Sacy nicht mit Montaigne versöhnt hat, daß die Jansenisten nicht aufgehört haben, die
Lüsternheit des Geistes zu verdammen, daß für sie Pascal nur ein Instrument Gottes war und
daß sie vielleicht dem Wunder der Heiligen Dorne, durch das er innerhalb seiner Familie
ausgezeichnet worden war, mehr Bedeutung zumaßen als seiner Schriftstellertätigkeit. Wenn
Sainte-Beuve uns das Portrait derer zeichnet, die in Port Royal eingetreten sind, erfas-

110

sen wir unmittelbar die Spaltung ihrer Persönlichkeit: es sind durchaus dieselben Menschen;
aber sind es dieselben Gestalten — jene, die die Welt in Erinnerung behalten hat und jene, die
sich dem Gedächtnis der Jansenisten eingeprägt haben, in denen alles Schillernde des Geistes,
des Talents verloschen war, deren Konvertierung ein Ende in der einen Gesellschaft und
einen Beginn in der anderen bedeutete, so als seien dies zwei Daten, die nicht innerhalb
derselben Zeit liegen? Wenn es sich wie hier um ein moralisches Ereignis, einen moralischen
Schritt handelt, kompliziert sich — es ist wahr —. die Frage ein wenig. Es ist denkbar, daß
beispielsweise die religiöse Gruppe und eine bestimmte Familie in derselben Weise davon
berührt werden, weil die Familie selbst sehr religiös ist.
Wenn Mme Périer das Leben ihres Bruders beschreibt, spricht sie von ihm mit einem stark
jansenistischen Akzent wie von einem Heiligen. Aber ebenso bringen in einer Familie, die
sich für Politik begeistert, die Diskussionen, die sich auf sie beziehen, die Familie mit jenen
Milieus in Berührung, deren ausschließliche Beschäftigung diese Debatten sind. Sehen wir
indessen etwas näher hin. Es gibt immer zumindest eine Nuance oder das Fehlen einer
Nuance, die uns aufdeckt, ob die Religion oder die Politik alle verwandtschaftlichen
Erwägungen in den Hintergrund hat treten lassen, in welchem Fall wir natürlich nicht mehr
innerhalb der Familie sind.
Es hat Augenblicke gegeben, in denen das Zimmer Pascals sich in eine Zelle oder eine
Kapelle verwandelte und in denen der Salon Mme Rolands sich nicht mehr von einem Club
oder einem Rat der Girondeminister unterschied. In anderen Fällen dagegen bemächtigt sich
das Familiendenken der religiösen und politischen Bilder und Ereignisse, um sein eigenes
Leben zu nähren; dann kommt es vor, daß die Familie auf den Glanz stolz ist, der dadurch auf
sie zurückstrahlt, daß eines ihrer Mitglieder sich auf einem dieser Gebiete ausgezeichnet hat,
daß ihre Mitglieder sich näher verwandt oder im Gegenteil auseinandergerissen fühlen, weil
ihre diesbezüglichen Anschauungen und Überzeugungen sie vereinen oder trennen. Das aber
ist nur möglich, wenn diese Denkelemente, die sich für die Familie scheinbar auf außerhalb
ihrer selbst existierende Dinge und Personen beziehen, in familiäre Vorstellungen übertragen
werden, d. h. wohl die äußere politische oder religiöse Form beibehalten, jedoch die
Reaktionen der Verwandtschaft, die Interessen und Neigungen

111
des Hauses, der Brüder, der Vorfahren zur Substanz haben. Daß solche Übertragungen
möglich sind, folgt daraus, daß man meist einer bestimmten Religion und einer bestimmten
politischen Meinung anhängt, weil sie seit langem die der Familie sind. „Mein Gott und mein
König", sagt der Bauer, aber gemeint ist: mein Heim, meine Verwandten. Wieviele Glaubens-
und Überzeugungsgegensätze gibt es nicht, die ebenfalls nur ein getarnter Antagonismus
zwischen Bruder und Bruder, zwischen Kind und Eltern sind! Dies hindert jedoch nicht, daß
in manchen Augenblicken alle familiären Betrachtungen dahinschwinden und die Verwandten
vergessen sind. Dann ist man wirklich in die religiösen und politischen Gruppen
aufgenommen, wie man auch in Gruppen aufgenommen sein würde, die sich mit
Wissenschaft, Kunst und Geschäften befassen: dann aber darf man in der Unterhaltung mit
den Seinen über diese Dinge nicht jene Gruppen vergessen, um an die Semen zu denken.

Langsamkeit und Schnelligkeit des sozialen Werdens


Wenn die verschiedenen Strömungen des kollektiven Denkens niemals wirklich einander
durchdringen und nicht miteinander in Berührung gebracht und gehalten werden können, ist
es recht schwierig zu sagen, ob die Zeit für die einen schneller als für die anderen verfließt.
Wie könnte man die Geschwindigkeit der Zeit feststellen, da es keinen gemeinsamen Maßstab
gibt und man kein Mittel der Messung der Geschwindigkeit der einen im Verhältnis zu der
der anderen sieht? Es ist leicht gesagt, daß in bestimmten Milieus das Leben rascher
dahinfließt, die Gedanken in schnellerem Rhythmus aufeinander folgen als anderswo. Können
wir die Geschwindigkeit der Zeit der Anzahl von Ereignissen nach bestimmen, die die Zeit in
sich einschließt? Aber wir sagten es schon — die Zeit ist etwas ganz anderes als eine Folge
von Geschehnissen oder eine Summe von Unterschieden. Man fällt einer Täuschung anheim,
wenn man sich einbildet, eine größere Anzahl von Ereignissen oder Unterschieden bedeute
dasselbe wie eine längere Zeit. Das würde heißen, man vergißt, daß die Ereignisse die Zeit
wohl unterteilen, aber nicht ausfüllen. Jene Menschen, die von immer vielfältigeren
Beschäftigungen und Zerstreuungen absorbiert werden, verlieren schließlich den Begriff für
die wirkliche Zeit und zerstören vielleicht am Ende die Substanz der Zeit, die, in soviele
Abschnitte zerteilt, sich nicht mehr

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ausdehnen kann und keinerlei Dichte mehr bietet. Da für eine menschliche Gruppe die
Fähigkeit, sich zu verändern, beschränkt ist, muß wohl in dem Maße, wie die Veränderungen
sich innerhalb ein und derselben Spanne von vierundzwanzig Stunden mehren, jede von ihnen
weniger bedeutend werden. In der Tat, die Aktivität von Gruppen wie die Aktienbörsen, die
Industrie- und Handelsgesellschaften, innerhalb derer binnen kurzer Zeit eine Fülle von
Geschäften getätigt wird, ist fast immer mechanischer Art. Es sind dieselben Berechnungen,
dieselben Arten von Kombinationen, die das Denken ihrer Mitglieder durchziehen. Man wird
mehrere Jahre, bisweilen mehrere Jahrzehnte warten müssen, bis aus der Anhäufung all dieser
Worte und all dieser Gesten eine bedeutende Veränderung hervorgeht, die in dauerhafter
Weise das Gedächtnis dieser Milieus modifiziert, d. h. das Bild, das sie von ihrer
Vergangenheit zurückbehalten. Inmitten dieses mehr als nur halb automatischen Treibens
findet die Gruppe eine ziemlich gleichförmige Zeit wieder, die im Ganzen nicht schneller
dahinfließt als die des Anglers.
Ebenso wird immer wieder behauptet, daß es Nachzüglervölker gibt, deren Entwicklung sich
sehr langsam vollzogen hat, und es ist schon ein Gemeinplatz geworden, innerhalb ein und
desselben Landes den schnelleren Daseinsrhythmus in den Großstädten im Gegensatz zu den
kleinen Marktflecken oder in den Industriegebieten im Gegensatz zum Lande zu betonen.
Vergessen wir indessen nicht, daß die Gruppen, die verglichen werden, weder gleicher Art
sind noch die gleichen Beschäftigungen haben. Aber folgt aus der Tatsache, daß innerhalb des
Zeitraumes eines Tages die Dorfeinwohner weniger Gelegenheiten haben, die Ausrichtung
ihrer Tätigkeit oder ihres Denkens zu ändern, daß die Zeit für sie langsamer dahinfließt als in
den Städten? Der Städter ist es, der sich dies einbildet — aber warum? Weil er sich das Dorf
als eine Stadt vorstellt, deren Aktivität sich verlangsamt hat, die nach und nach gelähmt
worden und eingeschlafen ist. Aber ein Dorf ist ein Dorf, und man muß es mit einem Dorf
vergleichen und nicht mit einer andersgearteten Gruppe. Auf dem Lande indessen wird die
Zeit einer Art von Beschäftigungen zufolge eingeteilt, die sich selbst nach dem Verlauf der
tierischen oder pflanzlichen Natur richtet. Man muß warten, bis das Getreide aus der Erde
gekommen ist, bis die Tiere ihre Eier gelegt oder ihre Jungen bekommen haben, bis die Euter
der Kühe gefüllt sind. Es gibt keinen

113

Mechanismus, der diese Vorgänge beschleunigen könnte. Die Zeit ist durchaus, was sie in
einer solchen Gruppe und bei solchen Menschen sein muß — Menschen, deren
Denkrhythmus sich ihren Bedürfnissen und Traditionen angepaßt hat. Zweifellos gibt es
Zeiten der Eile und Tage, an denen man sich ausruht; das aber sind Unregelmäßigkeiten, die
den Inhalt der Zeit betreffen und keineswegs ihren Verlauf ändern. Ob man sich in ein
Gespräch, eine Träumerei, eine Überlegung, eine Erinnerung vertieft, ob man die
vorübergehenden Leute betrachtet oder ob man Karten spielt — wenn dies
gewohnheitsmäßige Seinsweisen und Tätigkeiten sind, wenn jede den Platz und die Dauer
hat, die ihr zukommen, ist die Zeit durchaus so, wie sie immer gewesen ist, nicht zu schnell
und nicht zu langsam. Umgekehrt werden Bauern, die in eine Stadt kommen, darüber erstaunt
sein, daß der Lebensrhythmus sich hier überstürzt, und werden glauben, daß ein Tag, da er
ausgefüllter ist, auch mehr Zeit in sich zusammendrängt. Dies rührt daher, daß sie sich die
Stadt als ein von Tätigkeitsfieber erfaßtes Dorf vorstellen, in dem die Menschen übererregt
sind, in dem Denken und Tun in einer schwindelerregenden Bewegung fortgerissen werden.
Aber die Stadt ist die Stadt, d.h. ein Milieu, in dem nicht nur die Produktionsarbeiten
mechanisiert sind, sondern auch das tägliche Hin und Her, die Zerstreuungen und das
Geistesleben. Die Zeit ist so eingeteilt, wie sie es sein muß; sie ist, wie sie sein muß — nicht
zu schnell, nicht zu langsam —, da sie den Bedürfnissen des städtischen Lebens angepaßt ist.
Die Gedanken, die sie ausfüllen, sind zahlreicher, aber auch kürzer: sie können keine tiefen
Wurzeln fassen, weil ein Gedanke nur Dichte annimmt, wenn er sich über eine genügend
lange Zeitdauer hin erstreckt. Wie aber soll man die Anzahl der aufeinander folgenden
Bewußtseinszustände vergleichen, um die Schnelligkeit des Zeitflusses in den beiden
Gruppen zu messen, wenn es sich nicht um gleichartige Gedanken und Vorstellungen
handelt? In Wirklichkeit kann man nicht sagen, daß die Zeit in einer Gesellschaft schneller
oder langsamer dahinfließt als in einer anderen; der auf den Zeitablauf angewandte Begriff
der Schnelligkeit weist kerne bestimmte Bedeutung auf. Dagegen ist es eine bemerkenswerte
Tatsache, daß das Denken beim Sicherinnern innerhalb einiger Augenblicke mehr oder
minder große Zeiträume durchmessen und den Verlauf der Zeitdauer mit einer Schnelligkeit
zurückverfolgen kann,

114

die sich nicht nur von einer Gruppe zur anderen ändert, sondern auch innerhalb einer Gruppe
von einem Individuum zum anderen und selbst bei einem innerhalb derselben Gruppe
bleibenden Individuum von einem Augenblick zum anderen. Bisweilen, wenn man sich an
sehr weit zurückliegende Dinge zu erinnern sucht, ist man erstaunt über die Leichtigkeit, mit
der der Geist weite Zeiträume überspringt, und, als habe er Siebenmeilenstiefel, beim
Überfliegen kaum jene Bilder der Vergangenheit sieht, die allem Anschein nach den
Zwischenraum ausfüllen müßten.

Die unpersönliche Substanz der dauerhaften Gruppen


Warum aber sich einbilden, daß alle diese früheren Erinnerungen da sind, der Reihenfolge
selbst nach geordnet, in der sie nacheinander entstanden sind, so als ob sie uns erwarteten!
Wenn man sich, um in die Vergangenheit zurückzukehren, von diesen voneinander gänzlich
verschiedenen Bildern leiten lassen müßte, von denen jedes einem Ereignis entspricht, das nur
einmal stattgefunden hat, dann würde der Geist keineswegs in großen Sprüngen über sie
hinweggehen, er würde sich nicht einmal darauf beschränken, sie zu streifen, sondern sie
würden eines nach dem anderen unter seinem Blick dahinziehen. In Wirklichkeit betrachtet
der Geist nicht alle diese Bilder, von denen im übrigen nichts besagt, daß sie fortbestehen. Er
sucht die Erinnerung innerhalb der Zeit wiederzufinden oder vielmehr zu rekonstruieren,
einer Zeit, die die einer gegebenen Gruppe ist — und auf die Zeit stützt er sich. Die Zeit kann
diese Rolle und kann sie allein in dem Maße spielen, als wir sie uns als ein kontinuierliches
Milieu vorstellen, das sich nicht gewandelt hat und das heute so wie gestern ist, so daß wir
das Gestern im Heute wiederfinden können. Daß die Zeit während einer recht ausgedehnten
Periode gewissermaßen unbeweglich bleiben kann, resultiert daraus, daß sie als gemeinsamer
Rahmen des Denkens einer Gruppe dient, die sich selbst während dieser Periode nicht ändert,
die annähernd die gleiche Struktur bewahrt und ihre Aufmerksamkeit denselben Dingen
zuwendet. Solange mein Denken in eine derartige Zeit zurückgehen, aus ihr wiederkehren,
ihre verschiedenen Teile in einer fortlaufenden Bewegung erkunden kannn, ohne sich an
einem Hindernis oder einer Schranke zu stoßen, die es hindern, über sie hinaus zu sehen,
bewegt es sich in einem Milieu, in dem alle Elemente untereinander zusam-

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menhängen. Es genügt, daß es sich innerhalb dieses Milieus bewegt, um alle seine Elemente
wiederzufinden. Natürlich darf diese Zeit keinesfalls mit den Ereignissen verwechselt werden,
die in ihr einander gefolgt sind. Aber sie reduziert sich ebensowenig — wir haben es gezeigt
— auf einen homogenen und völlig leeren Rahmen. Man findet in ihr in dem Maße die Spur
der früheren Ereignisse oder Gestalten eingezeichnet oder angedeutet, als diese einem
Interesse oder einem Bestreben der Gruppe entsprachen und noch entsprechen. Wenn wir
sagen, daß das Individuum das Gedächtnis der Gruppe zu Hilfe nimmt, schließt diese Hilfe
selbstverständlich nicht die augenblickliche Gegenwart eines oder mehrerer Mitglieder ein.
Tatsächlich erfahre ich selbst dann weiterhin den Einfluß einer Gesellschaft, wenn ich mich
von ihr entfernt habe: es genügt, daß ich all das in mir trage, was mich befähigt, die Dinge aus
der Sicht ihrer Mitglieder zu sehen, mich wieder in ihr Milieu und die ihnen eigene Zeit
hineinzuversetzen und mich im Herzen der Gruppe zu fühlen. Dies verlangt, es ist wahr,
einige Erklärung. Ich sehe mich in Gedanken wieder an der Seite eines Schulkameraden, an
den ich mich eng angeschlossen hatte, wie wir in einem psychologischen Gespräch begriffen
sind; wir analysieren und beschreiben die Charaktere unserer Lehrer, unserer Freunde. Er und
ich gehörten der Gruppe unserer Kameraden an, aber innerhalb dieser Gruppe hatten unsere
persönlichen und im übrigen schon vor unserem Schuleintritt entstandenen Beziehungen
zwischen uns eine engere Gemeinschaft geschaffen. Ich habe ihn seit langen Jahren nicht
gesehen, aber unsere Gruppe besteht zumindest in Gedanken weiter, denn wenn wir uns
morgen treffen würden, würden wir dieselbe Einstellung zueinander haben wie damals, als
wir uns trennten. Er ist jedoch vor einigen Monaten gestorben. Nun ist unsere Gruppe
aufgelöst. Ich werde nicht mehr mit ihm zusammentreffen. Ich kann nicht mehr von ihm wie
von einem gegenwärtig lebenden Menschen sprechen. Wenn ich uns heute sehe, wie wir
früher in einer Unterhaltung begriffen waren — wie kann ich dann behaupten, daß ich mich,
um diese Erinnerung heraufzubeschwören, auf das Gedächtnis unserer Gruppe stütze, da
unsere Gruppe nicht mehr existiert? Aber die Gruppe ist nicht nur und nicht einmal vor allem
eine Ansammlung bestimmter Individuen, und ihre Realität erschöpft sich nicht in einigen
Gestalten, die wir aufzählen können und von denen aus wir sie rekonstruieren

116

würden. Was sie im Gegenteil im wesentlichen ausmacht, ist ein Interesse, eine Art von
Vorstellungen und Bestrebungen, die zweifellos ihre Besonderheiten haben und in gewissem
Maße die Persönlichkeiten der Mitglieder der Gruppe widerspiegeln, die aber indessen
allgemein und selbst unpersönlich genug sind, um ihren Sinn und ihre Tragweite selbst dann
für mich zu bewahren, wenn diese Persönlichkeiten sich wandelten und wenn andere, wohl
ähnliche — es ist wahr — aber doch andersgeartete an ihre Stelle treten würden. Eben dies
stellt das beständige und dauerhafte Element der Gruppe dar — und weit davon entfernt, es
von ihren Mitgliedern ausgehend wiederzufinden, rekonstruiere ich deren Gestalten von
diesem Element aus. Wenn ich also an meinen Freund denke, so weil ich mich in eine
Gedankenwelt zurückversetze, die uns gemeinsam gewesen ist und die für mich selbst dann
fortbesteht, wenn mein Freund nicht mehr da ist oder in Zukunft nicht mehr mit mir
zusammentreffen kann — vorausgesetzt, daß um mich herum jene Bedingungen erhalten
bleiben, die mir erlauben, mich in sie hineinzuversetzen. Sie bleiben indessen erhalten, denn
solche Gedanken waren unseren gemeinsamen Freunden nicht fremd, und ich habe Menschen
getroffen und treffe noch immer mit Menschen zusammen, die meinem Freund zumindest in
dieser Hinsicht gleichen, bei denen ich den gleichen Charakter und das gleiche Denken
wiederfinde, so als seien sie mögliche Mitglieder derselben Gruppe gewesen.
Nehmen wir an, die Beziehungen zwischen zwei oder mehreren Personen seien dergestalt,
daß dieses Element des gemeinsamen, unpersönlichen Denkens fehle. Zwei Wesen lieben sich
mit engstirnig egoistischer Leidenschaft; das Denken eines jeden ist völlig von dem anderen
ausgefüllt. Sie können sagen: ich liebe ihn oder sie, weil er oder weil sie es ist ... Aber sobald
die Leidenschaft geschwunden ist, wird nichts von dem Band, das sie vereinte, fortbestehen,
und dann werden sie einander entweder vergessen oder den anderen nur blaß und farblos in
Erinnerung behalten. Worauf sollten sie sich in der Tat stützen, um sich jeder den anderen, so
wie er ihn sah, ins Gedächtnis zurückzurufen? Bisweilen indessen, wenn die Erinnerung trotz
des Entferntseins, trotz des Todes fortbesteht, so weil es außer der persönlichen Zuneigung
ein gemeinsames Denken gab — etwa das Gefühl des Dahinfließens der Zeit, die Betrachtung
der sie umgebenden Dinge, die Natur, irgendein Gegenstand der Medi-

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tation; dies stellt das dauerhafte Element dar, das die auf rein affektiver Basis beruhende
Vereinigung der beiden Wesen in eine Gesellschaft umformte, und das weiterhin bestehende
Denken läßt die einstige Gemeinschaft Wiederaufleben und rettet das Bild des Menschen vor
dem Vergessenwerden. Hätte Auguste Comte Clotilde de Vaux Wiederaufleben lassen und sie
fast mit leibhaftigen Augen sehen können, wenn ihre Liebe nicht den Sinn einer geistigen
Vereinigung angenommen hätte, und wenn er sie nicht in seine Religion der Menschlichkeit
mit einbezogen hätte? So erinnert man sich zweifellos an seine Eltern, weil man sie liebt, vor
allem aber, weil sie die Eltern sind. Zwei Freunde vergessen einander nicht, weil die
Freundschaft eine Übereinstimmung des Denkens und ein gemeinsames Bestreben
voraussetzt.
In Wirklichkeit fügen sich unsere Beziehungen zu einigen Menschen in breitere Gesamtheiten
ein, deren übrige Mitglieder wir uns nicht mehr in konkreter Weise vorstellen. Diese
Gesamtheiten neigen dazu, den Kreis der Gestalten, die wir kennen, zu überschreiten und
nahezu unpersönlich zu werden. Indessen ist das Unpersönliche auch dauerhafter. Die Zeit, in
der die Gruppe gelebt hat, ist ein halb unpersönliches Milieu, in dem wir mehr als ein
vergangenes Ereignis lokalisieren können, da jedes von ihnen eine Bedeutung in bezug auf
die Gesamtheit hat. Eben diese Bedeutung finden wir in der Gesamtheit wieder, und diese
letztere bleibt erhalten, weil ihre Realität sich nicht mit den einzelnen und flüchtigen
Gestalten deckt, die sie durchqueren.

Permanenz und Transformierung der Gruppen: Die Epochen der Familie


Diese Permanenz der sozialen Zeit ist im übrigen völlig relativ. Wenn unser
Erfassungsvermögen der Vergangenheit in den verschiedenen Richtungen, die das Denken
dieser Gruppen nimmt, auch recht weit reicht, ist es doch im Grunde nicht unbegrenzt und
überschreitet niemals eine Linie, die sich in dem Maße verschiebt, als die Gesellschaften,
deren Mitglieder wir sind, in eine neue Periode ihres Daseins eintreten. Es ist allem Anschein
nach so, als müsse das Gedächtnis sich erleichtern, wenn der Strom der Ereignisse, die es
behalten muß, anschwillt. Es sei im übrigen bemerkt, daß hier nicht die Anzahl der
Erinnerungen von Bedeutung ist. Solange die Gruppe

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sich nicht fühlbar ändert, kann die Zeit, die ihr Gedächtnis umspannt, sich verlängern: sie ist
stets ein kontinuierliches Milieu, das uns in seiner gesamten Ausdehnung zugänglich bleibt.
Erst wenn die Gruppe sich wandelt, beginnt eine neue Zeit für sie, und ihre Aufmerksamkeit
wendet sich allmählich von dem ab, was sie gewesen und jetzt nicht mehr ist. Aber die
frühere Zeit kann für jene Mitglieder der Gruppe neben und selbst in der neuen Zeit
fortbestehen, die eine solche Wandlung am wenigsten berührt hat — so als weigere sich die
alte Gruppe, sich von der neuen Gruppe, die aus ihrer Substanz hervorgegangen ist, gänzlich
aufsaugen zu lassen. Wenn das Gedächtnis dann den jeweils in Betracht gezogenen Teilen des
sozialen Körpers zufolge ungleich weit zurückliegende Regionen der Vergangenheit erreicht,
so nicht, weil die einen Gruppenmitglieder sich an mehr Dinge erinnern als die anderen:
sondern die beiden Teile der Gruppe konzentrieren ihr Denken auf Interessengebiete, die
nicht mehr völlig dieselben sind.
Ohne den Bereich der Familie zu verlassen, versetzt das Gedächtnis des Vaters und der
Mutter die Eltern in die Zeit zurück, die ihrer Hochzeit folgte: es erforscht ein Gebiet der
Vergangenheit, das die Kinder nur vom Hörensagen kennen; diese letzteren erinnern sich
nicht an die Zeit, zu der sie neben ihren Eltern noch nicht zu vollem Bewußtsein erwacht
waren. Reduziert sich dann das Gedächtnis der Familiengruppe auf eine Anzahl individueller
Erinnerungsreihen, die während des gesamten Zeitabschnittes, in dem sie sich auf dieselben
Umstände beziehen, einander ähnlich sind — die aber, sobald man den Zeitlauf
zurückverfolgt, an einem mehr oder minder weit entfernten Punkt abbrechen? Gibt es also
innerhalb einer Familie ebensoviele Gedächtnisse, ebensoviele Betrachtungsweisen derselben
Gruppe wie Familienmitglieder, da sie sich über ungleich weite Zeiträume hin erstrecken?
Nein — sondern wir stellen vielmehr im Leben dieser Gruppe charakteristische
Veränderungen fest.
Bis zu dem Zeitpunkt, zu dem die Kinder geboren werden und der Erinnerung fähig geworden
sind, hat seit der Hochzeit wenig Zeit verstreichen können. Dieses Jahr oder diese wenigen
Jahre aber sind angefüllt mit Ereignissen — selbst dann, wenn scheinbar nichts geschieht.
Während dieser Zeit treten nicht nur die persönlichen Charaktere der beiden Eheleute zutage,
sondern auch all das, was sie von ihren Eltern, von den Milieus, in denen sie bis dahin gelebt

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haben, übernommen haben; damit eine neue Gruppe auf diesen Elementen ersteht, bedarf es
einer ganzen Reihe gemeinsamer Bemühungen, begleitet von manchem Erstaunen, etlichen
Widerständen, Konflikten, Opfern, aber auch von manchem spontanen Überein- nd
Entgegenkommen, von Zustimmungen, Ermutigungen und gemeinsam in der Welt der Natur
und der Gesellschaft gemachten Entdeckungen. Es ist die Zeit, die der Errichtung der
Grundmauern des Gebäudes gewidmet ist — bunter und bewegter als die langen Zeiträume,
während derer das Haus fertiggestellt wird: auf dem Baugelände herrscht Begeisterung,
einmütige Schaffenslust — in erster Linie, weil dies ein Beginn ist. Später wird man genötigt
sein, seine Arbeit darauf abzustimmen, was schon verwirklicht worden ist, wofür man die
Verantwortung trägt und worauf man zugleich stolz ist; man wird sich in die Reihe der
benachbarten Häuser eingliedern und die Forderungen und Neigungen jener berücksichtigen
müssen, die das Haus bewohnen werden — Neigungen, die man nicht immer voraussieht:
daher etliche Ungelegenheiten, viel verlorene Zeit, Arbeit, die zerstört und neubegonnen
werden muß. Aber man wird ebenso der Gefahr ausgesetzt sein, aus diesem oder jenem
Grunde mitten in der Arbeit innehalten zu müssen. Es gibt unvollendete Häuser, Bauarbeiten,
die lange darauf warten, wieder aufgenommen zu werden. „Pendent opera interrupta." Da ist
auch die Unannehmlichkeit, Tag für Tag am selben Ort arbeiten zu müssen. Selbst in der
Tätigkeit jener, die ein Gebäude vollenden, liegt oft mehr Unruhe als Beschwingtheit. Ein
Ausschachtungsplatz erinnert immer ein wenig an die Natur, und die Arbeiter, die den
Erdboden für die Grundmauern ausheben, gleichen Pionieren. Wie sollte die Periode,
während der man die Basis einer neuen Gruppe legt, nicht mit den intensivsten und mehr als
alle anderen zum Dauern bestimmten Gedanken angefüllt sein? In mehr als nur einer
Gesellschaft lebt so der Geist der Gründer fort — so kurz auch die der Gründung gewidmete
Zeit gewesen sein mag.
Die Ankunft der Kinder erweitert in vielen Fällen nicht nur die Familie, sondern sie
modifiziert auch ihr Denken und die Ausrichtung ihrer Interessen. Das Kind ist immer ein
Eindringling, und zwar in dem Sinne als man weiß, daß es sich nicht der schon bestehenden
Familie anpassen wird, sondern daß sich die Eltern und selbst die schon geborenen Kinder,
wenn nicht den Forderungen des Neuan-

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kömmlings, so doch zumindest den Veränderungen, die sich aus seinem Eintritt in die Gruppe
ergeben, beugen müssen. Bis dahin hat das kinderlose Paar glauben können, es genüge sich
selbst: vielleicht hat es sich auch annähernd genügt, während es vielen äußeren Einflüssen
zugänglich war — Lektüre, Theater, menschliche Beziehungen, Reisen, berufliche Tätigkeit
des Mannes und vielleicht der Frau —, die alle zusammenwirkten, wobei das Paar bei der
Berührung mit vielen Milieus auf seine Weise reagierte und sich immer stärker seiner Einheit
bewußt wurde. Es befindet sich zwischen zwei Gefahren: sich zu fest zusammenzuschließen
und sich zu sehr in sich zurückzuziehen, zu den äußeren Gruppen nicht einmal mehr jenen
Kontakt zu unterhalten, den die Lektüre erlaubt — was es dazu verurteilt, zugrunde zu gehen,
denn es kann nur von seiner sozialen Substanz leben; und deshalb strebt es immer danach, aus
dem Kreis seiner Mitglieder herauszutreten und sich weiter auszudehnen. Das andere Risiko
aber besteht darin, zu sehr aus sich herauszugehen, sich von einer außerhalb der ehelichen
Gemeinschaft bestehenden Gruppe oder von irgendeiner Beschäftigung, die ihm zu fern läge,
absorbieren zu lassen. Daraus ergibt sich bisweilen zumindest anfänglich ein Wechsel von
Zeiten, während derer das Paar, das gewissermaßen noch seinen Platz in der äußeren
Gesellschaft sucht, sich bald von ihr erfassen läßt und sich bald wieder von ihr entfernt hält:
Gegensätze, die lebhaft genug zum Vorschein treten, um diese Phase seines Lebens sich von
selbst von den folgenden abheben und für immer in sein Gedächtnis einprägen zu lassen.
Später hat es seinen Platz gefunden: es hat seine Beziehungen, seine Interessen, seine
Stellung; seine Verbindungen mit den anderen Gruppen haben sich nahezu gefestigt; seine
wesentlichen Bestrebungen haben eine festere Form angenommen. Wenn ein Paar Kinder hat,
vervielfältigen und verdeutlichen sich seine Beziehungen zu dem sozialen Milieu, das es
umgibt. Wenn eine Gruppe mehr Mitglieder umfaßt, besonders wenn diese verschiedenen
Alters sind, kommt sie durch zahlreichere Teile ihrer selbst mit der Gesellschaft in
Berührung. Sie gliedert sich enger dem Milieu ein, das die anderen Familien umfaßt, wird von
seinem Geist durchdrungen, beugt sich seinen Regeln. Man könnte meinen, eine größere
Familie genüge in stärkerem Maße sich selbst und bilde ein geschlosseneres Milieu. Das
stimmt nicht ganz. Gewiß haben die Eltern nun eine gemeinsame

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Beschäftigung, die sie besonders stark in Anspruch nimmt. Aber die ausgedehntere
Familiengruppe hat es schwerer, sich materiell zu isolieren: sie bietet den Blicken der anderen
eine breitere Oberfläche dar, der Meinung der Leute mehr Ansatzpunkte. Die Familie besteht
aus einer Gesamtheit zahlreicherer und komplexerer, auch unpersönlicherer innerer
Beziehungen, da sie auf ihre Weise einen Typus häuslicher Organisation darstellt, der
außerhalb ihrer selbst existiert und dazu tendiert, ihre Grenzen zu überschreiten. Dieser
Verwandlung der Gruppe entspricht eine tiefgehende Umgestaltung ihres Denkens. Sie ist wie
ein neuer Ausgangspunkt. Für die Kinder beginnt hier das gesamte Familienleben, wenigstens
das, wovon sie einiges in der Erinnerung behalten. Das Gedächtnis der Eltern reicht weiter
zurück, zweifellos weil die Gruppe, die sie früher bildeten, nicht vollkommen von der
erweiterten Familie resorbiert worden ist. Sie hat weiterhin bestanden, aber ihr Leben war
unterbrochen und gleichsam abgeschwächt worden. Dessen wird man gewahr, wenn die
Kinder fortgehen. Man hat den Eindruck des Unwirklichen — so wie wenn zwei Freunde, die
sich nach langer Zeit wiedersehen, wohl die gemeinsame Vergangenheit heraufbeschwören
können, sich aber sonst nichts mehr zu sagen haben. Man fühlt sich am äußersten Ende eines
Weges, der sich im Ungewissen verliert, oder wie zwei Spielpartner, die die Spielregeln
vergessen haben.

Das Weiterleben entschwundener Gruppen


Ebenso scheint es, daß, wenn eine Gesellschaft einer tiefgehenden Umgestaltung unterzogen
worden ist, das Gedächtnis über zwei verschiedene Wege die Erinnerung erreicht, die diesen
beiden aufeinanderfolgenden Perioden entsprechen, und nicht kontinuierlich von der einen
auf die andere zurückgeht. Es gibt in Wirklichkeit zwei Zeiten, innerhalb derer zwei Rahmen
des Denkens fortbestehen, und man muß sich bald in die eine, bald in die andere
hineinversetzen, um die Erinnerungen in jedem der Rahmen wiederzufinden, in dem sie
lokalisiert sind. Um eine frühere Stadt im Irrgarten der neuen Straßen wiederzufinden, die sie
allmählich eingekreist und völlig umgewandelt haben, der Häuser und Monumente, die bald
die alten Viertel abgedeckt und ausgelöscht haben und bald in der Verlängerung oder in den
Zwischenräumen zwischen den Bauten aus früherer Zeit errichtet worden sind, geht man nicht
dadurch von der

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Gegenwart auf die Vergangenheit zurück, daß man in umgekehrter Richtung kontinuierlich
die Reihe von Bauarbeiten, Zerstörungen, Straßenanlagen usw. verfolgt, die allmählich das
Aussehen dieser Stadt verändert haben. Sondern um die alten Straßen und Monumente
wiederzufinden — seien sie im übrigen erhalten oder verschwunden —, richtet man sich nach
dem allgemeinen Plan der früheren Stadt, versetzt man sich in Gedanken in sie hinein — was
stets jenen möglich ist, die gelebt haben, bevor die alten Viertel erweitert und neuerbaut
wurden, und für die diese stehengebliebenen Mauerreste, diese Fassaden aus einem anderen
Jahrhundert, diese Straßenabschnitte ihre frühere Bedeutung behalten. In der modernen Stadt
selbst findet man die Eigenheiten der früheren Stadt wieder, weil man nur Augen und Sinn für
diese hat. Ebenso wenn in einer Gesellschaft, die sich gewandelt hat, Überreste dessen
fortbestehen, was sie ursprünglich war, können jene, die sie in ihrer ersten Form gekannt
haben, gleichfalls ihre Aufmerksamkeit auf diese alten Züge heften, die ihnen den Zugang zu
einer anderen Zeit und einer anderen Vergangenheit öffnen. Es gibt kaum eine Gesellschaft,
in der wir einige Zeit gelebt haben, die nicht fortbesteht, die nicht zumindest irgendeine Spur
ihrer selbst in den neueren Gruppen hinterlassen hat, in die wir einbezogen sind: das
Fortbestehen dieser Spuren genügt, um die Permanenz und die Kontinuität der dieser früheren
Gesellschaft eigenen Zeit zu erklären und es uns möglich zu machen, jederzeit in Gedanken in
sie einzudringen.
Alle diese noch fortbestehenden Zeiten können selbst dann, wenn sie den Stadien und
gleichsam aufeinanderfolgenden Formen einer Gesellschaft entsprechen, die sich tiefgreifend
gewandelt hat, einander durchdringen. Sie bestehen im übrigen nebeneinander fort.
Tatsächlich dehnen sich die Gruppen, deren Denkweisen verschieden sind, materiell im Raum
aus, und die Mitglieder, aus denen sie sich zusammensetzen, treten gleichzeitig oder
nacheinander in mehrere von ihnen ein. Es gibt keine universale und einheitliche Zeit,
sondern die Gesellschaft zerfällt in eine Vielheit von Gruppen, von denen jede ihre eigene
Zeitdauer hat. Was diese Arten der kollektiven Zeitdauer unterscheidet, ist nicht die Tatsache,
daß die einen schneller dahinfließen als die anderen. Man kann nicht einmal sagen, daß diese
Zeiten dahinfließen, da jedes kollektive Bewußtsein sich erinnern kann, und da das
Fortbestehen der Zeit durchaus eine Voraussetzung

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des Sicherinnerns zu sein scheint. Die Ereignisse folgen zeitlich aufeinander, aber die Zeit
selbst ist ein unbeweglicher Rahmen. Nur sind die Zeiten mehr oder minder ausgedehnt, sie
erlauben dem Gedächtnis, mehr oder weniger weit in das zurückzugehen, was man die
Vergangenheit zu nennen übereingekommen ist.

Die kollektive Zeitdauer, einzige Grundlage des sog. individuellen Gedächtnisses


Betrachten wir nun die Dinge aus der Sicht des Individuums. Ein jedes ist Mitglied mehrerer
Gruppen, es hat an mehreren sozialen Denkweisen teil, sein Blick taucht nacheinander in
mehrere kollektive Zeiten ein. Es bedeutet schon ein Element der individuellen
Differenzierung, daß innerhalb derselben Periode in einem bestimmten Bereich des Raumes
die Bewußtseinsinhalte der verschiedenen Menschen nicht an denselben kollektiven
Strömungen teilhaben. Außerdem aber geht ihr Denken mehr oder minder weit, mehr oder
minder rasch in die Vergangenheit oder in die Zeit einer jeden Gruppe zurück. In diesem
Sinne wird von jedem Bewußtsein innerhalb desselben Zeitabschnittes eine mehr oder minder
ausgedehnte Zeitdauer zusammengedrängt: sagen wir, es läßt denselben Zeitraum gelebter
sozialer Zeitdauer eine mehr oder minder ausgedehnte Spanne vorgestellter Zeit enthalten.
Selbstverständlich gibt es in dieser Hinsicht große Unterschiede zwischen dem einen und dem
anderen Bewußtsein.
Ganz anders lautet die Interpretation der Psychologen, die glauben, daß es ebensoviele
verschiedene, nicht aufeinander zurückführbare Arten der Zeitdauer wie individuelle
Bewußtseinsinhalte gibt, da jede von ihnen einem Gedankenstrom gleichkommt, der mit einer
ihm eigenen Geschwindigkeit dahinfließt. Erstens aber fließt die Zeit nicht dahin: sie dauert
an, sie besteht fort — und das muß so sein; denn wie könnte sonst das Gedächtnis den
Zeitablauf zurückverfolgen? Hinzu kommt, daß jede dieser Strömungen nicht als eine
einheitliche und kontinuierliche Reihe aufeinanderfolgender Zustände erscheint, die sich
mehr oder minder rasch abwickeln — wie könnte man sonst aus ihrem Vergleich die
Vorstellung einer dem Bewußtsein mehrerer Individuen gemeinsamen Zeit ableiten? Wenn
man, indem man mehrere individuelle Bewußtseinsarten nebeneinanderstellt, ihr Denken und
ihre Ereignisse in eine oder mehrere

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gemeinsame Zeiten einfügen kann, so weil in Wirklichkeit die innere Zeitdauer in mehrere
Strömungen zerfällt, deren Quelle in den Gruppen selbst liegt. Das individuelle Bewußtsein
ist nur der Durchgangsort dieser Strömungen, der Treffpunkt der kollektiven Zeiten.
Es ist sonderbar, daß diese Konzeption bis heute kaum von jenen Philosophen, die sich mit
dem Studium der Zeit befaßt haben, in Betracht gezogen worden ist. Das liegt daran, daß man
sich jedes Bewußtsein stets als von jedem anderen isoliert und in sich selbst eingeschlossen
vorgestellt hat. Der Ausdruck „stream of thought" oder auch „psychologischer Fluß" oder
„psychologische Strömung", auf den man in den Schriften William James und Henri Bergsons
stößt, übersetzt mit Hilfe eines treffenden Bildes das Gefühl, das jeder von uns erfahren kann,
wenn er als Zuschauer dem Ablauf seines psychologischen Lebens beiwohnt. Alles scheint
tatsächlich so vor sich zu gehen, als folgten einander im Inneren eines jeden von uns seine
Bewußtseinszustände wie die Abschnitte eines kontinuierlichen Stromes, wie Wellen, die
einander weitertragen. Bei genauerem Nachdenken hingegen bemerkt man, daß dies wohl auf
das Denken zutrifft, das unaufhörlich vorwärtsstrebt, das unaufhörlich von Wahrnehmung zu
Wahrnehmung übergeht, von einem Gemütszustand zum anderen, daß es dagegen dem
Gedächtnis eigen ist, uns zum Innehalten zu zwingen, uns zu nötigen, uns zeitweilig von
jenem Strom abzuwenden und, wenn auch nicht ihn zurückzuverfolgen, so doch zumindest
eine Querrichtung einzuschlagen, so als ob sich längs dieser fortlaufenden Reihe eine Anzahl
von Punkten befände, an denen Abzweigungen ansetzen. Gewiß, selbst beim Sicherinnern ist
das Denken noch aktiv: es ist rege, es ist in Bewegung. Aber bemerkenswert ist, daß man
dann und nur dann sagen kann, es bewege sich innerhalb der Zeit. Wie könnte man sich ohne
das Gedächtnis und außerhalb der Augenblicke, in denen man sich erinnert, dessen bewußt
werden, daß man zeitlich existiert und sich durch die Zeit hindurch bewegt? Wenn man von
seinen Eindrücken absorbiert wird, wenn man sie in dem Maße verfolgt, als sie auftauchen
und wieder verschwinden, verschmilzt man zweifellos erst mit einem Augenblick der
Zeitdauer, dann mit einem anderen; wie aber würde man sich die Zeit selbst
vergegenwärtigen, d. h. den zeitlichen Rahmen, der zugleich diesen Augenblick und viele
andere umfaßt? Man kann zeitlich existieren — innerhalb der Gegenwart,

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die ein Teil der Zeit ist — und indessen unfähig sein, zeitlich zu denken, sich in Gedanken in
eine nahe oder ferne Vergangenheit zu versetzen. Mit anderen Worten, man muß den Strom
der Eindrücke von den Strömen des eigentlichen Denkens oder des Gedächtnisses
unterscheiden: der erste ist eng mit unserem Körper verbunden, er veranlaßt uns nicht, aus
uns herauszutreten, eröffnet uns aber auch keinen Durchblick auf die Vergangenheit; die
zweiten entspringen und verlaufen größtenteils innerhalb des Denkens der verschiedenen
Gruppen, denen wir angehören.
Wenn wir die Gruppen und ihre Vorstellungen in den Vordergrund treten lassen, wenn wir
dabei das individuelle Denken als eine Reihe aufeinanderfolgender Betrachtungsweisen des
Denkens der Gruppen auffassen, dann werden wir verstehen, daß dieses in die Vergangenheit
zurückgehen und mehr oder minder weit zurückgehen kann — je nach der Breite der
Perspektive, die dem individuellen Denken eine jede dieser Betrachtungsweisen des in jedem
kollektiven Bewußtsein, an dem es teilhat, enthaltenen Bildes der Vergangenheit darbietet.
Die notwendige Voraussetzung hierfür ist, daß in jedem Bewußtsein die vergangene Zeit, ein
bestimmtes Bild der vergangenen Zeit unverändert fortbesteht, daß die Zeit zumindest
innerhalb bestimmter, den Gruppen zufolge variierender Grenzen andauert. Hier liegt das
große Paradox. Wie aber könnte es bei genauerer Überlegung anders sein? Wie könnte eine
Gesellschaft, wie immer sie geartet sei, existieren, fortbestehen, sich ihrer selbst bewußt
werden, wenn sie nicht mit einem Blick eine Gesamtheit gegenwärtiger und vergangener
Ereignisse umfaßte, wenn sie nicht die Möglichkeit hätte, den Zeitablauf zurückzuverfolgen
und sich unaufhörlich über die Spuren zu bewegen, die sie selbst hinterlassen hat? Religiöse,
politische, wirtschaftliche Gesellschaften, Familien, Freundes- und Bekanntengruppen und
selbst ephemere Versammlungen in einem Salon, in einem Zuschauerraum, auf der Straße
lassen die Zeit auf ihre Weise stillstehen oder ihre Mitglieder der Illusion erliegen, daß
zumindest während einer bestimmten Zeitspanne in einer Welt, die sich unaufhörlich wandelt,
bestimmte Zonen eine relative Stabilität und ein relatives Gleichgewicht erworben haben, und
daß sich in ihnen während einer mehr oder minder langen Periode nichts Grundlegendes
geändert hat.
Gewiß, die Grenzen, bis zu denen man auf diese Weise in die Ver-

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gangenheit zurückgeht, sind je nach den Gruppen veränderlich, und eben das erklärt, daß das
individuelle Denken zu verschiedenen Zeitpunkten, d. h. je nach dem Grad seiner Teilnahme
an diesem oder jenem kollektiven Denken, sich an mehr oder minder weit zurückliegende
Dinge erinnert. Jenseits dieser veränderlichen Spanne der Zeit oder genauer: der kollektiven
Zeiten, gibt es nichts mehr; denn die Zeit der Philosophen ist nichts als eine leere Form. Die
Zeit ist nur in dem Maße reell, als sie einen Inhalt hat, d. h. als sie dem Denken eine aus
Ereignissen bestehende Materie darbietet. Sie ist begrenzt und relativ, aber voller
Wirklichkeit. Sie ist im übrigen weit genug, um jedem Individuum einen hinreichend dichten
Rahmen zu bieten, in dem es seine Erinnerungen anordnen und wiederfinden kann.

Viertes Kapitel
Das kollektive Gedächtnis und der Raum

Die Gruppe in ihrem räumlichen Rahmen. Macht des materiellen Milieus


Auguste Comte hat bemerkt, daß das geistige Gleichgewicht sich zum großen Teil und in
erster Linie aus der Tatsache ergibt, daß die materiellen Gegenstände, mit denen wir täglich in
Berührung kommen, sich nicht oder wenig wandeln und uns ein Bild der Permanenz und der
Beständigkeit darbieten. Sie kommen einer schweigsamen und unbeweglichen, an unserer
Unrast und unseren Stimmungswechseln unbeteiligten Gesellschaft gleich, die uns den
Eindruck von Ruhe und Ordnung gibt. Es trifft zu, daß mehr als nur eine psychische Störung
von einer Art Unterbrechung der Verbindung unseres Denkens zu den Gegenständen begleitet
werde, von der Unfähigkeit, die vertrauten Dinge wiederzuerkennen — so daß wir innerhalb
eines fremden, bewegten Milieus verloren sind und uns jeglicher Anhaltspunkt fehlt. Selbst
außerhalb dieser psychologischen Fälle durchleben wir, wenn irgendein Ereignis uns nötigt,
uns in eine neue materielle Umgebung zu begeben, bevor wir uns ihr angepaßt haben, eine
Periode der Unsicherheit, so als hätten wir unsere gesamte Persönlichkeit hinter uns gelassen:
so untrennbar von unserem Ich sind die gewohnten Bilder der äußeren Welt.
Es geht nicht nur darum, daß es uns stört, unsere grundlegenden Gewohnheiten zu ändern.
Warum hält man an den Dingen fest? Warum wünscht man, sie möchten sich nicht ändern
und uns weiterhin Gesellschaft leisten? Lassen wir einmal jede Erwägung der Bequemlichkeit
und der Ästhetik beiseite! Bestehen bleibt, daß unsere materielle Umgebung zugleich von uns
und von den anderen geprägt wird. Unser Haus, unsere Möbel und die Art, in der sie
angeordnet sind, die gesamte Einrichtung der Räume, in denen wir leben, erin-

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nern uns an unsere Familie und an die Freunde, die wir oft in diesem Rahmen sehen. Leben
wir allein, so spiegeln der räumliche Bereich, der uns ständig umgibt, sowie seine
verschiedenen Teile nicht nur das wider, was uns von allen anderen Menschen unterscheidet.
Unsere Bildung, unser Geschmack und unsere Neigungen, die in der Auswahl und der
Anordnung dieser Gegenstände zutage treten, erklären sich in starkem Maße durch die Bande,
die uns stets mit einer großen Anzahl wahrnehmbarer oder unsichtbarer Gesellschaften
verbinden. Man kann nicht sagen, daß die Gegenstände ein Teil der Gesellschaft sind.
Indessen kreisen Möbel, Zierat, Bilder, Hausgeräte, Nippsachen innerhalb der Gruppe,
werden in ihr abgeschätzt, verglichen, geben jederzeit einen Begriff von den neuen Mode-
und Geschmacksrichtungen und rufen uns ebenfalls die früheren Gebräuche und sozialen
Unterscheidungen ins Gedächtnis. In einem Antiquitätenladen treffen auf diese Weise in den
zerstreuten und außer Gebrauch befindlichen Teilen versprengten Mobiliars alle Epochen und
Klassen aufeinander; und sicherlich fragt man sich: wem haben dieser Sessel, diese
Wandteppiche, dieses Necessaire, diese Schale gehören können? Gleichzeitig aber denkt man
(und das ist im Grunde dasselbe) an die Welt, die sich in all diesem wiedererkannte, so als sei
der Stil eines Mobiliars, der Geschmack einer Einrichtung für sie gleichbedeutend mit einer
Sprache gewesen, die sie verstand. Wenn Balzac eine Familienpension oder das Haus eines
Geizigen beschreibt und Dickens das Arbeitszimmer eines Notars, erlauben uns diese Bilder
schon zu ahnen, welcher Gattung oder sozialen Kategorie die Menschen angehören, die in
einem solchen Rahmen leben. Dies ist nicht eine bloße Harmonie und physische
Übereinstimmung des Aussehens der Räumlichkeiten mit den Menschen. Sondern jeder
Gegenstand, auf den wir stoßen, und der Platz, den er innerhalb des Ganzen innehat, erinnern
uns an eine vielen Menschen gemeine Seinsweise, und wenn man dieses Ganze analysiert,
wenn man unsere Aufmerksamkeit auf jeden seiner Teile lenkt, so ist es, als zergliedere man
eine Gedankenwelt, in der die Beiträge vieler Gruppen ineinander verschmelzen.
Tatsächlich haben die Formen der Gegenstände, die uns umgeben, durchaus diese Bedeutung.
Wir sagten nicht zu Unrecht, daß sie uns wie eine stumme und unbewegliche Gesellschaft
umgeben. Wenn sie auch nicht sprechen, so verstehen wir sie dennoch, da sie einen Sinn

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haben, den wir spielend entziffern. Sie sind nur scheinbar bewegungslos, denn die sozialen
Neigungen und Gewohnheiten ändern sich, und wenn man eines Möbelstücks oder einer
Zimmereinrichtung überdrüssig wird, so ist es, als alterten die Gegenstände selber. Es stimmt,
daß während recht langer Zeitabschnitte der Eindruck der Bewegungslosigkeit vorherrscht,
der sich zugleich aus der physischen Trägheit der Dinge und der relativen Beständigkeit der
sozialen Gruppen erklärt. Es wäre übertrieben zu behaupten, daß die Umzüge und
Ortswechsel und die bedeutenden Änderungen, die zu bestimmten Zeitpunkten an der
Einrichtung und Ausstattung einer Wohnung vorgenommen werden, eine bestimmte Anzahl
von Epochenwechseln in der Geschichte der Familie bezeichnen. Die Beständigkeit des
Wohnraumes und seines Aussehens halten nichtsdestoweniger der Gruppe selber das
beruhigende Bild ihrer Kontinuierlichkeit vor. In einem dermaßen gleichförmigen Rahmen
verflossene Jahre gemeinsamen Lebens lassen sich schlecht voneinander unterscheiden, und
man zweifelt schließlich daran, daß viel Zeit verstrichen ist und daß man sich in der
Zwischenzeit stark verändert hat. Dies ist nicht völlig unzutreffend. Eine Gruppe, die in
einem bestimmten räumlichen Bereich lebt, formt ihn nach ihrem eigenen Bild um;
gleichzeitig aber beugt sie sich und paßt sich denjenigen materiellen Dingen an, die ihr
Widerstand leisten. Sie schließt sich in den Rahmen ein, den sie aufgestellt hat. Das Bild des
äußeren Milieus und der dauerhaften Beziehungen, die sie mit ihm unterhält, tritt in den
Vordergrund der Vorstellung, die sie sich von sich selber macht. Es durchdringt alle Elemente
ihres Bewußtseins, verlangsamt und reguliert ihre Entwicklung. Das Bild der Dinge hat an
deren Trägheit selbst teil. Nicht das isolierte Individuum, sondern das Individuum als
Mitglied der Gruppe, die Gruppe selber bleibt auf diese Weise dem Einfluß der materiellen
Natur unterworfen und hat an ihrem Gleichgewicht teil. Selbst wenn man meinen könnte, es
sei anders, wenn die Mitglieder einer Gruppe versprengt sind und in ihrer neuen materiellen
Umgebung nichts vorfinden, was sie an das Haus und die Zimmer erinnert, die sie verlassen
haben — wenn sie dennoch über den Raum hinweg vereint bleiben, so weil sie an dieses Haus
und an diese Zimmer denken. Als man die Herren und Nonnen von Port Royal zerstreute, war
damit nichts getan, solange man nicht die Gebäude der Abtei dem Erdboden gleichgemacht

130

hatte und nicht diejenigen dahingeschieden waren, die sie in Erinnerung behielten.
So erklärt es sich, daß die räumlichen Bilder eine derartige Rolle im kollektiven Gedächtnis
spielen. Der Ort, an dem eine Gruppe lebt, ist nicht gleich einer schwarzen Tafel, auf der man
Zahlen und Gestalten aufzeichnet und dann auswischt. Wie würde das Bild der Tafel daran
erinnern, was man auf ihr aufgezeichnet hat — da die Tafel den Zahlen gleichgültig ist und
man auf derselben Tafel alle beliebigen Gestalten wiedergeben kann? Nein. Aber der Ort hat
das Gepräge der Gruppe erhalten und umekehrt. Alsdann können alle Unternehmungen der
Gruppe räumlich ausgedrückt werden, und der Ort, an dem sie lebt, ist nur die Vereinigung all
dieser Ausdrücke. Jeder Aspekt, jedes Detail dieses Ortes hat selber einen Sinn, der allein für
die Mitglieder der Gruppe wahrnehmbar ist, weil alle räumlichen Bereiche, in denen sie
gelebt hat, einer bestimmten Anzahl verschiedener Aspekte der Struktur und des Lebens ihrer
Gesellschaft entsprechen — dem zumindest, was in ihr am dauerhaftesten war. Sicherlich
fügen sich auch die außergewöhnlichen Ereignisse in einen räumlichen Rahmen ein — jedoch
weil anläßlich ihres Geschehens die Gruppe sich intensiver dessen bewußt geworden ist, was
sie seit langem und bis zu diesem Augenblick war, und weil die Bande, die sie mit dem Ort
verbanden, in dem Augenblick deutlicher für sie hervorgetreten sind, da sie zu zerreißen
begannen. Aber ein wirklich schwerwiegendes Ereignis bringt immer eine Wandlung des
Verhältnisses der Gruppe zum Ort mit sich, sei es, sie modifiziere den Umfang der Gruppe —
beispielsweise ein Todesfall oder eine Hochzeit —, sei es, sie modifiziere den Ort, wenn die
Familie reicher oder ärmer wird, wenn der Familienvater in eine andere Stellung berufen wird
oder den Beruf wechselt. Von diesem Augenblick an wird es nicht mehr genau dieselbe
Gruppe geben, auch nicht mehr dasselbe kollektive Gedächtnis; aber gleichzeitig wird auch
die materielle Umgebung nicht mehr dieselbe sein.

Die Steine der Stadt


Die verschiedenen Viertel innerhalb einer Stadt und die Häuser innerhalb eines Viertels haben
einen festen Platz und sind ebenso stark im Boden verankert wie Bäume und Felsen, wie ein
Hügel oder eine Hochfläche. Daraus ergibt sich, daß die Gruppe der Städter

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nicht den Eindruck hat, sich zu verändern, solange das Aussehen der Straßen und Gebäude
gleichbleibt und es wenige zugleich fester gefügte und dauerhaftere soziale Formationen gibt.
Paris und Rom beispielsweise scheinen trotz der Kriege, Revolutionen und Krisen die
Jahrhunderte überdauert zu haben, ohne daß die Kontinuierlichkeit ihres Lebens einen
einzigen Augenblick unterbrochen worden wäre. Der nationale Körper kann den heftigsten
Unruhen preisgegeben sein. Der Bürger geht auf die Straße, liest die Neuigkeiten, mischt sich
unter die Gruppen, in denen darüber diskutiert wird; die jungen Leute werden an die Grenze
geschickt; drückende Steuern müssen bezahlt werden; ein Teil der Einwohner erhebt sich
gegen den anderen, und es beginnt eine Episode eines politischen Kampfes, der im ganzen
Land weitergeführt wird. Aber all dieser Aufruhr entwickelt sich innerhalb eines vertrauten
Dekors, das von ihm nicht berührt zu werden scheint. Ist es der Kontrast zwischen der
Unempfindsamkeit der Steine und den Unruhen, denen die Einwohner ausgeliefert sind, der
sie davon überzeugt, daß im Grunde nichts verloren ist, da die Mauern und Häuser aufrecht
stehen bleiben? Vielmehr muß angenommen werden, daß die Einwohner dem, was wir den
materiellen Aspekt der Stadt nennen, eine sehr ungleich starke Aufmerksamkeit schenken,
daß aber die Mehrzahl zweifellos das Verschwinden einer bestimmten Straße, eines
bestimmten Gebäudes, eines Hauses sehr viel stärker empfinden würde als die
schwerwiegendsten nationalen, religiösen, politischen Ereignisse. Deshalb schwächt sich die
Auswirkung der Umwälzungen, die die Gesellschaft wanken machen, ohne die Physiognomie
der Stadt zu ändern, ab, wenn man in diejenigen Kategorien des Volkes eindringt, die enger
mit dem Gemäuer als mit den Menschen verbunden sind: beispielsweise der Schuster, der
Handwerker mit seiner Werkstatt, der Kaufmann mit seinem Laden, mit dem Marktplatz, auf
dem man ihn gewöhnlich findet; der Spaziergänger mit den Straßen, die er überquert, mit den
Balustraden der Uferpromenaden, auf denen er entlangbummelt, mit den Gartenterrassen; die
Kinder mit einem Fleckchen des Platzes, auf dem sie spielen; der Greis mit der
sonnenbeschienenen Mauer, der Steinbank; der Bettler mit dem Eckstein, an dem er
niederkauert. So dauern nicht nur Häuser und Gemälde Jahrhunderte hindurch fort, sondern
der gesamte Teil der Gruppe, der unaufhörlich mit ihnen in Berührung ist und dessen Leben
mit dem

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der Dinge verschmilzt, bleibt ebenfalls unberührt, da er sich nicht dafür interessiert, was in
Wirklichkeit außerhalb seines engsten Lebens und unmittelbarsten Gesichtskreises geschieht.
Die Gruppe bemerkt also, daß ein Teil ihrer selbst ihren Leidenschaften, Hoffnungen und
Ängsten gegenüber gleichgültig bleibt: und diese Passivität der Menschen verstärkt den
Eindruck, der sich aus der Unbeweglichkeit der Dinge ergab. Ebenso aber ist es mit den
Schlägen, die eine bestimmte, begrenztere Gruppe erschüttern, die auf den Banden des Blutes,
der Freundschaft, der Liebe, der Trauerfälle, der Entzweiungen, des Spiels der Leidenschaften
und Interessen begründet ist. Wenn man dann unter dem Eindruck einer derartigen
Erschütterung hinaus durch die Straßen geht, ist man erstaunt, daß das Leben um uns herum
weitergeht als sei nichts geschehen, daß sich fröhliche Gesichter an den Fenstern zeigen, daß
Worte zwischen an einer Kreuzung stehenden Passanten, zwischen Käufern und Händlern auf
der Schwelle der Läden gewechselt werden, während wir, unsere Familie, unsere Freunde den
Sturm einer Katastrophe über uns dahinziehen fühlen. Das bedeutet, daß wir und unsere
Nächsten nur einige Einheiten innerhalb dieser Menge darstellen. Gewiß, jeder von denen, die
ich traf, würde, einzeln genommen und in seine Familie und die kleine Gruppe seiner Freunde
zurückversetzt, fähig sein, mit mir zu fühlen, wenn ich ihm meinen Kummer oder meine
Sorgen entdeckte. Von den Menschenströmen erfaßt, die sich die Straßen entlang bewegen —
sei es, daß sie als Masse auftreten, sei es, daß sie auseinanderstreben und sich gegenseitig zu
fliehen und zu meiden scheinen —, gleichen sie jedoch gegeneinandergepreßten oder
bewegten Materiepartikeln, die teilweise den Trägheitsgesetzen der Natur gehorchen. So
erklärt sich ihre scheinbare Gefühllosigkeit, die wir ihnen — so wie der Natur ihre
Gleichgültigkeit — zu Unrecht vorwerfen würden; denn wenn sie uns auch verletzt, so trägt
sie doch dazu bei, uns zu beruhigen; sie richtet uns wieder auf, indem sie uns einen
Augenblick lang unter die Einwirkung der Welt und der physischen Kräfte stellt.
Um die Art von Einfluß genau zu erfassen, die die verschiedenen Anlagen einer Stadt auf die
Gruppen ausüben, die sich ihnen langsam angepaßt haben, müßte man in einer modernen
Großstadt vor allem die alten Viertel und diejenigen relativ isolierten Regionen beobachten,
die die Bewohner nur verlassen, um zur Arbeit zu gehen,

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und die gleichsam kleine, geschlossene Welten bilden — oder auch, selbst in den neuen
Stadtvierteln, die vor allem von Arbeitern bevölkerten Straßen und Boulevards, auf denen
diese sich zu Hause fühlen; denn zwischen der Wohnung und der Straße besteht ein ständiger
Austausch, und die nachbarlichen Beziehungen mehren sich durch ihn. In den kleineren
Städten aber, ein wenig abseits der großen Strömungen, oder in den Städten der orientalischen
Länder, in denen das Leben noch so geregelt ist und noch so gleichförmig verläuft wie bei uns
vor einem oder zwei Jahrhunderten, sind die lokalen Traditionen am beständigsten und
erscheint die Städtergruppe am deutlichsten als das, was sie anderswo in einem geringeren
Maße ist, nämlich als ein sozialer Körper, der in seinen Unterteilungen und seiner Struktur die
materielle Formgebung der Stadt, in der er eingeschlossen ist, wiedergibt. Zweifellos rührt die
innere Differenziertheit der Städte ursprünglich von einer Verschiedenheit der sozialen
Funktionen und Gebräuche her; aber während sich die Gruppe weiterentwickelt, ändert sich
das äußere Stadtbild sehr viel langsamer. Die lokalen Gewohnheiten setzen den Kräften, die
sie zu verändern bestrebt sind, Widerstand entgegen, und dieser Widerstand erlaubt am besten
wahrzunehmen, in welchem Maße das kollektive Gedächtnis sich in derartigen Gruppen auf
räumliche Bilder stützt. Tatsächlich wandeln sich die Städte im Laufe der Geschichte. Oft
werden infolge von Belagerungen, einer militärischen Besetzung, der Invasion von
plündernden Banden ganze Stadtviertel zerstört und bestehen nur noch als Ruinen fort.
Brände lassen in ihnen dunkle Einschnitte entstehen. Alte Häuser verfallen langsam. Früher
von Reichen bewohnte Straßen werden von notleidendem Volk überschwemmt, und ihr
Aussehen ändert sich. Städtische Bauarbeiten, die Anlage neuer Verkehrswege bringen
etliche Zerstörungen und Neubauten mit sich: die Baupläne überlagern einander. Die Vororte,
die sich um den Stadtgürtel herum entwickelt haben, werden an ihn angeschlossen. Das
Stadtzentrum verlagert sich. Die alten Viertel, eingeschlossen von hohen Neubauten, scheinen
das Schauspiel des Lebens von früher zu verewigen. Aber sie bieten uns ein Bild des Verfalls,
und es ist nicht sicher, daß ihre früheren Bewohner, wenn sie wiederkämen, sie
wiedererkennen würden.
Wenn zwischen den Häusern, den Straßen und den Gruppen ihrer Bewohner nur eine rein
zufällige Beziehung von kurzer Dauer be-

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stände, könnten die Menschen ihre Häuser, ihre Straßenviertel, ihre Stadt zerstören und auf
demselben Grund eine andere Stadt nach einem andersartigen Plan wiederaufbauen; aber
wenn die Steine sich auch versetzen lassen, so kann man doch nicht ebenso leicht die
Beziehungen verändern, die zwischen den Steinen und den Menschen entstanden sind. Wenn
eine menschliche Gruppe lange an einem ihren Gewohnheiten angepaßten Ort lebt, richten
sich nicht nur ihre Bewegungen, sondern richtet sich auch ihr Denken nach der Folge der
materiellen Bilder, die ihr die äußeren Gegenstände darbieten. Man lasse nun diese Häuser,
diese Straßen, diese Durchgänge verschwinden oder teilweise verschwinden oder modifiziere
ihre Richtung, ihre Anlage, ihre Form, ihr Aussehen oder nur die Lage, die sie zueinander
haben. Die Steine und Materialien werden einem keinen Widerstand entgegensetzen. Die
Gruppen aber werden Widerstand leisten, und in ihnen wird man sich am Widerstand wenn
nicht der Steine, so zumindest ihrer früheren Anordnung stoßen. Zweifellos ist diese frühere
Anordnung vormals das Werk einer Gruppe gewesen. Was eine Gruppe gemacht hat, kann
eine andere zerstören. Aber die Absicht der Menschen von damals hat in einer materiellen
Anordnung, d. h. in einer Sache Gestalt angenommen; und die Macht der lokalen Tradition
entstammt dieser Sache, deren Bild sie war. So ahmen die Gruppen mit einem ganzen Teil
ihrer selbst die Passivität der trägen Materie nach.

Lagen und Verlagerungen. Festhalten der Gruppe an ihrem Platz


Damit dieser Widerstand zutage tritt, muß er von einer Gruppe ausgehen. Hierin dürfen wir
uns in der Tat nicht täuschen. Gewiß ist es unvermeidlich, daß die Veränderungen einer Stadt
und das bloße Abreißen eines Hauses einige Individuen in ihren Gewohnheiten stören, sie
verwirren und bestürzen. Der Bettler, der Blinde sucht tastend die Mauerecke, an der er auf
die Passanten wartete. Der Spaziergänger vermißt die Baumallee, auf der er frische Luft
schöpfte, und ist betrübt darüber, mehr als nur einen malerischen Anblick dahinschwinden zu
sehen, der ihm dieses Straßenviertel lieb machte. Ein Einwohner, für den diese alten Mauern,
diese abgeblätterten Häuser, diese dunklen Durchgänge und diese Sackgassen zu seinem
kleinen Universum gehörten und für den viele Erinnerungen mit diesen jetzt ausgewischten
Bildern verknüpft sind, fühlt, daß mit

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diesen Dingen ein Teil seiner selbst dahingegangen ist, und bedauert, daß sie nicht zumindest
so lange fortbestanden haben, wie ihm noch zu leben bleibt. Ein solches Bedauern oder eine
solche individuelle Betrübnis bleiben ohne Wirkung, denn sie berühren nicht die
Kollektivität. Eine Gruppe hingegen begnügt sich nicht damit zu zeigen, daß sie leidet, sich
zu empören und augenblicklich zu protestieren. Sie leistet mit der ganzen Kraft ihrer
Traditionen Widerstand, und dieser Widerstand bleibt nicht wirkungslos. Die Gruppe sucht —
und teilweise gelingt es ihr — in den neuen Verhältnissen ihr früheres Gleichgewicht
wiederzufinden. Sie versucht, sich in einem Stadtviertel oder einer Straße, die nicht mehr für
sie gemacht sind, sich aber an der Stelle befinden, wo sie gelebt hat, aufrechtzuerhalten oder
neuzubilden. Alte aristokratische Familien, ein altes städtisches Patriziertum verlassen lange
Zeit nur ungern das Stadtviertel, in dem sie bis zur Gegenwart und seit undenklichen Zeiten
ihren Wohnsitz hatten, obwohl es um sie herum einsam wird und neue, reiche Viertel sich an
anderen Stellen entwickeln — mit breiteren Straßen, nahen Parkanlagen, luftiger, belebter
und moderner. Aber auch die arme Bevölkerung läßt sich nicht widerstandslos verpflanzen,
ohne wiederholt aggressiv zurückzukehren und, selbst wenn sie weicht, ohne etliche Teile
ihrer selbst zurückzulassen. Hinter den neuen Fassaden, an den Zufahrten der von reichen,
unlängst errichteten Häusern eingefaßten Avenuen, in den Höfen, auf den Alleen, in den
umliegenden Sträßchen sucht das volkstümliche Leben ehemaliger Zeiten Schutz und weicht
nur Schritt für Schritt zurück. So ist man überrascht, inmitten neuer Stadtviertel auf
archaische Eilande zu stoßen. Es ist recht merkwürdig, daß man selbst nach einem
Zeitabschnitt, in dem scheinbar nichts von ihnen fortbestand, die früheren
Vergnügungsetablissements, die kleinen Theater, die mehr oder weniger undurchsichtigen
Geldstuben, die Trödlerläden usw. in vollkommen verwandelten Stadtvierteln
wiederauftauchen sieht. Ebenso ist es vor allem mit dem Handwerk, den kleinen
Gewerbetreibenden und all den ein wenig veralteten Erwerbsarten, die kaum noch ihren Platz
in den modernen Städten haben. Sie bestehen auf Grund ihrer angesammelten Kräfte fort und
würden zweifellos verschwinden, wenn sie nicht hartnäckig an dem Ort festhielten, der ihnen
ehemals vorbehalten war. Man findet kleine Läden, die nur dadurch eine Kundschaft haben,
daß sie sich seit undenklichen Zeiten an einem Ort befinden,
136

der die Aufmerksamkeit des Publikums auf sie lenkt. Es gibt alte Hotels, die aus der Epoche
der Pferdekutschen stammen, in denen man einfach deswegen noch absteigt, weil sie an
einem Ort liegen, der sich im Gedächtnis der Einwohner von allen anderen abhebt. All diese
Überbleibsel und Gewohnheiten können nur durch eine Art kollektiven Automatismus erklärt
werden, eine in bestimmten Händler- und Kundenkreisen fortbestehende Unbeweglichkeit des
Denkens. Wenn diese Gruppen sich nicht schneller anpassen, wenn sie in vielen Umständen
eine außerordentliche Fähigkeit des Sichnichtanpassens an den Tag legen, so weil sie früher
ihre Grenzen und ihre Reaktionen so genau auf eine gegebene Form des äußeren Milieus
abgestimmt haben, daß sie zu einem wesentlichen Bestandteil der Mauern wurden, gegen die
sie ihre Werkstätten bauten, der Pfeiler, die sie umrahmten, der Gewölbe, die ihnen Schutz
boten. Ihren Platz im Winkel einer Straße, im Schatten einer Mauer oder einer Kirche zu
verlieren, hieße für sie, die Stütze einer sie empfehlenden Tradition, d. h. ihre einzige
Daseinsberechtigung zu verlieren. So erklärt sich, daß von den abgerissenen Gebäuden, den
verwischten Straßen lange Zeit einige materielle Überreste fortbestehen, und sei es nur die
traditionelle Benennung einer Straße, eines Platzes, oder sei es ein Ladenschild: „Zur alten
Pforte", „Zur alten Pforte Frankreichs".

Gruppierungen, die scheinbar keine räumlichen Grundlagen haben: juristische,


wirtschaftliche und religiöse Gruppierungen
Die Gruppen, von denen wir bisher gesprochen haben, sind natürlicherweise an einen Ort
gebunden; denn gerade die Tatsache, einander räumlich nahe zu sein, läßt zwischen ihren
Mitgliedern soziale Beziehungen entstehen: eine Familie, ein Haushalt kann äußerlich als die
Gesamtheit der Personen definiert werden, die in demselben Haus, derselben Wohnung und
— wie man bei Volkszählungen sagt — „unter demselben Schlüssel" leben. Wenn die
Einwohner einer Stadt oder eines Stadtviertels eine kleine Gesellschaft bilden, so weil sie
innerhalb desselben räumlichen Bereiches vereint sind. Selbstverständlich ist dies nur eine der
Voraussetzungen für die Existenz dieser Gruppen, aber eine grundlegende und durchaus
augenfällige Voraussetzung. Nicht ganz genau so ist es mit den anderen sozialen
Formationen. Man kann sogar sagen, daß die meisten von ihnen da-

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zu neigen, die Menschen vom Raum loszulösen, da sie von dem Ort, an dem diese leben,
absehen und in ihnen nur Eigenschaften anderer Art in Betracht ziehen. Die Bande selbst der
Verwandtschaft sind nicht auf das Zusammenleben beschränkt, und die städtische Gruppe ist
etwas anderes als eine Summe nebeneinanderlebender Individuen. Die juristischen
Beziehungen sind darauf begründet, daß die Menschen Rechte haben und Verpflichtungen
eingehen können, die zumindest in unseren Gesellschaften — nicht von ihrer Stellung
innerhalb des äußeren Milieus abhängig zu sein scheinen. Die wirtschaftlichen Gruppen
ergeben sich nicht aus dem Platz, den die Menschen im Raum einnehmen, sondern aus der
Rolle, die sie innerhalb des Produktionsprozesses spielen, d. h. aus einer Vielfältigkeit von
Funktionen und ebenso aus den verschiedenen Arten der Entlohnung und der Güterverteilung;
auf wirtschaftlichem Gebiet werden die Menschen den der Person und nicht dem Ort eigenen
Qualitäten zufolge unterschieden und einander zugeordnet. Noch mehr trifft dies auf die
religiösen Gesellschaften zu: sie beruhen auf einer Glaubensgemeinschaft, deren Gegenstand
immaterielle Wesen sind; diese Vereinigungen knüpfen zwischen ihren Mitgliedern
unsichtbare Bande und interessieren sich vor allem für den inneren Menschen. Alle diese
Gruppen überlagern die lokalen Gesellschaften. Weit davon entfernt, mit ihnen eins zu
werden, zerlegen sie diese Gesellschaften Regeln zufolge, die in keiner Beziehung zu der
äußeren Form des Raumes stehen. Deshalb genügt es nicht, die Tatsache in Betracht zu
ziehen, daß bestimmte Menschen an demselben Ort versammelt sind, und das Bild dieses
Ortes im Gedächtnis zu behalten, um entdecken und sich in Erinnerung rufen zu können,
welchen Gesellschaften sie angehören.
Wenn man indessen sehr kurz — wie wir es soeben getan haben — die bedeutendsten
kollektiven Formationen, die sich von den zuvor untersuchten lokalen Gruppen
unterscheiden, an sich vorüberziehen läßt, bemerkt man, daß sie schwierig zu beschreiben
sind, wenn man jegliches räumliche Bild beiseite läßt. Diese Schwierigkeit ist um so größer,
je weiter man in die Vergangenheit zurückgeht. Wir sagten, daß die juristischen Gruppen
durch die Rechte und Pflichten ihrer Mitglieder definiert werden können. Wir wissen jedoch,
daß der Leibeigene früher an die Scholle gebunden war, und

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daß für einen gemeinen Landarbeiter das einzige Mittel, der Knechtschaft zu entgehen, darin
bestand, sida in eine städtische Gemeinschaft aufnehmen zu lassen. Der juristische Status
eines Menschen ergab sich also aus dem Ort, an dem er wohnte — auf dem Lande oder in
einem Marktflecken. Das Regime, dem die verschiedenen Landgebiete unterworfen waren,
war im übrigen nicht überall gleich, und andererseits garantierten die Freibriefe der
verschiedenen Gemeinden diesen nicht die gleichen Privilegien. Man hat gesagt, das
Mittelalter sei das Zeitalter des Partikularismus gewesen, und tatsächlich gab es damals eine
Menge von Regierungsformen, die je nach dem Ort verschieden waren — so daß, wenn sie
wußten, wo sich der Wohnort eines Menschen befand, die anderen und er selbst zugleich über
seinen Status unterrichtet waren. Es ist unmöglich, das Funktionieren der Justiz und des
gesamten Steuersystems zu beschreiben — vor der Zeit, die man die Moderne nennt —, ohne
auf jede Einzelheit der territorialen Unterteilungen einzugehen: denn jede Provinz, in England
jede Grafschaft, jeder Marktflecken hat lange Zeit sein eigenes Rechtswesen und seine
eigenen Gebräuche gehabt. Vom Anbeginn der Moderne an verdrängen beispielsweise in
England die königlichen Gerichte allmählich die Gerichtshöfe der Schlösser, und in
Frankreich sind seit der Revolution alle Bürger rechtlich und steuerlich gleichgestellt. Daher
besteht gegenwärtig eine größere Einheitlichkeit: die verschiedenen Teile eines Landes
weisen nicht mehr so viele unterschiedliche Formen des Rechtswesens auf. Aber das
kollektive Denken beschäftigt sich nicht mit den Gesetzen — abgesehen von den lokalen
Verhältnissen, auf die sie angewendet werden. Es befaßt sich vielmehr mit diesen
Verhältnissen selbst. Die indessen sind sehr verschiedenartig; denn, indem man die Regeln
vereinheitlichte, hat man nicht auch die Bodenverhältnisse und die Lebensverhältnisse der
Menschen einander angleichen können. Deshalb bewahrt vor allem auf dem Lande ein
Unterschied der räumlichen Lage einige juristische Bedeutung. Einem Landnotar oder einem
Dorfbürgermeister rufen die Wiesen, Felder, Wälder, Gehöfte und Häuser Eigentumsrechte,
Kaufverträge, Dienstbarkeiten, Hypotheken, Mietverträge, Grundstücksaufteilungen, d. h.
eine ganze Reihe juristischer Akte und Situationen in Erinnerung, die das bloße Bild dieses
Landstriches, so wie es einem Fremden erscheint, nicht enthält, die jedoch im juristischen
Gedächtnis der bäuerlichen

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Gruppe in diesem Bild einander überlagern. Diese Erinnerungen sind mit den verschiedenen
Teilen des Erdbodens verbunden. Wenn sie sich aufeinander stützen, so weil die Parzellen,
auf die sie sich beziehen, nebeneinanderliegen. Wenn die Erinnerungen im Denken der
Gruppe bewahrt werden, so weil diese auf dem Boden seßhaft bleibt, weil das Bild des
Bodens außerhalb ihrer selbst fortdauert und weil sie es sich jederzeit wieder vor Augen
führen kann.
Es ist wahr, daß auf dem Lande alle Verhandlungen und alle Vertragsabschlüsse auf den
Erdboden abzielen. In einer Stadt aber verteilt sich das juristische Denken der Gruppe über
andere materielle Rahmen hin, erstreckt sich auf andere sichtbare Gegenstände. Auch hier
werden ein Notar oder ein Auktionator durch Personen, deren Interessen sie vertreten oder in
deren Namen sie Rechtsübertragungen vornehmen, dazu veranlaßt, an die Dinge zu denken,
auf die sich diese Interessen oder diese Redite beziehen. Es kann sein, daß diese Dinge, wenn
die Kunden das Notariat verlassen haben oder wenn die Versteigerung beendet ist, entfernt
werden und ihnen nicht mehr vor Augen kommen: aber der Notar wird sich an die Lage des
Hauses erinnern, das verkauft, zur Mitgift gemacht, vererbt worden ist. Der Auktionator wird
die Erinnerung an die Mindestgebote, an das Überbieten, an den Zuschlag mit einem
bestimmten Möbelstück oder Kunstwerk verbinden, das er nicht mehr wiedersehen wird, das
jedoch einer bestimmten Kategorie gleichgearteter Gegenstände zugehört: diese aber sind ihm
stets gegenwärtig, da sie ihm unaufhörlich vor Augen kommen.
Zweifellos ist es anders, was die die Diensthandlungen betreffenden Abmachungen und
sämtliche Börsen- und Bankgeschäfte angeht. Die Leistungen eines Arbeiters, die Tätigkeit
eines Angestellten, die Behandlung eines Arztes, die Beratung eines Rechtsanwalts usw. sind
keine Dinge, die einen räumlich definierten und festen Platz innehaben. Was die durch Aktien
und Depots dargestellten Werte, was die Wertpapiere und Schuldbriefe anbetrifft, so
verbinden wir sie kaum mit einem bestimmten Ort: wir befinden uns hier in der Welt des
Geldes und der geldlichen Abmachungen, einer Welt, in der man von den einzelnen
Gegenständen absieht und in der das, was man dazugewinnt oder was man abgibt, immer nur
die Fähigkeit ist, irgendetwas zu erwerben oder abzutreten. Trotzdem werden die Dienste und
die Arbeiten an einem Ort geleistet und ausgeführt: die

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Arbeit oder die Dienstleistung behält ihren Wert für den Arbeitgeber, der sie kauft, nur unter
der Bedingung, daß sie an einem bestimmten Ort, in einem bestimmten Büro, in einer
bestimmten Fabrik gebraucht wird. Wenn ein Arbeitsgerichtsrat oder ein
Gewerkschaftssekretär an einer Fabrik vorübergeht oder sich ihre Lage vergegenwärtigt, ist
dieses Bild nur ein Teil eines ausgedehnteren räumlichen Rahmens, der alle Fabriken umfaßt,
deren Arbeiter und Arbeitgeber sich an ihn wenden, und der ihr erlaubt, die Erinnerung an
Lohnverträge und ihre Modalitäten wiederzufinden, an die Streitigkeiten, zu denen sie Anlaß
gegeben haben, und ebenso an alle Gesetze, Regeln und lokale oder berufliche Gebräuche, die
die Stellung und die gegenseitigen Redite der Arbeitnehmer und Arbeitgeber bestimmen. Was
die finanziellen Geschäfte und den Bankverkehr anbetrifft, so finden sie innerhalb des
räumlichen Rahmens der Kreditanstalten statt, zu denen wir haben hingehen müssen, um
unsere Unterschrift unter Anweisungen zu setzen, um Gelder abzuheben oder einzuzahlen:
zweifellos ruft uns das Bild der Bank nur eine geringe Anzahl bestimmter Verfahren ins
Gedächtnis, sondern eher eine regelmäßige Folge von Vorgängen, die sich kaum
unterscheiden und von denen wir uns nur einen allgemeinen Begriff machen. Aber gerade
darin besteht gewöhnlich der gesamte Inhalt einer solchen Art von Gedächtnis, das sich kaum
nur bis auf die nahe Vergangenheit erstreckt. Notar, Bürgermeister, Auktionator,
Arbeitsgerichtsrat, Gewerkschaftssekretär: wir haben diese Personen als Beispiele gewählt,
weil in ihnen das Erinnerungsvermögen an die Rechtsverhältnisse und die juristischen Akte,
die mit der Ausübung ihrer Funktion verbunden sind, die größte Ausdehnung und
Deutlichkeit erreichen muß; aber sie stellen einen Brennpunkt dieses Gedächtnisses dar, das
selber kollektiv ist und das sich auf die gesamte juristische Gruppe erstreckt — auf die
bäuerliche Gemeinschaft, die An- und Verkaufsgenossenschaft, die auf dem Austausch von
Dienstleistungen beruhende Gemeinschaft usw. Es hat genügt, darzulegen, daß dieses
Gedächtnis sich bei den Menschen, in denen es am deutlichsten Gestalt annimmt, auf
bestimmte örtliche Verhältnisse stützt, um vermuten zu können, daß es bei allen Mitgliedern
der Gruppe genauso ist. Die verschiedenen Dinge und die räumlich unterschiedlichen
Verhältnisse haben in ihren Augen eine bestimmte Bedeutung im Hinblick auf die Rechte und
Pflichten, die mit ihnen verbunden sind, und deshalb

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bleiben sie, da sie nicht aus diesem materiellen Kreis heraustreten, gleichzeitig in eine von
juristischen Beziehungen bestimmte Welt eingeschlossen, Beziehungen, die in der
Vergangenheit entstanden sind, ihnen aber stets gegenwärtig bleiben.
Auf die gleiche Weise könnte man dies bei vielen anderen Arten von Gesellschaften
aufzeigen. Es ist zum Beispiel nicht notwendig, aufs Land zu gehen, um dort festzustellen,
daß der Bauernhof das Wohnhaus und gleichzeitig das Gebäude ist, in dem, um das herum
und für das man arbeitet — auch nicht, daß man die Altstädte durchwandert und dort die
Straßennamen „Gerberstraße", „Goldschmiedstraße" liest, um eine Epoche
heraufzubeschwören, in der die Berufszweige örtlich gruppiert waren. In unseren modernen
Gesellschaften unterscheiden sich die Arbeitsstätten deutlich von den Häusern, in denen man
wohnt; wie die Fabrikhallen umrahmen das Büro und der Laden täglich die Arbeitsgruppen
oder Belegschaften, die dort ihre Aufgabe erfüllen. Diese kleinen wirtschaftlichen Gruppen
beruhen durchaus auf einer räumlichen Basis. Ebenso unterscheiden sich in den Großstädten
die Stadtviertel durch die mehr oder minder stark hervortretende Vorherrschaft eines
bestimmten Berufs- oder Industriezweiges, durch einen bestimmten Grad an Armut oder
Reichtum. So rollen vor den Blicken des Spaziergängers alle Nuancen der Lebensverhältnisse
ab, und es gibt kaum eine Stadtgegend, der diese oder jene soziale Klasse nicht ihr Gepräge
gegeben hätte.
Was die Religionen anbetrifft, so sind sie fest im Boden verwurzelt — nicht nur, weil dies
eine für alle Menschen und alle Gruppen zwingende Daseinsbedingung ist; sondern eine
Gesellschaft von Gläubigen ist genötigt, die größtmögliche Anzahl der Ideen und Bilder, aus
denen sich ihr Denken nährt, über die verschiedenen Bereiche des Raumes zu verteilen. Es
gibt geheiligte Stätten, andere, die religiöse Erinnerungen heraufbeschwören, es gibt profane
Orte — manche sind von Feinden Gottes bevölkert, an ihnen muß man Augen und Ohren
verschließen, auf manchen lastet ein Fluch. Heutzutage gehen wir in einer alten Kirche oder
im Kreuzgang eines Klosters zerstreut über die Platten hin, die die Lage der Grüften
bezeichnen, und versuchen nicht, die in den Stein, auf den Boden oder in die Mauer des
Allerheiligsten gravierten Buchstaben zu entziffern. Solche Inschriften boten sich
unaufhörlich den Blicken derer dar, die sich in diesem Kloster einschlössen, die lange in
dieser Kirche

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verweilten; und durch diese Grabsteine sowie durch die den Heiligen geweihten Altäre,
Statuen und Bilder wurde der Raum, der die Gläubigen umgab und in dessen Mitte sie
verweilten, von religiöser Bedeutung durchdrungen. Wir würden uns eine sehr ungenaue
Vorstellung von der Art machen, in der sich ihrem Gedächtnis die Erinnerungen an die
Zeremonien, an die Gebete und all das Tun und Denken einordneten, das ein gottesfürchtiges
Leben erfüllt, wenn wir nicht wüßten, daß jeder von ihnen Platz in irgendeinem Teile dieses
Raumes fand.

Das Sicheinfügen des kollektiven Gedächtnisses in den Raum


So gibt es kein kollektives Gedächtnis, das sich nicht innerhalb eines räumlichen Rahmens
bewegt. Der Raum indessen ist eine Realität, die andauert: unsere Eindrücke jagen einander,
nichts bleibt in unserem Geist haften, und es wäre unverständlich, daß wir die Vergangenheit
wiedererfassen können, wenn sie nicht tatsächlich durch das materielle Milieu aufbewahrt
würde, das uns umgibt. Dem Raum, unserem Raum, in dem wir leben, den wir oft
durchmessen, zu dem wir stets Zugang haben und den unsere Einbildungskraft oder unser
Denken auf jeden Fall jederzeit zu rekonstruieren fähig ist, müssen wir unsere
Aufmerksamkeit zuwenden; auf ihn muß unser Denken sich heften, wenn eine bestimmte
Kategorie von Erinnerungen wiederauftauchen soll.
Man wird sagen, daß es in der Tat weder eine Gruppe noch eine kollektive Tätigkeitsart gibt,
die nicht in irgendeiner Beziehung zu einem Ort steht, d.h. zu einem Teil des Raumes, daß
dies jedoch keineswegs hinreichend erklärt, daß man, wenn man sich das Bild des Ortes
vergegenwärtigt, veranlaßt wird, an eine bestimmte, mit ihm verbundene Unternehmung der
Gruppe zu denken. Jedes Bild hat in der Tat einen Rahmen, aber es besteht keine enge und
notwendige Beziehung zwischen dem einen und dem anderen, und dieser kann jenes nicht
Wiederaufleben lassen. Dieser Einwand wäre gültig, wenn man unter „Raum" nur den
physikalischen Raum verstehen würde, d. h. die Gesamtheit der Formen und Farben, so wie
wir sie um uns herum wahrnehmen. Aber ist dies wirklich für uns der ursprüngliche Rahmen?
Nehmen wir wirklich auf diese Weise gewöhnlich und am häufigsten das äußere Milieu
wahr? Es ist schwer zu erfahren, was der Raum für einen wirklich isolierten Menschen

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wäre, der keiner Gesellschaft angehören würde oder angehört hätte. Fragen wir uns einmal, in
welche Verhältnisse wir uns hineinversetzen müßten, wenn wir nur die physikalischen und
sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften der Dinge erfassen wollten. Wir müßten die
Gegenstände aus einer Menge unser Denken bedingender Beziehungen herauslösen, die einer
bestimmten Anzahl von Betrachtungsweisen entsprechen, d. h. uns selber von allen Gruppen
loslösen, denen wir angehören, die zwischen den Gegenständen bestimmte Beziehungen
herstellen, und sie aus einer bestimmten Sicht heraus sehen. Dies würde uns im übrigen nur
gelingen, wenn wir die Haltung einer ganz bestimmten anderen Gruppe einnehmen würden —
der der Physiker oder der Künstler, mögen wir nun vorgeben, unser Augenmerk auf gewisse
abstrakte Eigenheiten der Materie zu heften oder auf die Linien und die Nuancen der
Gestalten und Landschaften. Wenn wir eine Gemäldegalerie verlassen und uns an einem
Flußufer, einem Parkeingang oder auf einer belebten Straße wiederfinden, erfahren wir noch
den Einfluß der Gesellschaft der Maler und sehen die Dinge nicht so, wie sie sind, sondern so
wie sie denen erscheinen, die sich allein bemühen, ihr Bild wiederzugeben. Nichts ist in der
Tat natürlicher. Gewiß, die Erinnerungen, die die anderen Gruppen interessieren, können
nicht in den Raum der Gelehrten und der Maler eingehen und in ihm aufbewahrt werden. Es
könnte auch nicht anders sein, denn der Raum der Gelehrten und der Künstler ist unter
Ausschaltung der anderen Räume geschaffen worden Das aber beweist nicht, daß diese nicht
ebenso wirklich sind wie jener...

Der juristische Raum und das Rechtsgedächtnis*


Der juristische Raum ist kein leeres Milieu, das nur eine unbestimmte Möglichkeit rechtlicher
Beziehungen zwischen den Menschen symbolisieren würde: wie könnte dann ein bestimmter
Bereich dieses Raumes an eine ganz bestimmte Beziehung und keine andere erinnern?
Betrachten wir einmal das Eigentumsrecht, das zweifellos die Grundlage jedes juristischen
Denkens bildet, nach dessen Muster und von dem aus begreiflich wird, auf welche Weise alle
anderen

*) Vor dieser Analyse des juristischen Raumes wurde im Manuskript flüchtig eine Analyse
des geometrischen Raums entworfen; dieser Entwurf aber ist zu formlos geblieben, um
veröffentlicht zu werden.

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Verpflichtungen definiert worden sind. Es ergibt sich daraus, daß die Gesellschaft eine
Haltung — und eine dauerhafte Haltung — einem bestimmten Teil des Bodens oder einem
bestimmten materiellen Gegenstand gegenüber einnimmt. Während der Boden unbeweglich
ist, während die materiellen Gegenstände, wenn sie auch nicht stets am Ort bleiben, doch
dieselben Eigenschaften und dasselbe Aussehen bewahren — so daß man sie verfolgen und
sich dessen versichern kann, daß sie sich zu allen Zeiten gleichbleiben —, kommt es vor, daß
die Menschen den Ort wechseln und daß sich ebenso ihre Neigungen und Fähigkeiten, ihre
Kräfte und Befugnisse verändern. Nun aber erwirbt ein Mensch oder erwerben Menschen ein
Eigentumsrecht auf ein Grundstück oder eine Sache erst von dem Augenblick an, in dem die
Gesellschaft, deren Mitglieder sie sind, gelten läßt, daß eine permanente Beziehung zwischen
ihnen und diesem Grundstück oder dieser Sache besteht, oder daß diese Beziehung ebenso
unveränderlich ist wie die Sache selber. Das ist ein Übereinkommen, das der Wirklichkeit
Gewalt antut, da die Individuen sich unaufhörlich ändern. Welches Prinzip man auch anführt,
um das Eigentumsrecht zu begründen, es erlangt erst dann irgendeinen Wert, wenn das
kollektive Gedächtnis eingreift, um seine Anwendung zu garantieren. Wie würde man
beispielsweise wissen, daß ich als erster einen bestimmten Teil des Bodens in Besitz
genommen oder urbar gemacht habe oder daß ein bestimmtes Gut das Produkt meiner Arbeit
ist, wenn man nicht auf einen früheren Stand der Dinge Bezug nehmen würde und wenn man
nicht übereinkäme, daß sich die Lage nicht geändert hat — und wer könnte die Tatsache, auf
die ich mein Recht gründe, den Ansprüchen der anderen entgegenhalten, wenn die Gruppe sie
nicht in der Erinnerung bewahrte? Das Gedächtnis aber, das die Permanenz dieser Lage
garantiert, stützt sich selber auf die Permanenz des Raumes oder zumindest auf die
Permanenz der Haltung, die die Gruppe diesem Bereich des Raumes gegenüber eingenommen
hat. Man muß hier die Dinge und die Zeichen oder Symbole, die die Gesellschaft mit ihnen
verbunden hat und die, wenn die Gruppe ihre Aufmerksamkeit auf die äußere Welt richtet,
ihrem Denken stets gegenwärtig sind, als ein Ganzes betrachten. Nicht, daß diese Zeichen
außerhalb der Dinge bestünden und ihre Beziehung zu ihnen nur willkürlich und künstlich
wäre. Als man nach der Eroberung Englands die Magna Charta aufstellte,

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erteilte man den Boden nicht auf dem Papier, sondern zeichnete die Machtbefugnisse auf, die
die Barone, unter die er verteilt worden war, über seine verschiedenen Teile besaßen. Ebenso
ist es jedesmal, wenn man ein Grundbuch anlegt oder in einer Urkunde das Bestehen
irgendeines Eigentumsrechtes erinnerlich macht. Die Gesellschaft stellt nicht nur eine
Beziehung zwischen dem Bild eines Ortes und einem Schriftstück her. Sie zieht den Ort nur
als schon mit einer Person verbunden in Betracht — sei es, daß diese ihn mit Grenzsteinen
und Zäunen umgeben hat, sei es, daß sie auf ihm gewöhnlich ihren Wohnsitz hat, ihn
ausbeutet oder für sich ausbeuten läßt. All dies können wir den juristischen Raum nennen,
einen zumindest innerhalb bestimmter Grenzen permanenten Raum, der dem kollektiven
Gedächtnis jederzeit erlaubt, sich bei seiner Wahrnehmung an die mit ihm verbundenen
Rechte zu erinnern.
Es ist nicht nur die Beziehung zwischen Mensch und Ding, es ist der Mensch selbst, von dem
man annimmt, daß er unbeweglich ist und sich nicht verändert, wenn man an das Recht der
Menschen auf die Dinge denkt. Gewiß, in der bäuerlichen Gemeinschaft, im Büro eines
Notars, vor einem Gericht sind die Rechte, auf die man verweist, durchaus auf bestimmte
Personen bezogen. Aber in dem Maße, wie sich das Denken dem juristischen Aspekt der
Tatsachen zuwendet, behält es von der Person nur die Eigenschaft, in der sie in Erscheinung
tritt, zurück: als Titular eines zuerkannten oder bestrittenen Rechts, als Eigentümer, als
Nutznießer, als Beschenkter, als Erbe usw. Während indessen ein Mensch sich von einem
Augenblick zum anderen ändert — als auf eine juristische Eigenschaft reduziert, ändert er
sich nicht. Man spricht rechtlich wohl vom Willen, vom Willen der Parteien beispielsweise,
aber man versteht darunter die Absicht, die sich aus der juristischen Eigenschaft einer Person
ergibt — eine Absicht, die bei allen Personen mit der gleichen Eigenschaft während der
gesamten Zeit, in der sich die juristische Lage nicht ändert, als gleich angesehen wird. Diese
Tendenz, von allen individuellen Eigenheiten abzusehen, sobald man sich mit Rechtspersonen
befaßt, erklärt zwei dem juristischen Geist konforme Fiktionen. Wenn ein Mensch stirbt und
einen natürlichen Erben hinterläßt, sagt man: „Le mort saisit le vif" (Der gesetzliche Erbe
braucht kein besonderes Testament), d. h. daß alles so gehandhabt wird, als entstehe keine
Unterbrechung in der Ausübung der Rechte, als bildeten die Person

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des Erben und die des „de cuius" eine Einheit. Andererseits setzt man voraus, wenn sich
mehrere Personen vereinigen, um Güter zu erwerben und zu verwerten, daß die Gesellschaft,
die sie bilden, eine juristische Person ist, die sich nicht ändert, solange der
Gesellschaftsvertrag fortbesteht — selbst dann nicht, wenn alle Mitglieder dieser
Gemeinschaft aus ihr ausgetreten und durch andere ersetzt worden sind. So dauern die
Personen fort, weil die Dinge fortdauern, und so kann ein Prozeß, der um ein Testament
begonnen worden ist, jahrelang fortgeführt und erst definitiv entschieden werden, nachdem
mehr als ein Menschenleben verflossen ist. Solange die Güter bestehen bleiben, irrt sich das
Gedächtnis der juristischen Gesellschaft nicht.
Aber das Eigentumsrecht erstreckt sich nicht allein auf den Grund und Boden oder auf
materielle und bestimmte Gegenstände. In unseren Gesellschaften ist der Reichtum an
beweglichen Gütern stark angewachsen, und, weit davon entfernt, an ihrem Platz zu bleiben,
zirkulieren diese Güter unaufhörlich und entziehen sich unseren Blicken. Alles läßt sich wohl
auf die zwischen Gläubigern und Schuldnern vertraglich eingegangenen Verpflichtungen
beziehen: aber der Gegenstand des Vertrages befindet sich nicht unveränderlich an einem Ort;
denn er besteht in Geld oder Schulden, d. h. in abstrakten Zeichen. Andererseits gibt es etliche
andere Verpflichtungen, die keineswegs Sachen betreffen und die einer Partei bestimmte
Redite auf Dienstleistungen, Handlungen und auch auf Verzichte von Seiten der anderen
Partei geben: da wo allein Personen miteinander in Beziehung treten und es sich nicht mehr
um Güter handelt, scheint es auch, als verlasse man den Raum. Nichtsdestoweniger versetzt
jeder Vertrag, selbst dann, wenn er keine Sachen betrifft, beide Parteien in eine Lage, die,
solange der Vertrag gültig bleibt, als unveränderlich angesehen wird. Dies ist eine weitere von
der Gesellschaft aufgebrachte Fiktion — einer Gesellschaft, die, sobald die Klauseln eines
Vertrages festgelegt sind, die Parteien als gebunden betrachtet. Aber es ist unmöglich, daß die
Unbeweglichkeit der Personen und die Permanenz ihrer gegenseitigen Haltungen sich nicht in
materieller Form ausdrücken und sich nicht im Raum abzeichnen. Jede Partei muß durchaus
jederzeit wissen können, wo die andere zu finden ist, und beide Parteien müssen ebenfalls
wissen können, wo sich die

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Linie befindet, die die Machtbefugnisse abgrenzt, die die eine über die andere hat.
Die Extremform, in der sich die Machtbefugnisse einer Person über eine andere zeigen, ist das
Redit, nach dem man früher Sklaven hielt. Der Sklave, es ist wahr, war nur ein auf das Niveau
einer Sache herabgewürdigter Mensch: es bestand kein Vertrag zwischen Herr und Sklave,
und das Eigentumsrecht erstreckte sich auf diesen in gleicher Weise wie auf die anderen
Güter. Die Sklaven waren indessen Menschen, die, im Unterschied zu den Dingen, die Rechte
ihrer Herren beeinträchtigen konnten, sei es auch nur dadurch, daß sie ihre Freiheit auf Grund
von falschen Papieren forderten oder daß sie flohen oder Selbstmord begingen. Deshalb besaß
der Sklave einen juristischen Status, der allein, es ist wahr, Verpflichtungen und keinerlei
Redite mit sich brachte. Nun waren in den Häusern der Antike die den Sklaven vorbehaltenen
Räumlichkeiten von anderen getrennt, in die sie nur eintreten konnten, wenn sie den Befehl
dazu erhielten — und die Trennung dieser beiden Teile des Raumes genügte, um im Geiste
der Herren wie dem der Sklaven das Bild der unbeschränkten Rechte der einen über die
anderen für immer festzulegen. Fern von den Blicken des Herrn konnte der Sklave seine
Knechtschaft vergessen. Betrat er einen der Flügel, die sein Herr bewohnte, kam ihm von
neuem zum Bewußtsein, daß er Sklave war, so als sei er mit dem Überschreiten der Schwelle
in einen räumlichen Bereich versetzt worden, in dem die Erinnerung an das
Abhängigkeitsverhältnis, in dem er sich seinem Herrn gegenüber befand, aufbewahrt wurde.
Wir kennen keine Sklaverei mehr, keine Leibeigenschaft, keine Klassen- oder
Standesunterschiede, Adlige, Bürgerliche, d. h. wir akzeptieren gegenwärtig keine anderen
Verpflichtungen als die, zu denen wir uns bereiterklärt haben. Man denke jedoch an die
Gefühle eines Arbeiters oder Angestellten, der in das Büro seines Arbeitgebers gerufen wird,
an die Gefühle eines Schuldners, der das Handels- oder Bankhaus betritt, in dem er ein
Darlehen aufgenommen hat, und der nicht kommt, um seine Schulden zu begleichen, sondern
um eine neue Frist zu erbitten oder um sich noch mehr zu verschulden. Auch sie hatten
vielleicht die Dienstleistungen und Zahlungen vergessen, zu denen sie sich verpflichtet haben;
wenn sie sich auf sie besinnen, wenn sie sich plötzlich in ein Abhängigkeitsverhältnis ver-

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setzt sehen, so weil die Wohnung oder der gewöhnliche Aufenthaltsort des Chefs oder des
Gläubigers in ihren Augen eine aktive Zone darstellt, einem Brennpunkt, der die Rechte und
Machtbefugnisse dessen ausstrahlt, der innerhalb bestimmter Grenzen frei über sie verfügen
kann; und in dem Maße als sie in diese Zone vordringen oder sich diesem Brennpunkt nähern,
scheint es ihnen, als lebten in ihrem Gedächtnis die Umstände und die Bedeutung des
Vertrages, den sie unterschrieben haben, von neuem auf. Selbstverständlich sind dies
Grenzfälle. Es kommt vor, daß man derselben Person zugleich juristisch überlegen und
unterlegen ist: ein Herr Sonntag, der einen Edelmann zum Schuldner hat und als einfacher
Mann nicht wagt, sein Recht zu fordern. Das Grundlegende ist, daß in jedem Vertrag
entweder der Ort, an dem er erfüllt werden muß, oder der Wohnort der beiden Parteien
besonders angegeben wird — der, an dem der Gläubiger seinen Schuldner erreichen kann,
und der, der dem Schuldner als Ausgangspunkt eines Zahlungsbefehls bekannt ist. Überdies
können diese Zonen, in denen sich der eine als Herr und der andere sich abhängig fühlt, dort
wo jede der Parteien ihren Wohnsitz hat, zu einer Art von örtlichem Punkt
zusammenschmelzen oder sich bis zu den Grenzen eines Unternehmens ausdehnen, so daß
man beim Betreten der Fabrik oder des Geschäftes den Zwang der Rechte spürt, die man den
anderen über sich selber gegeben hat, und manchmal noch weiter: zur Zeit der Schuldhaft
wagte ein zahlungsunfähiger Schuldner nicht, auf die Straße zu gehen.
Hier aber kommen wir zu dem Fall, in dem es sich nicht mehr nur um einen Vertrag zwischen
zwei Privatpersonen handelt, sondern um Gesetze und Verstöße gegen die Gesetze. Wir
denken gewöhnlich an diese öffentlichen Verpflichtungen nur, wenn wir ihnen nicht
nachkommen oder versucht sind, ihnen nicht nachzukommen. Dann gibt es kaum einen
Bereich des Raumes, in dem die Gesellschaft lebt, die diese Gesetze geschaffen hat, in dem
wir uns nicht unbehaglich fühlten, so als fürchteten wir, uns an irgendeiner Strafmaßnahme
oder einem Verweis zu stoßen. Selbst dann aber, wenn wir uns vorschriftsmäßig verhalten, ist
der juristische Geist nichtsdestoweniger gegenwärtig, erfüllt er den Raum. Für die Menschen
der Antike war das Bild der Stadt eng mit der Erinnerung an ihre Gesetze verbunden. Heute
noch, wenn wir unser Land verlassen und ins Ausland gehen, fühlen wir sehr wohl, daß wir
von einer juristischen Zone in

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eine andere überwechseln und daß die Linie, die sie trennt, auf dem Erdboden gekennzeichnet
ist.

Der wirtschaftliche Raum


Das Wirtschaftsleben setzt uns in Beziehung zu materiellen Gütern, aber auf andere Weise als
beim Ausüben eines Eigentumsrechtes und beim Abschließen von Verträgen über Sachen.
Wir verlassen die Welt der Rechte, um in die Werte einzutreten: beide sind sehr verschieden
von der physikalischen Welt — aber vielleicht entfernen wir uns noch weiter von dieser,
wenn wir die Gegenstände einschätzen, als wenn wir im Einverständnis mit den anderen
Menschen die Ausdehnung und die Grenzen unserer Rechte über die verschiedenen Teile der
materiellen Welt festlegen.
Sprechen wir nicht von Werten, sondern von Preisen, denn letztlich sind sie es, die uns
gegeben sind. Die Preise sind wie Etiketts an die Dinge geheftet: aber zwischen dem
physikalischen Aspekt eines Gegenstandes und seinem Preis besteht keinerlei Beziehung.
Anders wäre es, wenn der Preis, den jemand für etwas bezahlt oder zu zahlen bereit ist,
seinem Wunsch oder seinem Bedürfnis entsprechen würde, oder auch wenn der Preis, den er
für etwas verlangt, seiner Mühe und seinem Verlust angemessen sein würde — sei es, daß er
auf dieses Gut verzichtet, sei es, daß er arbeitet, um es zu ersetzen. Unter dieser Annahme
bestände keinerlei Anlaß, von einem wirtschaftlichen Gedächtnis zu sprechen. Jeder Mensch
würde die Gegenstände seinen Augenblicksbedürfnissen und dem gegenwärtigen Gefühl der
Mühe nach einschätzen, die ihm ihre Herstellung oder der Verzicht auf sie bereitet. Dem ist
aber nidit so. Wir wissen durchaus, daß die Menschen die Dinge und ebenso die
Befriedigung, die sie mit sich bringen, wie auch die Anstrengung und die Arbeit, die sie
darstellen, ihren Preisen nach einschätzen und daß diese Preise außerhalb unserer selbst, in
unserer Wirtschaftsgruppe festgelegt werden. Wenn indessen die Menschen so beschließen,
den verschiedenen Gegenständen bestimmte Preise zuzumessen, so tun sie dies zweifellos
nicht, ohne in irgendeiner Weise auf die Meinung Bezug zu nehmen, die innerhalb ihrer
Gruppe über die Nützlichkeit dieses Gegenstandes herrscht sowie über das Arbeitsquantum,
das seine Herstellung verlangt. Aber der gegenwärtige Stand dieser Meinung erklärt sich vor
allem aus ihrem früheren

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Stand und die gegenwärtigen Preise aus den vorhergehenden Preisen. Das Wirtschaftsleben
beruht also auf der Erinnerung an die früheren Preise und zumindest an den letzten Preis, auf
den die Käufer und Verkäufer, d. h. alle Mitglieder der Gruppe, Bezug nehmen. Diese
Erinnerungen aber überlagern die Gegenstände auf Grund einer Reihe sozialer Dekrete: wie
würde also der Anblick der Gegenstände und ihre räumliche Lage genügen, diese
Erinnerungen wachzurufen? Die Preise sind Zahlen, die Maße darstellen. Während aber die
den physikalischen Eigenschaften der Materie entsprechenden Zahlen in gewissem Sinne in
ihr enthalten sind, da man sie durch Beobachtung und Messung der Materie feststellen kann,
haben die materiellen Gegenstände hier in der Wirtschaftswelt erst von dem Augenblick an
einen Wert, in dem man ihnen einen Preis beimißt. Dieser Preis steht also in keinerlei
Beziehung zu dem physikalischen Aspekt und den physikalischen Eigenschaften des
Gegenstandes. Wie könnte das Bild des Gegenstandes die Erinnerung an einen Preis
hervorrufen, d. h. an eine Geldsumme, wenn der Gegenstand so dargestellt wird, wie er uns
im physikalischen Raum erscheint, d. h. losgelöst von jeder Bindung an das Leben der
Gruppe?
Aber gerade weil sich die Preise aus im Denken der Gruppe in der Schwebe befindlichen
sozialen Meinungen und nicht aus den physikalischen Eigenschaften der Gegenstände
ergeben, ist es nicht der von den Gegenständen eingenommene Raum, sondern der Ort, an
dem sich diese Meinungen über den Wert der Dinge bilden und die Erinnerungen an die
Preise weitergegeben werden, der dem wirtschaftlichen Gedächtnis als Stütze dienen kann.
Mit anderen Worten: es unterscheiden sich innerhalb des kollektiven Denkens bestimmte
räumliche Bereiche von allen anderen, weil sie der gewöhnliche Versammlungsort der
Gruppen sind, deren Funktion darin besteht, sich und den anderen Gruppen die Preise der
verschiedenen Waren ins Gedächtnis zu rufen. Eben in dem von diesen Örtlichkeiten
gebildeten Rahmen läßt man gewöhnlich die Erinnerung an die Tauschhandlungen und an den
Wert der Dinge, d. h. den gesamten Inhalt des Gedächtnisses der Wirtschaftsgruppe,
wiederaufleben.
Simiand sagte einmal, daß ein Hirte in den Bergen, der dem Reisenden eine Schale Milch
gegeben hat, nicht weiß, zu welchem Preis er sich bezahlen lassen soll und das verlangt, „was
man in der Stadt

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dafür genommen hätte". Ebenso legen die Bauern, die Eier und Butter verkaufen, den Preis
seinem Stand auf dem letzten Markt zufolge fest. Merken wir sogleich und in erster Linie auf,
daß diese Erinnerungen sich auf einen sehr naheliegenden Zeitpunkt beziehen und daß es im
übrigen mit fast allen Erinnerungen so ist, deren Ursprung wirtschaftliche Unternehmungen
und Gedanken sind. Wenn wir in der Tat all das beiseite lassen, was innerhalb des
Produktionsprozesses dem technischen Bereich angehört und was jetzt in Betracht gezogen
werden soll, so bleibt, daß die Ver- und Ankaufsbedingungen, die Preise, die Löhne
dauernden Fluktuationen unterworfen sind und daß es im übrigen kaum ein Gebiet gibt, auf
dem die nahen Erinnerungen die älteren schneller und vollständiger auslöschen.
Selbstverständlich kann der Rhythmus des Wirtschaftslebens mehr oder weniger schnell sein.
Zur Zeit des Korporationswesens und der Kleinindustrie, als sich die Fabrikationsmethoden
sehr langsam änderten, hielten sich in den Städten, in denen die Anzahl der Käufer und
Verkäufer ebenfalls nur schwachen Variationen unterworfen war, die Preise lange Perioden
hindurch ungefähr auf demselben Niveau. Anders ist es, wenn die Technik sich gleichzeitig
mit den Bedürfnissen wandelt und wenn in der bis an die Grenzen der Nation und selbst
darüber hinaus erweiterten wirtschaftlichen Gesellschaft bei freier Konkurrenz das
Preissystem, sehr viel komplexer als früher, Gesamt- nd Teilfluktuationen unterworfen ist, die
sich von einer Region zur anderen, von einer Industrie zur anderen fortpflanzen. Dann müssen
sich Käufer und Verkäufer unaufhörlich neuen Gleichgewichtsverhältnissen anpassen und
jedesmal ihre früheren Gewohnheiten, Ansprüche und Erfahrungen vergessen. Man denke nur
an jene Perioden der Inflation, der überstürzten Geldentwertung, der ununterbrochenen
Preiserhöhung, als man sich von einem Tag zum anderen und manchmal zwischen Morgen
und Abend eine neue Wertskala einprägen mußte. Ähnliche Unterschiede kann man jedoch
beobachten, wenn man zu ein und demselben Zeitpunkt oder während ein und derselben
Periode von einem Bereich des Wirtschaftslebens in den anderen überwechselt. Wenn auf
dem Lande die Bauern in recht langen Zeitabständen zum Markt oder in die Stadt fahren,
können sie meinen, die Preise hätten sich seit dem Augenblick, in dem sie Käufer oder
Verkäufer gewesen sind, nicht geändert: sie leben mit Erinnerungen an alte Preise. Anders ist
es schon in denjenigen Milieus, in

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denen die Beziehungen zwischen Händlern und Kunden häufiger sind — besonders in jenen
Gruppen von Kleinhändlern und Großhändlern, die nicht allein einkaufen, um ihre
Konsumbedürfnisse zu befriedigen, und die nicht allein verkaufen, um ihre Erzeugnisse
abzusetzen, sondern die für und wie im Auftrag aller Verbraucher und Hersteller kaufen und
verkaufen. Gerade in derartigen Kreisen muß sich das wirtschaftliche Gedächtnis
unaufhörlich erneuern und sich jederzeit den neuesten Stand der Verhältnisse und Preise
einprägen. Mehr noch trifft dies auf die Börsen zu, in denen Aktien gehandelt werden, deren
Preise sich nicht nur von einem Tag zum anderen, sondern während ein und derselben
Börsenversammlung von einer Stunde zur anderen ändern, weil alle Kräfte, die die Meinung
der Verkäufer und der Käufer modifizieren, hier ihre Einwirkung direkt fühlbar machen und
weil es kein anderes Mittel gibt, die Preise zu erahnen oder vorauszusehen, als sich danach zu
richten, wie sie im Augenblick vorher waren. Je mehr man sich von den Kreisen mit der
intensivsten Handelstätigkeit entfernt, um so mehr verlangsamt sich das wirtschaftliche
Gedächtnis, stützt sich auf eine weiter zurückliegende Vergangenheit und bleibt hinter der
Gegenwart zurück. Es sind die Kaufleute, die ihm neuen Auftrieb geben und es zwingen, sich
zu erneuern.
Es sind die Kaufleute, die ihren Kunden mitteilen und sie daran erinnern, wie hoch der Preis
eines jeden Artikels ist. Die Käufer, die nur Käufer sind, haben also nur dann am Leben und
am Gedächtnis der Wirtschaftsgruppe teil, wenn sie in die Kreise der Kaufleute eintreten oder
sich erinnern, in sie eingetreten zu sein. Wie würden sie sonst den Wert der Dinge kennen,
und wie würden sie, in ihre Familie eingeschlossen und von den Handelsströmungen
unberührt, dazu kommen, die Güter, über die sie verfügen, geldlich einzuschätzen?
Betrachten wir nun jene Kaufmannsgruppen, die, wie wir gesagt haben, den aktivsten Teil der
wirtschaftlichen Gesellschaft bilden, da bei ihnen die Werte aufgestellt und aufbewahrt
bleiben. Ob sie auf den Märkten, hinter den Auslagen versammelt oder in den
Geschäftsstraßen der Städte nahe beieinander sind — es kann zuerst scheinen, als seien sie
eher getrennt als miteinander verschmolzen und durch eine Art von gemeinsamem
Bewußtsein verbunden. Den Kunden zugewandt, treten sie mit diesen und nicht mit den
benachbarten Händlern in Verbindung — Händlern, die Konkurren-

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ten sind, die vorgeben, sich nicht zu kennen oder die nicht die gleichen Artikel wie sie
verkaufen, so daß sie sich in ihrer Eigenschaft als Verkäufer nicht für sie interessieren. Aber
selbst dann, wenn keine direkte Verbindung zwischen dem einen und dem anderen besteht,
üben sie nichtsdestoweniger dieselbe kollektive Funktion aus. Sie werden von demselben
Geist beherrscht, sie legen gleichartige Fähigkeiten an den Tag, gehorchen derselben
Berufsmoral. Obwohl sie sich gegenseitig Konkurrenz machen, fühlen sie sich solidarisch,
wenn es sich darum handelt, die Preise aufrechtzuerhalten und sie den Käufern aufzubürden.
Vor allem stehen sie alle mit anderen Milieus in Verbindung — denen der Großhändler und
durch diese mit den Handelsbörsen, andererseits mit den Bankiers und Geschäftsleuten, d. h.
mit dem Teil der Wirtschaftsgesellschaft, in dem alle Informationen zusammenlaufen, der
unmittelbar die Auswirkung aller Handelsgeschäfte erfährt und der am wirksamsten zur
Preisbildung beiträgt. Er ist das regulierende Organ: durch ihn sind alle Kaufleute
untereinander verbunden, da der Absatz eines jeden von ihnen Seinesteils dazu beiträgt, seine
Reaktionen zu modifizieren, und da alle seinen Impulsen gleichzeitig gehorchen. So weist der
Einzelhandel die Umrisse und Grenzen der Wirtschaftsgesellschaft der Kaufleute auf, die ihr
Zentrum und ihren Sitz in den Börsen- und Bankkreisen hat: zwischen ihm und dem Zentrum
halten Vertreter, Makler, Informationsund Werbeagenten jederzeit die Verbindung aufrecht
oder stellen sie jederzeit wieder her.
In diese gesamte Art der Tätigkeit werden die Kunden als Verbraucher nicht eingeweiht. Der
Ladentisch des Händlers wirkt wie ein Schirm, der ihre Blicke daran hindert, bis in jene
Regionen vorzudringen, in denen die Preise gebildet werden. Dies ist mehr als nur ein Bild,
und wir werden sehen, daß, wenn die Händlergruppe sich so räumlich festsetzt, sich an
bestimmten Stellen niederläßt, an denen der Händler auf den Kunden wartet, so weil sie allein
unter dieser Voraussetzung die Funktion erfüllen kann, die ihr innerhalb der
Wirtschaftsgesellschaft zukommt. Nehmen wir also den Standpunkt der Kunden ein. Wir
haben gesagt, daß sie nur dann lernen können, den Wert der Konsumgüter einzuschätzen,
wenn die Händler sie den Preis wissen lassen. Die Kunden müssen also die Händlerkreise
aufsuchen. Es ist im übrigen eine notwendige Voraussetzung des Handels, daß der Kunde
weiß, an welchem Ort er den Händler

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finden kann (zumindest im allgemeinen und ohne zu vergessen, daß es Hausierer gibt, die an
den Haustüren verkaufen; das aber ist eine Ausnahme, die, wie wir sehen werden, die Regel
bestätigt). Die Händler erwarten die Kunden also in ihren Läden.
Zugleich warten in denselben Läden die Waren auf die Käufer. Dies sind keineswegs zwei
verschiedene Umschreibungen ein und derselben Tatsache, sondern vielmehr zwei getrennte
Tatsachen, die gleichzeitig in Augenschein genommen werden müssen, weil die eine und die
andere sowie ihre gegenseitigen Beziehungen zugleich in das wirtschaftliche Bild des Raumes
hineingehören. Weil die Ware wartet, d. h. am selben Ort bleibt, ist auch der Händler in der
Tat gezwungen zu warten, d. h. sich zumindest während der gesamten Zeit, die bis zum
Verkauf verstreicht, an einen festen Preis zu halten. Unter dieser Bedingung wird der Kunde
tatsächlich zum Kauf ermutigt und hat den Eindruck den Gegenstand nicht einem ganzen
Spiel komplizierter, unaufhörlich wechselnder Einschätzungen nach, sondern seinem Preis
entsprechend zu bezahlen, so als ergebe sich dieser aus der Natur des Gegenstandes selbst.
Dies ist selbstvertändlich eine Täuschung, da der Preis der Sache wie ein Etikett einem
Artikel anhaftet und sich in Wirklichkeit unaufhörlich verändert, während der Gegenstand
unverändert bleibt. Aber selbst dann, wenn man handelt — so als werde man sich all der
Kunstgriffe bewußt, die bei der Preisbestimmung mitwirken — bleibt man in Wirklichkeit
davon überzeugt, daß es einen eigentlichen, dem Wert des Gegenstandes entsprechenden
Preis gibt, den der Händler einem nicht eingesteht, den man von ihm erfahren möchte, oder
der seiner Angabe entspricht, den man ihn aber vergessen lassen möchte. Was die Vorstellung
betrifft, der Preis komme von außen und sei nicht in dem Gegenstand enthalten, so ist sie es,
die der Händler dem Käufer auszureden sich bemüht, indem er ihn überzeugt, daß der
Gegenstand seinem Preis entsprechend verkauft wird. Nur dadurch, daß er die Sache während
einer mehr oder minder langen Zeitspanne zum selben Preis anbietet, gelingt es ihm, ihr den
Preis allmählich anhaften zu lassen, ihn mit ihr zu vereinigen.
Jemand, der ein Möbelstück, ein Kleidungsstück oder selbst einen alltäglichen
Gebrauchsartikel gekauft hat und ihn mit nach Hause bringt, kann sich einbilden, daß es oder
er seinen durch den Preis

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gemessenen Wert, der dem Händler bezahlt wurde, die ganze Zeit hindurch, während der er
ihn braucht, und bis er gebrauchsunfähig geworden oder verschwunden ist, beibehält. Dies ist
oft ein Irrtum denn wenn man denselben Gegenstand sofort oder nach einiger Zeit
wiederverkaufen würde oder ihn ersetzen müßte, würde man feststellen, daß sich sein Preis
geändert hat. Der Käufer lebt mit alten Erinnerungen. Die Erinnerungen des Händlers in
bezug auf den Preis sind frischer; denn indem er an viele Personen verkauft, setzt er seinen
Warenbestand ab und muß ihn schneller wieder erneuern als ein Kunde seinen Einkauf bei
demselben Händler wiederholt.Er befindet sich jedoch dem Großhändler gegenüber in der
gleichen Lage wie der Kunde ihm gegenüber. Deshalb ändern sich die Einzelhandelspreise
langsamer, später als die Großhandelspreise. Die Rolle der Einzelhändler ist also folgende: sie
müssen die Preise hinreichend festigen, damit die Kunden kaufen können. Dies ist nur eine
besondere Anwendung einer Funktion, die die gesamteGesellschaft erfüllen muß: während
sich alles unaufhörlich wandelt, müssen ihre Mitglieder davon überzeugt werden, daß sich die
Gesellschaft nicht wandelt — zumindest nicht während einer bestimmter Zeit und in
bestimmten Punkten. Ebenso muß die Gesellschaft der Händler die Kunden davon
überzeugen, daß sich die Preise nicht ändern - zumindest nicht während der Zeit, die diese
benötigen, um sich zum Kauf zu entschließen. Dies gelingt ihr nur unter der Voraussetzung
daß sie sich selbst festigt und sich an bestimmten Orten niererläßt. wo Händler und Waren
unbeweglich auf die Käufer warten. Mit anderen Worten, die Preise könnten sich dem
Gedächtnis der Käufer und der Verkäufer selber nicht einprägen, wenn nicht die einen und die
anderen gleichzeitig sowohl an die Gegenstände als auch die Orte denken würden, an denen
sie ausgestellt und angeboten worden sind. Da die Wirtschaftsgruppe ihr Gedächtnis sich
nicht über eine ziemlich lange Zeitspanne ausdehnen und ihre Erinnerungen die Preise nicht
in eine ziemlich weit entfernte Vergangenheit zurückgehen lassen kann, ohne selbst
anzudauern, d. h. ohne so zu bleiben wie sie ist — an demselben Ort, in derselben Lage -, ist
es natürlich, daß sie und ihre Mitglieder, indem sie sich wirklich oder in Gedanken an diese
Örtlichkeiten versetzen, die Welt der Werte, deren Rahmen diese weiterhin bilden,
rekonstruieren

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Der religiöse Baum


Daß die Erinnerungen einer religiösen Gruppe ihr durch den Anblick bestimmter Stätten,
bestimmter Lagen und Anordnungen der Gegenstände ins Gedächtnis gerufen werden, ist
nicht erstaunlich. Für derartige Gesellschaften vollzieht sich die grundlegende Trennung der
geheiligten und der profanen Welt materiell im Raum. Sobald der Gläubige eine Kirche, einen
Friedhof, eine geheiligte Stätte betritt, weiß er, daß er dort von neuem in einen
Gemütszustand versetzt werden wird, den er oft schon erfahren hat, und daß er mit anderen
Gläubigen zur gleichen Zeit wie eine sichtbare Gemeinschaft eine gemeinsame Denkart und
gemeinsame Erinnerungen Wiederaufleben lassen wird — die, die während vorhergehender
Epochen an diesem selben Ort entstanden und genährt worden sind. Gewiß, schon in der
profanen Welt — im Verlauf von Beschäftigungen, die in keinerlei Beziehung zur Religion
stehen, bei der Berührung mit Kreisen, die ganz andere Ziele haben —, zeigen sich etliche
Gläubige als fromme Leute, die nicht vergessen, ihr Tun und Denken so viel wie möglich auf
Gott zu beziehen. In den Städten des Altertums griff die Religion auf alles über, und in vielen
sehr alten Gesellschaften, in China beispielsweise, gibt es kaum eine Region, in der man dem
Einfluß irgendwelcher übernatürlicher Mächte entgehen könnte. Je mehr sich die
hauptsächlichen Tätigkeitsarten des sozialen Lebens dem religiösen Zugriff entzogen haben,
um so mehr sind Anzahl und Ausdehnung der der Religion geweihten oder gewöhnlich von
den religiösen Gesellschaften bewohnten Stätten reduziert worden. Gewiß, „für den Heiligen
ist alles heilig", und es gibt keinen scheinbar noch so profanen Ort, an dem sich der Christ
nicht auf Gott besinnen könnte. Nichtsdestoweniger empfinden die Gläubigen das Bedürfnis,
sich in Bauten und an Stätten, die der Frömmigkeit geweiht sind, regelmäßig in bestimmten
Abständen zu treffen und zusammenzuscharen. Es genügt nicht, daß wir die Schwelle einer
Kirche überschreiten, um uns im einzelnen und genau unsere Beziehungen zu der Gruppe
derjenigen ins Gedächtnis zu rufen, die denselben Glauben haben wie wir. Jedenfalls befinden
wir uns in einer Gemütsverfassung, die den Gläubigen gemeinsam ist, wenn sie sich an einer
kultischen Stätte einfinden; und obwohl es sich nicht eigentlich um Ereignisse handelt,
sondern um eine bestimmte einheitliche Ausrichtung des Fühlens und Denkens, ist gerade
dies die Grundlage und

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der wichtigste Inhalt des religiösen kollektiven Gedächtnisses. Es ist indessen nicht zu
bezweifeln, daß dieser Inhalt in den geweihten Regionen erhalten bleibt; denn sobald wir sie
von neuem betreten, finden wir ihn dort wieder.
Wir können uns sogar einbilden, daß das Gedächtnis unserer Gruppe ebenso kontinuierlich ist
wie die Stätten, an denen es uns aufbewahrt zu werden scheint, und daß derselbe Strom
religiösen Denkens unter diesen Gewölben hindurchgegangen ist. Gewiß gibt es Zeitpunkte,
zu denen die Kirche fast leer, zu denen sie völlig leer ist, Perioden, in denen ihre Türen
geschlossen sind und es dort nur Mauern und leblose Gegenstände gibt. Während dieser Zeit
ist die Gruppe zerstreut. Sie dauert indessen fort und bleibt, was sie war; wenn sie sich von
neuem bilden wird, wird nichts sie vermuten lassen, daß sie sich verändert oder einige Zeit zu
existieren aufgehört hat — vorausgesetzt, daß in der Zwischenzeit die Gläubigen vor der
Kirche vorbeigegangen sind, daß sie sie von weitem gesehen, daß sie die Glocken gehört
haben, daß das Bild ihrer Zusammenkunft an diesem Ort und der Zeremonien, denen sie
zwischen diesen Mauern beigewohnt haben, ihnen gegenwärtig geblieben ist oder daß sie
stets die Möglichkeit gehabt haben, es unmittelbar heraufzubeschwören. Wie aber würden sie
sich andererseits dessen versichern, daß ihre religiösen Gefühle sich nicht geändert haben,
daß sie heute sind, was sie früher waren, und daß man in ihnen nicht unterscheiden kann, was
der Vergangenheit und was der Gegenwart entstammt, wenn die Permanenz der Stätten ihnen
nicht die Garantie hierfür gäbe? Eine religiöse Gruppe hat mehr als jede andere das Bedürfnis,
sich auf ein Objekt zu stützen, auf irgendeinen fortdauernden Teil der Realität; denn sie selbst
gibt vor, sich in keiner Weise zu wandeln, während sich um sie herum sämtliche Institutionen
und Gebräuche verändern und die Ideen und Erfahrungen sich erneuern. Während die anderen
Gruppen sich darauf beschränken, ihre Mitglieder davon zu überzeugen, daß ihre Regeln und
ihre innere Ordnung während eines Zeitabschnittes, aber eines begrenzten Zeitabschnittes
dieselben bleiben, kann die religiöse Gesellschaft weder gelten lassen, daß sie heute nicht so
wie zu Anbeginn sei, noch daß sie sich in Zukunft verändern müsse. Aber da innerhalb der
Welt der Gedanken und Gefühle jedes dauerhafte Element fehlt, muß sie ihr

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Gleichgewicht mit Hilfe der Materie und in einem oder mehreren räumlichen Bereichen
sichern.
Die Kirche ist nicht nur der Ort, an dem sich die Gläubigen versammeln, und der Raum, in
dessen Innerem nicht mehr die Einflüsse des profanen Milieus eindringen. Zuerst einmal
unterscheidet sie sich durch ihr Äußeres von allen anderen Versammlungsorten, von allen
anderen Mittelpunkten sozialen Lebens. Die Anordnung und Ausstattung ihrer Teile
entsprechen den Bedürfnissen des Kultes und richten sich nach den Traditionen und dem
Denken der religiösen Gruppe. Sei es, daß in ihr unterschiedliche Plätze für die verschiedenen
Kategorien von Gläubigen bereitgehalten werden, sei es, daß die wesentlichen Heiligtümer
und die Hauptformen der Andacht sich an einer ihnen angemessenen Stätte befinden oder
vollzogen werden — die Kirche selbst erlegt den Mitgliedern der Gruppe eine Anordnung
und Verhaltensweisen auf und prägt ihnen eine Gesamtheit von Bildern ein, die ebenso genau
festgelegt und ebenso unveränderlich sind wie die Riten, die Gebete und die Artikel des
Dogmas. Es ist zweifellos bei der Religionsausübung notwendig, daß an den geheiligten
Stätten bestimmte Bereiche von den anderen abgetrennt sind, da das Denken der Gruppe seine
Aufmerksamkeit auf bestimmte Punkte konzentrieren, gewissermaßen ein Großteil seiner
Substanz dorthin projizieren muß und daß — während für die Priester, die besser über die
Traditionen unterrichtet sind, alle Einzelheiten dieser inneren Ausstattung ihren Sinn haben,
d. h. einer Richtung des religiösen Denkens entsprechen —, im Geiste der gläubigen Menge
in Gegenwart dieser materiellen Bilder das Gefühl des Mysteriums vorherrscht. Aber ebenso
wurden in den Tempeln der Antike, im Tempel Jerusalems nicht alle Gläubigen zu den
heiligsten Bereichen, dem Heiligtum und dem Allerheiligsten, zugelassen. Eine Kirche ist wie
ein Buch, dessen Schriftzeichen nur eine kleine Anzahl von Menschen buchstabieren und
entziffern kann. Jedenfalls nimmt, da man im Innern dieser Gebäude den Gottesdienst abhält
und die religiöse Lehre empfängt, alles Denken der Gruppe die Form der Gegenstände an, auf
denen es verweilt. Da es überall und in einem Dekor von Lichtern, Ornamenten und
Kirchengewändern die Bilder Gottes, der Apostel, der Heiligen findet, stellt es sich so und in
diesem Rahmen die heiligen Wesenheiten und das Paradies vor und setzt die übersinnlichen
Wahrheiten des Dogmas in derartige Ge-

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mälde um. So drückt sich die Religion in symbolischen Formen aus, die sich im Raum
entfalten und nebeneinanderliegen: nur unter dieser Voraussetzung kann man sicher sein, daß
sie fortbesteht. Deshalb muß man die Altäre der alten Götter umstürzen und ihren Tempel
zerstören, wenn man im Gedächtnis der Menschen die Erinnerung an die veralteten Kulte
auslöschen will; die versprengten Gläubigen beklagen, fern von ihrem Heiligtum zu sein, so
als hätte ihr Gott sie verlassen; und jedesmal, wenn eine neue Kirche errichtet wird, fühlt die
religiöse Gruppe, daß sie anwächst und sich festigt. Jede Religion aber hat ebenfalls ihre
Geschichte oder vielmehr: es gibt ein religiöses Gedäditnis, das aus Überlieferungen besteht,
die auf oft sehr fern in der Vergangenheit liegende Ereignisse zurückgehen, die an
bestimmten Orten stattgefunden haben. Es wäre indessen sehr schwierig, sich auf das Ereignis
zu besinnen, ohne an den Ort zu denken, den man kennt — nicht ganz allgemein kennt, weil
man ihn gesehen hat, sondern kennt, weil man weiß, daß es ihn gibt, daß man ihn sehen
könnte, und weil sein Bestehen auf jeden Fall von Zeugen verbürgt wird. Deshalb gibt es eine
religiöse Geographie oder eine religiöse Topographie. Als die Kreuzfahrer nach Jerusalem
kamen und die Heiligen Stätten wieder in Besitz genommen hatten, begnügten sie sich nicht
damit, die Stellen aufzusuchen. an denen der Überlieferung nach die hauptsächlichen in den
Evangelien berichteten Ereignisse stattgefunden haben. Oft lokalisierten sie mehr oder minder
willkürlich bestimmte Einzelheiten aus dem Leben Christi oder der christlichen Urkirche,
indem sie sich nach ungewissen Spuren richteten und selbst in Ermangelung jeglicher Spuren
der Eingebung des Augenblicks gehorchten. Seitdem sind viele Pilger zum Beten an diese
Stätten gekommen, neue Überlieferungen sind entstanden, und es fällt einem heute schwer,
die Erinnerungen an diese Stätten — Erinnerungen, die auf die ersten Jahrhunderte der
christlichen Zeitrechnung zurückgehen — von allem, was die Phantasie hinzugefügt hat, zu
unterscheiden. Indessen ist zweifellos keine dieser Lokalisierungen glaubwürdig, da keine
durch eine hinreichend kontinuierliche und alte Überlieferung bezeugt wird. Man weiß im
übrigen, daß es von demselben Ort gleichzeitig mehrere verschiedene Überlieferungen
gegeben hat, daß mehr als eine dieser Erinnerungen offensichtlich über die Abhänge des
Ölberges oder des Hügels von Zion hingeirrt ist, sich von einem Stück Erde zum

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anderen bewegt hat, daß manche von ihnen die anderen angezogen oder sich im Gegenteil
getrennt haben — wenn sie beispielsweise die Reue des Heiligen Petrus von der Verleugnung
loslösen und an einem anderen Ort stattfinden lassen. Wenn indessen die Kirche und die
Gläubigen diese Abweichungen und Widersprüche hinnehmen, ist es nicht deshalb, weil das
religiöse Gedächtnis genötigt ist, sich die Stätten vorzustellen, um die Ereignisse
Wiederaufleben zu lassen, die es damit verbindet? Zweifellos können sich nicht alle
Gläubigen auf Pilgerfahrt nach Jerusalem begeben und mit eigenen Augen die Heiligen
Stätten betrachten. Aber es genügt, daß sie sich diese Stätten vorstellen und wissen, daß sie
weiterhin bestehen: niemals haben sie hieran gezweifelt.
Außerdem — und welche Rolle der Kult der Heiligen Stätten in der Geschichte des
Christentums wie in der der anderen Religionen auch gespielt haben mag — ist das Besondere
am religiösen Raum, daß es, da Gott allgegenwärtig ist, keinen Bereich gibt, der nicht ebenso
heilig sein könnte wie diese bevorzugten Orte, an denen er sich gezeigt hat, und daß es
genügt, daß die Gläubigen in diesem Bereich kollektiv eines bestimmten Aspektes und einer
bestimmten Handlung der Gestalt Gottes gedenken wollen, damit diese Erinnerungen sich
tatsächlich mit ihm verbinden und man sie in ihm wiederfinden kann. Jede Kirche, so haben
wir gesehen, kann sich zu einem solchen Gottesdienst eignen: man kann sagen, daß Jesus
Christus nicht nur auf Golgatha gekreuzigt worden ist, sondern überall da, wo man das Kreuz
anbetet, und daß er nicht nur im Zönakel das Abendmahl mit seinen Jüngern eingenommen
hat, sondern überall dort, wo man das Meßopfer feiert und wo die Gläubigen zum Tisch des
Herrn gehen. Dem müssen die der Jungfrau, den Aposteln, den Heiligen geweihten Kapellen
und etliche Stätten, die die Gläubigen wegen einer dort aufbewahrten Reliquie anziehen, eine
heilige Quelle, ein Grab, an dem Wunder geschehen sind usw., hinzugefügt werden. Gewiß,
in Jerusalem, in Palästina und in Galiläa sind die Gedenkstätten zahlreicher: die gesamte
Evangeliengeschichte ist auf den Erdboden geschrieben; sie sind im übrigen doppelt geweiht
— nicht nur durch den Willen und den Glauben derjenigen, die sich dort versammeln oder
einander folgen, sondern weil man gerade hier (zumindest glaubt man es) zu Christi Lebzeiten
hat sehen können, was in der Heiligen Schrift erzählt wird. Da aber schließlich nur

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der unsichtbare und ewige Sinn dieser Geschehnisse von Bedeutung ist, gibt es keinen Ort, an
dem man ihn nicht Wiederaufleben lassen kann — vorausgesetzt, daß man die gleiche
Haltung einnimmt, d. h. daß man materiell das Kreuz und die Heiligtümer nachbildet, die sich
über dem historischen Schauplatz der Evangelien erheben. Auf diese Weise ist die Anbetung
des Kreuzweges entstanden, so als vermöge man dadurch, daß man weit entfernt von
Jerusalem den Leidensweg und seine Stationen nachvollzieht, ebenso wie die Pilger innerlich
von neuem die aufeinanderfolgenden Szenen der Passion zu erleben. Jedenfalls ist es stets
dasselbe Ziel, das man verfolgt. Die religiöse Gesellschaft bildet sich ein, sich in keiner
Weise gewandelt zu haben, während alles um sie herum sich veränderte. Dies gelingt ihr nur
unter der Voraussetzung, daß sie die Stätten wiederfindet oder um sich herum ein zumindest
symbolisches Bild der Stätten rekonstruiert, an denen sie sich zuerst gebildet hat. Denn die
Stätten haben an der Beständigkeit der materiellen Dinge teil, und indem es sich an sie heftet,
sich in ihre Grenzen einschließt und sein Verhalten nach ihrer Anlage richtet, hat das
kollektive Denken der Gruppe die meiste Aussicht, unveränderlich zu werden und
anzudauern: dies eben ist für das Gedächtnis erforderlich.
Alles Vorausgehende zusammenfassend, können wir sagen, daß die Mehrzahl der Gruppen —
nicht nur die, die sich aus dem permanenten Nebeneinanderleben ihrer Mitglieder innerhalb
der Grenzen einer Stadt, eines Hauses oder einer Wohnung ergeben, sondern auch viele
andere — gewissermaßen ihre Form auf den Erdboden zeichnen und ihre kollektiven
Erinnerungen innerhalb des auf diese Weise festgelegten räumlichen Rahmens wiederfinden.
Mit anderen Worten: es gibt ebensoviele Arten, sich den Raum zu vergegenwärtigen, wie es
Gruppen gibt. Man kann seine Aufmerksamkeit auf die Grenzen der Besitzungen heften, auf
die Rechte, die mit den verschiedenen Teilen des Bodens verbunden sind, man kann die Orte,
an denen sich Herren und Sklaven, Lehnsherren und Lehnsleute, Adlige und Bürgerliche,
Gläubiger und ihre Schuldner aufhalten, wie aktive und passive Zonen unterscheiden, die die
an eine Person gebundenen oder ihr entzogenen Rechte ausstrahlen oder auf die sie

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ausgeübt werden. Man kann ebenso an die Lagerungsstätten der Wirtschaftsgüter denken, die
nur in dem Maße einen Wert erhalten, als sie auf den Märkten und in den Läden zum Verkauf
feilgeboten werden, d. h. an der Grenze, die die Wirtschaftsgruppe der Verkäufer von ihren
Kunden trennt; auch hier gibt es einen räumlichen Bereich, der sich von den anderen
unterscheidet: der, in dem sich der aktivste Teil der Gesellschaft, die sich für die Güter
interessiert, gewöhnlich aufhält. Schließlich kann man vor allem der in den Vordergrund des
religiösen Bewußtseins tretenden Trennung der geheiligten und profanen Stätten besondere
Beachtung schenken, weil es von der Gruppe der Gläubigen gewählte Teile des Bodens und
Bereiche des Raumes gibt, die allen anderen Gruppen „verboten" sind, in denen sie zugleich
einen Schutz und eine Stütze ihrer Traditionen findet. So unterteilt jede Gesellschaft den
Raum auf ihre Weise, aber ein für allemal oder immer denselben Linien nach, so daß sie einen
festen Rahmen aufstellt, in dem sie ihre Erinnerungen einschließt und wiederfindet...
Sammeln wir uns nun, schließen wir die Augen, gehen wir so weit in die Vergangenheit
zurück, wie es uns möglich ist, solange unser Denken sich auf Szenen und Personen heften
kann, die wir in der Erinnerung bewahren! Wir finden uns im übrigen nicht in einem
unbestimmten Raum wieder, sondern in Regionen, die wir kennen und von denen wir wohl
wissen, daß wir sie lokalisieren könnten, da sie noch immer demselben materiellen Milieu
angehören, in dem wir uns heute befinden. Ich strenge mich vergeblich an, diese örtliche
Umgebung auszuwischen, mich an die Gefühle zu halten, die ich früher empfunden, und die
Überlegungen, die ich früher angestellt habe. Gefühle, Überlegungen müssen sich durchaus
wie alle beliebigen Ereignisse in einen Ort eingliedern, an dem ich mich zu diesem Zeitpunkt
aufgehalten habe oder durch den ich zu diesem Zeitpunkt gekommen bin und der immer noch
existiert. Versuchen wir, weiter zurückzudenken! Wenn wir an die Epoche rühren, in der wir
uns noch keine, auch nicht eine undeutliche Vorstellung der örtlichkeiten machten, gelangen
wir damit an diejenigen Bereiche der Vergangenheit, die unser Gedächtnis nicht mehr
erreicht. Es stimmt also nicht, daß man sich, um sich zu erinnern, gedanklich außerhalb des
Raumes stellen muß, da uns im Gegenteil allein das Bild des Raumes

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infolge seiner Beständigkeit die Illusion gibt, zu allen Zeiten unverändert zu sein und die
Vergangenheit in der Gegenwart wiederzufinden. Aber gerade so kann man das Gedächtnis
definieren; und allein der Raum ist beständig genug, um ohne zu altern oder einen seiner Teile
zu verlieren, fortdauern zu können.

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