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AVANTGARDE, 1
Mitten im Leben?
Während seines zweiten Aufenthalts in den USA im Oktober 1915 erklärt Francis
Picabia gegenüber einem Reporter der New York Tribune: »This visit to America

MASCHINE
[...] has brought about a complete revolution in my methods of work. [...] Almost
immediately upon coming to America it flashed me that the genius of the modern
world is in machinery, and that through machinery art ought to find a most vivid

UND
expression. The machine has become more than a mere adjunct of life. It is really
a part of human life — perhaps the very soul. [...] I have enlisted the machinery of
the modern world, and introduced it into my studio [...].« B

BIOPOLITIK *
Im Rahmen der New Yorker Dada-Bewegung entwickelt der französische Künst-
ler zeichnerische Verfahren, die auf der Aneignung von Maschinendarstellungen
aus populärwissenschaftlichen Zeitschriften basieren. Picabia zufolge soll mit der

UBERLEGUNGEN Maschine das moderne Leben nicht nur in den Bereich der Kunst Einzug halten,
sondern diesen vollständig umwälzen. In dieser Hinsicht gibt die in den künstleri-

ZU DEN schen Tendenzen der 1910er Jahre übergreifend anzutreffende Maschinenästhetik


keine rein stilistische Beschreibungskategorie für die als Mechanomorphien be-

MECHANOMORPHEN kannten Arbeiten Picabias und verwandten Projekten von Man Ray und vor allem
Marcel Duchamp ab, sondern ist in gleichsam programmatischer Weise auf den

ZEICHNUNGEN etwa von Peter Bürger in seiner Theorie der Avantgarde analysierten Versuch der
historischen Avantgarde, »Kunst in Lebenspraxis zurückzuführen« C zu beziehen.

VON Aus dieser Warte können die Zeichnungen Picabias mithin als paradigmatische
Beispiele für das die Geschichte und Theorie der historischen Avantgarde prägende

FRANCIS PICABIA Überschreitungsparadigma gelten, demzufolge die von ihr entwickelten Verfahren
darauf abzielen, sowohl die institutionellen als auch ästhetisch-ideologischen

ANDRÉ Grenzen zwischen Kunst und Leben zu überwinden und dadurch aus der kapitalis-
tischen Rationalität und ihren subjektivierenden Effekten auszubrechen.

ROTTMANN Wie aber lässt sich diese vermeintlich radikale Form von Kritik, wie sie für die
Avantgarde im Rekurs auf die Vorstellung eines Lebens behauptet wird, das sowohl
jenseits der bürgerlichen Institutionen als auch jenseits der Anforderungen öko-
nomischer Rationalität steht, unter der Prämisse aufrechterhalten, dass für mo-
derne Machttechnologien das soziale wie biologische Leben gleichermaßen die
entscheidende zu regulierende und zu optimierende Größe darstellt, wie es jün-
gere Theorien zur Biopolitik herausgearbeitet haben? Ausgangspunkt der folgen-
den Überlegungen ist daher die Frage, wie für die zeichnerischen Arbeiten von
Francis Picabia das die kunsthistorische Auseinandersetzung mit dem Dadaismus
und kritische Avantgarde-Theorien fundierende Gebot, die Trennung von Kunst

*—Der vorliegende Text basiert auf meiner Magisterar- Bredekamp, Franziska Brons und Sabeth Buchmann.
beit »Avantgarde, Maschine und Biopolitik. Zu Francis 1—Zit. n. William A. Camfield, Francis Picabia. His Art,

Picabias Zeichnungen, 1915—1918«, die 2006 an der Life and Times, Princeton, New Jersey 1979, S. 77. 2—Pe-
Humboldt-Universität zu Berlin entstanden ist. Für An- ter Bürger, Theorie der Avantgarde, Frankfurt/Main 1974,
regungen, Unterstützung und Kritik danke ich Horst S. 29.
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André Rottmann

und Leben aufzuheben, vor dem Hintergrund der Debatten um moderne Biopoliti- Avantgarde uneingelöst geblieben ist. In einer frühen Replik auf Bürger erkennt
ken beschrieben werden könnte, um die unter der Maßgabe eines revolutionären Burkhardt Lindner den heuristischen Wert des Zielkonzepts »einer Aufhebung der
Lebensbezugs in Picabias dadaistischen Zeichnungen zum Einsatz kommenden Dichotomie von Kunst und Leben« J darin, dass es erlaube, die Autonomieperiode
künstlerischen Strategien im Lichte einer politischen, juridischen und ökonomi- als ideologische Voraussetzung für die Avantgarde zu definieren und ihr Scheitern
schen Rationalität zu untersuchen, die ihrerseits ebenfalls das Leben in das Zent- somit immanent begründen zu können.BA Lindner erkennt in der Avantgarde folg-
rum ihres Kalküls stellt. Dazu scheint es zunächst notwendig, den Lebensbegriff lich keinen in letzter Konsequenz vergeblichen Bruch mit der Institution Kunst als
der Avantgarde in seiner maßgeblichen theoretischen Formulierung zu bestimmen einem autonomen gesellschaftlichen Bereich, sondern vielmehr ein »Umschlag-
und ihn auf das Feld moderner Biopolitiken hin zu öffnen. phänomen auf der identischen ideologischen Ebene«.BB Aus diesem Blickwinkel
In Bürgers Ausführungen fungiert Lebenspraxis als geradezu kulturrevolutionä- würde die Entgrenzung der Kunst auf das Leben keine Überschreitung markieren,
rer Terminus, mit dem die Avantgarde sich gegen die Vorstellung einer absoluten sondern immer an den sozialen Ort gebunden bleiben, den ihr die bürgerliche Ge-
Autonomie der Kunst richtet, und andererseits als Bezeichnung eines gesellschaft- sellschaft zugewiesen hat. In diesem Sinne problematisiert auch Hal Foster den
lichen Entfremdungszustandes. D Die Widersprüchlichkeit des avantgardistischen Lebensbegriff Bürgers und die mit ihm verbundene Transgressionsbehauptung:
Unterfangens, Kunst auf das Leben hin zu entgrenzen, macht die Theorie der Avant- »For what is art and what is life here? Already the opposition tends to cede to art
garde entsprechend darin aus, dass eine Kunst, die sich der bürgerlichen Lebens- the autonomy that is in question, and to position life at a point beyond reach. [...]
praxis allzu sehr annähert, schließlich nicht mehr in der Lage ist, eine Kritik an To make matters more difficult, life is conceived here paradoxically — not only as
eben dieser zu artikulieren.E Im avantgardistischen Rekurs auf das Leben jenseits remote but also as immediate, as if it were simply there to rush in like so much air
des abgesonderten Bereichs des Ästhetischen soll demnach weder Kunst gänzlich once the hermetic seal of convention is broken. This dadaist ideology of immedia-
abgeschafft noch die in der Moderne verstärkt rationalistischen Erwägungen un- te experience [...] leads Bürger to read the avant-garde as transgression pure and
terworfenen Existenzform affirmiert werden. F Vielmehr sollen Kunst wie Leben aus simple.« BC
dem Prozess der »Reorganisierung der Lebenspraxis durch die Kunst« G vollständig In Bürgers Bezug auf das außerhalb der Institution Kunst stattfindende Leben
transformiert hervorgehen. Es wird eine Kunst vorgestellt, die in einer durch sie macht Foster so die Tendenz aus, die avantgardistische Rhetorik des radikalen
gänzlich neu geformten Ordnung des gesellschaftlichen Lebens aufgehoben und Bruchs beim Wort zu nehmen und einem residualen Evolutionismus anzuhängen,BD
darin vom Schicksal ihrer politischen Folgenlosigkeit befreit wäre.H Es ist mithin demzufolge sich die Avantgarde als absoluter Ursprung ihrer eigenen historischen
der Fluchtpunkt des avantgardistischen Gebotes, unter künstlerischen Vorzeichen Bedeutung sowie der Reichweite ihrer ästhetischen Praxis selbst vollkommen be-
alternative Modelle von Subjektivität und Sozialität zu artikulieren, eine neu qua- wusst ist.BE Das Leben, das zu transformieren die Avantgarde aufbricht, kann in
lifizierte Form von Leben zu produzieren. diesem theoretischen Rahmen folglich nur als ein ursprüngliches, unmittelbar und
Dass mit den anti-ästhetischen Verfahrensweisen der historischen Avantgarde authentisch erfahrbares hypostasiert werden, das dann in der Warenästhetik der
jedoch tatsächlich die Grenze zwischen Kunst und Leben als überwunden gelten spätkapitalistischen Nachkriegsgesellschaften entfremdet wird. Angesichts solcher
könnte, stellt Bürger in Abrede, wenn er die seither bereits vielfach kommentierte Einwände scheint es produktiver, den avantgardistischen Lebensbegriff hinsicht-
These vom Scheitern der Avantgarde aufstellt. Selbst Duchamps readymades, in lich seiner Verstrickung mit den modernen Formen von Rationalität zu bestimmen,
denen sich »die avantgardistische Intention der Verbindung von Kunst und Le- auf welche die aneignenden Strategien des Dadaismus selbst verweisen, ist doch
benspraxis materialisierte«, I werden ihm aufgrund der Anerkennung, die sie in-
zwischen als Kunstwerke erfahren, zum Indiz dafür, dass das Versprechen der
9—Burkhardt Lindner, »Aufhebung der Kunst in Le- origin whose aesthetic transformations are fully signifi-
benspraxis? Über die Aktualität der Auseinanderset- cant and historically effective in the first instance.«
zung mit den historischen Avantgardebewegungen«, Ebd., S. 8 Hervorhebung Foster. Auch Benjamin Buch-
3—Siehe dazu ebd., S. 43. 4—Vgl. ebd., S. 68 5—»Die diese negierend, bezieht, ist die zweckrational geord- in: W. Martin Lüdke, »Theorie der Avantgarde«. Ant- loh kritisiert Bürgers mangelnde Berücksichtigung des
Intention der Avantgardisten läßt sich bestimmen als nete des bürgerlichen Alltags. Die Avantgardisten inten- worten auf Peter Bürgers Bestimmung von Kunst und oftmals zeitlich verzögerten Prozesses kunsthistorischer
Versuch, die ästhetische (der Lebenspraxis opponieren- dieren nun keineswegs, die Kunst in diese Lebenspraxis bürgerlicher Gesellschaft, Frankfurt/Main 1976, S. 72— Bedeutungsproduktion: »Bürger’s historical scheme,
de) Erfahrung, die der Ästhetizismus herausgebildet zu integrieren; im Gegenteil, sie teilen die Ablehnung 104, hier: S. 83. 10—Ebd. 11—Ebd. 12—Hal Foster, valid and important as it might be in other respects, is
hat, ins Praktische zu wenden. Das, was der zweckrati- der zweckrational geordneten Welt, die die Ästhetizis- »Who’s Afraid of the Neo-Avant-Garde?«, in: ders., The marred by this one feature: the fiction of the origin as a
onalen Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft am ten formuliert haben. Was sie von jenen unterscheidet, Return of the Real. The Avant-Garde at the End of the moment of irretrievable plenitude and truth.« (Benja-
meisten widerstrebt, soll zum Organisationsprinzip des ist der Versuch, von der Kunst aus eine neue Lebenspra- Century, Cambridge, Mass. und London 1996, S. 1—32, min H.D. Buchloh, The Primary Colors for the Second
Daseins gemacht werden.« Ebd., S. 44. 6—Ebd., S. 80. xis zu organisieren.« Ebd., S. 67 [Hervorhebung Bürger]. hier: S. 15 Hervorhebung Foster. 13—Ebd., S. 10. 14— Time. A Paradigm Repetition of the Neo-Avant-Garde,
7—»Die Lebenspraxis, auf die der Ästhetizismus sich, 8—Ebd., S. 78.
»Bürger projects the historical avant-garde as absolute in: October, Nr. 37, 1986, S. 41—52, hier: S. 42)
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— wie es die Philosophin Cornelia Klinger formuliert — »das ›gute Leben‹ [...] nicht tomatisierten Fabrikation sowie das expandierende Feld neuer Medientechnologi-
allein avantgardistischer Zielhorizont. Es ist die Legitimitätsformel aller industriel- en wie Fotografie und Film, sondern avanciert gleichzeitig zum bevorzugten Mo-
len Modernisierung und somit all derer, die am Modernisierungsprozess, insbe- dell für den in der Verausgabung seiner Arbeitskraft und dem Maß seiner sexuellen
sondere der technischen Entwicklung der Ökonomie, beteiligt sind.« BF Bezüglich Aktivität zu regulierenden menschlichen Körper.BJ In der künstlerischen Praxis und
der tendenziell emphatischen Überhöhung des Lebensbegriffs in der gesamten programmatischen Selbstbestimmung der Avantgarde findet die Maschine als Ge-
Avantgarde-Theorie wirft Helmut Draxler konsequenter Weise die Frage auf, inwie- füge in eben dieser Konvergenz von mechanischer Apparatur und Chiffre der mo-
weit nicht auch sich kritisch verstehende philosophische, politische, popkulturelle dernen Lebensbedingungen Verwendung. Als bildnerisches Idiom, dem sich Arbei-
sowie kunstgeschichtliche Diskurse den Mythos des wahren Lebens als »vitalisti- ten wie diejenigen Picabias annähern, prägt die Maschine deren visuelle Gestalt
sche Gegenbesetzung im Kontext moderner Biopolitiken [...] mit konstituieren«.BG und lässt durch die ihnen zugrunde liegenden Verfahren die Logik der industriel-
Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden anhand der mechanomorphen Zeich- len Rationalität erkennbar werden. Bezüglich des avantgardistischen Bezugs auf
nungen Francis Picabias der Versuch einer Revision des kunsthistorischen Zugangs das modernen (Alltags-)Leben erlaubt es dieser solchermaßen erweiterte Maschi-
zum Projekt der Avantgarde unter biopolitischen Vorzeichen unternommen werden. nenbegriff der Auseinandersetzung mit den Berührungspunkten zwischen dadais-
tischen Praktiken und biopolitischen Kategorien einen produktionsästhetischen

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Industrielle Zeichnungen und libidinöse Maschinen Ansatz zu verfolgen, der formale Kriterien im Zusammenhang mit gesellschaftlich
Wenige Monate vor seinem Statement zur Bedeutung der Maschine für seine dominanten Produktions- und Subjektivitätsentwürfen diskutieren kann, ohne sich
künstlerische Produktion veröffentlicht Francis Picabia in der Nummer 5—6, dabei auf die Rhetorik manifestartiger Selbstaussagen der Avantgarde stützen zu
Juli—August 1915, der im Umkreis von Alfred Stieglitz’ New Yorker Galerie Camera müssen. Denn anstatt in ihnen den Ausweis schöpferischer Kraft erbracht zu finden,
Work produzierten Zeitschrift 291 eine erste Serie mechanomorpher Zeichnungen. lässt sich in diesen Zeichnungen vielmehr ein Bezug zur forcierten Implementie-
Dabei handelt es sich um Porträts in Form von Maschinenteilen, mechanischen rung dieses Mediums als visuellem Mittel der industriellen Produktion feststellen.
sowie elektrischen Apparaturen, industriell gefertigten Objekten und technischen In ihren Studien zum Verhältnis zwischen Marcel Duchamps Vorarbeiten zum so
Diagrammen, die allesamt auf Bildvorlagen aus Zeitschriften basieren. Mit der An- genannten Großen Glas und den Richtlinien für das französische Schulwesen — das
eignung von massenhaft verbreiteten Bildmustern und warenförmigen Objekten auch Picabia durchlaufen hat — führt die Kunsthistorikerin Molly Nesbit aus, am
zielen die dadaistischen Strategien darauf ab, die Institution Kunst gerade auf das Ende des neunzehnten Jahrhunderts werde ein systematisches Curriculum für die
in ästhetizistischen Autonomievorstellungen negierte soziale Leben hin zu erwei- Lehre der Zeichnung erarbeitet, nach dem diese allen ästhetischen Erwägungen
tern, und sie beziehen eben daraus ihr kritisches Potential. Die Referenz der histo- entzogen und gänzlich in den Dienst der konstruktiv-technischen Repräsentation
rischen Avantgarde auf die Maschine ließe sich mit dem Begriff des Gefüges spezi- gestellt werden soll, wie sie den Erfordernissen der industriellen Herstellung von
fizieren, das in der Terminologie von Gilles Deleuze und Félix Guattari »gleichzeitig Waren entspricht. CA Lehramtsanwärter sind dazu angehalten, sich intensiv der
und untrennbar [...] zum einen Maschinengefüge und zum anderen Äußerungs- nicht-retinalen mechanischen Zeichnung zu widmen, um die Dinge jenseits ihrer
gefüge« BH ist und damit ein Objekt benennt, das benutzt wird und zugleich einen Erscheinungen zu erfassen — beispielsweise die mit dem Auge nicht wahrnehm-
Gegenstand bezeichnet, über den Aussagen getroffen werden. BI In dieser Ver- baren einzelnen Bestandteile eines Gebäudes oder aber, wie es in einer weiteren
schmelzung einer materiellen Praxis mit einer diskursiven Formation beherrscht behördlichen Verordnung heißt, die Organe von Maschinen.CB Die nahe liegende
die Maschine im frühen 20. Jahrhundert nicht nur den gesamten Bereich der au- Verbindung zwischen der Zeichnung als universaler Sprache der Industrie und dem
Gefüge der modernen Maschine äußert sich des weiteren in dem Modell von Sub-
jektivität, das der an die kommenden Generationen französischer Schüler/innen
15—Cornelia Klinger, »Die Utopie der Versöhnung von Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizo- zu vermittelnden Fähigkeit des Zeichnens zugrunde liegt. Im Kontext der rationa-
Kunst und Leben. Die Transformation einer Idee im 20. phrenie II, Berlin 1992, S. 698. 18—Vgl. auch Jonathan lisierten Arbeitsprozesse in der industriellen Produktion CC konkretisiert sich in der
Jahrhundert. Vom Staat als Kunstwerk zum life-style Crary, Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne
des Individuums«, in: Cornelia Klinger u. Wolfgang im 19. Jahrhundert, Dresden und Basel 1996, S. 42, der
Müller-Funk (Hg.), Das Jahrhundert der Avantgarden, den Begriff des Gefüges im Rahmen seiner Analyse der
München 2004, S. 211—245, hier: S. 175. 16—Helmut Verwendung der Camera obscura im 17. und 18. Jahr- 19—Philipp Sarasin, Reizbare Maschinen. Eine Ge- Thierry de Duve (Hg.), The Definetely Unfinished Marcel
Draxler, »Ohne Dogma. Timecode als Allegorie der ge- hundert aufgreift. Deleuze/ Guattari stellen bezüglich schichte des Körpers 1765—1914, Frankfurt/Main 2001, S. Duchamp, Cambridge, Mass. und London 1991, S. 351—
sellschaftlichen Fabrik«, in: Marion von Osten (Hg.), der Auseinandersetzung mit einem Gefüge prosaisch 19ff.; Anson Rabinbach, Motor Mensch. Kraft, Ermüdung 394, hier: S. 353, 356. 21—Vgl. ebd., S. 366. 22—»The
Norm der Abweichung, Wien und New York 2003, S. 139— fest: »In jedem Fall muß man beides aufspüren: was und die Ursprünge der Moderne, Wien 2001, S. 65ff. language of industry was a language of and for labor.«
157, hier: S. 155, Anm. 44. 17—Gilles Deleuze und Félix macht man und was sagt man?« 20—Molly Nesbit, »The Language of Industry«, in: Ebd., S. 386.
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Linienführung des Zeichners nicht einmal mehr idealiter der frei gefasste Gedanke wird. Besonders augenfällig wird dies in der blau gehaltenen, diagrammatischen
oder kreative Entwurf im Sinne des klassischen disegno, sondern offenbart sich Wiedergabe der zweiten von Picabia für dieses Maschinenbildnis appropriierten
laut eines offiziellen Handbuchs zur schulbehördlich konformen Méthode de des- Vorlage, die sich als vertikal aufgerichtetes, rechteckiges Feld zu erkennen gibt,
sin von 1899 der Prozess des Zeichnens vielmehr als automatisierter Vorgang — »en welches von den Ausbuchtungen des Schalltrichters jeweils seitlich überschnitten
quelque sorte d’une manière inconsciente, machinale«. CD In einer solchermaßen wird. An den Längsseiten wird dieser an Ingenieurspläne erinnernde Grundriss
›maschinisierten‹ Zeichnung kann die Linie schwerlich als Ausdruck einer souverä- durchgehend von zwei parallel geführten Linien begrenzt, deren Zwischenräume
nen künstlerischen Subjektivität Geltung beanspruchen, sondern firmiert als stan- eine gleichmäßig schräge Schraffur aufweisen.
dardisierte Konstituente in einer bildnerischen Produktion zweiter Ordnung. Ro- Wie im Katalog einer 1976 in Paris gezeigten Werkschau Picabias systematisch
salind Krauss führt in diesem Sinne unter anderem im Hinblick auf Picabia aus: aufgezeigt wird, ist für die Mechanomorphien von Verfahren der Aneignung nicht
»Now the line imbibes the robotic character of a mark made in the course of tra- nur im Bezug auf das Pastiche kunstexterner Bildvorlagen zu sprechen, sondern
cing, a line that is so slavishly indebted to the model lying below it that it has lost können diese ebenso für einen Großteil der Titel und Inschriften nachvollzogen
any connection to the draftsman’s own distinctive hand [...]: the ground at which werden. In diesem Zusammenhang stellen die so genannten ›rosa Seiten‹ des Petit
the automation of drawing takes the form of the motley ›dumb‹ outlines of the Larousse Illustré, auf denen lateinische und fremdsprachige Redensarten hinsicht-
mechanical draftsman’s rendering of the industrial object — the line as invariant, lich ihrer Herkunft und Bedeutung aufgelistet werden, die wichtigste Bezugsquelle
the line as intended for mass production.« CE der zunächst obskur und arbiträr erscheinenden Texteinlassungen Picabias dar. CH
Innerhalb der im Juli und August 1915 in 291 publizierten ersten Serie von Me- Der französische Titel des Autoporträts von 1915 ist auf das lateinische Äquivalent
chanomorphien kommt der Arbeit Le Saint des Saints ein besonderer Stellenwert des jüdischen Ausdrucks für den heiligsten der heiligen Orte im Tempel zurückzu-
zu, wird diese aus mehreren Bildvorlagen kompilierte Zeichnung doch als Selbst- führen, das ›Sanctum sanctorum‹, zu dem allem Profanem der Zutritt strengstens
porträt Picabias ausgewiesen: Direkt unterhalb der Titelinschrift ist in demselben verwehrt ist. CI Durch den Titel Le Saint des Saints konfrontiert Picabia eine der vi-
Drucksatz am unteren Rand des Blattes die Zeile »C’EST DE MOI QU’IL S’AGIT DANS CE suellen Sprache des Alltagslebens verpflichtete Zeichnung mit der Vorstellung eines
PORTRAIT« positioniert. Bei Le Saint des Saints handelt es sich um eine nach den auratisch abgehobenen, unzugänglichen Ortes, wie er nach Walter Benjamins Aus-
Prinzipien der Frontalität und Symmetrie organisierte Zeichnung, in der zwei mit- führungen zum Kultwert dazu dient, »das Kunstwerk im Verborgenen zu halten«.CJ
tels blauer und schwarzer Tinte voneinander abgesetzte Maschinenteile zusam- In einer jüngeren Publikation definiert Giorgio Agamben als Religion, »was die
mengefügt werden, ohne dass sich aus dieser Kombination ein nachvollziehbarer Dinge, Orte, Tiere oder Menschen dem allgemeinen Gebrauch entzieht und in eine
Mechanismus ergeben würde. Ausgehend von einem sockelartigen Quader ist ein abgesonderte Sphäre versetzt« DA und legt damit implizit auch eine Bestimmung
sich in diagonalem Zuschnitt von unten nach oben kontinuierlich verbreiternder, der ästhetizistischen Lehre des l’art pour l’art vor, die für Benjamin wiederum »ei-
kegelartiger Körper gezeigt, auf den eine nur in ihren äußeren Umrissen wiederge- ne Theologie der Kunst ist«. DB Der ursprünglich ausschließlich religiöse Modus des
gebene, trichterförmige Fläche gesetzt ist, die gleichwertig zu beiden Seiten über Entzugs vom alltäglichen Gebrauch findet für Agamben seine stärkste Ausprägung
die Breite der gesamten restlichen Anordnung hinausragt. CF Picabia kippt die Ab- im Kapitalismus der Moderne, in dem »alles, was getan, produziert und gelebt
bildung einer Auto-Hupe um neunzig Grad und überführt die von ihm angeeigne- wird [...], von sich selbst abgesondert und in eine abgesonderte Sphäre verscho-
te Fotografie zugleich in das zeichnerische Idiom der modernen Maschine, das ben [...] wird«.DC Dieser umfassenden Form der Separation setzt Agamben ein po-
Krauss zufolge durch die »icily impersonal crispness of mechanical drawing« CG litisches Konzept der Profanierung entgegen, demzufolge »das, was nicht verfüg-
charakterisiert ist. In Le Saint des Saints bedient sich Picabia ersichtlicher Weise der bar und abgesondert war [...] seine Aura verliert«,DD indem es — beispielsweise im
Technik des Durchpausens sowie eines Zirkels und eines Lineals, so dass die Reprä-
sentation der ausgewählten Maschinenteile in eine rigide Flächigkeit überführt
27—Jean-Hubert Martin und Hélène Seckel, »Locutions »Lob der Profanierung«, in: ders., Profanierungen,
latines et étrangères extraites du Petit Larousse«, in: Frankfurt /Main 2005, S. 70—91, hier: S. 71. 31—Benja-
Ausst.-Kat. Francis Picabia, Galeries Nationales du min, Kunstwerk, a.a.O., S. 17. 32—Agamben, Profanie-
23—Ebd., S. 383, Anm. 24. 24—Rosalind E. Krauss, The Mechanomorphie ausfindig machen. William Innis Ho- Grand Palais, Paris 1976, S. 47—49. 28—Ebd., S. 48. rung, a.a.O., S. 79. Agamben stützt sich hierbei auf
Picasso Papers, Cambridge, Mass. 1998, S. 142. 25—Wil- mer, »Picabia’s Jeune Fille américaine dans l’état de 29—Walter Benjamin, »Das Kunstwerk im Zeitalter sei- Benjamins Fragment zum »Kapitalismus als Religion«
liam Innis Homer konnte mit einer Werbeanzeige für nudité and Her Friends«, in: The Art Bulletin, Bd. 57, Nr. ner technischen Reproduzierbarkeit«, in: ders., Das und führt weiter aus, in der derzeitigen Phase des Ka-
das »Stewart Warning Signal«, die am 23. Juni 1915 in 1, 1975, S. 110—115, hier: S. 111. 26—Krauss, Picasso Pa- Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzier- pitalismus stellten der Konsum und das Spektakuläre
der amerikanischen Automobilisten-Zeitschrift Horse- pers, a.a.O., S. 124. barkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt/ die beiden Seiten der Unmöglichkeit des Gebrauchs dar.
less Age abgedruckt ist, eine der Bildvorlagen für diese Main 1963, S. 7—44, hier: S. 19. 30—Giorgio Agamben, Vgl. ebd., S. 79f. 33—Ebd., S. 74.
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Titel, Jahr, Künstler


FTitel, Jahr, Künstler
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Spiel — einem unangemessenen Gebrauch zugeführt wird.DE Anders als mit dem Duchamps als Unterweisung in die französische Grammatik auftretender Fünfzeiler
Prozess der Säkularisierung ist mit demjenigen der Profanierung Agamben zufolge ersetzt die Orthographie des Wortes ›saint‹ durch das im Französischen gleich klin-
keine bloße Verschiebung des Heiligen in den Bereich des Weltlichen gemeint, gende Wort ›seins‹, so dass aus der Aufzählung der Heiligen eine Variation sowohl
sondern dessen vollständige Neutralisierung.DF Der in Picabias Selbstbildnis ausge- über den Geruch als auch die Empfindung von Brüsten und Brustwarzen — ›bout
spielte Kontrast von einem mechanischen Zeichenduktus und einer das Heiligste du sein‹ — wird. In Picabias Le Saint des Saints sind die homonymen Bedeutungs-
beschwörenden Inschrift könnte in diesem Sinne als Allegorie für die avantgardis- ebenen dadurch multipliziert, dass weder eine ausformulierte Syntax noch eine
tische Intention aufgefasst werden, Kunst von denjenigen Beschränkungen zu be- alternative Schreibweise vorgegeben werden.DJ In dem Heiligen der Heiligen kann
freien, die sie im Namen der Autonomie von der alltäglichen Lebenswelt abzuson- so ebenfalls ›Le Saint des Seins‹, der Heilige der Brüste, oder ›Le Sain des Saints‹,
dern suchen. Mit der Übernahme dieser lexikalisch definierten theologischen For- der Gesunde der Heiligen, wie auch ›Les Seins des Saints‹, die Brüste der Heiligen,
mel ist darüber hinaus aber eine grundlegende Aussage zur künstlerischen Pro- oder aber ›Le Sain des Seins‹, die Gesunde der Brüste, sogar ›Le Sein des Seins‹, die
grammatik des Dadaismus verbunden, die für das den Mechanomorphien Picabias Brust der Brüste, vernommen werden. Als signifikanteste Verschiebung hat gleich-
zugrunde liegende Verständnis des Mediums Zeichnung entscheidend ist. wohl das lautliche Gleiten der Beifügung »des Saints« zu gelten, durch das sich
Die spezifische Bedeutung des Titels Le Saint des Saints eröffnet sich erst in den der Titel der Mechanomorphie in ›Le Saint Dessin‹, die heilige Zeichnung, oder ›Le
vielfältigen Homophonien, die sich ergeben, wenn er laut gesprochen wird. Durch Sain Dessin‹, die gesunde Zeichnung, wandelt. Diese mediale (Selbst-)Definition
Alliteration, auditorische Verdopplung und Wiederholung stellt sich ein sprachli- kann auch als ›dessein‹ im Sinne von Plan, Grundriss und Muster verstanden wer-
cher Effekt ein, der mit Marcel Duchamps Rotoreliefs verglichen werden kann. Auf den.EA Für diese Mechanomorphie lässt sich eine Inkongruenz zwischen der ange-
der drehbaren Scheibe von dessen Machine Optique von 1920 ist so beispielsweise eigneten graphischen Registratur der industriellen Produktion und dem multiva-
der Satz »Rrose Sélavy et moi estimons les ecchymoses des Esquimaux aus mots lenten Titel feststellen, der zum einen als Pseudonym des ausführenden wie dar-
exquis« zu lesen, welcher vorgetragen den Prozess der Bedeutungsbildung durch gestellten Künstlersubjekts fungiert und zum anderen eine Bestimmung des bild-
seine Überladung mit einer inversiven Rhythmik erschwert und dadurch die Weise, nerischen Mittels der Zeichnung vornimmt. Wenngleich sich die Linienführung in
in der Worte ihre Referenten denotieren, in Konfusion bringt.DG Für sich genom- Le Saint des Saints in den Worten von Krauss als »mockingly resistant to the shifts
men stellt bereits der Name von Duchamps Alter ego »Rrose Sélavy« ein zweifaches and swells of traditional drawing’s attempts to make contour responsive to
Homophon dar, das durch die Dopplung des Anfangsbuchstabens und die pho- volume« EB zeigt, mobilisiert die Mehrdeutigkeit des Titels eine latente somatische
nemische Entsprechung des zweiten Teils zu der Aussage »Éros, c’est la vie« wird. Dimension der Zeichnung, mit der fortwährend auf einen diesem Medium inhä-
Demnach ist das Leben in einen Zyklus des erotischen Begehrens eingeschrieben, renten sexuellen Affekt angespielt wird, die George Baker wie folgt charakterisiert:
den Duchamp in einer als Litanei angeführten Notiz zum Großen Glas als Teufels- »Drawing as mechanized reproduction, fecundated not by the penis but by the
kreislauf charakterisiert.DH Im Jahre 1921 veröffentlicht er unter seinem weiblichen pen. Reproduction, for Picabia, would never remain simply a mechanical process;
Pseudonym in André Bretons Zeitschrift Littérature eine Litanie des saints, die nicht it would be conceived, instead, as both machinic and bodily, with reproduction
zuletzt dem Titel des mechanomorphen Selbstporträts seines Freundes Picabia von understood in its full sexual sense. Marching indeed to the drum beat of desire
1915 geschuldet ist: and the drives.« EC
»Litanie des saints. In seinem Selbstporträt überführt Picabia die vorgefundenen Bildmuster des
Je crois qu’elle sent du bout des seins. Maschinenzeitalters nicht in eine explizit sexuelle Formensprache, sondern unter-
Tais-toi, tu sens du bout des seins. stellt sie einer Titelinschrift, die sich in eine lautmalerische Litanei verwandelt,
Pourquoi sens-tu du bout des seins? nach der es den Heiligen zu den Brüsten drängt und die Zeichnung unauflöslich an
Je veux sentir du bout des seins.« DI

1919-1924, Dissertation, Columbia University, New York writing and speech, denigrating static inscriptions for
34—Ebd.,
2001, S. 114, Anm. 7. Hier und im Folgenden beziehe ich the force of performance, bypassing the fixity of re-
S. 72f. 35—Ebd., S. 74. 36—Vgl. Rosalind E. Unconscious, Cambridge, Mass. und London 1996, S.
mich auf Bakers Dissertation, die in der Zwischenzeit presentation for the ambiguities of sheer immediacy.«
Krauss, »Notes on the Index, Part 1«, in: dies., The Ori- 96ff. 37—Siehe Marcel Duchamp, Duchamp du Signe.
unter dem Titel »The Artwork Caught by the Tail. Francis Ebd., S. 40. 40—Ebd.; zu diesem Wortspiel siehe auch
ginality of the Avant-Garde and Other Modernist Myths, Écrits. Réunis et présentés par Michel Sanouillet, Paris
Picabia and Dada in Paris« (Cambridge, Mass. u. Lon- William A. Camfield, Francis Picabia. His Art, Life and
Cambridge, Mass. und London 1985, S. 196—209, hier: 1994, S. 82f.; Krauss, Notes, a.a.O., S. 200. 38—
don 2007) als Buch erschienen ist. 39—Baker führt Times, Princeton, New Jersey 1979, S. 84, Anm. 37. 41—
S. 200. Zu Duchamps Rotoreliefs siehe auch Krauss, Duchamp, Écrits, a.a.O., S. 154. Siehe dazu auch George
hierzu aus: »We are in the presence of that most prized Krauss, Picasso Papers, a.a.O., S. 151. 42—Baker, Lost
Picasso Papers, a.a.O., S. 60ff. sowie: dies., The Optical Baker, Lost Objects. Francis Picabia and Dada in Paris,
of Dada structures, a device that would disarticulate Objects, a.a.O., S. 79f. [Hervorhebung Baker].
[... ]
348 Medien, Affekt, Kunst Avantgarde, Maschine und Biopolitik 349
André Rottmann

ein körperlich affizierendes Begehren gebunden ist. Die visuelle Sprache der In- dernismuskritischer kunsthistorischer Erzählungen diese Rationalisierung der Pro-
dustrie wird bei Picabia zum Gegenstand einer Zeichenpraxis, die sich selbst als duktion auf Grundlage derjenigen des menschlichen Körpers,EH indem beispiels-
libidinös konnotiertes Verfahren der Aneignung kunstexterner Vorlagen definiert — weise in Le Saint des Saints eine Kombination disparater Maschinenelemente als
mit weitreichenden Konsequenzen für kritische Avantgarde-Theorien und deren Bildnis eines Subjekts ausgegeben wird, das trotz seiner Immobilität nicht von den
biopolitischen Implikationen. Wechselfällen der Libido verschont bleibt. David Joselit zufolge besteht das politi-
sche Potential der historischen Avantgarde folglich darin, dass künstlerische Sub-

3
Fordistisches Unbehagen und biopolitisches Kalkül jektentwürfe wie die Picabias nicht mit dem arbeitswissenschaftlichen Kalkül der
Insbesondere aufgrund der Fusion des Ästhetischen mit dem Libidinösen modernen Fabrikführung vereinbar seien, welches nachdrücklich das Ideal eines
rechnet George Baker die Zeichnungen Picabias in ihrer Gesamtheit dem grö- Lohnempfängers zu realisieren sucht, dessen Aktivität auf die unermüdliche Ver-
ßeren Projekt des Dadaismus zu, künstlerische Produktion mittels der Evokation richtung einer einzigen körperlichen Tätigkeit reduziert werden soll.EI
eines begehrenden Subjekts den Repressionen des Modernismus zu entziehen.ED Es ist insbesondere die vermeintliche Unkontrollierbarkeit der Sexualität, die in
Aus kunsttheoretischer Perspektive laufen Picabias Verfahren der Aneignung und den 1910er und 1920er Jahren nicht nur von Großkapitalisten wie Henry Ford, son-
seine Strategien der Libidinisierung den formalistischen Konzepten einer selbstbe- dern auch von kommunistischen Revolutionären wie Antonio Gramsci gefürchtet
züglichen Präsenz des Kunstwerks und dessen entkörperlichten, rein optischen Er- wird, dessen Vision von einer proletarischen Gesellschaft die Ordnung und Präzisi-
fahrung zuwider. Dadurch dass Körper und Maschine in Picabias Mechanomorphi- on der Maschine und des Fließbandes bis in die Sphäre des Privatlebens der Arbei-
en in einem Entsprechungsverhältnis stehen, widersetzen sie sich Baker zufolge — terschaft ausgedehnt sehen will. EJ Innerhalb dieser produktivistischen Logik einer
und dies ist für den Versuch einer kritischen Revision kanonischer Modelle der Unterdrückung von Sexualität operiert beispielsweise auch Fritz Langs Stummfilm
Avantgarde vor dem Hintergrund von biopolitischen Kategorien entscheidend — ei- Metropolis von 1926, in dem der Wissenschaftler Rotwang — wie in dem Motto »Fil-
ner einfachen Assimilierbarkeit in die modernen Transformationen des Kapitals.EE le née sans mère« präfiguriert, dem Picabia seine Maschinenzeichnungen pro-
Zu Beginn des 20. Jahrhundert erfolgte bekanntermaßen ein ökonomischer Pa- grammatisch subsumiert hat — einen weiblichen Roboter in einem Schöpfungsakt
radigmenwechsel mit dem Ziel einer optimalen Nutzbarmachung und effizienten ›ohne Mutter‹ erschafft, der als Inkarnation destruktiver Sexualität auftritt.FA Als
Kontrolle des arbeitenden Körpers im industriellen Produktionsprozess. In den 1911 ›Maschinenvamp‹ wird der Automat zur Bedrohung für die Fabrikstadt, die schließ-
veröffentlichten Principles of Scientific Management erläutert der amerikanische lich nur durch seine Zerstörung gerettet werden kann. Der Filmtheoretiker Peter
Ingenieur Frederick Winslow Taylor wie die Produktivität der Arbeitskraft durch die Wollen stellt bezüglich der Langschen Roboterfrau und ihrer Bedeutung innerhalb
Analyse und Disziplinierung der einzelnen Bewegungsabläufe in der standardi- des Handlungsverlaufs von Metropolis fest: »Sexuality-out-of-control is the main
sierten Fertigung zu steigern ist.EF Das Organisationssystem der Detroiter Automo- threat to the rationality of technology.« FB Vor diesem Hintergrund erscheint es
bilwerke von Henry Ford radikalisiert Taylors Körperanalytik, indem die nach phy- mithin plausibel, in Picabias Maschinenbildnissen ein Unbehagen des fordistisch-
siologischen Gesichtspunkten zerlegten Arbeitsvorgänge nicht wieder zusammen- tayloristischen Modells von Arbeit auszumachen. Dieses Argumentationsschema
gefügt und an den einzelnen Arbeiter vermittelt, sondern als getrennte Produkti- wird von der Kunsthistorikerin Helen Molesworth sogar dahingehend verallgemei-
onsetappen von mehreren Arbeitern hintereinander am Fließband ausgeführt nert, dass die künstlerischen Produktionsformen des Dadaismus allesamt als Ant-
werden.EG Ist es nach den Richtlinien von Ford und Taylor allein die gleichsam me- wort auf die kulturelle Anforderung zu bewerten seien, produktive wie konsump-
chanisierte Physis eines jeden Arbeiters, welche in die industrielle Maschinerie tive Arbeit den Logiken des Taylorismus und Fordismus anzupassen,FC und sie des-
einzuspannen ist, so durchkreuzen Picabias Mechanomorphien aus der Warte mo- wegen nicht nur den Versuch unternehmen, die Institution Kunst obsolet werden
zu lassen, sondern auch die kapitalistischen Arbeitsbedingungen und deren Ein-

43—»Picabia’s drawings — in fact Picabia’s entire Da- onalisierungskonzept siehe Peter Wollen, »Cinema/

daist production — tie drawing to what must be called Americanism / The Robot«, in: New Formations, Nr. 8, 47—Vgl. Rabinbach, Motor Mensch, a.a.O., S. 282. 48— tioning of production.« (David Joselit, Infinite Regress.
an allegorization of desire, part and parcel of [...] the 1989, S. 7—34, hier: S. 8; ausführlich Philipp Sarasin,
»For as much as industrial theorists like Taylor and Ford Marcel Duchamp 1910—1941, Cambridge, Mass. und Lon-
larger Dada project of the libidinalization of art practice »Die Rationalisierung des Körpers. Über ›Scientific Ma-
fantasized about a productive body parted from its don 1998, S. 132f.) 49—Vgl. Wollen, Cinema, a.a.O., S.
in the wake of modernism’s manifold repressions.« nagement‹ und ›biologische Rationalisierung‹«, in: Mi-
mind, such a human monster was impossible to obtain 10. 50—Ebd., S. 17. 51—Ebd., S. 19. 52—Vgl. Helen Mo-
(Baker, Lost Objects, a.a.O., S. 78) 44—»Neither can the chael Jeismann (Hg.), Obsessionen. Beherrschende Ge-
in practice, and this meant that the worker’s wilful or lesworth, »From Dada to Neo-Dada and Back Again«,
mechanomorph’s equivalency principle be easily assi- danken im wissenschaftlichen Zeitalter, Frankfurt/Main
involuntary resistance to his own mental evisceration in: October, Nr. 105, 2003, S. 177—181, hier: S. 179f.
milated to the modern transformations of capital.« 1995, S. 78—115, hier: S. 85—93. 46—Vgl. Sarasin, Ratio-
emerged as a serious impediment to the smooth func-
(Baker, Lost Objects, a.a.O., S. 262) 45—Zu Taylors Rati- nalisierung, a.a.O., S. 89f.
350 Medien, Affekt, Kunst Avantgarde, Maschine und Biopolitik 351
André Rottmann

schränkung der Kategorie des Lebens herauszufordern.FD Die Mechanomorphien einer allgemein befreiten Subjektivität widersetzen kann. Im Gegenteil ist das mo-
weisen die Zurichtung des Lebens durch die industriell geprägten Produktionsver- derne Sexualitätsdispositiv Foucault zufolge untrennbar mit den Technologien der
hältnisse für George Baker wiederum dadurch zurück, dass sie den Betrachter dazu Bio-Macht verbunden und dient der umfassenden Kontrolle der Körper sowie der
auffordern, das visuelle Feld einer gänzlich anderen Ökonomie zu bezeugen, in Lüste auf der Grundlage ihrer regulativen Steigerung. Der sexualisierte Körper steht
dem eine Äquivalenz von Maschine und sexuell aktivem Körper anzutreffen ist, den zweckrationalen Erfordernissen des modernen Lebens aus dieser Perspektive
welche sich dem kapitalistischen Streben nach Standardisierung mittels einer Re- also keineswegs entgegen und muss in seiner Entfaltung unterdrückt werden. Viel-
präsentation des Partikularen und Differenten verweigert.FE Mit Bezug auf Fredric mehr »verläuft der Anschluß des Sexualitätsdispositivs an die Ökonomie über
Jameson erklärt der amerikanische Kunsthistoriker das Kritikmodell des Dadaismus zahlreiche und subtile Relaisstationen — deren wichtigste aber der Körper ist, der
generell dahingehend, dass diese Bewegung der historischen Avantgarde an die produzierende und der konsumierende Körper«.FJ Wenngleich David Joselit sich in
Stelle einer Kulturproduktion, die gemäß der Logik der Moderne nach Adorno und seinen Ausführungen zur Verwendung von Diagrammen in der Bildproduktion des
Horkheimer »alles mit Ähnlichkeit«FF schlägt, künstlerische Verfahren treten lasse, Dadaismus weder explizit auf Foucaults Machtkonzeption bezieht noch die weiter-
welche die Bedingungen des Spätkapitalismus vorwegzunehmen scheinen.FG gehende Frage nach der biopolitischen Dimension der Verbindung von libidinösen
Wenn das Prinzip einer Äquivalenz von Körper und Maschine demzufolge aber Körpern und Maschine aufwirft, wendet auch er sich gegen die Annahme einer
als Chiffre für einen expandierenden Zugriff des Kapitalismus auf alle gesellschaft- strukturellen Unvereinbarkeit von Erotismus und kapitalistischen Produktionsbe-
lichen Bereiche und subjektiven Dispositionen zu verstehen ist,FH so lassen sich dingungen. In konzeptueller Hinsicht gründen die Mechanomorphien wie auch
Picabias Mechanomorphien gleichermaßen in jenen Parametern beschreiben, wel- Duchamps Großes Glas Joselit zufolge gerade in dem sich in der Moderne ausprä-
che die Rationalität der modernen Biopolitik kennzeichnen. Dementsprechend genden Beziehungsgeflecht von Subjektivität, Sexualität und ökonomischen Erfor-
sind diese Maschinenzeichnungen im Kontext der Herstellung und Organisation dernissen:
eines produktiven Lebens zu analysieren, die nach Michel Foucault in den diszip- »Such works die Maschinenzeichnungen Picabias, A.R. belong to the sa-
linären Prozeduren und Vorrichtungen des Einschließungsmilieus Fabrik ihren Aus- me metaphoric universe as Duchamp’s Large Glass, in which personal eroticism is
gang nehmen. Im Gegensatz zu dem von Baker in Anschlag gebrachten Modell ei- presented as a virtually operatic performance of modernity’s demand that subjec-
ner restriktiven Ökonomie,FI setzen kapitalistische Wertschöpfungsprozesse aus tivity accomodate new modes of production and consumption.« GA
dem Blickwinkel der Biopolitik jedoch nicht (nur) auf Repressionsmechanismen,
denen sich die systematisch bekämpfte Wahrheit einer ungehemmten Libido oder Auf theoretischer Ebene ließe sich diese Feststellung mit Blick auf Foucaults Aus-
führungen zur modernen Biopolitik dahingehend reformulieren, dass Sexualität
und ökonomische Prozesse gleichermaßen in die Produktivität von Machtbezie-
53—»Dada’s strategies of production not only try to a later condition — the ›late‹ capitalist dynamic of de- hungen eingeschrieben sind,GB so dass die von Picabia vorgenommene Verschrän-
render ›art‹ obsolescent, but also are designed to de- territorialized flow.« (Baker, Lost Objects, a.a.O., S. 121, kung von Maschine und begehrendem Körper kein Moment der Transgression dar-
molish (or at least challenge) the capitalist-bound Anm. 38) 57—Jameson definiert im Anschluss an die
terms of labor that go a long way to circumscribe the Periodisierung des Kapitalismus durch Ernest Mandel stellen kann, wie dies ein kritischer Konsens innerhalb der kunsthistorischen Aus-
category of ›life‹.« Ebd., S. 180. 54—Als theoretische die Phase des Spätkapitalismus als »the purest form of einandersetzungen mit der historischen Avantgarde immer wieder postuliert. In
Grundlage für eine solche Widerständigkeit der Mecha- capital yet to have emerged, a prodigious expansion of Der Wille zum Wissen wendet sich Foucault selbst gegen solche — oftmals von den
nomorphien dient George Baker das Kleinsche Partial- capital into hitherto uncommodified areas« und fährt
objekt: »We are summoned to bear witness to a visual fort: »This purer capitalism of our own time thus elimi- Schriften Georges Batailles inspirierten — Behauptungen einer strukturellen Sub-
field of an entirely altered economy, [...] an economy nates the enclaves of precapitalist organization it had versionskraft des Sexuellen, indem er dem methodologischen Vorgehen der Psycho-
spewing out remainders but gleefully deprived of a hitherto tolerated and exploited in a tributary way. One analyse, auch die moderne Sexualität im Rahmen einer von prohibitiven Gesetzen
common denominator. The mechanomorph’s equiva- is tempted to speak in this connection of a new and
lency principle must [...] be compared to the flow of historically original penetration and colonization of
endless differences that belongs to the part object.« Nature and the Unconscious.« (Fredric Jameson, The
Baker, Lost Objects, a.a.O., S. 262f. 55—Theodor W. Ad- Cultural Logic of Late Capitalism, in: ders., Postmoder- 59—Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität sprechend führt Foucault aus, dass in der Moderne die
orno und Max Horkheimer, »Kulturindustrie. Aufklä- nism, or the Cultural Logic of Late Capitalism, Durham
und Wahrheit, Teil 1, Frankfurt /Main 1976, S. 129. 60— »Politik des Körpers nicht mehr die Ausschaltung des
rung als Massenbetrug«, in: dies., Dialektik der Aufklä- 1991, S. 1—54, hier: S. 36) 58—Siehe Baker, Lost Objects,
David Joselit, »Dada’s Diagrams«, in: Leah Dickerman Sexes oder seine Einschränkung auf bloße Reprodukti-
rung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/ Main 1969, a.a.O., S. 102. Baker definiert diese Form der Ökonomie
und Matthew S. Witkovsky (Hg.), The Dada Seminars, (= on verlangt; statt dessen arbeitet sie mit seiner vielfäl-
S. 128—176, hier: S. 128. 56—»Along the model of what in Anlehnung an Bataille als »modernity’s world of
CASVA Seminar Papers I, Center for Advanced Study in tigen Kanalisierung in den kontrollierbaren Kreisläufen
Fredric Jameson has termed ›cultural revolution‹, Dada enshrined production, its idolatry of reified and isola-
the Visual Arts, National Gallery of Art, Washington), der Ökonomie«. Foucault, Wille zum Wissen, a.a.O., S.
... can perhaps be seen as falling outside a high moder- ted objects called commodities, its obsession with ac-
Washington 2005, S. 220—239, hier S. 232. 61—Dement- 138.
nist / capitalist regime of repression, predicting, instead, tivities of conservation and preservation«. (Ebd.)
352 Medien, Affekt, Kunst Avantgarde, Maschine und Biopolitik 353
André Rottmann

hervorgebrachten symbolischen Ordnung zu betrachten, sein Modell eines pro- kraft.GH Vor diesem Hintergrund kann es daher nicht darum gehen, zum wieder-
duktiven Machtverhältnisses entgegensetzt: »Nichts vermag zu verhindern, daß holten Male das Scheitern avantgardistischer Ausbruchversuche zu erörtern, das
das Denken der Ordnung des Sexuellen in den Begriffen des Gesetzes, des Todes, angesichts des Anspruchs, nichts anderes als eine gänzlich neue Form des Lebens
des Blutes und der Souveränität — wie sehr man sich auch auf Sade und Bataille zu etablieren, ohnehin vorprogrammiert sein muss — und zudem einem hoff-
als Bürgen für ›Subversion‹ berufen mag — letztlich nur eine nostalgische Rück- nungslos überdeterminierten Begriff von Kunst bzw. deren politischer Effekte ver-
wendung in die Geschichte ist. Man muß das Sexualitätsdispositiv von den Macht- pflichtet ist —, sondern vielmehr die Ambiguität herauszustellen, die sich für eine
techniken her denken, die ihm zeitgenössisch sind.« GC kritische Kunstpraxis aus der tendenziellen Ununterschiedenheit von Norm und
Dies hat zur Folge, dass für Picabias Mechanomorphien das Verhältnis zwischen Abweichung ergibt. In dieser Perspektive erscheint es adäquater, Picabias Mecha-
Sexualität und den subjektivierenden Imperativen der industriellen Fertigung nicht nomorphien auf das Konzept der Lebens-Form zu beziehen, mit dem Giorgio
als ein gegenseitiger Ausschluss, sondern als wechselseitige Implikation beschrie- Agamben von den »unwegsamen Zonen der Ununterschiedenheit aus [...] Mittel
ben werden könnte, wie dies Foucault in seinen Studien zur Geschichte der Sexu- und Wege einer neuen Politik« GI entwerfen will, die unter den biopolitischen Be-
alität für die biopolitischen Machttechnologien der Moderne hervorgehoben hat.GD dingungen der Moderne weder mittels noch »zugunsten eines anderen Körpers
Wie Joselit ausführt, ist mit der Vorstellung einer weiblichen Maschine zunächst überwunden werden« GJ können.
eine widersprüchliche Zuschreibung verbunden, weil sie gleichzeitig eine Meta-

4
pher für technische Produktion und das Resultat dieses Prozesses darstellt.GE Dieses Entschiedene Ununterscheidbarkeit
Paradox wird in den künstlerischen Verfahren von Duchamp und Picabia aufgelöst, Nach seiner Rückkehr aus den USA beginnt Francis Picabia im Dezember 1917
indem sexuelles Begehren sowohl als Bestandteil industrieller Mechanismen auf- mit der Arbeit an einem Lyrikband, der neben einundfünfzig Gedichten auch
gefasst wird als auch selbst eine produktive Dimension zugesprochen bekommt — achtzehn Maschinenzeichnungen enthält und im April 1918 unter dem Titel Poèmes
»desire is introduced into industrial mechanisms and production enters desire«.GF et dessins de la fille née sans mère in Lausanne publiziert wird. Zwar sind die in
Mit dem in Picabias Zeichnungen anzutreffenden Prinzip einer Äquivalenz von diesem Band versammelten Zeichnungen Picabias bereits durch den Titel des
libidinösem Körper und moderner Maschinerie ist mithin eine Expansion des Künstlerbuchs auf die im Kontext von New York Dada entstandenen Maschinenbil-
modernen Fabrikregimes auf jeden Bereich des gesellschaftlichen und individu- der bezogen, unterscheiden sich jedoch in formaler und thematischer Hinsicht von
ellen Lebens verbunden. Diesbezüglich können die Mechanomorphien auch in den drei Jahre zuvor in 291 veröffentlichten Arbeiten: In dem schmalen Band las-
die theoretische Perspektive jener biopolitischen Ordnung des Ökonomischen ge- sen sich mehrere Seiten finden, bei denen es sich nicht um mechanomorphe Por-
rückt werden, die sich nach der Lesart des Postoperaismus darin manifestiert, träts von Mädchen oder Töchtern, sondern explizit um Darstellungen von als männ-
dass sich die Gegenwart von Arbeit auf den gesamten sozialen Raum und alle lich ausgewiesenen Apparaturen handelt.
Aspekte von Subjektivität ausweitet und »die Trennung von produktiver und un- In der mit wenigen Strichen ausgeführten Zeichnung Machines sans but ist ein
produktiver Arbeit [...] als bedeutungslos angesehen werden muss«.GG In Folge nahezu die gesamte Seite einnehmendes Objekt dargestellt, das auf den ersten
dieser Ununterschiedenheit werden in kapitalistischen Produktionsverhältnissen Blick an eine Blüte mit Stängel denken lässt. Es ist eine nach oben hin zulaufende
auch jene menschlichen Kapazitäten und Kompetenzen mobilisiert, die in dem Kuppe zu sehen, die am Punkt ihres größten Umfangs von einer zu beiden Seiten
klassischen Produktionsparadigma des Fordismus ungenutzt bleiben. Der Körper ausgedehnten, breit geschwungenen Herzform eingefasst wird, die an ihrem un-
ist folglich nicht als vitalistischer Widerstandsherd anzusehen, sondern als ver- teren Ende in ein schmales vertikales Rechteck mündet. In dem Gebilde wird da-
äußerlichter Träger einer das ganze Leben einschließenden potentiellen Arbeits- durch der Eindruck von Plastizität erweckt, dass innerhalb des blumenartigen Ge-
genstands eine gebogene Linie von links oben nach rechts unten verläuft, die eine

62—Ebd., S. 179. — In »Homo Sacer« richtet sich auch ren Typen von Verhältnissen (ökonomischen Prozessen,
Agamben gegen das Denken Batailles, indem er kons- Erkenntnisrelationen, sexuellen Beziehungen) nicht als 67—So charakterisiert Paolo Virno die menschliche Ar- because it is the substratum of what really matters: la-
tatiert, dass dessen »Definition der Souveränität durch etwas Äußeres, sondern sind ihnen immanent.« Fou-
beitskraft in Anlehnung an ihre Definition durch Marx bor power as the aggregate of the most diverse human
Überschreitung dem tötbaren Leben im souveränen cault, Wille zum Wissen, a.a.O., S. 115. 64—Vgl. David
wie folgt: »Capitalists are interested in the life of the faculties.« (Paolo Virno, A Grammar of the Multitude.
Bann unangemessen bleibt, ... um mit der Frage der Joselit, »Marcel Duchamp’s Monte Carlo Bond Machine«,
worker, in the body of the worker, only for an indirect For an Analysis of Contemporary Forms of Life, Los An-
Gewalt in der modernen Biopolitik fertig zu werden.« in: October, Nr. 59, 1991, S. 8—26, hier: S. 12. 65—Ebd.
66—Michael Hardt und Antonio Negri, Die Arbeit des reason: this life, this body, are what contains the facul- geles und New York 2004, S. 82f. [Hervorhebung Virno])
(Giorgio Agamben, Homo Sacer. Die souveräne Macht 68—Agamben, Homo Sacer, a.a.O., S. 196. 69—Ebd., S.
ty, the potential, the dynamis. The living body becomes
und das nackte Leben, Frankfurt / Main 2002, S. 123. Dionysos. Materialistische Staatskritik in der Postmo-
63—»Die Machtbeziehungen verhalten sich zu ande- an object to be governed not for its intrinsic value, but 197.
derne, Berlin und Amsterdam 1997, S. 14.
354 Medien, Affekt, Kunst Avantgarde, Maschine und Biopolitik 355
André Rottmann

Differenzierung in Vorder- und Hintergrund erkennbar werden lässt. Ausgehend Titel, Jahr, Künstler
von der linken unteren Ecke läuft eine im oberen Bereich nach rechts abknickende Titel, Jahr, Künstler

Diagonale auf das in der Mittelachse des Blattes positionierte Rechteck zu. Eine
Entsprechung findet dieses Bildelement in der gegenüber liegenden Partie der
Buchseite, wo eine kurze horizontale Linie in einem nahezu identischen Winkel
nach schräg oben fluchtet. Wie in den restlichen ›Illustrationen‹ des Gedichtban-
des hat Picabia auch im Falle von Machines sans but mehrere Schriftzüge direkt in
die Komposition der Zeichnung integriert. So ist parallel zum Verlauf der Diagonale
am linken Bildrand das Wort »INCOMPRÉHENSIBLE« zu lesen, während an der rech-
ten Seite der Ausdruck »DE CONCERT« ausgemacht werden kann. Gleichsam im Zen-
trum der Mechanomorphie steht die Wendung »VIVRE UNE AUTRE RAISON«.
Als die im Falle dieser Mechanomorphie angeeignete Vorlage kann der französi-
sche Kunsthistoriker Arnauld Pierre eine schematische Darstellung der Schiffs-
schraube des im Dienste der französischen Flotte stehenden Panzerkreuzers ›Léon-
Gambetta‹ anführen, die im Februar 1918 in der siebenunddreißigsten Nummer
von La Science et la Vie publiziert wird.HA Picabia richtet das Motiv um neunzig Grad
auf und spart mit Ausnahme der mittels einer einfachen diagonalen Linie wieder-
gegeben Unterseite des Schiffs und deren Fortsetzung oberhalb des hydraulischen
Antriebs alle auf der Tafel enthaltenen visuellen Informationen aus, so dass aus
dem stählernen Objekt nautischer Ingenieurskunst ein organisch anmutender
Fortsatz wird, der vollends ungeeignet scheint, sich einer Schiffsschraube entspre-
chend dem massiven physikalischen Widerstand seiner Umgebung zum Trotz in
Bewegung zu setzen. Sexuelle Konnotationen lassen sich in dieser Mechanomor-
phie nicht auf der Ebene von Texteinfügungen, sondern allenfalls bezüglich der
zeichnerischen Modifizierung der Gestalt des Maschinenteils behaupten, als dass
eine Feminisierung von männlich codierter Technologie vorgenommen ist, in der
eine ambivalente geschlechtliche Zuschreibung gesehen werden könnte. Insge-
samt ist allerdings festzustellen, dass der in den Zeichnungen Picabias aus dem
Jahre 1918 ansonsten prominente Aspekt sexueller Unzulänglichkeit in Machines
sans but zugunsten eines weiter gefassten Konzepts von Dysfunktionalität in den
Hintergrund tritt, das aber gleichermaßen über das bildnerische Idiom der moder-
nen Maschine vermittelt ist.
In dieser Hinsicht ist der im Plural angegebene Titel besonders aussagekräftig,
präsentiert Picabia den Gegenstand seiner Mechanomorphie dadurch doch nicht
als eine singuläre Maschine, sondern als die beispielhafte Darstellung einer gan-
zen Kategorie von Apparaturen, deren Funktionsbestimmung paradoxerweise dar-
in liegt, ohne Ziel und Antrieb in einem Zustand des Unvermögens zu verharren,

70—Siehe Arnauld Pierre, Sources inédites pour l’œuvre

machiniste de Francis Picabia 1918—1922, in: Bulletin de


la Société de l’histoire de l’art français, 1991, S. 255—281,
hier: S. 259.
356 Medien, Affekt, Kunst Avantgarde, Maschine und Biopolitik 357
André Rottmann

der weder durch die Perspektive einer bevorstehenden Aktivierung noch in derje- adynamía gefasste Möglichkeit, etwas nicht zu tun.HF Gemäß dieser Behauptung
nigen einer vollständigen Desintegration aufgehoben werden kann. Auf einer ab- erschöpft sich die in der Potenz »noch ungeschiedene Einheit von Vermögen und
strahierenden Ebene ließe sich sagen, dass mit diesem Status in Picabias Zeich- Nichtvermögen« HG nicht im Akt ihrer Verwirklichung, womit ein alternatives Ver-
nung ein kritischer Einsatz verbunden wird, ist in dem zentral positionierten ständnis von Unvermögen etabliert wird, als es in den Worten von Eva Geulen
Schriftzug doch von dem ›Leben einer anderen Vernunft‹ die Rede — »vivre une »nicht das Gegenteil von Vermögen ist, sondern [...] eine eigene Macht hat«.HH Das
autre raison«. Hiervon ausgehend kann für diese Zeichnung erneut ein Bezug zum kritische Potential des von Agamben vorgeschlagenen Konzepts der Lebens-Form
avantgardistischen Gebot hergestellt werden, das in der Moderne zunehmend ra- gründet sich mithin in der Vorstellung eines Unvermögens, das die Fähigkeit, sich
tionalistischen Erwägungen unterworfene Leben auf der Grundlage von künstleri- den das gesamte Leben durchsetzenden Machttechnologien der Biopolitik zu wider-
schen Verfahren zu verändern. Jedoch wird in Machines sans but selbst deutlich, setzen, aus der ihm eigenen ›entschiedenen Unentschiedenheit‹ zwischen Wirk-
dass der Versuch einer Überschreitung dominanter gesellschaftlicher Produktions- lichkeit und Möglichkeit bezieht.HI Für Picabias Mechanomorphie Machines sans
verhältnisse und ihren subjektivierenden Effekten aussichtslos sein muss, und sich but gibt das Konzept der Lebens-Form insofern produktive Beschreibungskategori-
ein widerständiges Potential vielmehr aus der in Titel wie Inschrift angesproche- en ab, als durch den zentralen Schriftzug »vivre une autre raison« die Möglichkeit
nen Weigerung eröffnen könnte, dem Imperativ einer unausgesetzten Produktivi- eines Lebens aufgerufen wird, das einer anderen Rationalität verpflichtet ist. Diese
tät des Lebens Folge zu leisten. Solchermaßen wird Picabias Maschinenbild an Potenz aber bleibt untrennbar an die Dysfunktionalität der ins Bild gesetzten tech-
diejenigen theoretischen Überlegungen zur Biopolitik anschließbar, die unter den nischen Apparatur gebunden. Infolgedessen ließe sich die These aufstellen, dass
Prämissen eines selbst produktiven Machtverhältnisses und eines alle Lebensbe- in der Maschinendarstellung Picabias ein Begriff von Unvermögen akzentuiert wird,
reiche erfassenden Begriffs von Arbeit versuchen, ein immanent argumentierendes der nicht »als Negation des Vermögens, sondern als [...] eigenständige[r] Ermög-
Modell von Kritik zu entwerfen, für das Giorgio Agambens Konzept der Lebens- lichungsgrund« HJ zu begreifen ist. In dieser Hinsicht könnte das kritische Potential
Form paradigmatisch einstehen kann. dieser Arbeit in der paradoxen Evokation eines Vermögens zum Unvermögen aus-
Im Rahmen seiner Ausführungen zur Geschichte staatlicher Gewalt seit der rö- gemacht werden, welches in der Lage ist, im »Gleichgewicht zwischen Behaup-
mischen Antike führt der italienische Philosoph den Begriff der forma-di-vita ein, tung und Verneinung [...], zwischen Akzeptanz und Weigerung, zwischen Setzung
um der biopolitischen Abspaltung des nackten Lebens den theoretischen Entwurf und Aufhebung« IA zu verbleiben — anstatt heroische Gesten der Überschreitung zu
eines Lebens entgegenzusetzen, »in dem die einzelnen Weisen, Akte und Verläufe simulieren, die wie der Lebensbegriff einschlägiger Theorien der Avantgarde und
des Lebens niemals einfach Tatsachen sind, sondern immer und vor allem Lebens- kunsthistorische Modelle einer Kritik des Dadaismus an der kapitalistischen Zurich-
möglichkeiten [possibilità di vita], immer und vor allem Potenz [potenza]«.HB Nach tung moderner Existenzweisen durch fordistische Arbeitsprozesse auf der Grund-
Agamben ist ein Leben, das auf seiner eigenen Potentialität zu bestehen vermag, lage einer in diesem Kontext strukturell devianten Sexualität immer schon in das
dadurch in der Lage, sich der dualistischen Trennung in ein formloses bloßes Le- Kalkül moderner Biopolitiken eingeschrieben sind.
ben auf der einen und in ein gesetzförmiges Leben auf der anderen Seite zu
entziehen,HC so dass sich in der solchermaßen unteilbaren Lebens-Form »das Le-
ben des homo sacer, […] in eine Existenz [verkehrt], auf welche die Macht keiner-
lei Zugriff mehr zu haben scheint«.HD Die Brisanz eines Denkens der potenza be-
steht für Agamben darin, dass es sich bei dem Verhältnis von Wirklichkeit und
Möglichkeit nicht um ein logisches, sondern um ein ontologisches Problem han- 75—Vgl. ebd. Dementsprechend führt Agamben auch

delt, und eine Potenz deshalb auch unabhängig von ihrer Realisierung existieren in seinem Buch über den homo sacer aus: »Das Vermö-
gende kann erst dann zum Akt übergehen, wenn es die
und Wirkung entfalten kann.HE Hierin folgt der italienische Theoretiker Aristoteles, Potenz, nicht zu sein (seine adynamía), ablegt. Dieses
der in seiner Metaphysik ausführt, dass eine Potenz sowohl die als dynamía be- Ablegen der Impotenz bedeutet nicht ihre Zerstörung,
zeichnete Möglichkeit beinhaltet, etwas zu tun als auch die in dem Begriff der sondern im Gegenteil ihre Erfüllung; die Potenz wendet
sich auf sich selbst zurück, um sich selbst zu geben.«
Agamben, Homo Sacer, a.a.O., S. 55 [Hervorhebung
Agamben]. 76—Geulen, Agamben, a.a.O., S. 45. 77—
71—Giorgio Agamben, »Lebens-Form«, in: ders., Mit- Hamburg 2005, S. 107f. 73—Agamben, Homo Sacer, Ebd., S. 46. 78—Vgl. Agamben, Homo Sacer, a.a.O., S.
tel ohne Zweck. Noten zur Politik, Freiburg und Berlin a.a.O., S. 162 [Hervorhebung Agamben]. 74—Vgl. Geu- 162. 79—Geulen, Agamben, a.a.O., S. 44. 80—Giorgio
2001, S. 13—20, hier: S. 13 [Hervorhebung Agamben]. len, Agamben, a.a.O., S. 45. Agamben, Bartleby oder die Kontingenz gefolgt von Die
72—Vgl. Eva Geulen, Giorgio Agamben zur Einführung, absolute Immanenz, Berlin 1998, S. 38.

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