Dass die Kirche als Institution nicht frei von Sünde ist, wird
spätestens seit Bekanntwerden der Missbrauchsfälle kaum
mehr angezweifelt. Grund dafür ist ein problematisches Ver
hältnis zur Macht. Christian Bauer, Professor und Leiter des
Instituts für Praktische Theologie an der Uni Innsbruck, geht
dem Klerikalismus auf den Grund und entwickelt einen syno
dalen Lösungsansatz, die strukturelle Sünde des Machtmiss
brauchs anzugehen.
ommer in Rom: Ich stehe vor St. Peter und betrachte die Fassade mit
Was ist die Mitte dieser Inschrift - und damit der gesamten Fassade des
Petersdomes? Es sind die übergroßen Buchstaben des Wortes BVRGHESIUS: das
Geschlecht der Borghese, dem Papst Paul V. entstammte. Die Mitte der Fassa
de des Petersdomes verherrlicht somit nicht die „Kraft des Evangeliums“ (Röm
1,16), sondern die Macht eines stadtrömischen Herrschergeschlechts. Die un
verhohlene Machtdemonstration dieser zentralen Inschrift auf der Fassade des
Petersdoms zeigt: Kirche und Macht hängen auf das Engste zusammen. Und somit
leider auch Kirche und Missbrauch von Macht im Kontext von sexualisierter Ge
walt: „Zum Missbrauch Nein zu sagen, heißt zu jeder Form von Klerikalismus mit
Nachdruck Nein zu sagen.“1 Macht der Sünde und Sünde der Macht, Missbrauch
durch Geistliche und geistlicher Missbrauch gehören zusammen - und müssen
auch gemeinsam bekämpft werden: Klerikalismus ist strukturelle Sünde. Dem
praxistheologischen Dreischritt - Sehen, Urteilen, Handeln - entlang geht es
im Folgenden zunächst um eine Wahrnehmung sündhafter Kirchenstrukturen
im Sinne der historisch konkreten Kirchentheorie Karl Rahners, sodann um eine
Kritik missbrauchter Pastoralmacht im Sinne der symmetrisch gebauten Macht -
theorie Michel Foucaults und schließlich um die Optionen postklerikaler Nach
folgewege im Sinne der synodal strukturierten Pontifikatspolitik von Papst Fran
ziskus.
Karl Rahner:
Wahrnehmung sündhafter Machtstrukturen
Missbrauch von Macht ist ein pastorales Querschnittsthema, das alle kirchlichen
Orte, Ebenen und Akteure in gleicher Weise strukturell betrifft. Für den sexuellen
Missbrauch als den wohl gravierendsten Auswuchs klerikaler Machtausübung gilt
dabei die Erkenntnistheorie Walter Benjamins, der zufolge sich „am Extremfall
zeigt, was prinzipiell der Fall ist“2. Potenzieller Machtmissbrauch steckt in der
Tat tief „in der DNA der Kirche“3, ist also keine „exogene Krankheit“, sondern
ein „endogener Erbschaden“4 kirchlicher Strukturen. Er gehört in konstituti
ver Weise zu ihrem irdisch-himmlischen Mischwesen als realitcis complexa (vgl.
Lumen Gentium 8), in der sündig-menschliches und heilig-göttliches Element
ungetrennt und unvermischt ineins gehen. Entsprechende Kirchenstrukturen
lassen sich zwar religiös verbrämen, nicht aber wegspiritualisieren.
Auf einer Fortbildung erzählte mir ein Miinsteraner Priester vor kurzem die
folgende Anekdote: Während einer ekklesiologischen Vorlesung von Professor
Joseph Ratzinger meldete sich ein Student und fragte, wie es angesichts all dessen
denn mit der Macht in der Kirche stehe. Die Antwort des Professors sei gewesen:
In der Kirche gebe es keine Macht, sondern nur eine Vollmacht! Diese spiritualisie-
rende Aussage steht in der Gefahr, die konstitutive, also zu ihrer irdisch-mensch
lichen Existenz gehörende Machtverstrickung der Kirche zu verschleiern: „Kirche
heißt hier das Menschliche, das zwar unvermischt, aber auch ungetrennt mit dem
Göttlichen verbunden ist“5. Die Kirche ist kein überzeitlich „abstraktes Ideal“6
einer an und für sich heiligen Kirche, sondern vielmehr die historisch konkrete
Wirklichkeit einer in ihrer Sündhaftigkeit heiligen Kirche, deren Missbrauchs
geschichte jeden Jargon platonisierender Eigentlichkeit verbietet: „Wenn wir nur
532
Macht in der Kirche
sagen würden: Freilich gibt es Sünder in der Kirche, aber diese Tatsache hat mit
der eigentlichen Kirche nichts zu tun, dann setzen wir einen idealistischen Begriff
der Kirche voraus, der theologisch gesehen sehr fragwürdig ist.“7
Die dogmatische Konsequenz wäre ein ekklesiologischer Doketismus oder
Monophysitismus, der das menschliche - und somit per se auch: sündenfähige -
Element der Kirche leugnet. Denn es gilt ja, so Karl Rahner, nicht nur: Glieder der
Kirche sind Sünder. Sondern auch: Sünder sind Glieder der Kirche. Sie haben die
Kirche selbst „durch ihr sündiges Tun verwundet“ (LG 11) - wobei diese Selbst
verwundung der Kirche im Missbrauchsfall ungleich weniger ungeheuerlich ist als
die Verwundung der Opfer sexualisierter Gewalt durch kirchliche Täterinnen und
Täter. Sie tangiert die Kirche nicht rein peripher, sondern vielmehr in ihrem in
nersten Wesen. Es gehört ja zu ihrer menschlich-göttlichen Doppelnatur, dass sie
„in einer nicht unbedeutenden Analogie zum Mysterium des fleischgewordenen
Wortes“ (LG 8)8 nicht nur der „geheimnisvolle Leib Christi“ (LG 8), eine „geist
liche Gemeinschaft“ (LG 8) und eine „mit himmlischen Gaben beschenkte Kirche“
(LG 8) ist (= „göttliches Element“), sondern vielmehr auch eine „mit hierarchi
schen Organen ausgestattete Gesellschaft“ (LG8), eine „sichtbare Versammlung“
(LG 8) und eine „irdische Kirche“ (LG 8) (= „menschliches Element“). Im Sinne
der vom Konzil bewusst erstgereihten, menschlich-allzumenschlichen Begriffs
serie dieser complexio oppositorum ist sie daher immer auch machtgefährdet,
sündenfähig und reformbedürftig:
„Während Christus, der .heilig, schuldlos, unbefleckt’ war, keine Sünde kann
te, [...] beschreitet die Kirche, die in ihrem eigenen Schoß Sünder umfasst
sowie zugleich heilig und stets reinigungsbedürftig ist [sancta simul et semper
purificanda], immerfort den Weg der Buße und der Erneuerung. [...] Durch die
Kraft des auferweckten Herrn gestärkt, möge sie [...] sein Mysterium, wenn
auch schattenhaft [licet sub umbris], so doch glaubenstreu [fideliter tarnen]
in der Welt enthüllen, bis es am Ende in vollem Licht offenbar werden wird“
(LG 8).
Der eschatologisch offene Optativ dieses letzten Satzes wird jedoch, vor allem
im sexuellen Missbrauchsfall, seitens der Kirche allzu häufig enttäuscht - in der
pastoralen Kirchenkonstitution des Konzils heißt es daher:
„Die Gläubigen können [...] durch [...] die moralischen und gesellschaftlichen
Mängel ihres eigenen religiösen Lebens das wahre Antlitz Gottes und der Re
533
Christian Bauer
ligion eher verhüllen als offenbaren [potius velare quam revelare]. “ (Gaudium
et Spes 9).
„Schon also ist [...] die Erneuerung der Welt [...] auf eine gewisse Weise tatsäch
lich vorweggenommen: denn die Kirche ist schon auf Erden durch eine wahre,
wenn auch noch unvollkommene Heiligkeit [vera sanctitate licet imperfecta]
ausgezeichnet. Bis jedoch ein neuer Himmel und eine neue Erde kommen, in
denen die Gerechtigkeit wohnt [...], trägt die pilgernde Kirche in ihren Sakra
menten und Einrichtungen, die noch zu diesem Zeitalter gehören, die Gestalt
dieser Weltzeit, die vergeht, und zählt somit auch selbst zu der Schöpfung, die
bis heute noch immer seufzt und in Wehen liegt und auf die Offenbarung der
Kinder Gottes wartet. “ (LG 48).
534
Missbrauchsskandal,
Strukturen, Frauenfrage usw.
Da „würde ich Ihnen widersprechen. [Wenn man sich...] zum Beispiel die Stu
dien [..] von Hans-Joachim Sander in Salzburg anschaut [...:] die Foucault-Re-
zeption ist lange, lange im Gang und natürlich [sind...] diese Theoriemodelle
auch angewandt worden [...] auf die Frage, was passiert eigentlich im System
katholische Kirche.“12
Michel Foucault:
Kritik missbrauchter Pastoralmacht
In der Innsbrucker Jesuitenkirche befindet sich eine Statue des guten Hirten
mit einem Schaf auf der Schulter. Der lange und dunkle Schatten dieser sym
bolisch verdichteten Bildwerdung des Pastoralen wird heute als sexualisierte
Gewalt sichtbar. Gleich gegenüber: ein Missionar, der ein „armes Negerkind“
auf den Schultern trägt. Man braucht nicht das ganze Arsenal postkolonialer
Theorieproduktion aufzufahren, um den manifest paternalistischen und in-
fantilisierenden - und daher stets auch missbrauchsanfälligen - Klerikalismus
dieser pastoralen Gesamtszenerie zu erkennen. Michel Foucault hat den in diesem
Zusammenhang weiterführenden Begriff der Pastoralmacht geprägt. Macht und
Herrschaft sind für ihn nicht dasselbe. Machtausübung ist nicht notwendiger
weise repressiv im Weberschen Sinne. Sie ist vielmehr ein „produktives Netz,
das den gesamten sozialen Körper überzieht“13. Ihre Ausübung erzeugt immer
auch subversive Gegenmacht: „Sobald es ein Machtverhältnis gibt, gibt es eine
Widerstandsmöglichkeit. Wir stecken nie völlig in der Falle“14. Widerstand verhält
sich streng koextensiv zur Macht: „Widerstand muss sein wie die Macht: genauso
erfinderisch, genauso beweglich, genauso produktiv“15.
Vor diesem begrifflichen Hintergrund sind innerkirchlich zwei Formen des
pastoralen Machtgebrauchs zu unterscheiden: Autorität („auctoritas“) und Amts
gewalt („potestas“). Die lateinische Wortwurzel weist einen Weg einerseits in
Richtung produktiver Ermöglichung von Gegenmacht und andererseits in Rich
tung repressiver Unterdrückung von Widerstand: auctoritas kommt von lat. eili
gere (= fördern, mehren), potestas von lat. posse (= können, vermögen). Warum
536
Macht in der Kirche
hat jemand Autorität? Weil er oder sie Lebenschancen vermehrt. Und warum tut
jemand etwas mit Amtsgewalt? Weil er oder sie es kann. Zugleich gilt aber auch:
Potestas kann man beanspruchen, auctoritas muss man sich erwerben, denn
sie braucht die Anerkennung der Anderen. Damit verhält es sich wie im Evan
gelium: Wer potestas aus freien Stücken abgibt, kann auctoritas gewinnen. Wer
aber krampfhaft an seiner potestas festhält, wird auctoritas verlieren (vgl. Mk
8,35 u.a.).
Christliche Pastoralmacht ist idealerweise eine Macht im zweiten Sinne, die
von der persönlichen Glaubwürdigkeit der Amtsträgerinnen und Amtsträger lebt:
„Pastoralmacht ist nicht bloß eine Macht, die befiehlt; sie muss auch bereit sein,
sich für das Leben und Heil der Herde zu opfern.“16 Das biblische Rollenmodell
für diese proexistente Autorität von Pastoralmacht findet sich im Johannes -
evangelium: „Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe“ (Joh 10,11). Se
xueller Missbrauch verkehrt die Autorität dieser positiven Pastoralmacht in ihr
absolutes Gegenteil: Aus dem möglichen Selbstopfer (lat. sacrificium) wird ein
reales Fremdopfer (lat. victima). Wenn die pastorale Amtsgewalt im übrigen Volk
Gottes je wieder Autorität gewinnen will, dann bedarf es einer entschlossenen
Selbstdepotenzierung des monarchisch verfassten Kirchenamtes durch freiwillige
Einbindung in die Checks and Balances von demokratisch verfassten Synodal
strukturen.
In spiritueller Hinsicht geht es in diesem Zusammenhang um eine Kultivierung
von pastoraler Machtausübung in personaler Eigendifferenz („Zu-sich-selbst-
verhalten-Können“) oder interpersonaler Selbstrelativierung („Nicht ohne die
Anderen“). Gregor der Große, der sich als erster Papst in machtdepotenzierender
Weise selbst Servus servorum Dei nannte, bezeichnete Demut (humilitas) daher
auch als die wichtigste Tugend pastoraler Machtausübung und Stolz (superbia)
als deren größte Sünde:
„Nur der demütige Herrscher ist ein guter [...] Herrscher. Die Herrschaft, die
aus Stolz und Überheblichkeit ausgeübt wird, ist Machtmissbrauch. [...] Damit
geht immer auch eine totalitäre Versuchung pastoraler Herrschaft einher. “17
537
Christian Bauer
konstitutiver Weise aufeinander verwiesen sind: das regimen animarum und die
cura animarum. In seiner brillanten „Kurzen Geschichte pastoralen Herrschafts
wissens“ charakterisiert Michael Hoelzl diese grundlegende Differenz mit Hilfe
der komplementären Begriffe der fürsorgenden Leitung („regimen animarum“)
und der leitenden Fürsorge („cura animarum“):
„In der vorliegenden Theorie vom guten Hirten wird die Entwicklung pas
toralen Herrschaftswissens von seinen gregorianischen Ursprüngen bis zum
[...] Postulat der Herrschaftsfreiheit in der praktischen Theologie [nach dem
Konzil] rekonstruiert [...]. [...] [Dabei] wird gezeigt, wie sich die Wissenschafts -
theoretische Diskussion um den Status der praktischen Theologie zu einer
Handlungstheorie .seelsorglicher’ Praxis entwickelte, die im Wissenschafts -
theoretischen Postulat der Herrschaftsfreiheit einen gewissen, wenn auch nur
im akademischen Bereich vollzogenen, Abschluss der Geschichte pastoralen
Herrschaftswissens darstellt. “18
„Ich glaube, dass es niemals in der Geschichte [...] eine so verwickelte Kombi
nation von Individualisierungstechniken und Totalisierungsverfahren [...(ge
geben hat. Das liegt daran, dass der moderne [...] Staat eine alte Machttechnik,
die den christlichen Institutionen entstammt, nämlich die Pastoralmacht, in
eine neue politische Form integriert hat.“21
538
Macht in der Kirche
nen im Blick: omnes et singulatim, die ganze Herde und jedes einzelne Schaf.
Diese „gleichzeitige Sorge“22 des Hirten markiert den Übergang von der pastoralen
Seelenführung zur politischen Menschenregierung am Beginn der Neuzeit. Fou
caults umfassende Beschäftigung mit entsprechenden Formationen des Wissens
und Dispositiven der Macht führten ihn in der Nachfolge der Aufklärung zu an
tiken Techniken der Selbstsorge, die auch einen Ausweg aus selbstverschuldeter
kirchlicher Machthörigkeit bieten könnten.
Innerhalb des „Pastoraldispositivs“23 seelsorgerlicher Menschenregierung
durch machtpastorale Techniken von Leib- und Seelsorge bieten diese spät
modern wiederentdeckten Subjektivierungstechniken eine postklerikale Alter
native zum überkommenen Pastoralregime über Körper und Geist. Es geht um
eine Subjektivität ermöglichende, von repressiven Zwängen befreiende „Ent-
unterwerfung“ (frz. desassujetissement), welche die Pastoralmacht kirchlicher
Menschenregierungskünste subvertiert: Menschen nehmen ihre Seelenführung
in die eigene Hand. Denn jede menschliche Unterwerfung unter den Willen von
Anderen bringt auch die dunkle Seite pastoraler Macht ans Licht.
Eine lebensförderliche Gegenmacht entsteht, wenn auch innerhalb der Kir
che gesellschaftlich längst anerkannte Wege der Selbstführung als „postpastorale
Macht“24 zugelassen werden - und die pastorale Sorge um Einzelne als freisetzende
Begleitung verstanden wird und nicht als unterwerfende Seelenführung. In freier
Selbstsorge, die ebenso freie Nächstenliebe ermöglicht, kann kirchliche Macht-
ausübung dann auch in pastoraler Heilsorientierung unter dem Vorzeichen der
Freiheit kultiviert werden: „Die Gatter sind offen.“25 Macht hat Foucault zufolge
ohnehin kein Außen - auch in der Kirche gibt es keinen machtfreien Raum und
schon gar keinen herrschaftsfreien Diskurs ä la Jürgen Habermas: „Jede Befreiung
eröffnet ein Feld für neue Machtverhältnisse, das von den Praktiken der Freiheit
kontrolliert werden muss. “26 Foucault skizziert ein entsprechend nichtutopisches
Ethos der Selbstsorge in wechselseitiger Verwiesenheit:
„Die Vorstellung, dass es einen Zustand der Kommunikation gibt, in dem die
Spiele der Wahrheit ohne Hindernisse [...] zirkulieren können, scheint mir der
Ordnung der Utopie anzugehören. [...] Ich glaube, dass es keine Gesellschaft
ohne Beziehungen der Macht geben kann [...]. Das Problem ist [...] nicht der
Versuch, diese in der Utopie einer vollkommen transparenten Kommunikation
aufzulösen, sondern sich [...] ein Ethos zu geben, eine Praxis des Selbst, die
innerhalb der Spiele der Macht mit einem möglichst geringen Minimum an
Herrschaft zu spielen erlauben. “27
539
Christian Bauer
Papst Franziskus:
Optionen postklerikaler Nachfolgewege
Kaum ein Papst hat den innerkirchlichen Klerikalismus bisher derart vehement kri
tisiert wie Papst Franziskus. Und selten zuvor hat sich ein Papst so entschieden wie
er für einen synodalen Umbau seiner Kirche ausgesprochen. Mit seinem vehementen
Eintreten gegen den Klerikalismus und für mehr Synodalität kratzt er dabei nicht nur
an der Oberfläche der Kirche, sondern geht vielmehr an ihre Wurzel: zurück zum
Evangelium. Die synodal verfasste Kirche, die ihm vorzuschweben scheint, erinnert
an seine eigene Ordensgemeinschaft: die Gesellschaft Jesu. Für den Jesuiten Fran
ziskus ist die ganze Kirche eine Societas Jesu28 - eine synodale Weggemeinschaft,
in der alle Beteiligten zunächst einmal imd vor allem anderen socii und sociae Jesu
sind: Gefährtinnen und Gefährten, die in der Nachfolge ihres Herrn die solidarische
Weggemeinschaft mit allen Menschen guten Willens suchen (IHS: Iesum habemus
soeium). Es geht ihm um eine postklerikale Kirche, die auf gemeinsamem Weg („syn-
odos“) wieder zurückfmdet in die jesuanische Spur des Evangeliums. Synodalität,
das „gemeinsame Vorangehen“29 aller auf dem Weg der Nachfolge, ist das Gegenteil
von Klerikalismus. Zugleich ist sie auch ein probates „Gegenmittel“30:
„Der Klerikalismus entsteht aus einer elitären [...] Sicht von Berufung, die das
empfangene Amt als eine auszuübende Macht versteht und nicht als einen [...]
anzubietenden Dienst. Jene Haltung führt zu der Auffassung, man gehöre zu
einer Gruppe, die alle Antworten besitzt und nicht mehr zuzuhören und nichts
mehr zu lernen braucht. “31
„Eine Grundbedingung dafür ist es, offen zu sprechen. [...] Alles, was sich je
mand zu sagen gedrängt fühlt, darf mit Parrhesia [...] ausgesprochen werden
[...]. Und zugleich soll man [...] offenen Herzens annehmen, was die Brüder
[und Schwestern] sagen. Mit diesen beiden Geisteshaltungen üben wir die
Synodalität aus. Daher bitte ich euch [...] um diese Geisteshaltung [...]: mit
Freimut sprechen und in Demut zuhören. “33
540
Macht in der Kirche
Papst Franziskus setzt seine Kirche auf die „ganz andere[n], viel weniger
pastoralmachtförmige[n] Parrhesiaspuren“34 des Evangeliums: „Die Bühne von
Freiheit, Wahrheit und Macht kann aus christlicher Perspektive viel kreativer
bespielt werden, als bisher vermutet.“35 Auch die letzten Vorlesungen Fou
caults am College de France waren der Wiederbelebung dieser antiken Tugend
der Parrhesia als Technik spätmoderner Lebenskunst gewidmet. Franc-parier,
also freimütiges Wahrsprechen (frz. veridiction) heißt für ihn: Man sagt frank
und frei, was man denkt. Gelegen oder ungelegen. Parrhesia ist die individuelle
Kunst, eine als richtig erkannte Wahrheit unvertretbar zu bezeugen - ein in
asymmetrischen Machtverhältnissen durchaus riskantes Zeugnis der Wahrheit,
das im Extremfall parrhesiastischer Selbstgefährdung sogar bis zum Äußersten
gehen kann.
Das gilt auch für die parrhesiastische Aufdeckung von identitären, totalitären
und autoritären Denkweisen im Kontext pastoraler Machtausübung, die leider
nicht nur im kirchlichen, sondern auch im politischen Bereich zur extremen
Rechten hintendieren (Stichwort: Bannon-Burke-Connection). Die katholische
Theologin Doris Wagner (jetzt: Reisinger), die seit ihrem Austritt aus der Gemein
schaft Das Werk erheblichen Kirchenmut beweist, bemerkte kürzlich in einem
Radiointerview zu diesem repressiven pastoralen Machtkomplex:
„Die [...] autoritäre Logik, dass einige Menschen irgendwie besser wissen, was
Gott will und das anderen Menschen zu sagen haben und die sich dem zu fügen
haben, [steckt] [...] tief in der Kirche drin. Ich glaube wirklich, dass es in der
Kirche Menschen gibt, auch in leitenden Positionen, die nicht in der Lage sind,
anders zu denken und das zu überdenken. Und das ist ein großer Teil des Pro
blems der Reformunfähigkeit der Kirche.“36
Nötig wäre daher ein beherzter Aufbruch in die synodale Nachfolgepraxis einer
postklerikalen Kirche, die identitäres, totalitäres und autoritäres Denken in den
eigenen Reihen überwindet. Es geht um einen performativen Lösungsansatz im
Geist des Evangeliums, der selbst schon mit dem beginnt, worauf er eigentlich
zielt: einen wirklich verbindlichen synodalen Aufbruch der deutschen katholi
schen Kirche. Eine neue Gemeinsame Synode wäre zur Bearbeitung der kirchen
internen Machtproblematik dringend nötig. Eine der Synodalen müsste dann in
jedem Fall Christiane Florin heißen. Deren heiliger Zorn nach dem römischen
Missbrauchsgipfel bringt die ohnehin schon lange strapazierte Kirchengeduld
kritisch-loyaler Katholikinnen und Katholiken parrhesiastisch auf den Punkt:
541
Christian Bauer
„Warum, zum Teufel, geben wir diesem Laden immer wieder eine Chance? [...]
In meiner Jugend mochte ich die Jugendarbeit, die Gebete, die Diskussionen,
die Musik. [...] Ich spürte aber auch die Verletzungen in meiner Familie: das
Minderwertigkeitsgefühl der Geschiedenen, das Leid der versteckt Homo
sexuellen [...] „Warum bist du noch dabei? “, werde ich immer häufiger gefragt.
Ich stammle dann etwas von Nostalgie und Biografie. Aber eigentlich denke
ich ganz böse: Wir Geduldigen sind Komplizen.“37 +
Anmerkungen
1 Papst Franziskus: Schreiben von Papst Franziskus an das Volk Gottes (20.08.2018), auf: Vatican.va, vgl.
<http://w2.vatiean.va/eontent/franeeseo/de/letters/2018/doeuments/papa-franeeseo_20180820_let-
tera - popolo - didio. html>.
2 Ottmar Fuchs: Gnadenjahr ist jedes Jahr. Überlegungen zur Globalisierung und Radikalisierung christli
cher und kirchlicher Existenz, in: Ders. (Hg.): Pastoraltheologische Interventionen im Quintett. Zukunft
des Evangeliums in Kirche und Gesellschaft. Münster 2001, 97-152,147.
3 Heiner Wilmer: Das Böse in der Kirche eindämmen, in: Kölner Stadtanzeiger (14.12.2018), 14.
4 Karl Rahner: Kirche der Sünder, in: Ders.: Schriften zur Theologie VI. Einsiedeln 21968, 301-320, 313.
5 Ebd. 305. 6 Ebd. 310. 7 Ebd. 308.
8 Wenn man die göttlich-menschliche Doppelnatur der Kirche analog zu den beiden Naturen Christi
denkt, dann ist dabei die strikte Analogizität dieser Aussage im Sinne des Vierten Lateranense (vgl. DH =
„Denzinger-Hünermann“: Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidun
gen, 806) zu beachten: die Ähnlichkeit von Kirche und Christus bei bleibend größerer Unähnlichkeit.
Das heißt dann auch, dass das göttliche Element der Kirche anders als bei Christus nicht symmetrisch
zum menschlichen zu denken ist. Die Kirche ist auf andere Weise ,göttlich’ als Christus - protologisch
in ihrer Gründung, pneumatologisch in ihrem Leben und eschatologisch in ihrer Vollendung.
9 Karl Rahner: Sündige Kirche nach den Dekreten des Zweiten Vatikanischen Konzils, in Ders.: Schriften
zur Theologie VI. Einsiedeln 21968, 321-345, 323.
10 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Tübingen 51972, 28.
11 Magnus Striert und Christiane Florin: „Nicht geschafft, von innen heraus Aufklärung zu betreiben“. Kir
che in Deutschland (28.12.2018), auf: Deutsehlandfunk.de, vgl. <https://www.deutschlandfunk.de/ka-
tholische-kirche-in-deutschland-nicht-geschafft-von-innen.SS6.de.html?dram:article_id=436973>.
12 Ebd.
13 Michel Foucault: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin 1978, 35.
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Macht in der Kirche
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